Entstehung und Charakter des Staates Israel

Teil 4 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 7, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1249, 23. März 2024

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: „Wie ist der israelische Staat entstanden und wie lässt er sich charakterisieren?“

Schon in unserer vergangenen Folge haben wir uns mit dem Zionismus und somit auch mit Israel befasst. Bevor wir uns in der kommenden Folge unserem Aktionsprogramm für den palästinensischen Befreiungskampf zuwenden, möchten wir heute noch mal genauer auf die Entstehungsgeschichte und den Charakter des Staates Israel eingehen.

Die Entstehung Israels lässt sich einordnen in die Periode der sogenannten „Dekolonialisierung“ nach dem Zweiten Weltkrieg – also der Ablösung der direkten Kolonialherrschaft durch indirekte postkoloniale Systeme, in welchen imperialistische Mächte noch immer durch politische und wirtschaftliche Mittel die halbkoloniale Welt in ihrer Knechtschaft halten. In unserer Folge zur Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus haben wir dabei eine historische Skizze zu den Auseinandersetzungen zwischen dem Assimilationsansatz, der marxistischen und der zionistischen Perspektive zum Kampf gegen die Unterdrückung von Jüdinnen und Juden präsentiert, die vor allem das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert prägten.

Existenzrecht des jüdischen Volkes

Ohne selbst eine imperialistische Macht darzustellen, fungiert Israel seit seiner Gründung im Mai 1948 als kapitalistisch organisierter Staat in dieser Entwicklung als willkommener „engster Verbündeter“ für westliche Imperialismen, um durch ihn Kontrolle über den Nahen Osten auszuüben und sich den Zugang zu wertvollen Rohstoffen zu sichern.  In diesem Sinne lässt sich Israel in seiner Entstehung als „letzte Siedler:innenkolonie des Westens“ bezeichnen, welche ohne die massive militärische und wirtschaftliche Unterstützung, insbesondere der USA, nicht überlebensfähig wäre. Der enorme Kapitalimport erlaubte in den 1950er und 1960er Jahren satte Gewinne, ohne zugleich wesentliche Teile der israelischen Arbeiter:innenklasse in die Überausbeutung zu drängen oder in besonderem Maße besteuern zu müssen, wie es in Halbkolonien meist der Fall ist. Viel eher stieg der Lebensstandard der jüdischen Bevölkerung parallel zur Akkumulation. Nichtsdestoweniger ist Israel kein imperialistischer Staat. Dafür ist er nicht einerseits ökonomisch zu schwach und andererseits kein unabhängiger Akteur, der der Welt seinen Stempel aufdrücken kann. Außerhalb des arabischen Raums spielt er im Weltgeschehen allenfalls eine Nebenrolle. Er ist vielmehr selbst eine besondere Halbkolonie insbesondere der USA und in gewissem Maß der EU geworden, der aus sich heraus einen fortgesetzten Neokolonialismus betreibt, ein besonderer imperialistischer Statthalter oder auch Brückenkopf. Über die vergangenen Jahrzehnte gibt es kein Land auf dieser Welt, das so umfassende Militärhilfe von den USA erhalten hat. Auch Deutschland hat beispielsweise seit dem 7. Oktober seine Waffenlieferungen an Israel verzehnfacht.

Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina sowie immer wiederkehrende Unruhen in der Region, die selbst ein Ergebnis der neokolonialen Abhängigkeit, Unterdrückung und imperialistischer Kriege sind, liefern der ständigen Präsenz der USA in der Region dabei den Vorwand.

Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung des israelischen Staates war, wie wir bereits in unserer vergangenen Folge thematisiert haben, der Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung welcher in die Schoa mündete. Ohne diesen tragischen Massenmord hätte der zionistische Ansatz, als scheinbare Alternativlosigkeit, niemals einen so großen Zuspruch unter Juden und Jüdinnen erreichen können. Jedoch, und das stellten wir in unserer ersten Folge heraus, eine Perspektive, die den Antisemitismus als überhistorisch gegeben akzeptiert und damit die Unterdrückung anderer rechtfertigt. Seit mehr als 70 Jahren hat sich auf dem Gebiet Palästinas eine israelische Nation herausgebildet, die ein uneingeschränktes Existenzrecht auf eben dieses beansprucht. Dieses Existenzrecht muss der dort lebenden jüdischen Bevölkerung uneingeschränkt zugestanden werden. Alles andere wäre äußerst reaktionär und entspräche auch nicht der Vorstellung, die wir von einer sozialistischen und säkularen Ein-Staaten-Lösung haben. Die Anerkennung der Existenz einer jüdischen Nation auf dem Territorium des historischen Palästina darf aber nicht verwechselt werden mit der Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel, welchen wir als rassistisches Projekt ablehnen. Dafür führen wir die kurze Definition des Verhältnisses von Nation und Staat aus der ersten Folge unserer Podcastreihe zum Antisemitismus an:

Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Nakba und Besatzungsregime

Nach wie vor sind es aber wesentliche Elemente, die Israel als zionistisches Projekt und unterdrückerisches Kolonialregime ausmachen und starke Tendenzen bis hin zum Völkermord an den Palästinenser:innen in sich tragen. Eines dieser Elemente ist das israelische Besatzungsregime, welches auf Grundlage der ethnischen Säuberung und der Vertreibung von 750.000 Palästinenser:innen errichtet wurde. Dies geschah entgegen der ursprünglich im UNO-Teilungsplan vorgesehenen gemeinsamen Verwaltung. Die arabische Bevölkerung hatte lediglich die Wahl, sich zu unterwerfen oder zu fliehen. Von ihr wird diese historische Tragödie als Nakba bezeichnet, was das arabische Wort für Katastrophe ist – ein Krieg von 1947 bis 1949. In der Nakba wurden 1948 78 % Palästinas erobert. Durch zionistische Milizen und die Armee wurden mindestens 750.000 Palästinenser:innen vertrieben, viele weitere flohen. Die Anzahl der arabischen Bevölkerung im von Israel beanspruchten Gebiet verringerte sich von etwa 1.324.000 1947 auf etwa 156.000 ein Jahr später. Der größte Teil der Menschen mit palästinensischer Herkunft lebt heute außerhalb der Gebiete Palästinas. So wird beispielsweise vermutet, dass etwa 60 bis 70 % der Jordanier:innen (insgesamt 4,5 Millionen) aus Palästina kommen oder palästinensische Vorfahren haben. Das UNRWA geht heute von etwa 5 Millionen palästinensischen Geflüchteten aus. Rund 1,5 Millionen von ihnen leben in den 58 Camps im Westjordanland, Gaza, aber auch Jordanien, Syrien und dem Libanon.

Bis heute ist es den palästinensischen Bürger:innen Israels verboten, der Nakba zu gedenken. Der Schrecken endete damals jedoch noch lange nicht: Im 6-Tage-Krieg 1967 schloss Israel die Besetzung aller verbliebenen palästinensischen Gebiete ab, indem die IDF das gesamte Westjordanland und Gaza einnahm und weitere 300.000 Menschen vertrieben wurden. Seitdem sind die Palästinensischen Autonomiegebiete unter eine de facto Kolonialverwaltung gesetzt worden. Dies widerspricht eindeutig der UNO-Resolution 242, welche seit 1967 das Ende der israelischen Kontrolle über die besetzten Gebiete verlangt.

Wie wir in unserer Folge zur historisch-materialistischen Perspektive über die Entstehung und den Charakter von Antisemitismus und Antijudaismus deutlich machten, beginnt die Geschichte nicht mit der Nakba, sondern bereits mit einem ungleichen Verständnis des Nationalstaatsbegriffs und seines Charakters zwischen der religiösen Aufladung und der bürgerlichen Epoche.

Ein weiteres Element, was Israel als Kolonialregime ausmacht, ist, dass es den Vertriebenen vehement das Recht auf Rückkehr verweigert. Alle in der Westbank, einschließlich Ostjerusalem, verbliebenen Araber:innen wurden unter besonderes Militärrecht gestellt, während für die dort lebenden Siedler:innen das israelische Zivilrecht gilt. Es ist auch der Siedler:innenkolonialismus, der zu einer anhaltenden Annexion in den besetzten Gebieten führt. Unterdessen ist die Zahl der jüdischen Siedler:innen, welche in der Westbank und in Ostjerusalem in festungsartigen Siedlungen leben, seit 2007 um 700.000 Menschen angestiegen. Als Siedler:innenkolonialismus wird die Kontrolle über ein Territorium bezeichnet, die nach Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch eine andere trachtet. Historische Beispiele sind neben Palästina beispielsweise auch Australien und die USA.

Die Spaltung der palästinensischen Bevölkerung, welche ein typisches Merkmal kolonialistischer Beherrschungspolitik ist, erinnert unweigerlich an das Apartheidssystem Südafrikas: Mehr als 50 Gesetze diskriminieren palästinensisch-israelische Bürger:innen in Bezug auf Landbesitz, Wohnen, Familienleben, Bildung und viele weitere Lebensbereiche. Den Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten werden jedoch schon die elementarsten Rechte verwehrt, auch wenn versucht wird, über diesen Umstand durch die Farce einer angeblichen Eigenstaatlichkeit hinwegzutäuschen. Anders als im südafrikanischen Apartheidssystem ist das zionistische Regime jedoch nicht in dem Maße auf arabische Arbeitskraft angewiesen – ein qualitativer Unterschied zwischen klassischem Kolonialismus und Siedler:innenkolonialismus. Insbesondere, als seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die sich bis dato größte Einwanderungsbewegung vollzog, ist Israel mit ausreichend, überwiegend russischer und ukrainischer, Arbeitskraft versorgt worden, welche hervorragend zur Ausbeutung dient.

Als 1996 die Osloer Friedensprozesse scheiterten, auch, da die zionistische Rechte den Siedler:innenkolonialismus als identitätsstiftendes Moment nicht aufgeben wollte, kam es zum Niedergang des säkularen zionistischen Lagers und es vollzog sich der Ausbau eines rein jüdischen Israel. Das sogenannte Palästinenser:innenproblem ließ sich aber nicht, wie von den Zionist:innen erhofft, einfach beseitigen. Spätestens seit dem 7. Oktober ist die Vision einer ethnischen Säuberung im Zionismus eine für viele akzeptable geworden. Bezeichnend dafür ist, dass der rechtsextreme Finanzminister der Regierung Netanjahu, Bezalel Smotrich, ganz offen formulierte, dass die verbleibende palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten sich entweder zu assimilieren oder das Land zu verlassen habe. Was er nicht sagt, ist, dass diese, wenn sie weder das eine noch das andere mit sich machen lässt, weiterhin mit fortgesetztem Krieg gegen sie zu rechnen hat.

Zionismus und Spaltungen

Landesweite Proteste und massiver Widerstand gegen die Justizreform der israelischen Regierung im vergangenen Juni zeigten, dass sich auch in der jüdischen Bevölkerung Ansätze zum Aufbegehren gegen den herrschenden Rechtszionismus regen. Leider war der Widerstand in Israel nicht bereit, seinen Kampf mit dem ihrer unterdrückten arabischen Klassengeschwister zu verbinden. Hier werden die Fehler deutlich, die auch der Linkszionismus begeht, indem er sich bisher nicht willens zeigte, eine wirkliche Konfrontation mit dem zionistischen Chauvinismus einzugehen. Seitens der israelischen Gewerkschaften hat es zwar darüber Auseinandersetzungen gegeben, in welchem Maß nicht-jüdische Arbeiter:innen ausgrenzt werden, aber die Histadrut als Dachorganisation der israelischen Gewerkschaften hat für das zionistische Projekt immer als gelbe Gewerkschaft durch ihren staatstragenden Charakter gewirkt. Die Histadrut wurde bereits 1920 von Linkszionist:innen gegründet, auch Labourzionist:innen genannt. Der Dachverband nahm damals eine entscheidende militärische, wirtschaftliche und politische Rolle im Kolonialisierungsprozess und in der Vertreibung der Palästinenser:innen ein. Statt die Klasseneinheit und Solidarität mit den palästinensischen Arbeiter:innen zu fördern, setzte er sich stattdessen für den Ausschluss und die Entrechtung derselben ein. Er kann demnach weniger als einfache Gewerkschaft eingeordnet, sondern muss vielmehr als ein Grundpfeiler des Kapitalismus in Israel verstanden werden. Die Klassendifferenzierung und Polarisierung in Israel zu unterdrücken und hinauszuzögern, ist ihr Vermächtnis. Somit ist aus einer proletarischen Klassenkampfperspektive klar, dass die Histadrut von der israelischen Arbeiter:innenklasse durch eine Gewerkschaft ersetzt werden muss, die allen Arbeiter:innen, unabhängig von ihrer Ethnie, Zugang zu ihren Strukturen gewährt. Letztlich ist es die Arbeiter:innenklasse, als einzige multi-ethnische Kraft in der Lage, die nationalistischen Spaltungslinien zu überwinden, oder wäre zumindest potentiell dazu imstande. Aber sie kann nur dann eigenständig als Kraft auftreten, wenn sich jüdische, palästinensische und migrantische Arbeiter:innen in gemeinsamen Kampforganisationen für ihre Interessen verbinden. Hierfür braucht es sowohl den Bruch mit dem Zionismus wie mit dem korrupten palästinensischen Nationalismus und reaktionären Islamismus. 

Im Laufe der vergangenen 75 Jahre haben die Jüdinnen/Juden Israels ihre ursprüngliche ethnische Verschiedenheit teilweise durch eine gemeinsame nationale Kultur ersetzen können. Ein wesentliches Element ihres Nationalbewusstseins ist jedoch durch ihre chauvinistische Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung geprägt. Dies bildet die Grundlage dafür, der zionistischen Erzählung, das Volk Israel sei das für Palästina bestimmte, Taten folgen zu lassen – also die Vertreibung der Palästinenser:innen aus der Region und ihre rein jüdische Besiedelung. Um überhaupt ein Nationalbewusstsein zu entwickeln, wurde einer anderen Ethnie ein solches Recht auf nationale Selbstbestimmung abgesprochen. Hinsichtlich der israelischen Nationalidentität gibt es jedoch auch ethnische und klassenspezifische Aspekte, die diese umfassende Identität spalten. Diese Spaltung vollzieht sich nicht nur zwischen israelischen Araber:innen und Juden/Jüdinnen, sondern auch innerhalb der israelisch-jüdischen Gemeinschaft:

So sind es die Aschkenasim, die das Land 1948 kolonialisiert haben, und daher auch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die privilegierten Positionen beziehen. Sie stellen die ansehnliche Arbeiter:innenaristokratie aber auch -bürokratie dar, die mittleren und leitenden Positionen der Staatsbürokratie und ihre Kultur wird als die vorherrschende betrachtet. Zudem werden über sie wichtige Verbindungen zu der in den USA und Europa lebenden, ökonomisch bedeutsamen jüdischen Gemeinschaft gehalten.

