8. – 12. Januar: Bauernproteste legen Land lahm

Susanne Kühn, Infomail 1241, 8. Januar 2024

Vom 8. – 12. Januar werden Tausende Bauern und Bäuerinnen mit Fahrtkolonnen, Sternfahrten zu größeren Städten und Blockaden von Autobahnzufahrten und zentralen Verkehrsknoten immer wieder Teile des Landes lahmlegen. Am 15. Januar schließt die Aktionswoche mit einer zentralen Kundgebung in Berlin, um der Ampel den Marsch zu blasen.

Den unmittelbaren Auslöser für die Proteste bildete die geplante Streichung der Subventionen beim Agrardiesel und der KfZ-Steuerbefreiung für die Landwirtschaft. Diese belaufen sich für das Jahr 2024 auf insgesamt ca. 440 bzw. 485 Millionen Euro. Für einen durchschnittlichen Betrieb würde sich die Streichung der Vergünstigungen auf 4.000 – 5.000 Euro pro Jahr belaufen bei einem durchschnittlichen Jahresgewinn von 82.000 Euro im Wirtschaftsjahr 2021/22 bzw. 115.400 Euro im Jahr 2022/23.

Damit steht sicherlich nicht „die Landwirtschaft“ auf der Kippe, wohl aber würden die Streichungen vor allem die kleineren und mittleren Betriebe treffen, da sich hinter diesem statistischen Durchschnitt ernorme Unterschiede verbergen. Natürlich machen die kleineren Betriebe weniger Gewinn, verfügen über weniger Reserven und verbrauchen mehr Sprit im Verhältnis zu ihrer Agrarfläche. Für diese landwirtschaftlichen Unternehmen stellt die Streichung der Subventionen eine erhebliche Einkommenseinsbuße dar – zumal die Steigerung der Durchschnittsgewinne landwirtschaftlicher Unternehmen in den letzten Jahren selbst Resultat eines dauerhaften Zentralisations- und Konzentrationsprozesses ist. Gab es im Jahr 2000 noch 440.000 Unternehmen im Agrarsektor, so waren es 2020 noch 260.000.

Zweifellos ist die Empörung und Wut der kleineren und mittleren Landwirt:innen über die Streichungen und die dazukommende schrittweise Abschaffung der Subventionen für den KfZ-Diesel nachvollziehbar und berechtigt. Diese kleinbürgerliche Schicht wird längst ökonomisch von einem immer unhaltbareren Agrarsystem an den Rand gedrückt, da vor allem die Interessen der großen Betriebe, vor allem aber der Agrarindustrie und Handelskonzerne im globalen Wettbewerb bedient werden. Zugleich sollte auch niemand die Protestaktionen idealisieren. Geführt werden sie von den großen Wirtschaften, die auch den Bauernverband dominieren, politisch eng an CDU/CSU hängen und an einem auf Subventionen basierenden aberwitzigen Agrarsystem. Diese sind eng verbunden mit direkten Kapitalinteressen und einer über Jahrzehnte etablierten Agrarpolitik, die die Konkurrenzfähigkeit der deutschen und europäischen Agrarproduktion sichert und für relativ günstige Preise in Supermärkten sorgt, die letztlich wiederum durch Massensteuern finanziert werden.

In den letzten Wochen ging der Bauernverband zudem ein enges Bündnis mit dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), der einen großen Teil des Transportgewerbes vertritt, ein. Die Aktionswoche vom 8. – 12. Januar wird von beiden Verbänden durchgeführt. Während der Bauernverband weiter die Streichung aller Subventionskürzungen will, fordern die Transportunternehmen „Geld für intakte Straßen und Brücken, Lkw-Stellplätze und verlässliche Förderprogramme für einen klimafreundlichen Straßengüterverkehr“.

Am rechten Rand der Proteste machen sich zudem Verbände wie die sog. „Freien Bauern“ und andere reaktionäre kleinbürgerliche Standesvereinigungen breit. Die AfD und auch Nazi-Organisationen wie die Freien Sachsen suchen die Verbindung zu diesem „Volkswiderstand“ und mischen den Ruf nach billigem Diesel mit dem nach noch billigerem Blut und Boden.

Aktionen gehen weiter

Angesichts der Aktionen des Bauernverbandes im Dezember nahm die Ampel-Koalition die Kürzung der KfZ-Steuerbefreiung vollständig zurück. Die Begünstigung für den KfZ-Diesel soll 2024 nur zu 40 % gekürzt und dann schrittweise bis 2026 abgeschafft werden. Das lehnt der Bauernverband ab, der an der Spitze der Proteste steht und bundesweit die weitaus größte Interessenvertretung bildet. Auch wenn die Bundesregierung jammert, dass die geplanten Blockaden und Sternfahrten „unverhältnismäßig“ seien, so sieht der Bauernverband die Chance, sämtliche Forderungen durchzusetzen.

Gemeinsam mit BGL und unterstützt von CDU, CSU und Freien Wählern wollen sie die Ampel-Koalition weiter vor sich hertreiben. Auch wenn der Bauernverband gebetsmühlenartig betont, dass die Proteste „unpolitisch“ wären, so befindet er sich faktisch im Bündnis mit den konservativen Oppositionsparteien.

Diese Kräfte haben (noch) kein Interesse an einem Bündnis mit den rechten Bauernverbänden wie den sog. Freien Bauern oder Teilen von „Landwirtschaft schafft Verbindung“. Daher distanzieren sich der Bauernverband und seine konservativen Verbündeten auch von den rechten Protestaktionen wie der Blockade von Habeck in Schleswig-Holstein, denn schließlich wollen CDU und CSU nicht das System „stürzen“, sondern übernehmen.

Der Bauernverband hofft so, außerdem seine eigene Vormachtstellung unter der Bäuer:innenschaft wieder zu festigen, die in den letzten Jahrzehnten eigentlich schwächer wurde. Phasenweise hatten die Grünen Einfluss gewonnen; die können zurückgedrängt werden. Zugleich machen sich immer wieder auch die inneren Gegensätze unter „den“ Bäuer:innen bemerkbar. Diese reicht schließlich von großen Agrarunternehmen bis hin zu noch relativ kleinen Landwirt:innen, ist also klassenmäßig durchaus heterogen. Darüber hinaus unterminieren auch Interessengegensätze wie z. B. zwischen konventionellen und Öko-Landwirtschaften die „Einheit“ des Verbandes.

Der Angriff auf die Agrarsubventionen dient daher auch als Mittel, eine Einheit herzustellen, die es bei früheren Protesten, z. B. gegen die EU-Glyphosat-Verordnung nicht gab, als Bauern und Bäuerinnen auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden standen. Indirekte Steuern und Agrarsubventionen stellen hingegen traditionell ein Mittel dar, eine Einheit zwischen klassenmäßig heterogenen Kräften wie Kleinunternehmen und Agrarkonzernen herzustellen. Höhere Steuern und Belastungen seien schließlich ein Angriff auf alle Unternehmen. Wie die Subventionen finanziert werden, wird dabei bewusst außen vorgelassen. Dabei liegt gerade hier der Hase im Pfeffer, denn unter den aktuellen Bedingungen müssen diese natürlich aus Steuermitteln finanziert werden – und diese kommen nach Jahrzehnten der Umverteilung der Steuerlast auf die Lohnabhängigen natürlich vor allem von diesen.

Daher müsste eine linke Haltung zu den Forderungen der Landwirt:innen folgendermaßen aussehen: Nein zu den Subventionsstreichungen, da diese tatsächlich die Existenz der kleineren Betriebe bedrohen und massive Einkommenseinbußen bedeuten. Diese Maßnahmen müssten aber durch eine progressive Besteuerung der Unternehmensgewinne – auch im Agrarsektor – finanziert werden. So wäre es möglich, einen Keil zwischen die verschiedenen Schichten der Landwirt:innen zu treiben und die Vormachtstellung der Großbäuer:innen und des Agrarkapitals anzugreifen.

Die Grenzen der kapitalistischen Agrarbranche

Die aktuelle Protestbewegung reflektiert auch eine tiefe Krise des bestehenden landwirtschaftlichen Systems in Deutschland und der EU, der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Die Subventionen oder Vergünstigungen in diesem Sektor bilden mittlerweile einen zentralen Bestandteil der Einkommen landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland (und der gesamten EU). So zogen die landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe in Deutschland ungefähr die Hälfte ihres Einkommens aus Direktzahlungen und anderen Zuschüssen.

Auch wenn in bestimmten Sektoren kleiner Landwirt:innen, z. B. bei einzelnen Nebenerwerbsbäuer:innen das sogar 90 % ausmachen kann, so werden die Großbetriebe (z. B. in Ostdeutschland) sowie Agrarholdings (also große Investor:innen) von diesem System überdurchschnittlich begünstigt.

Dieses Subventionssystem ist selbst ein Resultat der inneren Tendenzen der kapitalistischen Landwirtschaft. Die Preise für zentrale Produkte (z. B. Getreide, Futtermittel, Rinder- und Schweinefleisch, Milchprodukte) werden auf dem Weltmarkt bestimmt. Die Agrarproduktion selbst ist natürlich auch auf ihn ausgerichtet.

Um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher oder europäischer Produzent:innen zu sichern, pumpen die EU und Deutschland seit Jahren Milliarden an Subventionen in diesen Bereich. Solcherart (und aufgrund der höheren Produktivität einer industrialisierten Landwirtschaft) kann der europäische Agrarexport halbkoloniale Konkurrenz verdrängen und sogar deren Inlandsmärkte erobern.

Einen eng damit verbunden Bestimmungsfaktor der gesamten landwirtschaftlichen Produktion bilden die Lieferant:innen von Maschinen, Saatgut, Düngemitteln etc. sowie die Abnehmer:innen (große Agrarkonzerne und Handelsunternehmen). Im Unterschied zur Bäuer:innenschaft sind diese hochgradig konzentriert, bestimmen wenige Konzernen nationale und internationale Märkte, können also den landwirtschaftlichen Produzent:innen Preise diktieren.

Ohne Subventionen würden die Bauern und Bäuerinnen entweder nicht mehr erhalten als diese Preise. Viele Betriebe wären längst pleite, die Zentralisation in der Landwirtschaft noch viel weiter fortgeschritten. Oder sie wären in der Lage, höhere Preise zu verlangen, was massiv steigende Nahrungsmittelpreise zur Folge hätte, die von der Masse der lohnabhängigen Konsument:innen zu bezahlen wären. Um beides zu verhindern, wirken die Agrarsubventionen wie ein Reparaturbetrieb, der ständig nach mehr Subventionen, mehr Stützen schreit, weil für ein im Grunde aberwitziges System eigentlich immer mehr Subventionen nötig werden. Hinzu kommt, dass relativ geringe Lebensmittelpreise auch den Wert der Ware Arbeitskraft senken, so dass sich auch Lohnabhängige in prekären Verhältnisse noch über Wasser halten können. Das heißt, das bestehende Agrarsystem erleichtert auch die Umsetzung und Durchsetzung neoliberaler Arbeitsmarktreformen.

Die aktuellen Proteste bringen auch einen Unmut breiter Schichten der Landbevölkerung mit diesem System zum Ausdruck, das immer schwerer zu finanzieren ist und den Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft zwar bremst, keinesfalls aber aufhält. Zweitens steht dieses System jeder einigermaßen vernünftigen Reorganisation der Landwirtschaft im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit direkt entgegen.

Es ist daher eine gewisse Paradoxie, dass bei den aktuellen Protesten gerade solche Kräfte an der Spitze stehen – CDU/CSU, aber auch der Deutsche Bauernverband –, die über Jahrzehnte dieses milliardenschwere System auf- und ausgebaut und gegen jede Kritik verteidigt haben; ein System, das vor allem dem Agrarkapital sowie den großen Konzernen im Handel Milliardenprofite sichert.

Innerhalb der Bäuerinnen:schaft bildet sich schon länger ein kleinbürgerlicher Widerstand gegen diese Politik des Bauernverbandes. Mit der Expansion der ökologischen Landwirtschaft profitierten einige Zeit die Grünen davon. Doch die Illusionen in deren „andere“ Politik sind bei vielen verblasst, was auch erklärt, warum in der gegenwärtigen Situation Habeck und die Grünen und nicht Lindner und die FDP zur ersten Zielscheibe des Hasses gerieten. Der andere Grund liegt darin, dass seit etlichen Jahren auch eine reaktionäre, kleinbürgerliche, rechte und nationalistische Kritik am Bauernverband stärker geworden ist. Diese lehnt Subventionen grundsätzlich ab und tritt für eine „echte“, das heißt kleinbäuerliche Marktwirtschaft ein, will zurück zur Einheit von Hof, Land und Eigentum. Um die „ehrliche“ deutsche Landwirtschaft zu retten, soll sie von der internationalen Konkurrenz abgeschottet werden. Es sind diese utopischen und gleichzeitig reaktionären Tendenzen, die von den Rechten, von AfD oder auch Faschist:innen aufgegriffen werden. Darin sind sie nicht erfolglos, obwohl sie selbst kein auch nur einigermaßen schlüssiges Konzept vorzuweisen haben. Die AfD fordert sogar die Streichung aller Subventionen in der Landwirtschaft, was, würde es auf einmal umgesetzt, den Ruin Zehntausender Bäuerinnen und Bauern bedeuten würde. Doch wie andere rechte und rechtspopulistische Bewegungen zeigen, wird der Verweis auf die innere Unvernunft solcher Vorschläge, auf ihren aberwitzigen und zutiefst irrationalen Charakter nicht verhindern, dass Kleinbürger:innen solchen Rattenfänger:innen auf den Leim gehen.

Arbeiter:innenklasse

Ein entscheidender Grund, warum die gesamte Krise des Agrarsektors von bürgerlichen Kräften bestimmt und als deren einzige scheinradikale Alternative rechte bis faschistische Gruppierungen auf den Plan treten, liegt darin, dass die Arbeiter:innenbewegung selbst über keine programmatische und politische Antwort verfügt. Sie kann so auch nicht als eigenständige Kraft in Erscheinung treten, zumal sie auch bei den Kämpfen der letzten Jahre über rein ökonomische Forderungen kaum hinauskam.

Natürlich sollten sämtliche Subventionsstreichungen unmittelbar rückgängig gemacht werden. Aber das löst die grundlegenden Probleme überhaupt nicht. Eine Überwindung der Krise des Agrarsektors und eine Neustrukturierung im Interesse der Versorgung und ökologischer Notwendigkeiten setzt voraus, die Eigentumsfrage anzugehen. Das schließt die Enteignung von Grund und Boden sowie der Agrarindustrie und der Handelskonzerne ein.

Auf dieser Basis könnte die Produktion unter Einbeziehung von Ausschüssen der Bauern und Bäuerinnen und Landarbeiter:innen gemäß der Bedürfnisse der Masse der Konsument:innen und ökologischer Nachhaltigkeit reorganisiert werden – und zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene. Dies müsste natürlich nicht nur die Frage einschließen, welche Landwirtschaftsprodukte wie produziert, sondern auch, wie die Maschinen und Transportsysteme entwickelt werden sollen.

