Tarifrunde öffentlicher Dienst der Länder: Keine Bescheidenheit!

Helga Müller, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Am 8. Oktober beginnt die erste Verhandlungsrunde für die rund 2,3 Mio. Beschäftigten der Länder im öffentlichen Dienst. Für die 1,2 Millionen BeamtInnen fordern die Gewerkschaften die Übernahme der Gehälter und Arbeitsbedingungen. Am 26. August hatte die Bundestarifkommission ihre Forderungen aufgestellt.

Die Hauptforderungen: 5 % mehr Lohn und ein monatlicher Mindestbetrag von 150 Euro. Nach dem Vorbild der letztjährigen Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen soll es zum Gesundheitsbereich einen separaten Verhandlungstisch geben. Hier fordert ver.di eine Erhöhung der Gehälter um 300 Euro und die Umsetzung der noch offenen Regelungen aus der Tarifrunde 2019 – die Erhöhung des Zeitzuschlags für Samstagsarbeit bei Wechsel- oder Schichtarbeit. In dieser Branche verhandelt ver.di für ca. 246.000 Beschäftigte. Der Bereich der Schulen und Kitas, für die hauptsächlich die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) zuständig ist, stellt die drittgrößte Gruppe mit ca. 215.000 Beschäftigten dar. Für die Hochschulbeschäftigen – mit 291.000 Personen die größte Gruppe – fordern ver.di und GEW eine Verpflichtung zur Aufnahme von Verhandlungen zu einem Tarifvertrag für studentisch Beschäftigte.

Die Gegenseite

Dass die öffentlichen Arbeit„geber“Innen nicht von einer normalen Tarifrunde ausgehen, haben sie  bereits vor Beginn der ersten Verhandlung klargemacht: Sie unternehmen jetzt einen neuen Anlauf zur Änderung des sog. Arbeitsvorgangs. Was nichts anderes bedeutet, als dass vor allem Neueingestellte zu schlechteren Bedingungen beschäftigt und ihre Arbeit abgewertet werden sollen. Hatte die unerwartet hohe Mobilisierung in der letztjährigen Tarifrunde zum TVöD diesen Angriff noch abwehren können, versucht die Arbeit„geber“Innenseite jetzt die Gunst der Zeit zu nutzen, um dies in der Ländertarifrunde durchzusetzen – wohl wissend, dass ver.di in diesem Bereich unter weniger Kampftruppen verfügt als im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen.

Das ist eine Kampfansage an ver.di, GEW und Belegschaften. Sie wollen in dieser Tarifrunde einen Einbruch in die Gehaltsstrukturen erreichen. Das ist nichts anderes, als die KollegInnen für die Kosten der Milliardenausgaben für die Pandemie zahlen zu lassen. Da reicht ein Vorrechnen von Seiten ver.dis, dass die Steuereinnahmen 2021 wieder ansteigen und mit 812 Milliarden Euro wieder die Höhe des Vorkrisenjahres 2019 (nach: www.verdi.de: Zahlen, Daten, Fakten zum öffentlichen Dienst) erreichen oder gar übertreffen könnten, nicht. Auch ein moralischer Appell, dass ein höherer Lohn zusätzlich die Binnenwirtschaft ankurbeln würde, verhallt bei den öffentlichen Arbeit„geber“Innen ungehört. Sie wollen genauso wie die private Wirtschaft – allen voran die Automobilindustrie – die KollegInnen für die Krise zahlen lassen.

Derweil ist der gesellschaftliche Reichtum vorhanden. Allein die Automobilindustrie, die am meisten von den Kurzarbeitergeldern und anderen staatlichen Millionensubventionen profitiert hat, ist weiterhin auf Gewinnkurs. Im Jahr 2020 machten die 3 größten deutschen AutobauerInnen (VW, BMW, Daimler) trotz Krise einen Gewinn von 17,9 Milliarden US-Dollar. Politische Forderungen wie eine Vermögensabgabe, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine progressive Besteuerung von Kapitalgewinnen sind jetzt nötig anstatt des ewig gleichen Rituals, dass die KollegInnen eine Gehaltserhöhung verdient hätten – was natürlich stimmt. Aber damit holt man zum einen keinen Kollegen und keine Kollegin hinterm Ofen hervor, noch beeindruckt man zum anderen die politisch Verantwortlichen in den Länderregierungen.

Mobilisierung

Notwendig ist es, die KollegInnen in den Einrichtungen, Schulen, Krankenhäusern und Betrieben darauf vorzubereiten, dass nicht wir für die Krise zu zahlen haben, sondern wir uns das holen, was uns seit Jahrzehnten genommen wurde, und die zahlen, die sie auch zu verantworten haben. Und zum anderen, dafür auch flächendeckend in den Kampf zu gehen. Ver.di sagt selber immer wieder, dass die KollegInnen im öffentlichen Dienst der Länder einen Nachholbedarf haben sowohl gegenüber denen in Bund und Kommunen als auch – und vor allem – gegenüber denen in der Privatwirtschaft: Seit dem Jahr 2000 sind die Gehälter der KollegInnen bei den Ländern um 58,1 Prozent gestiegen – in der Gesamtwirtschaft dagegen um 60,3 Prozent und in der Metallindustrie sogar über 69 Prozent (nach: www.verdi.de).

Dass es möglich ist, auch KollegInnen in Bereichen, die bisher nicht so kampfstark waren, in einen unbefristeten Durchsetzungsstreik zu führen, zeigen derzeit die Beschäftigten von Vivantes, den ausgliederten Vivantes-Tochterunternehmen und der Charité in Berlin. Dort befinden sie sich seit dem 9. September im unbefristeten Durchsetzungsstreik für mehr Personal und die Angleichung an die Gehälter und Arbeitsbedingungen des TVöD bei den Tochterunternehmen. Durch diesen vorbildhaften Kampf konnte auch der Organisationsgrad von ver.di massiv gesteigert werden. Gerade die Pflegekräfte galten ja immer als die Belegschaftsteile, die sehr schwer zu Streiks zu bewegen seien, weil sie ihre PatientInnen nicht im Stich lassen wollen.

Kontrolle

Dieses Beispiel gilt es, auch im Bereich der Länder aufzugreifen. Sicherlich wurden auch hier TarifbotschafterInnen gewählt. Diese müssen aber auch auf ihre Rolle als TrägerInnen der Mobilisierung zu Streiks und öffentlichen Aktionen und vor allem als diejenigen, die auch über die Vorgehensweise zusammen mit den KollegInnen in den Dienststellen, Einrichtungen und Betrieben diskutieren und entscheiden, vorbereitet werden. Auch hierfür sind die KollegInnen aus Berlin ein gutes Beispiel.

Das Durchsetzen eines entschlossenen Arbeitskampfes erfordert, dass dieser selbst unter Kontrolle der Mitglieder gestellt wird, Aktions- und Streikkomitees auf Vollversammlungen gewählt und von diesen abwählbar sind, die Tarifverhandlungen öffentlich geführt werden und die Tarifkommission von der Basis gewählt und dieser rechenschaftspflichtig ist. Ferner sollte die Mitgliedschaft über jedes Ergebnis abstimmen dürfen – auch ohne vorherige Urabstimmung und Streiks.




Perspektive Kommunismus: mit Nachbarschaftshilfe zum revolutionären Bruch?

Robert Teller, Infomail 1101, 27. April 2020

Perspektive Kommunismus (PK) hat ein Papier mit dem Titel „Thesen zu den Aufgaben der revolutionären Linken in der Corona-Krise“ veröffentlicht. Völlig zu Recht gehen sie davon aus, dass auch in der Coronavirus-Krise eben nicht alle Klassen im selben Boot sitzen:

„Die aktuelle Krise ist nicht nur eine des Gesundheitssystems und offenbart nicht nur die völlig mangelhafte Vorbereitung auf eine Pandemie. Das Corona-Virus trifft auf eine kapitalistische Wirtschaft, die schon seit Monaten in eine tiefe Krise schlittert. Alles spricht dafür, dass diese nun verstärkte Krise massive gesellschaftliche, politische und ökonomische Verwerfungen produzieren wird.“ (Thesen)

Das Virus selbst unterscheidet zwar an sich nicht zwischen oben und unten, aber für „die oben“ und „die unten“ ist das Oben- oder Untensein nicht erst im Krankheitsfall wichtig. So hängt der Zugang zur Gesundheitsversorgung auch von der Wohngegend ab, also ob die zuständige Intensivstation noch Beatmungsplätze frei hat. Ein privilegierter privater Versicherungsstatus, bessere medizinische Versorgung von Vorerkrankungen und Wohnort in besserer Gegend geht mit erhöhten Heilungsaussichten einher. Natürlich hängt bereits das individuelle Infektionsrisiko maßgeblich davon ab, ob jemand im nach wie vor gut frequentierten Nahverkehr zur „unentbehrlichen“ Lohnarbeit pendeln muss. Viele aus der Unterschicht aber werden die Krankheit nicht als Lungenentzündung kennenlernen, sondern als Kurzarbeit mit Lohn- oder Sparprogramm mit Jobverlust. PK zieht daraus die richtige Schlussfolgerung:

„In dieser Situation müssen wir jede Form der ‚Burgfriedenspolitik’ zurückweisen. Wir dürfen in keine ‚nationale Einheitsfront gegen das Virus’ einschwenken!“ (Thesen)

Schon in „normalen“ kapitalistischen Krisen fordern die Bosse von den ArbeiterInnen gewöhnlich „Zusammenhalt“ ein – was konkret bedeutet, dass letztere die Kosten der Krise selbst bezahlen sollen. In der aktuellen Situation erhält diese Forderung natürlich erhöhte Überzeugungskraft, weil der Auslöser der Krise eben rein mechanisch betrachtet kein gesellschaftlicher, sondern ein biologischer ist, und biologisch sind wir alle gleich. Doch die „nationale Koalition“ macht eben gerade nicht alle gleich: So entscheiden hierzulande nach wie vor die KapitalistInnen selbst, ob die Produktion von SUVs oder der Versandhandel mit Krimskrams wichtiger ist als die Gesundheit der hierfür notwendigen LohnarbeiterInnen. So manche KapitalistIn wird die Stunde der Einheit nutzen, um lange bekannte strukturelle Überkapazitäten abzubauen.

All das schreibt auch PK und folgert korrekt: Linke müssen nun der Burgfriedenspolitik den Kampf ansagen  – auch gegen die Außerkraftsetzung demokratischer Grundrechte, welche eine massive Schwächung, wenn nicht Verunmöglichung ernsthafter gewerkschaftlicher Abwehrkämpfe bedeutet.

Burgfrieden und Bürokratie

Leider ist in den Thesen von PK verlorengegangen, dass in den reformistischen Führungen der ArbeiterInnenbewegung die „Burgfriedenspolitik“ unter der Bezeichnung „Sozialpartnerschaft“ hoch im Kurs steht und die Krisenpolitik der Großen Koalition maßgeblich auch auf der aktiven Demobilisierung betrieblicher Kämpfe durch die reformistischen Apparate beruht. Die Absage jeglicher Kampfaktionen in der Metall-Tarifrunde bereits im Januar (wohlgemerkt, bevor COVID-19 zu einer Pandemie und globalen Krise geworden war) und der Abschluss einer Corona-Nullrunde am 20.03. stellen eine Art nationalen Schulterschlusses dar, der von der Bürokratie über den grünen Klee gelobt wird. „Dieser Abschluss ist ein Beitrag zur Abfederung der Corona-Krise und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, verkündet der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann. Die „Unterbrechung“ der Tarifrunde Nahverkehr durch ver.di wird mit ähnlichen Worten begründet: „Wir halten die Uhr an, denn für uns steht jetzt an erster Stelle, in dieser Krise mit einmaligem Ausmaß verantwortungsvoll zusammenzustehen und Gesundheit und Einkommen zu sichern.“ Dies ist die Gestalt der, wie PK es nennt, „nationalen Einheitsfront“. PK widmet der systematischen Klassenzusammenarbeit durch die Führung der DGB-Gewerkschaften aber nur eine, noch dazu beschönigende Randnotiz:

„Die – leider sehr defensiven – Tarifverhandlungen der IG Metall beweisen den allgemeinen Ernst der Lage.“ (Thesen)

PK beansprucht richtigerweise, die Corona-Krise im Allgemeinen wie im Konkreten, also etwa in der Nachbarschaftshilfe, mit politischer Propaganda hinsichtlich des Klassencharakters der beschlossenen Maßnahmen zu verbinden. Sie lehnt dabei aber den entscheidenden Punkt ab: hierfür innerhalb der ArbeiterInnenbewegung zu kämpfen, also auch innerhalb der Gewerkschaften den Kampf gegen die reformistischen Apparate als wichtigem Standbein der Großen Koalition in ihrer Krisenbewältigung zu führen und eine klassenkämpferische Opposition aufzubauen. Stattdessen die hoffnungsvolle Ankündigung, dass das gar nicht nötig ist, denn:

„Die Krise wird zu ideologischen Brüchen führen. Viele Menschen, die bislang für uns kaum erreichbar waren, werden nach Orientierung suchen und für revolutionäre Forderungen offener werden. Wir müssen daher noch stärker als bisher auf diese Menschen zugehen, ihnen die Perspektive des Sozialismus und einer klassenlosen Gesellschaft verständlich machen. Wir müssen an ihren Problemen andocken, uns dabei einfach und verständlich ausdrücken und den Menschen auf Augenhöhe begegnen. Letzteres verweist auf einen weiteren, eigentlich logischen, Punkt: Es muss erkennbar sein, von welchem Standpunkt aus wir agieren. Wir sind nicht nur die netten NachbarInnen, die beim Einkaufen helfen, und nicht einfach GewerkschafterInnen, die da sind, wenn es um Entlassung und Kurzarbeit geht (die sind wir natürlich auch): Wir sind KommunistInnen und müssen als solche erkennbar sein.“ (Thesen)

Anstatt den politischen Charakter der Gewerkschaftsbürokratien offenzulegen, die im Sinne der Sozialpartnerschaft auch noch so geringe Tarifforderungen kampflos preisgeben, brauchen wir: auf die Menschen zuzugehen, uns zu erkennen zu geben und ihnen die Vorzüge der klassenlosen Gesellschaft darzulegen. Die sicher kommenden ideologischen Brüche erfordern dann nur noch die angemessene pädagogische Behandlung.

Übergangsforderungen

Dieser Ansatz umgeht die Frage, welches Programm, welche Forderungen, welche Politik die KommunistInnen in den Gewerkschaften, in den Betrieben oder auch in der Nachbarschaftshilfe vertreten sollen. Und er tut so, also müssten die KommunistInnen nicht zugleich einen politischen und ideologischen Kampf gegen bürgerliche Einflüsse, bürgerliches Bewusstsein in der Klasse ausfechten – vor allem die Notwendigkeit, ihn gegen die wichtigsten Träger- und VerbreiterInnen einer falschen Politik der Klassenzusammenarbeit und des nationalen Schulterschlusses in der ArbeiterInnenklasse –  zu führen – also gegen die Strategie und Politik der reformistischen Apparate.

Dieser Ansatz verkennt von Grund auf, dass die Frage der Kampfmethoden auch in gewerkschaftlichen Kämpfen immer eine politische ist und KommunistInnen in allen Detailfragen des Klassenkampfes mit konkreten Positionen und Aktionen versuchen müssen, die Teilkämpfe in den Kontext ihres historischen Ziels zu stellen, d. h. der Errichtung der ArbeiterInnenmacht. Ansonsten bleibt „Sozialismus“ eine abstrakte Phrase. Folgerichtig bleibt die einzige konkret anwendbare Schlussfolgerung bei PK der Ratschlag für die Nachbarschaftshilfe: erzählt den NachbarInnen vom Kommunismus. Der gewerkschaftliche wie der Kampf für Minimalziele überhaupt (darunter auch in der Nachbarschaftshilfe) sind bei PK strikt getrennt vom hehren Ziel der klassenlosen Gesellschaft. Zwischen diesen beiden Extremen besteht keine Vermittlung. Verbesserungen im Hier und Jetzt werden nicht mit einem strategischen und programmatischen Bezug zum Kampf für eine andere Gesellschaft verknüpft. Somit kann die PK den Kommunismus nur als ein fernes Endziel verkündeten. Im Hier und Jetzt vertritt sie – ähnlich wie die Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg oder der Reformismus generell – nur ein Minimalprogramm. Dabei bestünde die Aufgabe von RevolutionärInnen gerade darin, die beiden Extreme durch ein System von Übergangslosungen zu verbinden. So müssten z. B. Forderungen nach ausreichendem Gesundheitsschutz mit der Losung der ArbeiterInnenkontrolle über deren Umsetzung verbunden werden. So könnten z. B. Nachbarschaftskomitees durch die Forderung nach Kontrolle über staatliche oder kommunale Hilfsgelder und deren Verteilung politisiert werden.