Seit der Staatsgründung war jedoch klar, dass es orientalische Jüdinnen und Juden braucht, welche als Arbeitskräfte für halbqualifizierte Berufe und niedere Arbeiten eingesetzt werden konnten. So holte man ebendiese gezielt ins Land, welche sich nicht wegen antisemitischer Verfolgung, sondern in der Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard in die unteren Reihen der israelisch-jüdischen Arbeitsgemeinschaft eingliederten. Durch die Besetzung des Westjordanlands 1967 wurden jedoch massenhaft arabische Arbeiter:innen in die israelische Wirtschaft integriert. Dies ermöglichte einer Vielzahl von Juden/Jüdinnen von der Position der Arbeiter:innnen in die der Kleinunternehmer:innen aufzusteigen und als solche arabische Beschäftigte unter sich zu vereinen. Alle Parteien sowie die jüdische Bourgeoisie sehen die Notwendigkeit, sich konjunkturell auch fortwährend mit arabischen Arbeiter:innen versorgen zu müssen, auch wenn dies tendenziell abnimmt. Letztlich ist nicht nur die israelisch-jüdische Gemeinschaft in sich gespalten, sondern auch die Gruppe der orientalischen Jüdinnen/Juden unterteilt sich ihrerseits in vier weitere Untergruppen, zwischen welchen tief verwurzelte Feindschaften herrschen. Auch hier gibt es eine ökonomische Schichtung.  
All diese Spaltungen, die von den weißen Aschkenasim maßgeblich gefördert werden, zeigen deutlich, dass die israelische Arbeiter:innenklasse, auch wenn sie von der Unterdrückung und Überausbeutung der arabischen Israelis profitiert, letztlich eine Verliererin in ihrem kapitalistisch organisierten Staat ist.

Daher legen wir euch auch unsere nächste Folge ans Herz, welche sich damit beschäftigen wird, was es braucht, um eine freie, säkulare und sozialistische Ein-Staaten-Lösung zu erkämpfen. Aber das ist eine andere Frage zur Lage der Klasse.




München: Statement palästinasolidarischer und palästinensischer Gruppen zu den unwahren Vorwürfen mehrerer Stadtratsfraktionen zur Demonstration am 8. März 2024

Revolutionäre Internationalistische Organisation – Klasse Gegen Klasse; Palästina Spricht München; Queer Resistance; Gruppe Arbeiter:innenmacht München, Infomail 1248, 20. März 2024

Mit Empörung haben wir von dem fraktionsübergreifenden Offenen Brief der Münchner Stadtratsfraktionen von Die Grünen – Rosa Liste, SPD/Volt, FDP, Bayernpartei, ÖDP/München Liste und CSU mit Freie Wähler Kenntnis genommen. Wir halten dieses Statement mit dem Titel „Antisemitismus entschieden entgegentreten“ für den Versuch, feministische Rhetorik zu instrumentalisieren, um die Opposition gegen den Genozid in Gaza zum Schweigen zu bringen und jegliche Solidarität zu unterdrücken. Die in dem Statement erhobenen Vorwürfe entsprechen nicht den tatsächlichen Vorfällen.

Kein Mensch gleich welchen Geschlechts wurde auf der Kundgebung wegen Glaube oder Herkunft ausgeschlossen oder gar angegriffen, wie das Statement unterstellt. Das Statement der Stadtratsfraktionen versucht im Anschluss an einen hetzerischen Artikel in der „Bild“, einem der antifeministischsten Blätter der Bundesrepublik, einen Skandal zu konstruieren, wo es keinen gibt. Der eigentliche Skandal besteht in dem Versuch prozionistischer Kräfte, die das andauernde Massaker in Gaza mindestens billigen, wenn sie es nicht sogar gutheißen, eine feministische Veranstaltung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Als palästinasolidarische und palästinensische Organisationen haben wir an der Demonstration zum Internationalen feministischen Kampftag teilgenommen, um auszudrücken, dass ein Ende der sexistischen Unterdrückung weltweit auch das Ende kolonialer Unterdrückung bedeuten muss. Während Israel in Gaza mehr als zehntausend Frauen ermordet und hunderttausende mehr systematisch aushungert, den Zugang zu Gesundheitsversorgung verhindert und dadurch hohe Zahlen von Fehlgeburten verursacht hat und Palästinserinnen entführt, vergewaltigt und foltert, betrachten wir es als selbstverständliche Pflicht aller feministisch eingestellten Menschen, die Stimme zu erheben: Genozid ist auch Femizid. Wir sind überzeugt, dass die aktuelle Situation in Gaza ein zutiefst feministisches Thema ist und auch direkt mit der Situation von Frauen weltweit zu tun hat.

Das Statement der Stadtratsfraktionen geht hierauf mit keiner Silbe ein. Stattdessen wird hier bewusst der 7. Oktober als Ausgangspunkt der Gewalt genommen, während die jahrzehntelange Besatzung sowie sexualisierte Gewalt gegen palästinensische Frauen und Mädchen durch den israelischen Staat unerwähnt bleiben.

Dass sich die Teilnehmenden des sogenannten „Spaziergangs“ nicht der Demonstration zum Internationalen Feministischen Kampftag angeschlossen haben, finden wir richtig. Zu Bedrohungen und physischen Angriffen von Seiten unserer Organisationen kam es dabei nicht. Vielmehr versuchten insbesondere männliche Teilnehmer des „Spaziergangs“ unablässig Teilnehmer:innen der Kundgebung, allen voran palästinensische Frauen und ihre Unterstützerinnen, zu provozieren.Sie wurden laut Teilnehmenden verbal rassistisch und sexistisch angegriffen und ihnen wurde mehrfach Vergewaltigung und/oder andere Formen von Gewalt gewünscht. Das Statement der Stadtratsfraktionen behauptet, es seien Demonstrierende angegriffen worden. Das lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass sie bereits in der schieren Anwesenheit von Palästinenser:innen einen Angriff sehen.

Organisiert wurde der „Spaziergang“ von Guy Katz, einem langjährigen Spitzenfunktionär des „Jüdischen Nationalfonds“ (JNF-KKL). Diese Organisation ist seit über einhundert Jahren aktiv an der Vertreibung und Kolonisierung von Palästinenser:innen beteiligt. Unter anderem beteiligte sie sich maßgeblich an der Räumung von palästinensischen Familien in Sheikh Jarrah, einem Stadtteil in Jerusalem, und sammelt Geld für Siedlungsprojekte, unter anderem im zu den palästinensischen Gebieten gehörenden Westjordanland. Diese Siedlungen werden von der UN, der EU und vielen internationalen Organisationen als völkerrechtswidrig eingestuft. Damit ist der JNF-KKL direkt für die ethnische Säuberung der Palästinenser:innen mitverantwortlich.

Zudem war Katz Offizier der Israeli Defense Force (IDF), ebenjener Streitmacht, die derzeit den Genozid in Gaza verübt. Auf diese Zeit bezieht sich Katz bis heute positiv. Solche Akteur:innen haben auf einer Veranstaltung, die sich als fortschrittlich versteht, nichts verloren. In ihrem Statement behaupten die Stadtratsfraktionen, die Anhänger:innen dieser Organisation seien angegriffen worden und dies sei geschehen, weil sie jüdisch sind. Damit begehen sie selbst den antisemitischen Fehlschluss, Jüd:innen mit dem Zionismus gleichzusetzen. Gleichwohl ist festzuhalten, dass es zu keinen Angriffen auf diese Gruppe durch unsere Demonstrierenden gekommen ist. Etwaige Beweise haben weder die teilnehmenden Stadtratspolitiker:innen noch die Medien vorbringen können.

Das Statement der Stadtratsfraktionen fragt, warum Palästinaflaggen geschwenkt wurden, während die Demonstrant:innen des prozionistischen Blocks keine Flaggen zeigten. Die Antwort ist einfach. Die Fahne eines unterdrückerischen Kolonialstaats, der innerhalb weniger Monate Zehntausende ermordet hat und Hunderttausende mehr mit dem Tod bedroht, hat auf einer fortschrittlichen Veranstaltung nichts zu suchen. Die Solidarität mit den Unterdrückten hingegen ist eine grundlegende Selbstverständlichkeit eines Feminismus, der jede Form der Unterdrückung bekämpft.

Wir begrüßen, dass die Stadtratsfraktion DIE LINKE / Die PARTEI das Statement der anderen Fraktionen nicht unterzeichnet hat. Mit Bedauern stellen wir aber fest, dass auch sie sich dem Framing anschließen, „Anfeindungen gegen Teilnehmer*innen des ‚Run for Their Lives‘-Spazierganges“ zu verurteilen, offenkundig ohne sich ein umfassendes Bild des Geschehens gemacht zu haben. Die Kritik, die ihre Stellungnahme an dem Statement ihrer Kolleg:innen der anderen Fraktionen macht, ist deutlich, beschränkt sich aber auf die Form. Inhaltlich stimmt das Statement den anderen Fraktionen leider zu. Von einer Fraktion, die sich als fortschrittlich begreift, müssen wir erwarten können, dass sie offen an der Seite der Unterdrückten steht. Wir rufen DIE LINKE / DIE PARTEI auf, ihr ursprüngliches Statement fallen zu lassen und sich diesem Statement anzuschließen.

Zuletzt müssen wir fragen, wie es zu erklären ist, dass mit dem Statement der Stadtratsfraktionen Kräfte zusammengefunden haben, die weder mit einem tatsächlichen Kampf gegen Antisemitismus noch mit Feminismus etwas zu tun haben. Was haben CSU und Freie Wähler zu einer feministischen Demonstration am 8. März zu sagen, während sie unentwegt und Seite an Seite mit der AfD einen rechten, antifeministischen Kulturkampf führen? Gab es nicht in den Reihen der Freien Wähler erst vor wenigen Monaten einen echten Skandal um ein antisemitisches Flugblatt, der von CSU und FW möglichst rasch unter den Teppich gekehrt wurde? Treiben nicht auf der anderen Seite die Ampelparteien den Abbau der Gesundheitsversorgung in München und bundesweit voran, der besonders Frauen trifft? Wir müssen schlussendlich feststellen, dass die Einheit der Parteien vor allem darin besteht, Deutschland „kriegstüchtig“ machen zu wollen.

Laut Bayerischem Rundfunk überlegen die Organisator:innen des Bündnisses für den 8. März angeblich, künftig professionelle Securities für die Kundgebung anzuheuern. So etwas wurde im Bündnis nie besprochen und sollte das wahr sein, wäre es ein eklatanter Bruch des Demokonsens. Wir lehnen jede Art der Militarisierung der Demo zum 8. März ab. Die 8M-Demo kann sich sehr gut selbst schützen.

Zuletzt stellen wir uns gegen die Erzählweise, ein Konflikt zwischen proisraelischen und propalästinensischen Kräften lenke von Frauen ab. Bei der Solidarität mit Gaza geht es um Frauen. Sexualisierte Gewalt bekämpfen wir immer. Doch die Instrumentalisierung von sexualisierter Gewalt, um den Völkermord und Femizid in Gaza zu legitimieren, müssen alle Feminist:innen zurückweisen. Der Ausschuss rechter und militaristischer Kräfte von der 8M-Demo geschah in Einklang mit einer weltweiten jüdischen Bewegung für den Waffenstillstand und gegen den Genozid. Der Versuch von Springerpresse und Stadtratsparteien, Judentum und Zionismus gleichzusetzen, wird nicht gelingen.

Wir rufen auch alle gewerkschaftlichen Kräfte auf, sich gegen die Kriegsverbrecher und den Völkermord in Gaza mit den Palästinenser:innen zu solidarisieren, insbesondere die Frauenstrukturen in den Gewerkschaften, die sich für den 8. März engagieren. Damit würden sie den Beschlüssen der internationalen Gewerkschaftsverbände der Bildungsinternationale, der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF), des Industriegewerkschaftsverbands IndustriALL, der Bau- und Holzarbeiter-Internationale (BHI), der Internationalen der Öffentlichen Dienste (IÖD) und des Verbands UNI Global Union entsprechen, die nach dem vorläufigen Urteil des Internationalen Gerichtshofs über den Genozid in Gaza zum gemeinsamen Einsatz für einen Waffenstillstand aufrufen. Davon sollte nach dem erfolgreichen 8. März mit tausenden Teilnehmer:innen die Rede sein.

Freiheit für Palästina!

Unterzeichnende:

Revolutionäre Internationalistische Organisation – Klasse Gegen Klasse

Palästina Spricht München

Queer Resistance

GAM/Gruppe Arbeiter:innenmacht München




Nahost: Israel und der Westen missachten Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs

Rose Tedeschi und Alex Rutherford, Infomail 1248, 19. März 2024

Am 26. Januar erließ der Internationale Gerichtshof (IGH) ein Zwischenurteil in einem von Südafrika gegen Israel angestrengten Verfahren. Der IGH wurde ersucht zu entscheiden, ob Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. In diesem Urteil wird festgestellt, dass sich Israel einer „plausiblen“ Anklage wegen Völkermordes zu stellen habe, und der IGH hat eine einstweilige Verfügung erlassen, in der dem Land Auflagen gemacht werden.

Die Anordnung verpflichtet Israel, alle Handlungen zu unterlassen, die unter die Völkermordkonvention fallen könnten, und sicherzustellen, dass seine Truppen im Gazastreifen keine völkermörderischen Handlungen begehen. Außerdem wird es aufgefordert, öffentliche Aufforderungen zu Völkermord zu verhindern und zu bestrafen und Beweise für den Vorwurf des Völkermords zu sichern. Darüber hinaus wurde Israel angewiesen, Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage der palästinensischen Einwohner:innen in der Enklave zu ergreifen, Beweise dafür aufzubewahren und dem Gericht innerhalb eines Monats einen Bericht vorzulegen.

Israel Bericht ist fällig. Es wird jedoch erwartet, dass er kurz und voller Beschimpfungen sein wird, die die Welt von der Regierung um den Premierminister Benjamin Netanjahu zu erwarten gewohnt ist. Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara machte dies Ende Februar deutlich, als sie die Anschuldigungen Südafrikas als „skandalös“ und die Behauptungen als „absurd“ bezeichnete. Sie fuhr fort:

„Das entschlossene Handeln der israelischen Verteidigungskräfte beruht auf der Reinheit der Waffen und der allgemeinen Einhaltung des nationalen und internationalen Rechts, die Ausdruck der Stärke unseres Landes sind.“

Israel weiß, dass es sich hier auf zweifelhaftem Boden befindet und wird sich wahrscheinlich auf die Lieferung humanitärer Hilfe konzentrieren und behaupten, dass nicht es den Fluss der Hilfsgüter behindert, sondern die Palästinenser:innen, die den freien Durchgang blockieren. Die israelische Belagerung zwingt die hungernden Bewohner:innen des Gazastreifens, die wenigen Konvois, die durchkommen, zu plündern.