Um die Preise für Agrarprodukte zu regulieren, braucht es Preiskontrollkomitees, die ländliche Produzent:innen und städtische Konsument:innen direkt verbinden. Damit höhere Agrarpreise nicht auf Kosten der Lohnabhängigen gehen, müssen Löhne und Einkommen automatisch an diese Preissteigerungen angepasst werden.

Die Arbeiter:innenklasse kann und muss den bäuerlichen Produzent:innen zwar einen Plan für eine vernünftige Reorganisation der Landwirtschaft anbieten, sie kann und muss sie gegen den Druck der Agrarkonzerne verteidigen, aber sie kann ihnen nicht die Beibehaltung des bäuerlichen „unabhängigen“ Betriebs versprechen. Dieser ist selbst auf dem Boden des aktuellen Kapitalismus längst zu einer Fiktion geraten. Die Lösung des Problems besteht nicht in der Rückkehr zu einem „goldenen“ Zeitalter der bäuerlichen Wirtschaft, das es ohnedies nie gab, sondern in der gemeinwirtschaftlichen, demokratisch geplanten Produktion auch in der Landwirtschaft. Dabei können Genoss:innenschaften als Übergangsform vom individuellen Privat- zum Gemeineigentum nützlich sein. Sie sollten daher von der Arbeiter:innenklasse unterstützt werden.

Ein solches Programm würde zwar sicher nicht alle Landwirt:innen, also eine ganze (klein-)bürgerliche Schicht gewinnen. Es wäre aber geeignet, einen Keil zwischen die Bäuer:innenschaft und das Agrarkapital zu treiben und zwischen die reaktionären und die fortschrittlichen Teilen der Landbevölkerung.




Gezeter um die Schuldenbremse: Auswirkungen und Hintergründe

Jürgen Roth, Infomail 1238, 12. Dezember 2023

Exemplarisch für die aktuelle Argumentation des Lagers der Hardliner nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil (siehe dazu: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/12/01/bundesverfassungsgericht-bremst-haushalt-aus-fiskalkrise-droht/) stellen sich die FDP-Spitzen gegen die Forderungen von SPD-Chefin Saskia Esken und des DGB, die Schuldenbremse auch für 2024 wegen noch nicht ausgestandener Energiekrise auszusetzen. „Wir werden jetzt gezwungen, mit weniger öffentlichen Subventionen die Wirtschaft zu modernisieren“, tönt ihr Finanzminister und Bundesvorsitzender Christian Lindner. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sekundiert, die Ausgabenwünsche der SPD begründeten sicher keine Notlage. Selbst im Lager der Wirtschaftsweisen bleibt jedoch die Schuldenbremse umstritten. Was sind die tieferen Hintergründe dieser Debatte? Welche Position sollte die Arbeiter:innenklasse beziehen?

Auswirkungen

60 Milliarden Euro werden bis 2027 dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) fehlen. Darunter fallen Projekte wie die Ansiedlung der Halbleiterchipfabriken von Intel bzw. TSCM in Magdeburg bzw. Dresden, aber auch die Wärmeversorgung der Kommunen und der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft und Zusagen für Anschubfinanzierungen auf dem Klimagipfel. Klima- und Wirtschaftsminister Habeck (Bündnis 90/Grüne) verweist auf den irreparablen Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen internationale Wettbewerbsfähigkeit. Unter Verweis auf die Subventionspolitik Großbritanniens und den Inflation Reduction Act der USA spitzt er zu, die Vorhaben im KTF beträfen den „wirtschaftspolitischen Kern“ der BRD.

Da auch der Arbeitsmarkt Schleifspuren der schwachen Konjunktur zeigt, wächst auch der Bedarf an Arbeitsförderungsmaßnahmen. Im Berliner Abgeordnetenhaus warnt die Linksfraktion vor einer Neuauflage der Spar- und Privatisierungsorgien, wie sie kurz nach der Jahrtausendwende allerdings von der eigenen Partei mitgetragen wurden.

Doch woher die Mittel nehmen? Über Kürzungen an anderer Stelle im Etat, wie es FDP und Union fordern? Über Sondervermögen, Steuererhöhungen, Aussetzung oder gänzliche Abschaffung der Schuldenbremse? Um diese Punkte kreist die ganze Diskussion unter den staatstragenden Parteien.

Bundeshaushalt 2024: Attacken und Rettungsversuche

In der Bundestagsaussprache nach der Regierungserklärung des Kanzlers am 28. November wurde eines deutlich: Ein weiteres Aussetzen der Schuldenbremse über 2023 hinaus wird es mit Christenunion und AfD nicht geben. Das BVerfG hatte die nachträgliche Umwidmung von Sondervermögen, eigentlich Schattenhaushalten, ebenso untersagt wie die Mitnahme von nicht verbrauchten Haushaltsposten in folgenden Jahren. Die roten, nicht wählbaren Roben in Karlsruhe hatten sich damit wieder einmal als Blockierer:innen wie seinerzeit beim Berliner Mietendeckel betätigt, als Prellbock für jede ernsthafte Reform, geschweige denn Umwälzung. Das sei allen Linken ins Stammbuch geschrieben, die sich die Transformation zum Sozialismus auf schiedlich-friedlichem parlamentarischem Weg vorstellen!

CDU-Chef Merz setzte sich vehement gegen eine Erhöhung des Bürgergelds ab 1. Januar 2024 und für weitere Einschnitte im größten Posten, dem Sozialetat, ein. Dies war auch ein Wink mit dem Zaunpfahl an seine Parteikollegen im Ministerpräsidentenamt Berlins, Sachsens, Sachsen-Anhalts und Schleswig-Holsteins, die bemängelten, die Schuldenregel verhindere notwendige Investitionen. Auf der gleichen Klaviatur wie Habeck spielten die Fraktionsvorsitzenden von Grünen und SPD, während Linksfraktionschef – mittlerweile Chef ohne Fraktion – Bartsch einen konsequenten Abschied von der Schuldenbremse, aber auch mehr Einnahmen durch „gerechte Steuerpolitik“ forderte.

CSU-Chef Söder steht Merz und der FDP vehement zur Seite in puncto Bürgergelderhöhung und setzt noch einen drauf: Neu ankommende Ukraineflüchtlinge sollen kein Bürgergeld mehr bekommen und andere Geflüchtete erst nach 5 Jahren statt bisher 18 Monaten Anspruch auf Sozialleistungen erhalten.

Eigentlich sollte am 1. Dezember der nächste Haushalt verabschiedet werden. Nun mussten aber erste Anpassungsmaßnahmen für 2023 her. Das betraf Kredite aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) zur Finanzierung der Energiepreisbremse, wodurch die Nettokreditaufnahme des Bundes von 45,6 auf 70,6 Milliarden Euro stieg. Folglich wurde dies mit einer „außergewöhnlichen Notlage“ wie schon in den vergangenen 3 Jahren geltend gemacht. Schwieriger als die Umbuchung dieser längst ausgegebenen Finanzen wird die Aufstellung eines verfassungskonformen Bundesetats für 2024. Laut Lindner fehlen 17 Milliarden Euro plus 13 aus dem KTF. Er kündigte bereits an, die Strom- und Gaspreisbremsen mit Jahreswechsel statt erst Ende März 2024 auslaufen zu lassen. Weitere Möglichkeiten böten zusätzliche Kürzungen öffentlicher sowie Stärkung privater Investitionen und die Erhöhung der Kreditvergabe der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Analyst:innen der Berenberg-Bank rechnen mit einem Loch von insgesamt 130 Milliarden Euro für die Jahre 2024 – 2027.

Mittelfristig bleiben der Bundesregierung 5 Möglichkeiten, um aus der Malaise ständiger Etatnachbesserungen zu entfliehen. Erstens könnte die Schuldenbremse abgeschafft oder reformiert werden, wofür es bei Grünen, SPD und Linkspartei eine Mehrheit gibt. Sonst wäre nächstes Jahr nur eine Neuverschuldung von 15 Milliarden Euro erlaubt. Da FDP und Union dagegen sind, scheitert aber die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung. Die 2. Möglichkeit bestände in Ausgabenkürzungen, die dritte in Steuererhöhungen, die vierte in neuen Sondervermögen, die zudem noch dieses Jahr und wohl ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden müssten. Wahrscheinlich ist, dass sich die Koalition auf moderate Ausgabenkürzungen festlegen wird, z. B. bei öffentlichen Investitionen (Bahnausbau). Fünftens bliebe die 5. Ausrufung eines Notstandes in Folge. Es ist zu erwarten, dass sich der Konflikt innerhalb wie außerhalb der Ampelparteien genau darum zuspitzen wird. Die Berenberg-Bank rechnet mit einem Deal mit der Opposition: Die Union werde wohl einer Reform der Schuldenregel zustimmen im Gegenzug für weitere Verschärfungen des Asylrechts.

Die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Schuldenbremse?

Vielen gilt sie als Garantin solider Ausgabenpolitik, darunter Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD)! Anderen wie der Deutschen Bank (!) erscheint sie bei der derzeitigen schwachen Konjunktur neben Steuererhöhungen als Wachstumsbremse. Die Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, die Argumente ihrer Kritiker:innen aufmerksam zu studieren. Sie wird dann feststellen, dass die allermeisten „Reformer:innen“ gar keine Einwände hegen, wenn es um die Ablehnung von Erhöhung oder auch nur Stabilisierung „konsumtiver“ Ausgaben z. B. für Soziales geht. Das eint sie mit den Befürworter:innen der Schuldenbremse mit dem Unterschied, dass Letztere gerne mit ihr als Totschlagargument gegen aufkeimende Kritik an Sozialkürzungen zu Felde ziehen.

Stellvertretend für die Riege der Reformer:innen verweist Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, denn auch auf den Nutzen von Staatsausgaben für Investitionen in „die“ Wirtschaft. Ob der Bau von Schulen, Investitionen in Lehr- und Klinikpersonal dazugehören, darüber streitet sich selbst diese Riege, während neue Autobahnkilometer zweifellos gut angelegt seien. Kinder, Kranke und Klima müssen sich nämlich als Wachstumsressourcen erweisen, sprich neue Einnahmen generieren oder/und Kosten sparen. Gegner:innen wie die Freie Porschefahrer:innenpartei FDP bringen das Argument vor, nur Privatinvestitionen könnten Technologien entwickeln, welche sich dann auf dem Markt durchsetzten. Das Problem für den nationalen Gesamtkapitalisten Staat besteht allerdings darin, dass für die klugen, smarten Privatunternehmen in der gegenwärtigen Phase industriellen und technologischen globalen Wettbewerbs die Risiken viel zu groß sind. In dieser allen Kontrahent:innen heiligen Wirtschaftsordnung ist der Erfolg insbesondere kreditfinanzierter Investitionen ebenso stets unsicher wie der der Sparpolitik – staatlicher wie privater! Verschärft wird das Dilemma, für Marxist:innen aus dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate resultierend, noch dadurch, dass die Großmächte den mit Unsicherheiten en masse behafteten Job der kreditfinanzierten Schaffung von Wachstumsmärkten in Konkurrenz gegeneinander verfolgen. Also: Kein Vertrauen in linksbürgerliche Kritiker:innen der Schuldenbremse einschließlich linker Reformist:innen wie DIE LINKE!

Konsequente Kritiker:innen?

Am Rande sei angemerkt, dass die ganze Schuldendebatte die Tatsache der erstmals laut Creditreform seit 2019 in der BRD wieder zunehmenden Privatverschuldung ebenso ignoriert wie die wachsende Zahl sog. Zombiefirmen, deren Kreditneuaufnahmen nur dazu dienen, alte Schulden zu begleichen, ohne dass diese Umschuldungen sie wieder in die Gewinnzone führen können.

Es gereicht Joachim Rock, Abteilungsleiter Sozial- und Europapolitik beim Paritätischen Gesamtverband zur Ehre, dass er unbeirrt von der Engstirnigkeit der Verfechter:innen klassischer wie „alternativer“ keynesianischer Wirtschaftspolitik die Erhöhung des Bürgergelds verteidigt. Er weist nach, dass die Regelsätze für laufendes und kommendes Jahr noch auf Einkommens- und Verbrauchsstichproben aus dem Jahr 2018 stammen – vor der Inflation also! Er wehrt sich auch gegen die Wiedereinführung des 2010 gestrichenen Lohnabstandsgebotes, mit dem stets die Senkung von Sozialleistungen, nicht aber Lohnerhöhungen gerechtfertigt werden sollen. Zu Recht verteidigt er die Erhöhung des Mindestlohns und den Ausbau des Wohngeldes wie die Verdreifachung der Zahl von Anspruchsberechtigten darauf. Es ist völlig richtig, soziale Errungenschaften zu verteidigen, ohne auch nur der Logik der wirtschaftspolitischen Debatte im bürgerlichen Mainstream ein Jota an Zugeständnissen zu gewähren.

Das möchte auch Elsa Egerer tun, ihres Zeichens Dozentin an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz mit Schwerpunkten Plurale Ökonomik und nachhaltiger Gestaltung von Geld- und Finanzmärkten, was immer diese begriffliche Geschwulst auch bedeuten mag. Sie verortet die 2009 eingeführte Schuldenbremse, die die Neuverschuldung des Bundes auf 0,35 % des BIP begrenzt, als Folge der expansiven Fiskalpolitik, mittels der die damalige globale Finanzkrise bewältigt worden sei. Doch in der Folge verteidigt Frau Egerer zwar im Unterschied zu oben genannten Streithähnen und -hennen auch konsumtive Ausgaben, jedoch mit aus der Mottenkiste des Keynesianismus entlehnter Moderner Monetärtheorie:

„… beruht die Schuldenbremse auf einer einseitigen und fehlgeleiteten ökonomischen Lehre […] der ökonomische Sachzwang, der die Schuldenbremse vermeintlich erfordert, existiert nicht. […] Haushaltsregeln sind keine ökonomischen Faktizitäten, sondern das Ergebnis des politischen Willens. […] Geld hingegen muss entgegen der dominanten Erzählung nicht erwirtschaftet werden, sondern entsteht, wenn Kredite vergeben werden. Schuld ist in unserem System die Voraussetzung für Geld.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 25./26. November 2023, S. 3)

Die „Theorie“ dieser ökonomischen Märchentante würde schon beim Monopolyspiel scheitern, zur Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise liefert sie erst recht nur Verdunklung.

Lasse Thiele (ND, 1. Dezember 2023, S. 8) ist beizupflichten, wenn er schreibt: „Natürlich muss die Schuldenbremse weg. […] Doch nicht nur die bisweilen sozialpartnerschaftliche Rhetorik der neuen konservativen Kritiker*innen gibt Anlass zum Misstrauen. Auch Mitte-links-Kritik an der Schuldenbremse wirkt wenig emanzipiert von Kapitalinteressen, hängt meist altem keynesianischen Denken an und vertritt oft platten Standortnationalismus.“ Er plädiert für größere politische Tabubrüche: Vermögens- und Erbschaftssteuern, Abbau fossiler Investitionen.

