Zum Missbrauch der IHRA-Definition von Antisemitismus

Dave Stockton / Markus Lehner, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde 2016 eingeführt und in mehreren europäischen und nordamerikanischen Staaten verwendet, um propalästinensische Aktivist:innen, einschließlich der wachsenden Zahl antizionistischer Jüdinnen und Juden, als „Antisemit:innen“ zu diffamieren. Sie wurde eingesetzt, um die freie Meinungsäußerung über das Wesen und die Handlungen des Staates Israel zu unterdrücken. Sie wurde auch benutzt, um propalästinensische Redner:innen und Veranstaltungen auf dem Universitätsgelände zu verbieten, darunter auch Proteste gegen Israels aktuelle Verbrechen in Gaza und den anderen besetzten Gebieten.

Grund dafür sind einfach die wachsenden Proteste gegen Aktionen des israelischen Staates innerhalb der Länder, deren Regierungen diesen seit Langem mit Waffen unterstützen und ihn auch wirtschaftlich stark fördern. Ein wichtiger Faktor für diesen Wandel sind die wiederholten Angriffe Israels auf den Gazastreifen von 2006 bis heute, die Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem. Ein subjektiver Faktor ist jedoch das Aufkommen der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Sie wurde im Juli 2005 von Omar Barghouti und Ramy Shaath und einer Vielzahl von palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs gegründet. Sie hat sich international ausgebreitet und mit der wachsenden Zahl jüdischer antizionistischer Gruppen sowie mit den älteren Palästinasolidaritätsbewegungen verbunden.

BDS mobilisiert mit dem Argument, dass es sich bei Israel um einen Apartheidstaat handelt, der mit Südafrika vor dem Untergang der weißen Herrschaft vergleichbar ist, weil es sich in seiner Verfassung zum Staat nur von Juden/Jüdinnen und zur Verkörperung nur ihres Selbstbestimmungsrechts erklärt hat. Darüber hinaus rechtfertigen das Fehlen gleicher Bürgerrechte und die Sicherheitsmauer (die BDS als „Apartheidmauer“ bezeichnet hat) tatsächlich Vergleiche mit Südafrika, obwohl es natürlich wichtige Unterschiede gibt (Südafrika musste z. B. die Arbeitskraft der schwarzen Mehrheit nutzen und konnte sie nicht verdrängen).

BDS setzt sich nicht nur für den Boykott von Unternehmen ein, die Waffen liefern und wirtschaftliche Unterstützung für die Siedlungsprojekte im Westjordanland leisten, sondern auch für das Rückkehrrecht der sechs Millionen Flüchtlinge in der weltweiten Diaspora und der Binnenvertriebenen in den besetzten Gebieten.

Obwohl BDS eine Bewegung ist, die auf der utopischen Idee basiert, dass friedliche Proteste und das Aufzeigen von Parallelen zur südafrikanischen Apartheid zu einem grundsätzlichen Wandel führen werden, wird Israels Anspruch, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten zu sein, dadurch angegriffen. Damit wurde ein gewisser Rechtfertigungsdruck erzeugt und zumindest die Frage einer Zweistaatenregelung wieder auf den Tisch gebracht. Die Behauptung verschiedener Regierungen und Parlamente, BDS sei antisemitisch, ist lächerlich – es sei denn, Antisemitismus wird neu definiert als Kritik am israelischen Staat und Schaden, den dieser den Palästinenser:innen sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch den Millionen darüber hinaus vertriebenen zufügt.

Was Israel mehr fürchtet als jede tatsächliche oder wahrscheinliche Beeinträchtigung, die ihm durch die BDS-Aktivitäten entsteht, ist die Bewegung der öffentlichen Meinung, insbesondere in den westlichen imperialistischen Staaten, die Israel sponsern und schützen, Resolutionen im UN-Sicherheitsrat blockieren und seine Kriege und die Räumung palästinensischen Landes entschuldigen. Daher hat es einen Gegenangriff gestartet, indem es Aktivist:innen, die sich mit Palästina solidarisieren, pauschal des Antisemitismus bezichtigt. Dabei hat sich die Förderung einer Theorie des „neuen Antisemitismus“, in Gestalt der IHRA-Definition und ihr beigefügten sogenannten Beispiele, als nützliche Waffe erwiesen.

Antisemitismus und Antizionismus

Revolutionäre Sozialist:innen haben schon immer alle Ausdrucksformen des Jüdinnen- und Judenhasses angeprangert, alle Stereotypen über ihre angebliche Macht und ihren Reichtum, die Kontrolle der Medien, des Rechts usw. sowie Verschwörungstheorien (Protokolle der Weisen von Zion) und die Leugnung des Holocausts. Der Kampf gegen diese giftige Hetze ist ein zentraler Bestandteil unseres antirassistischen Programms und der Herausbildung des revolutionären Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse.

Revolutionär:innen haben den Holocaust nie heruntergespielt, geschweige denn geleugnet, seine schreckliche Natur und die Tatsache, dass er aufgrund des vorsätzlichen Ziels des Nationalsozialismus, alle europäischen Juden und Jüdinnen auszurotten, eine besondere Bedeutung trägt – durch die systematische industrielle Massentötung, der sechs Millionen jüdischstämmige Menschen zum Opfer gefallen sind. Aber es ist deshalb keine „Relativierung“, wenn man feststellt, dass Völkermord nicht nur an Juden und Jüdinnen verübt wird – es gibt und gab auch andere Völkermordversuche in der Neuzeit. Auf jeden Fall schmälert dies nicht die enorme Bedeutung des Holocausts, denn es macht ihn nicht weniger relevant, sondern mehr. Er zeigt, wohin die Dämonisierung vieler rassisch, national und geschlechtlich definierter Gruppen führen kann. Diese Sensibilisierung hat zu Recht Sympathie und Unterstützung für das jüdische Volk und diese anderen Betroffenen geweckt.

Der Antisemitismus spielt in der rechten und faschistischen Ideologie nach wie vor eine besonders wichtige Rolle, da er eine falsche „antikapitalistische“ Ideologie liefert, um die klassenunbewussten Schichten der Arbeiter:innenklasse und des Kleinbürger:innentums zu mobilisieren und ihre Wut von der Kapitalist:innenklasse abzulenken.

Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa, den USA und in vielen anderen Ländern der Welt in den letzten Jahrzehnten ist ein Produkt der tiefen Krisenbedingungen des modernen Kapitalismus und der Zunahme der Rivalitäten nicht nur zwischen den imperialistischen Großmächten (USA, EU, China, Russland usw.), sondern auch zwischen aufstrebenden regionalen Mächten (Indien, Iran, Türkei, Saudi-Arabien usw.). Die Nazis und ihr Holocaust waren auch das Ergebnis solcher Bedingungen (mit Zuspitzung in den1930er Jahren) und des Versagens der Arbeiter:innenbewegung, sie aufzuhalten und zu besiegen und eine sozialistische Revolution herbeizuführen.

Heute ist der Übergang vom rassistischen Rechtspopulismus zum offenen Faschismus eine reale Möglichkeit und obwohl viele dieser Kräfte heute Israel unterstützen, haben einige (z. B. Viktor Orbáns Ungarn) bereits prominente jüdische Persönlichkeiten wie George Soros im Visier. Kampagnen gegen echten Antisemitismus sind für die Erziehung neuer Generationen gegen alle Formen von Rassenvorurteilen und -hass unerlässlich. Aber ihn mit der Opposition gegen Israels eigene völkermörderische Aktionen in Gaza zu verwechseln, wird bei dieser Aufgabe nicht helfen.

Eine wichtige Rolle bei der Verwirrung der Opposition gegen Israel und seine rassistische Politik und Aktionen besteht darin, neu zu definieren, was Antisemitismus bedeutet. Dazu hat die Theorie des so genannten „neuen“ Antisemitismus beigetragen. Irwin Cotler, kanadischer Rechtsprofessor und ehemaliger Justizminister in der liberalen Regierung Paul Martins von 2003 – 2006, definiert ihn so:

„Mit einem Wort: Der klassische Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht der Juden, als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu leben, in der sie leben. Der neue Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht des jüdischen Volkes, als gleichberechtigtes Mitglied der Familie der Nationen zu leben, mit Israel als dem anvisierten ,kollektiven Juden unter den Nationen’.“

Dieser Wandel kann nur echten Hass gegen Juden und Jüdinnen mit der Ablehnung der Handlungen des israelischen Staates verwechseln.

Die IHRA-Definition

Die sogenannte Arbeitsdefinition des Antisemitismus, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA-Definition) verabschiedet und von der Europäischen Union und der Europäischen Kommission angenommen wurde, übernimmt diesen Paradigmenwechsel von der Feindseligkeit gegenüber Juden und Jüdinnen aufgrund imaginärer Verbrechen zu der gegenüber Israel aufgrund realer. Ihre Kerndefinition lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegen Juden äußern kann. Rhetorische und physische Manifestationen des Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Personen und/oder deren Eigentum, gegen jüdische Gemeinschaftseinrichtungen und religiöse Einrichtungen.“

Viele haben eingewandt, dass dies eine wortreiche Erweiterung einer reinen Wörterbuchdefinition ist, nämlich dass Antisemitismus verbal oder physisch zum Ausdruck gebrachter Hass auf Juden und Jüdinnen ist.

Wenn man dies bedenkt, wird klar, dass drei der elf „Beispiele“, die der IHRA-Definition beigefügt sind und von denen sieben den Staat Israel erwähnen, einen ganz anderen Zweck verfolgen, nämlich die Kritik an diesem Staat zu minimieren und den Einsatz für die Rechte der Palästinenser:innen zu behindern. Das siebte dieser Beispiele für Antisemitismus lautet: 

„dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, z. B. durch die Behauptung, die Existenz eines Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“.

Damit wird das „Recht“ der zionistischen Bewegung und des von ihr 1948 mit Waffengewalt geschaffenen Staates auf „Selbstbestimmung“ als unanfechtbar akzeptiert, ohne dass dieses Recht der arabischsprachigen Bevölkerung Palästinas, die bis dahin die Mehrheit bildete, anerkannt wird. Das Selbstbestimmungsrecht war ihnen seit 1917 von den britischen Besatzer:innen verweigert worden, und diese Verweigerung wurde und wird vom israelischen Staat weiterhin aufrechterhalten.

Auch wenn die vor den Schrecken des Holocausts nach Palästina ausgewanderten Menschen jedes Recht auf ein geschütztes und selbstbestimmtes Leben hatten, so wurde aus dem Projekt der Gründung eines neuen Staates auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebietes gleichzeitig ein neokoloniales Gebilde, das sich für die imperialistischen Großmächte als wichtiges Element ihrer postkolonialen Beherrschung der wichtigen „Nahostregion“ eignete – unter völliger Missachtung der arabischen Bevölkerungen ebendieser im Allgemeinen und in Palästina im Speziellen. Die völlige Entkopplung der „Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ in der Region Palästina vom Kontext der postkolonialen Geschichte und Realität der Region führt zu einer völlig aberwitzigen, ahistorischen Neudefinition des Antisemitismus als Rechtfertigungsideologie für eine Form des postkolonialen Neoimperialismus.

Das zehnte Beispiel ist definiert als „Vergleiche der gegenwärtigen israelischen Politik mit der der Nazis“. Da es nicht unüblich ist, die Unterdrückung und unmenschlichen Handlungen verschiedener Staaten, einschließlich der oben genannten, mit den Nazis zu vergleichen, gibt es keinen Grund, Israel von einer solchen Kritik auszuschließen, insbesondere nach den letzten sechs Monaten.

Auch wenn man wie wir die spezielle historische Bedeutung des Holocausts anerkennt – so ist er vor allem eines: Kennzeichen der Tiefe der Krise der „westlichen Moderne“. Die Verbrechen des Kolonialismus und ihre Fortführung in den brutalen Repressionsakten der postkolonialen Weltordnung gehören jedoch zu den Grundlagen der „westlichen Moderne“ – zur Absicherung der ökonomischen, politischen und militärischen Ordnung, die zugunsten der privilegierten Schichten und Klassen in den imperialistischen Zentren erfolgt. Die Verbrechen, die beides hervorbringt, sind alle systembedingt grausam und müssen in solcher Weise auch benannt werden können.

Die achte ist ein Beispiel dafür, dass „mit zweierlei Maß gemessen wird, indem von Israel ein Verhalten verlangt wird, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt wird“.

Die Behauptung einer selektiven Kritik an Israel ist wirklich lächerlich, da die meisten Kritiker:innen der Handlungen Israels, und vor allem die extreme Linke, nicht nur Staaten wie Putins Russland für seine völkermörderischen Handlungen (in Tschetschenien) kritisiert haben, sondern auch Großbritannien und die USA für ihre schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Irak, ganz zu schweigen von Vietnam, Frankreichs Massaker in Algerien und Großbritanniens Wüten in Kenia, im Jemen usw. All diesen Fällen liegt dasselbe zugrunde – Imperialismus.

Außerdem kann Israel in seiner jetzigen Konstruktion als rein jüdischer Staat angesichts einer Masse davon Ausgeschlossener im eigenen, im besetzten Land und in der palästinensischen Diaspora Lebender keine „demokratische Nation“ sein. In welcher Form auch immer das Zusammenleben von jüdischen und palästinensischen Menschen in Zukunft vernünftig geregelt werden kann – in seiner jetzigen Form ist Israel ein in seinem Kern rassistisches Konstrukt, das Juden/Jüdinnen wie Palästinenser:innen keine wirklich sichere und gemeinsame Perspektive bietet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gründe für die Verleumdung und Verfolgung der Verteidiger:innen des arabischen Teils der Bevölkerung Palästinas aus der Sicht Israels ganz einfach darin liegen, die Vollendung ihrer Zerstörung als nationale Gemeinschaft „vom Fluss bis zum Meer“ zu erreichen.  Die Arbeiter:innenklasse, die antiimperialistische und demokratische Bewegung weltweit sowie die Standhaftigkeit ihres Volkes werden dies niemals zulassen.




Skandal nach der Berlinale: Frieden und freie Meinungsäußerung unerwünscht

Jonathan Frühling, Infomail 1246, 4. März 2024

Jährlich findet in Berlin die Berlinale statt – ein internationales Filmfestival, welches zu den weltweit wichtigsten zählt. Deutschland und seine Kulturstadt Berlin lassen sich nicht lumpen. Zum Programm gehört auch die Verleihung von Preisen in verschiedenen Kategorien. Der Dokumentarfilmpreis ging diesmal an den Palästinenser Basel Adra und seinen israelischen Kollegen und Freund Yuval Abraham. Die beiden hatten sich zusammengetan, um die Doku „No other Land“ zu drehen. Darin geht es um das Leben (und Sterben) unter der kolonialistischen Siedlungspolitik des israelischen Apartheidregimes im Süden des besetzen Westjordanlandes. Sie zeigt drastisch die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Armee und rechtsradikalen Siedler:innen sowie den heroischer Kampf der Palästinenser:innen dagegen.

Bei der Auszeichnung wurde von den Preisträgern ein Ende der Waffenexporte nach Israel gefordert, um den momentan stattfindenden Genozid zu stoppen. Es wurde die Forderung nach einem Ende des Krieges und Frieden zwischen den Völkern im Nahen Osten laut. Das Publikum applaudierte und skandierte: „Free Palestine“. So weit, so erfreulich.

Hetze

Als die Geschehnisse an die Öffentlichkeit drangen, wurde von bürgerlichen Politiker:innen sofort ein Skandal daraus konstruiert. Der Vorwurf des Antisemitismus wurde dafür mal wieder missbraucht. Bürgerliche Politiker:innen wie der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner bezeichneten den Vorfall als unerträglich und forderten zu verhindern, dass sich so etwas wiederholen kann. Der eigentliche Skandal ist also der Grundtenor der zionistischen Hetzer:innen: Wie kann es sein, dass sich ein Künstler unzensiert äußern und öffentlich für Frieden eintreten darf?

Es wurde also offen nach noch mehr Zensur gerufen. Die Parole: „From the river to the sea, Palestine will be free“ fällt ja bereits unter diese. Die grüne Kulturministerin Claudia Roth setzte sich am Ende noch auf die Spitze des Eisberges, als sie beteuerte, dass sie bei der Preisverleihung nur für den Israeli Abraham, nicht aber für den Palästinenser Adra applaudiert hätte. Sie versucht, sich also zu verteidigen, indem sie ihren unverhohlenen Rassismus betont!

Beim Konzert der Hetzer:innen und Demagog:innen wollte der ansonsten blass-blaue FDP-Justizminister Buschmann nicht lumpen lassen. Er forderte strafrechtliche Konsequenzen für angebliche antisemitische Äußerungen bei der Berlinale. Wie ungeniert die Regierungen mittlerweile Lügen in die Welt setzen, zeigt eine Bundespressekonferenz Ende Februar. Auf mehrmalige Nachfragen von Journalist:innen hin, konnte die Sprecherin des Ministerium, Marie-Christine Fuchs, keine einzige konkrete Äußerung benennen. Der Minister, so seine Pressesprecherin, habe sich nur „generell zu Antisemitismus“ geäußert.

Währenddessen tragen Hetze und Falschaussagen Früchte. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar drang ein rechter Mob in das Haus Abrahams in Israel ein und bedrohte seine Familie. Diese musste daraufhin aus der Stadt fliehen. Abraham erhielt zudem zahlreiche Todesdrohungen und musste seine Rückkehr nach Israel deshalb verzögern. Er selbst verteidigte sich gegen den absurden Vorwurf des Antisemitismus. Er verwies darauf, dass der inflationäre Gebrauch dessen ihn seiner Wirkung beraube. Tatsächlicher Antisemitismus würde damit relativiert. Damit hat er Recht, denn was ist denn noch der Unterschied zwischen bewaffneten Faschist:innen, die Brandanschläge auf Synagogen durchführen, und einem israelischen Regisseur, wenn doch beide gleichermaßen Antisemit:innen sind?

Mundtod machen

Die hysterischen und reaktionären Lügen machen aber auch deutlich, wie verzweifelt die herrschende Politik jede Solidaritätsbekundung mit Palästina mundtot machen will. Nichts fürchtet sie mehr als einen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Dieser schreitet jedoch mit jedem Kriegstag voran. Die Verbrechen Israels werden immer bestialischer und lassen sich nicht mehr schönreden. Gaza liegt zu 80 % in Schutt und Asche, 1,8 Millionen wurden Menschen vertrieben, 30.000 sind tot. Kürzlich wurde bekannt, dass Israel systematisch Wohnhäuser in den besetzten Gebieten niederbrennt. Vor wenigen Tagen wurden knapp 1.000 bei der Ausgabe von Hilfsgütern beschossen, wobei 115 ermordet wurden. Der Hunger wird so extrem, dass die ersten Kinder bereits daran gestorben sind. Währenddessen haben die Ermordungen und Vertreibungen auch im Westjordanland explosionsartig zugenommen.

Das alles wird auch möglich, weil Deutschland an Israel Waffen liefert, diplomatische Unterstützung leistet und seine Hilfszahlungen an das UN-Geflüchtetenwerk für Palästina eingestellt hat. Seit Neustem ist es auch noch direkter in den Krieg involviert, indem die Bundesmarine die Drohnenangriffe auf mit Israel assoziierte Schiffe auf See bekämpft.

Doch der Einfluss Deutschlands bedeutet auch, dass wir hier mit unserem Widerstand einen großen Einfluss auf den Krieg nehmen können. Die pro-palästinensische Bewegung bietet der Regierung bereits seit Anfang Oktober ununterbrochen die Stirn und bringt den Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Straßen. Vom 12. – 14. April 2024 findet in Berlin ein Kongress statt, der zum Ziel hat, die Bewegung zu bündeln und weiterzuentwickeln. Zusammen können wir den Krieg und den Genozid beenden!

Hier der Link zur Anmeldung beim Kongress: https://palaestinakongress.de/




Forderung nach Zwangsexmatrikulationen an Berliner Unis: Warum gerade jetzt?

Oda Lux, Infomail 1246, 4. März 2024

2021 wurde Zwangsexmatrikulation als Maßnahme aus dem Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) gestrichen. Zuvor wurde sie kaum noch angewandt. Doch als Reaktion auf den Angriff auf einen jüdischen Studenten der FU Berlin in einer Bar in Berlin Mitte gibt es Bestrebungen des Berliner Senats, diese Klausel wiedereinzuführen – und das im Eilverfahren. Als kritische Begleiter:innen der Politik und Geschehnisse der letzten Jahre müssen wir uns fragen: Warum gerade jetzt?

Die letzten zehn Jahre können wir eine Zunahme antisemitischer Angriff, in erster Linie von rechts, aber auch Islamist:innen beobachten. Warum? Weil diese Ideologien auf dem Vormarsch sind und an Fahrwasser gewonnen haben. Natürlich macht dieses Klima nicht vor Universitäten halt.

Der Attentäter von Wien, der im Jahr 2020 4 Menschen erschoss und wahrscheinlich ein Sympathisant des sog. Islamischen Staates war, war Student.

Burschenschaften mit Verbindungen zur Jungen Alternativen für Deutschland und der Identitären Bewegung, die als rechtsextrem eingestuft wurden, wandeln mehr oder weniger weniger sichtbar auf Campus im gesamten Land umher. Und dass, obwohl alle eine konservativ, rechtsnational bis rechtsextremistische Ideologie verfolgen, in Teilen Ausländer nicht aufnehmen und Frauen keinen Platz bei ihnen haben. Sucht man bei ihnen nach Verbindungen zu Gewalttaten, wird man ebenfalls schnell fündig.

Das sind nur zwei Beispiele. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, daraus den Schluss zu ziehen, dass man die Repression an Universitäten, und dann auch noch nur für Studierende, insgesamt erhöhen müsste. Diskriminierende Fälle, nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische, haben in den letzten Monaten stark zugenommen. Werden diese künftig auch mehr beachtet?

Die bürgerliche Justiz vs. die „Gerechtigkeit des Mobs“

Der Ruf nach Zwangsexmatrikulationen wirft viele Fragen auf: Für welche Taten sollen diese Mittel gelten: nur für Antisemitismus oder auch andere Hassverbrechen wie Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Hass auf Frauen? Geht es nur um aktuelle oder auch vergangene Taten in Berlin, Deutschland und darüber hinaus? Ist das ein Aufruf zur gegenseitigen Bespitzelung? Muss der oder die Angreifer:in handgreiflich geworden sein und wer richtet über diese Fälle: etwa die Universitäten selbst?

Die, vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus naheliegendste Antwort wäre: Gerichte müssen entscheiden. Doch das wollen jene, die laut nach raschen, drakonischen Verurteilungen rufen, offenkundig nicht. Die Debatten um den antisemitischen Angriff und die Novellierung des BerlHG haben gezeigt, dass nicht einmal jetzt, wo Zwangsexmatrikulationen illegal sind, gewartet wurde, bis bspw. überhaupt die Umstände geklärt waren, geschweige denn ein Gericht über Schuld und Unschuld gerichtet hätte. Bereits hier muss man hellhörig werden. In Zeiten von Fake News und einer, auch ohne den Krieg gegen Gaza, angespannten politischen Lage sind falsche Vorwürfe an der Tagesordnung. Der populistische Mob hatte unlängst gerichtet. Doch am Ende nützt ein solches Vorgehen nicht den Betroffenen, sondern in erster Linie rechten und populistischen Kräften. Und es stärkt die autoritären Tendenzen zur Aushebelung bürgerlich demokratischer Rechte.

Zurück zu den Zwangsexmatrikulationen: Folgt man dennoch dieser Vorgehensweise, würde man in erster Linie Zwangsexmatrikulationen bei Vorfällen auf den Weg bringen können, die zur Anzeige oder gar Verurteilung kamen. Doch Betroffene, die tagtäglich mit Hass konfrontiert werden, bringen Taten viel seltener zur Anzeige, als man denkt. Denn Übergriffe und Beleidigungen geschehen zu oft und sich zusätzlich noch Befragungen oder Gerichtsverhandlungen auszusetzen, frisst noch zusätzlich emotionale Kapazitäten. In vielen Fällen wird ihnen nicht geglaubt oder es kommt noch zusätzlich zu Polizeigewalt. Noch schwieriger ist es bei Hass und sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen und Queers. Für viele ist es schwierig, auch noch nach Monaten und Jahren überhaupt darüber zu sprechen. Wie realistisch ist es daher, dass gerade im Universitätskontext, wenn auch vor Gericht die Beweislast bei den Betroffenen liegt und die meisten Taten nur schwer zu beweisen sind, Menschen sich dieser Tortur aussetzen? Und vor allem für welches Ergebnis? Weder einen Rechtsbeistand noch einen Therapieplatz bekommt man im Gegenzug.

Zusätzlich bleiben Gerichte ein Mittel des bürgerlichen Staates und seiner Verteidigung. Spätestens wenn man versucht, Polizist:innen für rassistische Polizeigewalt zu verurteilen, sollte das auch noch dem/r letzten reformistischen Linken klar werden. Betroffene „gewinnen“ dabei also erstmal nichts und werden im schlimmsten Fall noch durch Unglauben gestraft.

Betroffene schützen, aber wie?