Ohne eine solche Methode von Übergangsforderungen steht der von PK nicht näher definierte „revolutionäre Bruch“ unvermittelt neben der Forderung, sich mehr in der Bevölkerung zu verankern.

Um die aktuelle Krise im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu lösen, wären aber zuallererst konkrete Schritte gegen die Abwälzungspolitik des Kapitals notwendig. Der Kampf gegen Kurzarbeit und Entlassungen und für die Weiterbeschäftigung aller bei vollen Lohnzahlungen durch die Unternehmen, die Bildung von Komitees aus Belegschaften und ArbeiterInnenbewegung, die über notwendige Produktionsstopps beraten und entscheiden, der schnellstmögliche Ausbau der medizinischen Versorgung durch Einstellung von Personal zu vollen tariflichen Gehältern, bezahlt durch Besteuerung von Unternehmen und unter Kontrolle der ArbeiterInnen – das sind nur einige Forderungen, die notwendig sind, um die gesundheitlichen und sozialen Folgen auf die Klasse zu begrenzen. Diese Verknüpfung von unmittelbaren Zielen mit der Selbstorganisation der Klasse und der Bildung von Machtorganen würde zudem die Möglichkeit schaffen, dass die Massen tatsächlich „revolutionär brechen“ können.

Diese Maßnahmen stehen aber eben nicht auf der Agenda der Gewerkschaften. Sie können offensichtlich nicht erkämpft werden, ohne zugleich der Politik der Sozialpartnerschaft den Kampf anzusagen. Für PK scheinen Reformismus und Sozialpartnerschaft Dinge der Vergangenheit zu sein, die im Zuge der Krise von alleine diskreditiert werden. Klar ist, dass die Krise zu sozialen Verwerfungen und zu Kämpfen führen wird. Aber im genannten Verhalten vom IGM und ver.di zeigt sich, dass gerade in der Krise die Bürokratie stramm in der Front zur Rettung der Nation steht – und dies ist nicht nur in der Konzeption der Sozialpartnerschaft, sondern generell in rein gewerkschaftlicher und reformistischer Politik angelegt, die immer einen Klassenkompromiss anstreben muss.

Um in der Krise die ArbeiterInnenklasse aus der Passivität zu holen und Widerstand zu organisieren, müssten revolutionäre Linke jetzt die Maßnahmen der GroKo zurückweisen – die Außerkraftsetzung von demokratischen Rechten, die Einführung von 12h-Tag und 60h-Woche, die Abwälzung der Kosten auf die Klasse durch Ausweitung der Kurzarbeit, die nationale Abschottungspolitik und die Schließung der Grenzen für Flüchtlinge.

Stattdessen müssen Linke dafür kämpfen, den Gesundheitssektor und die pharmazeutische Industrie sofort entschädigungslos zu enteignen und unter ArbeiterInnenkontrolle zu stellen, für ein Sofortprogramm zur Erhöhung der Behandlungskapazitäten, bezahlt aus den Profiten der Unternehmen, für die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses und die Offenlegung aller Forschungsergebnisse zu Impfstoffen und Medikamenten, damit möglichst schnell wirksame Behandlungsmöglichkeiten gefunden werden können. Derartige Forderungen sucht man bei PK vergeblich. Statt Menschen für einen Kampf gegen die Krise zu organisieren, der ihnen erlaubt, die Verhältnisse zu verstehen – auch die Stützung der Bourgeoisie durch die ReformistInnen – will PK den „Bruch“ dadurch erreichen, dass die Menschen sehen, dass KommunistInnen doch auch gute Menschen sind.




Tarifabschluss IG Metall NRW: Weniger als ein Linsengericht

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), Infomail 1096, 23. März 2020

Die Vernetzung für
kämpferische Gewerkschaften verurteilt den Tarifabschluss vom 20.3.2020 der IG
Metall in NRW auf das Schärfste. Er bringt für die Kolleg*innen weder eine
Entgelterhöhung noch mehr Sicherheit ihrer Arbeitsplätze. Dieser mickrige
Abschluss wurde unter völliger Umgehung der Mitgliedschaft durchgezockt. Dies
war allerdings schon im ganzen Konzept für die diesjährige Tarifrunde angelegt,
das der IGM-Vorstand noch vor Ausbruch der Corona-Krise im Januar beschloss.

Anfang Februar
hatten wir im Betriebsflyer der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften das
vom IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann verkündete Moratorium für die Tarifrunde
der IGM 2020 verurteilt und festgestellt:

„Stattdessen
bietet er, ohne die Mitglieder zu fragen, in einem Moratorium einen
Zukunftspakt der Illusionen an: Ein „Friedensangebot“ – vor Ende der
Friedens-pflicht soll es zu einem Abschluss kommen! Ohne eine konkrete Zahl für
die Lohnerhöhung sollen die Verhandlungen beginnen! Dies ist eine offene
Einladung an das Kapital, in Hinterzimmern auf Kosten der Kolleg/innen eine
Nullnummer auszubaldowern!“

Genau dies ist
jetzt eingetreten. Die IG Metall hat in Nordrhein-Westfalen einen Abschluss mit
den Metallkapitalisten vereinbart. In der Meldung zum Abschluss heißt es am 20.
März:

„Das erzielte
Tarifergebnis in Nordrhein-Westfalen beinhaltet folgende Punkte: 

  • Regelungen zur Kurzarbeit, die die Nettoentgelte der Beschäftigten auf dem Niveau von etwa 80 Prozent absichern können. Dies geschieht durch eine Abschmelzung der Sonderzahlungen und einen Arbeitgeberzuschuss von 350 Euro je Vollzeitbeschäftigten.
  • Bei Schließungen von Kitas und Schulen können Eltern mit Kindern bis zu zwölf Jahren acht freie Tage für die Kinderbetreuung nehmen anstatt des tariflichen Zusatzgeldes. 
  • Zusätzlich erhalten Beschäftigte im Jahr 2020 für die Betreuung von Kindern – soweit zwingend erforderlich – mindestens fünf freie Tagen ohne Anrechnung auf den Urlaub, das Entgelt wird weitergezahlt.
  • Die Tarifverträge treten unverzüglich in Kraft und können zum 31.12.2020 gekündigt werden. Der Vorstand der IG Metall hat zwischenzeitlich das Verhandlungsergebnis gebilligt und unter Berücksichtigung der regionalen Bedingungen die bundesweite Übernahme empfohlen.“

Wie ist dieses
Ergebnis einzuschätzen und wie sind unsere Positionen dazu?

  • Der Abschluss sieht keine Erhöhung der Löhne vor. Das heißt, dass es nicht einmal einen Ausgleich für den Kaufkraftverlust gibt. Von IG Metall-Seite ist immer betont worden, dass auch ohne eine konkrete Lohnforderung zu benennen, dieses Ziel umgesetzt würde. Wir verurteilen diese Nullrunde – oder korrekter – diese Minusrunde auf das Schärfste. Auch in Zeiten einer Pandemie brauchen die Kolleg*innen dringend einen Ausgleich, denn auch die Mieten, Lebensmittel, medizinische und sanitäre Produkte u.a. steigen, z.T. verstärkt durch die Pandemie und müssen bezahlt werden. Insbesondere für die Kolleg*innen in den unteren Entgeltgruppen führt dies zu Problemen bei der Finanzierung ihres Lebensunterhaltes. Zu recht kamen aus vielen Betrieben Lohnforderungen in Höhe von 5 Prozent und Sockelbeträge zwischen 200 und 300 Euro.
  • Die Regelung zur Kurzarbeit mit der Absicherung von bis zu (Meldung der IG Metall am 23.3.) 80 Prozent der Nettoentgelte (kann also auch darunter liegen – ggfs. bis zu zehn Prozent) fällt noch unter das Niveau bestehender IGM-Tarifverträge. So gilt z.B. in Baden-Württemberg eine Absicherung des Nettoentgelts bis zu 93,5 %, bezahlt über eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes durch den Arbeitgeber. Wenigstens dies hätte durchgesetzt werden müssen. Besser wäre allerdings eine 100 prozentige Lohnfortzahlung für alle, die von der Arbeit freigestellt werden. Denn auch das Kurzarbeitergeld bezahlen die abhängig Beschäftigten über Steuern und Sozialabgaben selbst. . Außerdem zahlen die Beschäftigten auch noch einen Teil des höheren Niveaus selbst über die Kürzung der Sonderzahlungen – ein doppelter Betrug. Dazu wird in der Laufzeit des Tarifvertrages die Sonderzahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld gezwölftelt und dem monatlichen Einkommen hinzugerechnet. Die Kapitalseite zahlt lediglich 350 Euro pro Beschäftigten in einen Solidartopf zur Verminderung sozialer Härten – das ist ein kleiner Klacks. Zugleich werden die Unternehmen von den Sozialbeiträgen durch die gesetzliche Änderung der Kurzarbeit befreit, dh sie bekommen dadurch selbst im Falle der Entgeltgruppe 1 mehr Geld aus dem Staatshaushalt als die 350€.
  • Die vereinbarten 8 freien Tage für Eltern statt des tariflichen Zusatzentgeltes wurde bereits in der letzten Tarifrunde vereinbart. Hier wird mit dem Tarifabschluss lediglich der Kreis der Anspruchsberechtigten etwas erweitert (statt für Kinder bis 8 Jahre – zukünftig bis 12 Jahre). Dies ist sinnvoll nach den Schulschließungen wegen der Corona-Pandemie, aber vollkommen unzureichend. Außerdem wird dies fast komplett selbst bezahlt (6 Tage), da dafür das tarifliche Zusatzentgelt, das die einzige Lohnerhöhung in 2019 war, entfällt.
  • Als einziges Plus verbleiben – allerdings nur für Eltern, die ihre Kinder betreuen müssen und dies auch noch mit der Einschränkung „soweit zwingend erforderlich“ 5 zusätzliche bezahlte freie Tage.

Wir sagen: So
ein Abschluss geht gar nicht. Er zeigt, wenn eine Gewerkschaft schon beim
Einstieg in eine Tarifrunde keine konkreten Forderungen nennt und die
Kolleg*innen nicht mobilisiert, sie beim Verzicht landet. Die
Metallkapitalisten haben dies für sich auszunutzen gewusst. Sie loben den Abschluss
als „verantwortungsvoll“.

Die Tatsache,
dass offensichtlich die TK nicht getagt hat und es keinen Hinweis darauf gibt,
dass angesichts des Versammlugnsverbotes eine andere Form der Zustimmung gewählt
wurde, ist noch ein Schritt weiter in der Aufhebung der innergewerkschaftlichen
Demokratie als das „Überfahren“ der Mitgliedschaft durch das „Moratorium“ war,
das hinter dem Rücken der Mitglieder vorbereitet worden war.

Das Moratorium
war mit der Bedrohung von tausenden Arbeitsplätzen begründet worden. Jetzt hat
der Vorstand den Unternehmen freie Hand gegeben mit Hilfe der Kurzarbeit
zehntausende Arbeitsplätze kostengünstig stillzulegen. Wir müssen damit
rechnen, dass viele davon nicht mehr in Betrieb genommen werden. Umso mehr
rufen wir die Belegschaften zu Wachsamkeit auf und zu selbstständigen
Initiativen, wenn die Unternehmer die Corona-Krise zur Arbeitsplatzzerstörung
ausnutzen!

Von dem, was man
angesichts der Corona-Krise von einer Gewerkschaft eigentlich erwarten müsste,
ist bei diesem Tarifabschluss nun wirklich gar nichts zu merken. Im Vordergrund
steht hier die Sicherstellung der weiteren ungehinderten Kapitalverwertung, was
vor allem dadurch erreicht wurde, dass mit der Verlängerung der Friedenspflicht
bis 29. Januar 2021 dafür gesorgt wurde, dass es zu keiner
Produktionsunterbrechung durch Warnstreiks oder gar durch einen
Erzwingungsstreik kommt.

Der Abschluss
ist ein Schlag ins Gesicht für alle Kolleg*innen. Die Metall-Konzerne haben im
letzten Jahr trotz sinkender Nachfrage hohe Gewinne ausgewiesen und sogar der
Krisen-Konzern VW hat seinem Management im Schnitt 200.000 Euro Bonus pro Kopf
für 2019 ausgezahlt, während die Mehrheit der Beschäftigten jetzt Verzicht üben
soll. Die Kolleg*innen sollten dieses Ergebnis ablehnen und sich darauf
vorbereiten, nach den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Ausbreitung nicht
einfach wieder an die Arbeit zu gehen, sondern sich zurückzuholen, was ihnen
genommen wurde, während sie sich nicht wehren konnten. Das zeigt noch einmal
mehr, wie notwendig die Vernetzung an der Basis und eine kämpferische Politik
der Gewerkschaften, wie sie die VKG vorschlägt, ist.

Wir verweisen
auf unsere Erklärung „Corona-Gefahr: Sofortmaßnahmen im Interesse der abhängig
Beschäftigten! Gewerkschaften müssen handeln!“. Dort haben wir unsere
Positionen und Forderungen zum Umgang mit der Pandemie zusammengefasst: https://www.vernetzung.org/corona-gefahr-sofortmassnahmen-im-interesse-der-abhaengig-beschaeftigten-gewerkschaften-muessen-handeln/

Wer sich den
Text als Flugblatt ausdrucken und im Betrieb verteilen möchte, kann es sich
hier herunterladen: https://www.vernetzung.org/wp-content/uploads/2020/03/TV-IG-Metall-NRW.pdf




Corona-Pandemie: Streik als Soforthilfe der ArbeiterInnenklasse

Alex Zora, Infomail 1096, 21. März 2020

Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt, insbesondere Europa fest im Griff. Täglich werden mehr und mehr Infizierte gemeldet, die Zahl der Opfer steigt mit einer ähnlichen Geschwindigkeit. Das normale Leben ist in den meisten europäischen Ländern stark eingeschränkt. Versammlungen wurden verboten, Schulen und Universitäten sind geschlossen und weitreichende Befugnisse für die Organe des bürgerlichen Staates wurden beschlossen.

Doch ein Bereich ist von den Maßnahmen bisher wenig betroffen: Die Produktionsstätten. In den meisten Ländern sind Zusammenkünfte von mehr als ein paar dutzend Menschen verboten, Kontakte mit Menschen, die nicht im selben Haushalt leben, sollen weitgehend vermieden werden und trotzdem scheint es kaum ein Problem zu sein, dass Betriebe mit hunderten oder sogar tausenden Beschäftigten ohne große Einschränkungen weiter produzieren können. Wieder einmal zeigt der Kapitalismus, dass Profite wichtiger sind als Menschenleben.