Auch seinen weiteren Ausführungen ist vollständig beizupflichten: „Das Geld zur Beseitigung sozialer und ökologischer Verwerfungen von den Profiteur*innen einzutreiben, ist besser, als es verzinst von ihnen zu leihen. Anders als der Diskurs derzeit suggeriert, würden sich Verteilungsfragen selbst mit einer aufgehobenen Schuldenbremse nicht erübrigen. Nicht nur, wie Spielräume geschaffen werden – durch Schulden, Steuererhöhungen oder Subventionsabbau –, sondern auch, wofür sie genutzt werden und wem sie zugutekommen, bleibt eine Frage politischer Kämpfe. […] Es bleibt richtig, sich als Linke breiten Bündnissen für die Aufhebung der Schuldenbremse anzuschließen. Doch braucht es darin auch eine eigenständige Position. Die sollte über standortnationalistische Sorge um ,unsere Wirtschaft’ hinausgehen, emanzipatorische Maßstäbe für Investitionen anlegen und nicht in der grün-kapitalistischen Wachstumslogik aufgehen, laut der man sich aus der Klimakrise bequem herausinvestieren könnte.“

Das objektive Fazit seiner Gedanken mag er jedoch nicht ziehen: Dieser Wunschzettel bedarf zu seiner dringend notwendigen Realisierung nicht des Weihnachtsmannes, sondern des gewaltsamen Sturzes und entschädigungsloser Enteignung der herrschenden Klasse und ebenso des Aufbaues einer sozialistischen Planwirtschaft!

Tanz ums goldene Kalb

Allem Gesagten fehlt ein zentraler Aspekt, der erst das Gezänk um die Schuldenbremse verständlich macht. Es ist der global entbrannte Kampf nicht nur um Wachstumspfade, sondern um die Rettung des Kapitalstocks und liquiden Vermögens und Einkommens zu seinen historischen Werten. Das übersehen auch viele sich auf den Marxismus berufende Zweifler:innen an der Gültigkeit des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und dessen immanenter Krisentendenz. Sie argumentieren, dass durch technologische Verbilligung des konstanten Kapitals die organische Zusammensetzung sinken und dadurch beschleunigte Akkumulation wieder einsetzen können. Sie ignorieren, dass dies ohne schlagartige, verheerende Entwertung des Anlagevermögens nicht zu haben sein wird. Und genau darum geht es eben auch bei der Schuldenbremse insbesondere in Zeiten, wo selbst die OECD mit alles anderem als einer „weichen Landung“ nach dem Pandemieschock und inmitten hartnäckiger Kerninflation, wachsender Verschuldung und Rezession im Euroraum und darüber hinaus rechnet.

Nachdem sich der kreditstimulierte Kasinokapitalismus zusehends seit 2008/2009 erledigt hat, droht ein Wettlauf darum, wer bzw. welche Macht zuerst sein/ihr fiktives Kapitals als realen Wert retten kann – Flucht in reale Sach- und Vermögenswerte, eben der Tanz um die Vergoldung des eigenen Kälberstalls.

Wenn die Börse in den USA bei der Quartalsmeldung über gestiegene Arbeitslosenzahlen zu einem Kursfeuerwerk abhebt, steckt dahinter die Spekulation, dass eine Rezession zu sinkenden Zinssätzen führen möge, die den Kurs der Geldanleihen in die Höhe treibt. Die Gläubiger:innen blieben dann besser im Geschäft auf Kosten des Bankrottes ihrer Konkurrent:innen und überdies kreditwürdiger und damit wachstumsträchtiger. Es geht also um ein Rattenrennen zur Verhinderung der Entwertung des Anlagevermögens, wenn sich zusehends Geld gebieterisch als Wertmaßstab und weniger als Zirkulationsmittel zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs zur Geltung bringt: Hic Rhodus hic salta! (Hier gilt es, hier zeige, was du kannst!). Die Schuldenbremse entbehrt also durchaus nicht der Logik für die Superreichen. Die Arbeiter:inneklasse muss nicht nur kapitalistischem Wachstum eine Absage erteilen, sondern ans Eingemachte heran: Konfiskation des Produktiv- und Geldvermögens mit Entschädigung nur für Kleinanleger:innen und -sparer:innen.

Brecht die Macht der Banken und Konzerne!

  • Weg mit der Schuldenbremse!

  • Nehmt DIE LINKE und linke SPD, vor alle aber: nehmt die DGB-Gewerkschaften beim Wort: Fordert die Einleitung von Kampfmaßnahmen bis hin zu politischen Massenstreiks und nötigenfalls Generalstreik gegen Sozialklau, Klimawandel, Rezession, Massenverarmung, Verfall der Infrastruktur (Wohnen, Gesundheitswesen, Bildung, öffentlicher Transport, Klimaschutz)!

  • Keine Rücksicht auf Koalitionsräson und konzertierte Aktion! Bruch mit den offen bürgerlichen Parteien und der „Partner:innenschaft“ mit Kapital und Kabinett!

  • Einberufung einer bundesweiten Aktionskonferenz , um einen Mobilisierungs- und Kampfplan gegen die Kürzungen zu diskutieren und zu beschließen!

  • Entschädigungslose Enteignung des Großkapitals, der Banken, Fondsgesellschaften und Großanleger:innen!

  • Entschädigung für Kleinsparer:innen und -anleger:innen!

  • Für einen Sanierungsplan gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle und zu Tariflöhnen!

Ein Kampf gegen die laufenden und drohenden Angriffe darf und soll nicht nur auf Deutschland beschränkte bleiben, sondern muss sich auch gegen die gesamte Austeritätspolitik in der EU wenden. Dazu braucht es europaweit koordinierte Aktionen und politische Massenstreiks – Kämpfe, die ihrerseits die Machtfrage aufwerfen werden, für dies Kampforgane in den Betrieben und Stadtteilen braucht und der Perspektive der Arbeiter:innenregierungen verbunden werden müssen -für ein sozialistisches Rätedeutschland in einer Föderation der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




Wir haben uns aber auch versammelt, um anzuklagen!

Rede von Georg Ismael auf der Demonstration „Keine Waffen für den Genozid“ am 10. Dezember, Infomail 1238, 11. Dezember 2023

Wir haben uns heute versammelt, um den Verlust unschuldiger Leben und zehntausender Toter zu beklagen, die in der Tragödie, die sich seit dem 07. Oktober entfaltet, ihr Leben verloren haben.

Wir haben uns aber auch versammelt, um anzuklagen!

Wir klagen Sie an: Herr Scholz, Herr Habeck, Frau Baerbock, Herr Lindner. Wir klagen die deutsche Bundesregierung und den deutschen Staat an. Wir klagen Sie an, sich der Volksverhetzung und der Unterstützung zum Völkermord schuldig zu machen.

Sie haben keine Gelegenheit versäumt, die diskursive Frage des Existenzrechtes von Staaten in den vergangenen Wochen zu betonen. Aber sie leugnen nicht nur das Existenzrecht der palästinensischen Nation und der palästinensischen Staatlichkeit – bis heute erkennt der deutsche Staat diese nicht an. Sie unterstützen aktiv einen genozidalen Krieg gegen die Palästinenser:innen in Gaza. Frau Baerbock und die deutsche Regierung blockieren nicht nur bis heute einen Waffenstillstand. Die deutsche Regierung hat ihre Waffenlieferungen an Israel seit Kriegsbeginn verzehnfacht.

Stimmungsmache

Die Stimmungsmache von deutschen Politiker:innen und deutschen Medien ist nichts anderes als die Einstimmung auf einen Genozid an den Palästinenser:innen, der von hochrangigen israelischen Militärs und Vertretern der israelischen Regierung bereits angekündigt ist und vor unseren Augen durchgeführt wird.

Seit Jahrzehnten unterstützt der deutsche Staat ein koloniales Apartheidregime. Nun hat er diese Unterstützung zur Staatsräson erklärt. Während die Palästinenser:innen sich seit 75 Jahren einer immer aggressiveren ethnischen Diktatur ausgesetzt sehen, regiert heute eine autoritäre Clique um Netanyahu in Israel. Diese stützt sich auf eine wachsende faschistische und bewaffnete Siedler:innenbewegung in der besetzten Westbank.

Diese Kräfte verschärfen seit langem das Besatzungsregime, dehnen illegale Siedlungen aus, führen willkürliche und rechtswidrige Verhaftungen durch, begehen Pogrome an der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank und töten willkürlich Palästinenser:innen: 2023 waren es mehr als 200 bis Ende September.

Israel hat seit 2006 bereits sechs brutale Kriege in Gaza und dem Libanon ausgeführt, sowie massive Bombardements in Syrien ausgeführt. Kein Staat der Welt hat mehr UN Resolutionen gebrochen als Israel. Es ist dieser Staat, dem sie ihre bedingungslose Solidarität aussprechen und den Sie endlos mit Waffen beliefern.

In diesem Kontext – den sie der Weltöffentlichkeit und der deutschen Bevölkerung verheimlichen –  wagen Sie es, Palästinenser:innen, linken Jüd:innen und deutschen Sozialist:innen, die sich für eine demokratische, säkulare und sozialistische Einstaatenlösung einsetzen, Antisemitismus vorzuwerfen?

Sie beweisen damit nur, dass die deutsche Kapitalistenklasse und ihre politischen Eliten in Wahrheit bis heute nicht mit ihrer reaktionären Lebensraumideologie von Blut und Boden gebrochen haben. Eine Ideologie, die rechtsradikale und antisemitische Kräfte weltweit mit erneuter Leidenschaftlichkeit unter Schlagworten wie „Ethnopluralismus“ oder „Ethnischer Demokratie“ herausschreien.

Indem Sie ein friedliches Zusammenleben von Palästinenser:innen und Jüd:innen in einem gemeinsamen demokratischen Staat ablehnen und verleugnen, sind Sie es, die sich der Volksverhetzung schuldig machen. Sie vollbringen das Kunststück zugleich tatsächlich antisemitisch und rassistisch zu sein, indem Sie der jüdischen und palästinensischen Bevölkerung absprechen, in Harmonie koexistieren zu können.

Es ist daher kein Wunder, dass Sie für Ihre Israel-Politik frenetisch von der rassistischen und antisemitischen AfD im Parlament beklatscht werden. Diese üble Kriegspolitik ergänzen sie mit umso aggressiveren Unterdrückungspraktiken an der von ihnen praktisch erklärten Heimatfront im Inland.

Sie haben es erlassen und erlaubt, dass in den vergangenen Wochen trauernde Palästinenser:innen auf offener Straße von Polizeibeamten zusammengeschlagen wurden.

Sie haben kritische Jüd:innen, Palästinenser:innen und deutsche Sozialist:innen kriminalisiert und das Recht auf Versammlungs-, Meinungs- und Organisationsfreiheit genauso ausgehebelt, wie die akademische Freiheit.

Nun diskutieren Sie die Verschärfung politisch motivierter Abschiebungen und Ausbürgerungen. Ermutigt von diesem Klima der Angst haben sich in den vergangenen Wochen sowohl antimuslimische als auch antisemitische Angriffe durch deutsche Rechtsradikale massiv vermehrt.

Ich richte mich daher nun insbesondere an die schweigende deutsche Gesellschaft:

Nie wieder ist Jetzt!

Lasst nicht zu, dass die deutsche Regierung vor euren Augen nicht nur einen Genozid leugnet, sondern zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einer nie dagewesenen Aggressivität unterstützt.

Ich schäme mich heute mehr denn je ein deutscher Staatsbürger zu sein. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem nicht nur meine palästinensischen Genoss:innen, sondern auch meine linken jüdischen Genoss:innen, deren Verwandte in der Shoah ihr Leben verloren, ausgebürgert werden sollen, weil Sie sich weigern ein koloniales Apartheidregime anzuerkennen.

Sollte dieser Tag kommen, dann bitte ich Sie, bleiben Sie sich auch in dieser Hinsicht Ihren Vorvätern treu. Entziehen Sie diesem deutschen Kommunisten zuerst die Staatsbürgerschaft!

Dieser Pass, den ich in meinen Händen halte, ist erneut zu einem Pass der Schande geworden.




Bundesverfassungsgericht bremst Haushalt aus – Fiskalkrise droht

Jürgen Roth, Infomail 1238, 1. Dezember 2023

Wegen der Notfallsituation in der Coronapandemie hatte der Bund seinen Etat 2021 per Kreditermächtigung um 60 Mrd. Euro aufgestockt. Da das Geld nicht gebraucht wurde, sorgte die Zustimmung des Bundestags ein Jahr später für die Aufstockung des Klimatransformationsfonds (KTF) um diese Summe. 197 Unionsabgeordnete reichten daraufhin Klage beim Bundesverfassungsgericht ein, weil sie dadurch die Ausnahmeregeln der sog. Schuldenbremse verletzt sahen. Dessen Zweiter Senat gab ihnen am 15. November recht.

Ende aller Schattenhaushalte?

Bis 2027 ist der KTF mit 211,8 Mrd. Euro ausgestattet. Unmittelbar dürfte sich die Lücke von 60 Mrd. nicht auswirken. Aus dem Fonds fließen Subventionen in Elektromobilität, Wasserstoffwirtschaft, Ausbau der Schienenwege, Ansiedlung von Halbleiterchipfabriken, Strompreisbremse und energetische Gebäudesanierung. Unionsfraktionschef Friedrich Merz kündigte aber bereits an, auch die Rechtmäßigkeit des Wirtschaftsstabilisierungsfonds zu prüfen. Allerdings müsste er das dann auch im Fall des 2022 von seiner Fraktion mit verabschiedeten Sondervermögens für die Bundeswehr hinterfragen. Die Staatsräson verbietet es ihm wohl.

Von Einsparungen im kommenden Haushaltsjahr bleibt denn auch lediglich Einzelplan 14 verschont. Im Gegenteil: Der Wehretat wurde um 1,7 Mrd. auf fast 52 Mrd. Euro erhöht, zuzüglich 19,2 Mrd. aus besagtem Sondervermögen, mit dem die Regierung ebenfalls die Schuldenbremse ausgetrickst hatte. Diese Summe von 71 Mrd. Euro ist fast doppelt so hoch wie nach dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation 2015. Im aktualisierten Haushaltsentwurf wurden die Mittel für die Ukraine-Waffenhilfe auf 8 Mrd. Euro verdoppelt. Vor dem Hintergrund, dass die USA – das mit Abstand größte Geberland – ihre Hilfe reduzieren müssen, weil Israel einen enormen Bedarf geltend macht und die Ukraine-Hilfe im eigenen Land immer unpopulärer wird, stockt auch Frankreich seine Unterstützungszahlungen auf, damit die Ukraine nicht weiterhin mehr Granaten verschießt als nachproduziert werden können.

Dass das BVerfG-Urteil „der gesamten Finanz- und Haushaltsplanung der Bundesregierung die Grundlage“ entziehe, gerät somit mehr zum Wunschdenken der Union. Gesine Lötzsch von der Linksfraktion vermutet denn auch, ihr sei es weniger um die Einhaltung der Schuldenbremse gegangen als um eine bessere Begründung für Sozialkürzungen, z. B. beim Bürgergeld.