Die FU Berlin hat dem vermeintlichen Täter ein Hausverbot erteilt. Sicherlich gibt es Kontexte, in denen das ein sinnvolles Mittel ist, um Menschen von Veranstaltungen auszuschließen. Bedenkt man allerdings die Größe der meisten Universitäten, ist es einfach nur unrealistisch, dass Menschen tatsächlich so am Betreten von Gebäude gehindert werden können. Dieses Problem in der Umsetzung darf nicht zu einem Einfallstor für Sicherheitsdienste an Unis genutzt werden. An manchen Fakultäten gibt es sie bereits. Auch die FU hat einen beauftragt. Studierende haben hier berichtet, dass dieser u. a. rassistisch und obdachlosenfeindlich aufgetreten ist. Wenn solche Strukturen zum „Kampf gegen Diskriminierung“ eingesetzt werden, dann ist es daher viel wahrscheinlicher, dass der gegenteilige Effekt einsetzt und noch mehr „bedauerliche“ Einzelfälle produziert werden.

Die Handlungsmacht muss zurück in unsere Hände, die der Studierenden und Beschäftigten!

Unsere Devise heißt: Organisiert euch! Wir brauchen Strukturen, die einschreiten. Nicht nur für die politische Arbeit an der Uni als Lern- und Arbeitsort ist das wichtig. In diesem Rahmen können auch Schutzkonzepte erarbeitet werden – eine Form der Bildungsarbeit, die derzeit nicht geleistet wird. Allein der Ausschluss von Menschen entzieht Hass und Menschenfeindlichkeit nicht die Grundlage. Es braucht daher ein Umdenken. Des Weiteren suggeriert es Betroffenen, dass, wenn sie bestimmte Orte nicht bzw. diese von anderen nicht betreten werden dürfen, sie sicher vor Diskriminierung wären. Das ist weit von der Realität entfernt.

Warum darf man den Kampf gegen Antisemitismus nicht getrennt sehen?

Bei der Wiedereinführung von Zwangsexmatrikulationen geht es um viel mehr als einen antisemitischen Vorfall. Und auch bei denen, die immer wieder darauf rekurrieren, kann man sich die Frage stellen, inwiefern es je primär um Antisemitismus ging. Dieser ist tief in der Gesellschaft verankert. Das kann man nicht leugnen, ist allerdings nicht erst seit einer steigenden Anzahl Muslim:innen in Europa zu verzeichnen. Er war nie weg. Doch wo waren alle diese neuen Kämpfer:innen gegen Antisemitismus nach dem Anschlag in Halle? Was haben sie gegen den Anstieg der Vorfälle getan? Haben sie ihre Stimme erhoben? Haben sie sich organisiert? Demonstriert?

Erst mit dem Angriff der Hamas wurde dieser Kampf, den es ohne Frage zu gewinnen gilt, sodass Menschen ohne Angst in die Synagoge gehen oder sagen können, dass sie jüdisch sind, wieder populär. Und das ist nichts anderes als Heuchelei. Unter dem Label der Antisemitismusbekämpfung ist es derzeit einfach, Menschen zu diskreditieren, migrantischen Protest zu kriminalisieren oder Kritiker:innen, nicht nur im Kontext des Krieges in Gaza, zum Schweigen zu bringen. Es sind dieselben, die Bildungsarbeit zu Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus diskreditieren (hierzu empfehlen wir, die Anfragen im Abgeordnetenhaus von Berlin von FDP, CDU oder AfD zu studieren) oder gar Gelder dafür einstampfen wollen. Allein das zeigt, dass es sich um ein vorgeschobenes Argument handelt.

Viel wichtiger ist es allerdings, dass wir uns nicht nur der Heuchelei, sondern der materiellen Grundlage bewusst sind. Das bedeutet auch, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht losgelöst gesehen werden kann von dem gegen Rassismus oder Imperialismus. Klar hat es Diskriminierungsformen auch ohne Kapitalismus bereits gegeben. Dennoch ist der moderne Antisemitismus nicht deckungsgleich mit einem mittelalterlichen Antijudaismus. Rechte Hetze und faschistische Bewegungen spielen mit Abstiegs- und Existenzängsten. Die reaktionäre faschistische Bewegung nutzt Antisemitismus bewusst, um Klassengrenzen vermeintlich wegzuwischen. Ein vermeintliches deutsches, französischse usw. Volk wird einem Feind gegenübergestellt, den es zu bekämpfen gilt. In Europa und besonders in Deutschland, nicht zuletzt durch die NS-Zeit, führte das zur massenhaften Vernichtung von Juden und Jüdinnen. Doch als diese Verfolgungsmaschinerie erst einmal eingesetzt hatte, wurde die Gruppe der Verfolgten kontinuierlich größer.

Neuere Umvolkungsideen basieren auf ähnlichen Grundlagen, auch wenn sie sich vor allem auf Muslim:innen fokussieren. Allein diese Parallelen zeigen auf, dass wir nicht auf eine rassistische Front gegen Antisemitismus hereinfallen dürfen. Beide Ideologien haben dieselbe Grundlage. Ebenso wird auch in beiden Fällen vor allem das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum angesprochen. Schaut man sich die derzeitigen Proteste an, bestätigt sich diese These: Vorher nie was gegen Diskriminierung jeglicher Art gemacht, aber auf die Feindeserzählungen hereingefallen. Ja, nie wieder ist jetzt! Für uns bedeutet das, den Kern dieser Ideologien zu bekämpfen und eine politische Alternative dazustellen. Dabei stützen wir uns nicht auf die all zu schnell verführbaren Kleinbürger:innen.

Der Kampf gegen Repression ist jetzt!

Ein Ausschluss entzieht der ausgeschlossenen Person nicht nur ihr Recht auf Bildung und auf Verteidigung gegen den Vorwurf. Noch viel schlimmer ist, dass es überhaupt keinen Ansatz gibt, um nachhaltig Diskriminierung entgegenzuwirken. Nicht mal die Symptombekämpfung durch Bildungsarbeit spielt eine Rolle. Doch Rassismus und auch Antisemitismus sind nicht „eingeimpft“, sie sind Merkmale des kapitalistischen Systems. Gerade in Zeiten der Krise basiert der Kapitalismus darauf, sich nach und nach gewisser Gruppen zu entledigen. Wer vorher in den prekärsten Jobs schuften musste, wird durch die nächste Gruppe ersetzt, um letztlich doch wieder Profite zu erzielen. So ist es nicht verwunderlich, dass in Zeiten des Rechtsrucks nicht nur Antisemitismus oder Rassismus ansteigen, sondern auch der Hass auf Frauen.

Bei der Frage, ob Zwangsxmatrikulationen wieder eingeführt werden sollten, geht es eben nicht nur um einen vermeintlich antisemitischen Übergriff. Hier werden Weichen gestellt. Diese Debatte ist einerseits der Höhepunkt einer Repressionswelle und gleichzeitig der Anfang für ein neues Stadium der Kriminalisierung. Besonders Muslim:innen werden derzeit zu Sündenböcken gemacht, obwohl der Großteil antisemitischer Taten weiterhin von rechts kommt. Doch das will niemand aus dem „demokratischen“ Mainstream hören. Denn auch die Rhetorik in den Parlamenten besteht von Misstrauen bis zu offenen Deportationsplänen über Parteigrenzen hinweg gegen Ausländer:innen, Migrant:innen und Geflüchtete. Als Revolutionär:innen ist uns klar, dass die erste Phase der Repression vor allem Migrant:innen zum Ziel haben, es aber darüber hinaus auch insbesondere linke Gruppen treffen wird. Dieser Repressionsapparat darf gar nicht erst in Gang gesetzt werden. Wir müssen uns jetzt dagegen organisieren!

Unsere Staatsräson heißt: Sozialismus!

Wir sind Internationalist:innen. Natürlich sind uns Religion oder Herkunft einer Person egal, denn unsere Klasse kennt weder Ausländer:innen noch rassistische Trennung.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich halten wir von Sozialismus und Befreiung nur in einem Land nichts.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich interessiert uns die politische Situation und die Ausbeutung der Massen in einem Land nicht erst, wenn es in der deutschen Tagesschau Thema wird.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich ist unser Ziel eine weltweite Revolution der Arbeiter:innenklasse.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich sind wir uns der Diskriminierung auch innerhalb unserer eigenen Bewegung bewusst. Deswegen stehen wir nicht nur bei äußerer Bedrohung Seite an Seite, sondern geben unseren Mitgliedern Caucusse als Supportstrukturen.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich beginnt unser Kampf gegen Imperialismus im eigenen Land.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich müssen wir jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Unser Kampf dagegen steht jedoch nicht im Widerspruch zu unsere Palästinasolidarität. Für uns ist weder das eine noch das andere ein plötzliches Event. Unser Kampf gegen Diskriminierung, Ausbeutung und Imperialismus steht auf einer Klassenbasis, einer Analyse der materiellen Grundlage. Genau deswegen gehören der Kampf gegen antisemitische Parolen in- und außerhalb der eigenen Strukturen und der für ein freies Palästina zusammen.

Der Kampf in der Bewegung für ein revolutionäres und internationalistisches Programm und seine Anleitung durch es sind wichtiger denn je. Die derzeitige Dynamik zeigt uns, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt, wenn die AfD in Deutschland Erfolge erzielt, Antisemitismus und Rassismus seit Jahren zunehmen, Netanjahu in Israel den Krieg nicht nur gegen die Palästinenser:innen nutzt, sondern auch gegen die Opposition und jemand wie Erdogan als Bollwerk gegen Genozid eintritt, während er selbst Kurdistan bombardiert. Unsere Antwort auf die Krise heißt daher: Sozialismus jetzt!

Mehr zu unserer Position zu Palästina




Antisemitismus und Antizionismus

Teil 3 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 6, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Wie zeigt sich Antisemitismus heute und wie können wir ihn erfolgreich bekämpfen?

Die Zuspitzung der Kämpfe in Palästina seit der Aufnahme unserer letzten Folge zeigen, wie brandaktuell diese Fragen sind. Im Zuge der Bombenangriffe und der drohenden Bodenoffensive der israelischen Armee in Gaza nach den Angriffen der Hamas am 07. Oktober wird der vorgebliche Kampf gegen Antisemitismus immer wieder als Rechtfertigung für das Vorgehen gegen den palästinensischen Widerstand genutzt und dient als Legitimierung der Unterdrückung und Ermordung von Palästinenser:innen. Eine genauere Einschätzung der aktuellen Lage wollen wir in unserer kommenden Folge vornehmen, in der es um ein Aktionsprogramm zu Palästina gehen soll. Heute wollen wir zeigen, welche Gefahr eine solche Verwischung des Antisemitismusbegriffs darstellt, nicht nur für den berechtigten Befreiungskampf der Palästinenser:innen, sondern vor allem auch für den Kampf gegen Antisemitismus. Denn wie wollen wir gegen Antisemitismus vorgehen, wenn wir kein präzises Verständnis davon haben?

Antisemitismus heute

Wir sprechen heute darüber, in welchen Formen Hass gegenüber Juden/Jüdinnen derzeit in verschiedenen Teilen der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, und wollen beleuchten, welche Ansätze gegen Antisemitismus historisch bereits vertreten worden sind, um euch anschließend unsere eigene Position – also die Forderungen der Gruppe Arbeiter:innenmacht – näherzubringen.

Viele Rechtspopulist:innen aus AfD und ähnlichen Kreisen behaupten, dass Antisemitismus aktuell in Deutschland kaum noch eine Rolle spielt. Das einzige Problem seien die vielen Geflüchteten, die einen neuen Antisemitismus mit ins Land brächten. Es wird hier vom Antisemitismus als importiertes Problem unzivilisierter Völker schwadroniert. Tatsächlich zeigen Studien, dass es in den vergangenen Jahren einen Anstieg antisemitischer Straftaten gab, die aber vorwiegend von deutschen Rechten und eben nicht von Migrant:innen verübt wurden. Andererseits ist das eine gefährliche Gleichsetzung von Widerstand gegen nationale Unterdrückung, wesentliche Quelle der Ablehnung Israels im Nahen Osten, mit dem eliminatorischen Antisemitismus. Der schreckliche Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 und die Angriffe auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz 2018 zeugen davon. Für die AfD und dessen Gründungsmitglied Alexander Gauland sind Hitler und die Nazis ein „Vogelschiss“ in der sonst so „erfolgreichen deutschen tausendjährigen Geschichte“, wie er diese verharmloste. Hier ist der angebliche Kampf gegen Antisemitismus ein willkommenes Mittel, ihren antimuslimischen Rassismus salonfähig zu machen und Repressionen und Abschiebungen von Geflüchteten zu legitimieren.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der nicht nur explizit rechte Kräfte gegen Migrant:innen wettern, sondern auch alle anderen bürgerlichen einen zunehmenden Abschreckungs- und Abschottungskurs gegenüber Geflüchteten fahren. Die Kündigung von Landesaufnahmeprogrammen von Geflüchteten, die Ausweitung der sogenannten „sicheren Herkunftsländer und -regionen“, schnellere Abschiebungen, verstärkter Grenzschutz und Migrationsabkommen – unter anderem mit Tunesien –, welche Flüchtende schon vor der europäischen Grenze stoppen sollen, sorgen medial kaum für Aufschrei und werden von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen. Aktuell zeigt die EU Asylrechtsreform, welche die Abschaffung des geltenden Asylrechts und die Nutzung von Asylzentren bzw. eher Gefängnissen an den EU Außengrenzen vorsieht, dass es eine breite Unterstützung dieser rassistischen Abschottung gibt. Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform ab, während SPD, FDP und Grüne diese mittrugen und CDU/CSU sogar noch weitere Schritte forderten. Der Wall um die Festung Europa soll ausgebaut werden – darin sind sich die meisten einig. Olaf Scholz erklärte gegenüber dem Spiegel: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ Der Rassismus gegenüber Migrant:innen dient dazu, unsere Klasse zu spalten und die Auswirkungen der kapitalistischen Krisen – wie finanzielle Not, Unsicherheit und Abstiegsangst – den Migrant:innen in die Schuhe zu schieben. Das zeigt sich, wenn Geflüchteten unterstellt wird, dass sie angeblich nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland kämen und damit den Deutschen alles wegnähmen. Auf die Spitze getrieben hat dies CDU-Chef Friedrich Merz, der die absurde Unterstellung äußerte, dass Migrant:innen beim Arzt säßen, um sich die Zähne neu machen zu lassen, während die deutschen Bürger:innen nebenan keine Termine bekämen.

Das Bild der „bösen Migrant:innen“ wird aktuell auch im Zuge der Solidaritätsproteste mit Palästina verbreitet. Es wird dabei das Bild der in Anführungszeichen „terroristischen Migrant:innen“ gezeichnet und eine angebliche Bedrohung durch die Solidaritätsbekundungen mit den Palästinenser:innen konstruiert, die gerne auch mal auf alle Migrant:innen ausgeweitet wird. Demonstrationen werden verboten und massive Repressionen ausgeübt. Es wurde sogar über die Abschiebung von sogenannten „Straftäter:innen“ gesprochen, was von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser befürwortet wurde. Dies alles findet unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes gegen Antisemitismus statt.

Hierbei ist zu sagen, dass es sich nicht wirklich um einen Kampf gegen Antisemitismus handelt, sondern vielmehr die imperialistischen Interessen im Nahen Osten und die damit einhergehende Unterstützung von Israel ideologisch gerechtfertigt werden sollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kampf gegen Antisemitismus dafür instrumentalisiert wird, eine zunehmend rassistische Front gegenüber Migrant:innen zu verfestigen. Wir müssen hier klar sagen, dass dieser Scheinkampf einem wirklichen Kampf gegen Antisemitismus niemals gerecht wird – und, so behaupten wir, dem auch nicht gerecht werden kann.

In den vergangenen Folgen haben wir unser Verständnis von Antisemitismus dargelegt und verschiedene Formen des Hasses gegenüber Juden und Jüdinnen genauer beleuchtet. Im Kampf gegen Antisemitismus ist es zwingend notwendig, ein präzises Verständnis seiner Entstehung zu entwickeln, um Fehleinschätzungen zu vermeiden. Denn nur so kann verhindert werden, dass die AfD als „Volkspartei des gesunden Menschenverstandes“ erscheint – wie es die antideutsche Zeitschrift Bahamas schreibt – und die Proteste der antirassistischen Linken gegen sie als Verharmlosung des Holocausts dargestellt werden.

Definitionen und Kritik

In der öffentlichen Debatte ist aktuell eine Vielzahl diverser Definitionen von Antisemitismus im Umlauf. Auch gibt es zahlreiche Studien zu diesem Thema, die auf unterschiedlichen Verständnissen von Antisemitismus aufbauen und damit nur schwer vergleichbare Ergebnisse hervorbringen. David Ranan, der am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin arbeitet, hat diese Problematik genauer beleuchtet und einige übliche Antisemitismusdefinitionen und Untersuchungsmethoden vorgestellt. Er problematisiert, dass er häufig mit Israelkritik gleichgesetzt wird, statt seine verschiedenen Formen differenziert zu erfassen. Eben jene Gleichsetzung verurteilt auch Moshe Zuckermann, ein israelisch-deutscher Soziologe und Professor an der Universität Tel Aviv. Er kritisiert, dass es in Deutschland inzwischen die Norm sei, „Israel“ und „Zionismus“ mit „den Juden/Jüdinnen“ gleichzusetzen. Er verweist darauf, dass der Staat Israel und seine Verteidiger:innen auf diese Gleichsetzung angewiesen sind. Er setzt sich für eine klare Trennung der Phänomene ein, ebenso wie für die Trennung von „Israelkritik“, „Antizionismus“ und „Antisemitismus“.

Ranan zeigt in seinen Publikationen auf, dass in der Antisemitismusforschung in Deutschland eine solche Trennung nicht stattfindet und undifferenzierte Erhebungsinstrumente zur Erfassung von Antisemitismus verwendet werden. Beispielsweise verwende die Antidiffamierungsliga seit 1913 zur Erfassung von Antisemitismus ein Instrument, das durch 11 Stichpunkte typische antijüdische Stereotype erfragt. Ein beispielhafter ist: „Juden haben zu viel Kontrolle über die US-Regierung“. Wer mehr als 6 von diesen Fragen gemäß Stereotyp beantwortet, gilt als antisemitisch. Sicherlich ist der Fragebogen hilfreich, um Vorurteile und Verschwörungstheorien zu erfassen, allerdings wird nicht notwendigerweise festgestellt, ob dahinter auch mit Aggression aufgeladener Hass gegenüber Juden und Jüdinnen lauert, welcher nochmal eine andere Qualität hat und die potenziell viel größere Gefahr darstellt.

Als weiteres Beispiel führt Ranan die „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit der Universität Bielefeld von 2016 an. Diese unterscheidet zwischen „klassischem“, „sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Hier wird also zwischen dem offenen Hass gegenüber Juden und Jüdinnen, einem unterschwelligen und verkleideten Antisemitismus, der sich beispielsweise in der Verharmlosung der Schoa äußert, und einem mit der Kritik an Israel verknüpftemn Antisemitismus unterschieden. Ranan kritisiert, dass die Studie den Eindruck erweckt, dass der israelbezogene im Vergleich zum sekundären Antisemitismus das größere Problem darstellt. Die Autor:innen der Studie gehen davon aus, dass zwar prinzipiell eine „neutrale Kritik“ an Israel möglich ist, diese aber äußerst selten vorkomme und in der Regel antisemitisch unterfüttert sei. Eine solche Verwischung der Unterschiede zwischen Israelkritik und latentem Antisemitismus ist vehement abzulehnen, denn sie verkennt, dass Letzterer mit aggressivem Verdrängungspotenzial belastet ist und langfristig die weitaus größere Gefahr darstellt.

Beide Beispiele zeigen, dass eine undifferenzierte Analyse und besonders die Gleichsetzung von Israelkritik mit Antisemitismus mögliche reaktionäre Einstellungen hinter den Stereotypen  über Juden und Jüdinnen aus dem Fokus lässt und zu einem verzerrten Bild der Verteilung von Antisemitismus in unserer Gesellschaft führt. Es kann schnell der Fehlschluss gezogen werden, dass Antisemitismus unter Menschen mit arabischem Migrationshintergrund sehr viel stärker verbreitet ist, da diese durch persönliche oder familiäre Erfahrungen natürlich tendenziell häufiger die Politik des Staates Israel kritisieren. Zugleich wird unter Deutschen die klassische Sündenbockaggression gegenüber Juden/Jüdinnen unterschätzt, denn viele Deutsche haben in ihrer Schulzeit gelernt, ihren antijüdischen Hass zu verschleiern und vermeintlich „korrekt“ auf Fragen, wie sie zu statistischen Zwecken gestellt werden, zu antworten. Es wird also suggeriert, dass Muslim:innen die größere Gefahr darstellen, während die Gefahr deutscher Rechter unterschätzt wird. Hierin ist ein gefährlicher Trugschluss begründet.

Die zentrale These Ranans lautet, dass es in Deutschland unter Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund eine verstärkte Bereitschaft gibt, aberwitzige Stereotype über Juden und Jüdinnen zu teilen. Diese resultiere aus der Empörung über die Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen und dem Kurzschluss, diese auf Juden und Jüdinnen im Allgemeinen zu beziehen. Das Primäre sei also die Kritik an Israel, hinter der sich in den meisten Fällen keine antijüdische Haltung verberge. Im Vergleich dazu seien bei einigen Deutschen die antisemitischen Einstellungen das Primäre, die hinter einer Kritik am Staat Israel verborgen werden. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen dem eliminatorischen Antisemitismus, den wir schon in unseren letzten Folgen genauer beleuchtet haben und einer antijüdischen Haltung der Unterdrückten, die sie von ihren Unterdrücker:innen auf alle Juden/Jüdinnen verallgemeinern.

Wir wollen in keiner Weise antijüdische Stereotype verharmlosen. Als Revolutionär:innen müssen wir uns aktiv gegen diese stellen und ankämpfen. Antisemitismus und antislawischer sind in Deutschland die beiden zentralen geschichtlichen Erscheinungsformen von Rassismus, so muss der Kampf dagegen sich auch fokussieren. In den letzten Jahren hat der antimuslimische Rassismus in Deutschland eine immer größere Bedeutung eingenommen. Gleichzeitig dürfen wir nicht leugnen, dass die größte Gefahr für Juden und Jüdinnen in Deutschland noch immer von Rechten ausgeht, deren Antisemitismus nach wie vor tief sitzt und im Kern einen vernichtenden Charakter aufweist. Diese Art des Antisemitismus steht in Tradition der deutschen Faschist:innen, für deren Ideologie er von Beginn an ein Wesensmerkmal darstellte. Wie wir in den vergangenen Folgen schon gehört haben, fungierten Juden und Jüdinnen dabei als Sündenböcke für die hässlichsten Auswirkungen des Kapitalismus, was zu einem schrecklichen historisch singulären Vernichtungsprozess führte. Nazis präsentierten sich als Verteidiger:innen der angeblich „überlegenen europäischen Zivilisation“ und konstruierten in Jüdinnen und Juden eine Bedrohung für die vermeintlich „überlegene deutsch-arische Rasse“. Dies diente unter anderem zur Legitimation der Expansionspläne in Osteuropa. Opfer der Schoa wurden zum großen Teil verarmte Juden/Jüdinnen aus Osteuropa, die der Erweiterung des sogenannten „Lebensraumes im Osten“ im Wege standen. Heute kann sich diese aggressive Form des Antisemitismus nicht mehr in einer solchen Offenheit zeigen und tritt eher latent auf. Dennoch keimt sie in der Mitte der Gesellschaft und kann potenziell wieder in vernichtender Weise eskalieren. Der zunehmende Rechtsdrall, der einerseits den rassistischen Kurs gegenüber Migrant:innen ebnet, kann ebenso den Boden für die weitere Ausbreitung eines gefährlichen Antisemitismus bereiten. Man muss sich nur den Fall Hubert Aiwanger anschauen, dessen faschistisches Flugblatt als „Jugendsünde“ abgetan und dessen Antisemitismus damit normalisiert wird. Trotz dieser antisemitischen Entgleisungen – oder gerade deshalb – konnte die Freien Wähler bei den diesjährigen Landtagswahlen sogar an Stimmen gewinnen.

So wie sich Rassismus gegenüber Migrant:innen gerade flächendeckend ausbreitet, ist dies ebenso mit Antisemitismus möglich. Wir müssen Antisemitismus also dort – in der Mitte unserer Gesellschaft – an der Wurzel packen und bekämpfen und ihn als Wucherung unserer kapitalistischen Gesellschaft begreifen.