Natürlich gibt es einen Berg von Beweisen dafür, dass Israel die Hilfe durch zahlreiche Kontrollpunkte und Verzögerungen blockiert, wie die Aufnahmen von an der Grenze gestauten Lastwagen zeigen, ganz zu schweigen von der Belagerung von Rafah, dem Hauptzugangsort für die Hilfe. Der Norden soll frei von Hamas-Kämpfer:innen sein, doch wurden dort keine Grenzen geöffnet.

In Bezug auf die beiden anderen Forderungen muss Israel einige ernste Fragen beantworten. Genau zwei Tage nach dem IGH-Urteil nahmen neun Mitglieder des israelischen Parlaments (Knesset), darunter zwei Minister, an einer rechtsextremen Siedler:innenkundgebung teil, bei der die Vertreibung der Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen und der Zuzug von Siedler:innen gefordert wurde. Die Minister selbst riefen dazu auf, das nördliche Westjordanland zu besiedeln. Die Regierung hat es versäumt, irgendwelche Abgeordneten dafür zu „bestrafen“, geschweige denn, dies zu „verhindern“.

Seine Militäraktionen im Februar bestätigen ebenfalls Israels Bereitschaft, mit einer Invasion in Rafah zu drohen und gleichzeitig Schulen und Krankenhäuser zu bombardieren. Tausende von Menschenleben stehen auf dem Spiel; wenn Panzer und Kanonen es nicht erreichen, könnten Krankheiten diese Aufgabe für die Israelis übernehmen. Die Bedrohung durch einen Völkermord ist näher gerückt, nicht weiter weg.

Israel und das Gesetz

Entscheidend ist jedoch, dass das Gericht keinen sofortigen Waffenstillstand anordnete. Die Hauptbegründung hierfür ist das von Israel vorgebrachte rechtliche Argument, dass es an einer „völkermörderischen Absicht“ fehle. Da die Hamas beschuldigt wird, die Gewalt durch ihren Angriff am 7. Oktober angezettelt zu haben, ist das Gericht der Ansicht, dass Israel argumentieren kann, dass seine Handlungen in Selbstverteidigung erfolgten, was eine Rechtfertigung für den Krieg und somit keine Anordnung einer sofortigen Waffenruhe darstellt.

Dies ignoriert die 75 Jahre der Unterdrückung, Enteignung und Apartheid, die Israel den Palästinenser:innen angetan hat. Für revolutionäre Kommunist:innen kann jedoch die Gewalt eines unterdrückten Volkes niemals mit der Gewalt des Unterdrückers gleichgesetzt werden. Das palästinensische Volk ist seit der Gründung des zionistischen Staates im Jahr 1948 Opfer einer schrecklichen nationalen Unterdrückung. Der Gazastreifen ist praktisch ein Freiluftgefangenenlager für eine der am meisten benachteiligten und überfüllten Bevölkerungen der Welt.

Diese Entscheidung ist nur vorläufig; bis zur endgültigen Entscheidung in diesem Fall werden Monate oder sogar Jahre vergehen. Die Entscheidungen des IGH sind endgültig und unanfechtbar, aber das Gericht hat keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Der Nachweis eines Vorsatzes ist jedoch bekanntermaßen schwer zu erbringen, da die rechtliche Messlatte für Beweise sehr hoch angesetzt ist.

Netanjahu bekräftigt Israels „unerschütterliches Engagement“ für das Völkerrecht und bezeichnet den Vorwurf des Völkermords als „empörend“. Der israelische Verteidigungsminister Yo’aw Galant zeigte sich „bestürzt“ darüber, dass die Klage nicht rundheraus abgelehnt wurde, und der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir twitterte spöttisch „Haag-Schmach“. Es wurde berichtet, dass andere hochrangige israelische Minister das Urteil als „antisemitisch“ bezeichnet haben.

Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa sagte, er erwarte, dass Israel sich an das Urteil hält und Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords ergreift. Bislang sieht es nicht danach aus. Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor war näher an der Wahrheit und warf Israel vor, das Urteil zu ignorieren. In der Woche nach dem Urteil des IGH wurden fast 1.000 weitere Palästinenser:innen getötet. Die Zahl der Todesopfer beläuft sich nun auf mehr als 30.000.

Israel hat seine Militäroperationen auf Rafah ausgeweitet, obwohl es die Stadt zu einer „sicheren Zone“ erklärt hat. Die UNO hat Rafah als „Druckkochtopf der Verzweiflung“ bezeichnet. Krankenhäuser sind weiterhin Ziel israelischer Angriffe; Berichten zufolge wurden Panzer in der Nähe des Nasser-Krankenhauses – dem größten funktionierenden Krankenhaus in Gaza – gesehen.

Kluft zwischen imperialisiertem Süden und imperialistischem Westen

War es das wert, den Fall vor den Weltgerichtshof zu bringen? Ja! Dieser Fall steht eindeutig für ein Massengefühl der Rebellion in der halbkolonialen Welt gegen den westlichen Imperialismus. Ramaphosa, der berüchtigte Mörder der südafrikanischen Bergarbeiter:innen von Marikana, ist sicher kein antiimperialistischer Kämpfer – und seine Gründe mögen in einem Wahljahr zynisch sein.

Aber es war der Druck der internationalen Bewegung für die Befreiung der Palästinenser:innen, auf den die Machthaber:innen reagierten. Südafrikaner:innen sind seit langem Verbündete des palästinensischen Volkes, und die internationale Rechtsexpertin Heidi Matthews sagte, dass ihr historischer Kampf für die Beendigung der Apartheid dem Fall gegen Israel „Glaubwürdigkeit und moralisches Gewicht“ verleiht.

Das Gefühl des Hasses gegenüber dem Westen, den ehemaligen Kolonialherr:innen Afrikas und Asiens, wird durch die Reaktion auf das Urteil des IGH noch geschürt. Innerhalb weniger Stunden nach der Entscheidung stellten die USA ihre Finanzierung des UN-Hilfswerks UNRWA ein, und Kanada folgte diesem Beispiel rasch. Es überrascht nicht, dass auch das Vereinigte Königreich und sechs weitere europäische Länder, darunter auch Deutschland,  sowie Japan ihre Mittel für das UNRWA aussetzten.

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen ist die einzige Organisation, die derzeit in der Lage ist, die humanitären Mittel bereitzustellen, zu deren Gewährung sich US-Präsident Joe Biden und der britische Außenminister David Cameron „verpflichtet“ haben. Die EU schätzt, dass sich die insgesamt ausgesetzten Mittel auf mehr als 440 Millionen US-Dollar belaufen – die Hälfte des Haushalts der Organisation für 2024. In einer Zeit, in der die Menschen im Gazastreifen gezwungen sind, Gras zu essen und verschmutztes Wasser zu trinken, um zu überleben, ist dies absolut verachtenswert.

Glücklicherweise haben nicht alle Länder ihre Finanzierung zurückgezogen; Spanien hat ein dringendes Hilfspaket in Höhe von 3,8 Millionen Dollar angekündigt, und Australien und Belgien werden ihre Finanzierung des UNRWA fortsetzen. Aber der Sonderpreis für Heuchelei geht sicherlich an Deutschland, das einerseits die Legitimität des IGH anerkannt, andererseits aber sämtliche Vorwürfe gegen Israel vor jeder Untersuchung zurückweise – und gleichzeitig Israel mit den Waffen versorgt, die es benutzt, um das „Völkerrecht“ mit Füßen zu treten.

Schlussfolgerung

Trotz der vielen Unzulänglichkeiten dieses vorläufigen Urteils und des IGH selbst stellt die Entscheidung einen Schlag sowohl für Israel als auch für die westlichen Mächte dar. Sie hat zu dem Schauspiel geführt, dass diese Mächte genau die Institutionen untergraben, die sie zuvor geschaffen hatten, um ihre imperialistische Herrschaft über die Welt zu verschleiern. Ihre Ansprüche auf Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf Selbstbestimmung, die sie im Falle der Ukraine und Taiwans, d. h. bei der Verurteilung ihrer Rivalen Russland und China, so hochgehalten haben, haben in den Augen des globalen Südens erheblichen Schaden genommen.

Die Bewegung für die Befreiung Palästinas muss diese Orientierungslosigkeit der Regierenden ausnutzen und sich keinen Illusionen in Typen wie Ramaphosa hingeben und ihre Anstrengungen international koordinieren, wenn sie ihr Ziel, ein freies Palästina, erreichen will. Das Urteil des IGH kann eine Plattform bieten, um auf diesen Kampf hinzuweisen, aber es kann keine Gerechtigkeit schaffen. Das können nur die Palästinenser:innen selber und ihre Unterstützer:innen tun, indem sie für die revolutionäre Zerstörung des zionistischen Staates und seine Ersetzung durch ein einheitliches, säkulares und sozialistisches Palästina kämpfen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr.




Seekorridor nach Gaza: Humanitäre Flankendeckung für den Krieg

Martin Suchanek, Infomail 1248, 16. März 2024

Die Hungersnot in Gaza ist mittlerweile auch bei den imperialistischen Staats- und Regierungschef:innen angekommen. Ob Joe Biden, Ursula von der Leyen oder Olaf Scholz: Alle beklagen die humanitäre Katastrophe, die in Palästina droht.

Seit Monaten spitzt sich die humanitäre Lage dramatisch zu. Über 30.000 Menschen wurden seit Oktober von der israelischen Armee getötet, der größte Teil der Bevölkerung wurde zu Flüchtlingen im eigenen Land.

Seit Monaten warnen internationale Hilfsorganisationen vor einer Hungersnot, die lt. UNO aktuell mehr als einer halben Million Menschen direkt droht. Am schlimmsten ist die Lage im Norden des Gazastreifens, der von der IDF abgeriegelt ist und in den praktisch keine Hilfslieferungen gelangen. Besonders akut gefährdet sind Kinder. So berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AP: „Im Emirati-Krankenhaus in Rafah starben in den vergangenen fünf Wochen 16 Frühgeborene an den Folgen von Unterernährung.“ Neben Hunger drohen aufgrund von Unterernährung, Wassermangel und katastrophalen hygienischen Zuständen Krankheiten oder gar die Ausbreitung von Seuchen.

Überraschend kommt diese barbarische Entwicklung nicht. Schon vor dem Krieg waren 1,2 der 2,3 Millionen Einwohner:innen Gazas auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Der größte Teil davon entfällt seit Monaten. Rund 500 LKW bräuchte es pro Tag, um die Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen, doch Israel lässt nur einen Bruchteil davon durch, im Februar durchschnittlich gerade 83 LKWs pro Tag. Dabei könnten jederzeit mehr Lastwagen die Grenze passieren, doch diese werden aufgehalten, während sich der Hunger ausbreitet.

Die Katastrophe wie auch der Tod Zehntausender wären vermeidbar gewesen; vermeidbar ist auch der drohende Hungertod weiterer Zehntausender. Notwendig wären dazu aber ein sofortiger Waffenstillstand und die Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen mit Nahrung, Wasser, Kleidung, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung.

Israel blockiert

Doch von einer Öffnung der Grenzen, von mehr Hilfslieferungen und erst recht von einer Feuerpause, geschweige denn einem Waffenstillstand will das Kriegskabinett Netanjahu nichts wissen. Selbst die Forderungen der US-Administration nach einem befristeten Waffenstillstand werden bislang mehr oder weniger undiplomatisch zurückgewiesen, zumal die israelische Regierung weiß, dass die USA, Britannien, Deutschland und die anderen EU-Mächte weiter Waffen liefern, weiter finanzielle und diplomatische Unterstützung gewähren.

Die Scharfmacher:innen in der israelischen Regierung setzen ganz offen auf Krieg und Vertreibung. Ihr extremer rechtsradikaler Flügel sieht sich seinem Kriegsziel näher, eine weitere ethnische Säuberung Palästinas, also die Vertreibung von Millionen aus Gaza, umzusetzen. Hunger wird dabei als Waffe eingesetzt.

Andere Falken wollen durch das Aushungern der Bevölkerung die Freigabe der israelischen Geiseln erzwingen. So erklärt der ehemalige Chef des Nationalen Sicherheitsrats Israels Giora Eiland in einem Interview unverhohlen: „Wenn die Palästinenser wirklich dringend humanitäre Hilfe benötigen, dann muss ihnen gesagt werden: Wenn sie essen wollen, müssen sie auf ihre Regierung Druck ausüben, damit diese einen Geiseldeal eingeht.“

Humanitäre Heuchelei

Das vom Westen ansonsten so gepriesene Völkerrecht, das die Verpflichtung von Besatzungsmächten zur Versorgung der Bevölkerung vorsieht, wird wieder einmal mit Füßen getreten. Diese barbarische Logik wollen selbst die Führungen der imperialistischen Mächte nicht einfach absegnen, wissen sie doch, dass die offene Weigerung, die Bevölkerung in Gaza auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen, die ohnedies löchrige demokratische Fassade des Krieges vollständig zum Einbruch bringen könnte.

Sie geben sich daher besorgt und von ihrer humanitären Seite. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist „zutiefst beunruhigt über die Bilder aus Gaza“. Selbst angesichts der Hungersnot wird der genozidale Angriffe jedoch noch schöngeredet, wenn sie kritisiert, dass Israel seiner Pflicht gegenüber der Bevölkerung nur „begrenzt“ nachkomme. Selbst der deutschen Außenministerin Baerbock entgeht nicht, dass Frauen und Kinder am meisten leiden würden, und so verlangt sie, wenn auch seit Wochen vergeblich, eine „humanitäre Kampfpause“. Verbal noch deutlicher gibt sich die US-Adminstration. So fordert US-Vizepräsidentin Kamala Harris von Netanjahus Regierung: „Keine Ausreden, sie müssen neue Grenzübergänge öffnen und unnötige Beschränkungen aufheben“.

Diese humanitären Anwandlungen der Größen westlicher Politik entpuppen sich regelmäßig als leere Phrasen. Niemand ist bereit, die israelische Regierung so sehr unter Druck zu setzen, dass sie sich zu einer Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen oder gar zu einem Waffenstillstand genötig sieht. Dabei hätten die Staats- und Regierungschef:innen von USA und EU jederzeit die Hebel in der Hand, das zionistische Regime zum Einlenken zu zwingen, indem sie ihm den Stopp von Waffenlieferungen, Hilfsgeldern und diplomatischem Schutz androhen. Dass das nicht passieren wird, solange sie nicht durch eine Massenbewegung in ihren eigenen Ländern dazu gezwungen werden, weiß natürlich auch Netanjahu.