Arbeitsniederlegungen und die Rolle der Apparate

Doch vielerorts lassen sich die ArbeiterInnen das nicht so einfach gefallen. Schon vor einer Woche kam es in Italien zu einer regelrechten Streikwelle als von SchiffsbauerInnen im nördlichen Ligurien bis zu StahlarbeiterInnen im südlichen Apulien viele ArbeiterInnen spontan ihre Arbeit niederlegten, weil die Unternehmen ihnen keine Schutzmaßnahmen in den Arbeitsstätten zur Verfügung stellten. Eine Vertreterin der MetallerInnen-Gewerkschaft FIOM-CGIL meinte dazu: „Fabrikarbeiter sind nicht Bürger vierundzwanzig Stunden minus acht. Es ist nicht hinnehmbar, dass sie ihr tägliches Leben durch viele Regeln geschützt und garantiert sehen, aber sobald sie durch die Fabriktore gehen, sich im Niemandsland befinden.“

Durch die weitgehend spontanen und weit
verbreiteten Arbeitsniederlegungen sah sich die Regierung in Italien gezwungen,
in die Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und Unternehmen einzugreifen.
Nach Verhandlungen wurde von Gewerkschaften (CGIL, CSIL, UIL) und
Unternehmensverbänden (Confindustria, Confapi) eine Übereinkunft unterzeichnet,
die die Arbeit in vielen Bereichen reduzieren soll. Ein Produktionsstopp in
allen nicht systemrelevanten Bereichen wurde aber nicht erreicht.

Dass diese Übereinkunft bei weitem nicht
ausreichend war, zeigt sich auch daran, dass die Streiks nach der getroffenen
Übereinkunft weiter gehen. So streikten Anfang dieser Woche Amazon
Lager-ArbeiterInnen in der Nähe von Mailand.

Auch in Spanien, dem am zweitstärksten betroffenen Land in Europa, kam es zu etlichen spontanen Arbeiterniederlegungen, z.B. von den Mercedes ArbeiterInnen in Vitoria. Auch hier wurde gegen die unverantwortliche Firmenpolitik protestiert, die die Aufrechterhaltung der Produktion vor den Schutz der Beschäftigten stellt.

Die (wilden) Streiks anlässlich von Corona verbreiten sich aktuell parallel zu dem Virus selbst. Am Montag kam es offenbar auch in Linz (Österreich) zur spontanen Verzögerung des Schichtbeginns um 2 Stunden, weil die KollegInnen gegen das „unverantwortliche Verhalten der Firmenleitung“ protestieren. Erst unter Mitwirkung des Betriebsrats war es dem Unternehmen möglich, die Produktion wieder aufzunehmen.

Alle diese Beispiele zeigen, dass es auch in Zeiten von Versammlungsverbot und „sozialer Isolierung“ möglich und notwendig ist, kollektive Arbeitsverweigerung zum Schutz von sich und seinen KollegInnen durchzuführen. Die Beschäftigten und die Gewerkschaften müssen sich jetzt für einen sofortigen Arbeitsstopp mit voller Bezahlung in allen Produktionsstätten einsetzen, die nicht direkt notwendig sind, um das Gesundheitssystem und die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.




Strategiekonferenz kämpferischer Gewerkschafter/Innen: Ein Schritt nach vorne!

Frederik Haber, Neue Internationale 244, Februar 2020

Am Freitag, den
24. Januar, hatte sich der IG Metall-Vorsitzende eine Stufe tiefer auf die Knie
geworfen. Er hatte dem Kapital angeboten, ohne Lohnforderung in Tarifverhandlungen
zu gehen und noch in der Friedenspflicht ein Abkommen zu schließen, das die
Arbeit„geber“Innen, die derzeit vor allem Arbeitsplätze nehmen, zu nichts
verpflichtet, als betrieblich darüber zu reden.

Einen Tag
später, am 25. Januar, fand eine Konferenz linker GewerkschafterInnen statt,
denen die Verzichtspolitik der Gewerkschaftsapparate schon lange zu viel
geworden ist und die sich nicht nur darüber austauschen wollten, was schlecht
läuft, wo Chancen nicht genutzt oder aktiv von der Führung verbaut werden,
sondern die auch vereinbaren wollten, gemeinsam dagegen vorzugehen. Angesichts
des Kapitulationskurses der IG Metall-Führung, die im Grunde auch von allen
anderen Gewerkschaftsführungen vollzogen wird, ist es höchste Zeit dafür.

Austausch reicht
nicht

Diese Konferenz
benötigte einen langen Anlauf. Frühere Konferenzen der Initiative für die
Vernetzung der Gewerkschaftslinken, die an die 400 AktivistInnen versammeln
konnten, liegen Jahre zurück. Sie waren immer vom Konflikt zwischen der Apparat-Linken
und linken Kräften geprägt, die sich nicht mit der Verbesserung des
kapitalistischen Systems zufriedengeben wollten.

Den Knackpunkt
bildete immer wieder die Frage, ob es zu verbindlichen Vereinbarungen,
gemeinsamen Forderungen oder Aktionen kommen sollte. Die Apparat-Linken
bekämpften sie stets auf das heftigste und setzten sich fast immer durch: wenn
nicht mit Mehrheiten, dann mit Erpressungen, nicht mehr mitzumachen. Ähnlich
wie auch auf den Konferenzen der sozialen Bewegungen oder der Sozial-Foren
konnte das nur ansatzweise und dann durchbrochen werden, wenn es
Massenbewegungen und Druck gab, der es erschwerte, solche Beschlussfassungen zu
verhindern. Indem jedoch letztlich alles auf bloßen Meinungsaustausch reduziert
wurde, gelang es, diesen Foren jegliche Dynamik zu nehmen und damit auch jede
Anziehungskraft. Ähnlich erging es den Ansätzen einer oppositionellen
Formierung in den Gewerkschaften. Die Bewegungen waren tot – die Apparate
blieben.

Mit der Gründung
der Linkspartei griffen dort organisierte GewerkschafterInnen die Idee der
Konferenzen unter dem Motto „Erneuerung durch Streik“ wieder auf. Erneuerung
brauchen die Gewerkschaften in Deutschland unbestritten und Streik, also Kampf,
Klassenkampf nicht minder. Aber auch diese Konferenzen beschränkten sich auf
Austausch. Zuletzt, vor einem Jahr in Braunschweig, durften DGB-HonoratiorInnen
ihre reformistische Selbstbeweihräucherung derart peinlich verkünden, dass
selbst dem Initiator dieser Konferenzen, Riexinger, der Kragen platzte. Aber
der Rahmen wurde eingehalten: Weder über Initiativen gegen die Apparatpolitik
noch über die Krise der Gewerkschaften sollte tunlichst geredet werden. Und
wieder wurde nichts vereinbart.

Die
sozialdemokratische Politik der Gewerkschaften, die Unterwerfung unter die
Interessen der deutschen Bourgeoisie, ja deren aktive Durchsetzung wird
verbunden mit Zugeständnissen an relativ privilegierte Schichten der
ArbeiterInnenklasse und natürlich mit Zucker für die Gewerkschaftsbürokratie.
Diese reformistische Politik wird von der Linkspartei und ihren FunktionärInnen
in den Gewerkschaften mitgetragen – und zwar nicht nur aufgrund ihrer
Unterordnung unter den sozialdemokratisch dominierten Apparat, sondern auch
weil die gewerkschaftspolitische Ausrichtung der Linkspartei selbst über einen
kämpferischeren Reformismus nicht hinausgeht. Auch wenn einzelne
FunktionärInnen unter der Hand Kritik üben, bleibt die Gesamtstrategie
unangetastet.

Raus aus der
Sackgasse

Die Frankfurter
Strategie-Konferenz hat einen ersten Schritt geschafft, aus dieser Kontrolle
des Gewerkschaftsapparats auszubrechen. Ohne Unterstützung durch den Apparat
organisiert, gelang es, 150 kämpferische GewerkschafterInnen, darunter auch
einen höheren Anteil junger Menschen als bei früheren Konferenzen, zu mobilisieren.
Die Diskussion zeigte das Bemühen der meisten AktivistInnen und fast aller
vertretenen Organisationen, aus dieser Konferenz eine arbeitsfähige Struktur
aufzubauen. Anwesend waren AktivistInnen und Betriebsgruppen aus
Krankenhäusern, Metallbetrieben, Verkehr und Bildung von Amazon bis Daimler
sowie Initiativen von prekär Beschäftigten und gegen Leiharbeit. Außerdem
beteiligten sich GenossInnen vom linken Flügel von Fridays for Future.

Aktiv an der
Organisation dieser Konferenz waren neben der Gruppe ArbeiterInnenmacht SOL,
SAV sowie einzelne Mitglieder aus ISO und der DKP beteiligt. Auch DIDF
beteiligte sich stark, ferner waren GenossInnen von Arbeit Zukunft, der OKG,
von Express, Trotz Alledem, der FAU, von RIO und KO vertreten.

In den
verschiedenen Arbeitsgruppen wurde überwiegend problem- und nicht
konfliktorientiert diskutiert – mitunter auch mit der problematischen Tendenz,
reale Unterschiede nicht anzusprechen oder zu diskutieren. Ganz offensichtlich
haben viele verstanden, dass die Krise der Gewerkschaften nicht durch einzelne
Initiativen, in einzelnen Betrieben oder Branchen überwunden werden kann, dass
trotz aller Buntscheckigkeit der Arbeitswelt die Krise der Gewerkschaften eine
solche ihrer Führung ist.

So wurde eine
gemeinsame Erklärung verabschiedet auf Grundlage einer Vorlage, die aber von
Beginn an mit in der Diskussion stand und vom Abschlussplenum noch soweit
verändert wurde, dass sie eine erneute stilistische Überarbeitung braucht, die
hier noch nicht eingearbeitet ist. Nach der Ansage: „Kämpferische
Gewerkschaften: nötiger denn je!“ und „Strategiewechsel statt Weiterführung des
sozialpartnerschaftlichen Kurses für den ,Standort Deutschland‘!“ wird die
Situation festgehalten:

„Die Gewerkschaften haben keine konsequente Gegenwehr organisiert. Die Politik unserer Gewerkschaftsführungen besteht in Sozialpartnerschaft und Co-Management. Das Akzeptieren von Vereinbarungen, in denen Belegschaften Verzicht übten, um Unternehmen konkurrenzfähig zu halten, rächt sich gerade jetzt, wo viele Unternehmen trotz dieser Vereinbarungen weitere Kürzungs- und Stellenabbaupläne verkünden und umsetzen.

Es hat eine Reihe von Kämpfen gegeben, die beispielhaft und mutig waren. Diese richteten sich gegen den Personalmangel in Krankenhäusern, gegen Tarifflucht, gegen Niedriglöhne und gegen Unternehmensführungen, die sich weigern, Tarifverträge zu verhandeln. Auch in den traditionell besser organisierten Bereichen wie großen Metallbetrieben oder im öffentlichen Dienst zeigte sich in Warnstreiks eine gute Mobilisierungsfähigkeit und Kampfkraft. Die Gewerkschaftsführungen haben diese Kampfkraft nicht genutzt.“

Nachdem einzelne Beispiele von Kämpfen und Konflikten aufgezeigt werden, wird festgestellt: „Das alles ist kein Zufall, ordnen sich doch die Gewerkschaftsführungen systematisch den kapitalistischen ‚Sachzwängen‘ und den Standortinteressen der deutschen Exportindustrie unter und verkaufen dies gegenüber den Kolleg*innen als unausweichliche ‚wirtschaftliche Gegebenheiten‘.“

Die politische
Dimension dieser Unterwerfung wird so beschrieben:

„Die BRD ist ein prominenter Standort für Rüstungsproduktion und als militärisch-logistische Drehscheibe der wichtigste Standort für NATO-Kriegspläne in Europa.

Die DGB-Gewerkschaften verraten durch ihre Politik die Interessen der ArbeiterInnenklasse und verhöhnen ihre Mitgliedschaft und schwächen die Kampfkraft des Proletariats.

Die Gewerkschaften akzeptieren und fördern die beschleunigte Ausplünderung der Empfangsländer deutscher Exporte und der Lieferländer für Rohstoffe.“

Anders als bei
vielen früheren Konferenzen zog die in Frankfurt/Main daraus auch einen
praktischen Schluss:

„Wir … halten es für erforderlich, dass wir uns systematisch vernetzen und besser organisieren im Kampf für einen Strategiewechsel in den Gewerkschaften, der mit der Politik der Sozialpartnerschaft und der Unterordnung unter die Profitinteressen der Unternehmer und der Akzeptanz der Profitlogik Schluss macht.“

So beschloss sie
auch eine Reihe von Forderungen und Aufgaben, um die herum eine
klassenkämpferische Opposition formiert werden soll, die wir hier nur
auszugsweise wiedergeben können:

  • Statt Co-Management und Ausrichtung auf Sozialpartnerschaft: Mobilisierung und Ausnutzen der gewerkschaftlichen Kampfkraft mit Pilotwirkung für andere
  • Zusammenführen von Kämpfen, Organisierung von Solidaritätskampagnen für schwächere Bereiche
  • Statt Verhandlungen hinter verschlossenen Türen: volle Transparenz und Kontrolle durch die Belegschaften, unter anderem durch Streikdelegiertenkonferenzen und Streikversammlungen vor Ort und bundesweit
  • Kürzere Laufzeiten der Tarifverträge (ca.1 Jahr )
  • Kampagne und Kampf für eine deutliche Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich
  • Abschaffung prekärer Arbeitsverhältnisse, Mindestlohn von 13 Euro, sofortige Kündigung der Leiharbeitstarifverträge, weil sie das Grundprinzip „Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen“ unterlaufen
  • Abschaffung von Hartz IV und für ein Existenz sicherndes Mindesteinkommen von 1300,- Euro
  • Kampf für bessere Personalausstattung überall da, wo eklatanter Personalmangel herrscht – angefangen bei Krankenhäusern, Schulen, Feuerwehren, Sozialwesen bis zu den Industriebetrieben
  • Mobilisierung und Kampf für ein massives öffentliches Investitionsprogramm, finanziert durch Besteuerung von Rekordvermögen und -gewinnen
  • Keine weiteren Privatisierungen, für Rekommunalisierung
  • Kampf für den Erhalt aller Arbeitsplätze – Umstellung der Produktion auf ökologisch und gesellschaftlich sinnvolle Produkte
  • Überführung von Betrieben in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch Belegschaften und die arbeitende Bevölkerung anstatt Schließung, Verlagerung und Entlassung
  • Entschiedener Kampf gegen Spaltung von Kolleg*innen entlang nationaler, religiöser oder ethnischer Linien und gegen rechte Hetze
  • Aufbau internationaler Verbindungen und Solidarität gegen die vorherrschende Standortlogik.
  • Unbeschränktes Streikrecht auf die Agenda setzen – bis zum politischen Streik.

Die Erklärung
endet schließlich mit dem Aufruf zur Unterstützung der Initiative:

„Wir sind überzeugt, dass es uns gelingen kann, eine Alternative zu Co-Management und Verzicht in den Gewerkschaften zu stärken. Die Vernetzung ist offen für alle, die sich für einen kämpferischen Kurs einsetzen wollen. Viele von uns sind auch der Meinung, dass die Gewerkschaften bereit sein müssen, sich mit den Bossen und dem Kapital anzulegen und über die Grenzen des kapitalistischen Systems hinauszugehen, um in Zeiten der aufkommenden Krise die Interessen der abhängig Beschäftigten konsequent verteidigen zu können.“

Gemeinsame
Vorhaben

Zudem wurde eine
Liste von gemeinsamen Vorhaben erstellt, die ebenfalls aus den Arbeitsgruppen
und Branchentreffen noch einige Ergänzungen erhielt. Zum Beispiel den
ambitionierten Beschluss, zur Metall-Tarifrunde schnell ein Positionspapier und
zweitens ein Massenflugblatt zu entwickeln und breit zu vertreiben. Zu den
beschlossen Vorhaben gehören weiter unter anderem:

1.) Wir greifen
sichtbar mit Flugblättern und Transparenten am 8. März und am 1. Mai ein. Wir
schlagen hierfür kämpferische Parolen und Forderungen vor wie:

  • Nein zum Co-Management – für kämpferische Gewerkschaften;
  • Kampf gegen Entlassungen und Lohnverzicht;
  • für radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich;
  • für Konversion und Umstellung der Produktion auf Grundlage von Gemeineigentum an den Produktionsmitteln.

2) Eingreifen in
die Debatte um die Forderungsaufstellung in der Tarifrunde öffentlicher Dienst
(Bund und Kommunen) bis August 2020. Anstatt Wahlfreiheit „Zeit oder Geld“
schlagen wir vor, die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn-
und Personalausgleich (als 1. Schritt) aufzustellen. Dafür sammeln wir
Unterstützung.