Blick in die Geschichte

Um den Kampf gegen Antisemitismus nachzuvollziehen, machen wir aus dem Jetzt einen Sprung in die Vergangenheit: Historisch war es vor allem die Arbeiter:innenbewegung, die ihn aktiv geführt hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat diese als anwachsend organisierte Kraft auf, wobei sich jüdische und nicht-jüdische Arbeiter:innen gemeinsam in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien organisierten und gegen ihre Ausbeutungsbedingungen kämpften. Als der Marxismus zunehmend an Einfluss gewann, verbreitete sich ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Antisemitismus. Es wurden die Klasseninteressen des Proletariats herausgearbeitet und aufgezeigt, dass diese im klaren Gegensatz zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus stehen. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1893 betonte deren Mitbegründer August Bebel den reaktionären Charakter von Antisemitismus und machte deutlich, dass er nur im Kampf für Sozialismus endgültig besiegt werden kann. Er vertrat die Ansicht, dass Antisemitismus den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung auf einen kleinen Teil des Kapitals – das jüdische – ablenke und somit nicht im Interesse der Arbeiter:innenklasse stehen könne. Doch auch damals zeigte die Antisemitismusanalyse der Sozialdemokratie deutliche Mängel. Dem Antisemitismus wurde eine „revolutionäre“ Seite angedichtet. Die Ansicht war verbreitet, dass v. a. das Kleinbürger:innentum, das von der Krise gebeutelt war und sich von antisemitischer Propaganda verführen ließ, früher oder später schon merken würde, dass sie die Ursachen der Krise nur unzureichend erklären kann. Mit voranschreitender Zeit würde es im Kapitalismus die wahren Gründe seiner Verelendung automatisch erkennen und zum Kampf gegen ihn antreten. Dieser Irrglaube, dass die fehlgeleiteten Massen auf lange Sicht schon die Täuschung der antisemitischen Politik durchschauen werden, führte zur verhängnisvollen Unterschätzung ihrer Gefährlichkeit.

Diese Fehleinschätzung lehnten die Bolschewiki vehement ab. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die sich aus Angst, Wähler:innenstimmen zu verlieren, teils sehr zögerlich zeigte, gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen, blieben die Bolschewiki sehr klar und prinzipienfest. Sie können historisch zu den entschiedensten Kämpfer:innen gegen Antisemitismus gezählt werden. Trotzki erkannte sehr früh die Gefahr, die von den Nazis – speziell für Juden und Jüdinnen – ausging und analysierte den Charakter des Faschismus als bisher am meisten zugespitzte Form des eliminatorischen Antisemitismus und die zentrale Rolle des Kleinbürger:innentums in der faschistischen Bewegung. Auch in ihrer praktischen Arbeit kämpften die Bolschewiki entschieden gegen die Unterdrückung von Juden/Jüdinnen. Sie traten für die Anerkennung von Minderheitenrechten ein – wie beispielsweise der Etablierung von Schulunterricht auf Jiddisch – und kämpften gegen die Abschaffung diskriminierender Gesetze. Lenin arbeitete beispielsweise 100 Gesetzesstellen heraus, die geändert werden mussten, schrieb Artikel zum Thema und forderte die Parteiorganisationen zum Sammeln von Unterstützungserklärungen auf. Wichtig anzumerken ist, dass vor allem in der jungen Sowjetunion ein aktiver Kampf gegen Antisemitismus geführt wurde. Als sich zunehmend der Stalinismus mit seiner Theorie des Sozialismus in einem Land durchsetzte und damit einhergehend Patriotismus und völkischer Populismus propagiert wurden, schwand auch das Interesse am Kampf gegen Antisemitismus. Viele der Errungenschaften wurden zurückgenommen. Er fand wieder zunehmend Verbreitung und wurde teils bewusst als Ventil für den Unmut gegenüber der Bürokratie und zum Vorgehen gegen Linksoppositionelle eingesetzt.

Historisch waren es sicherlich vor allem aber Juden und Jüdinnen selbst, die einen Ausweg aus dem Hass, der ihnen entgegenschlug, suchten. Sie kämpften in Gewerkschaften, sozialistischen oder kommunistischen Parteien, gründeten Selbstverteidigungsgruppen und wurden zu eigenständigen, selbstorganisierten Subjekten ihrer Geschichte. Ende des 18. Jahrhunderts entstand der „Allgemeine jüdische Arbeiter:innenbund“, kurz „Bund“ genannt – eine jüdische Arbeiter:innenpartei, die kurz nach ihrer Gründung mehrere zehntausende Mitglieder gewann und in verschiedenen osteuropäischen Staaten wirkte. Für die Mitglieder des „Bundes“ war die Befreiung vom Antisemitismus unmittelbar mit dem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung verknüpft. Er richtete sich also gleichzeitig gegen Antisemitismus und das Kapital. Ziel war es, die Welt als Ganzes zu verändern und die Klassengesellschaft überall aus den Angeln zu heben. Der Kampf dafür sollte im eigenen Land beginnen. Die Ansichten des „Bundes“ standen somit im Widerspruch zur zionistischen Idee, die als Antwort auf Antisemitismus die Auswanderung nach Palästina und Schaffung eines jüdischen Staates propagierte und eine jüdische Nation konstruierte. Der „Bund“ lehnte dies strikt ab und bewertete die Auswanderung nach Palästina als Realitätsflucht in eine Scheinwirklichkeit. Heute wird der Zionismus häufig als alternativlos im Kampf gegen Antisemitismus dargestellt. Der Kampf jüdischer Arbeiter:innen aber zeigt, dass der Zionismus historisch nicht der einzige Weg war und eine sozialistische Organisierung der Massen als Alternative möglich gewesen wäre. Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch die einflussreiche Strömung des liberalen Juden-/Jüdinnentums, die sich für eine Assimilierungsbewegung in den jeweiligen Nationalstaaten einsetzte. Moses Mendelssohn ist ihr wohl bekanntester Vertreter.

Allerdings verschoben sich die Machtverhältnisse in Richtung zionistischer Ideen. Innerhalb der sozialistischen Bewegung entbrannten heftige Diskussionen über die Frage der „jüdischen Nation“. Zwar lehnte es ein Großteil ab, in den Juden und Jüdinnen eine eigene Nation zu sehen und befürwortete ihre möglichst schnelle Integration dort, wo sie lebten. Rosa Luxemburg war beispielsweise eine der stärksten Verfechterinnen dieser Forderung. Dabei ist zu sagen, dass unter Integration nicht die Assimilierung im Sinne einer Unterordnung unter die bestehende nationale Leitkultur gemeint ist, sondern eine gleichberechtigte Entwicklung einer gemeinsamen, internationalen Kultur, bei der die progressiven Elemente der einzelnen Kulturen verschmelzen. Doch war die nationale Frage äußerst umstritten. Der „Bund“ verfolgte das Ziel, alle jüdischen Arbeiter:innen des zaristischen Russlands in einer sozialistischen Partei zu vereinen und die gesetzliche Anerkennung der Juden/Jüdinnen in Russland als eigene Nation mit Minderheitenstatus zu erreichen. Er vertrat also die Ansicht, dass Juden und Jüdinnen eine eigene Nation darstellten und sahen daher auch die Notwendigkeit, dass sie sich in einer eigenständigen Organisation zusammenschlossen. Die Bolschewiki lehnten die Vorstellung des Bundes von getrennten Parteien, die dann in einer sozialistischen Föderation zusammenarbeiten würden, ab. Sie vertraten die Position einer einheitlichen Partei, in der es autonome Sektionen für jüdische Arbeiter:innen geben müsse, denn sie verstanden, dass nur die gemeinsame Erfahrung im Klassenkampf die Mauern sozialer Unterdrückung sprengen kann.

Schließlich kam es zur Spaltung, aus der „Bund” und „kommunistischr Bund“ hervorgingen. Auch spalteten sich einige tausend Arbeiter:innen ab, die sich der Idee des Zionismus zuwandten. Es entstand die „Jüdische Sozialdemokratische Partei – Poale Zion“ – was auf Deutsch „Arbeiter:innen Zions“ bedeutet. Damit hatte der Zionismus, der bis dahin nur in kleinbürgerlichen Zirkeln bestand, zum ersten Mal eine größere Arbeiter:innenpartei hinter sich.

Sowohl die Gründung des „Bundes“ als auch die Entstehung der zionistischen Bewegung muss als Reaktion der jüdischen Bevölkerung auf den zunehmenden Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts verstanden werden. Beide sahen in der Selbstorganisation der Juden und Jüdinnen die einzige Möglichkeit, gegen selbsterfahrene Diskriminierung und Gewalt zu kämpfen. Doch je nach Klassenzugehörigkeit unterschieden sich die Antworten auf die antisemitische Bedrohungslage. So war es insbesondere das Großbürger:innentum, welches die Auswanderung armer osteuropäischer Juden und Jüdinnen nach Palästina förderte, um diese mit wenig finanziellem Aufwand loszuwerden. Die jüdische Arbeiter:innenbewegung, insbesondere in Osteuropa, hingegen, setze sich für die Befreiung von Unterdrückung und Antisemitismus durch das Erkämpfen des Sozialismus ein und positionierte sich somit entschieden emanzipatorisch und eben nicht zionistisch. Anfangs war die zionistische Idee eine kleinbürgerlich-nationalistische. So hieß es auf dem ersten Zionistischen Weltkongress 1897: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen.“ Der geschaffene Staat Israel sollte also als Schutzraum für alle Menschen jüdischen Glaubens fungieren. Der ideologische und organisatorische Kopf der zionistischen Bewegung war Theodor Herzl, der das bekannte Werk „Der Judenstaat“ verfasst hat. Wesentliche Triebfedern der zionistischen Idee waren die Angst vor der Auflösung jüdischer Identität in der Diaspora, aber auch die Sorge, dass der Antisemitismus weiter zunehmen würde, je mehr jüdische Geflüchtete aus Osteuropa zuwanderten. Als Lösung strebte der Zionismus also einen „eigenen“ Nationalstaat an, für den jedoch die grundlegenden Voraussetzungen fehlten: Abgesehen davon, dass mit Beginn der imperialistischen Epoche der Nationalstaat nichts Fortschrittliches mehr an sich hatte, fehlte es der jüdischen Gemeinschaft an einem gemeinsamen Territorium sowie einer gemeinsamen Hochsprache. So musste die zionistische Idee automatisch von tiefen Widersprüchen durchzogen sein, von denen wir hier einige benennen möchten:

Schon der altösterreichische Sozialhistoriker und marxistische Ökonom Roman Rosdolsky weist richtigerweise darauf hin, dass der Zionismus eine Art umgekehrter Antisemitismus ist, der nicht die jüdische Solidarität, sondern das Nationalstaatsprojekt in den Vordergrund stellt und paradoxerweise den Antisemitismus unbedingt als seine Legitimation benötigt. Nur durch massiven weltweiten Antisemitismus kann der Zionismus sein Ziel erreichen, was darin besteht, dass die jüdische Diaspora beendet wird, indem die Juden/Jüdinnen dieser Welt nach Israel gehen. Läge kein Antisemitismus vor und wären Menschen jüdischen Glaubens dort, wo sie leben, vollständig assimiliert und zufrieden, gäbe es kaum Anlass für sie, nach Israel auszuwandern.

Kommen wir zum zweiten Widerspruch: Zwar beteuert der Zionismus, säkular zu sein, doch die nationalstaatliche Aufladung der Stadt Jerusalem, auf welche man sich zuvor Jahrhunderte lang rein religiös-spirituell bezogen hatte, sowie der Umstand, dass aufgrund ihrer Heterogenität den israelischen Einwanderer:innen nur die Religion als einzige Gemeinsamkeit blieb, zeigten, dass hier Nationalismus und Religion untrennbar miteinander verflochten sind.

Ein weiterer gravierender ideologischer Widerspruch des Zionismus besteht darin, dass, zumindest unter kapitalistischen Bedingungen, die angebliche Befreiung der einen, also der Juden und Jüdinnen, zugleich die Unterdrückung der anderen, also der bereits seit Jahrtausenden dort lebenden Palästinenser:innen, bedeuten muss. Hier wird also deutlich, dass Israel von Beginn an ein kolonialistisches Projekt gewesen ist und die Zionist:innen schon immer auf die Unterstützung einer oder mehrerer imperialistischer Mächte angewiesen waren, die ihnen dabei halfen und heute noch helfen, sich gegen diejenigen, die zu Recht gegen ihre Vertreibung aufbegehren, sowie gegen die umliegenden arabischen Länder militärisch und ökonomisch zur Wehr zu setzen. So waren es nach 1918 der britische und nach 1956 bis heute der US-amerikanische Imperialismus, dem sich die Zionist:innen und der Staat Israel anbiedern mussten und die als Schutzmacht Israels dienten. Diese Großmächte unterstützten die Idee jüdischer Selbstbestimmung selbstverständlich nicht aus Nächstenliebe, schließlich gewährten sie die von den Nazis verfolgten Juden und Jüdinnen in ihren eigenen Ländern keine Zuflucht. Vielmehr war ihr Handeln geleitet durch ein geostrategisches Interesse, was ihnen eine Vormachtstellung im Nahen Osten und Zugriff auf große Erdölvorkommen bot. Neben diesem Kalkül hat jedoch der vermeintliche Kampf gegen Antisemitismus auch eine ideologisch tragende Rolle eingenommen: Die Unterstützung Israels seitens der imperialistischen Mächte, hier vor allem Deutschlands, soll als Kampf gegen Antisemitismus schlechthin dienen. Dies wird auch deutlich, wenn wir uns die Aussagen führender Politiker:innen seit dem 7. Oktober 2023 anhören, die von der Sicherheit Israels „als deutsche Staatsräson“ sprechen, während antisemitische Flugblätter aus der Vergangenheit billigend in Kauf genommen werden. In den vergangenen Jahrzehnten gelang es weiten Teilen der bürgerlichen Politik, die Überzeugung, die bloße Unterstützung Israels als den einzigen Kampf gegen Antisemitismus zu rühmen und die Ablehnung seiner Politik als bloßen Antisemitismus zu verurteilen, populär werden zu lassen. Auch, wenn sich uns hier Tag um Tag ihre Heuchelei zeigt, so sind diese Überzeugungen keineswegs bewusst gestreute, sondern vielmehr Folge geostrategischer Zwänge und einer zionistischen Idee, die in der Debatte um Antisemitismus eine tragende Rolle eingenommen hat.

Abgesehen von dem eben benannten Widerspruch ist zudem offensichtlich, dass es für die jüdische Arbeiter:innenklasse in einem kapitalistischen Staat, wie Israel einer ist, keine wirkliche Befreiung geben kann. Auch hier wird das jüdische Proletariat von der herrschenden Klasse ausgebeutet und immer wieder durch ihren großen gewerkschaftlichen Dachverband, der Histadrut, verraten. An diesem Umstand konnten auch die Labourzionist:innen mit ihren Ideen der Kibbuzim und Moschawim nichts Grundlegendes ändern (Kibbuz; wörtlich: Versammlung; Moschaw; wörtlich: Sitz, Siedlung. Beides bezeichnet genossenschaftlich-kollektive Landbebauungsformen). Diese ohnehin wenig fortschrittlichen Projekte sind mittlerweile durch andere Wirtschaftszweige verdrängt oder gänzlich privatisiert worden. Zugleich wird die jüdische Arbeiter:innenklasse in Israel ebenfalls durch die regelmäßigen Großspenden unterstützt, was die ideologische Abhängigkeit vom Zionismus als Projekt festigt.

Häufig wird von Zionist:innen behauptet, Juden und Jüdinnen hätten schon immer in ihre ursprüngliche und damit ihnen zustehende Heimat zurückgewollt. Dieses Argument ist historisch einerseits nicht haltbar – wie wir in Folge 1 unserer Podcastreihe aufgezeigt haben – und andererseits durch seine religiöse Begründung anachronistisch. Zudem vermittelt es, Araber:innen hätten seit ganzen 2.000 (!) Jahren zu Unrecht in Palästina gelebt. Würden alle Völker Ansprüche auf territoriale Realitäten von vor 2.000 Jahren erheben, so versänke die Welt in einem einzigen Blutbad. Paradoxerweise sind es gerade die USA, die das Argument des historisch begründeten territorialen Anspruchs in ihrem eigenen Land nicht für legitim halten.

Ein Widerspruch, auf den besonders wichtig hinzuweisen scheint, betrifft die Haltung des Zionismus gegenüber der arabischen Bevölkerung, welche stets zwischen Ignoranz und Rassismus schwankt. Im bereits erwähnten Buch „Der Judenstaat“ erwähnt Theodor Herzl die Araber:innen mit keinem Wort. Einer der frühesten Wahlsprüche der Zionist:innen lautete „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land!“ Hier wird die Existenz der arabischen Bevölkerung gänzlich geleugnet oder aber ihr wird offen rassistisch begegnet, indem unterstellt wird, sie sei unfähig, das Land ordentlich zu bestellen – wie es der erste Premierminister Israels, Ben-Gurion, formulierte. Hieraus lässt sich also angesichts der theoretischen und praktischen Ausrichtung des Zionismus schlussfolgern, dass Antizionist:in zu sein, bedeutet, das politische Programm der zionistischen Organisationen abzulehnen. Antijüdisch zu sein, bedeutet hingegen, rassistisch zu sein. Es gilt, Antizionismus und Antisemitismus strikt voneinander zu trennen. Auch jüdische linke Organisationen und Intellektuelle fordern diese Unterscheidung. Hier ist beispielsweise auf die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden im Nahen Osten“ oder auf den israelischen Antisemitismusforscher Moshe Zuckermann hinzuweisen. Es zeigt sich, dass nicht alle Juden/Jüdinnen hinter der Politik Israels stehen. Ihre Gleichsetzung mit der zionistischen Ideologie oder einem zionistischen Staat ist generalisierend und damit antisemitisch,

Mit der Klarheit, mit der Antisemitismus und Antizionismus voneinander zu trennen sind, treten bürgerliche Institutionen wie deutsche Parteien, die UNO oder die EU leider nicht bei ihrer Suche nach treffenden Antisemitismusdefinitionen auf. Hier sind israelische Gremien stets bemüht, zu intervenieren und die Frage eines israelbezogenen Antisemitismus in die Debatte einfließen zu lassen oder direkt Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen. So entschied sich die deutsche Bundesregierung als Mitglied der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, deren Antisemitismusdefinition politisch zu implementieren. Hier heißt es unter anderem: „[…] Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher [also antisemitischer] Angriffe sein.“ Zusätzlich entwarf der damalige israelische Innenminister Scharanski den sogenannten „3-D-Test für Antisemitismus“. Dieser gibt vor, unterscheiden zu können, wann Kritiken am Staat Israel antisemitisch seien und wann nicht. Dabei setzt er faktisch Antizionismus mit Antisemitismus gleich und trägt so dazu bei, die Gräueltaten Israels zu legitimieren, während das Aufbegehren dagegen weiter unterdrückt wird. Die Kriterien des Tests, also „Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung“, haben diverse Arbeitsdefinitionen in der europäischen und deutschen Politik maßgeblich beeinflusst.

Fortschrittlicher Antizionismus

Was in Gänze konsequenter und fortschrittlicher Antizionismus für uns bedeutet, darauf wollen wir gleich ausführlich eingehen. Die Entstehungsgeschichte des israelischen Staates thematisieren wir in unserer kommenden Spezialfolge, in der es um ein Aktionsprogramm für Palästina gehen soll. Darin wollen wir auch thematisieren, inwiefern auch ein falscher Antizionismus als Deckmantel für ein rassistisches und antisemitisches Programm genutzt werden kann, von dem wir uns in jedem Falle klar abgrenzen und es zutiefst verurteilen. Angesichts der anstehenden Bodenoffensive als Antwort auf den Angriff aus Gaza auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Frage nach einem progressiven Antizionismus erneut an Aktualität gewonnen. Auf die derzeitige Lage im Nahen Osten werden wir ebenfalls in unserer kommenden Folge vertieft eingehen. Vorerst möchten wir hier aber darstellen, aus welchen Überlegungen heraus Antizionismus für uns, also die Gruppe Arbeiter:innenmacht, legitim und notwendig ist und wofür wir stattdessen eintreten. Um unsere Position nachvollziehen zu können, ist es unvermeidbar, sich den Charakter und die Entstehungsgeschichte Israels vor Augen zu führen: Für die Schoa trugen die Araber:innen und Palästinenser:innen keine Verantwortung. Die darauffolgende große Einwanderungswelle nach Palästina hätte zu diesem Zeitpunkt nicht zwangsläufig zu der seit Jahrzehnten anhaltenden Entrechtung, Vertreibung, Einkesselung und dem dagegen laufenden Widerstand führen müssen. Der Charakter des israelischen Staates und dessen Stellung im imperialistischen Weltsystems führte erst zu den dramatischen Auseinandersetzungen, wie sie seit Jahrzehnten zwischen Israel und Palästina zu beobachten sind. Aber worin genau besteht dieser? Zum einen entschied man sich mit der Staatsgründung für eine kapitalistische Wirtschaftsorganisation, in der es ein Recht auf Privateigentum gibt, sowie für die Inanspruchnahme der Unterstützung durch imperialistische Großmächte. Dies führt neben der arabischen Segregation auch innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft zur Verschärfung der sozialen Spaltung. Für die dort Herrschenden fungiert der zunehmende Nationalismus als Bändigung gegen steigende Unzufriedenheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass es aus zionistischer Sicht der Unterdrückung und Vertreibung der Araber:innen aus dem israelischen Herrschaftsgebiet bedurfte, um den jüdischen Charakter Israels zu garantieren. Dies macht es immer mehr zu einem Apartheidstaat, wie ihn auch Amnesty International bezeichnet. Die Apartheidsdefinition der UN umfasst unter anderem das Verweigern des „Recht[s] auf Verlassen des Landes und auf Rückkehr ins Heimatland, auf Staatsangehörigkeit, auf Freizügigkeit der Bewegung und des Aufenthalts“. Zudem wird auch „die Enteignung von Grundbesitz einer ethnischen Minderheit“ als Teil der Definition benannt. In Israel sind demnach mittlerweile grundlegende Züge von Apartheid zu erkennen. So existieren beispielsweise mehr als 50 Gesetze, die palästinensisch-israelische Bürger:innen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen diskriminieren, und Wohngebiete werden rassistisch getrennt.

Zu guter Letzt sei als Merkmal zu nennen, dass in Palästina faktisch eine reaktionäre „Einstaatenlösung“ unter Aufrechterhaltung der Fiktion einer „Zweistaatenlösung“ praktiziert wird.
Wir sprechen uns gegen ein Israel in dieser Verfassung als sich entwickelnder Apartheidstaat und imperialistischen Brückenkopf aus. Jedoch dürfen wir als konsequente Antizionist:innen nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen eine fortschrittliche Lösung zur Überwindung des aktuellen israelischen Staates aufzeigen, von der sowohl Palästinenser:innen als auch Juden und Jüdinnen profitieren. Selbstverständlich kann es sich hierbei nicht darum handeln, den „jüdischen Staat“ durch einen „palästinensischen“ zu ersetzen. Stattdessen treten wir für einen binationalen Staat ein, in dem Juden/Jüdinnen und Palästinenser:innen gleichberechtigt leben dürfen. Jeder „Antizionismus“, der die Berechtigung von Ersteren, in Israel zu leben, leugnet, ist reaktionär und tatsächlich antisemitisch.

Es sollte bis hierher klar geworden sein, dass die zionistische Idee den Antisemitismus in der Welt weder aufheben noch den Juden und Jüdinnen einen wirklichen Schutzraum bieten kann. Im Gegenteil, sie akzeptiert durch ihre Schlussfolgerungen eine antisemitische Welt als unveränderlich gegeben. Zudem lenkt die altbekannte Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus, welche ohnehin politisch falsch ist, vom erstarkenden, wirklichen Antisemitismus der Rechten ab. Einer Rechten, die sich letztlich in die Geschichte der Schoa einreiht und den eliminatorischen Antisemitismus stets als Keim in sich trägt. Darüber hinaus fungiert der Vorwurf des Antisemitismus als einschüchterndes und mundtot machendes Werkzeug gegen all jene, welche sich solidarisch mit antiimperialistischen Befreiungskämpfen zeigen, aber auch ganz allgemein gegen internationalistische Linke, Gewerkschafter:innen und sogar linke Reformist:innen wie beispielsweise Corbyn – ganz unabhängig von der jeweils aktuellen Thematik. Diese Gleichsetzung ist ein Instrument von antideutschen Pseudolinken bis hin zur AfD.

Gegen Antisemitismus zu kämpfen, heißt für uns, nicht nur aufzuzeigen, weshalb die zionistische Idee keine Heil bringende ist. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der antisemitische Gewalttaten und diverse Verschwörungstheorien in Reaktion auf die vielfältigen Krisen unserer Zeit wieder zunehmen, müssen wir den Kampf gegen ihn noch stärker zuspitzen. Krisen wie die Wirtschaftskrise 2007/08, die Niederlagen in verschiedenen Klassenkampfsituationen wie dem Arabischen Frühling oder dem Widerstand gegen das europäische Spardiktat sowie die Coronapandemie führten zu einem verstärkten Rechtsruck in vielen Ländern der Welt. Das bedeutet, dass der Kampf gegen Antisemitismus für uns vor allem auch einer gegen eben diesen Rechtsruck und das kapitalistische System sein muss, welches durch seine Produktionsweise und die damit verbundenen wiederkehrenden Krisen die Grundlage für antisemitische Ideologien abgibt. Für dieses Vorhaben braucht es ein antikapitalistisches Programm, welches der Arbeiter:innenklasse einen Weg aufzeigt, wie der Kampf gegen Rassismus, Rechtsruck und Nationalismus zu einem für eine befreite Gesellschaft ausgeweitet werden kann. Es ist notwendig, dass große Teile der Arbeiter:innenklasse für ein solches Programm gewonnen werden, denn nur sie sind es, die die Macht besitzen, dem kapitalistischen System seine Grundlage zu entziehen.

