Den Rechtsruck aufhalten – aber wie?

Emilia Sommer, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 12, März 2024

Die Umfragewerte der AfD sind so hoch wie nie. Sie stellt zum ersten Mal Bürgermeister:innen und plant auf Geheimtreffen massenhafte Abschiebungen. Gleichzeitig verabschiedete die Regierung ein Rückführungsgesetz, welchen ebendies erleichtert, und der  deutsche Staat geht mit extremer Gewalt gegen palästinasolidarische Meenschen vor, führt Razzien durch und kriminalisiert Aktivist:innen. Auch wenn sie sich aktuell medienwirksam auf den Anti-AfD-Protesten zeigt, ist klar, dass die Ampel-Regierung mit ihrer Umsetzung rechter Forderungen den Rechtsruck aktiv befeuert und den Aufstieg von AfD & Co mitermöglicht.

Ein internationales Problem

Auch international ist der Rechtsruck nicht zu übersehen: Ob Fratelli d’Italia in Italien, Geert Wilders in den Niederlanden, Milei in Argentinien oder die rechtspopulistischen „Schwedendemokraten“, alle zeigen, dass rechte Regierungen auf dem Vormarsch sind und eine kämpferische linke Perspektive noch immer auf sich warten lässt. Dabei schüren sie nicht nur Rassismus, sondern bringen auch für Frauen und Queers einen Rollback mit sich. So erließ  2020 das polnische oberste Gericht ein nahezu vollständiges Verbot von  Schwangerschaftsabbrüchen, viele US-amerikanische Bundesstaaten zogen nach und auch, wenn es in Deutschland seit knapp zwei Jahren nicht mehr strafbar ist, warten wir vergeblich auf Streichung des § 218, der diese nach wie vor kriminalisiert und lediglich duldet trotz großer Ankündigungen der Ampel. Doch die Liste geht noch weiter: In Italien stellte die Regierung kürzlich die Geburtsurkunden von Kindern in Regenbogenfamilien in Frage – also gleichgeschlechtlicher Eltern. Das Ziel: Nur der „leibliche“ Elternteil soll anerkannt bleiben. Dem oder der Partner:in wird demnach der Elternstatus entzogen. Das ungarische Parlament geht sogar so weit, ein Gesetz zu erlassen, welches dazu ermuntert, gleichgeschlechtliche Eltern wegen Verletzung der „verfassungsrechtlich anerkannten Rolle von Ehe und Familie“ bei den örtlichen Strafverfolgungsbehörden zu melden. Neben der Anzeige von Regenbogenfamilien erlaubt das Gesetz auch die anonyme Anzeige von „jedem/r, der/die die wahre Bedeutung von Familien, die in der ungarischen Verfassung definiert ist, leugnet oder ändert“.  All das führt uns zu der Frage: Was tun? So weitergehen kann es schließlich nicht. Doch bevor wir dazu kommen, müssen wir zuerst kurz anschauen, woher der Rechtsruck kommt und warum aktuell so viele rechts wählen.

Krise und Rechtsruck: die Ursache kennen

Dazu müssen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen: Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 hat sich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalisten:innen und ihren Staaten verschärft. Es kam zu einer massiven Konzentration von Kapital. Gerade die größeren Monopole konnten davon profitieren, während kleinere Unternehmen nicht mithalten konnten. Kleinere Unternehmer:innen, auch gerne als Mittelstand bezeichnet, haben Angst, ihre Stellung zu verlieren und pleitezugehen. Getrieben von der Angst vor sozialem Abstieg fangen sie an, laut herumzubrüllen: Protektionismus, Nationalchauvinismus, Standortborniertheit, das sind ihre Argumente, um sich zu schützen. Kurz gesagt: Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen, um nicht ihren Reichtum zu verlieren. Sie wollen den globalen Kapitalismus also auf reaktionäre Art bekämpfen. Mit der Fokussierung auf Nationalstaat und Protektionismus geht auch einher, dass das Ideal der „bürgerlichen Familie“ gestärkt werden muss. Denn im Kapitalismus ist die Arbeiter:innenfamilie der Ort, wo unbezahlte Reproduktionsarbeit stattfindet. Ob nun Kindererziehung, Altenpflege, Waschen oder Kochen – all das reproduziert die Arbeitskraft der einzelnen Arbeiter:innen und sorgt gleichzeitig dafür, dass dem Kapital die Arbeitskraft nicht ausgeht. Oftmals wird diese unbezahlte Hausarbeit von Frauen verrichtet. Diese Arbeitsteilung wird dadurch gefestigt, dass sie weniger Lohn als Männer erhalten und sie somit nach einer Schwangerschaft eher zu Hause bleiben. So verdienen sie beispielsweise im Schnitt immer noch weniger als Männer trotz öffentlichem Diskurses über den Gender Pay Gap, machen deutlich mehr der Beschäftigten in sozialen Berufen aus und arbeiten immer noch doppelt so lang im Haushalt wie Männer. Im Kontrast dazu stehen erkämpfte Rechte von Frauen und LGBTIAs. Ob nun Legalisierung von Homosexualität, die Gleichstellungsgesetze, das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper – all das lehnen die Rechten mit aller Macht ab. Das traditionelle Bild der Frau als Mutter, emotionale Versorgerin und Pflegende trägt also aktiv zur Profitmaximierung bei, Sexismus hat eine materielle Grundlage und queere Partner:innenschaften, Identitäten und Familien stellen dieses klassische Bild infrage.