3) Eingreifen in
die Tarifrunde um einen Tarifvertrag Nahverkehr (TV-N). Organisierung von
Solidaritätsarbeit dafür:

Wir treten in
der Tarifrunde TV-N dafür ein, dass die Frage der Arbeitszeitverkürzung bei
vollem Lohn- und Personalausgleich diskutiert und diese Forderung in die
Tarifforderungen aufgenommen wird. Darüber hinaus treten wir dafür ein, dass in
dieser Tarifauseinandersetzung auch eine Kampagne und eine politische
Initiative diskutiert werden muss, dass in den Ausbau des öffentlichen
Nahverkehrs massiv öffentlich investiert werden muss und dieser kostenlos zur Verfügung
steht, finanziert aus der Erhöhung der Kapitalsteuern und Wiedereinführung der
Vermögenssteuer. Dies ist ein Beitrag, um die Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung
zusammenzubringen.

4)
TV-Leiharbeit: Herausgabe von zentralem Material, Musteranträgen. Ziel: beim
nächsten Vertragsauslaufen zu verhindern, dass ein neuer TV geschlossen wird.

Die „Vernetzung
für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG), die sich auch einen permanenten
Koordinationskreis wählte, in dem auch GenossInnen der Gruppe ArbeiterInnenmacht
vertreten sind, muss in der Praxis zeigen, ob und wie sie diese Vorhaben
bewältigt.

Auch wenn die
Konferenz mit 150 TeilnehmerInnen einen ersten, wichtigen Erfolg darstellte,
bedeutet sie letztlich nur einen Anfang. Neben der harten Knochenarbeit des Aufbaus,
der Bildung lokaler und regionaler, branchenübergreifender Strukturen, müssen
auch wichtige strategische, programmatische und taktische Fragen weiter
diskutiert und geklärt werden.

Knackpunkte

Der desolate
Zustand der Linken in Deutschland, auch und gerade der Gewerkschaftslinken, hat
schließlich politische Ursachen. So haben z. B. Unterschiede in der
Einschätzung, was Reformismus eigentlich bedeutet, ihre Entsprechung auch in
unterschiedlichen Taktiken.

So blieb die
Frage, was die Linkspartei darstellt und welche Rolle sie in den Gewerkschaften
spielt, bei der Konferenz weitgehend ausgeklammert. Dabei wird das mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu Konflikten führen, angesichts der gestärkten Rolle der
Partei im Gewerkschaftsapparat wie auch der Anpassung zahlreicher Linker an
diese. Insbesondere in der ISO bestehen dazu weder ein gemeinsames Verständnis
noch eine gemeinsame Taktik. Umgekehrt können ein Wachstum und eine
Konsolidierung der VKG auch Druck auf andere Kräfte ausüben, die sich
weitgehend der Linkspartei (z. B. marx21) oder dem linken Gewerkschaftsapparat
(z. B. DKP) unterordnen.

Was dieser
Gewerkschaftsapparat verkörpert, ist ebenfalls in der Linken weitgehend
ungeklärt. Es handelt sich eben nicht nur um eine Bürokratie im technischen
Sinn, sondern um einen politischen Apparat, der letztlich die Klasseninteressen
der Bourgeoisie in den Reihen der ArbeiterInnenklasse vertritt und in diese
vermittelt – und das nur tun kann, wenn er bestimmte Schichten der Klasse an
sich bindet und sich auf diese stützen kann. Ohne ArbeiterInnenaristokratie
kann die ArbeiterInnenbürokratie nur schwerlich überleben.

Auf der
Konferenz zeigten sich diese Differenzen beispielsweise am Ende der Diskussion
über die Abschlusserklärung, als VertreterInnen der ISO und SAV die
Notwendigkeit einer solchen gänzlich in Frage stellten. Aber nur mit einer
offensiven Verbreitung unserer Positionen werden wir andere gewinnen können.
Umgekehrt lassen sich die Apparate durch weichgespülte Formulierungen nicht
täuschen. Diese Differenzen können nicht per Ultimatum und schon gar nicht per
ewige Vertagung „erledigt“, sie müssen politisch geklärt werden.

Die – auch in
Deutschland – heraufziehende Krise und die offenkundige Unfähigkeit der
Gewerkschaften, darauf angemessen zu reagieren, haben bei der Konferenz
unterschiedliche Kräfte der Linken und kämpferische GewerkschafterInnen
zusammengeführt.

An den
grundsätzlichen Fragen des Klassenkampfes muss ernsthaft gearbeitet werden. Es
geht darum, ob „Vernetzung“ bedeutet, lediglich die Kräfte zu bündeln und
Absprachen zu treffen, oder ob eine klassenkämpferische Basisbewegung aufgebaut
wird, die als Alternative zur Bürokratie in den Kämpfen sichtbar wird. Ihr
Ziel, die Gewerkschaften von dem sie beherrschenden bürgerlichen Apparat zu
befreien, wird sie nur erreichen können, wenn sie in den Klassenkampf
einzugreifen, die kämpferischsten Kolleginnen und Kollegen zu organisieren und
politisch zu formieren vermag.




Kampf gegen Rentenkürzungen in Frankreich an einem Wendepunkt

Martin Suchanek, Neue Internationale 244, Februar 2020

Die Streikbewegung gegen die Rentenreform steht nach zwei
Monaten von Massenaktionen, die nicht nur Macron das Fürchten lehrten, sondern
auch zu einer Inspiration für Millionen in ganz Europa wurden, an einem
Wendepunkt. Die Regierung und die von ihr forcierten Angriffe sind unverändert
unpopulär, ja verhasst. Macron, der selbsternannte und selbstherrliche
Sonnenkönig eines „humanitären“ (Neo-)Liberalismus, enthüllt einmal mehr sein
arbeiterInnenfeindliches Gesicht. Alle Umfragen zeigen, dass seine „Reformen“
bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung weiter auf massive Ablehnung
stoßen.

An den Aktions- und Streiktagen, die von den Gewerkschaften
ausgerufen werden, beteiligen sich nach wie vor Hunderttausende, wenn nicht
Millionen. Die Demonstrationen offenbaren nicht nur tief sitzende Wut und
Empörung, sondern auch die Entschlossenheit, Dynamik, Kreativität und
Kampfbereitschaft der ArbeiterInnenklasse. Seit Anfang Dezember haben die
Streikenden bei der Bahn und Metro sowie die LehrerInnen im öffentlichen Dienst
gezeigt, dass Macron und seine Regierung in die Defensive gedrängt und sogar
gestürzt werden können, wenn die ArbeiterInnenklasse ihre ganze Kampfkraft in
die Waagschale wirft. Millionen Lohnabhängige aus allen Wirtschaftsbereichen,
SchülerInnen, Studierende, die Überreste der „Gilets Jaunes“, alt wie jung
betrachten den Streik als ihre Sache, solidarisieren sich bei den Aktionstagen
oder durch Spenden für Aktive, die seit Wochen die Stellung halten. Wie kaum
ein anderer Ausstand wird der gegen die Rentenkürzungen von unten, von der
Basis der Beschäftigten getragen – und er verdeutlicht damit die Stärken, die
allein schon aus dem spontanen Gewicht der Klassen erwachsen.

Zugleich offenbaren sich aber auch die Schwächen und
Probleme der Bewegung. Im Folgenden werden wir diese kurz darstellen, um dann
auf die Frage einzugehen, wie sie überwunden werden können.

Verrat der CFDT-Führung

Die Regierung Macron hat es geschafft, die Gewerkschaften zu
spalten, indem sie Anfang des Jahres der Streikbewegung ein „Gesprächsangebot“
machte und versprach, einen Aspekt der Reform „auszusetzen“.

Dies war natürlich nie ernst gemeint, was sich schon daran
zeigt, dass eigentlich nur die Aussetzung des „Scharnieralters“, ab dem
Menschen ohne Abschläge in Rente gehen können, für einen Teil der Bevölkerung
in Aussicht gestellt wurde. D. h. jene, die vor dem 64. Lebensjahr zur
Zeit mindestens 41,5 Betragsjahre (ab 2021 mindestens 43 Jahre) vorweisen
können, sollten auch schon früher ohne Verlust in Ruhestand gehen können.

Selbst diese Offerte, die bestenfalls die Verschlechterung
für eine kleiner werdende Gruppe von Lohnabhängigen für einige Jahre
aufgeschoben hätte, war nie mehr als ein unverbindliches Gesprächsangebot.

Der Kern der Reform, den das Unternehmerlager seit Jahren
einfordert, sollte ohnedies nie in Frage gestellt werden. Es geht um die
allgemeine Absenkung aller Renten durch eine Veränderung ihrer
Bemessungsgrundlage. Zur Zeit werden die finanziell besten 25 Beitragsjahre zur
Berechnung der Höhe der Renten herangezogen. Kommt die Reform durch, werden in
Zukunft 43 Beitragsjahre in die Ermittlung des Rentenniveaus für fast alle
Berufgruppen – ausgenommen sind nur wenige wie Militärs, Teile der Polizei,
PilotInnen, OperntänzerInnen – einfließen. Der Rentenklau betrifft also die
gesamte ArbeiterInnenklasse und alle Einkommensschwächeren, Prekären,
Erwerbslosen besonders hart. Dramatische Abschläge und ein besorgniserregender
Zuwachs der Altersarmut sind vorprogrammiert.

Das eigentliche Ziel der Regierung war also offensichtlich
und leicht zu durchschauen: der Streik sollte beendet oder zumindest geschwächt
werden. Die ArbeiterInnen sollten zurück zur Arbeit, während die
GewerkschaftsführerInnen über den Verhandlungstisch gezogen werden.

Die rechts-sozialdemokratische CFDT – nach Mitgliedern die
zweitgrößte, nach gewählten betrieblichen VertreterInnen die größte
Gewerkschaft des Landes – und einige kleinere Verbünde nahmen das „Angebot“
jedoch freudig auf. Der CFDT-Vorsitzende Berger verkündete gar den Sieg der
Streikbewegung, die er ohnedies nie gewollt hatte. Seine Gewerkschaft hatte
ihre Mitglieder und FunktionärInnen nie zum Streik aufgerufen. In den von ihr
organisierten Bereichen kam es kaum zu Arbeitsniederlegungen. Am Beginn hatte
sich die CFDT sogar gegen die Mobilisierung zu stellen versucht, musste dann
aber auf die Bewegung aufspringen und rief Ende 2019 gemeinsam mit anderen
Gewerkschaften zu den Aktionstagen auf, um noch Einfluss ausüben zu können.

Das Angebot der Regierung griff sie umso freudiger auf. Die Spitzen
kleinerer Gewerkschaften wie der UNSA, die vor allem bei der Pariser Metro
stark vertreten ist, folgten dem Kurs der CFDT. Sie stießen aber auf Widerstand
bei ihrer streikenden Basis, die sich gegen den Willen ihrer Vorstände weiter
am Arbeitskampf beteiligte.

Dass sich der Widerspruch zwischen Führung und Basis bei den
regierungsnahen Gewerkschaften manifestiert, zeigt, dass letztere durchaus von
den BerufsverräterInnen an der Spitze gebremst werden kann. Der Streikbruch
v. a. der CFDT verdeutlicht jedoch nicht nur deren verräterischen
Charakter, er hat auch der Regierung geholfen, selbst wieder die Initiative zu
ergreifen, indem sie die Gewerkschaften gegeneinander ausspielt.

Aussetzen der Streikbewegung

Der offene Streikbruch verschärft ein letztlich noch
größeres Problem, nämlich die Tatsache, dass seit Wochen keine neuen Sektoren
in den Ausstand traten. Auch die großen Aktionstage im Jahr 2020 können nicht
über das Problem hinwegtäuschen, dass die Streikfront seit Ende Dezember
zahlenmäßig stagnierte und die Arbeitsniederlegungen in vielen Bereichen
langsam zurückgingen. Auch wenn die bürgerlichen Medien im Januar die
Entwicklung übertrieben, so nahm der Prozentsatz der fahrenden Züge und Metros
doch sichtbar zu.

Am 20. Januar beschloss eine Mehrheit der
Streikversammlungen (assemblées générales, AG) schließlich die „Aussetzung“ der
Arbeitsniederlegungen im Transportsektor. Der unbefristete Streik kam damit
vorerst zum Erliegen und er sollte nur noch an den großen, landesweiten
Aktionstagen aufrechterhalten werden. Auch wenn diese Taktik zu eintägigen
Streiks und Massendemos mit über einer Million führte, so kann und darf die
Aussetzung der Streiks nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewegung nicht
mehr in der Lage ist, ihr wirksamstes und mächtigstes Kampfmittel gegen die
Regierung einzusetzen.

Dass viele Beschäftige von Bahn und Metro nach 45 Tagen des
intensiven Arbeitskampfes erschöpft sind und sich nicht mehr in der Lage sehen,
die Streikfront pausenlos zu halten, lässt sich leicht nachvollziehen. Die
Einkommensverluste der ArbeiterInnen, die die Bewegung tragen und deren Spitze
stellen, können außerdem nicht vollständig und dauerhaft durch Streikgelder und
durchaus beachtliche Solidaritäts-Spenden von mehreren Millionen Euro
aufgefangen werden.

Hinzu kommt, dass der Sektor, der neben den Beschäftigten
bei Bahn und Metro die meiste Streikaktivität aufwies, die LehrerInnen im
Bildungsbereich, selbst im Gegensatz zum Transportsektor nie flächendeckend und
unbefristet die Arbeit niedergelegt hat. Die LehrerInnengewerkschaft FSU und
die meisten AGs konzentrierten sich auf die Aktionstage, während die große
Mehrheit der LehrerInnen in der „Zwischenzeit“ ihrem Beruf nachging.

Die Erschöpfung der kampfstärksten Schichten der Klasse
kommt nach so langer Zeit nicht verwunderlich. Im Gegenteil, sie haben sehr
lange durchgehalten. Es zeigt sich aber, dass ein solch bedeutender politischer
Generalangriff der Regierung nicht zurückgeschlagen werden kann, wenn die
Streikfront nur auf die Avantgarde der Klasse beschränkt bleibt und keine neuen
ArbeiterInnenschichten in den Kampf treten.

Rolle der Gewerkschaftsbürokratie

Hier stellt sich jedoch die Frage: Woran lag es, dass eine
Ausweitung des Streiks nicht gelang? An Appellen von linken oder kämpferischen
AktivistInnen, an Aktionen wie Blockaden, Besetzungen usw. hatte und hat es
nicht gemangelt. Viele der AktivistInnen der AGs haben immer wieder darauf
gedrängt. Bei den Demonstrationen im Januar waren die Parolen des
„Generalstreiks“ und der Ausweitung des Kampfes wie der Forderungen durchaus
populär, was verdeutlicht, dass die Basis der Bewegung nach einer Lösung für
die aktuellen Problem sucht.

Um zu verstehen, warum der Streik dennoch nicht weiter
ausgeweitet wurde, müssen wir die Rolle der Gewerkschaftsführungen begreifen,
denen trotz der Dynamik von unten letztlich die Führung der Bewegung zufiel.

Anders als die StreikbrecherInnen im Vorstand der CDFT weisen bis heute die meisten Gewerkschaften die „Verhandlungsangebote“ der Regierung zurück. Die gemeinsame Gewerkschaftskoordination Intersyndical aus CGT, FO, FSU, Solidaires, FIDL, MNL, UNL und UNEF gibt letztlich den Takt der Bewegung vor, legt die Aktionstage fest. Sie hofft, mittels weiterer solcher Manifestationen die Regierung zum Einlenken zu bewegen.

Doch schon am Beginn der Streikbewegung zeigte sich die Rolle der Bürokratie dieser Verbände in mehrfacher Hinsicht.

Erstens riefen die meisten der Verbände ihre eigenen Mitglieder über die schon streikenden Sektoren hinaus nicht zu weiteren Arbeitsniederlegungen auf. Gewerkschaftszentralen wie z. B. die FO (nach CGT und CFDT die drittgrößte des Landes) unternahmen praktisch nichts, um den Streik auf jene Sektoren auszuweiten, wo sie stark sind, ihre Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufzurufen und dabei praktisch zu unterstützen.