Mehr noch, die westlichen Staaten sind nicht einmal bereit, die Anträge Südafrikas und anderer Staaten beim Internationalen Gerichtshof (IGH) zu unterstützen, die Israel zur Versorgung der Bevölkerung zwingen sollen. Selbst eine solche Maßnahme, die letztlich mehr symbolisch als real wäre, weil es dem IGH an den Mitteln zur Durchsetzung solcher Beschlüsse fehlt, lehnen sie entschieden ab.

Israel ist schließlich seit Jahrzehnten ein zentraler geostrategischer Verbündeter der USA und der EU-Länder im Nahen Osten, ein Vorposten ihrer eigenen imperialistischen Ordnung. Daher lassen sie einen regionalen Gendarm nicht fallen, zumal wenn sich die reaktionären arabischen Regime letztlich auch nur auf symbolischen Protest gegen das zionistische Regime beschränken.

Zynisches Manöver

Vor diesem Hintergrund werden Hilfslieferungen auch weiterhin nicht in ausreichendem Maße über die Grenzen gelangen. Den Vorwurf, beim Sterben von Zehntausenden oder Hunderttausenden nur zuzusehen, will sich der Westen jedoch auch nicht aussetzen.

Daher zaubern die Staats- und Regierungschef:innen der USA und Westeuropas eine angebliche Alternative zu Hilfslieferungen auf dem Landweg aus dem Hut. Zur Notversorgung Gazas soll unmittelbar eine Art „Luftbrücke“ eingerichtet werden, langfristig sollen Lieferungen auf dem Seeweg folgen. Ganz nebenbei werden dabei Israels „Sicherheitsinteressen“ in Rechnung gestellt, da jede Lieferung, jede Luftfracht ausschließlich von verbündeten Militärs abgeworfen wird.

Seit Anfang März begannen die USA, Frankreich und Jordanien, Nahrungsmittel über dem Kriegsgebiet abzuwerfen. Seither schlossen sich mehrere Länder, darunter auch Deutschland, dieser Luftbrücke an. Übernommen werden die Einsätze in der Regel vom Militär – im Falle Deutschlands von der Bundeswehr –, was deren Präsenz im Nahen Osten erhöht.

Zusätzlich wollen die westlichen Verbündeten Israels die humanitäre Lage in Gaza durch die Errichtung einer Seebrücke erleichtern. Erste Schiffe sind schon unterwegs, erste Ladungen, wurden schon gelöscht. Doch diese sind nicht mehr als eine Tropfen auf den heißen Stein, denn es fehlt ein Hafen. Ein solcher soll in den nächsten ein bis zwei Monaten als schwimmende Schiffsanlegestelle erbaut und vor Gaza errichtet werden. Bis dahin müssen die Hungernden warten, erhalten weiter viel zu wenige Hilfslieferungen – und selbst wenn  improvisierte Häfen gebaut sein sollten, ist es mehr als fraglich, ob die Hilfslieferungen über den Seeweg ausreichen.

Der Zynismus des Westens lässt sich kaum überbieten. Die „Hilfe“ entpuppt sich als humanitäres Placebo, während eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung auf dem Landweg jetzt unmittelbar notwendig und rein logistisch auch machbar wäre.

Doch darum geht es Washington, Brüssel, Paris oder Berlin nicht. Die Placebohilfe soll vielmehr Israel vor der internationalen Kritik abschirmen, indem die westlichen Staaten die härtesten Auswirkungen der humanitären Katastrophe lindern sollen. Sie übernehmen so einen Teil der Verpflichtungen Israels zum Schutz der Zivilbevölkerung, während die zionistische Kriegsmaschinerie weitermachen kann.

Die Pseudoalternative zur Lieferung von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und anderen Gütern auf dem Landweg stellt nicht „nur“ eine zynische Verschleppung wirklicher Hilfe dar, sondern soll dem Krieg Israels auch eine humanitäre Flankendeckung verschaffen und die westliche Öffentlichkeit zumindest ein Stück weit beruhigen. Ein weiteres Placebo also.

Hungerkatastrophe wirklich stoppen!

Wir brauchen keine solchen Pseudohilfen. Vielmehr muss die drohende Hungerkatastrophe, muss der genozidale Angriff Israels jetzt gestoppt werden. Dazu müssen jetzt die Grenzen geöffnet werden. Zusätzlich müssen jetzt sämtliche Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA freigeben werden.

Die Durchsetzung dieser unmittelbaren Forderungen, die selbst noch weit davon entfernt sind, einen dauerhaften gerechten Frieden zu bringen, wäre wenigstens ein Schritt zum Stoppen des Mordes an unschuldigen Zivilist:innen, ein Schritt, den Hungertod Tausender und die Vertreibung von Hunderdtausenden zu verhindern.

Doch dazu braucht es jetzt eine Massenmobilisierung in den westlichen wie arabischen Ländern – auf der Straße, in den Betrieben und Wohnvierteln. In den arabischen Staaten müssen die Massen, allen voran die Arbeiter:innenklasse, den Abbruch aller Beziehungen zu Israel einfordern. Die ägyptische Arbeiter:innenklasse verfügt über das Potential, strategische Handelswege wie den Suezkanal zu blockieren, um die westlichen Großmächte und die gesamte kapitalistische Weltwirtschaft zu treffen.

Im Westen müssen jene Gewerkschaften, die sich zu Streiks und Blockaden von Waffenlieferungen und Hilfslieferungen für Israel und dessen völkermörderischen Angriff verpflichtet haben, jetzt in Aktion treten, ihren Beschlüssen auch Taten folgen lassen. Die internationalen Beschlüsse von Gewerkschaften, die Aktionen gegen das Apartheidregime vorsehen, müssen mit Leben gefüllt werden. In den Gewerkschaften, die bis heute die westliche imperialistische Politik der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel unterstützen, müssen alle internationalistischen, klassenkämpferischen Kräfte gemeinsam und organisiert für einen Bruch mit der sozialchauvinistischen Politik kämpfen.

Am 16. Oktober 2023 hat die palästinensische Gewerkschaftsbewegung einen solchen Aufruf an die weltweite Arbeiter:innenbewegung gerichtet. Es ist ein beschämendes Armutszeugnis für die reformistischen Gewerkschaftsführungen, dass sie, von einigen wenigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, keinen Finger krummgemacht haben. Viele haben sich sogar schwergetan, den Krieg unmissverständlich zu verurteilen. Damit muss Schluss sein, um wenigstens den Tod Tausender und Abertausender zu verhindern:

  • Stoppt den genozidalen Angriff! Waffenstillstand jetzt!

  • Öffnung der Grenzen zu Gaza! Hilfslieferungen sofort! Freigabe aller Mittel an das UN-Flüchtlingshilfswerk UNWRA!

Die Arbeiter:innenklasse in den Ländern, die Israel mit Waffen und diplomatischem Schutz versorgen, hat eine besondere Pflicht zu handeln. Dies ist nicht nur der Krieg Israels. Es ist ein kolonialer Krieg, der auch unter Beteiligung mehrerer westlicher imperialistischer Mächte geführt wird. Ein Sieg Israels stärkt auch die Position des westlichen Imperialismus und damit dessen herrschende Klassen. Deshalb liegt der Kampf der Palästinenser:innen auch im Interesse der gesamten internationalen Arbeiter:innenklasse.

Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, um für internationalistische Aktionen der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen, um den Krieg zu beenden und den Sturz der gesamten vom Imperialismus unterstützten Ordnung im Nahen Osten zu beschleunigen, mit dem Ziel der Zerschlagung des zionistischen Staates, der Errichtung eines binationalen demokratischen, säkularen und sozialistischen Staates in ganz Palästina und einer sozialistischen Revolution im Nahen Osten.




Skandal nach der Berlinale: Frieden und freie Meinungsäußerung unerwünscht

Jonathan Frühling, Infomail 1246, 4. März 2024

Jährlich findet in Berlin die Berlinale statt – ein internationales Filmfestival, welches zu den weltweit wichtigsten zählt. Deutschland und seine Kulturstadt Berlin lassen sich nicht lumpen. Zum Programm gehört auch die Verleihung von Preisen in verschiedenen Kategorien. Der Dokumentarfilmpreis ging diesmal an den Palästinenser Basel Adra und seinen israelischen Kollegen und Freund Yuval Abraham. Die beiden hatten sich zusammengetan, um die Doku „No other Land“ zu drehen. Darin geht es um das Leben (und Sterben) unter der kolonialistischen Siedlungspolitik des israelischen Apartheidregimes im Süden des besetzen Westjordanlandes. Sie zeigt drastisch die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Armee und rechtsradikalen Siedler:innen sowie den heroischer Kampf der Palästinenser:innen dagegen.

Bei der Auszeichnung wurde von den Preisträgern ein Ende der Waffenexporte nach Israel gefordert, um den momentan stattfindenden Genozid zu stoppen. Es wurde die Forderung nach einem Ende des Krieges und Frieden zwischen den Völkern im Nahen Osten laut. Das Publikum applaudierte und skandierte: „Free Palestine“. So weit, so erfreulich.

Hetze

Als die Geschehnisse an die Öffentlichkeit drangen, wurde von bürgerlichen Politiker:innen sofort ein Skandal daraus konstruiert. Der Vorwurf des Antisemitismus wurde dafür mal wieder missbraucht. Bürgerliche Politiker:innen wie der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner bezeichneten den Vorfall als unerträglich und forderten zu verhindern, dass sich so etwas wiederholen kann. Der eigentliche Skandal ist also der Grundtenor der zionistischen Hetzer:innen: Wie kann es sein, dass sich ein Künstler unzensiert äußern und öffentlich für Frieden eintreten darf?

Es wurde also offen nach noch mehr Zensur gerufen. Die Parole: „From the river to the sea, Palestine will be free“ fällt ja bereits unter diese. Die grüne Kulturministerin Claudia Roth setzte sich am Ende noch auf die Spitze des Eisberges, als sie beteuerte, dass sie bei der Preisverleihung nur für den Israeli Abraham, nicht aber für den Palästinenser Adra applaudiert hätte. Sie versucht, sich also zu verteidigen, indem sie ihren unverhohlenen Rassismus betont!

Beim Konzert der Hetzer:innen und Demagog:innen wollte der ansonsten blass-blaue FDP-Justizminister Buschmann nicht lumpen lassen. Er forderte strafrechtliche Konsequenzen für angebliche antisemitische Äußerungen bei der Berlinale. Wie ungeniert die Regierungen mittlerweile Lügen in die Welt setzen, zeigt eine Bundespressekonferenz Ende Februar. Auf mehrmalige Nachfragen von Journalist:innen hin, konnte die Sprecherin des Ministerium, Marie-Christine Fuchs, keine einzige konkrete Äußerung benennen. Der Minister, so seine Pressesprecherin, habe sich nur „generell zu Antisemitismus“ geäußert.

Währenddessen tragen Hetze und Falschaussagen Früchte. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar drang ein rechter Mob in das Haus Abrahams in Israel ein und bedrohte seine Familie. Diese musste daraufhin aus der Stadt fliehen. Abraham erhielt zudem zahlreiche Todesdrohungen und musste seine Rückkehr nach Israel deshalb verzögern. Er selbst verteidigte sich gegen den absurden Vorwurf des Antisemitismus. Er verwies darauf, dass der inflationäre Gebrauch dessen ihn seiner Wirkung beraube. Tatsächlicher Antisemitismus würde damit relativiert. Damit hat er Recht, denn was ist denn noch der Unterschied zwischen bewaffneten Faschist:innen, die Brandanschläge auf Synagogen durchführen, und einem israelischen Regisseur, wenn doch beide gleichermaßen Antisemit:innen sind?

Mundtod machen

Die hysterischen und reaktionären Lügen machen aber auch deutlich, wie verzweifelt die herrschende Politik jede Solidaritätsbekundung mit Palästina mundtot machen will. Nichts fürchtet sie mehr als einen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Dieser schreitet jedoch mit jedem Kriegstag voran. Die Verbrechen Israels werden immer bestialischer und lassen sich nicht mehr schönreden. Gaza liegt zu 80 % in Schutt und Asche, 1,8 Millionen wurden Menschen vertrieben, 30.000 sind tot. Kürzlich wurde bekannt, dass Israel systematisch Wohnhäuser in den besetzten Gebieten niederbrennt. Vor wenigen Tagen wurden knapp 1.000 bei der Ausgabe von Hilfsgütern beschossen, wobei 115 ermordet wurden. Der Hunger wird so extrem, dass die ersten Kinder bereits daran gestorben sind. Währenddessen haben die Ermordungen und Vertreibungen auch im Westjordanland explosionsartig zugenommen.

Das alles wird auch möglich, weil Deutschland an Israel Waffen liefert, diplomatische Unterstützung leistet und seine Hilfszahlungen an das UN-Geflüchtetenwerk für Palästina eingestellt hat. Seit Neustem ist es auch noch direkter in den Krieg involviert, indem die Bundesmarine die Drohnenangriffe auf mit Israel assoziierte Schiffe auf See bekämpft.

Doch der Einfluss Deutschlands bedeutet auch, dass wir hier mit unserem Widerstand einen großen Einfluss auf den Krieg nehmen können. Die pro-palästinensische Bewegung bietet der Regierung bereits seit Anfang Oktober ununterbrochen die Stirn und bringt den Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Straßen. Vom 12. – 14. April 2024 findet in Berlin ein Kongress statt, der zum Ziel hat, die Bewegung zu bündeln und weiterzuentwickeln. Zusammen können wir den Krieg und den Genozid beenden!

Hier der Link zur Anmeldung beim Kongress: https://palaestinakongress.de/




Forderung nach Zwangsexmatrikulationen an Berliner Unis: Warum gerade jetzt?

Oda Lux, Infomail 1246, 4. März 2024

2021 wurde Zwangsexmatrikulation als Maßnahme aus dem Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) gestrichen. Zuvor wurde sie kaum noch angewandt. Doch als Reaktion auf den Angriff auf einen jüdischen Studenten der FU Berlin in einer Bar in Berlin Mitte gibt es Bestrebungen des Berliner Senats, diese Klausel wiedereinzuführen – und das im Eilverfahren. Als kritische Begleiter:innen der Politik und Geschehnisse der letzten Jahre müssen wir uns fragen: Warum gerade jetzt?

Die letzten zehn Jahre können wir eine Zunahme antisemitischer Angriff, in erster Linie von rechts, aber auch Islamist:innen beobachten. Warum? Weil diese Ideologien auf dem Vormarsch sind und an Fahrwasser gewonnen haben. Natürlich macht dieses Klima nicht vor Universitäten halt.

Der Attentäter von Wien, der im Jahr 2020 4 Menschen erschoss und wahrscheinlich ein Sympathisant des sog. Islamischen Staates war, war Student.