Merz’ Einlassungen muten auch deshalb heuchlerisch an, weil er zu erwähnen „vergisst“, dass die vier Merkel-Kabinette über zwanzig Mal in die Trickkiste der Schattenhaushalte gegriffen haben.

Unmittelbare Konsequenzen aus dem Urteil

Das BVerfG hatte die Ampelkoalition gleich dreifach gerügt: Erstens habe die Bundesregierung unzureichend argumentiert, was Coronakrise, mit der die Haushaltsnotlage seinerzeit begründet wurde, und Klimaprogramme miteinander zu tun hätten; zweitens könne man Notlagenkredite nicht einfach für andere Zwecke umwidmen; drittens sei der Beschluss zu spät gekommen und es müsse vor Jahresende ein Nachtragshaushalt beschlossen werden.

In erster Konsequenz wurde die finale, sog. Bereinigungssitzung des Bundestagshaushaltsausschusses vom 1. Dezember 2023 um eine Woche verschoben. Da dem „Klimatopf“ vorerst bis 2027 nur weniger als ein Drittel der zugedachten Mittel fehlen, will das Kabinett Prioritäten setzen: 2024 werden wohl Gelder für den Austausch alter Heizungen ebenso zur Verfügung stehen wie für klimafreundlichen Neubau und die Wohneigentumsförderung für Familien. Klimapolitisch wären natürlich die Sanierung des Wohnbestands und der Wegfall des Neubaus von Einfamilienhäusern weit zweckmäßiger, aber darum geht es ja beim ganzen Zirkus nicht, sondern um die Subventionierung größtmöglichen Profits. Darum Neubau, darum technologische Vorherrschaft mittels Wasserstoffstrategie, darum kleinteilige Einzellösungen (Wärmepumpen, Wasserstoffheizung) statt gesamtgesellschaftlichem Plan (z. B. Ausbau von Fernwärme). Ab 2025 könnten dann einige Programme wegfallen oder gekürzt werden.

Weitreichendere Folgen? Vertagt!

Das Gericht prüft aktuell den Umgang mit Sondervermögen. Dem Prinzip der Jährigkeit zufolge dürfen sie nur bis zum Ende des Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden. Allein der Bund hält aktuell 29 (!) Schattenhaushalte im Volumen von mehreren 100 Mrd. Euro. Auch einige der Länder können diese Kriterien nicht einhalten und gelten somit als ebenfalls gefährdet.

Jüngst hat das Bundesfinanzministerium die sog. Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden Jahre gesperrt. Zweifelhaft bleibt, ob unter diesen Umständen die Halbleiterchipfabriken in Dresden und Magdeburg errichtet werden. Es erheben sich bereits mahnende Stimmen, so die von Jens Südekum (Uni Düsseldorf), der die schon vor dem Urteil existierende „Investitionskrise“ angesichts der Alterung der Gesellschaft und der Wirtschaftspolitik der USA, die riesige Investitionen am eigenen Standort fördere (Inflation Reduction Act), ins Blickfeld rückte. Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Lars P. Feld hält für 2023 die Notlage gerechtfertigt. DIW-Expertin Claudia Kemfert bevorzugt einen „Dreiklang“ der Transformation: „Ausgaben in Nicht-Zukunftsbereichen kürzen. Ausgaben des KTF auf den Prüfstand stellen. Schuldenbremse aussetzen.“

Unter dem Eindruck auch dieser Debatten beschloss die Ampel vor Wochenfrist die Vertagung des Haushalts für 2024. Sie will ihn rechtssicher machen, bevor es zur Verabschiedung kommt – möglicherweise nicht mehr im laufenden Jahr. Liegt zu Jahresbeginn keiner vor, wären nur Ausgaben für die Aufrechterhaltung der Verwaltung und die Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen möglich. Lindners Ressort kann in der Praxis jedoch weitere Mittel bewilligen. Kurzfristig sehen viele bürgerliche Ökonom:innen darin kein Problem. Mittelfristig teilen sich aber die Meinungen zwischen Anhänger:innen einer Reform der Schuldenbremse und Verankerung von Sonderfonds und Sparaposteln wie Merz, der zum Verzicht auf Kindergrundsicherung, Heizungsgesetz und höheres Bürgergeld auffordert.

Lindner will den Nachtragshaushalt für 2023 bis Ende nächster Woche vorlegen. Um in diesem Jahr bereits benutzte Kredite rechtlich nachträglich abzusichern, wird die Bundesregierung dem Parlament zügig vorschlagen, eine außergewöhnliche Notlage zu erklären. Darunter fallen ca. 45 Mrd. Euro für die Energiepreisbremse aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (43,2 Mrd.) und Flutopfer aus dem Ahrtal (1,6 Mrd.). Voraussetzung bleibt, dass der Bundestag zum vierten Mal nacheinander die Schuldenbremse aussetzt. Dies wurde in den vergangenen Jahren mit den Auswirkungen der Coronakrise und des Ukrainekrieges auf die deutschen Staatsfinanzen begründet. In diesem Jahr entdeckte das Kabinett die Notlage allerdings erst, als es vom Verfassungsgericht mit der Nase auf seine eigenen Unzulänglichkeiten gestoßen wurde.

Zerrüttete Staatsfinanzen: Was geht uns das an?

Anfang des neuen Jahres werden wir einen fiskalischen Streit erleben, der an US-amerikanische Verhältnisse erinnert. Zur Mehrfachkrise aus Krieg, Rezession, Inflation, Klimawandel und Migrationsabwehr kann sich also eine der Staatsfinanzen hinzugesellen. Dass dies nicht ohne Auswirkung auf den Sozialetat bleiben wird, deutet sich schon an. Ebenfalls wird sich das Gejammer über leere Kassen der Länderhaushalte durch die vom BVerfG ausgelöste Fiskalkrise in der laufenden Tarifrunde für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Bundesländer zum Wutgeheul seitens der Herrschenden steigern. Insofern können klassenbewussten Arbeiter:innen Ursachen und Gegenmaßnahmen der Haushaltsmisere nicht egal bleiben. Sie müssen sich dabei aber von Anfang an vom Grundsatz leiten lassen: Wir zahlen nicht für eure Krise!

Doch wie stehen wir zu grundsätzlichen Vorschlägen aus dem bürgerlichen Lager, was die Schuldenbremse betrifft? Ist sie eine selbstgemachte Schranke fürs Florieren der Wirtschaft? Kann sie mit einem parlamentarischen Akt nichtig gemacht werden? Was bedeutet das weltwirtschaftliche Umfeld des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt für die Staatshaushalte und sonstige Verschuldung? Und wie stehen eigentlich die Spitzen der Gewerkschaften, von SPD und DIE LINKE zur Schuldenbremse?

Im zweiten Teil dieses Artikels wollen wir uns mit diesen Fragen befassen und ein Aktionsprogramm zur Gegenwehr skizzieren.




Nein zur Verschärfung des Asylrechts!

Stefan Katzer, Neue Internationale 278, November 2023

Wenn man von der prokapitalistischen Partei der Reichen mit Spleen für Verbrennungsmotoren auch sonst nicht viel hält, muss man der FDP doch eines lassen: Sie hat noch rote Linien. Das heißt, sie vertritt politische Positionen, die für sie nicht verhandelbar sind. Steuererhöhungen zum Beispiel. Die wird es mit der FDP nicht geben. Das hat sie vor, während und nach dem letzten Bundestagswahlkampf klargemacht. Und das macht sie auch in der Ampelkoalition immer wieder deutlich. Egal wie marode die Schulen, wie überlastet das Gesundheitssystem, wie kaputt der öffentliche Nahverkehr – Geld von den Reichen zur Finanzierung dieser öffentlichen Angelegenheiten wird es nicht geben. Dafür steht der derzeitige FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner mit seinem Namen.

Die Grünen

Anders bei den Grünen. Bei der geradezu gymnastisch-pragmatischen Sonnenblumenpartei mit grünem Image und chamäleonartigem Anpassungsvermögen sucht man nach roten Haltelinien, nach nicht verhandelbaren Positionen vergebens. Egal ob Klimaschutz, Aufrüstung oder Asylpolitik – nichts scheint den Grünen zu schade, um nicht einem faulen Kompromiss geopfert zu werden. Geradezu stolz ist man auf die eigene ideologische Geschmeidigkeit, auf den zum Prinzip erhobenen Opportunismus. Frei nach dem Motto: Es ist besser, falsch zu regieren, als gar nicht zu regieren. Das geht zwar nicht immer ohne Reibungen innerhalb der eigenen Partei aus, kleinere Schlagabtausche zwischen Parteiführung und Basis inklusive, aber am Ende geht es meistens doch. Schließlich hat die Parteispitze nicht versäumt, die Basis bereits vor Eintritt in die Ampelkoalition auf Kompromisse einzuschwören.

Die erste dicke Kröte, die vor allem die Grüne Jugend herunterwürgen musste, bekam diese von der selbsternannten Fortschrittskoalition unter Einschluss der Grünen im Sommer diesen Jahres serviert. Die sogenannte Asylkrisenverordnung, die von den Regierungen der EU-Staaten ausgehandelt worden war und für die am Ende auch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock geworben hat – auf Druck vom Kanzler und mit ordentlich Bauchschmerzen, versteht sich –, hatte es schon in sich.

Neben mehr Abschottung an der EU-Außengrenze sieht dieser Kompromiss auch die Möglichkeit der Verlängerung der Lagerhaft für Geflüchtete vor. Diese erzwungene Haft soll es den Behörden erleichtern, bei negativem Asylbescheid die Menschen schneller wieder in ihre Heimatländer abzuschieben. Außerdem wurde im Zuge dieser Asylrechtsverschärfung auch der Personenkreis ausgeweitet, der in solchen Lagern künftig untergebracht werden kann. Darunter sind nun auch Familien mit Kindern.

Nach anfänglicher Kritik und daran anschließenden minimalen Verbesserungen hat die Bundesregierung dem Vorschlag letztlich zugestimmt. Man wollte endlich ein Ergebnis, einen zustimmungsfähigen Kompromiss in der Asylpolitik auf EU-Ebene vorweisen können, bevor nächstes Jahr das EU-Parlament neu gewählt wird. Wenn er dort durchgewunken wird, könnten somit geflüchtete Kinder in Zukunft an der Außengrenze der Festung Europa in Lagern eingesperrt werden, während die grüne Außenministerin, die diesem Kompromiss zugestimmt hat, auch weiterhin im Kabinett auf ihrem bequemen Sessel Platz nehmen darf. Wahrlich schmerzhafte Kompromisse – für die Grünen.

Verschärfungen vom Oktober

Nun hat sich die Bundesregierung im Oktober auf weitere Verschärfungen im nationalen Asylrecht geeinigt. Nachdem man wochenlang der AfD nach dem Mund geredet und beinahe sämtliche sozialen Probleme im Land – angefangen beim Wohnungsmangel über fehlende Kitaplätze bis hin zum überlasteten Gesundheitssystem – auf die Überlastung durch „illegale Migration“ zurückgeführt hat, musste man schließlich auch liefern. Das hat die Ampel nun getan. Das Innenministerium unter der Führung von Nancy Faeser hat kürzlich einen Gesetzentwurf zur „Verbesserung der Rückführung“ vorgelegt, der massive Verschlechterungen für Geflüchtete vorsieht – eine Abschiebeoffensive also, von der die Rechten schon lange träumen.

Dieses Mal standen insbesondere die Ausreisepflichtigen im Fokus der Debatte. Das sind Personen, die sich aufgrund eines abgelehnten Asylantrags, eines abgelaufenen Visums oder einer nicht verlängerten Aufenthaltserlaubnis rechtlich gesehen nicht länger in Deutschland aufhalten dürfen. Derzeit betrifft das ca. 300.000 Menschen. Von diesen ist allerdings der größte Teil, ca. 90 %, geduldet. Diese Personen können also auch weiterhin aus rechtlichen Gründen (noch) nicht abgeschoben werden. Das kann unterschiedliche Gründe haben, etwa weil den Betroffenen in ihren Heimatländern Verfolgung droht oder ihr Heimatland als nicht sicher gilt, z. B. weil dort Krieg herrscht.

Unmittelbar ausreisepflichtig sind derzeit somit nur ca. 54.000 Personen. Um diesen Personenkreis geht es in dem neuen Gesetzentwurf. Diese sollen durch das neue Gesetz nun schneller und effektiver abgeschoben werden können. Um dies zu erreichen, hat die bei der Hessenwahl erfolglose SPD-Spitzenkandidatin und Immer-noch-Bundesinnenministerin Nancy Faeser einen Entwurf ausgearbeitet, der massive Grundrechtseinschränkungen, neue Straftatbestände für Geflüchtete und erweiterte Kompetenzen für die Polizei vorsieht.

Laut Pro Asyl könnte es durch das neue Gesetz möglich werden, dass Menschen schon aufgrund eines „falschen“ Familiennamens bzw. der gleichen Familienzugehörigkeit aus Deutschland ausgewiesen werden. Dies soll es erleichtern, Menschen abzuschieben, von denen man annimmt, dass sie einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB angehören, ohne dass es zu einer rechtskräftigen Verurteilung gekommen ist. Hier bedienen die Ampelparteien das rechte Narrativ der „Clankriminalität“, der angeblich besonders schwer beizukommen ist und für deren Bekämpfung man daher auf unkonventionelle (lies: grundrechtswidrige) Verfahren zurückgreifen möchte. Dafür ist man offenbar bereit, Menschen pauschal unter Verdacht zu stellen bzw. abzuurteilen, ohne dies im Einzelfall richterlich bestätigt zu bekommen.

Außerdem soll es künftig leichter möglich sein, Menschen in Abschiebehaft zu nehmen. Hierfür genügt bereits der Vorwurf gegenüber den Antragsteller:innen, die Mitwirkungspflichten bei der Bearbeitung des Asylantrags zu verletzen. Letztlich können auf Grundlage des neuen Gesetzes alle Personen, die ausreisepflichtig sind, in Haft genommen werden, und das nun nicht mehr „nur“ für drei, sondern ganze sechs Monate. Vor dem Hintergrund, dass laut Pro Asyl bereits heute die Hälfte der sich in Abschiebehaft befindlichen Menschen zu lange oder zu Unrecht in Haft sitzt, ist dies besonders perfide.

Doch damit nicht genug. Auch wenn kein Verdacht vorliegt, einer kriminellen Vereinigung anzugehören, soll es zur Erleichterung von Abschiebungen künftig möglich sein, Menschen länger als bisher einzusperren. Dies soll ermöglicht werden durch die Ausdehnung des sogenannten Ausreisegewahrsams. Statt wie bisher zehn, sollen ausreisepflichtige Personen künftig bis zu 28 Tage in Gewahrsam genommen werden dürfen, um den Behörden die Vorbereitung der Abschiebung und diese selbst zu erleichtern. Auch Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden und gegen die keine sonstigen strafrechtlichen Verfahren angestrengt werden, sollen künftig in Abschiebehaft genommen werden dürfen.