So befanden sich tatsächlich nur einige Gewerkschaften der Intersyndical im Streik, namentlich CGT, SUD und die LehrerInnengewerkschaft FSU. Und selbst die CGT versuchte kaum, über den Transportsektor hinaus ihre Mitglieder in den Kampf zu rufen.

Zudem verzichteten die aktiveren, linken Gewerkschaften – und hier vor allem die CGT-Führung – darauf, jene, die nicht ständig streikten, dafür offen zu kritisieren, zum Kampf aufzufordern und sich nicht nur an andere Führungen, sondern auch an die Basis zu wenden. Zwischen den Zentralen bestand und besteht jedoch eine Art politisches Stillhalteabkommen, das für die Zeit ihrer formalen Kampfunterstützung auch die CFDT einschloss.

Diese Politik fällt nicht vom Himmel, sondern sie spiegelt auch die Zielsetzung und Taktik der Gewerkschaftsführungen wider, inklusive jener der de facto führenden Kraft CGT. Diese organisiert zweifellos die wichtigsten und kämpferischsten Streikenden im Transportsektor, auch wenn radikalere Gewerkschaften wie Solidaires (SUD) eine Rolle unter einer sehr militanten Minderheit spielen mögen.

Die Massenbewegung, die CGT-Spitze wie die gesamte Intersyndical kritisieren zurecht den politischen, gesamtgesellschaftlichen Charakter der Rentenreform. Doch bei aller kämpferischen Rhetorik führt die Gewerkschaftsführung die Schlacht um die Rentenreform nicht wie einen politischen Klassenkampf mit der Regierung, sondern wie einen besonders bedeutsamen gewerkschaftlichen, also wirtschaftlichen Konflikt.

Letztlich hoffte auch sie, die Regierung durch den Druck der
Aktion zu einem „wirklichen“ Verhandlungsangebot zwingen zu können.

Die Regierung Macron und die gesamte herrschende Klasse
Frankreichs hingegen führen den Kampf als das, was er ist: eine Klassenschlacht,
die nicht nur massive Rentenkürzungen durchsetzen, sondern auch das
Kräfteverhältnis nachhaltig zu ihren Gunsten verschieben soll.

Daher verweigerte sie „echte“ Verhandlungen und spaltete
vielmehr erfolgreich mit einem Scheinangebot. Nachdem der Streik schwächer
wird, tritt sie auch nach und rückt wieder von den Zugeständnissen ab, die der
CFDT versprochen wurden. So verkündete Gesundheitsministerin Agnès Buzyn am 24.
Januar, dem Tag der ersten Lesung des Gesetzesentwurfs im Parlament, dass das
Renteneintrittsalter von 64 „im Gesetzentwurf enthalten“ bleibe.

Gleichzeitig verschärft die Regierung die Tonart gegenüber
den Streikenden und Demonstrierenden. So wurde die Besetzung der CFDT-Zentrale
durch kämpferische ArbeiterInnen in der bürgerlichen Presse als „Terrorismus“
gebrandmarkt. Die Stimmung im Land soll zum Kippen gebracht, also gegen die
„Minderheit“ der Streikenden in Stellung gebracht werden, die alle anderen „in
Geiselhaft nehmen“ würden.

Die Gewerkschaftsführungen waren auf diese politische Gegenoffensive
nicht vorbereitet – nicht einfach aus politischer Unwissenheit oder
Blauäugigkeit, sondern weil sie, selbst wenn sie sich kämpferisch geben, eine
politische Entscheidungsschlacht mit der Regierung vermeiden wollten und
wollen. Denn genau eine solche würde eine Ausweitung des Streiks zu einem
politischen Massenstreik, letztlich zu einem unbefristeten Generalstreik
wahrscheinlich mit sich bringen. Natürlich wäre es auch möglich, dass die
Regierung selbst zeitweilig den Rückzug antritt. Aber angesichts des wichtigen,
strategischen Charakters der Reform für Macron konnte darauf nie spekuliert
werden. Ein Generalstreik hätte daher rasch die Frage seiner Verteidigung gegen
polizeiliche Repression oder gar gegen den Einsatz des Militärs im Inneren
aufwerfen können (wie die Besetzung der Raffinerien vor einigen Jahren) – somit
also nicht nur die Rentenreform, sondern auch die Frage der politischen Macht.

Da die Gewerkschaftsführungen diesem Kampf aus dem Weg gehen
wollten und wollen, spielen sie unwillentlich der Regierung in die Hände.
Sobald diese erkennt, dass die ArbeiterInnenklasse schwächelt, weil deren
Führung zögerlich und schwach ist, setzt sie nach.

Die Schwäche der Bewegung

Die Politik der Gewerkschaftsführungen wird jedoch auch
durch politische Schwächen der Basis erleichtert. Diese ist zwar weit
kämpferischer, betrachtet aber selbst den Kampf über weite Strecken als
gewerkschaftliche Auseinandersetzung, nicht als politischen Klassenkampf. Dies
zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie bislang die politische Führung der
Intersyndical überlässt.

Auch wenn der Streik von den Streikversammlungen, den
assemblées générales, in den Betrieben getragen wurde, so waren diese doch weit
davon entfernt, die Führung der Bewegung zu übernehmen.

Die AGs stimmten zwar jeden Tag über die Fortführung des
Streiks ab, aber nur ein kleiner Teil wählte oder bestimmte eine betriebliche
Streikleitung oder ein Streikkomitee. Eine über die Betriebe und Abteilungen
hinausgehende Koordinierung gab es nicht, allenfalls in Einzelfällen. In vielen
Fällen beschränkten sich die Versammlungen sogar nur darauf, den Bericht von
GewerkschaftsvertreterInnen zu hören, zu klatschen und auf dessen Vorschlag für
die Fortsetzung des Streiks zu stimmen.

D. h. die faktische Leitung des Arbeitskampfes lag
weiter bei einer, den AGs nicht verantwortlichen Führung, die von den
Gewerkschaftszentralen bestimmt wurde. Ohne Wahl und Koordinierung von
Streikkomitees konnten die AGs zu keinem Zeitpunkt zur Führung des Streiks
werden, schon gar nicht auf überbetrieblicher Ebene. Auf landesweiter Ebene
existiert erst recht keine alternative politische Führungskraft zur von der CGT
maßgeblich bestimmten Intersyndical.

Daran änderte auch das weit verbreitete und berechtigte
Misstrauen der Lohnabhängigen gegenüber der Gewerkschaftsspitze nichts. Diese
vermochte es vielmehr, die politische Verantwortung für die Ausweitung des
Streiks durch ein geschicktes Manöver auf die Basis abzuwälzen.

Da formal nur die AGs über die Durchführung und
Weiterführung des Streiks in einem Betrieb oder einer Abteilung entscheiden,
rechtfertigten die Gewerkschaftszentralen – so auch die linke CGT – ihre
Versäumnisse, aktiv weitere Sektoren in den Kampf zu ziehen und in weiteren
Betrieben und Branchen systematisch zu agitieren, damit, dass sie die
ArbeiterInnen nicht „bevormunden“ möchten. Nur die ArbeiterInnen in den
Betrieben dürften über ihren Streik und dessen Fortführung entscheiden. Das, so
die Bürokratie, würde großzügig respektiert werden. Daher würden sie auf
„bevormundende“ Aufrufe zu allgemeinen Streiks verzichten, dieser müsse „von
unten“ kommen.

Damit schob die Führung der Gewerkschaften jedoch bloß ihre
politische Verantwortung, den Kampf auszuweiten und zu verstärken, auf die
„Basis“ ab, d. h. auf voneinander weitgehend isolierte einzelne
Belegschaften oder Abteilungen.

In der Phase des Aufstiegs und der Ausweitung der
Streikbewegung treten diese Probleme einer solchen Struktur nicht so sehr in
Erscheinung. Getragen von der Nachricht großer Streikbeteiligung, riesiger Demonstrationen
und Solidarität der Bevölkerung stimmen natürlich auch viel leichter AGs für
den Streik. Sobald die Bewegung jedoch rückläufig ist, sobald sich
Ermüdungserscheinungen zeigen, schlägt die Dynamik leicht in ihr Gegenteil um –
mehr und mehr AGs werden, von der allgemeinen Stimmung beeinflusst, zum Rückzug
blasen. Wie der Beschluss zur Aussetzung des Streiks im Transportwesen, der in
vielen Betrieben zeitgleich erfolgte, zeigte, existierte natürlich zu jedem
Zeitpunkt in der Wirklichkeit auch eine überbetriebliche Verbindung – jedoch
keine von der Basis gewählte oder kontrollierte, sondern vom
Gewerkschaftsapparat.

Es ist also, wie bei jeder Bewegung, ein Mythos, dass es
keine Führung gebe. Die scheinbare Selbstständigkeit und Unabhängigkeit jeder Streikversammlung
bedeutet nur, dass die wirkliche Führung, der von der CGT kontrollierte
Gewerkschaftsapparat, schwierige Entscheidungen scheinbar großzügig an die
Basis abtritt. So kann die CGT-Zentrale jede Verantwortung für das Aussetzen
des Streiks abstreiten, indem sie auf die eigenständigen Beschlüsse der
Basisversammlungen verweist – und diese „respektiert“.

Zweifellos kommen der Gewerkschaftsbürokratie dabei
Illusionen der Basis zugute. Gegenüber der berechtigten Befürchtung vor
Bevormundung und Gängelung durch den Apparat erscheint die Demokratie der
Vollversammlung ein wirksames Mittel. Aber es ist ein politisch unzulängliches,
ja wirkungsloses Mittel. Der Zentralisierung des Kampfes durch die Bürokratie
stellt sie eine „Dezentralisierung“ entgegen, der Führung durch einen
reformistischen Gewerkschaftsapparat somit die Illusion des Verzichts auf eine
politische Führung überhaupt.

Die tragische Ironie dieser Selbsttäuschung besteht darin,
dass die Macht der Bürokratie über die Bewegung nicht beseitigt, sondern nur
weniger sichtbar wird, weniger offen und somit indirekt hervortritt. Sie wird
damit aber auch unfassbarer und letztlich auch schwerer zu bekämpfen.

Vor allem aber kann so keine alternative Führung zu jener
der Bürokratie aufgebaut werden, weil auch das Problem der Zentralisierung des
Streiks, der Koordinierung, der Ausweitung und Bündelung der Schlagkraft im
Kampf gegen Kapital und Regierung nicht gelöst werden kann.

Notwendig war und ist es, in der Bewegung gegen die
Rentenreform daher für zwei Forderungen einzutreten:

  • Von den Gewerkschaftsführungen eine konsequente Ausweitung des Kampfes zu fordern, bis hin zu einem politischen Generalstreik zur Rücknahme der Angriffe.
  • Die Wahl, Rechenschaftspflicht und Abwählbarkeit von Streikkomitees aus den AGs und deren Koordinierung zu lokalen, regionalen und landesweiten, der Basis wirklich verantwortlichen Aktions- und Streikleitungen zu fordern. Diese sollten auch jetzt, wo viele AGs den Streik ausgesetzt haben, gewählt werden, um so überhaupt erst eine organisierte Verbindung zwischen den kämpfenden Belegschaften zu bilden, die einen Mobilisierungsplan erarbeitet, um den Streik wieder auszuweiten und voranzubringen. Die Gewerkschaftsführungen müssten aufgefordert werden, sich voll hinter die Beschlüsse solcher Koordinierungen zu stellen.

In der aktuellen Situation müssten diese Forderungen mit
konkreten Schritten verbunden werden, wie das Rückfluten der Streikbewegung
gestoppt und eine neue Ausweitung vorbereitet, ja in Gang gesetzt werden kann. Auch
wenn die Reform wahrscheinlich nur mit einem Generalstreik gestoppt werden
kann, so kann dieser angesichts einer Bewegung, die mit rückläufigen
Streikzahlen kämpft, nicht einfach proklamiert werden. Schon gar nicht wird der
abstrakte Ruf nach einer „Ausweitung“ der Streikbewegung Betrieb für Betrieb zu
diesem Ziel führen können.

Die Taktik der Gewerkschaftsführungen und der Intersyndikal,
die Beschäftigten bei Bahn, Metro, im Bildungssektor und andere regelmäßig zu
Aktionstagen zu mobilisieren, spiegelt in dieser Lage einerseits den weiter
bestehenden Kampfwillen der ArbeiterInnen wider. Sie birgt aber andererseits
die große Gefahr in sich, dass sich die Streikbewegung nach und nach in
Aktionstagen erschöpft.

In dieser Situation kann jedoch die Forderung nach einem
landesweiten Aktionstag, der mit einem Generalstreik möglichst aller Sektoren
verbunden wird, eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn eintägige
Arbeitsniederlegungen aufgrund ihres letztlich symbolischen Charakters oft und
leicht als Beruhigungspille missbraucht werden können, so kann ein solcher
eintägiger Streik im Fall einer rückläufigen Streikbewegung auch ein Mittel zur
erneuten Sammlung der Kräfte sein, um der ArbeiterInnenklasse vor Augen zu
führen, dass sie über die Mittel und Kampfkraft verfügt, den Angriff der
Regierung zurückzuschlagen. D. h. ein solcher eintägiger Streik dürfte
nicht als „Höhepunkt“ einer Auseinandersetzung verstanden werden, sondern als
Schritt zur Mobilisierung, zur Vorbereitung eines unbefristeten Generalsstreiks.

Ein solcher könnte nicht nur die Totenglocken für die
Rentenreform, sondern auch für die Regierung Macron läuten lassen – in jedem
Fall wäre er ein Fanal des Widerstandes der ArbeiterInnenklasse in ganz Europa
nach Jahren des Rückzugs, der faulen Kompromisse und des Aufstiegs der Rechten.




Antibürokratisch, organisiert, antikapitalistisch – Basisbewegung für eine klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik!

Vorschläge für ein Aktionsprogramm

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht zur „Strategiekonferenz für kämpferische Gewerkschaften“, Infomail 1085, 22. Januar 2020

Die nächste große Krise
der Weltwirtschaft steht vor der Tür. Die Vorboten der Krise zeichnen sich
schon jetzt weltweit ab, insbesondere in den Ländern der sog. „Dritten Welt“,
den von den kapitalistischen Zentren wirtschaftlich und politisch beherrschten
Halb-Kolonien.

Aber auch in der EU und
in Deutschland kippt die Entwicklung Richtung Rezession. Besonders betroffen
werden diesmal auch die Auto- und Zulieferindustrie sein, das Flaggschiff der
deutschen Industrie und des Exports. Zehntausende Stellen wurden schon
gestrichen, die Arbeitsplätze nicht wieder besetzt und Tausende sollen in den
nächsten Monaten noch entlassen werden. Unvermeidlich werden die verschiedenen
Krisenherde sich gegenseitig verstärken. Verschärfte Konkurrenz und mehr oder
weniger offen geführte Handelskriege schränken den Spielraum für eine konzertierte
„Anti-Krisenpolitik“ der wirtschaftlichen Großmächte und Blöcke massiv ein, ja
verunmöglichen sie tendenziell. Der deutsche Imperialismus möchte in diesem
Kampf um die Neuaufteilung der Welt bestehen – daher sollen die Lohnabhängigen
hier wie weltweit die Kosten tragen, sei es durch verschärfte Ausbeutung oder
durch weitere Kürzungen.

„Wirtschaft“ und die
„Politik“, also Regierung und Kapital, erweisen sich als in dieser Situation
als unfähig auch nur eine der dringenden gesellschaftlichen Fragen im Interesse
der Massen zu lösen: Pflegenotstand und medizinische Unterversorgung; wachsende
Armut, insbesondere bei Alten und Kindern, und an vorderster Stelle die
drohende Klimakatastrophe und die anderen Umweltprobleme. Eisern halten sie
trotz wachsender Proteste daran fest, die Unternehmen zu schonen und die
arbeitende Bevölkerung und Jugend zahlen zu lassen. Zu kosmetischen Zwecken
verabschiedet die Regierung „Pakete“ und die Unternehmen stellen die
Produkt-Werbung auf grün.