Burschenschaften mit Verbindungen zur Jungen Alternativen für Deutschland und der Identitären Bewegung, die als rechtsextrem eingestuft wurden, wandeln mehr oder weniger weniger sichtbar auf Campus im gesamten Land umher. Und dass, obwohl alle eine konservativ, rechtsnational bis rechtsextremistische Ideologie verfolgen, in Teilen Ausländer nicht aufnehmen und Frauen keinen Platz bei ihnen haben. Sucht man bei ihnen nach Verbindungen zu Gewalttaten, wird man ebenfalls schnell fündig.

Das sind nur zwei Beispiele. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, daraus den Schluss zu ziehen, dass man die Repression an Universitäten, und dann auch noch nur für Studierende, insgesamt erhöhen müsste. Diskriminierende Fälle, nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische, haben in den letzten Monaten stark zugenommen. Werden diese künftig auch mehr beachtet?

Die bürgerliche Justiz vs. die „Gerechtigkeit des Mobs“

Der Ruf nach Zwangsexmatrikulationen wirft viele Fragen auf: Für welche Taten sollen diese Mittel gelten: nur für Antisemitismus oder auch andere Hassverbrechen wie Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Hass auf Frauen? Geht es nur um aktuelle oder auch vergangene Taten in Berlin, Deutschland und darüber hinaus? Ist das ein Aufruf zur gegenseitigen Bespitzelung? Muss der oder die Angreifer:in handgreiflich geworden sein und wer richtet über diese Fälle: etwa die Universitäten selbst?

Die, vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus naheliegendste Antwort wäre: Gerichte müssen entscheiden. Doch das wollen jene, die laut nach raschen, drakonischen Verurteilungen rufen, offenkundig nicht. Die Debatten um den antisemitischen Angriff und die Novellierung des BerlHG haben gezeigt, dass nicht einmal jetzt, wo Zwangsexmatrikulationen illegal sind, gewartet wurde, bis bspw. überhaupt die Umstände geklärt waren, geschweige denn ein Gericht über Schuld und Unschuld gerichtet hätte. Bereits hier muss man hellhörig werden. In Zeiten von Fake News und einer, auch ohne den Krieg gegen Gaza, angespannten politischen Lage sind falsche Vorwürfe an der Tagesordnung. Der populistische Mob hatte unlängst gerichtet. Doch am Ende nützt ein solches Vorgehen nicht den Betroffenen, sondern in erster Linie rechten und populistischen Kräften. Und es stärkt die autoritären Tendenzen zur Aushebelung bürgerlich demokratischer Rechte.

Zurück zu den Zwangsexmatrikulationen: Folgt man dennoch dieser Vorgehensweise, würde man in erster Linie Zwangsexmatrikulationen bei Vorfällen auf den Weg bringen können, die zur Anzeige oder gar Verurteilung kamen. Doch Betroffene, die tagtäglich mit Hass konfrontiert werden, bringen Taten viel seltener zur Anzeige, als man denkt. Denn Übergriffe und Beleidigungen geschehen zu oft und sich zusätzlich noch Befragungen oder Gerichtsverhandlungen auszusetzen, frisst noch zusätzlich emotionale Kapazitäten. In vielen Fällen wird ihnen nicht geglaubt oder es kommt noch zusätzlich zu Polizeigewalt. Noch schwieriger ist es bei Hass und sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen und Queers. Für viele ist es schwierig, auch noch nach Monaten und Jahren überhaupt darüber zu sprechen. Wie realistisch ist es daher, dass gerade im Universitätskontext, wenn auch vor Gericht die Beweislast bei den Betroffenen liegt und die meisten Taten nur schwer zu beweisen sind, Menschen sich dieser Tortur aussetzen? Und vor allem für welches Ergebnis? Weder einen Rechtsbeistand noch einen Therapieplatz bekommt man im Gegenzug.

Zusätzlich bleiben Gerichte ein Mittel des bürgerlichen Staates und seiner Verteidigung. Spätestens wenn man versucht, Polizist:innen für rassistische Polizeigewalt zu verurteilen, sollte das auch noch dem/r letzten reformistischen Linken klar werden. Betroffene „gewinnen“ dabei also erstmal nichts und werden im schlimmsten Fall noch durch Unglauben gestraft.

Betroffene schützen, aber wie?

Die FU Berlin hat dem vermeintlichen Täter ein Hausverbot erteilt. Sicherlich gibt es Kontexte, in denen das ein sinnvolles Mittel ist, um Menschen von Veranstaltungen auszuschließen. Bedenkt man allerdings die Größe der meisten Universitäten, ist es einfach nur unrealistisch, dass Menschen tatsächlich so am Betreten von Gebäude gehindert werden können. Dieses Problem in der Umsetzung darf nicht zu einem Einfallstor für Sicherheitsdienste an Unis genutzt werden. An manchen Fakultäten gibt es sie bereits. Auch die FU hat einen beauftragt. Studierende haben hier berichtet, dass dieser u. a. rassistisch und obdachlosenfeindlich aufgetreten ist. Wenn solche Strukturen zum „Kampf gegen Diskriminierung“ eingesetzt werden, dann ist es daher viel wahrscheinlicher, dass der gegenteilige Effekt einsetzt und noch mehr „bedauerliche“ Einzelfälle produziert werden.

Die Handlungsmacht muss zurück in unsere Hände, die der Studierenden und Beschäftigten!

Unsere Devise heißt: Organisiert euch! Wir brauchen Strukturen, die einschreiten. Nicht nur für die politische Arbeit an der Uni als Lern- und Arbeitsort ist das wichtig. In diesem Rahmen können auch Schutzkonzepte erarbeitet werden – eine Form der Bildungsarbeit, die derzeit nicht geleistet wird. Allein der Ausschluss von Menschen entzieht Hass und Menschenfeindlichkeit nicht die Grundlage. Es braucht daher ein Umdenken. Des Weiteren suggeriert es Betroffenen, dass, wenn sie bestimmte Orte nicht bzw. diese von anderen nicht betreten werden dürfen, sie sicher vor Diskriminierung wären. Das ist weit von der Realität entfernt.

Warum darf man den Kampf gegen Antisemitismus nicht getrennt sehen?

Bei der Wiedereinführung von Zwangsexmatrikulationen geht es um viel mehr als einen antisemitischen Vorfall. Und auch bei denen, die immer wieder darauf rekurrieren, kann man sich die Frage stellen, inwiefern es je primär um Antisemitismus ging. Dieser ist tief in der Gesellschaft verankert. Das kann man nicht leugnen, ist allerdings nicht erst seit einer steigenden Anzahl Muslim:innen in Europa zu verzeichnen. Er war nie weg. Doch wo waren alle diese neuen Kämpfer:innen gegen Antisemitismus nach dem Anschlag in Halle? Was haben sie gegen den Anstieg der Vorfälle getan? Haben sie ihre Stimme erhoben? Haben sie sich organisiert? Demonstriert?

Erst mit dem Angriff der Hamas wurde dieser Kampf, den es ohne Frage zu gewinnen gilt, sodass Menschen ohne Angst in die Synagoge gehen oder sagen können, dass sie jüdisch sind, wieder populär. Und das ist nichts anderes als Heuchelei. Unter dem Label der Antisemitismusbekämpfung ist es derzeit einfach, Menschen zu diskreditieren, migrantischen Protest zu kriminalisieren oder Kritiker:innen, nicht nur im Kontext des Krieges in Gaza, zum Schweigen zu bringen. Es sind dieselben, die Bildungsarbeit zu Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus diskreditieren (hierzu empfehlen wir, die Anfragen im Abgeordnetenhaus von Berlin von FDP, CDU oder AfD zu studieren) oder gar Gelder dafür einstampfen wollen. Allein das zeigt, dass es sich um ein vorgeschobenes Argument handelt.

Viel wichtiger ist es allerdings, dass wir uns nicht nur der Heuchelei, sondern der materiellen Grundlage bewusst sind. Das bedeutet auch, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht losgelöst gesehen werden kann von dem gegen Rassismus oder Imperialismus. Klar hat es Diskriminierungsformen auch ohne Kapitalismus bereits gegeben. Dennoch ist der moderne Antisemitismus nicht deckungsgleich mit einem mittelalterlichen Antijudaismus. Rechte Hetze und faschistische Bewegungen spielen mit Abstiegs- und Existenzängsten. Die reaktionäre faschistische Bewegung nutzt Antisemitismus bewusst, um Klassengrenzen vermeintlich wegzuwischen. Ein vermeintliches deutsches, französischse usw. Volk wird einem Feind gegenübergestellt, den es zu bekämpfen gilt. In Europa und besonders in Deutschland, nicht zuletzt durch die NS-Zeit, führte das zur massenhaften Vernichtung von Juden und Jüdinnen. Doch als diese Verfolgungsmaschinerie erst einmal eingesetzt hatte, wurde die Gruppe der Verfolgten kontinuierlich größer.

Neuere Umvolkungsideen basieren auf ähnlichen Grundlagen, auch wenn sie sich vor allem auf Muslim:innen fokussieren. Allein diese Parallelen zeigen auf, dass wir nicht auf eine rassistische Front gegen Antisemitismus hereinfallen dürfen. Beide Ideologien haben dieselbe Grundlage. Ebenso wird auch in beiden Fällen vor allem das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum angesprochen. Schaut man sich die derzeitigen Proteste an, bestätigt sich diese These: Vorher nie was gegen Diskriminierung jeglicher Art gemacht, aber auf die Feindeserzählungen hereingefallen. Ja, nie wieder ist jetzt! Für uns bedeutet das, den Kern dieser Ideologien zu bekämpfen und eine politische Alternative dazustellen. Dabei stützen wir uns nicht auf die all zu schnell verführbaren Kleinbürger:innen.

Der Kampf gegen Repression ist jetzt!

Ein Ausschluss entzieht der ausgeschlossenen Person nicht nur ihr Recht auf Bildung und auf Verteidigung gegen den Vorwurf. Noch viel schlimmer ist, dass es überhaupt keinen Ansatz gibt, um nachhaltig Diskriminierung entgegenzuwirken. Nicht mal die Symptombekämpfung durch Bildungsarbeit spielt eine Rolle. Doch Rassismus und auch Antisemitismus sind nicht „eingeimpft“, sie sind Merkmale des kapitalistischen Systems. Gerade in Zeiten der Krise basiert der Kapitalismus darauf, sich nach und nach gewisser Gruppen zu entledigen. Wer vorher in den prekärsten Jobs schuften musste, wird durch die nächste Gruppe ersetzt, um letztlich doch wieder Profite zu erzielen. So ist es nicht verwunderlich, dass in Zeiten des Rechtsrucks nicht nur Antisemitismus oder Rassismus ansteigen, sondern auch der Hass auf Frauen.

Bei der Frage, ob Zwangsxmatrikulationen wieder eingeführt werden sollten, geht es eben nicht nur um einen vermeintlich antisemitischen Übergriff. Hier werden Weichen gestellt. Diese Debatte ist einerseits der Höhepunkt einer Repressionswelle und gleichzeitig der Anfang für ein neues Stadium der Kriminalisierung. Besonders Muslim:innen werden derzeit zu Sündenböcken gemacht, obwohl der Großteil antisemitischer Taten weiterhin von rechts kommt. Doch das will niemand aus dem „demokratischen“ Mainstream hören. Denn auch die Rhetorik in den Parlamenten besteht von Misstrauen bis zu offenen Deportationsplänen über Parteigrenzen hinweg gegen Ausländer:innen, Migrant:innen und Geflüchtete. Als Revolutionär:innen ist uns klar, dass die erste Phase der Repression vor allem Migrant:innen zum Ziel haben, es aber darüber hinaus auch insbesondere linke Gruppen treffen wird. Dieser Repressionsapparat darf gar nicht erst in Gang gesetzt werden. Wir müssen uns jetzt dagegen organisieren!

Unsere Staatsräson heißt: Sozialismus!

Wir sind Internationalist:innen. Natürlich sind uns Religion oder Herkunft einer Person egal, denn unsere Klasse kennt weder Ausländer:innen noch rassistische Trennung.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich halten wir von Sozialismus und Befreiung nur in einem Land nichts.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich interessiert uns die politische Situation und die Ausbeutung der Massen in einem Land nicht erst, wenn es in der deutschen Tagesschau Thema wird.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich ist unser Ziel eine weltweite Revolution der Arbeiter:innenklasse.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich sind wir uns der Diskriminierung auch innerhalb unserer eigenen Bewegung bewusst. Deswegen stehen wir nicht nur bei äußerer Bedrohung Seite an Seite, sondern geben unseren Mitgliedern Caucusse als Supportstrukturen.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich beginnt unser Kampf gegen Imperialismus im eigenen Land.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich müssen wir jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Unser Kampf dagegen steht jedoch nicht im Widerspruch zu unsere Palästinasolidarität. Für uns ist weder das eine noch das andere ein plötzliches Event. Unser Kampf gegen Diskriminierung, Ausbeutung und Imperialismus steht auf einer Klassenbasis, einer Analyse der materiellen Grundlage. Genau deswegen gehören der Kampf gegen antisemitische Parolen in- und außerhalb der eigenen Strukturen und der für ein freies Palästina zusammen.

Der Kampf in der Bewegung für ein revolutionäres und internationalistisches Programm und seine Anleitung durch es sind wichtiger denn je. Die derzeitige Dynamik zeigt uns, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt, wenn die AfD in Deutschland Erfolge erzielt, Antisemitismus und Rassismus seit Jahren zunehmen, Netanjahu in Israel den Krieg nicht nur gegen die Palästinenser:innen nutzt, sondern auch gegen die Opposition und jemand wie Erdogan als Bollwerk gegen Genozid eintritt, während er selbst Kurdistan bombardiert. Unsere Antwort auf die Krise heißt daher: Sozialismus jetzt!

Mehr zu unserer Position zu Palästina




Arbeiter:innen müssen handeln, um Massaker in Rafah zu verhindern

Dave Stockton, Infomail 1245, 16. Februar 2024

Israel steht kurz davor, Rafah anzugreifen, eine Stadt an der ägyptischen Grenze, die zur letzten Zuflucht für mehr als eine Million Palästinenser:innen geworden ist, die aus dem nördlichen und zentralen Gazastreifen vertrieben wurden.

Obwohl Rafah zur „sicheren Zone“ erklärt wurde, werden Schulen, Krankenhäuser und Flüchtlingslager der Stadt seit Beginn des Krieges aus der Luft bombardiert. UN-Generalsekretär António Guterres beschrieb die Bedingungen, unter denen die Menschen in überfüllten Behelfsunterkünften, unter unhygienischen Bedingungen, ohne fließendes Wasser, Strom und angemessene Lebensmittelversorgung leben.