Wo immer sie uns begegnen, müssen wir antisemitischen Vorurteilen und Anfeindungen entschieden entgegentreten. Im Hier und Jetzt müssen wir daher Forderungen aufstellen, die dem Antisemitismus entgegenwirken und die Widersprüche des Kapitalismus zuspitzen. Dazu gehört unter anderem die Verteidigung des Rechts auf freie Ausübung der Religion und Kultur. Ebenso müssen wir das Recht auf Schutz gegenüber Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Privatpersonen einfordern und antirassistische Selbstverteidigungsstrukturen organisieren. Zugleich müssen wir uns dafür einsetzen, dass Fluchtwege stets offenbleiben, damit Menschen, die flüchten müssen, in einem anderen Land Schutz finden können. Die Forderung nach offenen Grenzen und vollen Staatsbürger:innenrechten für alle ist daher eine zentrale im Kampf gegen Antisemitismus und eine wichtige Antwort auf die Fragen, die globale Migrationsbewegungen heute aufwerfen. Wie wir bereits eingangs erwähnt haben, ist es unmöglich, dass ein kapitalistischer Nationalstaat vollständigen Schutz gegenüber Antisemitismus gewähren kann. Daher muss der Kampf für den Sozialismus mit der Forderung nach einem binationalen, säkularen Staat unbedingt verbunden werden.

Lasst uns den rechten Pseudokämpfen gegen Antisemitismus eine revolutionäre antikapitalistische Perspektive auf der Grundlage einer marxistischen Analyse entgegensetzen, damit sich die Schoa niemals wiederholt!

Wir hoffen, euch die soziale und politische Dimension des modernen Antisemitismus, des Zionismus sowie unsere Haltung dazu ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. Wie bereits angekündigt, werden wir in den kommenden Wochen eine Spezialfolge zu den aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten und der Frage, wie wir uns als Revolutionär:innen zum palästinensischen Befreiungskampf positionieren sollten, herausbringen.

Aber das in einer anderen Folge von „Lage der Klasse.“




Der Vizekanzler erklärt die Staatsräson

Martin Suchanek, Infomail 1236, 8. November 2023

Robert Habecks „Rede zu Israel und Antisemitismus“ vom 1. November wurde mittlerweile millionenfach gehört oder gelesen. Regierung und Opposition feiern sie als „Meisterleistung“, als politisches Feuerwerk. Der ehemalige Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt twittert von „moralischer Klarheit, rhetorischer Brillanz und vor allem tief berührender, aufrichtiger Empathie“, die FAZ spricht von der heißersehnten „Kanzlerrede des Vizekanzlers“.

So viel Zuspruch erhielt ein Vertreter der Ampel-Koalition lange nicht. Boulevard- und Qualitätsjournalismus, Regierung und Opposition sind endlich geeint, wenn es um die seit Jahrzehnten zur Staatsräson erklärte „Solidarität mit Israel“ geht. Dabei enthält die Rede Habecks nichts wirklich Neues, stellt aber den Versuch einer Gesamtdarstellung und Begründung der Feststellung „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ dar.

Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus

Am Beginn seiner Ausführungen verweist Habeck darauf, dass die Solidarität mit Israel aus der Verantwortung für die eigene deutsche Geschichte erwachse. Die Verantwortung des deutschen Faschismus und Imperialismus für die Shoa, für den industriellen Massenmord an 6 Millionen Juden und Jüdinnen, zieht er heran, um daraus ein Schutzversprechen für den Staat Israel abzuleiten.

Diese Gleichsetzung des Kampfes gegen Antisemitismus mit der Verteidigung Israels und seiner Politik bildet seit Jahrzehnten den ideologischen Begründungszusammenhang der zur Staatsräson erhobenen Nahostpolitik. Dem entspricht die Gleichsetzung von Antizionismus und Israelkritik mit Antisemitismus. Zwar gesteht Habeck zu, dass Kritik an der Siedlerbewegung in der Westbank und Empathie mit getöteten Palästinenser:innen gerechtfertigt und erlaubt seien – jedoch nur, solange sie nicht an die Ursachen des Leides gehen, nur solange sie die systematische Vertreibung der Palästinenser:innen und den rassistischen Charakter des Staates Israel ausklammern. Schon die Forderung nach einem gemeinsamen binationalen, säkularen Staat, in dem alle das Recht auf Rückkehr haben, in dem Jüd:innen und Palästinenser:innen gleichberechtigt zusammenleben, der also kein Privileg für eine Nation mehr kennt, gilt schon als „antisemitisch“, weil „israelfeindlich“.

Israel habe, so Habeck, ein Recht auf „Selbstverteidigung“ – ein Codewort für Jahrzehnte der Landnahme, Vertreibung, Siedlungspolitik und Militärschläge gegen die Palästinenser:innen in Gaza und der Westbank. Mit diesem „Recht“ steckt der Minister zugleich auch ab, welche Kritik an Israels Luftangriffen und der beginnenden Bodeninvasion erlaubt sei – und welche nicht. Das Einfordern des Kriegsrechts und internationaler Standards gesteht Habeck zu, eine grundsätzliche Kritik am Angriff Israels ginge aber nicht. Schließlich dürfe das Existenzrecht Israels nicht „relativiert“ werden. Folgerichtig wird die Unterstützung Israels im Krieg gegen Gaza zum Lackmustest, ob es jemand mit der Solidarität wirklich erst meint und über die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus zum Prüfstein, ob jemand antisemitisch ist oder nicht.

Verkehrung der Realität

Ganz im Sinne dieser Setzung durchzieht Habecks Rede eine eng damit verknüpfte Schwarz-Weiß-Malerei. So verweist er auf die Angst jüdischer Menschen in Deutschland vor antisemitischen Übergriffen und betont die Notwendigkeit, diesen entgegenzutreten. Zugleich verharmlost er den massiv ansteigenden Rassismus und behauptet: „Während es schnell große Solidaritätswellen gibt, etwa wenn es zu rassistischen Angriffen kommt, ist die Solidarität bei Israel rasch brüchig.“

Von den „Solidaritätswellen“ haben die meisten Opfer rassistischer Angriffe bisher wohl wenig mitbekommen. Im Gegenteil: AfD, Freie Wähler, CDU/CSU, aber natürlich auch FDP, SPD und Grüne werden seit Monaten nicht müde, Flüchtlinge und Migrant:innen rassistisch zu stigmatisieren, immer neue Angriffe auf die Rechte von Migrant:innen und Geflüchteten zu fordern und auf den Weg zu bringen. Das Asylrecht oder, genauer, dessen Restbestände stehen unter Dauerbeschuss. Migration muss „kontrolliert“, also eingeschränkt werden. Dafür werden Tausende Tote im Mittelmeer billigend in Kauf genommen, dafür sollen der EU vorgelagerte „Asylzentren“, also Abschiebelager aufgebaut werden.

In diesen Chor stimmen Habeck und seine vorgebliche Menschenrechtspartei, die Grünen, längst ein. Ganz auf dieser Linie geht es auch in seiner Rede zu. Während er verbal Kritik an Israel noch zulässt, ergeht an jede reale Empörung, die sich auf der Straße zeigt, eine Kampfansage. So heißt es wörtlich: „Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner. Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und in weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort.“

Offenkundig weiß der Minister besser, wer sich an den vielen kriminalisierten wie auch an den schließlich doch erzwungenen, legalen Demonstrationen beteiligt hat, als Zehntausende Menschen, die dort lautstark ihre Solidarität mit Palästina zum Ausdruck gebracht haben. Alle einigermaßen objektiven Beobachter:innen wissen, dass die große Masse diese Aktionen keine „islamistischen Demonstrationen“ waren und sie wissen auch, dass sich diese Manifestationen klar gegen Antisemitismus wandten. Sie wandten sich aber auch gegen den Zionismus, die israelischen Bombardements und solidarisierten sich mit dem Recht der Palästinenser:innen auf Widerstand, auf Selbstverteidigung.

Hier zeigt sich auch der reale Kern der Staatsräson im Nahen Osten. Deutschland steht auf Seite einer Kriegspartei, nämlich des Aggressors, des Unterdrücker:innenstaates Israel, dessen Existenz auf der Vertreibung der Palästinenser:innen und seiner Funktion als Vorposten zur Sicherung der Interessen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten, darunter Deutschland, fußt. Und diese ökonomischen und geostrategischen Interessen sind der eigentliche materielle Gehalt der Staatsräson, für deren Begründung die Shoa instrumentalisiert wird.

Damit rechtfertigt er nicht nur die Unterdrückung. Er setzt nicht nur die Verteidigung Israels mit der Verteidigung der jüdischen Bevölkerung fälschlich gleich, er spricht zugleich den Palästinenser:innen ihr Recht auf Selbstverteidigung ab, indem er sie faktisch mit der Hamas gleichsetzt und diese wiederum auf eine „Terrororganisation“ reduziert. Folglich sind für Habeck alle Palästinenser:innen, ja implizit alle Muslim:innen und alle arabischen Migrant:innen der Hamas-Unterstützung und des Antisemitismus verdächtig, sofern sie nicht die von der Regierung und den deutschen Medien geforderten Bekenntnisse zum Selbstverteidigungsrecht Israels ablegen.

Natürlich dürfen bei Habecks Rede kritische Bemerkungen an zur AfD, zum deutschstämmigen Antisemitismus und zu Putin-Versteher:innen nicht fehlen. Diese ideologische Abgrenzung stellt aber wenig mehr als eine rituelle Floskel des Menschenrechtsimperialismus dar, der vor etwas mehr als einem Jahr erst „humanitäre“ Öl- und Gaslieferungen mit Katar als Ersatz für „schmutziges“ russisches Öl und Gas vereinbarte. Und dies ist nur ein Beispiel für eine Außenpolitik, die sich im Kampf um die Neuaufteilung der Welt gegenüber China und Russland mit einem gigantischen Aufrüstungsprogramm ins Zeug legt und die von ihrer „zivilisatorischen Überlegenheit“ in Afghanistan und jüngst in Mali Zeugnis abgelegt hat.

Und davon wird es noch mehr geben müssen, wenn Deutschland und die EU im Sinne des Kapitals erfolgreich sein sollen. Das weiß auch Habeck.

Zivilisationsbruch

Und natürlich weiß auch er, dass schon jetzt rund 10.000 Palästinser:innen – die Mehrheit Zivilist:innen, darunter Tausende Kinder – in Gaza infolge der Angriffe der IDF getötet wurden. Und er weiß, dass diese Zahl noch massiv steigen wird, möglicherweise ein Großteil der Bevölkerung Gazas vertrieben werden soll, wenn es nach den Vorstellungen der Notstandsregierung Netanjahu geht. Und natürlich lehnt der „Humanist“ Habeck selbst einen Waffenstillstand ab, allenfalls kurzfristige „Pausen“ soll es bei Bombardements und Beschuss geben.

Zur Begründung dieser Aggression, die, wie selbst die UNO nicht müde wird zu betonen, mit permanenten Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen einhergeht, greift er auf eine weitere argumentative Figur zurück: „Kontextualisierung aber darf nicht zu Rechtfertigung führen.“

Er meint damit den Angriff der Hamas vom 7. Oktober und die Ermordung hunderter unschuldiger Zivilist:innen. In der Tat ist Letztere nicht zu rechtfertigen. Die Gruppe Arbeiter:innenmacht, aber auch praktisch alle Aufrufenden zu den verschiedenen Demonstrationen in Solidarität mit Palästina haben die willküriche Tötung von Zivilist:innen wiederholt kritisiert. Doch darum geht es Habeck nicht. Mit der Forderung meint er etwas ganz anderes. Die Geschichte Israels und Palästinas, die Vertreibung der Palästinenser:innen und deren nationale Unterdrückung durch den zionistischen Staat, die Politik der israelischen und imperialistischen Regierungen der letzten Jahre dürften überhaupt keine Rolle für das Begreifen und Bewerten der Aktionen der Hamas und andere palästinensischer Organisationen spielen.

Der gesamte politische, ökonomische und historische Kontext, vor dessen Hintergrund der 7. Oktober eigentlich erst begriffen und verstanden werden kann, müsse vielmehr zurücktreten, ja ausgeblendet werden. Das Ins-Verhältnis-Setzen, ohne das keine geschichtliche Tat als solche begriffen werden kann, wird unter den Generalverdacht einer „Relativierung“ gestellt.

Diese Enthistorisierung bildet zugleich ein entscheidendes Element in Habecks Rechtfertigung der deutschen Staatsräson und der Verteidigung Israels. Indem die Taten der Hamas als „Zivilisationsbruch“, als eine unbegreifliche Aktion, als Entäußerung eines absolut Bösen, eines „reinen“ Vernichtungswillens interpretiert werden, wird der geschichtliche Kontext sekundär, wenn nicht irrelevant. Wird die Tat der Hamas einmal so gesetzt, kann jeder Verweis auf den realen Kontext auch nur als Verharmlosung einer singulären, scheinbar außerhalb der Geschichte und gesellschaftlicher Verhältnisse stehenden Tat abgebügelt werden. Beim so verstandenen „Zivilisationsbruch“ gibt es letztlich nichts zu verstehen, zu begreifen oder herzuleiten. Es gilt zu glauben. Diese Figur ist dem religiösen, idealistischen Denken entlehnt, wo ansonsten das absolut Böse beheimatet ist.

Mit dem absolut Bösen – der Hamas in diesem Fall – tritt natürlich auch das Gute auf die Weltbühne oder zumindest in der Rede Habecks: Israel.

Natürlich ist Habeck nicht so blöde, dieses als makellos Gutes auszumalen. Aber er kontrastiert es wohlwollend gegenüber dem Widerstand der Palästinenser:innen und natürlich der Hamas. Israel wäre schließlich gerade dabei gewesen, mit arabischen Regimen eine „Normalisierung“ herbeizuführen. Dass diese auf Kosten der Palästinenser:innen gegangen wäre, verschweigt er bei seiner selektiven „Kontextualisierung“.

Die Hamas und ihrer Unterstützer:innen, allen voran der Iran, würden keine Zweistaatenlösung wollen, erklärt Habeck, verschweigt jedoch, dass diese seit Jahrzehnten von der israelischen Rechten und insbesondere der Regierung Netanjahu sabotiert und praktisch ad acta gelegt wurde. Die Mordtaten der Hamas zielten auf eine Verhinderung des Friedens, erklärt Habeck. Und die 10.000 Toten, die seit dem 7. Oktober auf das Konto der israelischen Armee gehen? Lt. Habeck ein Beitrag zur Selbstverteidigung und zum Frieden – mit Friedhofsruhe.

Der Krieg zwischen Israel und den Palästinenser:innen wird aus seinem historischen Kontext gerissen. Selbst schon die Thematisierung seiner Wurzeln in der Errichtung eines kolonialistischen Siedler:innenstaates wird tabuisiert. Den Kampf von Unterdrücker:innen und Unterdrückten auch nur zu benennen, wird als antisemitisch diffamiert. Habeck und die bürgerliche Öffentlichkeit preisen seine Rede und sein Ableitungen als „vernünftig“ und „demokratisch“.

In Wirklichkeit stellt die Tabuisierung des geschichtlichen, politischen und ökonomischen Kontextes eine Form der Vernunftfeindlichkeit und des Irrationalismus dar, den Rückgriff auf eine quasi religiöse Argumentationsfigur.

Ist der 7. Oktober einmal als Entäußerung des absolut Bösen bestimmt, so bedürfen die Mittel des Kampfes gegen dieses keiner weiteren Rechtfertigung. Dass sich Israel ans Völkerrecht halte, sei zwar wünschenswert, letztlich jedoch zweitrangig. Wem nach 10.000 Toten Bedenken kommen, dem kann jederzeit „Relativierung“ vorgehalten werden.

Diese irrationale Form der Rechtfertigung jeder Israelsolidarität entspricht nicht nur dem Zeitgeist, sie dient auch dazu, die Bevölkerung auf „Durchhalten“ einzustimmen, wenn noch viel mehr Menschen sterben, wenn der Krieg Formen des Genozids annimmt oder Hunderttausende, wenn nicht Millionen Palästinenser:innen vertrieben werden sollten.

Wenn die Taten der Hamas keine Kontextualisierung, keine „Relativierung“ kennen dürfen, so gibt es auch bei den Vergeltungsmaßnahmen letztlich kein „Maß“, ist letztlich alles erlaubt. Eine solches Rechtfertigungsmuster dient nicht nur der Entschuldigung der Angriffe Israels, es bildet zugleich auch eine Blaupause für zukünftige Einsätze des deutschen Imperialismus gegen seine zum „Bösen“, zu „Zivilisationsbrecher:innen“ stilisierten Feind:innen.

Und sie dient auch gegen die „inneren Feind:innen“, gegen palästinensische und arabische Migrant:innen, gegen die antiimperialistische und antikolonialistische Linke und auch gegen alle Lohnabhängigen, die sich belgische und britische Gewerkschaften zum Vorbild nehmen, die beschlossen haben, die Lieferung von Kriegsgerät an Israel zu blockieren. Auch sie würde die Staatsräson mit aller Härte treffen, daran lässt Habeck keinen Zweifel.

Der Minister verwendet zwar religiöse Argumentationsfiguren zur Begründung der Staatsräson und Israelsolidarität. Aber er wandelt nicht im Himmel, sondern auf Erden und verfolgt durchaus profane Ziele. So kommt seine Rede auch nicht ohne die Drohung aus, dass ein Verstoß gegen die Staatsräson strafbar ist: „Wer Deutscher ist, wird sich dafür vor Gericht verantworten müssen, wer kein Deutscher ist, riskiert außerdem seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert damit einen Grund, abgeschoben zu werden.“

Diese Drohung müssen wir ernst nehmen und uns gemeinsam gegen die weitere Einschränkung demokratischer Rechte zur Wehr setzen und eine breite, klassenkämpferische Palästinasolidaritätsbewegung aufbauen.




Halle: 4. Jahrestag des faschistischen und antisemitischen Terrorangriffs – Kein Vergeben, kein Vergessen!

Leonie Schmidt, ursprünglich veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1233, 9. Oktober 2023

Antisemitismus, Mord, Rassismus

Am 9.10.2019 griff der bewaffnete Nazi B. erst eine Synagoge an, in welcher sich ca. 50 Personen befanden, wofür er sich den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur aussuchte. Da aber die Türen der Synagoge glücklicherweise gegen sein Eindringen standhielten, zog er weiter, um letztendlich zwei scheinbar wahllos ausgesuchte Personen auf offener Straße und in einem Dönerladen zu erschießen. Neben einigen Schusswaffen und scharfer Munition hatte der Nazi auch vier Kilo Sprengstoff in sein Auto geladen und zudem eine Kampfmontur aus einem Stahlhelm, einer schusssicheren Weste sowie einer Art „Uniform“. Letztendlich wurde er nach einer stundenlangen Verfolgungsjagd von der Polizei gestellt und verhaftet.

Motiv & Hintergründe

Ursprünglich wollte der Täter wohl ein linkes Zentrum angreifen, hatte sich jedoch anders entschieden und sich laut seinem eigenen wirren Manifest vom Attentäter in Christchurch (Neuseeland) inspirieren lassen, wenngleich dieser Moscheen angriff. Auch der Attentäter von Halle überlegte wohl zuerst, eine Moschee anzugreifen, da laut seinem faschistischen Weltbild Muslim:innen schlimmer als Linke seien. Entsprechend seiner Ideologie wählte er dann aber aus einem antisemitischen Motiv heraus eine Synagoge, da er den Islam nur als Symptom und nicht als Ursache seines eigenen Elends ansehen würde. Da die Person, die er auf offener Straße erschoss, eine Frau war, kann auch vermutet werden, dass ein Motiv hier Frauenhass und Antifeminismus gewesen sein könnte, da er in seinem Manifest auch den Feminismus zu seinem Feind erklärte. Das wurde jedoch nicht im Abschlussbericht der Bundesregierung zur Tat vermerkt, wenngleich Frauenhass ein gängiger Bestandteil rechtsradikaler Ideologien ist. Im Gerichtsverfahren erklärte der Täter, Jana L. habe ihn beleidigt und da er seine Tat auf Twitch livestreamte, rechtfertigte er den Mord damit, dass er nicht von seinen Zuschauer:innen ausgelacht werden wollte. Das Mordopfer Kevin S., welches er im Dönerladen erschoss, habe er aufgrund seiner Haarfarbe für einen Muslim gehalten, wie er vor Gericht darlegte. Des Weiteren sagte er im Gerichtsprozess aus, dass er nicht wollte, dass weiße Menschen sterben, er es insofern bedauere und breitete seine rechtsextreme Gesinnung für alle hörbar aus. Das alles untermauert nur das perfide Weltbild des Täters, welches die ideologische Basis für sein Verbrechen bildete. Es darf nicht unbeachtet gelassen werden, dass er definitiv versuchte, mehr Personen zu ermorden, was ihm aber glücklicherweise nicht gelang.

Radikalisierung bei der Bundeswehr und im Internet

Der Täter wurde im Grundwehrdienst 2010 – 2011 an der Waffe ausgebildet. Aussagen im Prozess zufolge habe er bereits da das Wort „Jude“ als Schimpfwort verwendet, was in der Truppe so üblich gewesen sei. Immer wieder verschwinden Waffen bei der Bundeswehr, werden rechte Netzwerke aufgedeckt. Dass es sich hier um keinen Einzelfall, sondern mindestens um staatlich geduldeten Rechtsextremismus handelt, muss uns klar sein.

Darüber hinaus radikalisierte sich B. in diversen Internetforen, wo er Hitlers „Mein Kampf“, antisemitische Propaganda und gewaltvolle Mordvideos des IS downloadete. Dort chattete er mit anderen Männern, die ähnlich wie er sozial isoliert waren und sein rechtsradikales Weltbild teilten. So konnten sie sich gegenseitig in ihrer menschenverachtenden Ideologie bestärken und bekamen Anerkennung von Gleichgesinnten, was sie immer weiter radikalisieren konnte. Auch hier ähnelt B. dem Attentäter von Christchurch. Dieser hatte sich ebenfalls in einschlägigen Internetforen herumgetrieben und mit anderen Rechtsradikalen connectet.

Das Versagen der Polizei

Wie immer hat sich die Polizei nicht mit Ruhm bekleckert. Dass es, wenn es um Rechtsradikalismus geht, immer wieder passiert, dass den staatlichen Behörden sehr grobe Fehler unterlaufen, kann wahrlich kein Zufall sein, wie wir schon seit dem NSU-Komplex und dem Attentat in Hanau ahnen können. In Halle war das erste Problem, dass die Polizei nicht die Sorge der jüdischen Community vor Angriffen ernst nahm. Diese hatte seit Jahren die Polizei um Schutz an jüdischen Feiertagen für die Synagogen gebeten, war jedoch in ihrer Sorge ignoriert worden. Wie spätestens am 9.10.19 zu sehen war, eine mehr als berechtigte Sorge. Auch vor dem Gerichtsprozess gegen B. kam es wieder vermehrt zu Angriffen und Einschüchterungsversuchen gegen die hallesche jüdische Gemeinde. Am Tag der Tat musste sich der Rabbiner, der die Polizei nach den Schüssen auf die Synagoge anrief, erst unnötigen, zeitverzögernden Fragen stellen, bevor er überhaupt zur Notrufzentrale durchgestellt wurde. Zusätzlich kritisiert wurde das Verhalten der Polizei gegenüber den Juden und Jüdinnen, die sich zum Tatzeitpunkt in der Synagoge aufgehalten hatten. Bei der Vernehmung waren die Beamt:innen empathie- und insbesondre ahnungslos hinsichtlich der jüdischen Religion, erklärten den Betroffenen nicht, was überhaupt passiert war, und hefteten den evakuierten Juden und Jüdinnen Zettel mit Nummern an, was einige von ihnen an die NS-Zeit erinnerte. Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für die Betroffenen, welche gerade so um Haaresbreite dem antisemitischen Mordanschlag des Täters entkommen konnten.

Des Weiteren unterliefen Fehler beim Sichern von Beweismitteln: So konnte die Polizei nicht alle Onlineaktivitäten in einem Bilderforum von B. vor der Löschung am 11.10.19 sichern, welche von einem Moderator beseitigt wurden. Das inkludiert auch die Interaktion mit anderen Teilnehmer:innen des Forums sowie Verweise auf sein Manifest und Waffenbauanleitungen. Die Löschung wirft außerdem die Frage auf, welche Verbindungen durch den Moderator vertuscht werden sollten. Immerhin ging die Polizei anfangs nicht von einem Einzeltäter aus. So durchsuchte sie am 14.10.19 eine Wohnung in Mönchengladbach, von welcher IP-Adresse aus B.s Manifest zeitnah zum Anschlag hochgeladen worden war. Die Bewohner bestritten jedoch, B. gekannt und etwas vom Anschlag gewusst zu haben. Auch das Überprüfen der Gaming-Kontakte als Bestandteil von B.s Ideologie und seiner Radikalisierung wurde von der Polizei unzureichend durchgeführt. B. hatte mehrere Steam-Accounts und spielte Egoshooter. Der Verfassungsschutz teilte mit, in seiner Kontaktliste wären weitere Ermittlungsansätze vorhanden, welche aber nicht weiterverfolgt wurden. Des Weiteren wurde für die Auswertung des Steam-Accounts eine Beamtin eingesetzt, die angab, wenig Ahnung von den Mechanismen der Plattform gehabt zu haben.