Krise der Gewerkschaften

In allen diesen Fragen
könnten die Gewerkschaften eine wichtige Rolle als Sammelpunkte des
Widerstandes spielen, ja sie müssten es. Niemand kann den KapitalistInnen
besser entgegentreten als die Beschäftigten, die dort arbeiten, wo die
Unternehmen Umweltgift auf schädliche Weise produzieren, wo sie die
Entscheidungen im Interesse ihres Profits gegen die arbeitenden Menschen
fällen: für Entlassungen, Arbeitszeitverlängerung, Lohneinsparungen oder
Kürzungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Die Gewerkschaften
könnten, ja müssten in dieser Situation die ArbeiterInnenklasse nicht nur gegen
die Willkür der Unternehmen, sondern auch über den einzelnen Betrieb hinaus
branchenweit mobilisieren. Sie müssten in dieser kommenden Krise den Angriffen
des Kapitals in allen Bereichen eine gemeinsame, organisierte politische
Gegenwehr entgegensetzen, indem sie das wirksamste Kampfmittel einsetzen, das
die arbeitenden Menschen in diesem System haben: den Streik, also die
Weigerung, das Kapital weiter zu vermehren. Über Proteste hinaus können damit
andere Entscheidungen durchgesetzt werden, wenn der Streik nicht bloß als
„letztes Mittel“ betrachtet würde, das tunlichst nur beschränkt und rein
tariflich einzusetzen sei, sondern als politisches Kampfmittel in Form des Massenstreiks
bis hin zum Generalstreik.

Ver.di und IG Metall
haben ihre Gewerkschaftstage abgehalten und dabei so getan, als ginge sie die
Krise nichts an: wo sie herkommt, welche Gefahren es gibt, wie verhindert
werden kann, dass wieder die ArbeiterInnenklasse mit Arbeitsplätzen,
Reallohnverlust und weiterer Prekarisierung bezahlt – keine Themen.
Digitalisierung ist zwar ein Problem, das die Gewerkschaftsführungen benennen,
sie fordern aber lediglich eine sozialverträgliche Umstellung und tun so, als
ob diese „partnerschaftlich“ möglich wäre. Auch wenn es auf dem
ver.di-Gewerkschaftstag im Gegensatz zu dem der IG Metall zu mehren Fragen wie
der kollektiven Arbeitszeitverkürzung, des Mindestlohns, des politischen
Streiks, der Leiharbeit zu heftigen Diskussionen und Kampfabstimmungen kam,
ändert das an dieser Tatsache nichts.

Diese „Partnerschaft“,
die in den Betrieben, aber auch in Tarifrunden und in allen gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen praktiziert wird, wird nur vordergründig und mit dem
beschränkten Blick auf einzelne Betriebe ausreichen, die Interessen zumindest
eines Teil der (Stamm)-Belegschaften zu sichern. Sie wird angesichts des
Generalangriffs des Kapitals völlig wertlos und hat noch nie erlaubt, eine
wirkliche Wende durchzusetzen. Denn sie geht immer damit einher, dem Kapital zu
erlauben, seine Profitinteressen auf Kosten der Konkurrenz, anderer
Unternehmens- oder Belegschaftsteile, der prekär Beschäftigten und/oder der
Umwelt durchzusetzen.

Die (Irre-)Führung der
Gewerkschaften fällt aber nicht vom Himmel. Sie hat ihre Ursache in der
politischen Unterordnung unter die Anforderungen der KapitalistInnen und ihrer
Regierung, ja der Fesselung an das kapitalistische System mitsamt seinen
Krisen. In den letzten Jahrzehnten führte das zu mehreren politisch
verheerenden Resultaten:

1. Die Gewerkschaften
organisieren einen immer kleiner werdenden Teil der Lohnabhängigen. Sie
konzentrieren sich immer mehr auf Organisierte in der Großindustrie oder in
schon organisierten Bereichen des öffentlichen Dienstes und des
Dienstleistungssektors.

2. Trotz wichtiger
einzelner Gegenbeispiele wie z. B. im Gesundheitssektor blieben größere
Abwehrkämpfe aus. Die Vorherrschaft der Bürokratie, die Dominanz des Apparates
und der Betriebsräte der Großbetriebe nahmen eher zu.

3. Ein monströses System
der Klassenzusammenarbeit und die Ideologie der „Sozialpartnerschaft“ bestimmen
die Politik der Gewerkschaften und jene der meisten Betriebsräte. Die
DGB-Gewerkschaften stellen eine soziale Hauptstütze der Großen Koalition dar – und
agieren dementsprechend auf allen Politikfeldern.

Die Bürokratie hofft, die
nächste kapitalistische Krise durch noch mehr Zusammenarbeit mit dem Kapital,
noch mehr „Partnerschaft“ bei der Sicherung der Interessen des deutschen
Exports und des Großkapitals insgesamt zu überstehen. Kein Wunder, dass immer
größere Teile der ArbeiterInnenklasse von diesen „Interessenvertretungen“
entfremdet, ganze Sektoren wenig oder gar nicht organisiert sind.

Die klassenkämpferischen
und linken Kräfte in den Gewerkschaften wurden in den letzten Jahren schwächer,
nicht stärker. Dafür gibt es mehrere Ursachen: Erstens die Niederlagen durch
Hartz- und Agenda-Gesetze sowie die sozialpartnerschaftliche Politik in der
Rezession, die die Bürokratie (v. a. in IG Metall und IG BCE) stärkten.
Zweitens die Übernahme und Zähmung von Ansätzen einer größeren
Gewerkschaftslinken durch die Linkspartei. Drittens die weitgehende Ausblendung
des politischen und ökonomischen Gesamtzusammenhangs aus der Aktivität der
gewerkschaftlichen und betrieblichen Oppositionsansätze.

Gerade die aktuelle
Krisenperiode erfordert aber eine politische, nicht bloß eine gewerkschaftliche
Strategie, wenn wir eine klassenkämpferische Basisbewegung, eine echte
Opposition gegen die Bürokratie bundesweit aufbauen wollen.

Angesichts der
fundamentalen Krise der Gewerkschaften kann es nicht nur darum gehen,
Forderungen zu einzelnen Missständen zu bündeln, sondern wir brauchen eine
zusammenhängende Strategie, Konzeption und letztlich ein Aktionsprogramm mit
dem Ziel, eine klassenkämpferische Basisbewegung, eine organisierte Opposition
nicht nur gegen rechte BürokratInnen, sondern das gesamte System der Bürokratie
aufzubauen, um breite Teile der ArbeiterInnenklasse gegen die Angriffe des
Kapitals zu vereinen.

Aktionsprogramm

Ein solches Programm muss
die zentralen Angriffe und Antworten im Interesse der ArbeiterInnenklasse zum
Ausgangspunkt nehmen. Es darf sich aber nicht auf reine Lohnfragen und
betriebliche Probleme beschränken, sondern muss versuchen, gewerkschaftliche und
betriebliche Forderungen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen
und mit allen wichtigen Fragen des Klassenkampfes zu verbinden. Nur so kann der
gewerkschaftliche Kampf zu einem Kampf gegen das Kapital werden.

Angesichts der
Entlassungen und Streichung zehntausender Arbeitsplätze ist es unabdingbar, für
eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung für alle zu kämpfen. Es geht dabei nicht
darum, die Arbeitszeit an die Auftragsschwankungen der Unternehmen oder
individuelle Bedürfnisse anzupassen (so berechtigt letztere auch sein können),
wie zuletzt in den Tarifen von IG Metall oder EVG vereinbart. Es geht um eine
kollektive Waffe gegen die Strategie des Kapitals, einen Teil der arbeitenden
Bevölkerung mit immer mehr Arbeit zu überlasten und andere aufs Abstellgleis zu
schieben und insgesamt die Löhne zu senken.

  • Kampf gegen alle Entlassungen! Für die 30-Stunden-Woche in Ost und West bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Die Arbeitszeitverkürzung darf nicht zu einer weiteren Verdichtung der Arbeit führen, deshalb muss sie sofort mit Neueinstellungen verbunden werden. Die Entscheidung darüber muss bei den Beschäftigten, den Vertrauensleuten und Betriebs-/Personalräten liegen.
  • Kampf zur Verkürzung der Arbeitszeit muss europaweit koordiniert werden! In der EU sind die Arbeitslosenzahlen noch immer auf einem Höchststand. In internationalen Konzernen muss dieser Kampf von Beginn an übergreifend geführt werden!

Als Antwort auf konkrete
Schließungspläne reicht es nicht, auf eine verkürzte Arbeitszeit zu warten. Die
Antwort auf alle Angriffe auf die Arbeitsplätze muss sein:

  • Streiks und Besetzungen!
  • Dazu sind Aktionskomitees nötig, die auf Vollversammlungen gewählt werden. Mitglieder der Aktionskomitees müssen jederzeit abwählbar sein, wenn sie nicht nach dem Willen der Mehrheit handeln.

Gegenüber den Firmen, die
mit Stilllegung und Entlassungen drohen, fordern wir:

  • Entschädigungslose Verstaatlichung und Fortführung/Umstellung der Produktion solcher Firmen unter der Kontrolle der Belegschaften und gewerkschaftlichen Vertrauensleute!
  • Umstellung/Konversion der Produktion vor allem da, wo umwelt- oder gesundheitsschädliche Produkte hergestellt oder solche Verfahren angewendet werden – kontrolliert von den Beschäftigten, Gewerkschaften und Ausschüssen aller lohnabhängigen KonsumentInnen!

Die Arbeit muss auf alle
verteilt werden und niemand, vor allem die Beschäftigten im Niedriglohnsektor,
darf deswegen an Einkommen verlieren. Im Gegenteil, dort müssen sie sofort
nachhaltig erhöht und gesellschaftliche Einrichtungen ausgebaut werden, die der
Masse zugutekommen!

  • Spürbare Erhöhung der Einkommen – nach den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen, nicht nach dem „Spielraum der Wirtschaft“, d. h. des Kapitals!
  • Festgeldzuwachs für alle, um Einkommensverluste wettzumachen! Angleichung der  Löhne und der Arbeitszeit im Osten auf Westniveau!
  • Gegen Billigjobs und Lohndrückerei! Für einen steuerfreien Mindeststundenlohn von 12 Euro netto (ca. 1.600 Euro/Monat)!
  • Verbindung der Tarifkämpfe mit den Kämpfen gegen Entlassungen!
  • Nein zur Rente mit 67 oder noch späterem Einrittsalter! Einführung der Rente ab 60 für alle bei vollen Bezügen!
  • Für eine Altersteilzeit, die die in Rente gehenden KollegInnen tatsächlich durch BerufseinsteigerInnen ersetzt – unter Kontrolle der Beschäftigten und finanziert aus den Unternehmensgewinnen!
  • Für Arbeitslose, Studierende, RentnerInnen, SchülerInnen ab 16, chronisch Kranke, Schwerstbehinderte kämpfen wir für ein monatliches Mindesteinkommen von 1.100 Euro plus Warmmiete!
  • Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten zum Ausbau des öffentlichen Verkehrs, Wohnungsbaus, im Gesundheits- und Bildungswesen unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Finanziert durch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und massive Erhöhung der Kapitalsteuern!

Um der Erniedrigung durch
die Arbeitslosenverwaltung und den Drohungen des sozialen Absturzes zu
begegnen, sofort:

  • Abschaffung von Hartz IV! Für ein Existenz sicherndes Mindesteinkommen von 1100,- Euro plus Warmmiete und Mindestrenten in dieser Höhe!
  • Keine Zwangsjobs, keine Leih- und Zeitarbeit! Als Schritt in diese Richtung: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Bedingungen und Rechte für LeiharbeiterInnen wie für die Stammbelegschaften! Unbefristete Übernahme der LeiharbeiterInnen in tariflich gesicherte Arbeitsverhältnisse! Nein zu allen Formen des Kombilohns, von Bürgergeld inkl. seiner „linken“ Spielart, des bedingungslosen Grundeinkommens!

Um gegen die Angriffe von
Seiten des Kapitals gewinnen zu können, müssen die Kämpfe politisch geführt
werden! Die Trennung von gewerkschaftlichem und politischem Kampf muss
überwunden werden!

Schulterschluss mit der
Umweltbewegung!

Die Proteste gegen die
Klimazerstörung und andere Schädigungen der Umwelt haben deutlich vorgeführt,
wie peinlich Betriebsräte, die zuständigen Gewerkschaften und auch die Mehrheit
der Belegschaften jede Umweltsünde abdecken. Sie haben der Erpressung mit
Arbeitsplatzverlust nichts entgegengesetzt, weil die Führungen der
Gewerkschaften sich immer dem Diktat des Kapitals und seinen Bedürfnissen
untergeordnet haben. Je anti-kapitalistischer die Gewerkschaften und die
Umweltbewegung vorgehen, desto mehr können sie kooperieren!

  • Bezahlung des ökologischen Umbaus durch die Besteuerung der Reichen und die Enteignung der gesamten Energiewirtschaft unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse!
  • Umweltschädliche Produktion stoppen, den schnellstmöglichen Ausstieg aus dem Braunkohletagebau durchsetzen und die Beschäftigten ohne Einkommensverlust umschulen! Wirtschaftliche Entwicklungsprogramme für die betroffenen Regionen unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften!
  • Die Ergebnisse von Forschung und Entwicklung offenlegen und betrieblich und gesellschaftlich durch die lohnabhängigen Beschäftigten und KonsumentInnen kontrollieren!
  • Eine Konversion durchsetzen, die nicht auf Kosten der Arbeitsplätze geht, sondern die Beschäftigten einbezieht! Denn sie verfügen über das Know-how, wie zukünftige umweltfreundliche Arbeitsplätze aussehen können.
  • Die großen Konzerne unter Kontrolle der Beschäftigten enteignen, um einen demokratischen Plan zum ökologischen Umbau der Produktion und der Infrastruktur durchzusetzen!

Faschismus, Rassismus, Nationalismus bekämpfen!

In den Zeiten der
weltweiten Krise des Kapitalismus gehen auch Teile der ArbeiterInnenklasse nach
rechts und suchen ihr Heil in der Sicherung ihrer Arbeitsplätze und sozialen
Standards gegen andere. Forderungen nach Abschottung und verschärften
Grenzkontrollen, Rassismus und Nationalismus nehmen zu. Die Logik der
Standortsicherungen und die ganze Ideologie des „Standortes Deutschland“, also
die Sicherung der wirtschaftlichen Dominanz auf Kosten anderer fördert
Einstellungen, die Wasser auf die Mühlen von AfD oder sogar faschistischen
Organisationen sind. Sie wollen die Gewerkschaften im Grunde zerschlagen und
haben das auch schon getan – nicht nur in Deutschland, aber da am radikalsten.
Dagegen hilft keine Anpassung sondern die klare Alternative:

  • Volle StaatsbürgerInnenrechte für alle Geflüchteten und MigrantInnen, Aufnahme der Geflüchteten in die Gewerkschaften!
  • Offene Grenzen, keine Abschiebungen! Recht auf Arbeit für alle Geflüchteten und MigrantInnen – bezahlt zu tariflichen Löhnen!
  • Nazis und Rechten entgegentreten! Keine Propagandafreiheit für FaschistInnen, aktiver Kampf gegen rassistische und rechte Gruppierungen in den Betrieben! Aufbau einer ArbeiterInneneinheitsfront, betrieblicher und gewerkschaftlicher Selbstverteidigungsstrukturen!
  • Kampf allen Einschränkungen demokratischer Rechte, der Militarisierung, wirtschaftlichen und politischen Sanktionen sowie der Aufrüstung in Deutschland und der EU! Politische Streiks und Aktionen gegen Militärinterventionen (wie z. B. gegen den Iran)!
  • Internationale Koordinierung der gewerkschaftlichen, sozialen und politischen Kämpfe – für eine europaweite Aktionskonferenz gegen die Krise zur Diskussion und Koordinierung des gemeinsamen Abwehrkampfes!