Ebenso werden die Polizei und andere in das Verfahren involvierte Behörden deutlich mehr Befugnisse erhalten, die ihnen die Durchführung von Abschiebungen erleichtern sollen. Diese dürfen nun ohne richterlichen Beschluss de facto zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Wohnungen und Unterkünfte von Geflüchteten eindringen. Doch nicht nur in die Wohnungen oder Unterkünfte der unmittelbar Ausreisepflichtigen, sondern letztlich in jede Räumlichkeit, sofern die Behörden davon ausgehen, dass die gesuchte ausreisepflichtige Person sich dort aufhalten könnte. Und das, mit Ausnahme von Familien, in denen Kinder unter 12 Jahren leben, ohne jegliche vorherige Ankündigung. Dass dies für die betroffenen Personen enorme psychische Belastungen mit sich bringt, nimmt man offenbar in Kauf. Sie können sich in keiner Sekunde mehr sicher sein, müssen ständig befürchten, von der Polizei besucht, überwältigt und zur Abschiebung geholt zu werden.

Gemeinsam gegen Rassismus

Gegen diese Asylrechtsverschärfung und den gerade stattfindenden Rechtsruck insgesamt muss die Linke, muss die Arbeiter:innenbewegung aktiv werden. Sie müssen der rechten Hetze und den Spaltungsversuchen der Herrschenden eine solidarische, letztlich eine revolutionäre Perspektive entgegensetzen. Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer, Grenzkontrollen in der EU und einer insgesamt menschenverachtenden rassistischen Politik braucht es eine menschenwürdige Alternative.

Statt für schnellere Abschiebungen müssen wir für sichere Fluchtrouten, offene Grenzen und gleiche Rechte für alle hier lebenden Menschen kämpfen. Dies schützt nicht nur die Geflüchteten vor Abschiebung und Entrechtung, sondern trägt auch dazu bei, die Spaltung der Lohnabhängigen zu überwinden.

Die Gewerkschaften müssen daher Geflüchtete in ihre Reihe aufnehmen und gemeinsam mit diesen für soziale Verbesserungen kämpfen – und zwar mit den Methoden des Klassenkampfes, nicht der warmen Worte. Sie müssen den Kampf führen gegen die Spaltung der Arbeiter:innenklasse, gegen die Selektion von Flüchtlingen und Migrant:innen in Ausgestoßene und Deportierte einer- und entrechtete Lohnabhängige zweiter Klasse andererseits. Nur wenn wir entschieden gegen Nationalismus und Chauvinismus kämpfen, können wir die lähmende Spaltung der Klasse überwinden und die Kampfbedingungen insgesamt verbessern.

Dafür müssen wir auch die Lügen der Herrschenden entlarven, die behaupten, dass die sich zuspitzenden sozialen Probleme letztlich auf die Überlastung durch „illegale Migration“ zurückzuführen sind, während sie selbst gerade dabei sind, an allen Ecken und Enden – außer beim Militär – massive Kürzungen durchzusetzen.

Wir brauchen eine Massenbewegung von antirassistischen, Migrant:innenorganisationen, allen Arbeiter:innenorganisationen und vor allem von den Gewerkschaften!

• Volles Asylrecht für alle Geflüchteten! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland und der EU leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Organisierte Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant:innen, unterstützt von der gesamten Arbeiter:innenbewegung! Öffnung der Gewerkschaften für alle Geflüchteten und Migrant:innen!




Bundeshaushalt 2024: Kahlschlag bekämpfen!

Ernst Ellert, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Als hätten wir nicht schon genug Krisen – Rezession, Inflation, Klimawandel –, droht jetzt nach der 1. Lesung des Bundeshaushalts 2024 (siehe Artikel in dieser Ausgabe) auch noch sozialer Kahlschlag in einem Ausmaß, das durchaus an die Agenda 2010 heranreicht. Dabei hatten wir 2015 die Euro- und 2020 die Coronakrise und wollen nicht den Ukrainekrieg und die forcierte Aufrüstung vergessen. Was kommt auf uns zu und wie müssen wir uns dagegen wehren?

Auswirkungen

Unsere öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge verfällt. Krankenhäuser, die Bahn und viele Schulen gehen kaputt. Bund, Länder und Kommunen wissen seit Jahrzehnten keinen besseren Rat, als auf Teufel komm raus zu privatisieren. Das Staatsvermögen schmilzt dahin, weil auf Verschleiß gefahren wird. Gleichzeitig steigen die Schulden der Gebietskörperschaften auf Rekordhöhen. Zudem wird die Bedienung der Staatsschuld wieder teurer durch gestiegene Zinsen.

Investitionsstau

In der öffentlichen Daseinsvorsorge beläuft sich der Investitionsstau auf mindestens 1,4 Billionen Euro. Um ihn abzubauen, müssen jährlich wenigstens 70 Mrd. Euro investiert werden. Um bis 2045 klimaneutral zu werden, müssten pro Jahr zusätzlich 45 Mrd. Euro in grüne Technologien und Infrastruktur gesteckt werden. Stattdessen erleben wir bestenfalls ökologische Flickschusterei ohne Konzept. Gebäudeenergie- und Erneuerbare-Energiengesetz bilden ein Beispiel für Planlosigkeit (individuelle wie Wärmepumpen und wasserstofffähige Heizung im Einzelhaushalt statt kollektiver Lösungen wie vorrangigen Ausbaus des Fernwärmenetzes, Batterie-PKW statt ÖPNV und Bahn, mangelnder Netzausbau, fehlende Speichertechnologien usw. usf.). Schlimmstenfalls verschlechtert sich die Klimabilanz durch Einsatz von LNG, für dessen Erzeugung, Transport und Verbrauch mehr CO2 ausgestoßen wird als bei Braunkohlekraftwerken.

Geld ist genug da?

Die rührige Bürgerinitiative „Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) e. V.“ fordert deshalb neben oben beschriebenen  Investitionen die Wiedereinführung der unter Helmut Kohl abgeschafften Vermögensteuer. Jüngst hat auch ver.di eine höhere Besteuerung Vermögender verlangt. Wie viel das einbringen soll – z. B. belief sich nach unseren Informationen die Vermögensteuer seinerzeit auf 1 % – und wie hoch der Steuersatz für Vermögende steigen muss, darüber schweigen sich beide aus. Und sie sagen entweder nicht wie im Fall ver.dis, wie das durchgesetzt werden soll, oder sehen es wie bei GiB als Kampagnenprojekt, das mittels Unterschriftensammlung, Anzeigen und Auftritten Druck auf „die“ Politik ausüben will.

„Geld ist genug da“ ist dabei nur die halbe Antwort. Im Unterschied zu Aufschwungzeiten des Kapitalismus vermehrt es sich zunehmend durch Anlage in Staatsanleihen, fiktives Kapital und sonstige unproduktive Renten (Immobilien), statt in neue Industrieanlagen gesteckt zu werden. Der heutige Spätimperialismus leidet nämlich unter den Auswirkungen des tendenziellen Falls der Profitrate, was zu Überakkumulation und parasitärer Geldanlage führt. Lieber sichere, geringe Renditen erzielen als das Risiko eingehen, sein Vermögen der zusehends gnadenloseren Konkurrenz in Zeiten der Neuaufteilung des Weltmarkts auszusetzen.

Kampf gegen das Hauptübel

Auch wir unterstützen natürlich die Forderung nach Wiedereinführung der Vermögensteuer und höheren Steuersätzen für Reiche. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich den Vorstoß ver.dis und der GiB. Doch erstens kritisieren wir, dass nicht klar gesagt wird, dass dabei pro Jahr 115 Mrd. Euro mindestens rauskommen müssen. Es wird somit suggeriert, dass eine Rückkehr zu Steuersätzen wie zu Anfang der 1980er Jahre ausreicht. Zweitens wird der Glaube verbreitet, das Hauptübel liege im mangelnden Willen der Regierung begründet und die Forderungen ließen sich einfach per Dekret umsetzen. Es tanzen aber nicht die Reichen nach der Pfeife von Staat und Regierung, sondern umgekehrt. Drittens wird die Antwort unterschlagen, ob dieser Staat unter welcher Regierung auch immer zu einer vernünftigen Planung überhaupt in der Lage ist und nicht wieder Subventionsflickwerk ohne Nachhaltigkeit produziert. Viertens ist eine Bürgerinitiative besser als nichts, zumal in Zeiten, wo die Massenorganisationen der Arbeiter:innenbewegung – SPD, Gewerkschaften und in minderem Maß auch DIE LINKE – außerhalb von Tarifrunden nur Friedhofsruhe ausstrahlen.

Doch wir brauchen gegen diesen Angriff die geballte Kraft unserer Klasse, ihre Organisationen mit wirksamen Kampfmitteln, die den Hauptübeltäter Kapitalismus auch da treffen können, wo es ihm wirklich wehtut.

Arbeiter:inneneinheitsfront

Mit Unterschriftensammlungen und Einzelaktionen werden die Angriffe nicht aufzuhalten sein. Sie können sicherlich helfen, Aktivist:innen zu sammeln, aber letztlich brauchen wir eine Massenbewegung, die in den Betrieben verankert ist – denn nur ein solche Bewegung der Lohnabhängigen kann auch die entscheidenden wirtschaftlichen Schaltstellen der Gesellschaft lahmlegen, um ein Antikrisenprogramm im Interesse der Massen durchzusetzen.

Doch das erfordert, die bestehenden Organisationen der Arbeiter:innenklasse in Bewegung zu bringen – oft genug auch gegen den Willen und entgegen der Strategie ihrer bürokratischen und reformistischen Führungen.

Deshalb müssen wir einen Schwerpunkt unserer Propaganda und Agitation in dieser Frage darauf legen, die oben erwähnten Arbeiter:innenmassenorganisationen zum Kampf gegen den drohenden Kahlschlag aufzufordern. Die kommende Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) bietet dazu ein probates Forum, v. a. weil die Landesbeschäftigten die Auswirkungen des Sparkurses am eigenen Leib spüren werden und ihre Klientel in vielen sozialen Bereichen sowieso. In die notwendige Einheitsfront für wirksame Abwehraktionen werden und sollen sich auch zahlreiche Sozial- und Bürgerinitiativen einreihen wie SoVD, GiB, Migrant:innenorganisationen und natürlich die radikale Linke. Doch ohne dass der schwerfällige Tanker DGB in Bewegung kommt, ohne dass die Wähler:innen und Mitglieder DER LINKEN und der SPD mobilisiert werden, steht es schlecht um die Erfolgschancen.

Auch wenn die Umsetzung der Haushaltskürzungen nicht alle gleichzeitig, sondern in Form einer Salamitaktik branchenweise treffen wird, so braucht es einen gemeinsamen, koordinierten Widerstand, letztlich politische Massenstreiks, um den drohenden Kahlschlag zu verhindern!

Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) – wir sind ein Teil davon – soll sich für eine Konferenz aller Interessierten, v. a. Kolleg:innen aus Betrieben und Gewerkschaftsgliederungen, einsetzen, die sich den Aufbau dieser Arbeiter:inneneinheit zum Ziel setzt, einen Antikahlratschlag sozusagen. Dazu müssen als Startschuss entsprechende Resolutionen auf Betriebs- und Gewerkschaftsversammlungen eingebracht werden, um das Unterstützungspotenzial zu mehren und sichten.

Als Forderungen schlagen wir vor:

  • Wiedereinführung der Vermögensteuer! 115 Mrd. Euro jährlich durch progressive Besteuerung!

  • Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro/Stunde! Anhebung des Mindesteinkommens und der Renten auf 1600 Euro/Monat! Automatische Anpassung der Löhne und Transferleistungen an die Inflation unter Kontrolle der Gewerkschaften!

  • Nein zur rassistischen Spaltung! Offene Grenzen und gleiche Staatsbürger:innenrechte für alle!

  • Schuss mit der sog. Schuldenbremse! Entschädigungslose Streichung der Staatsschulden bei Großanlegern, Fondsgesellschaften und Banken!

  • Nein zum 100-Milliarden Programm für die Bundeswehr! Keinen Cent für den deutschen Militarismus!

  • Für einen Plan gegen Klimawandel, Sozialkahlschlag und für die Verkehrswende in Richtung Bahn und ÖPNV unter Arbeiter:innenkontrolle unter Hinzuziehung von Expert:innen, die das Vertrauen der Arbeiter:innenbewegung genießen!

  • Durchführung als Plan gesellschaftlich nützlicher Arbeiten (Umwelt, Erziehung, Bildung, Gesundheit) zu Tariflöhnen!



Bundeshaushaltsentwurf: Kürzungshammer kommt

Jürgen Roth, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Bereits vor der Debatte des Haushaltsentwurfs für 2024 in der 1. Lesung des Bundestags, unmittelbar nach der Ampelklausur machte die FDP deutlich, dass die Reform der Kindergrundsicherung die letzte große sozialpolitische Reform dieser Legislaturperiode bleiben werde.

Union und FDP vereint gegen Arme

Mitnichten handelt es sich dabei um eine „große sozialpolitische Reform“. Darauf werden wir an anderer Stelle ausführlich eingehen. FDP-Generalsekretär Biran Djir-Sarai führte als Begründung für erforderliche Sparmaßnahmen hohe Zinsen und Inflation an. Sekundiert wurde er von CDU-Fraktionschef Merz und seinem Vize Spahn. Laut Merz ist die Ursache dafür, dass so viele Kinder in „prekären Verhältnissen“ leben, mangelnde Bildung und Ausbildung. Ständig höhere Transferleistungen könnten daran nichts ändern. Ins gleiche Horn tutete Spahn mit seiner Kritik an der Erhöhung des Bürgergelds – um sagenhafte 61 Euro wohlgemerkt! Merz sieht hierin eine Gefährdung des Lohnabstandsgebots. Die mickrige Erhöhung des Mindestlohns von 12 auf 12,41 Euro wurde von ihm natürlich nicht kritisiert, denn dem Abstandsgebot wäre mit einer deutlicheren Erhöhung auf 14 Euro wie von der LINKEN gefordert besser Rechnung getragen worden. Aber da sind sich alle 3 Herren ja einig: Es geht ihnen um Kürzung bei den Armen und Lohnarbeiter:innen generell. Gefördert werden müssen für sie „die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ – sprich, das Kapital!

Haushaltskonturen

Gleich zu Beginn der 1. Lesung gab der federführende Bundesfinanzminister Christian Lindner die Marschroute vor. Die Zeit der krisenbedingten Mehrausgaben mit „Doppelwumms“, Sondervermögen und Co. wegen Coronakrise und Explosion der Strom- und Heizkosten mit Entlastung für die Bürger:innen, v. a. aber die Unternehmen, sei vorbei.

Geplant sind Ausgaben des Bundes in Höhe von 445,7 Mrd. Euro, 30 Mrd. weniger als in diesem Jahr. Im kommenden rechnet Linder mit 37 Mrd. Euro Kosten allein für Schuldzinsen, einer Verzehnfachung im Vergleich zu 2021. Mit einer Neuverschuldung von 16,6 Mrd. will er das 2. Jahr in Folge die Schuldenbremse einhalten. Diese untersagt de facto ab 2011 eine Nettoneuverschuldung der Gebietskörperschaften.