Warum wählen aktuell so viele Menschen rechts?

Natürlich gibt es dafür mehrere Gründe. An dieser Stelle wollen wir uns jedoch auf einen konzentrieren – die Finanzkrise 2007/2008. Im Rahmen dieser nahm nicht nur die Konkurrenz zwischen einzelnen Kapitalfraktionen zu. Es kam auch zu einer wachsenden Verelendung der Arbeiter:innenklasse. Damals wurden die Kosten der Krise auf diese abgewälzt: Viele wurden entlassen, vielerorts sind Löhne nicht gestiegen, während zugleich die Lebenshaltungskosten in die Höhe kletterten. Dagegen passiert ist nicht viel. Massenproteste wurden im Namen der Sozialpartnerschaft klein gehalten oder konnten nicht gewonnen werden wie in Griechenland. Das hat viele enttäuscht und so wendeten sie sich beispielsweise der AfD zu, die sich als Alternative zu den etablierten Parteien mittels Ablehnung der EU und rassistischer Hetze darstellen konnte. Doch statt dem was entgegenzusetzen, gab es eine Verschiebung nach rechts. Viele Parteien haben sich vor den Karren spannen lassen. Während Rechtspopulist:innen hetzten, verabschiedeten sie Gesetze und stimmten in den Chor mit ein. Vorbei ist die Willkommenskultur, jetzt haben wir einen Olaf Scholz der sagt „Wir müssen endlich konsequent abschieben”. Das ist kein Zufall: Getrieben von der Angst vor Wähler:innenverlusten bildet Rassismus gleichzeitig ein gutes Mittel, um von Einsparungen und fehlenden Lohnerhöhungen abzulenken. Migrant:innen werden zum Problem gemacht, nicht nicht die Unterordnung aller politischen Ziele unter die Interessen des Kapitals. Die Krise im Zuge der Pandemie befeuerte diese Entwicklung erneut. Doch so abgefuckt diese Entwicklung ist: Es liegt in unseren Händen, etwas dagegen zu tun. Aber was braucht es, um den Rechtsruck aufzuhalten?

Gemeinsam gegen den Rechtsruck!

Um den Vormarsch der Rechten zu stoppen, müssen wir eine Bewegung aufbauen. Dabei braucht es nicht nur einzelne Mobilisierungen, bei denen sich Regierungsvertreter:innen, die letzten Endes den Aufstieg der AfD mit zu verantworten haben, ggenseitig auf die Schultern klopfen können ganz nach dem Motto: „Jetzt waren wir auch im Widerstand!”, während sie einen Atemzug später Gesetze verabschieden, die mehr von uns abschieben. Wir brauchen mehr:

1. Raus aus der Defensive: Gegen  Sparpolitik und soziale Unterdrückung!

Statt sich einfach nur an den Rechten abzuarbeiten und auf diese zu reagieren, müssen wir konkrete Verbesserungen erkämpfen. Das heißt, wir sind nicht nur gegen Abschiebungen, sondern für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle. Wir fordern nicht nur Abrüstung, sondern lehnen jede Finanzierung des staatlichen Gewaltmonopols, also der Polizei und Bundeswehr, getreu dem Motto, „Keinen Cent für Militarismus und Repression“ ab. Auch treten wir nicht nur gegen die zahlreichen Sparmaßnahmen, sondern für den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus, die Enteignung der Wohnungsspekulation, der großen Banken und Konzerne ein, für die Finanzierung unseres Gesundheits- und Bildungssystems durch Besteuerung von Profit und Vermögen der Reichen – unter Kontrolle der Arbeiter:innen, Mieter:innen, Lehrenden und Lernenden. Dabei ist es zentral, daran anzusetzen, was den Rechtsruck befeuert: Sparpolitik und Sozialpartnerschaft. Allerdings darf man auch nicht der Illusion verfallen, dass es nur ausreicht, die „sozialen Fragen“ zu betonen. Diese Forderungen müssen konsequent mit Antirassismus und -sexismus verbunden werden, denn nur in praktischen Kämpfen kann man den sich etablierenden Rassismus zu beseitigen anfangen. Widmet man sich in der jetzigen Situation nur den sozialen Fragen, vergisst man, dass soziale Unterdrückung spaltet, und kann sie schlechter bekämpfen:

  • Investitionen in Bildung, Gesundheit und Soziales, finanziert durch die Gewinne der Reichen, die aktuell noch einmal so richtig Gewinn aus der Krise ziehen!
  • Massive Lohnerhöhung und automatischer Inflationsausgleich in Form einer gleitende Lohnskala!