Durch eine solche
Offensive können die Gewerkschaften für die Masse der Beschäftigten ein
effektives Kampforgan zur Verteidigung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen
werden, die in den letzten Jahren das Vertrauen verloren hatten oder die – wie
große Teile der jüngeren Generationen und der prekär Beschäftigten – noch nie
positive Erfahrungen mit kollektiver Gegenwehr und Organisation machen konnten.
Mit der Anbiederung an Kapital und Regierung, mit der Unterstützung von
Leiharbeit und Niedriglöhnen und der Ignoranz gegenüber der Basis und gegenüber
neuen und unorganisierten Betrieben haben die Gewerkschaftsführungen die
Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften auf einen historischen Tiefstand
gefahren.

  • Abschaffung aller Einschränkungen des Streikrechts, insbesondere politischer Streiks!
  • Organisierung der Unorganisierten! Dies erfordert, einen zentralen Fokus auf die Gewinnung von prekär Beschäftigten zu richten, verbunden mit Kampagnen zur Arbeitszeitverkürzung und zum gesetzlichen Mindestlohn! Das trifft insbesondere auch auf die Branchen zu, in denen überwiegend Frauen arbeiten, die generell schlechter bezahlt werden!

Andere Methoden, andere Ziele

Solche Forderungen müssen
von aktiven und oppositionellen GewerkschafterInnen in Betriebsgruppen,
Vertrauensleutekörpern oder auf Delegiertenkonferenzen eingebracht werden, um
die Bürokratie unter Druck zu setzen und kämpferische Kräfte zu gruppieren.

Um die Allmacht der
Apparate zu brechen, braucht es auch einen systematischen Kampf. Dieser muss
mit der Demokratisierung der Gewerkschaften beginnen. Wir müssen uns vor allem
dafür einsetzen, dass die Mitglieder, ja die Belegschaften allgemein über
Forderungen und Kampfmethoden entscheiden. Nur wenn sie ins Spiel kommen,
können Kräfteverhältnisse so geändert werden, dass andere Entscheidungen
möglich werden. Eine Handvoll Leute mit Resolutionen erreicht das nicht.

Verbunden werden muss das
mit dem Kampf gegen die Einschränkung der politischen Tätigkeit in den
Gewerkschaften selbst. Das gegenwärtige System der „Einheitsgewerkschaft“ kommt
einem politischen Maulkorb für jede oppositionelle, nicht-sozialdemokratische Strömung
gleich. Wir treten daher für das Recht auf Bildung politischer Fraktionen in
den Gewerkschaften und Betrieben ein.

Basisbewegung

Das erfordert, dass
programmatische Diskussionen, wie sie eine zukünftige Gewerkschaftslinke
braucht, helfen müssen, die bestehenden Differenzen demokratisch zu bearbeiten
und zugleich neuen AktivistInnen einen Zugriff auf diese zu erlauben. Also die
besten Traditionen der gewerkschaftlichen Bildung wieder aufzugreifen bei
gleichzeitiger Erarbeitung eines Aktionsprogramms für eine klassenkämpferische
Basisbewegung, eine organisierte anti-bürokratische Opposition.

Am Aufbau einer
Opposition können auch FunktionärInnen und Hauptamtliche teilnehmen. Das Ziel
kann und darf jedoch nicht darin bestehen, im Rahmen der bestehenden
bürokratischen Struktur einfach nur mehr Posten zu gewinnen oder Linke besser
zu vernetzen – es geht darum, das existierende bürokratische System zu
zerbrechen und durch ein arbeiterInnendemokratisches zu ersetzen. Alle
FunktionsträgerInnen auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene müssen
ihrer Basis rechenschaftspflichtig, von ihr gewählt und abwählbar sein. Kein/e
FunktionärIn darf mehr als ein durchschnittliches FacharbeiterInnengehalt
verdienen.

Heute haben Hauptamtliche
noch weniger Spielraum als früher und vielen, die als Linke einen solchen Job
haben, fehlt das politische Rüstzeug, um dem Druck des Reformismus und der
Sozialpartnerschaft standzuhalten. Das heißt nicht, dass die Krise der
Gewerkschaften nicht Risse im Apparat produzieren kann, die eine unabhängig
strukturierte Opposition auszunutzen vermag.

Vor allem aber darf sich
eine oppositionelle, klassenkämpferische Bewegung in Betrieb und Gewerkschaften
nicht von „linken“ Teilen des Apparates abhängig machen oder zu deren
ZuträgerInnen verkommen.

Politische Ausrichtung

Der systematische Kampf
gegen die Bürokratie und ihren Würgegriff, in dem sie die Gewerkschaftsbewegung
festhält, muss also im Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung münden,
die für eine andere Führung und eine andere Struktur der Gewerkschaften kämpft.

Auch wenn sie eine
Bewegung zur Erneuerung der Gewerkschaften darstellt, ist dieser Kampf
letztlich ein politischer: Er muss nicht nur für kämpferische Methoden
eintreten, sondern auch für ein wirkliches Verständnis des kapitalistischen
Systems und seiner Krise, seines Staates und seiner Herrschaftsmechanismen bei
den Kolleginnen und Kollegen.

Eine Wende der
Gewerkschaften muss mit einer Wende der Linken einhergehen: Die Gewerkschaften
müssen sich freimachen von der Fessel an die SPD. Die Linkspartei darf sich
nicht länger diesem Diktat unterordnen. Die linken Kräfte müssen auch mit der
Illusion brechen, dass die Linkspartei insgesamt eine substantielle politische
Alternative darstelle. Auch sie zielt nicht auf die Abschaffung des
Kapitalismus, sondern auf dessen Reform, dessen angeblich „gerechtere“
Ausgestaltung.

Die Politik des
Reformismus hat sich als Illusion erwiesen. Alle wichtigen Verbesserungen und
Reformen können in der gegenwärtigen Situation nur mit den Mitteln des
Klassenkampfes durchgesetzt werden. Reformen und Teilerfolge können die
Angriffe vielleicht stoppen und zurückwerfen – sie werden aber kein „neues“
Modell mit sich bringen, sondern rasch zu noch härteren Angriffen der
herrschenden Klasse führen. Die Kämpfe in Griechenland, in Frankreich oder in
Chile, die Putschbewegungen in Bolivien oder Brasilien verdeutlichen das. Die
kommenden Auseinandersetzungen – seien es drohenden Massenentlassungen,
Rassismus, Militarismus oder Umweltkatastrophe, verdeutlichen, dass es um die
Systemfrage geht.

Wir brauchen daher eine Opposition, eine
klassenkämpferische Basisbewegung, die nicht nur die Symptome bekämpft, sondern
auch das Problem an der Wurzel packt, die den Kapitalismus nicht zähmen,
sondern ihn überwin




SPD-Bundesparteitag: Alles kann, nix muss?

Tobi Hansen, Neue Internationale 243, Dezember 2019/Januar 2020

In der Stunde der Not ist auf „linke“ SozialdemokratInnen
Verlass. Auf dem Altar der „Einheit“ der Sozialdemokratie opferten Norbert
Walter-Borjans und Saskia Esken ihren bei der Urabstimmung um den Parteivorsitz
gerade errungenen Erfolg. Ein „Kurswechsel“ fand auf dem Parteitag nicht statt.
Er wurde vertagt, verschoben – die Große Koalition macht samt Olaf Scholz
weiter.

Dabei hatte der Sieg der beiden keynesianisch orientierten
KandidatInnen Walter-Borjans und Esken für einige Tage den SPD-Apparat, die
Bundestagsfraktion ebenso wie die bürgerliche Konkurrenz verunsichert.
Womöglich würden die beiden „unerfahrenen“ AußenseiterInnen nicht nur
Scholz/Geywitz übertrumpft haben, sondern auch noch die SPD-Politik ändern und
die Große Koalition beenden.

Nicht nur AfD, FDP und CDU, sondern auch etliche bürgerliche
Medien malten den „Linksschwenk“ der SPD an die Wand. Der Partei drohe der
Untergang, wenn sie keine „staatspolitische Verantwortung“ zeige, also den Kurs
beende, der sie an den Rand der politischen Existenz gebracht hatte. Genährt
wurden diese Befürchtungen durch die teilweise „radikalen“ Forderungen der
neuen Vorsitzenden und ihrer UnterstützerInnen.

Einige davon gingen zwar in die Beschlüsse des Parteitags
ein. Sie stellen jedoch angesichts der wichtigsten politischen Entscheidung des
Parteitages wenig mehr dar als eine Beruhigungspille für Jusos, Parteilinke und
GroKo-GegnerInnen. Entgegen den Hoffnungen und Forderungen des linken
Parteiflügels entschieden sich die neuen Vorsitzenden und der Parteitag dafür,
über die Fortführung der Bundesregierung erst gar nicht abzustimmen. Der
Parteitag verpflichtete die SPD-Regierungsmitglieder zu – nichts.

Einigkeit über alles

Dies entsprach der Parteitagsregie, auf die sich die neuen
Vorsitzenden und der alte Vorstand, Parlamentsfraktion und Apparat im Vorfeld
geeinigt hatten. Kampfabstimmungen sollten zu allen Fragen vermieden werden –
und das wurden sie auch.

Relativ rasch nach der Urabstimmung wurde klar, dass im
gemeinsamen Antrag des geschäftsführenden Vorstandes und der neu gewählten
Vorsitzenden kein Ende der Bundesregierung gefordert wurde. Stattdessen soll es
„Nachverhandlungen“ und Gespräche mit der Union geben, so die Kompromisslinie.
Vor allem die DGB-Bürokratie hatte ihre Vorstellungen für den Fortbestand der
Großen Koalition deutlich geäußert.

Der neue Vorstand wurde relativ einhellig gewählt: Norbert
Walter-Borjans erhielt 89,2 % und Saskia Esken 75,9 % der Stimmen.

Die gesamte „Einhelligkeit“ wurde bei der Wahl zu den
stellvertretenden Vorsitzenden deutlich. Da jedoch eine Kampfabstimmung
zwischen Juso-Chef Kühnert und Arbeitsminister Heil „drohte“, wurde die Zahl
der StellvertreterInnen einfach erhöht. Eine Kampfabstimmung hätte schließlich
den „Burgfrieden“ zwischen dem Regierungslager und den neuen Vorsitzenden
ziemlich gefährdet. Daher wurde noch am ersten Tag die Anzahl der zu Wählenden
auf 5 erhöht. Beide Kandidaten, Heil und Kühnert, kamen durch, wenn auch mit
den schlechtesten Ergebnissen. Kühnert landete mit 70,4 % knapp vor Heil mit 70
%.

Klara Geywitz, die mit Scholz zuvor gescheitert war, wurde
ausdrücklich auf Vorschlag der neuen Vorsitzenden als Vizechefin gewählt (76,8
%) genau wie die eher „links“ verortete Landesvorsitzende aus Schleswig-Holstein
Serpil Midyatli (79,8 %) und die Landeschefin aus dem Saarland Anke Rehlinger
(74,8 %).

Der erweiterte Parteivorstand, welcher von 36 auf 24
verkleinert wurde, inkludiert zum einen einige Kabinettsmitglieder (Giffey,
Schulze, Roth, Maas). Außerdem wurden „Fraktionslinke“ wie Miersch, der bei der
Wahl das beste Ergebnis erzielte, neben rechten SozialdemokratInnen wie
Pistorius gewählt. Berlins Bürgermeister Müller oder Ex-Parteivize Stegner
flogen immerhin deutlich aus dem Vorstand.

Kräfteverhältnis?

Ausgeschlossen von dieser Regie des Parteitages versuchte
das Forum Demokratische Linke 21 (DL 21) um die Abgeordnete Hilde Mattheis, den
Antrag für den sofortigen GroKo-Ausstieg doch durchzubringen. Dies wurde sehr
deutlich abgelehnt. Kühnert, zuvor die „Führungsfigur“ des No-GroKo-Lagers,
verteidigte und veranschaulichte den Kompromiss vor dem Parteitag. „Er verspüre
keine Oppositionssehnsucht in der Partei“, ließ er verlauten – und sprach
sodann gegen die Parteilinken. Keine Oppositionssehnsucht verspüren zweifellos
Kabinett, Fraktion und die bisherige Führung in Bund und Ländern. Die neuen
Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken konnten sich durch die
Einbindung der vormaligen Konkurrenz und den Aufstieg von Kühnert zunächst eine
Machtbasis schaffen, zuvor hatten sie de facto keine. Unisono waren auch alle
SozialdemokratInnen aus fast allen Lagern überzeugt, dass sie nur gemeinsam die
programmatische Erneuerung schaffen, an Glaubwürdigkeit wiedergewinnen und
alles aus der GroKo rausholen können. Neu im Amt landeten sie somit bei einer
Neuauflage der gescheiterten Nahles-Politik, das Land zu regieren und im
„Erneuerungsprozess“ zugleich virtuelle Opposition zu spielen. Diese Politik
scheiterte auf ganzer Linie – eine Wiederholung wird die Sache nicht besser
machen.

Die neuen Vorsitzenden werden zunächst gemeinsam mit
Vizekanzler Scholz und Fraktionschef Mützenich im Koalitionsausschuss die
„Gespräche“ führen. Dies gilt schon mal als „Erfolg“ einer anspruchslos
gewordenen Sozialdemokratie. Esken betonte, dass „die Parteien die Verträge
machen“ werden. Walter-Borjans/Esken vertreten zwar eine klassische
keynesianische Umverteilungspolitik und wollen mit der neoliberalen Agenda der
Regierungszeit brechen – aber nicht jetzt und nicht in der Praxis. Nach den
Beschlüssen des Parteitages zeigt sich nun auch Finanzminister Scholz bereit,
für Investitionen die „schwarze Null“ hinter sich zu lassen. Selbst Kreise der
Union würden die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro bis 2021 zunächst
unterschreiben. Ein unverbindliches „Mehr“ für Klimaschutz und Digitales ließe
sich für die Große Koalition ohnedies gut verkaufen.

Dies soll allen Ernstes eine „strategische“ Ausrichtung
darstellen. Das Profil soll „geschärft“ werden, die „sensationellen Ergebnisse“
der SPD-MinisterInnen, allen voran die Grundrente von Hubertus Heil, sollen
gewürdigt werden. Walter-Borjans/Esken stünden zwar weiterhin für ein
frühzeitiges Ende der GroKo zur Verfügung – aber sie wollen und werden es
selbst nicht aktiv in Angriff nehmen. Die Führungen der DGB-Gewerkschaften,
ihre Apparate und FunktionärInnen scheinen derzeit die verlässlichsten
Agenturen für den Erhalt der Bundesregierung zu sein, auch wenn – ähnlich wie
in der SPD – unter der Oberfläche auch dort Konflikte schwelen.

Auch wenn der Parteitag die „Einheit“ erhalten sollte, so
versuchen beide Seiten, BefürworterInnen wie GegnerInnen der GroKo, die
Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern. Eine wichtige Rolle wird
dabei die Fraktion einnehmen, die sich zuvor noch recht deutlich für
Scholz/Geywitz als neue Vorsitzende ausgesprochen hatte. Dort stellt die
„Parlamentarische Linke“, der auch Saskia Esken angehört, ca. ein Drittel der
Abgeordneten. Zusammen mit dem „Netzwerk“ und dem „Seeheimer Kreis“ sind das
ihre tragenden internen Zusammenschlüsse.

Die „Parlamentarische Linke“ war zwar nie sonderlich
„links“, jedoch im Unterschied zum „Seeheimer Kreis“ immer stark an den
Forderungen der Gewerkschaften, Verbände, NGOs orientiert. Was die neuen
Gespräche in der Bundesregierung im Koalitionsausschuss angeht, wird die
entscheidende Frage sein, ob die neuen Vorsitzenden eine Basis in der Fraktion
erobern können. Die neuen Vorsitzenden sind nur auf Zeit bestellt. Die
endgültige Haltung zur Bundesregierung ist noch nicht festgelegt, wie auch
Entscheidungen zu den nächsten Wahlen noch anstehen. Der Parteitag stellte nur
eine weitere Station der tiefen Krise der SPD dar.