Die Gefahr ist nicht gebannt

Nach langwierigem Gerichtsprozess wurde B. im Dezember 2020 zu einer lebenslangen Haftstrafe mit Sicherheitsverwahrung verurteilt. Doch gelöst hat er sich von seiner Ideologie und Gewaltbereitschaft natürlich nicht. Das zeigen auch die Geschehnisse in seiner Haftzeit. So versuchte er mehrmals zu flüchten: einmal 2020, indem er einen Hofbesuch zum Überqueren einer Mauer nutzte, nachdem die JVA eigenmächtig seine Sicherheitsmaßnahme heruntergefahren hatte, und einmal, indem er im Dezember 2022 zwei JVA-Beamte mit einer selbstgebauten Waffe über Stunden als Geisel nahm. Danach wurde er in ein Gefängnis in Bayern verlegt, welches auf besonders schwerwiegende Straftäter spezialisiert ist.

Des Weiteren wurden in seiner Zelle Briefe von polizeibekannten Nazis sowie von einer 20-jährigen Kriminalkommissarin aus Dessau-Roßlau gefunden. Diese war aufgefallen, nachdem sie sich gegenüber einem Kollegen positiv auf B.s Taten und Weltanschauung bezog.

Wir können also sehen: Nur weil der Täter im Gefängnis ist, ist die Gefahr nicht gebannt. Er konnte weiterhin seine Kontakte zu anderen Rechtsradikalen aufrechterhalten und so in seiner Ideologie und Tat weiterhin bestärkt werden. Auch sind in Sachsen-Anhalt weiterhin Naziterrornetzwerke aktiv, so zum Beispiel das aus Großbritannien stammende Netzwerk „Blood and Honour“. Auch die Identitäre Bewegung (IB), deren österreichischer Anführer Martin Sellner mit dem Attentäter von Christchurch in Kontakt stand, hatte bis vor einigen Jahren noch ihr Hausprojekt in der Nähe des Steintor Campus in Halle, wo sie mit Propaganda gegenüber Studierenden, Einschüchterungen in der Mensa und einem Angriff auf Zivilpolizisten auffielen. Hier hatte auch der AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider sein Abgeordnetenbüro, obwohl die AfD offiziell eine Unvereinbarkeitserklärung mit der IB hat.

Hier kommen wir auch zu des Pudels Kern: Die Tat von Halle darf nicht als einzelne gewertet werden, sie muss im Kontext von erneuter Zunahme von Naziterror in Deutschland verstanden werden, auch wenn nach wie vor nicht bekannt ist, welche Netzwerke den Täter bei seinem Vorhaben eventuell unterstützt haben könnten. Ob Halle, Hanau oder München: Diese Taten nehmen zu. Auch 4 Jahre später finden wir uns in einer Gesellschaft, welche noch weiter nach rechts gerückt ist, wie wir an den hohen Stimmenprozenten für die AfD sehen, aber auch an der Teilhabe der Grünen an rassistischer Geflüchtetenpolitik. Dementsprechend können wir auch kein Vertrauen in den bürgerlichen Staat haben, in welchem rechtsextreme Strukturen zum Alltag gehören. Denn dieser bürgerliche Staat als ideeller Gesamtvertreter der Kapitalist:innenklasse gehört zum Produzenten des Rechtsrucks. Rechte Ideologien und Faschismus sind Produkte der kapitalistischen Produktionsweise und gewinnen häufig nach und während Krisen kräftig an Zulauf. Der Rechtsruck entstand im Zuge der Nachwehen der Weltwirtschaftskrise von 2007/08 und wurde ursprünglich von Mittelschichten, v. a. dem Kleinbürger:innentum, getragen, welche sich davor fürchten, in die Arbeiter:innenklasse abzusteigen, da sie in der Krise nicht mehr mit den Großkonzernen mithalten können. Aber auch die desillusionierte und ebenfalls von der Krise geschüttelte Arbeiter:innenklasse war empfänglich für rechte Propaganda. So war es den rechten Akteur:innen möglich, ein Feindbild zu schaffen, welches zu begründen versuchte, warum es der Arbeiter:innenklasse so schlecht geht, obwohl der reale Grund in der Krise selbst und dem Umgang damit lag: beispielsweise Kürzungen im Sozialbereich, Entlassungen, der Agenda 2010 inkl. Leih- und Zeitarbeit, Privatisierungen, der Schuldenbremse usw. Heute nimmt die kapitalistische Krise erneut an Fahrt auf und ist alles andere als gebannt. Daher ist klar: Wenn wir den Faschismus schlagen wollen, wenn sein Terror der Vergangenheit angehören soll, dann müssen wir auch den Kapitalismus zerschlagen! Dafür müssen wir linke Antworten auf die Krisen unserer Zeit finden und populär machen.

Widerstand und Selbstschutz

Was wir gegen den Rechtsruck im Allgemeinen und gegen faschistischen Terror im Besonderen brauchen, ist eine bundesweit gut vernetzte und lokal verankerte Bündnisstruktur aus allen linken und Organisationen der Arbeiter:innenklasse. Unabhängig von inhaltlichen Differenzen muss eine solche Einheitsfront gemeinsam und massenhaft Widerstand auf allen Ebenen organisieren, auch durch militante Selbstverteidigungsstrukturen. Auf den Staat und seine Behörden, wie Polizei oder Verfassungsschutz, ist dabei kein Verlass. Im Gegenteil, diese sind selbst von faschistischen Netzwerken durchzogen.

  • Kampf dem Rassismus und Antisemitismus auf allen Ebenen!

  • Für massenhafte gemeinsame Aktionen der gesamten Linken und der Arbeiter:innenbewegung!

  • Kein Vertrauen in staatliche Behörden! Zerschlagt die faschistischen Netzwerke selbst und organisiert militante Selbstschutzstrukturen!



Rechtsruck in Deutschland: Der Fall Aiwanger

Martin Suchanek, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, so könnte man meinen, fällt ein Aiwanger Hubert mehr auch nichts ins Gewicht. Was ist schon ein Nazi-Pamphlet aus Gymnasialtagen, was ist schon ein Verhöhnen der Opfer des Holocaust im Flugblatt verglichen mit dem Mitmachen, Mitlaufen, Mitverwalten, Mitaburteilen, Mitdeportieren in der Nazi-Diktatur, dessen sich Aiwangers Eltern- und Großelterngeneration schuldig gemacht hat.

Auch diesen wurde schließlich vergeben – vorzugsweise durch sich selbst und einen Nachfolgestaat der NS-Diktatur, der im Kalten Krieg die alten Leistungsträger:innen der Gesellschaft, deutsche Unternehmer:innen, deutsche Beamt:innen, deutsche Offizier:innen, deutsche Intelligenz brauchte. Warum, also so fragen die Söders scheinheilig, sollten wir dem Aiwanger nicht seine Jugendsünden vergeben? Warum nicht, nachdem „wir“ auch unserer Eltern- und Großelterngeneration längst nichts mehr nachtragen? Schließlich hätten wir alle daraus irgendetwas gelernt. Und schließlich: haben „wir“ nicht alle in der Jugend „gesündigt“ haben? Warum nicht, nachdem sich der Aiwanger Hubert dafür sogar, wenn auch reichlich spät und wenig schlüssig, „entschuldigt“ habe?

Populistische Inszenierung

Geschickt, wenn auch nicht unbedingt originell, inszenieren Aiwanger, die Freien Wähler und, im Nachgang, Söder und die CSU, den Schulterschluss mit ihren spießbürgerlichen Anhänger:innen – und das sind bekanntlich viele, weit über dessen kleinbürgerlichen Kern hinaus. Klar, so gesteht der Aiwanger Hubert freimütig, habe er Fehler gemacht und diese auch zu spät gestanden. Aber er habe sich entschuldigt, er habe daraus gelernt. Jetzt würden ihn andere fertigmachen wollen, eine regelrechte Kampagne wäre ins Leben gerufen worden, um ihn, sein Lebenswerk und stellvertretend auch das aller anderen ehrlich schaffenden bayrischen und deutschen Menschen zu zerstören.

Die Freien Wähler bedienen sich hier einer für populistische Rhetorik typischen Stilfigur. Den „einfachen Menschen“, die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten zum Bürgermeister, vom erfolgreichen Unternehmer zum Facharbeiter reichen, werden die besserwisserischen, arroganten, vom „wirklichen Leben“, das vorzugsweise auf bayrischen Volksfesten stattfindet, entrückten Kritiker:innen gegenübergestellt. So wird eine klassenübergreifendes „Wir“ konstruiert, das sich im Aiwanger Hubert personifiziert. Die Kritiker:innen schlagen darauf „von oben“ herab, geradezu gnadenlos ein. Sollen wir uns da nicht „wehren“ dürfen und dem Jugendsünder beherzt zu Seite springen?

Wer hat schließlich in seiner Jugend nicht gesündigt? Wer hat denn keine Äpfel vom Baum in Nachbars Garten gestohlen, wer hat nicht am Schulhof geraucht oder gar gekifft? Wer fuhr nicht alkoholisiert auf Bayerns Landstraßen? Und wer hat nicht Blödsinn verbreitet und geschmacklose Witze erzählt? Waren, ja sind wir nicht alle kleine Sünder:innen, die sich vom Aiwanger Anton nur durch die Art der Sünde, für die er sich sogar – durchaus im Gegensatz zu manch anderem ehrenwerten Spießer-Menschen – entschuldigt hat?

Solcherart wird unter der Rubrik „Jugendsünde“ das Nazi-Flugblatt entschuldet, zur Bagatelle unter Bagatellen. Dass sich der Aiwanger an nichts genaues mehr erinnern kann, erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als skandalöser Vertuschungsversuch, sondern macht ihn nur noch menschlicher und volksnäher – und zwar nicht nur in den Augen seiner Fans von den Freien Wählern, sondern auch in denen der bayrischen Staatskanzlei. Auf die 25 Fragen Söders zur „Klärung“ des Falls Aiwanger, antwortet dieser nicht nur möglichst knapp, sondern vorzugsweise damit, dass er sich nicht erinnern könne oder nichts zur Frage wisse. Die Gedächtnislücken stehen im eigentümlichen Kontrast zu seiner Aussage: „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen.“ Welche das sind, führt Aiwanger nicht aus. Dafür stellt er am Ende nur fest: „Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden.“

Damit spricht er seinen Anhänger:innen aus der Seele. Mit dem „ewigen“ Anlasten müsse endlich Schluss sein, zumal sich – von wegen „ewig“ – auch in den letzten 30 Jahren niemand darüber aufgeregt habe. Die rechte, konservative, rechtspopulistische Gefolgschaft verharmlost nicht nur Faschismus und Antisemitismus, sie inszeniert sich zugleich als Gemeinschaft nachsichtiger und wohlwollender Menschen. Das Vergeben der Jugendsünde wird zum Bestandteil deutscher Leitkultur.

Gnadenlos, unbarmherzig, falsch sind nicht jene, die selbst nicht wissen, warum sie mit antisemitischen Flugblättern in der Schultasche rumliefen, sondern jene, die den armen Jugendsünder bis heute an den Pranger stellen wollen. Gnadenlos, unbarmherzig sind jene, die schon seit 1968 keinen Frieden geben können, sind die Linken, die rot-grüne „Elite“, kosmopolitische Intellektuelle, Gender-Wahnsinninge und „das Ausland“, das sich auch noch in Bayerns Staatskanzlei und in den Wahlkampf einmischen wolle.

Angesichts dieser brutalen Kampfansage „von oben“ auf die Leistungsträger:innen der bayrischen und deutschen Gesellschaft, auf „unsere“ Leitkultur, inszenieren sich CSU und Freie Wähler als Kräfte der Gnade, der Nachsicht, des Zusammenrückens und Verzeihens. Sicher wären auch AfD und verschiedene Nazigruppen bei dieser christlich-abendländischen Inszenierung der Nächstenliebe gern mit von der Partie, doch noch passen sie nicht so recht ins Sittenbild der konservativen „Mitte“.

Aber auch Gnade und Vergeben kennen, wie alles, ihre Grenzen. Das macht Aiwanger schon in seiner Antwort an die Bayrische Staatskanzlei deutlich: „Die Veröffentlichungen aus Lehrerkreisen sind ein massiver Verstoß gegen das Bayrische Dienstrecht. Gegen die Verdachtsberichterstattung mit überwiegend anonymen Aussagen und dem Weglassen entlastender Inhalte behalte ich mir rechtliche Schritte vor.“ So viel zur aufrichtigen Reue des Herrn Aiwanger.

Hier wird deutlich, dass Vergeben, Nachsicht, Großzügigkeit und das Verzeihen aller Jugendsünden längst nicht für alle gilt. Genauer, sie gilt, selbst der Phrase nach, nur für die Angehörigen der spießbürgerlichen Gemeinschaft echter deutscher Menschen, die die Freien Wähler und die CSU im Blick haben. Und hier zuerst natürlich ihren Spitzenexponenten wie Aiwanger, dessen „Lebenswerk“ als Regierungsmitglied zerstört werden soll. Geschickt präsentiert er diese wirkliche oder vermeintliche Gefahr für sich als hoch dotierten Spitzenpolitiker als ob die berufliche Zukunft seiner Wähler:innen auch zur Disposition stünde.

So verlogen diese imaginäre Einheit gegenüber den Anhänger:innen der Freien Wähler:innen, so wenig gilt das Nachsichtsversprechen für die Kritiker:innen Aiwangers.

Kritische Medien und erst recht verbeamtete Lehrer:innen dürfen auf Gnade nicht hoffen. Die Nachsicht gegenüber Aiwangers Jugendsünden darf niemand als Freibrief für wirkliche Bagatelldelikte missverstehen. Schwarzfahren oder kleiner Ladenklau dürfen „natürlich“ nicht entkriminalisiert werden.

Erst recht gilt das, wenn die Gegner:innen der rechtspopulistischen Freien Wähler:innen und der konservativen bis liberalen Mitte ins Visier genommen werden. Aiwangers Gedächtnislücken möge man nachsehen, Lücken in der Vita traumatisierter Geflüchteter – niemals. Abschiebung muss Abschiebung, Unrecht muss Unrecht bleiben. Ein Nazipamphlet an der Schule möge man verzeihen, aber keine antifaschistische und antirassistische Selbstverteidigung, keine Solidarität mit vom Imperialismus Verfolgten.

Die Entschuldung der eigenen Wähler:innen, der Träger:innen der deutschen Leitkultur bildet nur das Gegenbild zur umso brutaleren, menschenverachtenden Hetze gegen „Schein-Ayslant:innen“, „Überfremdung“, „Sozialscharozertum“, jugendliche und migrantische „Krimininelle“, die allesamt die volle Härte des Gesetze ohne jede Nachsicht und Gnade heute erfahren müssen und sollen.

Kulturkampf und Diskursverschiebung

Kein Wunder also, dass die Freien Wähler, CDU/CSU wie auch die AfD, die konservative und die extreme Rechte die Auseinandersetzung um Aichwanger als regelrechten Kulturkampf inszenieren. In der Tat geht es dabei um eine wirkliche grundlegende Diskursverschiebung im politischen Raum.

Bei der Verharmlosung des faschistischen und antisemitischen Pamphlets und der Rolle Aiwangers geht es nicht bloß um eine persönliche Entschuldung. „Jugendlicher“ Faschismus und Antisemitismus sollen insgesamt bagatellisiert, quasi-normalisiert werden.

Damit steht auch eine, wenn auch auf halben Weg steckgebliebene Errungenschaft der 68er-Bewegung entsorgt werden. Diese thematisierte nach Jahrzehnten des Unter-den-Teppich-Kehrens den Faschismus und die Kontinuität seiner Funktionsträger:innen in Staat und Wirtschaft. Blieb die Entnazifizierung auch aus, so hielt die Jugend den Eltern und Großeltern den Spiegel vor. Die wirklich Selbstgerechten mussten sich endlich rechtfertigen. Einmal verschoben sich das politische Geschehen, der öffentliche Diskurs und die Kultur in der Bundesrepublik nach links. Zweifellos: Die 68er sind gescheitert, nicht zuletzt an sich. Doch ihre Halbheiten, ihre Teilreformen, ihre partiellen Errungenschaften noch geben einen Geschmack von dem, was möglich wäre. Daher stehen sie auch im Visier des konservativen und rechten Rollbacks.

Die mit der 68er-Bewegung assoziierten und von Frauenbewegung, Studierenden, Jugend wie auch von der Arbeiter:innenklasse gemachten Errungenschaften sind ihnen ein Dorn im Auge. Das betrifft sowohl in Gang gesetzten soziale und demokratische Reformen. Auch wenn sie im Rahmen des Kapitalismus verblieben, in diesen mehr oder weniger integriert wurden, stellen sie oder ihre Überreste bis heute auch Errungenschaften, teilweise zur Selbstverständlichkeit gewordene Aspekte des sozialen Lebens dar, gegen die sich selbst hart gesottene Reaktionär:innen (noch) nicht anzugehen wagen (z. B. die Vergewaltigung in der Ehe).

Vielleicht noch bedeutsamer aber waren und sind die Errungenschaften der 68er auf der kulturellen und diskursiven Ebene. Dazu gehört auch, dass faschistische und anti-semitische Flugblätter an der Schule eben nicht mehr als landesüblicher „Lausbubenstreich“ durchgingen. Selbst Aiwangers mangelndes Erinnerungsvermögen deutet noch darauf hin. So wie die Beteiligung am Faschismus und seinen Verbrechen nach 1945 durch „Vergessen“ und Schweigen gesellschaftlich tabuisiert wurde, so soll über den jugendlichen „Fehler“ der Mantel des Vergessens geworfen werden. Wer nachfragt, wer nicht schweigt, ja wer bloß nicht jede Schutzbehauptung für bare Münze nehmen will, wird in der rechten Diskursverschiebung zum Täter, zum „elitären“ Besserwisser.

Längst geht es dabei nicht um Aiwanger. Schon gar nicht geht es, wie Sozialdemokrat:innen und Grüne gern entrüstet behaupten darum, dass dem Ansehen Deutschlands geschadet würde. Schließlich passt Aiwanger ganz gut zu einer Meloni und einem Orban, zu einem Erdogan und einer Le Pen. Und, betrachten wir die Diskussion über die Verschärfung des rassistischen Grenzregimes und die Aushebelung der verbliebenen Rechte der Geflüchteten, so sind die Grenzen zwischen Rechten, Konservativen, Liberalen, Sozialdemokrat:innen und Grünen fließend, so reichen sich rechte und linke Populist:innen die Hand.

Vielmehr bildet der Fall Aiwanger nur einen weiteren Baustein zur Entsorgung des Faschismus für den deutschen Imperialismus. Es geht dabei nicht darum, dessen Existenz und Verbrechen zu leugnen, sondern vielmehr zu einem bloßen Stück Geschichte unter anderem herabzusetzen, um den Boden für eine reale Kontinuität imperialistischer Großmachtpolitik in der EU und international leichter zu begründen und hoffähig zu machen. Vor allem aber dient es auch als Klammer einer konservativen, großkapitalistischen und aggressiven Agenda, die durch rechten Populismus eine imaginäre, klassenübergreifende „Volkseinheit“ ideologisiert.




Antisemitismus und Psychoanalyse – eine marxistische Kritik

Teil 2 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 5, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis, heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Welche psychische Funktion nehmen antisemitische Überzeugungen für Menschen in Klassengesellschaften ein?
In der vorherigen Podcastfolge zur historischen Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus haben wir gehört, dass sich Gesellschaftsstrukturen zwar ändern, der Antisemitismus jedoch, wenn auch in veränderter Form, bestehen bleibt. Es stellt sich also die Frage, ob der Antisemitismus ein notwendiges Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist und welche Elemente der Zivilisation Individuen und Gemeinschaften dazu bringen, antisemitische und damit irrationale Überzeugungen für sich anzunehmen?

Im Folgenden wollen wir uns das Phänomen des Antisemitismus, welcher der Archetyp aller Verschwörungstheorien ist, einmal aus einer eher psychoanalytischen Sicht ansehen. Die Psychoanalyse ist ein durchaus wichtiges Instrument, um vor allem die unbewussten und vorbewussten Vorgänge im Menschen zu verstehen und damit auch sein Handeln besser nachvollziehen zu können. Uns muss aber auch klar sein, dass die Psychoanalyse im Großen und Ganzen das gesamthaft Irrationale am Kapitalismus verkennt, durch Pathologisierungen ihr Hauptaugenmerk hauptsächlich auf das Individuum und nicht auf die Gesellschaft richtet und daher keinen tragfähigen Ausweg aus eben diesem System aufzuweisen hat.

Im Verlauf der Episode soll deutlich werden, wie sehr Psyche und Gesellschaft, und damit auch ihre ökonomischen und politischen Bedingungen, miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass die ökonomischen, materiellen Verhältnisse das Primat in diesem Zusammenspiel einnehmen. Das Denken und Handeln, also auch das Psychische, ist sozusagen die Übersetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, welches wiederum seine eigene Dynamik entfaltet und auf die Gesellschaft zurückwirken kann.

Verschwörungstheorien sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen sowie Krisen nicht abstrakt gedacht werden können, sondern personalisiert werden. Die Grundlage bietet dabei häufig die Unfähigkeit, Widersprüche und Ungewissheiten auszuhalten, von denen es in unserer heutigen Welt mehr denn je gibt. Alles Beobachtbare wird dabei auf dieselbe Ursache zurückgeführt, nämlich auf das personifizierte Böse, was sich vom Guten klar unterscheiden lässt und ohne welches die Welt ein nahezu paradiesischer Ort sein könnte. In Verschwörungstheorien werden alternative, in sich schlüssige Realitäten erschaffen, die dem individuellen Wahn sehr ähnlich sind, jedoch sozial geteilt werden. Wir dürfen allerdings nicht dem Trugschluss aufsitzen, dass Verschwörungstheorien Ausdruck mangelnder Intelligenz seien, vielmehr sind sie, wie der Psychoanalytiker Ernst Simmel schreibt, Ausdruck eines gestörten Gleichgewichts des kollektiven Charakters der Gemeinschaft, wie wir später noch sehen werden.

Verschwörungstheorien und damit auch der Antisemitismus dienen immer der Stärkung eines Ichs, welches entweder durch individuell-biografische oder aber durch gesellschaftliche Krisen geschwächt worden ist. Im Wesentlichen sind es folgende psychische Funktionen, die von Verschwörungstheorien erfüllt werden, um das schwache Ich zu stärken:

Es werden Komplexität und Ungewissheit reduziert, indem beispielsweise vielschichtige wirtschaftliche Entwicklungen einzelnen Personen wie den Rockefellers und Rothschilds zugeschrieben werden, welche durch Habgier geleitet das Weltgeschehen lenken.
Angst, Neid und Aggression, die durchaus auf reale Ohnmachtserfahrungen zurückgehen, werden gebunden und durch Verschwörungstheorien verstärkt. Zudem erfährt das Individuum Entlastung durch das Projizieren: Das, was das Individuum an sich selbst ablehnt, wird in andere projiziert und an ihnen erkannt statt im Individuum selbst. Eigene unangenehme Gefühle werden ausgelagert und auf äußere Sündenböcke, wie das Jüd:innentum, sogenannte Klimadiktator:innen wie Habeck und Baerbock, Bill Gates oder die Globalist:innen übertragen. Hinzu kommt, dass das Selbst narzisstisch aufgewertet wird, indem die eigene Person zu den Eingeweihten gehört und die anderen Unwissenden, die den großen Plan der Verschwörer:innen einfach nicht begreifen, abwertet. Letztlich stiften Verschwörungstheorien auch Identität, da sie durch die Konstruktion von Gut und Böse, von Innen und Außen ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl herstellen, welches auf Hass und Ablehnung basiert. Als Beispiel ist hier die Konstruktion des/r in Anführungszeichen „guten Deutschen“, welche/r stark, loyal und heimattreu ist und zu dem/r man selbst gehört, gegen das in Anführungszeichen „böse, gierige Jüd:innentum“ – zu dem die anderen gehören, zu nennen.

Begriffe der Psychoanalyse

Da wir im Folgenden einige Termini aus der Lehre der Psychoanalyse verwenden werden, wollen wir zum besseren Verständnis das Instanzenmodell des Psychoanalytikers Sigmund Freud kurz skizzieren: Drei Instanzen bilden demnach die menschliche Persönlichkeit und wirken aufeinander ein: Es sind das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es ist die älteste und ursprünglich unbewusste Instanz der Psyche. Sie wird beherrscht von grundlegenden Bedürfnissen wie Schlaf und Hunger und dergleichen. Das Es drängt auf direkte Triebbefriedigung und duldet keinen Aufschub. Hingegen vertritt das Über-Ich das Gewissen eines Menschen, welches sich erst entwickeln muss. So ist das Über-Ich auch Ausdruck der gesellschaftlichen Normen und Werte und ist zuständig für Gebote und Verbote. Werden diese verletzt, kommt es zu Schuldempfindungen. Das Über-Ich steht häufig mit der Instanz des Es im Konflikt. Die Aufgabe der dritten Instanz, nämlich des Ich, ist es, zwischen den ersten beiden Instanzen, also den Triebansprüchen und den verinnerlichten Ge- und Verboten zu vermitteln. Das Ich entwickelt sich erst im Laufe der Kindheit und Jugend ist unter anderem für die Realitätsprüfung zuständig.