Westlicher Imperialismus

Krankheiten töten Kinder und Erwachsene, die durch die monatelange Hungersnot geschwächt sind, da Israel die Einfuhr von Lebensmitteln und Medikamenten in das Gebiet fast vollständig blockiert. Unter diesen Bedingungen haben die Vereinigten Staaten und neun weitere Länder, darunter das Vereinigte Königreich, einseitig die Finanzierung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA eingestellt.

Nach dem wahllosen Abschlachten von rund 30.000 Zivilist:innen hat Präsident Joe Biden mit reichlicher Verspätung eingeräumt, dass „eine Menge unschuldiger Menschen verhungern … und das muss aufhören“. Natürlich könnten die USA Israels Krieg jederzeit stoppen, wenn sie wollten. Dennoch liefern sie weiterhin Israels an Kriegsmaschinerie und nutzen ihr Vetorecht, um es in der UNO zu schützen.

In „normalen“ Jahren stellt Washington Israel rund 3,8 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe zur Verfügung, die direkt in die Bewaffnung der IDF-Besatzungstruppen fließen. Das israelische Fernsehen hat Aufnahmen ausgestrahlt, in denen die verheerenden Auswirkungen der von den USA gelieferten Bunkerbomben auf zivile Hochhäuser gezeigt wurden.

Da die USA nicht die Absicht haben, ihren Kampfhund an die Kandare zu nehmen, überrascht es nicht, dass Biden in Rafah zur „Zurückhaltung“ aufruft, ohne dass dies geschieht. Am 7. Februar erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, es gebe „keine andere Lösung als einen vollständigen und endgültigen Sieg“, und fügte hinzu, er habe den Truppen befohlen, sich in Rafah „auf den Einsatz vorzubereiten“.

Noch bedrohlicher ist, dass er Pläne für die „Evakuierung“ der Zivilbevölkerung bekanntgab. Netanjahu zufolge ist der „totale Sieg“ über die Hamas nur noch wenige Monate entfernt. US-Militärquellen, die in der New York Times zitiert werden, gehen jedoch davon aus, dass Israel nur ein Drittel der Hamas-Kämpfer:innen getötet hat und die Kämpfe im gesamten Streifen weitergehen.

Die Zionist:innen wissen, dass sie die Hamas oder die anderen militärischen Widerstandsorganisationen nicht „liquidieren“ können, ohne die Zivilbevölkerung zu liquidieren, deren Unterdrückung für einen unerschöpflichen Nachschub an neuen Rekrut:innen sorgt.

Ethnische Säuberung

Es ist diese einfache Wahrheit, die die gesamte Dynamik des israelischen Krieges in Gaza in eine Kampagne der ethnischen Säuberung, eine zweite Nakba, führt. Tatsächlich wurde dieses Ergebnis von israelischen Minister:innen, die zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch israelische Siedler:innen aufgerufen haben, offen propagiert. Netanjahu selbst, dessen Regierung auf der Unterstützung dieser Extremist:innen beruht, hat erklärt, dass die Sicherheit im Gazastreifen in den Händen der IDF verbleiben müsse – also eine Rückkehr zur militärischen Besatzung.

Weltweit haben Massendemonstrationen, wie sie seit denen gegen die Invasion im Irak 2003 nicht mehr stattgefunden haben, Israels Verbündete, allen voran die USA, Großbritannien und Deutschland, zweifellos dazu gezwungen, ihre bedingungslose Unterstützung für den Krieg des Landes verbal zu drosseln.

Doch während Israels Verbündete aus Angst, ein Massaker in Rafah könnte das Pulverfass Nahost zum Explodieren bringen, zur „Zurückhaltung“ mahnen, weigern sie sich, einfache Maßnahmen zu ergreifen, die den Krieg über Nacht beenden könnten: Aussetzung aller militärischen und finanziellen Hilfen, Verhängung von Sanktionen und Durchsetzung wiederholter UN-Resolutionen.

Anstatt Israels rachsüchtige Kampagne der ethnischen Säuberung zu verurteilen, greifen sie die wachsende Solidaritätsbewegung an. Gesetzliche Verbote der BDS-Kampagne werden im Eiltempo durch die Parlamente gebracht, und unbegründete Anschuldigungen des Antisemitismus werden von den Medien der Bosse in einer Hexenjagd eingesetzt, um Kritiker:innen Israels zum Schweigen zu bringen.

Doch das Schicksal der Palästinenser:innen muss und darf nicht in die Hände ihrer Unterdrücker:innen gelegt werden. Mit einem Schlag könnte die ägyptische Arbeiter:innenklasse den Suezkanal schließen und die gesamte imperialistische Wirtschaft über Nacht hart treffen. Ebenso könnten die organisierten Arbeiter:innenbewegungen in den USA, im Vereinigten Königreich und in Europa ihre eigenen Sanktionen gegen Israel verhängen: sich weigern, alle Waffen und Waren zu transportieren, die aus Israel stammen oder für es bestimmt sind. Investitionen, Forschung und kulturelle Zusammenarbeit mit dem zionistischen Staat sollten von vornherein abgelehnt werden, nach dem Grundsatz: Keine Zusammenarbeit mit der Besatzung!

Am 16. Oktober 2023 hat die palästinensische Gewerkschaftsbewegung einen solchen Aufruf an die weltweite Arbeiter:innenbewegung gerichtet. Es ist ein beschämendes Armutszeugnis für die reformistischen Gewerkschaftsführungen, dass sie, von einigen wenigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, keinen Finger krummgemacht haben. Viele haben sich sogar schwergetan, den Krieg unmissverständlich zu verurteilen.

Die Arbeiter:innenklasse in den Ländern, die Israel mit Waffen und diplomatischem Schutz versorgen, hat eine besondere Pflicht zu handeln. Dies ist nicht nur der Krieg Israels. Es ist ein kolonialer Krieg, der auch unter Beteiligung mehrerer westlicher imperialistischer Mächte geführt wird.

Der Sieg Israels in diesem Krieg stärkt die Position des westlichen Imperialismus und damit die Stärke, das Selbstvertrauen und die Kampfeslust unserer herrschenden Klassen. Deshalb ist der Kampf der Palästinenser:innen auch unser Kampf; deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, um für internationalistische Aktionen der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen, um den Krieg zu beenden und den Sturz der gesamten vom Imperialismus unterstützten Ordnung im Nahen Osten zu beschleunigen, beginnend mit der Zerschlagung des israelischen Staates, der Errichtung eines bi-nationalen demokratischen und sozialistischen Staates in ganz Palästina und durch eine sozialistische Revolution im Nahen Osten.




Palestine will never die: Wie weiter mit der Palästinasolidarität in Deutschland?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 280, Februar 2024

Ob Münster, Hamburg, Leipzig, Dresden, Düsseldorf: Seit Beginn der Bombardierungen Gazas gibt es in Deutschland zahlreiche Proteste. Mancherorts wie in Berlin, Frankfurt am Main oder Hamburg konnten sogar aufgrund des stetigen Drucks Demonstrations- und Versammlungsverbote durchbrochen werden. Seit Monaten organisieren Aktivist:innen Aktionen gegen die Vertreibung und den drohenden Genozid an Gazas Bevölkerung. Kurzum: Es ist das erste Mal seit Jahren, dass es eine massenhafte Palästinasolidarität gibt, die versucht, sich Gehör zu schaffen – angesichts des Kräfteverhältnisses und der politischen Lage in Deutschland ein mehr als schweres Anliegen.

Denn die Bundesregierung hat mehr als klargemacht, dass sie kein Interesse hat, das Morden zu verhindern. Sie ist vielmehr aktive Unterstützerin durch die diversen Waffenlieferungen, die sich seit Oktober 2023 verzehnfacht haben und hat mit ihrer Enthaltung bei UN-Resolutionen sowie der Leugnung des Genozids beim Internationalen Gerichtshof deutlich gemacht, dass sie die Angriffe und Vertreibung der Palästinenser:innen unterstützt. Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson und anders als in Britannien, den Niederlanden oder Belgien sind die Gewerkschaften nicht in die Mobilisierungen eingebunden. Prozionistische Positionen, die letzten Endes die Unterdrückung der Palästinenser:innen legitimieren, sind nicht nur Regierungssache, sondern auch in bedeutenden Teilen der Arbeiter:innenbewegung und Linken verbreitet.

Was ist das Ziel?

Auch deswegen ist es kein Wunder, dass viele Aktivist:innen müde sind, erschöpft, ausgelaugt. Denn trotz aller Anstrengungen und Proteste ist es bisher nicht gelungen, den Krieg zu beenden, die Bombardierungen zu stoppen. Stattdessen werden stetig neue Nachrichten über das Elend und Leiden von Gazas Bevölkerung in die Social Media Feeds gespült.

Doch es gibt etwas Antreibendes: Es ist unsere Aufgabe, nicht nur für die Menschen zu kämpfen, die in diesem Moment sterben, sondern auch für jene, die als Nächste dran sein könnten. Denn es gibt keine Sicherheit für die Bevölkerung in der Westbank. Deswegen müssen wir nicht nur gegen die Bombardierung Gazas kämpfen, sondern für Palästinenser:innen in der Westbank, den Camps, allen von Israel besetzen Gebieten. Für uns geht es also um alle, die jetzt vom israelischen Staat ermordet werden – und alle, die drohen, ermordet und vertrieben zu werden – und für alle, die bereits vertrieben worden sind. Denn sie haben das Recht zurückzukehren. Es geht uns nicht nur um einen Waffenstillstand, sondern darum, die Unterdrückung der Palästinenser:innen zu beenden, und dieser Kampf ist nicht verloren.

In Deutschland ist dieser Weg steinig und schwer. Aber die Anstrengungen der Aktivist:innen in den vergangenen Monaten haben es geschafft, eine Grundlage zu errichten, auf der man einen Teil des Kräfteverhältnisses in Deutschland dauerhaft ändern kann – und propalästinensische, antizionistische Positionen besser in der Linken zu verankern, um so den Kampf weiterzuführen. Doch wie schaffen wir das konkret?

Was also tun?

Einer der essenziellen Schritte ist es, mehr Leute in die Bewegung hereinzuziehen. Aktivist:innen, die innerhalb der Bewegung aktiv sind, wissen, dass das leichter geschrieben ist als getan. Mit einfacher Überzeugungsarbeit ist es nicht möglich, denn eigentlich sprechen die Zahlen der getöteten Palästinenser:innen sowie die Geschichte der Besatzung für sich. Doch selten bringen reine Fakten Menschen zur Einsicht, wie wir am Beispiel des Klimawandels sehr gut wissen. Eines der Kernprobleme liegt darin, dass es in Deutschland nicht nur eine organisierte mediale Kampagne gegen die Palästinasolidaritätsproteste gibt, sondern der ganze Konflikt rund um Besatzung und Krieg aus Perspektive des zionistischen Regimes medial dargestellt wird, kombiniert mit dem Rechtsruck und der Zunahme des antimuslimischen Rassismus vor allem nach dem 7. Oktober. Deswegen müssen wir uns fragen, wie wir dies aufbrechen können.

1. Bundesweite Vernetzung und Koordinierung

Um dem Protest mehr Ausdruck zu verleihen, braucht es eine bundesweite Koordinierung. Gemeinsame Slogans, Forderungen und bundesweite (de)zentrale Aktionstage können zum einen helfen, die Isolierung an manchen Orten zu durchbrechen, und Mobilisierungen erleichtern. Vor allem hilft ein kollektiver Auftritt dabei, mehr Menschen außerhalb der Bewegung anzusprechen. Er verdeutlicht: Wir sind nicht alleine, wir sind Teil einer Bewegung – in Deutschland und international. Um dies zu ermöglichen, bietet sich eine Strategie- und Aktionskonferenz an, an der sich Aktivist:innen und Organisationen aus der Bewegung beteiligen können, bei der ein gemeinsamer Austausch sowie die Planung künftiger, gemeinsamer Aktivitäten stattfindet. Insbesondere das Datum 14. Mai – der Nakba-Tag – bietet sich an, bundesweit einen kollektiven Massenprotest zu organisieren. Dabei ist es besonders relevant, Deutschlands Rolle offen herauszustellen. Nicht nur dass Palästinenser:innen und antizionistische Juden und Jüdinnen mit Repression überzogen werden, auch die Finanzierung des Völkermordes sowie Lieferung von Waffen sollten angesprochen werden. Mögliche Forderungen können beispielsweise sein:

  • Nein zu allen Waffenlieferungen an Israel, Schluss mit allen Rüstungs-, Wirtschafts- und Geheimdienstkooperationen!

  • Nein zu weiteren autoritären Einschränkungen der Meinungsfreiheit, des Versammlungsrechts, des Asyl- und Staatsbürger:innenschaftsrechts! Für die Aufnahme von Vertriebenen aus Gaza und Unterstützung der medizinischen Versorgung!

  • Für ein Ende des Verbots palästinensischer Organisationen und Slogans für Befreiung und Gleichheit.

2. Aufbau von Basisstrukturen an Schulen, Unis und in Betrieben

Ob in München oder Berlin: In manchen Städten haben sich vor allem an Universitäten bereits Solidaritätskomitees gebildet. Den Protest an Orte zu bringen, an denen sich Menschen tagtäglich aufhalten müssen, ist ein zentraler Schritt, wenn man Bewegungen verankern sowie ausweiten will. Denn es geht darum, die Orte an denen wir sein müssen, zu politisieren und jene zu erreichen, die unsicher sind oder schlichtweg keine Ahnung haben (wollen), sie in die Konfrontation zu bringen.

Dabei ist wichtig, allgemeine Forderungen der Bewegungen mit solchen vor Ort zu verbinden um so die Auseinandersetzung greifbarer zu machen für jene, die noch nicht Teil ihrer sind. Konkret kann das beispielsweise heißen, dass Projekte, die den israelischen Staat unterstützen oder in Kooperation mit ihm stattfinden, ausgesetzt oder beendet werden; dass einseitige Solidarisierungsstatements zurückgenommen werden; dass die jeweilige Schule sich dazu entschließt, Verbote wie das der Kufiya nicht umzusetzen. Es kann auch bedeuten, für konkrete Forderungen zu kämpfen wie beispielsweise Solidaritätserklärungen gegen Kündigungen, die Übernahme von Ausstellungen, die gecancelt worden sind, oder die Schaffung neuer Projekte und offener Solidarisierung mit den Palästinenser:innen.

3. Druck ausüben, Opposition organisieren – die Arbeiter:innenklasse gewinnen

Wie andere Länder zeigen, ist es für wirksame Proteste notwendig, die Gewerkschaften auf unsere Seite zu ziehen. Ob Belgien oder Italien: Hier haben Arbeiter:innen Waffensendungen blockiert. Ähnliches wäre beispielsweise möglich, wenn es darum geht, Waffen an Israel zu blockieren und deren Transport zu stoppen. In Deutschland gestaltet sich das Ganze jedoch nicht einfach. Sowohl der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) als auch die DGB-Jugend haben sowohl in der Vergangenheit wie auch jetzt einseitige Stellungnahmen in Solidarität mit dem israelischen Staat – und somit auch der mörderischen Offensive – verfasst.