Ergebnisse und Perspektiven

Auch wenn Norbert Walter-Borjans, Saskia Esken und Kevin
Kühnert de facto zunächst den Nahles- Kurs fortsetzen, so haben sie dafür aber
erst mal neue Mehrheiten. Recht langsam soll eine Verabschiedung von der
„Agenda-Politik“ hin zu einer der Umverteilung (Mindestlohn, Grundrente, Hartz
IV) eingeleitet werden – und all das bei laufender Regierungsbeteiligung
inklusive aller anfallenden Widersprüche zwischen Beschlüssen und Praxis.

In der kommenden Periode wird diese an sich schon
widersprüchliche und selbstmörderische Politik erst recht fatal. Erstens wird
die Union selbst den Preis für die GroKo und damit für Zugeständnisse der SPD –
z. B. in Fragen der Rüstungs- und Verteidigungspolitik – nach oben treiben.
Zweitens verengt die kommende Krise den Verteilungsspielraum selbst für eine
zahme keynesianische Politik.

Bemerkenswert ist nicht so sehr, dass sich auch in der SPD
mit der Wahl von Walter-Borjans/Esken der Wunsch der Mehrheit der
Parteimitglieder manifestierte, mit der offen neoliberalen Politik Schluss zu
machen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass der vorsichtige, kompromisslerische Versuch,
den „Sozialstaat“ wiederzubeleben, vom deutschen Kapital, den
Unternehmerverbänden wie auch den bürgerlichen Medien heftig denunziert und
diskreditiert wird. Glaubt man manchen LeitartiklerInnen, so erscheinen die
vorsichtigen Reformbeschlüsse als Weg zu Sozialismus und Chaos. Die mediale
Schlammschlacht gegen Saskia Esken, ihre teuren Schuhe und ihre soziale
Unverträglichkeit im Landeselternbeirat von Baden-Württemberg wird
aufgebauscht. Eine ähnliche Neugier gibt es nicht, wenn es um Friedrich Merz
geht, wahrscheinlich wäre das Material zu umfangreich.

Die Nervosität der deutschen Bourgeoisie erklärt sich
natürlich vor allem aus der Krise der gesamten bürgerlichen Parteienlandschaft,
der EU und des drohenden Zurückfallens in der internationalen Konkurrenz.

Bezüglich der SPD zeigt sie sich gespalten. Einerseits
könnten die Sozialdemokratie, die liebgewonnene Marionette, und die mit ihr eng
verbundenen Gewerkschaften in der kommenden Krise noch einmal zur Befriedung
der ArbeiterInnenklasse gebraucht werden. Daher könnte das Auslaufmodell GroKo
noch nützlich werden, auch wenn abzusehen ist, dass sich die treue Dienerin SPD
nach Kriegen gegen Jugoslawien und Afghanistan, Agenda 2010, EU-Formierung,
Krisenpaketen, Austerität verbraucht hat.

Zum anderen fürchtet die herrschende Klasse, dass sich ein
Machtwechsel in der SPD zu einer späten Wiederbelebung eines linken Reformismus
à la Corbyn auswachsen könnte. Die Niederlage der Labour Party kommt daher auch
innenpolitisch durchaus zur rechten Zeit. Vor allem aber möchte die Bourgeoisie
verhindern, dass die unter Schröder vollzogene Wende der SPD zur „neuen Mitte“
revidiert wird.

Konflikte

Auch wenn die neuen Vorsitzenden die grundsätzlich
bürgerliche Ausrichtung der Sozialdemokratie keineswegs in Frage stellen
wollen, so ist es vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet schon ein
Skandal, dass sie zu einer keynesianisch orientierten Umverteilungspolitik
zurückkehren und die Agenda-Politik hinter sich lassen wollen.

Diesen Konflikt, diese Krise der SPD sollten auch die
sozialen Bewegungen und GewerkschafterInnen für ihre Ziele nutzen. Der
Gegensatz zwischen den über 100.000, die mit der Wahl von Walter-Borjans/Esken
auch gegen die Fortsetzung der GroKo stimmen wollten, und der Parteiführung
muss zugespitzt werden – auch mit dem Ziel, ihr Ende zu erzwingen.

2020 kann durch Kämpfe gegen Massenentlassungen,
Tarifrunden, Klimakatastrophe, Mietenwahnsinn und weitere soziale Bewegungen
ein Ende der GroKo herbeiführen. Das erfordert aber, diese Kämpfe und Konflikte
in die DGB-Gewerkschaften zu tragen, die Basis von Linkspartei und SPD zum
gemeinsamen Kampf aufzufordern gegen Klimawandel, für Mindestlohn, Vermögens-
und Reichensteuer.




Vor der nächsten Krise: Eine neue Strategie für die Gewerkschaften!

Frederik Haber, Neue Internationale 242, November 2019

Die nächste große Krise der Weltwirtschaft steht vor der
Tür. Auch in Deutschland kippt die Entwicklung Richtung Rezession. Besonders
betroffen ist die Auto- und Zulieferindustrie, das viel beschworene Flaggschiff
der deutschen Industrie und des Exports. Tausende Stellen werden schon
gestrichen. Die Arbeitsplätze werden nicht wieder besetzt, aber Tausende sollen
in den nächsten Monaten auch entlassen werden. Unvermeidlich werden die
verschiedenen Krisenherde sich gegenseitig verstärken. Verschärfte Konkurrenz
und Handelskriege können alles schnell schlimmer machen.

Gewerkschaftstage

Ver.di und IG Metall haben ihre Gewerkschaftstage abgehalten
und dabei so getan, als ginge sie das nichts an. Krise, wo sie herkommt, welche
Gefahren es gibt, wie verhindert werden kann, dass wieder die
ArbeiterInnenklasse mit Arbeitsplätzen, Reallohnverlust und weiterer
Prekarisierung bezahlt – keine Themen. Digitalisierung ist zwar ein Punkt, aber
die Gewerkschaftsführungen akzeptieren sie, fordern eine sozialverträgliche
Umstellung und tun so, als ob diese „partnerschaftlich“ möglich wäre.

Gleiches gilt für den Klimaschutz. Offiziell sind die
DGB-Gewerkschaften dafür. Praktisch tun sie nicht viel und da, wo er dem
Kapital nicht passt, machen sie weiter wie bisher. Ähnlich wie die
Bundesregierung.

Aber alle diese Themen spitzen sich auch in den Betrieben
zu. Da werden Debatten über neue Zusatzrenten wie bei der IG Metall nichts
helfen. Appelle an die Arbeit„geberInnen“ und die „Politik“ auch nicht.
Arbeitszeitverkürzung, selbst bezahlt mit Lohnverlust, wie sie die IG Metall
vor zwei Jahren vereinbart hat und wie sie ver.di für den öffentlichen Dienst
plant, kann als selbst bezahlte Kurzarbeit höchstens ein Tröpfchen auf die
heißen Steine sein, die demnächst nicht mehr ignoriert werden können, wie dies
die Gewerkschaftsbürokratie derzeit noch tut.

Auch wenn in den Gewerkschaften – nicht nur auf den
Kongressen – um die drohenden Gefahren keine wirkliche Debatte stattfindet, es
gibt Unbehagen und Unmut.

Unzufriedenheit

Ein Zeichen war die Klatsche für IGM-Chef Hofmann auf dem
Gewerkschaftstag, als er das schlechteste Wahlergebnis eingefahren hat, das
jemals ein Vorsitzender ohne GegenkandidatIn erhielt. Ein Signal war auch die
Umfrage, die die IGM-Spitze im letzten Jahr unter den Mitliedern machen ließ –
nicht von den Vertrauensleuten, sondern ganz management-modern von einem
Beratungsinstitut: Die immer noch hohe Zufriedenheit mit der Politik und den Ergebnissen
der Organisation war gepaart mit einer dramatisch abgestürzten „Bindungskraft“.

Diese vage Unzufriedenheit oder kriselnder Glaube an die
Führung können sich in den Strukturen solcher Organisationen nur sehr schwer
manifestieren und formulieren. Im Gegenteil, die Strukturen wie die Politik des
Apparates sind voll darauf fokussiert, Kritik mundtot zu machen oder zu
isolieren, WortführerInnen einzukaufen oder zu entfernen. Eine neue, andere
Strategie – ja selbst die Debatte darüber – muss organisiert angegangen, müsste
dem Apparat von einer klassenkämpferischen Opposition erst aufgezwungen werden.

Doch diese existiert nicht, allenfalls in bescheidenen
Ansätzen. Die kleinen oppositionellen Kerne in den Strukturen müssen sich
vernetzen, aber mehr als das: Sie müssen auch Diskussionen und Initiativen
absprechen und koordinieren. Sie dürfen sich nicht auf in den
Gewerkschaftsgliederungen aktive Oppositionelle beschränken, sondern müssen
auch kämpferischen, aber von den Gewerkschaften desillusionierten Mitgliedern
eine Perspektive zeigen.

Das erfordert den Aufbau verbindlicher Strukturen, die
letztlich darauf abzielen müssen, eine andere Politik gegen die heutige Führung
durchzusetzen und damit auch diese zu ersetzen. Es erfordert nicht nur den
Kampf gegen einzelne BürokratInnen, sondern das Brechen der Macht und Kontrolle
des Apparates über die Gewerkschaften.

Praktisch erfordert das, örtliche und betriebliche Kerne
aufzubauen, die in der Lage sind, an Brennpunkten, z. B. in Betrieben, die
gegen Entlassungen oder für Tarifverträge kämpfen, solidarische Unterstützung
zu organisieren und den kämpfenden KollegInnen zu helfen, eigene Vorschläge zur
Führung des Kampfes gegen den Ausverkauf durch die BürokratInnen zu
entwickeln  und durchzusetzen. Es
bedeutet auch von Anfang an, dass sich diese nicht nur um rein
gewerkschaftliche Fragen, sondern auch um politische – Kampf gegen Rassismus,
Abschottung der EU, internationale Solidarität und Mobilisierung zum
Klimastreik, um nur einige Beispiele zu nennen – gruppieren.

Strategiekonferenz 2020

Nach vielen Jahren gibt es wieder eine Chance für den Aufbau
einer solchen Struktur. Bis etwa 2005 hatte es bundesweite Konferenzen der
Gewerkschaftslinken gegeben, die bis zu 400 TeilnehmerInnen versammelt hatten.
Diese waren immer geprägt vom Widerspruch zwischen denen, die daraus handelnde
Strukturen aufbauen, und denen, die nur „Austausch“ pflegen wollten.

Der Aufbau der Linkspartei löste den Konflikt in Richtung Unverbindlichkeit. Die Konferenzen unter dem Titel „Erneuerung durch Streik“ dominierten das Feld. Auf der letzten dieser Art, die im Februar 2019 in Braunschweig stattgefunden hat, wurde aber mehr Leuten klar, dass dieses Format nicht reicht, um das, was eigentlich nötig wäre, anzugehen. Am 25./26. Januar 2020 soll eine Strategiekonferenz in Frankfurt/M. stattfinden. Die Kernthemen stehen auf der Agenda. https://www.vernetzung.org/.

Damit aber auch da qualitativ und quantitativ was rauskommt,
muss noch viel passieren. Betriebliche AktivistInnen müssen verstehen, dass
nicht ihr/e Betriebsratsvorsitzende/r das Problem ist, sondern die
SozialpartnerInnenschaft, die alle Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit heute
durchzieht.

Mit anderen Worten: Die betrieblichen AktivistInnen und die
betrieblich engagierten Linken dürfen nicht denselben Fehler machen wie die
Gewerkschaftsbürokratie, nämlich zu glauben, sich durch die kommende Krise
wurschteln zu können. Auch die Linke kann noch mehr in die Defensive kommen,
als sie heute schon ist. Sie kann aber auch gewinnen, wenn sie die Antworten
gibt, die die bürokratischen Führungen heute verweigern!

Fragen

Dazu muss die Konferenz im Januar neben der Vernetzung und
dem notwendigen Aufbau handlungsfähiger Strukturen vor allem auch strategische
Fragen klären: Welches Aktionsprogramm brauchen wir zum Aufbau einer
klassenkämpferischen, organisierten Basisbewegung gegen die Bürokratie? Wie
kann eine solche nicht nur in Deutschland aufgebaut, sondern auch mit ähnlichen
Initiativen in ganz Europa, ja global vernetzt werden?

Die Diskussion um diese Fragestellungen ergibt sich
letztlich aus dem Charakter der kommenden Angriffe. Der globale Kapitalismus
bewegt sich auf einen erneuten Krisenausbruch zu. Die Abwälzung seiner Kosten
auf die Lohnabhängigen wird nur durch Methoden des Klassenkampfes – Besetzungen,
politische Großdemonstrationen und Massenstreiks – zu verhindern sein. Zugleich
werfen die kommenden Auseinandersetzungen die Frage nach einem
anti-kapitalistischen Aktionsprogramm der ArbeiterInnenklasse auf, das
notwendigerweise nicht nur ein gewerkschaftliches, sondern ein
gesamtgesellschaftliches sein muss. Und schließlich muss dieser Kampf
international koordiniert geführt werden, da national isolierte Kämpfe – zumal
in der EU – unvermeidlich an ihre Grenzen stoßen werden.

Die Strategiekonferenz im Januar bietet den Rahmen, diese Fragen nicht nur in kleinen Zusammenhängen, sondern mit all jenen zu diskutieren, die über eine Gewerkschaftsopposition nicht nur reden, sondern einen erneuten Anlauf zu ihrem Aufbau machen wollen.

Strategiekonferenz 2020

Für eine kämpferische Gewerkschaftspolitik

25./26. Januar 2020

Frankfurt/Main, DJH Jugendherberge, Deutschherrnufer 12

Programm und Anmeldung: https://www.vernetzung.org




Bundesbank fordert Rente mit 70. Was für eine geniale Idee!

Eine Glosse von Kuno Benz, Infomail 1074, 25. Oktober 2019

Endlich ist die Non-Plus-Ultra-Lösung gegen Wirtschaftskrise,
Altersarmut, Demoskopie und Demenz gefunden! Keine geringere Institution als
die Bundesbank darf sich als Retterin der Nation fühlen! Man erhöht einfach das
Renteneintrittsalter und schon floriert die Wirtschaft wieder. Die Arbeitslosen
verschwinden wie von selbst, denn sie dürfen ja nun bis 70 arbeiten! Die
Gewerkschaften beschäftigen sich endlich statt mit
Arbeitskämpfen-aus-dem-Weg-Gehen mit der Frage des
Kampf-gegen-die-Rente-mit-70-Vermeiden. Immerhin hat man darin ja noch den
Erfahrungsschatz des Rente-mit-67-durchgehen-Lassens.

Die KollegInnen in den Betrieben sind da bereits weiter. Schon gibt es
Vorschläge, spezielle Pflegestationen einzurichten mit krankengerechten
Bildschirm-Arbeitsplätzen. Die Pflegekräfte (viele neue Arbeitsplätze!) kommen
dann in den Bildschirmpausen, um die MitarbeiterInnen zu füttern und die Windeln
zu wechseln. Es gibt keine chronisch fehlenden Pflegeheimplätze mehr, die
Pflege verlagert sich einfach in die Betriebe – und schon sind wir dem uralten
Wunsch des generationenübergreifenden gemeinsamen Lebens und Arbeitens ein
Stück nähergekommen.

Dumm nur, dass viele KollegInnen solche Chancen gar nicht sehen wollen
und sich womöglich daran erinnern, wie mit spontanen Streiks 1996 die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verteidigt wurde und die Gewerkschaften nur
mit viel Mühe die Bewegung wieder einfangen konnten.

Noch schlimmer aber wird es um so geniale Ideen wie der Rente mit 70
bestellt sein, wenn die ArbeiterInnenbewegung erst Ernst macht mit Forderungen
wie „gleitende Arbeitszeitskala“ – also Reduzierung der Arbeitszeit so lange,
bis es keine Arbeitslosen mehr gibt – verbunden mit einer
ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion.

Wenn dann 70-jährige BundesbankpräsidentInnen und
WirtschaftsministerInnen auch noch in der Produktion mitarbeiten, dann können
sie erst richtig zeigen, was in ihnen steckt. Ob sie aber dann
noch immer so geniale Ideen produzieren?