„Wo Es war, soll Ich werden“, so Freud im Jahre 1933. Es sei das Ziel der Psychoanalyse, das Ich zu stärken und es vom Über-Ich unabhängiger zu machen. Auch solle der Mensch sich seiner Energien aus dem Es bewusster werden. Dies sind hehre Ziele. Wir müssen jedoch anerkennen, dass die Entwicklung des Ich im Kapitalismus stets strukturell blockiert ist. Wenn eine Ich-Bildung im Kapitalismus relativ erfolgreich gelingt, so ist diese entweder an Privilegien gebunden oder an die Entstehung einer fortschrittlichen Gegenbewegung zu den herrschenden Verhältnissen. In letzter Instanz also an eine kämpferische Arbeiter:innenbewegung. Dieser Zusammenhang verweist bereits auf die Notwendigkeit der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse, um gesellschaftliche und bis zu einem gewissen Grad auch individuelle Pathologien zu verhindern. Schließlich kann es kein nicht-entfremdetes Individuum, also ein gänzlich bewusstes und gesundes starkes Ich, in einer Gesellschaft geben, in der Entfremdung eines ihrer Wesensmerkmale darstellt.

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück, inwiefern der Antisemitismus ein Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist.

Um uns der Beantwortung dieser Frage zu nähern und ein tieferes Verständnis für innerpsychische Vorgänge im Komplex antisemitischen Denkens zu entwickeln, greifen wir im Folgenden auf das Modell der Massenpsychose zurück. Dieses entwickelte der Psychoanalytiker Ernst Simmel, der, wie Theodor Adorno, einige wichtige massenpsychologische Erkenntnisse zum Verständnis des Antisemitismus beigetragen hat. Allerdings muss schon vorab kritisch darauf hingewiesen werden, dass der Auffassung der sogenannten Kritischen Theorie der Klassenbezug gänzlich fehlt, was wiederum zu einem kulturpessimistischen Defätismus führt. Daher ergänzen wir im Folgenden die Ausführungen Simmels durch notwendige revolutionär-marxistische Perspektiven und werfen im späteren Verlauf nochmals einen kritischen Blick auf die Antisemitismustheorie der Frankfurter Schule.

Nach psychoanalytischer Auffassung der Charakterbildung stellt ein Individuum, was unter einem krankhaft gestörten inneren Gleichgewicht leidet, dieses wieder her, indem es irrationale Ideen mit irrationalen Handlungsimpulsen verbindet.

Diese Theorie überträgt Simmel vom Individuum auf die Gesellschaft, da hier ähnliche Phänomene zu beobachten sind: den irrationalen Ideen in einem Kollektiv (also antisemitische Überzeugungen) folgen irrationale Handlungen (also Angriffe auf das Jüd:innentum). Wir können uns also fragen, ob der kollektive Charakter der Gemeinschaft ebenfalls unter einem pathologisch gestörten Gleichgewicht leidet, weil er die Irrationalität des Antisemitismus hervorbringt – und weiter noch: Was hat diese Störung des Gleichgewichts hervorgerufen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns ansehen, was die Beziehung zwischen Antisemitismus und Zivilisation als kollektivem Charakter ausmacht.

Sowohl die Entwicklung des Einzelnen als auch die der Menschheit als Ganzer ist nach Auffassung einiger Psychoanalytiker:innen begleitet von zwei Haupttrieben: dem destruktiven Verschlingungstrieb des Hasses zur Selbsterhaltung und dem erotischen Liebestrieb zur Arterhaltung.

Im Antisemitismus fällt das Individuum in der Gemeinschaft zurück auf ein früheres primär-narzisstisches Entwicklungsstadium, nämlich das des pathologischen Hasses. Der Hass ist im entwicklungspsychologischen Sinn der Vorläufer der Liebesfähigkeit, denn das Individuum muss erst sein eigenes Überleben sichern, damit es später seine Art erhalten kann.
Dieses Zurückfallen auf vorherige Entwicklungsstadien nennt man in der Psychoanalyse Regression. Regression ist ein Abwehrmechanismus, der eintritt, wenn Betroffene großen Ängsten ausgeliefert sind. Sie kann dabei helfen kritische Lebensereignisse zu meistern, aber ein dauerhaftes Regredieren ist krankhaft.

Wie zeigt sich uns dieser regredierte Hass, der sich sowohl als Folge des mittelalterlich-religiösen Antijudaismus entlädt und viel aggressiver noch im Zuge antisemitischer Anschuldigungen in der Moderne zutage tritt? Er ist vor allem gekennzeichnet durch irrationale Anschuldigungen gegen das Jüd:innentum. Sollen Juden/Jüdinnen früher Christusmörder:innen und Hostienschänder:innen gewesen sein, so sind sie seit Ende des 19. Jahrhunderts einerseits die kommunistischen, andererseits die kapitalistischen Strippenzieher:innen im Hinterzimmer – zwei sich völlig widersprechende Anschuldigungen. Unter anderem an dieser irrationalen Anschuldigung wird übrigens deutlich, weshalb es insbesondere das Kleinbürger:innentum ist, welches damals wie heute besonders empfänglich ist für antisemitisches Gedankengut. Diese Empfänglichkeit ist unter anderem in ihrer Rolle im Produktionsprozess begründet – das Kleinbürger:innentum steht zwischen den beiden Hauptklassen, dem Kapital und der Arbeiter:innenklasse. So ist es stets bemüht, in die herrschende Klasse aufzusteigen, und zugleich der Sorge ausgeliefert, in die Arbeiter:innenklasse abzurutschen, wenn es durch große Kapitalist:innen verdrängt würde. Das Kapital ist also eine reale Bedrohung für das Kleinbürger:innentum. Der Kommunismus würde ihm jedoch ebenso die gesellschaftlich-ökonomische Grundlage entziehen.

Das Ausmaß der Gewalt, die sich gegen Juden und Jüdinnen über die Jahrhunderte immer wieder in Folge dieser Anschuldigungen entlädt, ist stets abhängig von dem Maße, in dem die antisemitischen Vorstellungen ihren Realitätsbezug gänzlich verlieren und von einer bloßen Illusion zu einem Wahn werden. Antisemitische Vorstellungen verlieren in dem Maße ihren Realitätsbezug, in dem sich gesellschaftliche Krisen zuspitzen und sie somit für das innerpsychische Gleichgewicht des Kollektivs und zur Machtsicherung der Herrschenden notwendiger werden. Die folgenreichste Eskalation des antisemitischen Wahns zeigte sich in der Shoa im nationalsozialistischen Deutschland, dem ebenfalls eine tiefe Krise vorangegangen ist. Man denke nur an die Weltwirtschaftskrise von 1929 oder die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg mitsamt ihren Folgen wie dem Versailler Vertrag.
Dieses klinische Syndrom uneingeschränkter, aggressiver Destruktivität im Wahn bei vollständiger Verleugnung der Realität kennen wir aus der Psychopathologie als Psychose, genauer als paranoide Schizophrenie.

Der Psychoanalytiker Ernst Simmel begreift demnach den Antisemitismus als eine Art der Massenpsychose. Um diese These besser nachvollziehen zu können, sehen wir uns nun einmal an, welche psychodynamischen Vorgänge im psychotischen Individuum vor sich gehen und was passiert, damit auch eine Gruppe dem pathologischen Wahn verfallen kann, während der Einzelne in der Gruppe keinen pathologisch irrationalen Symptomen unterliegt. Er wird erst krank, wahnhaft und aggressiv im Kontext der Masse. Das zeigt auch, dass die Masse weitaus mehr ist als die Summe ihrer Individuen. Sie entwickelt ihre eigenen Dynamiken und erhebt sich über die/den Einzelne/n.

Wir können uns mangels Zeit an dieser Stelle nicht auf die Schizophrenie als Ganze beziehen, wohl aber auf die Aspekte, die individuelle und kollektive Psychose miteinander gemein haben. Hierbei soll es nur um das System des Wahns und der ungezügelten Entladung zerstörerischer Aggression, als Teile einer Psychose, gehen.

Wie wir bereits zu Beginn erwähnt haben, ist das Individuum wie auch die Gesellschaft als Ganze sowohl vom erotischen Liebestrieb als auch vom destruktiven Verschlingungstrieb bewegt. Unsere Urahn:innen waren Kannibal:innen und auch wir wollen zu Beginn unseres Lebens als Babys nicht nur Nahrung, sondern auch alles andere verschlingen, was uns unsere Bedürfnisse verweigert. Es ist also ein Vorgang, der sowohl der körperlichen als auch der psychischen Selbsterhaltung dient. Der psychischen Selbsterhaltung dient er insofern, als dass das Verschlingen ein primitiver Vorläufer der Verdrängung ist. Das hört sich erst mal seltsam an, gemeint ist damit aber, dass durch das Verschlingen das Objekt in sich aufgenommen und damit der bewussten Wahrnehmung entzogen wird, also verdrängt werden kann.

Der/Die Psychotiker:in befindet sich im Kampf mit der Realität. Beispielsweise widerfährt ihm/r ein belastendes Lebensereignis wie der Tod einer nahestehenden Person, den er/sie nicht wahrhaben will. Der/Die Psychotiker:in erleidet in diesem Kampf mit der Realität immer eine Niederlage, da man gegen das, was ist, nicht gewinnen kann. Um diese Niederlage zu bewältigen, flüchtet er/sie sich unter anderem in narzisstische Selbstliebe. Die erworbene Fähigkeit des Verdrängens regrediert zurück auf den puren destruktiven Selbsterhaltungstrieb. Wer nicht verdrängen kann, wird seinen Ängsten gänzlich ausgeliefert. Daher muss zur Zerstörung gegriffen werden. Dass das psychotische Individuum nicht mehr in der Lage ist zu verdrängen, ist Ausdruck eines unreifen Ichs. Ein Ich ist nur dann reif, wenn es ihm gelungen ist, im Laufe seiner kindlichen Entwicklung die äußere elterliche Macht als ein effektives Über-Ich zu integrieren. Das Über-Ich hat, wie bereits erwähnt, mehrere Funktionen: Es hilft zum Beispiel bei der Realitätsprüfung, es hilft auch, Handlungsimpulse zu kontrollieren und zwischen äußeren Ansprüchen und inneren Triebkräften zu vermitteln. All das geht sowohl dem/r individuellen Psychotiker:in als auch der Gruppe der Antisemit:innen abhanden. Es findet keine Realitätsprüfung mehr statt, irrationale Anschuldigungen werden übernommen, Handlungsimpulsen, wie dem, Juden/Jüdinnen zu diffamieren, wird ohne Zögern nachgegangen.

Verschlimmert sich die Erkrankung, unterliegt das Über- Ich mehr und mehr dem Es, was wiederum erklärt, warum eine Realitätsprüfung überhaupt nicht mehr stattfinden kann und eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen objektiver Realität und psychischer Wirklichkeit unmöglich wird. Simmel geht davon aus, dass der/die Psychotiker:in in ein Stadium regrediert, in dem es noch kein Über-Ich gab, sondern dieses noch durch die realen Eltern vertreten wurde . Er/sie lagert im Zuge der Regression also sein/ihr Über-Ich wieder aus, und statt sich mit diesem zu identifizieren, wie es der gesunde Lauf der Dinge wäre, greift er/sie zu einer Vorform des Identifizierens und Integrierens, nämlich dem Einverleiben durch aggressives Verschlingen. In der kindlichen Entwicklung sah das so aus, dass man Dinge tatsächlich oral verschlungen hat. Der/Die Erwachsene zerstört, in dem er/sie Waffen und dergleichen nutzt.

Individuum und Krise

Ob ein Individuum psychisch erkrankt, ist von einem komplizierten Wechselspiel bio-/psychosozialer Risiko- und Schutzfaktoren abhängig. Der Antisemitismus als Massenpsychose wird maßgeblich durch rasante negative Veränderungen in der Umwelt ausgelöst. Er trat historisch immer dann auf, wenn die Sicherheit des Individuums und der Gesellschaft durch katastrophale Ereignisse erschüttert wurde. Jüngst konnten wir das während der Coronapandemie beobachten, in der die Gesundheit, der eigene Beruf und familiäre Bindungen plötzlich nicht mehr sicher waren. In Folge dieser Verunsicherung nahm antisemitisches Gedankengut innerhalb der Gesellschaft, auch statistisch gesehen, enorm zu.

Es ist zudem kein Zufall, dass sich die schlimmsten Auswüchse des Antisemitismus zu einer Zeit manifestiert haben, in der sich Deutschland wie das gesamte kapitalistische Weltsystem – in einer imperialistischen Krise sondergleichen befanden.

Die moderne kapitalistische Gesellschaft zwingt insbesondere Lohnabhängige und Unterdrückte, pseudoangepasst über ihre psychischen Verhältnisse zu leben, sprich eine Vielzahl an Entbehrungen hinzunehmen: das Verlangen nach Liebe, Sicherheit, körperlicher Unversehrtheit, Zuwendung und gesehen Werden wird heutzutage nur noch unzureichend befriedigt in Zeiten, in denen sich das Leben immer mehr in die digitale Welt verlagert, Arbeitstage wieder länger und Arbeitsplätze immer unsicherer werden und wir zunehmend vom Wertgesetz dazu gezwungen werden, unsere Ellenbogen auszufahren und unser Einzelkämpfer:innentum zu leben. Schon Marx spricht vom Phänomen der Entfremdung. Hierbei geht es sowohl um die Entfremdung des Menschen zu sich selbst, zu seiner Umwelt, zu seinen Mitmenschen und um die Entfremdung des Menschen zu seiner Arbeit, die ihren Zweck, den Kontakt des Menschen zur Realität zu vermitteln und sich selbst zu erhalten, verloren hat. Diese Realitätsvermittlung durch den Prozess der Arbeit schwindet insbesondere im Kapitalismus dadurch, dass das Arbeitsprodukt nicht mehr der arbeitenden Person gehört. Auch die Arbeitstätigkeit gehört ihr nicht mehr selbst, sondern einem/r anderen – dem/r Kapitalist:in. Es wird also nicht mehr für eigene, sondern für äußere fremde Bedürfnisse gearbeitet.

Die fehlende Erfüllung unserer Bedürfnisse ruft in uns destruktive Strebungen hervor. Im Feudalismus war es die Religion, in deren Bereich sich das aufgestaute Aggressionspotential, was eigentlich den Herrschenden galt, verschoben hat. Hier kam es während seines Niedergang zum erneuten Aufflammen des religiös fundierten Antijudaismus. Aber auch die Religion verliert an Bedeutung und es fehlt zunehmend an Möglichkeiten zur Entladung dieser destruktiven Energien, so Simmel. Auf diesen latenten Zustand andauernder psychischer Entbehrung treffen im Kapitalismus wiederkehrende und tendenziell immer katastrophalere Krisen wie Klima-, Gesundheits-, Finanzkrisen, Kriege und vieles mehr. Die Gesellschaft, ohnehin schon geschwächt, verfällt in Panik, da sie die krisenhafte Realität nicht mehr meistern kann. Das wiederum ist Auslöser für die Zuflucht in eine Gruppe mit antisemitischem Gedankengut, die Orgien von Hass und Zerstörung nach sich zieht. Das Aufgehen des Ichs in einer Masse ist immer der einfachste Fluchtweg vor dem Druck der unerträglichen und unbegreiflichen Realität, so Simmel.

Das Problem ist nicht die Aggression an sich – die in Folge der Entbehrungen und im Rahmen der Selbsterhaltung auftritt, denn diese kann ja in eine positive Richtung gelenkt werden, wenn letztlich das rationale Ich die Kontrolle behält. Problematisch seien, wie der Psychoanalytiker Mario Erdheim richtig anmerkt, die unbewussten Quellen der Aggression, die jede Kontrolle durchbrechen, vom Narzissmus geleitet sind und eine Realitätsprüfung nicht mehr zulassen. Hier zeigt sich deutlich die historische Krise der Führung der Arbeiter:innenbewegung sowie die Verbürgerlichung derselben. Gegenbewegungen wie beispielsweise Gewerkschaften, reformistische Arbeiter:innen-, soziale Bewegungen wie die Frauen- oder Umweltbewegung bilden dennoch einen Gegenpol zu den kapitalistischen Zwängen. Dieser ist jedoch sichtlich unzulänglich. All den angesprochenen Bewegungen, sowie der Führung der Arbeiter:innenklasse, gelingt es nicht, den zunehmenden Unmut der Menschen, die eigentlich danach streben, gegen die Herrschenden, die Verursacher:innen ihrer Entbehrungen vorzugehen und den Kapitalismus zu zerschlagen, in rationale und theoriegeleitete Bahnen zu lenken. Stattdessen sucht sich das kollektive Ich ein Ersatzobjekt, was es bestrafen kann. Selbst die Schuldgefühle für diesen Bestrafungswunsch werden dann durch gesteigerte Aggression gegen das Ersatzobjekt gewendet.

Ebenso wie die individuelle Psychose wird also auch der Antisemitismus durch einen Bruch mit der Realität ausgelöst. Das Besondere am Antisemitismus als Massenpsychose ist es, dass der/die einzelne Antisemit:in kein/e Psychotiker:in ist! Seine/ihre Person scheint weiterhin „normal“. Erst dadurch, dass er/sie sich an eine Gruppe Gleichgesinnter anschließt, verliert er/sie gewisse Eigenschaften, die einen gesunden Menschen ausmachen, und trägt so dazu bei, den Massenwahn zu erzeugen. In dem der/die Einzelne Teil der Masse wird, schwindet seine/ihre Verantwortlichkeit, er/sie hört auf, sich seinem/ihren individuellen Über-Ich zu unterwerfen. Er/Sie wird wieder zu einem Kind, was nur vor den eigenen Eltern Angst haben muss. Da der Massenmensch sich aber im Gruppenverband ebenso mächtig fühlt wie die imaginären ausgelagerten Eltern, fürchtet er keine Strafe mehr und kann, anders als der/die einzelne Psychotiker:in, zur Realität zurückkehren. Nun lässt er/sie seinen/ihren Zerstörungstrieben freien Lauf.

Der antisemitische Massenmensch löst seinen Ambivalenzkonflikt (also zwischen Liebe und Hass) gegenüber seinen Eltern auf, welcher darin besteht, dass er einerseits seine Eltern liebt, sie ebenso aber auch hasst, da sie ihm seine Bedürfnisbefriedigung nicht uneingeschränkt gewähren. Die Auflösung dieses Widerspruchs geschieht, indem er die veräußerlichte Elterngewalt, also das ausgelagerte Über-Ich, spaltet in die Führerperson, die er liebt und die jüdische Person, die er hasst. In der Funktion des Über-Ichs kann die Führerperson darüber bestimmen, wann die Gruppe emotionale Triebentladungen entfesselt oder bremst. Diese, historisch beispielsweise Hitler, bindet die Gruppenmitglieder an sich, indem er ihnen ein äußeres Ziel für ihre aufgestauten Aggressionen bietet, nämlich das Jüd:innentum. Den/Die Juden/Jüdin als ausgelagerten Teil des Über-Ichs kann der/die Antisemit:in bestrafen, ohne zugleich Schuld für seine/ihre Hassgefühle in sich aufnehmen zu müssen, denn der geliebte Teil des Über-Ichs, also die Führerperson, wurde ja nicht angegriffen. Hierzu passend ein Zitat von Simmel: „Jedem Massaker an Juden ging eine Hetzkampagne voraus, in der die Juden eben jener Verbrechen bezichtigt wurden, die der Antisemit im Begriff war, zu begehen.“

Für politische Führerpersonen dient der Antisemitismus unter anderem dazu, die Geführten über den eigentlichen Ursprung ihrer Entbehrungen hinwegzutäuschen. Denn der tatsächliche Ursprung des Elends in der Welt und der wiederkehrenden Krisen liegt selbstverständlich nicht im Judentum, sondern ist in den herrschenden Besitz- und Produktionsverhältnissen zu suchen.

Wir haben nun gehört, welche Dynamiken der individuellen sowie der kollektiven Psychose zugrunde liegen. Nun möchten wir auf das Verhältnis dieser beiden Phänomene zueinander näher eingehen. Der individuelle und der kollektive Wahn teilen gewisse Gemeinsamkeiten, es lassen sich aber auch bedeutende Unterschiede hervorheben:

Wie bereits erwähnt, entsteht die individuelle Psychose aus einem komplexen Wechselspiel individueller Sozialisation, welche bestimmte, für alle Gesellschaften mehr oder weniger gültige, Momente inkludiert. So sind beispielsweise in jeder Gesellschaftsform Menschen zuerst Kleinkinder und befinden sich in einem Verhältnis zu den Eltern oder primären Bezugspersonen. Diese vermitteln dem Kind die jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werte einer bestimmten Epoche, die das Individuum als Über-Ich integriert. Je nach Gesellschaftsform verändern sich auch die dem Individuum zugrundeliegenden Bedingungen und somit auch das Über-Ich, das zwar durch die Eltern personifiziert wird, aber notwendigerweise auch immer die normativen Vorstellungen der Gesellschaft verkörpert. Die Gestalt, die das Über-Ich eines Individuums also annimmt, ist eine klassenspezifische Gestalt. Sie kann geschlechtsspezifisch, mehr oder minder rassistisch in Erscheinung treten. Auch die Art und Weise, wie sich die triebhaften Es-Anteile im Menschen darstellen, sind von der jeweiligen Gesellschaft, in der sich das Individuum bewegt, geprägt.

Strukturen der Gesellschaft und Irrationalismus

Die kollektiven Pathologien hingegen entstehen aus den Strukturen der Gesellschaft selbst. Wie treten aber diese Strukturen zutage? Die Menschen sind zwar Schöpfer:innen ihrer Geschichte, aber dies sind sie nicht aus freien Stücken heraus, sondern stets unter vorgefundenen und ihnen nicht bewussten Bedingungen. Die Dynamik und Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung erscheinen den Menschen als Zwangsgesetze der Konkurrenz, als natürlich und unveränderbar. Sie werden in ihrem Wesen nicht erkannt, sondern in verkehrter und ideologischer Form verstanden, wie schon Marx im ersten Band des „Kapitals“ schreibt. Zu diesem verkehrten und ideologisch aufgeladenen Verständnis gehören unter anderem der Warenfetisch und die Lohnform, in welchen die eigentliche Grundstruktur der kapitalistischen Ausbeutung verschwindet. Die tatsächliche Ausbeutung besteht nämlich in unserem gegenwärtigen System darin, dass sich das Kapital durch Lohnarbeit den geschaffenen Mehrwert fremder Arbeit aneignet. Im Kapitalismus wird jedoch die eigentliche Quelle des Mehrwerts und des Profits notwendig verschleiert. Stattdessen scheint die Quelle des Profits in der Zirkulation des Geldes und im Zins zu liegen, in dem Verkauf der Waren über ihrem Wert, in Preistreiberei und Wucher. Dieser Schein wird zudem dadurch genährt, dass Preistreiberei, Spekulation und dergleichen ja tatsächlich existieren und diese durchgängig mehr Opfer als Gewinner:innen kennen. Aber die eigentliche Quelle kapitalistischen Reichtums sowie die eigentliche Ursache von Krisen erscheinen nicht an der Oberfläche, dringen nicht in das gesellschaftliche Bewusstsein.

Es ist aber genau diese oberflächliche Erscheinung, auf die sich gesellschaftlicher Irrationalismus und Verschwörungstheorien stützen. So werden das „jüdische“ Finanzkapital und das „raffende“ Handelskapital vom industriellen, „schaffenden“ Kapital getrennt. Das industrielle Kapital scheint wie das ehrlich verdiente, da mit ihm die Tätigkeit der Produktion assoziiert wird. In Wirklichkeit bilden letztlich industrielles, Handels- und zinstragendes Kapital nur drei Momente des Kapitalkreislaufes, selbst wenn sich diese gegeneinander bis zu einem gewissen Grad verselbstständigen können. In allen Stadien dieses Kreislaufes wird Mehrwert durch die Aneignung fremder Arbeitskraft durch den/die Kapitalist:in abgeschöpft bzw. umverteilt.

An diese Erscheinungsformen, die die bürgerliche Gesellschaft selbst hervorbringt, knüpft der Antisemitismus an. Handels- und zinstragendes Kapital werden zur Quelle von Profit, Ausbeutung und Diebstahl, also illegitimer Aneignung von Reichtum erklärt und seien hiermit der Ursprung aller Krisen. Darüber hinaus werden Handels- und zinstragendes Kapital personifiziert und mit den Juden und Jüd:innen identifiziert. In unserer vorherigen Folge haben wir historisch materialistisch hergeleitet, warum es zwar häufig Juden und Jüd:innen gewesen sind, die während des Hochmittelalters im Bereich des Handels und des Geldverleihs tätig waren. Hieraus wurde jedoch damals schon ein Feindbild konstruiert, welches eine materielle Grundlage hatte, aber auch schon zu diesem Zeitpunkt inhaltlich falsch gewesen ist. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus hat dieses Feindbild seine reale Grundlage gänzlich verloren und ist im modernen Antisemitismus vollständig zur Projektion geworden.