Überraschend ist das nicht, schließlich tragen sie auch an anderen Stellen die Politik der Regierung mit. Abschreiben dürfen wir diese Massenorganisationen deswegen jedoch nicht. Ein Solidaritätsstreik, organisiert durch diese Verbände, wäre um ein Vielfaches größer und effektiver als alles, was wir aktuell aus den Aktionen selbst heraus organisieren können. Das heißt: Die Gewerkschaften in Bewegung zu bringen, klappt nicht, indem man einfache Appelle verfasst, an ihnen vorbei Proteste organisiert oder die Hoffnung in Bürokrat:innen setzt. Nur im Rahmen einer politischen Bewegung, die a) die deutschen Gewerkschaften klar auffordert, es ihren Geschwisterorganisationen in anderen Ländern gleichzutun, und b) aktiv auf die Gliederungen zugeht und sie versucht, in eine Kampagne mit einzubeziehen, können wir erfolgreich sein. Kleine Lichtblicke sind hier beispielsweise auch der Offene Brief an den DBG-Jugendbundesausschuss, unterzeichnet von mehr als 500 Gewerkschaftsmitgliedern, die sich gegen die einseitige Positionierung stellen. (https://www.change.org/p/offener-brief-den-dgb-bundesjugendausschuss) Dies kann ein erster Ansatz sein, um weitere Aktivität anzustoßen: Seien es Anträge in Gewerkschaftsgliederungen selbst, die eine klare Verurteilung der israelischen Offensive benennen, verbunden mit der Teilnahme an lokalen Protesten. Damit wir die Gewerkschaften und generell die reformistische Arbeiter:innenbewegung von der Unterstützung der Regierung und für Solidarität mit Palästina gewinnen können, brauchen wir eine massenhafte Aufklärungskampagne über den wirklichen Charakter des Krieges gegen die Palästinenser:innen und die imperialistischen Interessen im Nahen Osten. Nur Lohnabhängige, die die Lügen der Herrschenden durchschauen, indem wir sie geduldig überzeugen, können für Solidaritätsaktionen und den Aufbau einer Bewegung gewonnen werden, die in der Arbeiter:innenklasse verankert ist.

Zweifache Aufgabe

Das heißt, für uns als Revolutionär:innen stellen sich zwei Aufgaben. Wenn wir – ähnlich wie in Britannien – Hunderttausende von Menschen auf die Straße bringen wollen, dann müssen wir mehr Kräfte integrieren als jene, die es bereits gibt, und existierende Strukturen bündeln. Und so eine Bewegung ist notwendig, um Repression, Desinformation und der Regierungspolitik etwas entgegenzustellen. Zum einen geht es also um den Aufbau einer breiten, palästinasolidarischen Bewegung, an der sich mehr Kräfte beteiligen – vor allem die Organisationen der Arbeiter:innenklasse.

Zum anderen müssen wir in solch einer Bewegung für ein revolutionäres, internationalistisches Programm eintreten. Dabei machen wir unsere Position nicht zur Vorbedingung für alle, die sich am Aufbau einer Protestbewegung gegen das Morden und die Vertreibung einsetzen wollen, sondern kämpfen in dieser dafür. Denn Bewegung alleine hilft nicht, wenn man nicht an den entscheidenden Punkten mit entsprechenden Mitteln Druck ausübt und ziellos vor sich hin demonstriert oder zwar abstrakt die richtigen Forderungen aufwirft, aber nicht die Massen hinter sich weiß, diese durchzusetzen.

Unserer Meinung nach kann die Befreiung Palästinas nur möglich sein, wenn wir in den imperialistischen Ländern die Komplizenschaft mit der israelischen Regierung beenden. Dazu bräuchte es massenhafte, längere Streikwellen sowie Blockaden gegen die Waffenlieferungen, wie es in Italien oder Belgien bereits passiert ist. Gleichzeitig braucht es in den Ländern des Nahen Ostens eine Massenbewegung wie den Arabischen Frühling. Denn die aktuellen Regime haben mehr als klargemacht, dass ihnen nicht nur der Lebensstandard ihrer eigenen Bevölkerung egal ist, sondern sie maximal bereit sind, die israelische Regierung in Worten zu kritisieren. Taten sind mehr als sparsam wie Erdogans oder Assads Praxis zeigen, die weiter Krieg gegen die Kurd:innen und ihre eigenes Volk führen. Ihnen geht es darum, ihre eigene Stellung zu erhalten. Es bräuchte aber eine Bewegung, die die Despot:innen aus ihren Ämtern fegt und im Interesse der Arbeiter:innenklasse handelt. Lasst uns die Anstrengungen der vergangenen Monate nutzen und den Protest voranbringen! In dem Sinne: Stoppt das Morden, stoppt den Krieg, Intifada bis zum Sieg!




Nahost: Mittelentzug für UN-Hilfsorganisation UNRWA stützt Israels genozidalen Angriff

Dave Stockton, Infomail 1244, 2. Februar 2024

Die Entscheidung von neun westlichen Staaten – USA, Großbritannien, Deutschland, Italien, Kanada, Australien, Niederlande, Schweiz und Finnland –, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) den Geldhahn zuzudrehen, zeigt, dass diese Länder den von Israel betriebenen Genozid offen billigen und unterstützen.

Die Arbeiter:innenbewegung und alle fortschrittlichen Kräfte in diesen Ländern sollten sofort alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre Regierungen zu zwingen, diese abscheuliche Kompliz:innenschaft zu beenden, einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern und die Lieferung von Waffen und Material für den Vernichtungskrieg der zionistischen Aggressor:innen einzustellen.

Vorwand ist, dass „einige“ UNWRA-Mitarbeiter:innen an dem Ausbruch der Hamas und anderer Widerstandskräfte am 7. Oktober teilgenommen oder ihn gefeiert hätten, als sie die Nachricht davon hörten. Niemand erwähnt die Tatsache, dass die israelischen Sicherheitskräfte IDF seit dem 7. Oktober 152 UNRWA-Mitarbeiter:innen getötet haben.

Bedeutung der UNRWA

Die Hilfsorganisation beschäftigt rund 13.000 Personen im Gazastreifen und leistet Gesundheits- und Bildungsarbeit sowie andere humanitäre Hilfe einschließlich Wasserentsalzung, Abwasserentsorgung und Hygiene, auf die die Bevölkerung angewiesen ist. Während der Bombardierung suchten Tausende von Menschen Schutz in den Einrichtungen der UNRWA, in der Hoffnung, dass sie dort in Sicherheit seien. Auch diese Orte wurden gezielt angegriffen, darunter ein riesiges Lagerhaus für Lebensmittel und Medikamente, das in Gaza-Stadt bis auf die Grundmauern niedergebrannt wurde. Nur vier der 22 Gesundheitszentren sind noch in Betrieb, 145 Einrichtungen wurden durch die Angriffe der IDF beschädigt.

Die Arbeit des UNWRA-Personals zu stoppen oder ernsthaft einzuschränken, ist nicht nur ein Akt barbarischer Grausamkeit, ein Kriegsverbrechen nach internationalem Recht, sondern auch eine implizite Billigung von Israels eklatantem Versuch eines  Genozids an den 2,3 Millionen Einwohner:innen des Gazastreifens und der gleichzeitigen Besiedlung und ethnischen Säuberung von Bezirken in Jerusalem und dem Westjordanland.

Die Streichung der Mittel für das UNRWA, die wichtigste und einzig wirksame Hilfsorganisation für Palästina, ist ein absichtlicher Schlag ins Gesicht des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag, der nur zwei Tage zuvor entschieden hatte, dass Israel „die Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe ermöglichen müsse, um die schlechten Bedingungen der Palästinenser:innen im Gazastreifen zu verbessern“ (vorläufige Maßnahme 4). So viel zu diesen „gesetzestreuen“ westlichen Mächten!

Rechtsextreme Konferenz

Viele Palästinenser:innen haben wiederholt darauf hingewiesen, dass eine zweite Nakba im Gange, eine Wiederholung der „Katastrophe“ von 1948. Die faschistischen Minister in Netanjahus Regierung, wie Itamar Ben-Gvir, sagen offen, dass dies das Ziel Israels sein sollte. Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich gehörten zu den neun Minister:innen der Regierung, die an der „Konferenz für den Sieg Israels – Siedlung bringt Sicherheit: Rückkehr in den Gazastreifen und nach Nordsamarien“ der rechtsextremen Siedler:innen teilnahmen, die am Sonntag, den 28. Januar, stattfand. (Mit Nordsamarien ist der nördliche Teil des Westjordanlandes gemeint; d. Red.) Die israelische Zeitung Haaretz berichtete von der Konferenz.

„Wir müssen einen legalen Weg finden, um [Palästinenser:innen] freiwillig auswandern zu lassen“, sagte Israels rechtsextremer Minister für Nationale Sicherheit, bevor ein Likud-Abgeordneter erklärte, dass im Krieg „Freiwilligkeit ein Zustand ist, den man jemandem aufzwingt, bis er/sie seine/ihre Zustimmung gibt“.

Diese Konferenz der Pogromist:innen rief offen zum Wiederaufbau von Siedlungen im Gazastreifen und zum weiteren Raub palästinensischen Landes im Norden des Westjordanlandes auf. Der IGH warnte erneut davor und entschied, dass „der Staat Israel alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen muss, um die direkte und öffentliche Aufforderung zum Völkermord [an den Palästinenser:innen im Gazastreifen] zu verhindern und zu bestrafen“ (vorläufige Maßnahme 3).

Es wird weder eine solche Strafe geben noch werden die Westmächte eine solche fordern. Netanjahu wird sich einfach hinter der in Den Haag zynisch verwendeten Formulierung verstecken, dass es sich dabei nur um die Überlegungen von einzelnen Minister:innen und nicht um staatliche Politik handelt.

Imperialistischer Zynismus

Die USA, Deutschland, Großbritannien usw., die so lautstark die Menschenrechte verteidigen und humanitäre Motive für ihre eigenen blutigen Kriege im Irak, in Afghanistan, Libyen und Syrien geltend machen, weigern sich nun schon seit über drei Monaten dreist, einen Stopp des erbarmungslosen israelischen Angriffs auf Gaza zu fordern. Sie haben mehrere UN-Resolutionsentwürfe zu diesem Zweck blockiert.

Sie haben zugesehen und im Falle der USA, Großbritanniens und Deutschlands die Waffen und Munition geliefert, mit denen Israel 26.000 Menschen, darunter 8.000 Kinder, getötet und 70 % der Häuser zerstört hat. 390 Schulen und 20 von 22 Krankenhäusern in Gaza wurden verwüstet oder schwer beschädigt. Die Kanalisation und die Wasserversorgung sind zerstört und in weiten Teilen des Gebiets verseucht.

Darüber hinaus wurden 1.900.000 Menschen (85 % der Bevölkerung) vertrieben (viele von ihnen mehrfach) und in Zeltstädte rund um Chan Yunis gepfercht, und nun sollen sie nach Rafah umziehen. Hier sind durch Wasser übertragene Krankheiten wie Durchfall und Amöbenmeningitis epidemisch. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat davor gewarnt, dass ein Ausbruch der Cholera wahrscheinlich ist, wenn nichts unternommen wird, um die grundlegenden sanitären Einrichtungen und sauberes Wasser wiederherzustellen.

Weltweit demonstrieren seit Monaten Millionen Menschen und fordern einen vollständigen und dauerhaften Waffenstillstand. Trotzdem haben sich die Regierungen der westlichen Demokratien hartnäckig geweigert, dies zu verlangen. Noch beschämender ist, dass Parteien, die im Namen ihrer Arbeiter:innenbewegungen sprechen, diese Verweigerung voll und ganz unterstützen und diejenigen, die sich dem widersetzen, als Antisemit:innen beschimpfen.

Auch in der arabischen und muslimischen Welt ist, abgesehen von den Huthis im Jemen, wenig über Worte hinausgegangen. Israel versucht, die mehr als 100.000 palästinensischen Arbeiter:innen aus dem Westjordanland, denen es seit dem 7. Oktober die Einreise verweigert, durch Arbeitskräfte aus Indien zu ersetzen, was von Modi befürwortet, aber von den dortigen Gewerkschaften verurteilt wird und auf Widerstand stößt.

Arbeiter:innenklasse

Es ist jetzt höchste Zeit für die Arbeiter:innenbewegung, direkte Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich des Boykotts der israelischen Schifffahrt, des Luft- und Schienenverkehrs und der Verweigerung aller Tätigkeiten, die zu den israelischen Kriegsanstrengungen in Fabriken, Forschungseinrichtungen, Büros usw. beitragen. Sozialist:innen sollten dafür werben, dass sich Belegschaften und Gewerkschaftsgliederungen mit ihren Bannern an Protesten beteiligen und, wo möglich, auch streiken, beginnend in Großbritannien am 7. Februar, dem Tag der betrieblichen Aktionen für Palästina, zu dem die Stop the War Coalition (Koalition für die Beendigung des Krieges) und andere aufgerufen haben.

Medienschaffende, Akademiker:innen und Lehrer:innen sollten ein Ende der verlogenen Propaganda ihrer Arbeit„geber“:innen fordern, die behaupten, dass Palästinabefürworter:innen Antisemit:innen seien oder das jüdische Volk im Allgemeinen bedrohen. Sie sollten sich den Verboten ihrer Bosse und Regierungen widersetzen, Ansichten zur Unterstützung der Palästinenser:innen zu verbreiten. Die wachsende Zahl antizionistischer Jüdinnen und Juden, die mit dem Slogan „Nicht in meinem Namen“ demonstrieren, beweist, dass es durchaus möglich ist, sich dem echten Antisemitismus entgegenzustellen und gleichzeitig gegen den zionistischen Genozid zu sein, der im Namen „aller Juden/Jüdinnen“ verlogen verfolgt wird.

Den Labour- und sozialdemokratischen Parteien Europas, die derzeit Israels Krieg gegen den Gazastreifen unterstützen, sollten wir sagen: „Ihr verdient keine einzige Stimme der Arbeiter:innen“. Aber wir können diejenigen Parlamentarier:innen  und anderen Vertreter:innen unterstützen, die sich unmissverständlich für die Freigabe der UNRWA-Mittel und einen dauerhaften und vollständigen Waffenstillstand aussprechen.

Wir müssen weiterhin für eine massive Aufstockung der Hilfe für Gaza und den Abzug aller israelischen Land-, See- und Luftstreitkräfte demonstrieren – in der Tat für ein vollständiges Ende der 17-jährigen Belagerung des Gazastreifens und ein Ende der Tötungen durch IDF und bewaffnete Siedler:innen im Westjordanland (330 seit dem 7. Oktober).