Zugleich sollen die Unternehmen 2024 mit dem kürzlich vom Kabinett verabschiedeten „Wachstumschancengesetz“ um 7 Mrd. Euro entlastet werden. Einsparungen gibt es dafür beim Sozialen und den Bundeszuschüssen für Renten- und Pflegeversicherung. Letztere sollen komplett entfallen. Ab 2028 seien noch drastischere Einschnitte nötig, wenn die Coronakredite zurückgezahlt werden müssten und das Bundeswehrsondervermögen aufgebraucht sei.

Für Redner:innen der Union ging der Haushaltsentwurf zwar in die richtige Richtung, doch müsse der Finanzminister die Regierung „auf Kurs bringen“. Den Fraktionen von Union und AfD geht die Wirtschaftsförderung dagegen nicht weit genug und auch Kürzungen könnten in vielen Bereichen drastischer ausfallen.

SPD und Grüne stellten sich grundsätzlich hinter die Vorlage, kündigten aber Verbesserungen in den kommenden Haushaltsberatungen an. Allerdings sei der Spielraum durch die Rückkehr zur Schuldenbremse geringer geworden.

Für die Linksfraktion kritisierten Gesine Lötzsch und Janine Wissler vor allem die Mehrausgaben für Verteidigung. Bildung und Gesundheit müssten bluten und eine wirkliche Kindergrundsicherung werde unterbleiben, weil man nicht Reiche höher besteuern und die Schuldenbremse aussetzen wolle. DIE LINKE forderte auch als einzige Fraktion höhere staatliche Ausgaben und v. a. Investitionen in Klimaschutz, Bildung und für eine Verkehrswende.

Einzelhaushalte

Bei der abschließenden Beratung im Rahmen der 1. Lesung am 8. September ging es im Parlament noch einmal hoch her. Insbesondere drehte sich die Deabtte um den Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), des mit Abstand größten Postens. Er soll im kommenden Jahr 171,67 Mrd. Euro umfassen. Fast drei Viertel davon entfallen auf Pflichtzahlungen (Rente, Alters- und Erwerbsminderungsgrundsicherung). Fast ein Viertel verschlingt die Grundsicherung für Arbeitsuchende (43,3 Mrd.). Der winzige Rest entfällt auf die Förderung der Integration von Behinderten. Für das Bürgergeld sind nur 540 Mio. Euro mehr vorgesehen. Der Sozialetat ist der einzige neben dem für Verteidigung, in dem Erhöhungen vorgesehen sind, allerdings nur um 5,44 Mrd.

Einmal mehr echauffierten sich Union und AfD über die Erhöhung des Bürgergelds und den zu geringen Lohnabstand. Ressortchef Heil (SPD) konterte mit dem Verweis, diese Kritiker:innen könnten sich ja für höhere Löhne einsetzen. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) musste ihm beipflichten. Die Kürzungen bei den Verwaltungskosten der Jobcenter betragen 200 Mio. Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst verursacht dort aber Mehrkosten von 300 Mio., so dass zu befürchten ist, dass sie aus den Töpfen für die Eingliederungshilfen beglichen werden und folglich den Erwerbslosen nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Grünen monierten, dass zukünftig 700.000 Arbeitslose unter 25 Jahren zur Arbeitsagentur wechseln sollen und damit nicht aus Steuern, sondern von der Arbeitslosenversicherung finanziert werden sollen. Damit würde der BMAS-Etat um 1 Mrd. Euro entlastet.

Heil kündigte ein Rentenpaket an und verwahrte sich gegen die Forderung von Merz, das Renteneintrittsalter weiter zu erhöhen. Wissler sprach von einem „Kahlschlag“ angesichts der geplanten Einschnitte bei den Zuschüssen zur Sozialversicherung, Jugendlichen und politischer Bildung sowie der finanziellen Minimalausstattung für die Kindergrundsicherung – 2,4 statt der geforderten 12 Mrd. Am 1. Dezember soll der Bundeshaushalt nach der 2. Lesung verabschiedet werden.

Außer im sozialen Bereich sind auch woanders teils drastische Kürzungen vorgesehen. Humanitäre Hilfe (beim Auswärtigen Amt) soll 1 Mrd. weniger erhalten (- 36 %). Dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Svenja Schulze (SPD) sollen 276 Mio. Euro für die Krisenbewältigung genommen werden (- 22 %), sein Gesamtetat schrumpft um 5 %. Die Ausgaben für Klimaanpassung vermindern sich um ein Drittel. Erhebliche Minderausgaben kommen auf den Katastrophenschutz zu (90 Mio., – 23 %), das Technische Hilfswerk erhält 10 % weniger. Die Anwohner:innen im Ahrtal wird’s freuen!

Weitere Einsparbeispiele: Bundesfreiwilligendienst (53 Mio., – 25 %), Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt an Kindern werden halbiert. Mittel für die Umsetzung der UN-Konvention betr. Rechte von Menschen mit Behinderungen werden um 13 % zurückgefahren, Kinder- und Jugendplan (- 44,6 Mio., – 19 %), Bafög (- 25 %), Müttergenesungswerk und Familienferienstätten (-  93 %).

Gewinner

Um 1,7 Mrd. auf 51,8 Mrd. Euro steigt der Einzelplan 14 (Verteidigung). Insgesamt belaufen sich die Mittel fürs Militär zusammen mit den Anteilen aus dem Sondervermögen (19 Mrd.) und Ausgaben für Rüstung und Truppe aus anderen Ressorts (14 Mrd.) aber auf stattliche 85 Mrd. Euro. Minister Pistorius (SPD) hätte lieber 10 Mrd. mehr als 2023 kassiert, verwies aber darauf, dass erstmals das von der NATO vorgegebene Ziel von Rüstungsausgaben in Höhe von 2 % des BIP erreicht seien. Bundeskanzler Scholz (SPD) versicherte, dies sei auch zukünftig garantiert. Die Unionsparteien waren damit nicht zufrieden. Es seien damit nur die Personalmehrkosten gedeckt und 2 % vom BIP gälten mittlerweile als Untergrenze.

Deutschland ist nach den USA zweitgrößter militärischer Unterstützer der Ukraine. Die Militärhilfe beläuft sich bis jetzt auf 22 Mrd. Euro. Bis Ende des Jahres wird es auch 10.000 ukrainische Soldat:innen ausgebildet haben. Die BRD müsse hier die Führung übernehmen, so Pistorius. Assistiert wurde er von einer (oliv)grünen Rednerin, die auf die „wertebasierte Ordnung des Westens“ große Stücke hielt, die Ordnung des Mehrwerts eben, des Profits. Redner:innen der Linksfraktion warnten vor einem neuen Wettrüsten, den Auswirkungen von Krieg und Zerstörung auf die Umwelt. Treffend war der geschichtliche Vergleich mit Sparkanzler Brüning, dessen Austeritätspolitik das Ende der Weimarer Republik einläutete.

Genau das droht uns, wenn wir diesem Streichorchester nicht in den Arm fallen. Rüsten wir uns auch!




Die nächste Welle des Rassismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein neues „Paket“, ein neuer „Vorschlag“ ins Spiel gebracht werden, um das „Flüchtlingsproblem“ zu lösen. Eine neue Welle des Rassismus schwappt über Europa. Die rechtsextremen und rassistischen Parteien betätigen sich als nimmermüde Einpeitscherinnen, die bürgerlichen Parteien und Regierungen überbieten sich an stetig neuen Vorschlägen zur Abschottung der Grenzen der EU. Indem sie den Rechten entgegenkommen und deren Forderungen aufnehmen, wollen sie diesen das Wasser bei den Wahlen abgraben.

So wird die Errichtung von „Asylzentren“ an den EU-Außengrenzen von den Innenminister:innen der EU auf den Weg gebracht. Der Grenzschutz Frontex soll weiter verstärkt werden. Sogenannte Migrationsvereinbarungen mit Ländern wie Tunesien, denen seinerseits der rassistische Deal mit der Türkei als Vorlage dient, sollen mit weiteren Anrainerstaaten folgen. Faktisch stellen diese einen weiteren Vorposten zur Abschottung der EU gegen unerwünschte Geflüchtete dar, die aufgrund von Krieg, Klimakatastrophen, Unterdrückung und Elend zur Flucht getrieben wurden und den lebensgefährlichen Weg nach Europa auf sich nehmen.

Zehntausende sind auch schon in den letzten Jahren dem Grenzregime zum Opfer gefallen. Doch diese Art barbarisch-demokratischer Abschreckung reicht den europäischen Demokratien offenkundig nicht. Sie drängen auf mehr. Unter dem ebenso abgedroschenen wie verlogenen Vorwand des Kampfes gegen jenes Schlepperunwesen, das nebenbei das EU-Grenzregime selbst mit befördert und so gewinnträchtig macht, werden die Restbestände des Asylrechts geopfert. Die neue EU-Asylverordnung sieht nicht nur eine dramatische Verschärfung des Grenzregimes vor, sie inkludiert auch gleich Sonderbestimmungen, die selbst das außer Kraft setzen können.

Bleibt noch die leidige Frage der Aufteilung derer, die es doch nach Europa schaffen. Diese sind – allen – zu viele. Alle fühlen sich bei der Aufteilung des Elends, das die kapitalistische Ausbeutung im Interesse europäischer Konzerne schafft und die militärischen und geostrategischen Interventionen der EU-Staaten verschärfen, benachteiligt. Selbst Länder, die kaum noch einen Geflüchteten aufnehmen, kaum noch einem Menschen Asyl gewähren wollen, pochen auf eine nationale Souveränität, deren wahrer Kern sich vor allem im Abtöten jedes menschlichen, „falschen“ Mitgefühls erweist. Die Regierungen Ungarns oder Dänemarks sind im „parteiübergreifenden Konsens“ stolz darauf, dass sie für Flüchtlinge längst als abschreckend gelten, als Länder, wo niemand hin will. Und letztlich sanktioniert die EU diesen rassistischen Unterbietungswettlauf, der immer neue Nachahmerstaaten findet.

Der Rechten, den verschiedenen rechtspopulistischen, rechtsextremen oder gar faschistischen Parteien in Europa ist auch das nicht genug. Rassistische und faschistische Mobs greifen Geflüchtete an, die zuvor schon von der EU zum Vegetieren in Lagern verurteilt wurden. Die italienische Regierung würde am liebsten die Menschen vor Lampedusa zurückschicken oder absaufen lassen.

In ganz Europa trommeln die rechten Einpeitscher:innen gegen Geflüchtete und Migrant:innen. Sie präsentieren sich so den mittelständischen Unternehmen, dem Kleinbürger:innentum, den Mittelschichten und rückständigen Teilen der Arbeiter:innenklasse als reaktionäre, nationalistische, ja völkische Scheinantwort auf Krise, Inflation, Kriegskosten. Demagogisch, aber wirkungsvoll wird die reale Not um die eigene Existenz der angeblich kosmopolitischen Politik der Regierungen, den Geflüchteten und Migrant:innen in die Schuhe geschoben und im Extremfall mit der Mär vom „großen Austausch“ und ähnlichen irrationalen Verschwörungstheorien verknüpft. Der Irrationalismus stellt jedoch keine exklusive Besonderheit der Rechten dar, er spiegelt und verkehrt nur reale, irrationale bürgerliche Verhältnisse selbst.

Die Antwort der breiten bürgerlichen „Mitte“, die von Konservativen und Liberalen bis zu Grünen und Sozialdemokrat:innen reicht, bestätigt den Wahn noch zusätzlich, indem sie den Rechten auf halbem Weg mit einer Politik der Konzessionen entgegenkommt. Eine Politik der stetigen Verschärfung rassistischer Gesetze und stückweisen Anpassung an die angeblich berechtigten „Sorgen“ all jener, die AfD und RN auf den Leim gehen. Wie verdammt nahe diese Mitte dabei den Rechten schon gekommen ist, demonstriert die EU-Kommission im Schulterschluss mit der italienischen Regierung Meloni. Vor allem aber stellt diese rassistische Politik eine regelmäßige Bestätigung der rechten Verschwörungstheorien dar.

Während sich die Vorschläge der EU immer weiter nach rechts gegen die Flüchtlinge verschieben, will die viel gepriesene EU-Asylverordnung bislang nicht so recht gelingen. Ungarn, Polen und den Niederlanden geht der von Innenministerin Faeser so viel gepriesene Vorschlag der EU-Kommission, der „Kompromiss“, der faktisch das Asylrecht aushebelt, nicht weit genug. Die deutschen Grünen legen sich bislang noch quer, so dass die deutsche Enthaltung im EU-Rat bisher das Vorhaben blockiert hat. Ende September forderte Scholz im Kabinett die Aufgabe der grünen Linie und setzte sich damit jedenfalls vorerst durch. Offen bleibt freilich, ob es die EU-Verordnung durch das EU-Parlament schafft.

Widersprüche

Das Hin und Her der EU demonstriert dabei Zweierlei. Erstens stört es praktisch niemanden unter den Regierungsvertreter:innen, dass der gesamte Schacher auf dem Rücken von Hunderttausenden, ja Millionen Geflüchteten ausgetragen wird. Zweitens offenbart es die tiefen inneren Gegensätze zwischen den Nationalstaaten und unter verschiedenen Kapitalfraktionen.

Natürlich sind – von Teilen der extremen Rechten abgesehen – alle für die Aufnahme einer Flüchtlings„quote“, um damit die eigene, wenn auch zahlenmäßig fest begrenzte Humanität unter Beweis zu stellen. Außerdem sind alle für „geregelte“ Migration. Gerade in Zentren des europäischen Kapitalismus – so z. B. in Deutschland – herrscht in wichtigen Sektoren Arbeitskräftemangel. Diese Lücken zu füllen, gelten die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen jedoch als ungeeignet, müssten sie doch erst ausgebildet und angelernt werden.

Gleichzeitig sucht das Kapital migrantische Arbeitskräfte in Millionenmengen, deren Bildungskosten schon jemand anderes getragen hat – sei es als Fachkräfte im IT-Bereich, sei es als Pflegepersonal. Für diese – aber eben auch nur diese – sollte es nach Ansicht von Wirtschaftsvertreter:innen neuerdings sogar eine „Willkommenskultur“ geben. Die Beschaffung dieser Arbeitskräfte soll jedoch einerseits aus dem Reservoir billiger Arbeitskräfte aus den halbkolonialen Ländern Europas, vorzugsweise aus Osteuropa, erfolgen oder aus Ländern wie der Türkei, wo es lange etablierte Regelungen im Interesse des deutschen Kapitals gibt. Für Länder wie Deutschland bildet mittlerweile die Migration einen wichtigen, unersetzbaren Teil der Gesamtarbeitskraft. Für die Masse dieser Arbeiter:innen entpuppt sich die sog. „Willkommenskultur“ seit Jahren als zynische Phrase, deren realen Gehalt die streikenden LKW-Fahrer in Gräfenhausen, die Spargelstecher:innen aus Osteuropa oder Hunderttausende am eigenen Leib täglich verspüren. In Wirklichkeit reduziert sich das verlogene Gerede darauf, einem bestimmten Segment höher bis hoch qualifizierter Arbeitskraft Deutschland schmackhaft zu machen.