Antisemitismus assoziiert nicht nur fälschlicherweise das Jüd:innentum mit dem „bösen raffenden Kapital“, er tabuisiert zugleich auch die eigentliche Quelle kapitalistischen Reichtums. Es wird der/die industrielle, zumal deutsche Kapitalist:in zu einem besonders produktiven „arbeitenden Menschen“ verklärt, obwohl dessen/deren Reichtum ausschließlich aus der Aneignung fremder Arbeit entspringt.

Insbesondere in Krisenzeiten, wie bereits erklärt, entsteht für Kleinbürger:innen, die Mittelschicht, sowie Teile der „Eliten“ ein Bedürfnis nach Pseudoerklärungen für das erfahrene Unglück, welches auch Teile der Arbeiterinnenklasse ergreifen kann. Der Antisemitismus bildet so eine reaktionäre, irrationale und persönliche Einstellung, die zudem Ideologie einer ganzen Bewegung wird, welche bis in Pogrom und Faschismus münden kann.

Wie bekämpfen?

Wir sehen also: individuelles und kollektives psychisches Geschehen sind nicht identisch, verbinden sich aber, wie eben beschrieben, und tun dies auch klassenspezifisch.

Da der gesellschaftliche Irrationalismus auf den Grundstrukturen der Gesellschaft basiert und deren notwendige Erscheinungsform darstellt, erweist sich die bürgerlich-aufklärerische Kritik am Antisemitismus als unzulänglich und wirkungslos. Im Zuge der bürgerlichen und rein moralischen Kritik an Populismus, Antielitismus und Pseudoantikapitalismus des Antisemitismus werden die bürgerlichen Verhältnisse selbst verklärt. Es wird verkannt, dass gerade sie es sind, die die Grundlage dafür bilden, dass Antisemitismus zwangsläufig immer wieder aufflammen muss. So wie dem/r Antisemit:in zum Beispiel der deutsche als der eigentliche Mensch erscheint, so erscheint der bürgerlichen Ideologie das bürgerliche Individuum als das eigentliche. Während die Antisemit:innen das Ende der Entfremdung in der Volksgemeinschaft imaginieren, erklärt die bürgerliche Kritik letztlich die Existenz der Entfremdung für unwahr.

Für den Marxismus hingegen geht es darum, die reale Grundlage für antisemitische Ideologie aufzuheben und das heißt, die Bedingungen zu schaffen, wo der Mensch kein „erniedrigtes, […] geknechtetes, […] verlassenes […] Wesen […]“ mehr sein muss, um es mit den Worten von Marx zu sagen. Das heißt aber notwendig auch die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenbewegung, die diese Verhältnisse auch revolutionär überwinden kann. Das Verständnis und die Kritik sowohl reaktionärer wie pseudoradikaler „Lösungen“ bildet einen notwendigen Beitrag zur Herausbildung eine solchen Bewegung.

Auch Leo Trotzki sprach sich für eine psychoanalytische Auseinandersetzung mit den soeben erläuterten Mechanismen aus. Er beschäftigte sich tiefgreifend mit der Massenpsychologie des Faschismus und erkannte, dass es gerade diesem gelinge, dem Wunsch nach Aufstandsbewegungen nachzukommen, die destruktiven Energien aber auf Ersatzobjekte umzulenken. Gleichzeitig gelingt es dem Faschismus sogar, eben diese aggressiven Bestrebungen zur Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung und ihrer demokratischen Errungenschaften zu nutzen, was zu den zentralen Zielen des Kapitals gehört. So schreibt Trotzki, dass der italienische Faschismus direkt aus dem von den Reformist:innen verratenen proletarischen Aufstand erwuchs, also die aufständischen Potentiale „erfolgreich umgelenkt“ wurden. Es sind die Erfahrungen von Niederlagen, Drangsal und Demoralisierung, die viele Arbeiter:innen in Folge der Schwäche ihrer Führung besonders empfänglich machen für nationale und antisemitische Optionen im Kampf gegen ihre Unterdrücker:innen. Eben dieser Klassenkampfbezug fehlt sowohl bei Simmel wie auch bei Adorno. Letzterer geht davon aus, dass die sogenannte Massenkultur, die Vereinzelung und Entfremdung des bürgerlichen Individuums in der Konkurrenz der warenproduzierenden Gesellschaft ausschließlich die Ursache für narzisstische Regression sind, welche den antisemitischen Komplex nach sich ziehe. Er geht sogar noch weiter und stellt die Überlegung an, dass letztlich alle sozialen Bewegungen im Spätkapitalismus zum Faschismus tendieren, da die Verdinglichung so allumfassend und unüberwindbar sei. Doch wohin führt uns diese Behauptung? Das müsste ja bedeuten, dass jeglicher zivilisatorische Fortschritt zwangsläufig ein Zerstörungsprozess ist und es keine Aussicht auf ein Leben in einer besseren, einer befreiten Gesellschaft geben kann. Aus dieser Perspektive heraus kann eigentlich nur noch vor dieser Aufgabe kapituliert werden. Es ist sehr wohl richtig, dass Antisemitismus ein notwendiges Nebenprodukt bisheriger menschlicher Zivilisationen im engeren Sinne (also mit Beginn der geschriebenen Geschichte) ist, da diese stets in Klassengesellschaften lebten. Es ist nicht die menschliche Gesellschaft als solche, die den Antisemitismus hervorbringt. Es sind die Klassenwidersprüche, die die Grundlage für juden-/jüdinnenfeindliche Überzeugungen bilden. Adorno und Simmel blenden jedoch die historische Aufgabe der Arbeiter:innenklasse in ihren Theorien aus. Die These vom Totalitarismus der Verdinglichung nach Adorno zieht in der Praxis verheerende Folgen für viele Linke nach sich, welche die faschistische Gefahr dauerhaft und überall vermuten und somit einen tatsächlichen Rechtsruck, wie er sich seit der Krise 2008/09 vollzieht, verkennen.

Gewiss macht die zunehmende Verdinglichung im Kapitalismus einzelne Individuen besonders empfänglich für rassistischen, nationalistischen oder antisemitischen Hass. Der Auffassung Adornos ist aber unbedingt entgegenzusetzen, dass es das Proletariat selbst ist, welches durch seine Rolle im Produktionsprozess die Möglichkeit besitzt, durch solidarische Selbstorganisation und Herausbildung der Kontrolle über seine Arbeitsprozesse eben gerade diese Verdinglichung zu durchschauen und progressive Alternativen sozialen Zusammenlebens und -arbeitens emotional erfahrbar zu machen. Es sind demnach sehr wohl Massenbewegungen möglich, welche selbstbewusste und kritische Subjekte in einem demokratischen Prozess vereinen. Und nur so kann auch die Arbeiter:innenklasse als Ganze ihre historische Rolle spielen, indem sie das Ausbeutungsverhältnis, aus dem eben die oben genannte Verdinglichung entsteht, überwindet.

Wir hoffen, Euch die psychologische Dimension des Antisemitismus ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn Ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. In unserer kommenden Folge soll es darum gehen, welches Vorgehen gegen das Phänomen des Antisemitismus von einem Standpunkt der Arbeiter:innenklasse ein wirklich wirksames ist und welche Schlussfolgerungen die Unterdrückung eher noch manifestieren.




Wurzeln des Antisemitismus

Teil 1 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 4, Podcasts der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Katjuscha und Lina und der Frage: Wie vollzog sich die Geschichte des Judentums und des Antisemitismus (aus einer historisch materialistischen Perspektive)?

In der heutigen Folge gehen wir den historischen Wurzeln des Antisemitismus auf die Spur und beschreiben die Veränderung vom mittelalterlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus anhand gesellschaftlicher sowie ökonomischer Entwicklungen. In einer weiteren Folge versuchen wir, uns der Massenpsychologie des Antisemitismus zu nähern und gehen auf Zusammenhänge zwischen Psyche und Gesellschaft ein. Wie sich der Antisemitismus heute zeigt und welche Ansätze zum Kampf gegen ihn derzeit existieren und für welche Positionen wir als Gruppe Arbeiter:innenmacht eintreten, wird Gegenstand der letzten Folge unserer Reihe zu Antisemitismus werden.

Unsere Auseinandersetzung mit dem Thema ist sicherlich nicht erschöpfend, aber bietet Ansatzpunkte, um Antisemitismus im Kern verstehen und Ansätze zum Kampf gegen ihn entwickeln zu können.

Aber beginnen wir zunächst mit dem Anfang. Die jüdische Geschichte, deren Ursprung zu großen Teilen hinter Mythen verborgen liegt, ist schon seit vielen Jahrhunderten eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Umsiedlung. In der Antike werden Juden/Jüdinnen durch die römische Eroberung aus Judäa vertrieben. Im europäischen Mittelalter hetzen Kleriker gegen Juden/Jüdinnen und wütende Mobs verfolgen diese. Mit Beginn des Kapitalismus bahnt sich eine vernichtende Form der Verfolgung an, die in die bisher historisch singuläre Katastrophe mündet: dem millionenfachen industriellen Massenmord an Juden/Jüdinnen durch Nazideutschland.

Es ist eine Geschichte von Leid, Schrecken und Grausamkeiten. Dennoch wandeln sich die Formen der Verfolgung, stets eingebettet in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte. Um die Entwicklung von Antisemitismus verstehen zu können, ist es relevant, die Entwicklung der menschlichen Zivilisation von damals bis heute als eine von Klassenkämpfen zu begreifen und die ökonomische Funktion von Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Formen der Klassengesellschaft zu analysieren. Wir wollen also eine historisch-materialistische Analyse der jüdischen Geschichte vornehmen.

Viele Ansätze tun dies nicht. Sie beschreiben jüdische Geschichte aus einer idealistischen Betrachtungsweise heraus. Idealismus begreift die Idee als Ursprung für die Wirklichkeit. Im Gegensatz zum Materialismus, der den Ursprung der Wirklichkeit in der Materie sieht. Also in dem, was den Menschen umgibt und dadurch dessen Bewusstsein formt. Damit sind die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Produktionsverhältnisse gemeint, die das vorherrschende Bewusstsein prägen.

Natürlich gibt es eine beidseitige Wechselwirkung zwischen Ideologie und Materie. Der dialektische Materialismus begreift aber letztere als das Grundlegende.

Das ist jetzt etwas abstrakt, wird aber anschaulich bei der Untersuchung der Frage, wie das Judentum trotz der vielen Widerstände, Vertreibungen und Zerstreuung über so viele Jahrhunderte erhalten bleiben konnte.

Eine gängige Antwort auf diese Frage liefern Erzählungen über die Diaspora. Diese besagen, dass der Ursprung allen Unheils, das über das Juden und Jüdinnentum gekommen ist, in der Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Judäa durch die Römer:innen ab dem 1. Jh. unserer Zeitrechnung, läge.

Tatsächlich konnte sich Judäa, eine Region auf dem Gebiet des heutigen Israels und Palästinas, damals als eigenes Königreich behaupten und existierte über fast einhundert Jahre als jüdisches Reich mit gewisser Unabhängigkeit. Dieses fand ein jähes Ende durch die Annexion als römische Provinz. Es kam zum sogenannten jüdischen Krieg, in dessen Zuge Jerusalem erobert und der Tempel zerstört wurde. Die Unterwerfung unter das römische Reich und die Verwaltung durch einen Statthalter führte zu religiöser Unterdrückung, Aufständen und verstärkter Auswanderung.

Der Mythos der Diaspora lautet: Judäa unterschied sich vor der Zerstörung Jerusalems durch das römische Reich nicht von anderen „Nationen“ (z. B. der römischen oder griechischen). Durch die Kriege zwischen Römer:innen und Juden/Jüdinnen wurden die Juden/Jüdinnen aus ihrer ursprünglichen Heimat (Israel/Palästina) vertrieben und in alle Himmelsrichtungen zersprengt. Juden/Jüdinnen mussten fortan in der Diaspora von Ort zu Ort wandern – zusammengehalten durch das starke Band ihrer religiösen Gemeinschaft und mit der ewigen Hoffnung, in die ursprüngliche Heimat zurückzukehren.

In dieser Beschreibung wird also die „nationale Idee“ und die „Kraft des eigenen Willens“ als Erklärung für den Erhalt des Judentums herangezogen.

Im Gegensatz zu dieser idealistischen Erklärung würden wir die Wirkrichtung in umgekehrter Richtung analysieren und sagen, dass das starke religiöse Band und die kulturelle Verbundenheit der zerstreuten Juden/Jüdinnen aus einer materiellen Notwendigkeit heraus entstand. Also deren Folge ist und nicht deren Ursprung. Aber dazu später mehr.

Hier ist noch anzumerken, dass wir, wenn wir von Nation sprechen, nicht die Nation im heutigen Sinne meinen. Weder Römer:innen, Griech:innen noch Juden/Jüdinnen waren in der Antike eine Nation im modernen Sinne. Diese entstand erst später im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft.

Zunächst mal zur Frage, warum es überhaupt zur Diaspora kommt, was übersetzt nicht nur Vertreibung, sondern auch Zerstreuung bedeutet. Die Übersetzung aus dem Griechischen zeigt bereits, dass es sich hierbei nicht nur um eine erzwungene Vertreibung, sondern auch um eine Auswanderung aus anderen Gründen handeln kann.

Dazu wollen wir uns vorerst genauer die jüdische Geschichte in der Antike ansehen. Es ist sicherlich richtig, dass die Zerstörung des jüdischen Zentrums durch das römische Reich zur verstärkten Auswanderung führte, wobei die Vertreibung vor allem die herrschenden Klassen betraf. Jüdische Bauern/Bäuerinnen wurden demgegenüber unter römischer Herrschaft oftmals zur Assimilierung gezwungen.

Historische Quellen belegen aber vor allem, dass auch schon vor der Niederlage in den jüdischen Kriegen ein Großteil der Juden und Jüdinnen in der Diaspora, verteilt um das Mittelmeer, lebte. Warum? Das historische Judäa liegt in der Region um Jerusalem, besteht hauptsächlich aus Wüste, die sich zwischen Jerusalem und dem Toten Meer erstreckt, und dem Jerusalem umgebenden Bergland. Da das Bergland, was den Juden und Jüdinnen zur Verfügung stand, nicht besonders fruchtbar war, reichte es schlicht nicht aus, um dem Volk die Lebensgrundlage zu sichern. Es ist also anzunehmen, dass Juden/Jüdinnen schon weit vorher darauf angewiesen waren, ihre Existenz anderweitig zu bestreiten.

Ebenso liegt das damalige Judäa im Einflussgebiet zweier zentraler Fernhandelsrouten, die ihren Ursprung lange vor unserer Zeitrechnung haben. Der via maris, welcher vom Nildelta über die israelische Küstenebene nach Damaskus führt, und der Weihrauch- und Königsstraße, welche südlich der Arabischen Halbinsel beginnt und sich durch Jordanien nach Damaskus zieht. Es ist also naheliegend, dass Juden/Jüdinnen seit jeher im Handel tätig waren, um ihre Existenz zu sichern. Sie lebten vom Fernhandel, wo hauptsächlich Luxusgüter wie Metall, Glas, Olivenholz und Edelsteine gehandelt wurden, und vom Regionalhandel, wo es vor allem um Waren des alltäglichen Gebrauchs wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Gewürze, Kleidung ging.

Eine gewisse Zerstreuung der Juden und Jüdinnen ging automatisch mit ihrer Tätigkeit im Fernhandel einher, da Güter, die an einem Ort gekauft wurden, an einen anderen Ort transportiert werden mussten, um sie dort weiter zu verkaufen. Juden/Jüdinnen breiteten sich entlang der Handelswege aus und ließen sich in zahllosen Städten in Europa und Asien nieder. Die Handelsrouten und die Einbindung von Juden/Jüdinnen in den Handel bestanden schon mehr als tausend Jahre vor der römischen Annexion. Der ursprüngliche Grund für die Auswanderung der Juden und Jüdinnen muss zunächst also in den geographischen Gegebenheiten Palästinas gesucht werden.

Die Frage, wie das Juden und Jüdinnentum trotz der großen räumlichen Verteilung über so lange Zeit erhalten bleiben konnte, wurde damit aber noch nicht beantwortet. Dafür muss man genauer untersuchen, wie Fernhandel in der vorkapitalistischen Gesellschaft funktionierte. Im Gegensatz zur heutigen vernetzten und globalisierten Welt war es damals äußerst schwierig, Handel über so weite Distanzen zu organisieren.

Es benötigte spezialisierte Schichten der Bevölkerung, die über Sprachkenntnisse und Wissen über Handelswege verfügten und Beziehungen in andere Städte hatten. Diese Funktion nahmen unter anderem Juden/Jüdinnen ein. Für das Aufblühen der Handelstätigkeit war es förderlich, dass Juden/Jüdinnen über dieselbe Sprache und eine einheitliche Schrift verfügten, um Wissen und Erfahrungen weitergeben zu können. Es ergab also Sinn, dass die ökonomische Funktion des Handels durch eine Bevölkerungsgruppe aus einem Kulturkreis ausgefüllt wurde. Abraham Léon, ein jüdischer Trotzkist, der in Auschwitz ermordet wurde, beschreibt in seinem Buch „Die jüdische Frage“ von 1942, dass hier eine Gesellschaftsschicht von einer Bevölkerungsgruppe gebildet wurde – was nichts Ungewöhnliches für vorkapitalistische Gesellschaften ist.

Léon stellt dar, dass sich in der Diaspora große Teile der jüdischen Bevölkerung aber auch völlig in die vorgefundene Kultur integriert haben. In Nordafrika beispielsweise seien viele Juden und Jüdinnen in der Landwirtschaft tätig gewesen, was zur vollständigen Eingliederung in die dort bestehende Gesellschaft geführt habe. Trotz der zunächst vorhandenen religiösen Unterschiede sei es unter anderem durch Heirat über mehrere Generationen hinweg zu einer kulturellen Anpassung gekommen. Juden und Jüdinnen haben hier aufgehört, eine eigenständige Schicht zu bilden und sind – wie auch die übrige Bevölkerung dort – Bäuer:innen geworden. Ein isoliertes gesellschaftliches Leben sei hauptsächlich in den Städten, in welchen Juden und Jüdinnen mit Handel beschäftigt waren, bestehen geblieben.

Das Weitertragen der jüdischen Kultur und Religion hat also eine bestimmte ökonomische Funktion.

Generell kann man sagen, dass die Handelstätigkeiten in der Antike bis hin ins Mittelalter für viele Juden/Jüdinnen relativen Reichtum brachten.

Trotz Vertreibungen gab es relativ stabile Lebensbedingungen, sodass die jüdische Kultur aufblühen konnte. In unterschiedlichsten Räumen der Welt entwickelten sich verschiedene Ausprägungen jüdischer Religion und Identität. In Europa lebten die Aschkenasim, auf der Iberischen Halbinsel die Sephardim, im arabischen Raum die Mizrachim. Nur eine Minderheit lebte in Palästina und niemand hat im Traum daran gedacht, dorthin zurückzukehren.

Es war aber auch nicht alles rosarot. Die Wurzeln von Judenhass reichen bis in die Antike zurück. Hier keimte Hass auf, der sich später mit Durchsetzung des Christentums zum mittelalterlichen Antijuadismus entwickelte.

Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, wollen wir uns die vorherrschenden gesellschaftlichen Gegebenheiten im Feudalismus des mittelalterlichen Europas genauer anschauen. Ein Großteil der damaligen Bevölkerung lebte von den Erzeugnissen der Landwirtschaft. Die Bauern/Bäuerinnen produzierten alles, was zum Leben nötig war, selbst. Sie verbrauchten den Großteil ihrer Erzeugung, der Rest wurde getauscht. Getreide wird gegen Leinen getauscht, Hosen gegen Stühle und Schuhe gegen Messer. Es gab natürlich schon Geld in Form von Münzen, das zur Erleichterung des Tausches eingesetzt wurde. Es war jedoch wesentlich auf seine Funktion als Tauschmittel reduziert. Abgaben, die die Bauern/Bäuerinnen an die Grundherren abtreten mussten – das so genannte Lehen – wurden zunächst in Natural-, später in Geldform getätigt. Geld spielte aber noch eine untergeordnete Rolle. Generell war es ein mehr oder weniger abgeschlossener Wirtschaftskreislauf, der wenig Fragen aufwarf. Man kennt den Schuster von nebenan und weiß, wo das Getreide gemahlen wird.

Der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ist zunächst auf ihre verbreitete Funktion als Händler:innen zurückzuführen. Die ersten Kaufleute, die unbekannte Waren aus fernen Regionen brachten, wurden immer als Fremde wahrgenommen. Generell stieß jegliche wirtschaftliche Aktivität, die nicht direkt mit Landwirtschaft und der Verarbeitung ihrer Erzeugnisse zu tun hatte, auf Ablehnung. Es war schwierig, diese zu begreifen. Wie können Kaufleute, ohne eigene Produkte herzustellen, ihren Lebensunterhalt bestreiten? Wie ist es möglich, dass sie ohne schwere körperliche Arbeit gewissen Reichtum erwirtschaften können? Woher kommt das Geld? Und warum verarmen Menschen, die in Kontakt mit Geldwirtschaft kommen?

Durch ihre Tätigkeit als Händler:innen wird auf Juden und Jüdinnen schon damals eine Verkörperung des fremden und unheimlichen Geldes projiziert.

Im Verlauf des europäischen Mittelalters veränderte sich die ökonomisch vorteilhafte Situation für Juden und Jüdinnen und mit ihr nimmt die Gewalt gegen sie zu.

Es kommt, vor allem in Westeuropa, zu einer Periode intensiver wirtschaftlicher Entwicklung. Wir sind gerade im 11. Jh. unserer Zeitrechnung und die Landwirtschaft ist nach wie vor der dominanter Wirtschaftszweig. Es kommt zu Innovationen (wie z. B. der Ausbreitung der Dreifelderwirtschaft), die den Ertrag erheblich steigern konnten. Auch in anderen Wirtschaftsbereichen kam es zu Produktivitätssteigerungen wie zum Beispiel im Textilhandwerk durch Verbreitung des Trittwebstuhls. Die günstigen Bedingungen führten zu einem breiten Bevölkerungswachstum. Bauernsiedlungen werden zu Dörfern, Dörfer zu Städten, die Städte zu Handelszentren, in denen die Produkte getauscht werden.

Für Juden und Jüdinnen, die bis dahin ihre Existenz zu großem Teil durch Handelstätigkeit bestritten, bedeutete diese Entwicklung nichts Gutes. Bis dahin hatten sie eine gewisse Sonderrolle mit großer Bedeutung inne. Teilweise waren sie die einzige wirtschaftliche Verbindung zwischen Europa und Asien. Das Entstehen einer städtischen Industrie und das Aufkommen einer einheimischen Handelsklasse führten zu einer verstärkten Konkurrenzsituation. Juden und Jüdinnen wurden aus dem Handel gedrängt und entwickelten sich zunehmend zu einer Randschicht.

Mit dem expandierenden Binnenhandel nahm auch die Bedeutung der Geldwirtschaft stetig zu. Es wurde vermehrt Geld eingesetzt, um den Handel zu organisieren. Zunehmend nicht mehr nur im Fern-, sondern auch im Regionalhandel. Da es Juden und Jüdinnen häufig nicht mehr möglich war, durch Handelstätigkeiten ihre Existenz zu sichern, blieb ihnen die Nische des Geldverleihs. Dieser wurde statt spezialisiertem Handwerk und Handel zur Haupteinnahmequelle.

Dass Geldverleiher:innen, die notgedrungen auch Schuldeneintreiber:innen sind, nicht die beliebtesten Teile der Bevölkerung darstellen, ist naheliegend. Mit dem Verbot seitens der Kirche, das Christ:innen den Geldverleih untersagte – das sogenannte Zinsverbot v. a. aus dem Alten Testament – besaßen Juden und Jüdinnen das Monopol für Kreditgeschäfte und wurden zu gesuchten und gehassten Geldverleiher:innen.

Im Unterschied zum Kapitalismus, wo Kredite bestimmend als Investition in gewinnbringende Produktion gesteckt werden, wurden sie im Feudalismus hauptsächlich zwecks Konsums vergeben. Sie wurden also nicht benutzt, um aus Geld noch mehr Geld zu machen, sondern ausgegeben für Kriegstätigkeiten, Prestigebauten und anderweitigen Konsum der Herrschenden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kredite nicht zurückbezahlt werden konnten, war dabei relativ hoch. Um sich abzusichern, mussten hohe Zinsen verlangt werden, was von den Schuldner:innen als „Wucherzinsen“ wahrgenommen wurde.

In dieser Zeit entstanden Stereotype von „gierigen Juden/Jüdinnen“. Es entwickelte sich das Zunftwesen, das Nicht-Christ:innen von handwerklichen Berufen ausschloss. Für Juden/Jüdinnen blieben nur noch sehr spezifische Handwerkstätigkeiten und der Geldverleih als Einnahmequelle. Ihnen wurde verboten, Waffen zu tragen und bestimmte Ämter auszuführen. Jüdisches Kapital geriet vermehrt in Konflikt mit allen Klassen der Gesellschaft. Es folgte eine Periode grausamster Verfolgungen und blutiger Aufstände.