Wir sind sicher, dass die Verbrechen Israels im den Jahren 2023 und 2024 in die lange Liste derjenigen gegen die Menschlichkeit aufgenommen werden, und dass trotzdem die Forderung nach einem freien, demokratischen, säkularen und sozialistischen Palästina, in dem sowohl für seine jüdischen als auch für seine palästinensischen Bürger:innen gleichberechtigt leben, zu einem immer lauteren Losung für Millionen von Arbeiter:innen und Unterdrückten weltweit werden wird.




Trotz alledem – warum und wie wir uns an den Anti-AfD-Protesten beteiligen

Georg Ismael, Infomail 1244, 2. Januar 2024

Mit Bestürzung, Schmerz und Wut haben wir die rassistischen Übergriffe auf Palästinenser:innen auf Demonstrationen gegen die AfD erlebt. Den tragischen Tiefpunkt bildeten körperliche und verbale Übergriffe am Sonntag, den 21. Januar, auf der Reichstagswiese in Berlin.

Hier wurde deutlich, wie tief der Rassismus gegen Geflüchtete, Muslim:innen und Araber:innen auch in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist. Dieser Rassismus wird heute im Besonderen durch antipalästinensischen Rassismus befeuert.

Antipalästinensischer Rassismus

Während der Internationale Gerichtshof Anzeichen für einen Genozid in Gaza sieht, liefert die deutsche Regierung Waffen an die rechtsradikale israelische Regierung, stellt humanitäre Hilfe für die Palästinenser:innen ein, schiebt ab, kriminalisiert kritische Stimmen und hebelt Grundrechte aus. Zur gleichen Zeit werden auf Initiative der CDU Gesetze, die die Ausbürgerung von Staatsbürger:innen erlauben und eine massive Einschränkung des Organisations- und Versammlungsrechtes nach sich ziehen würden, im Bundestag diskutiert.

Deutschland unterstützt einen Genozid und sichert diese Politik mit Repression im Inland ab. Von dieser waren neben Palästinenser:innen besonders Muslim:innen, Araber:innen und migrantisierte Menschen betroffen, die trotz ihrer besonders prekären Lage in den vergangenen Monaten ihre Solidarität mit den Menschen Gazas auf Deutschlands Straßen zum Ausdruck brachten.

Wir müssen anerkennen, dass die Bundesregierung, aber auch Landesregierungen mit Billigung der meisten Parlamentarier:innen und Abgeordneten gegen Palästinenser:innen vieles von dem umsetzen, was die AfD für die gesamte Gesellschaft fordert.

Gerade weil wir die Unterdrückung, die Gewalt und die Apartheid gegen die Palästinenser:innen durch den ethnonationalistischen israelischen Staat und die rechtsradikale israelische Regierung kennen, haben wir eine besondere Verpflichtung uns gegen die ethnonationalistische und rechtsradikale AfD in Deutschland zu stellen.

Wir tun dies in Solidarität mit den Palästinenser:innen und in internationalistischer Verpflichtung, nicht für das gute Gewissen deutscher Biedermeier:innen. Wir denken nicht, dass die Anti-AfD-Proteste in ihrer heutigen Form die multiethnische, religionsübergreifende, antikoloniale und antiimperialistische Solidarität der Palästinenser:innen verdient hätten. Aber wir sind es uns politisch schuldig, unsere Stimmen und unsere Körper auf diesen Protesten zu präsentieren.

Wir beteiligen uns an diesen Protesten, weil es hier auch um uns geht. Wir sind es uns schuldig, gegen die AfD zu kämpfen, und wir sind es den Menschen in Palästina schuldig, ihre Stimmen den selbsternannten antirassistischen Protesten in Deutschland gegenüber sichtbar zu machen.

Es waren nicht einheimische, sondern migrantisierte Menschen, die seit Oktober auf den Straßen Berlins und Deutschlands geschlagen, gedemütigt und kriminalisiert wurden. Wir wissen, dass deutsche Medien und deutsche Regierungspolitiker:innen über uns und den Genozid in Gaza lügen.

Daher wollen wir den vorrangig weißen Menschen auf diesen Protesten eine Chance geben, uns und unsere Perspektiven kennenzulernen und unsere Erfahrungen zu teilen. Wir wollen daran glauben, dass unter ihnen etliche der mehr als 60 Prozent Deutschen sind, die das Vorgehen Israels in Gaza ablehnen. Wir sind es den Menschen in Gaza schuldig, durch direkten Dialog diese stille Ablehnung in praktische Solidarität zu verwandeln.

Daher haben wir den für uns emotional äußerst schmerzlichen und für viele in der Palästinasolidarität vielleicht nicht intuitiven Weg gewählt und den Austausch mit den Organisator:innen von „Hand in Hand“ in Berlin gesucht.

Forderungen

Wir hatten diese drei Forderungen gemeinsam mit Genoss:innen von „Palestinians and Allies“ und REVOLUTION erarbeitet und vorgetragen:

  1. Ordner:innen schützen Palästinenser:innen und ihre Verbündeten konsequent gegen rassistische Übergriffe. Rassistische Individuen oder Gruppen werden unverzüglich gebeten, den Protest zu verlassen. Bei Missachtung werden Rassist:innen aktiv vom Protest entfernt. Hierzu gehört neben körperlichen Attacken und ungewollten Berührungen beispielsweise auch die rassistische Diffamierung von Muslim:innen, Araber:innen und Palästinenser:innen als „Terrorist:innen“, „Terrorunterstützer:innen“ oder „Mörder:innen“. Systematische Übergriffe werden auch von der Bühne aus verurteilt.
  2. Es wird ein deutliches Willkommen explizit an palästinensische Teilnehmer:innen geäußert. Darüber hinaus ist es notwendig, deutlich zu Beginn der Demonstration von der Bühne aus  die rassistischen Übergriffe gegen Palästinenser:innen auf der vergangenen Demonstration zu verurteilen und anzukündigen, dass derartige Übergriffe nicht erneut erduldet und unverzüglich geahndet werden.
  3. Die stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Stimme und anerkannte Psychologin Iris Hefets und die palästinensische Rechtsanwältin Nadija Samour halten eine gemeinsame Rede gegen antipalästinensischen und antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus und Krieg. Sie zeigen auf, wie im konkreten gemeinsamen Kampf gegen Unterdrückung und Entrechtung die gemeinsame Menschlichkeit unabhängig von Religion oder Herkunft hervortritt.

Reaktion

Die erste Forderung wurde weitestgehend angenommen. Wir werden ihre Umsetzung genau beobachten, denn auch das ist traurige Wahrheit: Niemand wollte bestreiten, dass es zu erneuten Übergriffen kommen könnte. Die zweite Forderung wurde nur insofern aufgenommen, dass Palästinenser:innen in einer Aufzählung begrüßt werden. Dies ist zwar ein Entgegenkommen, letztlich aber vollkommen unzulänglich. Es waren ausschließlich Palästinenser:innen und ihre Verbündeten, die auf vergangenen Protesten systematisch verbal und körperlich angegriffen und von der Polizei kriminalisiert wurden. Zu einem Zeitpunkt, an dem eine bestimmte Gruppe eine spezielle Diskriminierung auf den eigens organisierten Protesten erfährt, diese nicht besonders zu verurteilen, stellt unseres Erachtens nach einen politischen Skandal dar, weil man sich so vor dem konkreten Problem drückt.

Unsere dritte Forderung wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt. Dies ist uns unverständlich. Es wurde an uns herangetragen, dass es von Gegensprecher:innen die „Befürchtung“ gab, dass „problematische Aussagen“ wie „Genozid“ getätigt werden könnten. Es zeigt, dass hier, freundlich formuliert, ein unerhörter Selbstbildungsbedarf besteht. Unfreundlich formuliert, handelt es sich um das Verharmlosen eines drohenden Völkermordes.

Gleichzeitig ist zentrale Gastrednerin, Frau Düzen Tekkal, die noch vor Kurzem als solche auf einer von der Springerpresse und der Jerusalem Post, beides rechte Medienhäuser, ausgerichteten Konferenz namens „Joint Perspectives“ sprechen sollte. Neben Justizminister Marco Buschmann war unter anderem auch der rechtsradikale israelische Minister Amichai Chikli geladen. Chikli hatte vor Kurzem an einer Konferenz zur „Umsiedlung“ (man könnte auch im AfD-Jargon Remigration sagen) der Palästinenser:innen aus Gaza teilgenommen. Dass Herr Chikli mittlerweile ausgeladen wurde und Frau Tekkals Name nicht mehr auf der Redner:innenliste der Konferenz erscheint, kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Proisraelische Stimmen, die den Genozid in Gaza aktiv leugnen, die zu Konferenzen gehen, an denen auch Rechtsradikale Interesse zeigen, werden als Redner:innen in Erwägung gezogen, während anerkannte linke palästinensische und jüdische Stimmen von hoher moralischer Autorität nicht akzeptabel für eine aktuelle Mehrheit des „Hand in Hand“-Bündnisses zu sein scheinen.

Diese Personen sollten tief in sich gehen, nach ihrer Menschlichkeit suchen und falls sie sie finden sollten, beginnen, sich selbst zu bilden. Wir schlagen vor, mit der Lektüre der Anklageschrift Südafrikas gegen Israel und dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes zu beginnen. Diese Selbstbildung sollte dadurch fortgesetzt werden, endlich mit anstatt über Palästinenser:innen zu reden. Dies beinhaltet auch, sie auf Bühnen antirassistischer Proteste in Deutschland einzuladen. Nicht wir, sondern diese Gegensprecher:innen haben einen Bedarf an antirassistischer Bildung vonnöten. Wir formulieren dies in jener Schärfe, weil wir die zu erwartende Argumentation nicht anerkennen, dass unsere Forderungen „zu kurzfristig“ formuliert wurden.

Der brutale und genozidale Krieg gegen die Palästinenser:innen hält mit deutscher Unterstützung seit vier Monaten an. Die Nakba und seitdem andauernde Entrechtung der Palästinenser:innen dauern nun fast 80 Jahre. Wir haben uns darüber nicht erst kurzfristig informiert. Diese Gegensprecher:innen haben es seit Langem nicht zur Kenntnis genommen. Es handelt sich hier auch nicht um „irgendeinen Krieg“, von denen es „ja etliche gäbe“, wie ein Gegensprecher meinte. Es handelt sich aktuell um den Krieg mit den meisten zivilen Opfern, einen genozidalen, der maßgeblich von Deutschland unterstützt wird. Wer auch nach physischen Übergriffen auf Palästinenser:innen während antirassistischer Proteste die Warnsignale noch nicht gehört hat, ist so verroht, dass man die Dinge in aller Deutlichkeit formulieren muss.

Wir nehmen aber auch zur Kenntnis, dass es eine relevante Minderheit in der Diskussion und Abstimmung gab, die unsere Anliegen unterstützen möchte. Wir gehen daher davon aus, dass dies auch auf viele Teilnehmer:innen des Protestes zutrifft.

Beteiligt Euch an der Solidaritätsdelegation am 3. Februar!

Unter diesen Gesichtspunkten und auch angesichts der Notwendigkeit einer möglichst großen Aktionseinheit gegen die AfD haben wir uns dazu entschieden, als Teil einer Solidaritätsdelegation an dem „Hand in Hand“-Protest vor der Reichstagswiese teilzunehmen. Der gemeinsame Treffpunkt ist um 12 Uhr an dem U5-Ausgang „Bundestag“. Wir laden euch ein, euch uns anzuschließen. Diese Einladung schließt auch die Möglichkeit für Interessierte ein, uns ernsthaft gemeinte Fragen zu stellen, in eine gemeinsame, auch kontroverse Diskussion zu treten. Wir erwarten allerdings, dass dies mit grundlegendem Respekt und ohne eine rassistische oder stereotype Einordnung geschieht.

Solange palästinensische und propalästinensische Stimmen allerdings kein Gehör auf den Bühnen der Anti-AfD-Proteste finden, können wir die eigenständigen Proteste der Palästinasolidarität nicht vernachlässigen, geschweige denn absagen. Wir rufen daher alle dazu auf, sich ab 14 Uhr am Potsdamer Platz in Solidarität mit Palästina zu versammeln. Dies ist auch ein Aufruf an jene, die gegen die AfD und jede rassistische Politik in Deutschland kämpfen wollen, verunsichert sind oder Fragen haben. Kommt auf unsere Proteste, stellt Fragen, bildet euch, ob am Samstag, den 03.02., oder in der Zukunft! Erlebt und seht mit eigenen Augen die Polizeigewalt, die wir seit vier Monaten erleiden! Hört euch die diversen Reden an! Seht, wie Palästinenser:innen, Juden und Jüd:innen so wie Menschen unterschiedlichster Herkunft auf Kundgebungen und Demonstrationen, die von linken Slogans und Inhalten geprägt sind, gemeinsam tatsächlich „Hand in Hand“, trotz Verleumdung und Polizeigewalt seit vier Monaten protestieren!

Wir verbleiben in der Hoffnung, dass wir den Tag sehen werden, an dem getrennte, parallele Proteste der Vergangenheit angehören. Die Verantwortung hierfür liegt allerdings nicht in unserer Hand. Wir haben zum aktuellen Zeitpunkt unser Bestes, viele von uns, insbesondere unsere palästinensischen Genoss:innen, auch emotional mehr als das gegeben, um ihre Anliegen erst an Fridays for Future Berlin, dann „Hand in Hand“ zu tragen.

Dass wir diese Zeilen schreiben, das muss noch einmal deutlich gesagt werden, ist daher kein Zeichen der Spaltung. Es ist ein Zeichen, dass wir trotz alledem, trotz unseres eigenen Schmerzes, der häufig auch aus dem Verlust von Geliebten und Familie herrührt, die Hoffnung nicht aufgeben wollen, dass ein Antirassismus, der sich wirklich gegen jede Unterdrückung richtet, in Zukunft möglich sein kann.

Die Verantwortung hierfür liegt nun aber in der Hand insbesondere der weißen, deutschen Organisator:innen der Anti-AfD-Proteste. Ihnen stellt sich die dringende Aufgabe, sich mit Kolonialismus und Imperialismus als Triebfedern des Rassismus in Deutschland und international auseinanderzusetzen. Sie stehen in der Verpflichtung, nicht nur die Rolle der deutschen Regierung in diesen Prozessen anzukreiden, sondern auch aktiv zu bekämpfen. Gaza steht unserer Einschätzung nach heute im Zentrum dieser Fragen, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Wer zu Ausbürgerungsgesetzen aus der „Mitte“, Kolonialismus, Apartheid und Genozid, vom deutschen Imperialismus schweigt, der wird den Rassismus nie vernichten können.