Zweitens und damit zusammenhängend will das Kapital den offenen Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften in der EU weiter gewährleistet sehen. Daher auch die Kritik von Unternehmerverbänden an den von AfD, CDU/CSU seit Monaten geforderten und nunmehr auch von der Ampel-Koalition zugesagten innereuropäischen Grenzkontrollen. Solche führen einige Länder schon jetzt durch. Deutschland will nun die Grenzen zu Polen und zu Tschechien verstärkt kontrollieren. Auch darin manifestieren sich die inneren Widersprüche des Europas des Kapitals.

Kampf gegen Rassismus ist Klassenpolitik!

Vor dem Hintergrund der globalen Krise und der inneren Widersprüche der EU forcieren nicht nur die Rechte und die bürgerliche Mitte den Rassismus durch den Staat oder auf der Straße. Auch in der Arbeiter:innenklasse und in der Arbeiter:innenbewegung setzen reformistische und vor allem (links)populistische Kräfte auf eine restriktive, rassistische Flüchtlings- und Migrationspolitik – und bereiten damit den Rechten den Boden auf. Die dänische Sozialdemokratie stellt ein besonders unrühmliches Beispiel auf diesem Weg dar, doch auch die SPD beschreitet ihn, wenn auch zögerlicher. Populist:innen wie Wagenknecht wiederum übernehmen in weiten Teilen das rechte Narrativ und setzen, wie auch eine Minderheitsfraktion im Unternehmer:innenlager, kleinbürgerliche Schichten und rückständige Arbeiter:innen auf nationale Abschottung als Alternative zum angeblichen Kosmopolitismus der EU.

Natürlich ist es für sie ein Leichtes, den Zynismus und die Verlogenheit der EU-Politik zu kritisieren und vorzuführen. Ihre Kritik ist jedoch dem Wesen nach reaktionär, rückwärtsgewandt. Sie will das Rad der Geschichte zurückdrehen und verklärt einen seligen sozialstaatlichen Kapitalismus, den es so ohnedies nie gab.

Ein fortschrittliche Antwort besteht letztlich im genauen Gegenteil: im Kampf gegen die Spaltung der Arbeiter:innenklasse, gegen die Selektion von Flüchtlingen und Migrant:innen in Ausgestoßene und Deportierte einerseits und entrechtete Lohnabhängige zweiter Klasse andererseits. Die sog. „geregelte“ Migration entrechtet immer einen Teil der Lohnabhängigen, erschwert ihre Kampfbedingungen und vertieft die ohnedies schon vorhandene Spaltung der Arbeiter:innen durch Rassismus und Nationalismus.

Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer, Grenzkontrollen in der EU und einer insgesamt menschenverachtenden rassistischen Politik braucht es eine menschenwürdige Alternative. Wir brauchen eine Massenbewegung von antirassistischen, Migrant:innenorganisationen, allen Arbeiter:innenorganisationen und vor allem von den Gewerkschaften!

• Nein zur Festung Europa! Nein zur europäischen Asylverordnung, nein zu allen Grenzkontrollen!

• Volles Asylrecht für alle Geflüchtete! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland und in der EU leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Organisierte Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant:innen, unterstützt von der gesamten Arbeiter:innenbewegung! Öffnung der Gewerkschaften für alle Geflüchteten und Migrant:innen!

• Statt des Europas der Imperialist:innen ein Europa des Widerstands, der Unterdrückten und Ausgebeuteten! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




Krankenhausreform: Kliniksterben in zwei Stufen

Jürgen Roth, Neue Internationale 276, September 2023

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte eine „Revolution“ angekündigt, doch seine Krankenhausreform endete als laues Lüftchen nach der Einigung mit seinen Länderkolleg:innen. Doch über die bundesdeutsche Kliniklandschaft wird sie als Orkan fegen, der Schneisen der Verwüstung hinterlassen wird.

Drohendes Defizit

Nach einem für 2023 gestopften Milliardenloch droht für 2024 ein erneutes Defizit. 2022 erzielten die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) noch ein Plus von 451 Millionen Euro. Die Einnahmen hatten sich pro Mitglied durch reguläre und Zusatzbeiträge um 4,37 % erhöht, die Ausgaben nur um 4,09 %. Doch die strukturellen Finanzierungsprobleme sind längst nicht beseitigt. Ihr Spitzenverband moniert, dass der Bund sich mehr an der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen wie Schwangerschafts- und Mütterversorgung beteiligen müsse. Das brächte allein 10 Milliarden zusätzlich ein.

Eigentlich wollte das Bundesgesundheitsministerium bis zum 31. Mai 2023 Empfehlungen für eine „stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ vorgelegt haben. Daraus wurde nichts. Die Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro für 2023 wurde mit einmaligen Maßnahmen geschlossen. Unter anderem wurden Reserven der GKV und des Gesundheitsfonds, eines bürokratischen Monsters zwecks Risikoausgleichs zwischen den einzelnen Kassen, um 7,2 Milliarden abgebaut und der Zusatzbeitrag stieg von 1,36 auf 1,51 % (2,5 Milliarden).

Der GKV-Spitzenverband favorisiert eine Neuausrichtung der Krankenhausversorgung und fordert eine Verminderung der Klinikanzahl um 400 auf 1.250. Dabei wurden seit Einführung der Fallpauschalen (DRGs) 2004 ein Viertel aller Kinderkliniken geschlossen, 40 % Betten abgebaut, obwohl die Zahl der Kinder in Deutschland von 9,8 Millionen 2013 auf 10,9 Millionen 2022 zugenommen hat. Bis 2025 wird ein Viertel der Kinderärzt:innen in den Ruhestand gehen.

Ursachen

Bei Fortschreibung der Ertragsabschlüsse von 2021 bis 2023 droht bereits dieses Jahr 18 % der Krankenhäusern die Insolvenz, 2030 44 %. Ende diesen Jahres schrieben dann 47 % keine schwarzen Zahlen, 2030 58 %. Seit Beginn der Pandemie haben sie insgesamt 13 % weniger Patient:innen. Im Jahr 2021 waren die 437.000 Betten der Allgemeinkrankenhäuser nur zu 66 % ausgelastet. Der Krankenhaus-Rating-Report fordert denn auch einen Abbau auf 310.000 Betten, 1.165 Einrichtungen würden ausreichen. Diese Berechnung bleibt also noch unter der Zahl des GKV-Spitzenverbands.

Zudem wird es im Gegensatz zu akuten Pandemiezeiten keinen staatlichen Rettungsschirm mehr geben. 20 % der noch stationär erbrachten Leistungen könnten künftig ambulant erfolgen, so der Report. Doch die Hoheit über den stationären Sektor liegt bei den Ländern. Baden-Württemberg und Bayern verzeichnen mit 40 % den höchsten Anteil von Häusern mit Verlusten. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) verlangt ein Vorschaltgesetz zum Inflationsausgleich. Die Erlössteigerungen von insgesamt 6,5 % für 2022 und 2023 seien bei Preissteigerungen um 17 % unzureichend. Monat für Monat verschuldeten sich die Häuser um weitere 600 Millionen Euro.

Kernpunkte der Reform stoßen auf Widerstand

Dazu zählen 1. eine Änderung des Vergütungssystems, 2. Neuordnung mit Versorgungsstufen, 3. Einführung von Leistungsgruppen. Spezialisierung und Konzentration werden hierbei mit Qualitätsverbesserung gleichgesetzt. Bei ausbleibender Reform wird eine Rationierung von Leistungen befürchtet.

Am 29. Juni 2023 erzielte die Bund-Länder-Runde keine Einigung. Die Länder blockierten eine einheitliche Regelung der Level (Versorgungsstufen) und schrieben weitere Ausnahmen zu den vorgesehenen Leistungsgruppen fest. Die DKG schätzt die finanziellen Belastungen infolge Kapazitätsverlagerungen, Fusionen und Neubauten auf einen Betrag zwischen 24 und 50 Milliarden Euro. Lauterbach verweigerte sich dem Ansinnen des Vorschaltgesetzes. Auch die Bundesländer hätten keine Möglichkeit, hier finanzielle Unterstützung zu leisten. Einzig das Konzept der Vorhaltepauschalen, die die Abrechnung nach DRGs aufweichen sollen, traf auf Zustimmung.

Am 29. Juni blieb von der Verpflichtung zur Einteilung in verschiedene Level lediglich ihr Charakter als Empfehlung über. Der Bund will aber im Rahmen einer sog. Transparenzoffensive eine Qualitätsbewertung der Kliniken offenlegen mit Daten zu Komplikationsraten, Fallzahlen, Facharztdichte und Pflegepersonalausstattung.

Vorhaltekosten, die unabhängig, ob Patient:innen behandelt werden, entstehen, sollen je nach Leistungsgruppe ermittelt werden. In der Übergangszeit wird ihr Anteil je nach Leistungsgruppe auf zwischen 20 und 40 % festgesetzt und für die vereinbarte Fallzahl dem Krankenhaus ausbezahlt unabhängig davon, ob diese auch erreicht wurde. Jede Fallpauschalenabrechnung wird um diesen Anteil gekürzt.

Ökonomisierung geht weiter

Eine Revolution sucht man in diesem Regelwerk vergebens. Die Reform soll budgetneutral gestaltet sein, also nichts kosten. Der Warencharakter der Behandlung bleibt erhalten, weil die Abrechnung über DRGs weiter erfolgt, wenn auch mit Abschlägen. Die tatsächlichen Vorhaltekosten werden nicht refinanziert, sondern als auf Fallzahlen bezogene Pauschalen erstattet. Eine zweckgebundene Verwendung ist nicht vorgeschrieben, so dass sie als Gewinne ausgeschüttet werden können.

Die um ihr wirtschaftliches Überleben ringenden Einrichtungen werden die Reform gar nicht erleben oder sie wird ihnen nicht helfen, da sie budgetneutral umgesetzt werden soll. Während niemand auf die Idee käme, die Feuerwehr für ihre Löscheinsätze zu bezahlen oder Gewinne zu erwarten, ist das beim stationären Sektor grundsätzlich anders. Letztlich bleibt für viele Häuser nur die Wahl zwischen kaltem oder reguliertem Strukturwandel, Sterben vor der oder durch die Reform.

Einigung

Am Montag, den 10. Juli 2023, erfolgte dann doch noch rechtzeitig zur Parlamentssommerpause die Einigung zu den Eckpunkten einer zukünftigen Krankenhausreform zwischen Bund und Ländern mit einer Gegenstimme aus Bayern und einer Enthaltung aus Schleswig-Holstein. Somit kann Lauterbachs Hoffnung aufgehen, das Gesetz nach den Lesungen in beiden Kammern zum 1. Januar 2024 in Kraft treten zu lassen. Die Veröffentlichung der Qualitätsdaten je Haus soll die Länder zum Handeln zwingen. Diese können entscheiden, ob sie 2025 oder 2026 in die Umsetzung gehen. Die Länder können als Plus verbuchen, dass sie bei der Definition von Leistungsgruppen mitwirken können und ihnen ihre jahrelange Unterfinanzierung der Investitionskosten nicht vorgehalten wird, die dazu geführt hat, dass die Kliniken auf Kosten von Personal und Patient:innen zum Ausgleich gezwungen wurden, mit noch mehr Fällen mehr Geld zu verdienen. Der Bund kreidet sich als Plus an, dass es kein zusätzliches Geld geben wird.

Lauterbach wurde nicht müde zu betonen, dass die Reform eine „Existenzgarantie für kleine Kliniken auf dem Land“ bedeute. Die „Revolution“ der Vorhaltepauschalen – der Minister sprach sogar von 60 % – ermögliche das. Es ist genau umgekehrt: Sie erhalten nur Kliniken, die entsprechende Qualitätskriterien bzgl. Ausstattung, Personal und Behandlungserfahrungen – sprich hohen Fallpauschalen – erfüllten. Sie nutzen also v. a. den Versorgungsstufen II und höher, je höher desto mehr – und der Volksverdummung durch den Bundesgesundheitsschwätzer!

Über den Sommer soll nun eine Arbeitsgruppe mit Vertreter:innen des Bundes sowie aus dem SPD-geführten Hamburg, dem grünen Baden-Württemberg, dem CDU-regierten Nordrhein-Westfalen und dem rot-roten Mecklenburg-Vorpommern ein Gesetz entwerfen. Nach Beschluss durch Bundestag und Bundesrat bis zum Jahresende soll es 2024 und 2025 in entsprechende Landesgesetze gegossen und jeweils ein Jahr später mit der Umsetzung begonnen werden.

Aufkommende Skepsis

DKG-Vorstand Gerald Gaß bemängelte, kaum waren die Eckpunkte festgezurrt, die vielen Prüfaufträge und Auswertungsanalysen, die noch realisiert werden müssten. Er fürchtete, die Mehrfachdokumentationspflicht werde durch die Vorhaltepauschalen noch größer. Zu den regionalen Gesundheitszentren gebe es keine genauen Vorstellungen. Ein Gerangel über die Zuständigkeiten sei zwischen Bundesländern und Kassenärztlichen Vereinigungen zu erwarten. Unklar bleibe auch, wer in welchem Umfang den Transformationsfonds finanzieren solle, klar indes, dass Konsens herrsche, dass vor der Reform Standorte verlorengehen würden, denn die Erlöse hinkten hinter den Kostensteigerungen (Inflation!) her. Ein Vorschaltgesetz sei ja dezidiert abgelehnt worden. Ins gleiche Horn tutete der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags Helmut Dedy. Zwar wollten einige Bundesländer ihre vernachlässigten Investitionen aufstocken, doch schon jetzt seien Finanzierungsprobleme mit Händen zu greifen. Laut Minister Lucha (Baden-Württemberg) erkennt die dortige GKV die Tarifsteigerungen in der Psychiatrie nicht an.

Im Gegenzug kritisierten die gesetzlichen Krankenkassen Pläne von Bund und Ländern, mit Zuschlägen für einzelne Leistungsgruppen in ihre Taschen zu greifen. Die Vorsitzende der Ärzt:innengewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, wies darauf hin, schon die Zusammenlegung von Abteilungen und Umbauten seien nicht zum Nulltarif zu haben. Dem Deutschen Pflegerat fehlt eine jetzt gebotene neue Kompetenzverteilung der Gesundheitsfachberufe, sprich ein Bedeutungszuwachs für die Pflege.