Die Hetze gegen Juden/Jüdinnen wurde häufig von den Feudalherr:innen selbst initiiert, da diese die Hauptabnehmer:innen der Kredite waren. Adelige und Kleriker waren von Schulden geplagt und teilweise nicht mehr zahlungsfähig. Daher kam ihnen die Vertreibung teilweise sogar gelegen. Von der Kirche wurde die Hetze gegenüber Juden/Jüdinnen legitimiert. Sie wurden als „Mörder:innen Christi“ bezeichnet und als Verräter:innen und Verdammte verleumdet. Mit Beginn der Kreuzzüge kam es in Mitteleuropa auch zu den ersten großen Pogromen, die sich dann in schlimmer Regelmäßigkeit wiederholten. Beim Kreuzzugwahn wurden auch Juden/Jüdinnen zum Teil der Feindeswelt. Mythen über Brunnenvergiftungen, „teuflische“ Rituale und Kinderopfer wurden ausgeschmückt und verbreitet.

Gleichzeitig bestand eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Herrschenden und Juden/Jüdinnen. Die Zentralgewalten benötigten die Kredite zur Finanzierung ihrer Herrschaft. Daher wurden Erklärungen erlassen, die Juden und Jüdinnen unter besonderen Schutz stellten. Solche Schutzprivilegien wurden beispielsweise von den Königen Englands, Frankreichs und vom deutschen Kaiser erlassen. Sie drohten hohe Strafen für Gewalt gegen Juden und Jüdinnen an. Auf der anderen Seite durften sich Juden/Jüdinnen nicht selbst verteidigen und mussten für den Schutz hohe Steuern zahlen.

Die Hetze gegenüber Juden und Jüdinnen wird teilweise von den Herrschenden entfacht und Pogrome werden entfesselt. Auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit bieten diese zeitweise aber auch Schutz. Der mittelalterliche Antijudaismus geht also nicht bis hin zur Forderung der Vernichtung von Juden/Jüdinnen und ist geprägt von religiösen Argumentationen.

Mit dem Aufstreben des Kapitalismus ändert sich die gesamte gesellschaftliche Situation und damit die gesellschaftliche Stellung von Juden und Jüdinnen. Der Hass gegen sie entwickelt eine neue Qualität – den modernen Antisemitismus.

Der bisher vorherrschende christliche Antijudaismus, der auf kulturell-religiöser Tradition aufbaut, ist nicht gleichzusetzen mit dieser neuen Form, die sich mit dem Kapitalismus entwickelt. Das verbindende Element der beiden Formen des Antijudaismus bzw. Antisemitismus besteht darin, dass beide als Ersatzaufstände gegen die jeweils bestehende Herrschaftsform begriffen werden können. Der Wunsch der Unterdrückten, gegen die Unterdrückung aufzubegehren, wird nicht gegen die Herrschenden gerichtet, sondern auf Juden und Jüdinnen projiziert. Das trennende Moment liegt in der Art der Projektion. Im christlichen Antijudaismus wird auf Juden/Jüdinnen die Verkörperung des Teufels projiziert. Sie werden als etwas Teuflisches, in diesem Sinne Antichristliches, dargestellt. Im modernen Antisemitismus werden die schädlichen Seiten des Kapitalismus auf Juden und Jüdinnen projiziert. Sie werden mit dem „raffenden Kapital“ assoziiert. Aber dazu später mehr.

Über die Ersatzaufstände werden wir in Bezug auf Mario Erdheim und die sogenannten Freudomarxist:innen auch im zweiten Teil unserer Podcastreihe noch genauer eingehen.

Zurück zu den gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten zu Beginn des Kapitalismus. Mit der Industrialisierung in Europa beginnt auch ein grundlegender Wandel der bestehenden Klassengesellschaft. Feudale Strukturen sterben ab und neue Klassen entwickeln sich: die Kapitalist:innenklasse und das Proletariat.

Kleine Handwerker:innen werden durch die industrielle Produktion verdrängt. Sie können mit der Konkurrenz durch die Massenfertigung nicht mithalten. Bauern und Bäuerinnen werden von ihrem Land vertrieben und ihres Eigentums beraubt, das zunehmend zentralisiert wird. Diese Entwicklung wird als Bestandteil der ursprünglichen Akkumulation bezeichnet.

Die Bevölkerung wird ihrer Mittel zum Lebensunterhalt beraubt. Menschen verlieren ihre Produktionsmittel. Sie werden von ihrer Subsistenzwirtschaft losgerissen und müssen als freie Proletarier:innen ihre Arbeitskraft in den Fabriken verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Es kommt zu einer Migrationsbewegung vom Land in die Städte, aber auch zur Auswanderung. Die allgemeine Auswanderungsbewegung verbindet sich mit der jüdischen. Denn auch für Juden/Jüdinnen hat die Auflösung feudaler Strukturen weitreichende Folgen. Diese waren – wie wir vorher gehört haben – bisher hauptsächlich im Handel, Kreditwesen oder im spezialisierten Handwerk tätig.

Die zunehmende Bedeutung von Fernhandel und die Entwicklung der europäischen Hafenstädte zu zentralen Umschlagplätzen führt zur Entstehung einer einheimischen Handelsbourgeoisie. Auch erfordert die neue kapitalistische Produktionsweise andere Formen der Finanzierung. In Italien entsteht im 13. Jahrhundert das Bankenwesen, das sich nach ganz Europa ausweitet. Auch im deutschsprachigen Raum tritt mit den Fuggern eine mächtige Bankiersfamilie auf.

Diese Entwicklung stellt eine Bedrohung der Lebensgrundlage und eine zunehmende Konkurrenz für jüdische Kaufleute und Geldverleiher:innen dar. Ihre besondere Rolle in der Gesellschaft beginnt sich zunehmend aufzulösen. Sie integrieren sich in die sich entwickelnden Klassen. Einige Juden und Jüdinnen, die es geschafft haben, eigenen Reichtum anzuhäufen, schaffen es – durch den Erwerb von Produktionsmitteln –, in der Kapitalist:innenklasse aufzugehen. Sie bleiben Kaufleute oder werden zu Industriellen in den großen Industrie- und Handelszentren. Juden und Jüdinnen, die in Folge dieser Entwicklung ihre Lebensgrundlage verlieren oder auch schon vorher verarmt waren, sind gezwungen, gegen Lohn in den Fabriken zu arbeiten. Sie werden Teil der Arbeiter:innenklasse und schuften vor allem in der Konsumgüterindustrie.

Diese Entwicklung läuft keineswegs einheitlich in Europa ab. Während in Westeuropa die Industrialisierung schnell voranschreitet und sich Juden und Jüdinnen in die neue Klassenstruktur einfügen, läuft in Osteuropa die Entwicklung des Kapitalismus stockend. Juden und Jüdinnen finden keinen neuen Platz und verarmen. Gab es zunächst noch eine Migrationsbewegung Richtung Osten, da hier noch länger feudale Strukturen herrschten, führt der wachsende Antisemitismus zu einer Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Osteuropa. Viele wandern nach Westeuropa oder in die noch junge USA aus.

Der aus dem Mittelalter kommende Antijudaismus verbindet sich mit der Krise des Feudalsystems. Der Übergang zum Kapitalismus bringt Hunger, Verarmung und Elend mit sich. Juden/Jüdinnen werden verstärkt zu Sündenböcken für die Krisen der Zeit. Es werden Ursachen für das allgemeine Elend gesucht und in stereotypen Zuschreibungen zu Juden und Jüdinnen gefunden. Diese seien „gierig“ und „beuten das Volk aus“. Es kommt zu schlimmen Pogromen und Verfolgungen. Juden und Jüdinnen werden gezwungen, in Ghettos zu leben und charakteristische Kleidung zu tragen.

Doch woher kommt der neue Antisemitismus? Und worin besteht die neue Qualität des Hasses gegen Juden und Jüdinnen?

Im Vergleich zum Feudalismus ist das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus sehr viel schwieriger zu verstehen. Die mittelalterliche Gesellschaft beruht hauptsächlich auf der Ausbeutung der Bäuer:innen sowie der Abgaben an den Feudalherren. Bäuer:innen bewirtschaften das Land. Das daraus hervorgebrachte Produkt dient zum einen Teil der eigenen Reproduktion. Es wird hauptsächlich selbst konsumiert und ein kleiner Teil gegen andere Dinge (wie Kleidung etc.) getauscht. Ein anderer Teil muss als Grundrente – zunächst als Teil des hergestellten Produkts, später in Form von Geld – an den/die Grundherr:in abgegeben werden.

Dieses Verhältnis wird religiös verschleiert und somit politisch legitimiert. Die feudale Ordnung erscheint als natürlich und göttlich. Der Mensch ist von Natur aus ungleich. Ungleichheit erscheint daher auch als natürlich und gerecht. Trotz dieser religiösen Legitimierung ist das feudale Ausbeutungsverhältnis leichter zu begreifen als das kapitalistische. Einer besitzt Land, der andere muss Abgaben leisten, um dieses bewirtschaften zu dürfen und den Schutz des Lehnsherren zu genießen.

Im Kapitalismus ist alles etwas komplizierter, denn hier ist die Verschleierung des Ausbeutungsverhältnisses eine spezielle. Menschen verschiedener Klassen erscheinen zunächst frei und gleichberechtigt. Arbeiter:innen verkaufen scheinbar freiwillig ihre Arbeitskraft gegen einen scheinbar „gerechten Lohn“. Es besteht aber dennoch ein Ausbeutungsverhältnis. Arbeiter:innen werden nicht durch Androhung körperlicher Gewalt zur Arbeit gezwungen wie beispielsweise bei Sklav:innen. Doch sehr wohl aus ihrer ökonomischen Not heraus. Um zu überleben, müssen sie für Kapitalist:innen schuften, die sich dann einen Teil des erschaffenen Wertes aneignen. Die Arbeiter:innen selbst bekommen nur das, was sie zur Reproduktion Ihrer Arbeitskraft brauchen.

Diese gesellschaftlich-ökonomischen Prozesse werden in der Breite nicht analysiert und das gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnis nicht erkannt. Es wird systematisch verschleiert und erscheint daher auch nicht als Ausbeutung. Das erfahrene Leid wird nicht ursächlich begriffen, bleibt aber bestehen und sucht sich Ventile.

Alle Übel der Welt werden am Geld festgemacht, also rein auf der Zirkulationssphäre begriffen und auf die Zuschreibung von Schuld heruntergebrochen. Antisemitische Propaganda kann leicht an den Alltagserfahrungen der Menschen ansetzen und findet in der Assoziation von Juden/Jüdinnen und Geldwirtschaft eine willkommene Verknüpfung.

Die Unterteilung in Gut und Böse ist ein Instrument, um komplexe und schwer begreifliche Gegebenheiten zu vereinfachen und herunterzubrechen. Dieses Mechanismus’ bedient sich auch der moderne Antisemitismus. Er gibt eine Orientierung in unveränderlich gut („das gute deutsche schaffende Kapital“) und in unveränderlich schlecht („das böse jüdische raffende Kapital“) vor. Der Kapitalismus wird also nicht als Krisen produzierendes Ausbeutungsverhältnis zwischen Klassen verstanden, sondern als grundsätzlich funktionierendes System. Wären da nicht die „gierigen jüdischen Bänker:innen“. Juden und Jüdinnen werden als gierig, hinterlistig und feige dargestellt. Im Vergleich zu den „guten Deutschen“, die loyal, stark und heimattreu seien.

Statt sich gegen das System, also gegen die Kapitalist:innenklasse, zu richten, wendet der moderne Antisemitismus die Wut und Verzweiflung über das erfahrene Leid gegen Juden und Jüdinnen. In ihnen findet das Böse die Personifizierung. Juden und Jüdinnen werden mit dem Teufel assoziiert, dessen Maske man jetzt zu kennen scheint. Ängste und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung werden durch antisemitische Stereotype auf Juden und Jüdinnen projiziert, statt sich gegen das System zu richten. Was die Möglichkeit, tatsächlich Veränderung zu erreichen, vereitelt.

Besonders anfällig für solche Erklärungsansätze sind Teile der Gesellschaft, die vom Kapitalismus profitieren, aber von Krisen und großen Monopolkonzernen bedroht werden. Also vor allem kleine Unternehmen, Selbstständige und Handwerker:innen. Sie haben Ängste, abzusteigen und ihre ökonomischen Grundlagen zu verlieren.

Doch auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse kann Antisemitismus Fuß fassen, wenn die Wut gegen die Unterdrückung sich nicht mehr gegen die herrschende Klasse richten kann. Besonders die regelmäßig wiederkehrenden Krisenzeiten des Kapitalismus und die Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, bieten daher einen besonderen Nährboden für Antisemitismus.

Zugleich kann der moderne Antisemitismus nicht ohne die Entstehung von Nationen und Nationalstaaten verstanden werden, als Ausdruck kapitalistischer Herrschaft. Dafür ein kurzer Definitionsversuch. Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Dieser Begriff der Nation ist nicht deckungsgleich mit jenem der Auslegung der Tora. Hier resultierten das gemeinsame Selbstbewusstsein und die nationale Idee aus dem Glauben. Deutlich wird diese Auffassung durch die Bezeichnung der Juden und Jüdinnen als das Volk Gottes.

Die jüdische nationale Auffassung stand mit der Herausbildung von Nationalstaaten im Widerspruch.

Begriffe wie die des doppelten Nationalismus, wie sie im liberalen Judentum des 18. und 19. Jahrhunderts prägend waren, beispielsweise bei Moses Mendelssohn, waren nicht vereinbar mit dem bürgerlichen Nationalbegriff. Juden und Jüdinnen – mit der Idee der jüdischen Nation – stellten also die Herausbildung der Nationalstaaten in Frage. Nationalismus als dominante Ideologie bürgerlicher Herrschaft hat einen vereinnahmenden Anspruch und duldet kein Nebeneinander. Eine Gleichzeitigkeit von jüdischer Nationalidee und Zugehörigkeit zur bürgerlichen Nation war also nicht möglich.

Hieraus resultierten die Projektionen von Juden und Jüdinnen als „Fremdkörper“ in der Nation. Juden und Jüdinnen wurden als „parasitäres“ Volk im sonst gesunden deutschen Volkskörper verleumdet. Die Verschwörungstheorie der sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, die die angeblichen Pläne der jüdischen Weltverschwörung formulierten, sind Ausdruck einer solchen Stellung von Juden und Jüdinnen. Einerseits im Territorium ansässig, andererseits Fremde. Antisemitismus wird hier von bürgerlichen Kräften bewusst für die eigenen Ziele eingesetzt.

Wir werden an dieser Stelle noch nicht tiefer darauf eingehen, aber bereits in der frühen sozialistischen Bewegung gab es hier einen Richtungsstreit, wie der moderne Antisemitismus zu bekämpfen sei. Eine Perspektive formulierte der jüdische Frühsozialist Moses Hess, der die Notwendigkeit der politischen Emanzipation benannte, also die Gründung eines jüdischen Staates. Die andere stammte von Karl Marx, der die Bedingungen des Endes des Antisemitismus in der sozialen Emanzipation erkannte, also in der Beseitigung des Nationalstaats mitsamt der Klassengesellschaft. Und somit auch der Basis für die falschen Projektionen. Genauer werden wir darauf in der 3. Folge dieser Podcast-Reihe eingehen.

Zu einem schrecklichen Höhepunkt des modernen Antisemitismus kam es in Europa in den 1930er Jahren, als eine massive Krise des Kapitalismus wütete und Arbeitslosigkeit und Inflation den Menschen Hunger und Armut brachten. Die Arbeiter:innenbewegung konnte die Revolution aber nicht bis zum Sturz des Kapitalismus weitertragen, den Nationalstaat samt Klassenstruktur nicht beseitigen. Mit ihrem Niedergang war auch die Möglichkeit, sich zielführend gegen die Bedrohung des Kapitalismus zu wehren, verloren.

Die reaktionäre faschistische Bewegung konnte an den real werdenden Abstiegsängsten ansetzen und baute auf der sich von der Arbeiter:innenklasse abwendenden Klasse des Kleinbürger:innentums auf, um ihre Macht auszubauen. Antisemitismus wird hier bewusst eingesetzt und hat die Funktion, verschiedene Klassen ideologisch in einer Rasse aufgehen zu lassen und die „deutsche Volksgemeinschaft“ zu konstruieren, die sich gegen „innere und äußere Feinde“ verteidigen müsse. Hier sind wir also schon bei der Verschwörungstheorie par excellence angekommen: der Erzählung über die vermeintliche jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung.

Die Konsequenz dieser Ideologie sind Pogrome, Vernichtungsphantasien und Massenmord. Der Hass gegen Juden und Jüdinnen verbindet sich mit vermeintlich wissenschaftlich und biologisch argumentierten Rassentheorien und führt zu einer vernichtenden Form des Antisemitismus. Hier zeigen sich Verbindungslinien zum Rassismus auf, auch wenn beides sicherlich nicht das Gleiche ist. Die moderne Form des Rassismus entwickelte sich im Zuge der Kolonialisierung, um die schrecklichen Gräueltaten der europäischen Kolonialmächte zu legitimieren. Es entstand die Vorstellung eines „biologisch überlegenen Herrenvolkes“, das das „natürliche Recht“ habe, andere Völker zu versklaven. Eine willkommene Legitimierung, die es den Expansionsbestrebungen des europäischen Kapitalismus erlaubte, Menschen in den Kolonien zu unterdrücken und auszubeuten.

Der moderne Antisemitismus dient zwar nicht zur Beherrschung eines Gebietes, fußt aber auf derselben Konstruktion des „weißen Herrenvolkes“.

Auch reicht die „Theorie des reinen Blutes“, welche Faschist:innen benutzen, um ihre Schreckenswerke ideologisch zu legitimieren, bis in die frühe Kolonialzeit zurück. Ferdinand und Isabella, die beiden sogenannten „katholischen König:innen“, die 1492 die gesamte Iberische Halbinsel einnahmen und damit das Ende des muslimischen al-Andalus einleiteten, zwangen alle dort lebenden Juden und Jüdinnen, zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Viele jüdische Gemeinden lebten über mehrere Jahrhunderte weiter im Verborgenen. Diese wurden Ziel grausamer Verfolgungen durch die Inquisition. Es entstanden Erzählungen über die Unterwanderung der Gesellschaft durch Juden und Jüdinnen. Es wurden Abstammungslinien untersucht, um Juden und Jüdinnen zu entlarven. Es entstand die Theorie, dass Menschen „unreinen Blutes“ niemals „echten Glauben“ erlangen können. Die Inquisition fügte dem Antijudaismus also die Verschwörungstheorie der geheimen jüdischen Bünde hinzu und ist die erste europäische Institution, die rassistisch begründete Verfolgung betrieb.

Die beiden waren übrigens später die Geldgeber:innen für Kolumbus. Sie legten also den Grundstein für die spätere spanische Weltmacht und leiteten die Zeit der Kolonialisierung ein.

Aber darauf wollen wir jetzt nicht genauer eingehen und hier erstmal zum Ende kommen.

Wenn ihr Aspekte nochmal genauer nachlesen wollt, empfehlen wir euch unser Theoriejournal „Revolutionärer Marxismus“. Die 51. Ausgabe mit dem Titel „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ war die Grundlage für unsere Folge, ebenso wie der Text „Die jüdische Frage“ von Abraham Léon.

Ansonsten freuen wir uns, wenn ihr bei der nächsten Folge wieder dabei seid. In dieser wollen wir uns die psychische Welt des Antisemitismus genauer anschauen und versuchen, diese mit einer materialistischen Anschauung zu verweben, um zu verstehen, wie sich der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen zur vernichtenden Form des Antisemitismus entwickeln konnte.




Verbote gegen Palästinasolidarität: Diktatorische Allüren im demokratischen Wolfspelz

Jan Hektik, Neue Internationale 273, Mai 2023

Solidarität mit Israel ist in Deutschland Teil der Staatsräson. Jede Person, die schon einmal mediale Berichterstattung oder Bundestagsdebatten zum Thema des palästinensischen Widerstandes mitbekommen hat, weiß genau, was das heißt. Am 15.05. ist wieder die alljährliche Nakba und wie letztes Jahr stehen die Uhren des deutschen Rechtsstaats auf Verbot.

So wurden in Berlin am 15. und 16. April zwei Demonstrationen in Solidarität mit den politischen Gefangenen in Palästina verboten. Eine weitere Kundgebung am 17. April wurde ebenfalls untersagt.

Während in Palästina der Widerstand gegen die israelische Apartheid hochkocht und sich auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht mehr kontrollieren lässt, demonstrieren gleichzeitig über 100.000 Menschen allein in Tel Aviv gegen die demokratiefeindlichen Reformen der Regierung Netanjahu auf der Straße. Eine Verbindung der Kämpfe bleibt jedoch aus – nicht zuletzt, weil die Bewegung gegen die reaktionäre Regierung selbst den Kampf für die demokratischen Rechte der Palästinenser:innen letztlich ablehnt.

Hetze und Repression

Doch hier in Deutschland, im ach so demokratischen Westen, wo man eine solche Perspektive der gemeinsamen Solidarität und der Kämpfe gegen israelische Besatzung und die weitere Beschneidung demokratischer Rechte in der Region leichter verbinden könnte, wurden Demonstrationen in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf am Wochenende von der Polizei verboten und vom Verwaltungsgericht bestätigt.

Auslöser dessen ist ein Shitstorm der Presse aufgrund eines Ausrufs auf einer Demo „Tod Israel! Tod den Juden!“ Es wird wegen Volksverhetzung gegen Unbekannt ermittelt und die Demonstrationen eine Woche später wurden verboten mit der Begründung, es sei wahrscheinlich, dass es zu weiteren volksverhetzenden Straftaten und gewaltsamen Ausschreitungen kommen könnte. Zu letzteren kam es übrigens auf erstgenannter Demo nicht.

Darüber hinaus „vergisst“ die bürgerliche Berichterstattung zu erwähnen, dass sich die Organisator:innen der Demonstration entschieden gegen reaktionäre antisemitische Parolen aussprachen. Solche müssen natürlich entschieden abgelehnt werden. Wer einmal Demonstrationen organisiert hat, weiß jedoch auch, dass Veranstalter:innen von Aktionen mit hunderten oder tausenden Teilnehmer:innen keine Verantwortung für reaktionäre Äußerungen Einzelner übernehmen können.

Doch der bürgerlichen Hetze geht es genau darum, eine solche Äußerung eines/r Unbekannten, die/der durchaus auch ein/e Provokateur:in sein kann, den Organisator:innen wie überhaupt der gesamten Palästinasolidarität in die Schuhe zu schieben. Dies läuft über die falsche und reaktionäre Gleichsetzung von Antisemitismus mit Antizionismus.

Zweierlei Maß

Hinzu kommt, dass, nebenbei, auch mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es um linke und rechte Demonstrationen geht.

Der Heßmarsch ist eine von Neonazis jährlich veranstaltete Demonstration zu Ehren und in Gedenken des NSDAP-Mitglieds Rudolf Heß, der nach dem Krieg auf Nachfrage sagte, er bereue nichts, und tatsächlich an der Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden mitgewirkt und diese politisch bis zu seinem Tod verteidigt hat. 2019 verhöhnte der Veranstalter die Opfer des NSU und sagte, dass für Rudolf Heß kein Denkmal gebaut werde, da er „kein Drogenhändler“ und „nicht schwul“ gewesen sei.

Wagt es nicht, uns diese Heuchelei als Kampf gegen Antisemitismus zu verkaufen! Wenn die absolute Mehrheit aller gegen Jüdinnen und Juden gerichteter Straftaten von weißen Nazis begangen wird, diese offen marschieren können und dann den davon Betroffenen mit der Begründung des Antisemitismus das Demonstrationsrecht genommen wird, ist das blanker Hohn. Noch widerlicher wird das Ganze, wenn man die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse mit einbezieht.

Solidarität!

Allein dieses Jahr wurden über 83 Palästinenser:innen durch IDF (Israel Defense Force) oder bewaffnete Siedlergruppierungen getötet. Das palästinensische Gebiet ist von allen Seiten eingezwängt. Die dort wohnenden Menschen leben wie in einem großen Freiluftgefängnis und sind immer wieder Angriffen seitens Israels ausgesetzt. Auch Amnesty International attestiert ihm die Klassifizierung als Apartheidstaat nach UN-Recht, weil es de facto zwei Klassen an Staatsbürger:innen gibt und die palästinensische Bevölkerung weitgehend entrechtet ist.

Die Gewalt der Unterdrücker und die der Unterdrückten sind außerdem nicht mit gleicher Elle zu messen! Aussagen wie „Tod den Juden“ sind gerade im Interesse eines fortschrittlichen Widerstandes zu verurteilen und wer sie verbreitet, muss von Palästinademos verwiesen werden. Doch wir glauben keine Sekunde, dass es dem deutschen Staat oder der Springerpresse um den Schutz des jüdischen Proletariats geht. Wir glauben keine Sekunde, dass es dem israelischen Staat um den Schutz des jüdischen Proletariats geht. Und wir glauben keine Sekunde, dass eine reaktionäre Äußerung eines/r Einzelnen einen gerechten Kampf um nationale Befreiung illegitim macht.

Wir sind solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Wir kritisieren zugleich die aktuelle Führung des Kampfes, seien es islamistische Kräfte wie die Hamas, seien es bürgerliche wie die Fatah. Aber verteidigen den Widerstand gegen alle heuchlerischen Angriffe des deutschen Staates und seiner Medien.

  • Schluss mit den Demonstrationsverboten! Schluss mit den Verboten palästinensischer Organisationen und Vereine!