Kritik der Linkspartei

„Integrierte Versorgung statt Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft“ lautet ein 14-seitiges Konzept, das u. a. von den Bundestagsabgeordneten Kathrin Vogler und Ates Gürpinar sowie gesundheitspolitischen Sprecher:innen aus 8 Bundesländern erarbeitet wurde. Hintergrund sei die „Zurückdrängung“ von Profit und Kostendruck. Auch der Linksreformismus verschreibt sich also fruchtloser Sisyphusarbeit als Transformationsstrategie, als sei die zentrale Akkumulationsdynamik unterm Kapitalismus eine lässliche Option. Parteivorsitzende Janine Wissler beschwichtigte gleich die bürgerliche Öffentlichkeit. Man habe es, versichert sie, nicht auf die Enteignung privater Kliniken abgesehen, sondern um einen rechtlich sicheren Weg zur Entprivatisierungs- und Rekommunalisierungsoffensive. Hauptsache legal und dem Kapital nichts gestohlen, so ist der Weg zum Sozialismus für die Genossin zwar verbaut, aber „rechtlich sicher“. Solche Worte erinnern an den Tenor sämtlicher „Sozialisierungs“- und DWE-&-Co.-Expert:innenkommissionen zur Verschleppung und Verhinderung der Enteignung.

Statt Fallpauschalen Erstattung der tatsächlichen Kosten und Ausgleich der Defizite durch die öffentliche Hand. Der Stein der Weisen ist das nicht! Vor der Einführung der DRGs erstatteten die Krankenkassen nicht die tatsächlichen Kosten, sondern zurrten in zähen Verhandlungen das Budget mit jeder einzelnen Klinik fest. Und warum soll die öffentliche Hand das finanzieren statt durch eine Reichensteuer?

Ferner bemängelt DIE LINKE die fehlende Finanzierung, auch der Investitionskosten durch die Länder und warnt vor der Existenzgefahr für viele Häuser – vor der Reform wie durch sie selbst. In der Hauptstadt könnte von 60 nur die Hälfte übrigbleiben. Schon jetzt erhielten manche keine Kredite mehr und Fachkräfte bewerben sich nicht bei kleinen Einrichtungen. Die Auswahl der Reformberater:innen durch den Bundesgesundheitsminister sei undemokratisch. Patient:innen- und Beschäftigtenvertretungen fehlten, Arbeitsbedingungen stünden nicht zur Debatte. Als künftiges Rückgrat einer wohnortnahen und integrierten Gesundheitsversorgung empfiehlt DIE LINKE Versorgungszentren in kommunaler Trägerschaft mit ambulanten, stationären und notfallmedizinischen Leistungen aus einer Hand und Anbindung an Krankenhäuser höherer Versorgungsstufen. Zu einer Rettungsstelle dürften höchstens 30 Fahrminuten liegen. Dass diesem richtigen Vorschlag zur Einebnung der Unterschiede zwischen ambulantem und stationärem Sektor seitens der niedergelassenen Ärzt:innenschaft erbitterter Widerstand entgegenschlagen wird, darauf sollte sich die Linkspartei allerdings einstellen. Sie will nach der Reform wegfallende Häuser entweder mit Zuschüssen erhalten (von wem?) oder in medizinische Versorgungszentren nach skandinavischem Vorbild (mit Gemeindepflegekräften) umgewandelt sehen.

Bei aller Kritik ist dieses Konzept doch der Kritik am Strohhalm im Auge der Reform überlegen und in etlichen Punkten unterstützenswert.

Gemeingut in Bürger:innenhand (GiB)

Wesentlich härter als DIE LINKE geht GiB mit der geplanten Reform ins Gericht. Eine Analyse des Bundesgesundheitsministeriums selbst (!) bestätigt, dass demnach 40 % keine stationäre Allgemein- und Notfallversorgung anbieten, weil sie entweder zu ambulanten Gesundheitszentren oder reinen Fachkliniken „abgestuft“ werden. Die lautstarke Opposition der Länder sei lediglich Symbolpolitik. Klaus Holetschek (Gesundheitsminister Bayerns, CSU) habe gegen die Eckpunkte gestimmt, weil Lauterbachs Versorgungsstufen (Level) das Angebot in der Fläche reduzierten. Das tun aber auch die von ihm favorisierten Leistungsgruppen. Die Landesregierungen, die seit Jahren gesetzlich vorgeschriebene Investitionsmittel zurückhielten, könnten diese nun im Zuge des Reformkahlschlags ganz legal einsparen. Durch geplante Umwandlungen und Schließungen seien weit über 100.000 Stellen betroffen, es drohten weitere Wege zum Arbeitsplatz, noch mehr Bürokratie und Arbeitsverdichtung und der Verlust von Ausbildungsplätzen. Über das Programm der LINKEN hinaus fordert die Bürger:innenbewegung Renditeverbot und in 30 Minuten erreichbare Allgemeinkrankenhäuser mit mindestens den Abteilungen Chirurgie, Innere Medizin, Gynäkologie, Geburtshilfe, Intensivmedizin und Basisnotfallversorgung.

Lauterbach sei es gelungen, sein Prinzip von der Verwaltung des Mangels durchzusetzen. Zuvor hatte er in den Haushaltsberatungen so viele Kürzungen geschluckt wie kein anderes Ressort. Zum ganzen Prozedere passe auch die neue Richtlinie zur Ersteinschätzung in der ambulanten Notfallversorgung, wonach künftig in Rettungsstellen Patient:innen ohne ärztliche Begutachtung abgewiesen werden dürften. Die Einschätzung, Klinikschließungen könnten dem Markt mehr Personal zur Verfügung stellen und Geld für die Behandlungen sparen, weist GiB als Legende zurück. Werden an anderer Stelle mehr Patient:innen behandelt, braucht man dort auch mehr Personal. Viele Beschäftigte wollten aber gar nicht wechseln und bei größeren Konzentrationsprozessen dem Beruf den Rücken kehren. Auch Maximalversorger würden pro Bett mindestens die gleichen Summen brauchen.

Dem Fazit der GiB ist Recht zu geben: „Bis 2026 werden wir ein regelloses Sterben unter den 60 Prozent der Kliniken erleben, die seit Jahren rote Zahlen schreiben. Mit Inkrafttreten der Reform kommt die Phase des geregelten Kliniksterbens – dann steuert der Bund die Schließungen über seine Qualitätsvorgaben, die festlegen, dass kleine Krankenhäuser zumachen und ihr Personal an Großkliniken abgeben müssen.“ (GiB-Infobriefe 1.6.2023 und 13.7.2023)

Kliniksterben in zwei Stufen eben!

Gegenwehr und Forderungen

Doch weder DIE LINKE noch GiB gehen über mehr oder weniger richtige Vorschläge, Lobbyismus und Parlamentarismus hinaus.

Forderungen wie Gemeineigentum unter demokratischer Verwaltung verklären dagegen sowohl den bürgerlichen Staat wie seine Demokratie. Sie umgehen nicht nur die Frage der entschädigungslosen Enteignung bei der Wiederverstaatlichung der privaten Klinikketten, sondern suggerieren, staatskapitalistisches Eigentum sei schon Vergesellschaftung (Gemeineigentum). Der staatliche und frei-gemeinnützige Krankenhaussektor hinderte die herrschende Klasse in der BRD in der Vergangenheit ja nicht an umfangreichen Kostendämpfungsprogrammen, die schließlich über zahlreiche Stufen zur immer mehr gesteigerten Umwandlung in die heutige weiße Fabrik geführt haben und weiter führen werden.

Dagegen können nur Klassenkampfmethoden bis hin zum Generalstreik den geplanten Kahlschlag wirksam verhindern!

Erste Ansprechpartnerin dafür sollte die Krankenhausbewegung sein, von der der Startschuss dafür auf einer Strategiekonferenz gegen Krankenhausumstrukturierungen fallen muss. Schließlich hat sie für Entlastung zumindest teilweise erfolgreich bekämpft und sollte eine solche „Lösung“ der Personalknappheit unbeugsam bekämpfen.

Doch reicht ein Tarifvertrag dafür nicht. Auf Regierungskommission, ja selbst auf skeptische Bundesländer und DKG dürfen wir uns nicht verlassen! Die Arbeiter:innenbewegung braucht ihre eigene politische Gegenmacht in Gestalt von Kontrollräten über das gesamte Gesundheitswesen einschließlich seiner Finanzierung durch Progressivsteuern und gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle unter Kontrolle von Gewerkschaften, Beschäftigten und Patient:innen, um den Weg zu seiner nachhaltigen, integrierten, letztendlichen sozialistischen Umgestaltung einschlagen zu können.




Selbstbestimmungsgesetz: Ist das schon Selbstbestimmung?

Stephie Murcatto, Neue Internationale 276, September 2023

Am 23. August 2023 hat das Bundeskabinett den Entwurf für das Selbstbestimmungsgesetz beschlossen. Jetzt muss das Gesetz nur noch im Bundestag abgestimmt werden. Aber was beinhaltet es eigentlich?

Erst einmal das Positive: Das Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht es trans-, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen, ihren Namen und Geschlechtseintrag auf Antrag beim Standesamt zu ändern. Dabei gilt, dass die Veränderung des Eintrags 3 Monate vor der sogenannten „Erklärung mit Eigenversicherung“ beim Standesamt angemeldet werden muss. Danach kann man seinen Namen und Geschlechtseintrag ändern. Dies ist eine erhebliche Erleichterung und ein großer Fortschritt im Kampf um Selbstbestimmung, da man keinen erniedrigenden Prozess durchlaufen, sich kein Gutachten besorgen muss, das bestätigt, dass man trans ist, und dann keinen oft Jahre andauernden Gerichtsprozess durchlaufen muss, um den Eintrag tatsächlich ändern zu können.

Die Grenzen der Selbstbestimmung

Bei minderjährigen Menschen ist der Prozess der „Selbstbestimmung“ jedoch weniger selbstbestimmt. Personen ab 14 Jahren haben zwar das Recht, ihren Antrag auf Geschlechtsänderung selbst einzureichen. Die Wirksamkeit des Antrags hängt jedoch von der Zustimmung der sorgeberechtigten Person oder des Familiengerichts ab. Als Minderjährige/r ist man also immer noch auf die Eltern angewiesen – auch wenn diese transphob sind – und muss „beweisen“, dass man richtig trans ist, bevor man Selbstbestimmung erhält. Für Unter-14-Jährige ist es noch schlimmer: Die dürfen nicht mal den Antrag selber einreichen und haben wenig mitzureden, welches Geschlecht oder Namen man angeben will. Das macht die Kinder nochmals wesentlich abhängiger von ihrer Familie, die eine vollständige Kontrolle darüber hat, wie das Kind eingetragen ist. Sehr selbstbestimmt, liebe Bundesregierung!

Das Ganze wird auch nicht besser: Der vom Bundeskabinett beschlossene Entwurf schließt sogar aus, dass Menschen, deren Visa bald ablaufen, das Recht auf Selbstbestimmung erhalten. Sie dürfen ihren Eintrag erst nach der Visa-Erneuerung ändern. Das soll angeblich sicherstellen, dass Menschen das Selbstbestimmungsgesetz nicht missbrauchen, um sich vor der Abschiebung zu drücken, aber ist in der Realität ein rassistischer Angriff auf migrantische Menschen. Es wird auch festgehalten, dass die Änderung eines männlichen Eintrags im „Spannungs- und Verteidigungsfall“ jederzeit ausgesetzt werden kann, angeblich um Männer daran zu hindern, sich dem Militär zu entziehen. Im Entwurf ist auch explizit festgehalten, dass Betreiber:innen von beispielsweise Frauensaunen das Recht behalten, trans Frauen aufgrund ihres trans Seins aus ihren Saunen zu verweisen.

Staatlich bekannte Selbstbestimmung

All das zeigt den rassistischen, sexistischen und transfeindlichen Hintergrund dieses Gesetzes auf, aber es wird noch besser: Im sogenannten Selbstbestimmungsgesetz, das heute vom Kabinett beschlossen wurde, ist inkludiert, dass, sobald man seinen Namen und Eintrag geändert hat, diese Information direkt an alle möglichen Sicherheitsbehörden weitergegeben wird. Diese umfassen das Bundeskriminalamt (BKA), die Landeskriminalämter, die Bundespolizei, das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst und weitere. Dabei werden automatisch Nachname, bisherige und geänderte Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort, Staatsangehörigkeit/en, bisheriger und geänderter Geschlechtseintrag, Anschrift und Datum der Änderung weitergegeben.

Kurz gesagt: Polizei und Militär, beides Institutionen, die dafür bekannt sind, dass sich rechte und faschistische Strukturen in ihnen ausbreiten, erhalten eine Liste von allen trans Menschen mit aktueller Adresse. Dass das nicht geht und einen massiven Angriff auf die Sicherheit von allen trans-, intersexuellen und non-binären Menschen darstellt, sollte uns allen klar sein. Wir können nicht zulassen, dass trans Personen einerseits unfreiwillig geoutet werden sowie andererseits auch faschistische Strukturen ihre Adressen wissen.

Was können wir dagegen tun?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz einiger längst überfälliger Verbesserungen für trans Menschen der Entwurf rassistische und transfeindliche Regeln enthält, die eine erhebliche Gefahr für trans-, intersexuelle und nicht-binäre Menschen und ihre Sicherheit darstellen. Ebenso gibt’s weiterhin nur eingeschränkte Selbstbestimmung für Jugendliche. Das und die aktuellen Angriffe und Debatten um die Rechte von trans Menschen wie in den USA werfen die Frage auf: Was tun? Wie können wir uns gegen steigende Gewalt und die zunehmenden Angriffe verteidigen? Kurz gesagt: Wer das Problem an der Wurzel packen will, darf keine Illusionen in den bürgerlichen Staat oder die Polizei haben. Das heißt nicht, keine Forderungen zu stellen, aber der Kapitalismus profitiert von der binären Geschlechtereinteilung, da er auf die Reproduktionsarbeit im Privaten angewiesen ist. Konkret muss also der Kampf für Verbesserungen für trans Personen mit dem gegen das kapitalistische System verbunden werden.

Aber die alleinige Verteidigung gegen Angriffe von rechts ist nicht genug. Schließlich ist die Lage von trans Menschen schon schlimm genug. Es braucht eine Bewegung, die für tatsächliche Selbstbestimmung, aber auch Emanzipation von trans, intersexuellen und nicht-binären Menschen kämpft. Eine solche Bewegung muss aus der Defensive herauskommen und tatsächliche Verbesserungen erkämpfen. Dabei sollte sie Hand in Hand mit den Gewerkschaften den Streik als Hauptaktionsform nutzen, denn dieser kann die jetzige Gesellschaft zum Stillstand zwingen und Platz schaffen für tatsächliche Selbstbestimmung und wahre Emanzipation.

Um diese Ziele zu erreichen, fordern wir:

  • Selbstbestimmung für alle, unabhängig von Alter oder Herkunft: Volle rechtliche Gleichstellung von LGBTIA+! Gleichstellung aller Partnerschaften und Lebensgemeinschaften mit der Familie!
  • Gewalt stoppen: Demokratisch organisierte und gewählte Verteidigungskomitees gegen Übergriffe auf LGBTIA+!
  • Für das Recht auf gesonderte Treffen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung, um den Kampf für Gleichberechtigung voranzutreiben und gegen diskriminierendes und chauvinistisches Verhalten vorzugehen!