2. Druck ausüben und klaren Klassenstandpunkt beziehen

Breite Proteste, wie wir sie mit #wirsinddiebrandmauer sehen, scheinen auf den ersten Blick wünschenswert. Doch die große Einheit, die die scheinbar größte Stärke des Protestes ist, macht gleichzeitig ihre größte Schwäche aus. Doch uns helfen weder Versammlung aller linken Kleinstgruppen, die die besten Forderungen aufwerfen, aber keine reale Verankerung auf die Straße bringen, noch riesige Proteste, die nur abstrakte, verwaschene Parolen wie „Menschenwürde” und „Toleranz” vor sich her tragen.

Deswegen treten wir für ein Bündnis vor allem aus den Organisationen der Arbeiter:innenklasse, also Gewerkschaften, Sozialdemokratie und linken Reformist:innen, ein. Diese in Bewegung zu setzen, ist zentral, da sie einen Großteil der organisierten Arbeiter:innen hinter sich herführen. Das ist ein entscheidender Punkt, wenn es darum geht, Verbesserungen zu erkämpfen. Dies wird nicht nur mittels Demonstrationen passieren, sondern man muss beispielsweise mittels Streiks Druck ausüben. Das heißt nicht, dass Kräfte wie die Grünen nicht mitlaufen können – nur sollte man für deren Beteiligung keine Kompromisse eingehen. Denn Rassismus und Sexismus sind nicht einfach nur beschissen. Sie schwächen auch das objektive Interesse aller Arbeiter:innen. Anstatt zusammen für eine bessere Lebensgrundlageeinzutreten, bekämpft man sich gegenseitig („Teile und herrsche!“). Doch diese in Bewegung zu setzen, ist gar nicht so einfach. Deswegen muss man versuchen, in bestehenden Proteste zu intervenieren, und klar aufzeigen: Ihr wollt den Rechtsruck aufhalten? Dann lasst uns Verbesserungen für alle erkämpfen und mobilisiert richtig dafür! Wir brauchen nicht nur Floskeln, sondern konkrete Aktionen!

Um das zu ermöglichen, setzen wir uns im Rahmen solcher Bündnisse – auch Einheitsfronent genannt – für volle Kritik- und Propagandafreiheit ein. Denn es muss möglich sein, gemeinsam Proteste zu organisieren und gleichzeitig Unterschiede sowie Differenzen zu äußern, damit auch innerhalb der gesamten Bewegung politische Vorschläge diskutiert werden.

3. Rein in den Alltag: Für eine Basisbewegung an Schulen, Unis und in Betrieben!

Große Demonstrationen und Kundgebungen sind gut, aber reichen bei weitem nicht aus. Sie mögen vielleicht jenen, die schon überzeugt sind, Kraft geben. Aber das Ziel bleibt jedoch, mehr Menschen zu erreichen und überzeugen. Stattfinden kann das, indem man Kämpfe um reale Verbesserungen für alle organisieren hilft und diese an jene Orte trägt, wo wir uns tagtäglich aufhalten müssen: Schulen, Unis und Betriebe. Demonstrationen oder Kundgebungen können als Aufhängerinnen genutzt werden, um Vollversammlungen vor Ort zu organisieren, Aktionskomittees zu bilden, die die Forderungen der Bewegung erklären und gleichzeitig mit Problemen vor Ort verbinden. Deswegen ist es zentral, dass Organisationen, die den Protest unterstützen, nicht nur einen Aufruf unterzeichnen, Geld spenden und eine Pressemitteilung herausgeben, sondern auch ihre Mitgliedschaft dazu aufrufen, aktiv an Schulen, Unis und in Betrieben zu mobilisieren.

4. International is’ Muss!

Der Rechtsruck ist nicht nur ein deutsches, sondern internationales Problem. Hinzu kommt, dass mit Deals zwischen unterschiedlichen Ländern oder gemeinsamen „Initiativen“ wie Frontex vor allem imperialistische Länder versuchen, sich die Probleme der Geflüchteten vom Leib zu halten. Wenn wir uns dem Rechtsruck entgegenstellen, Festungen wie die Europas erfolgreich einreißen wollen, bedarf es mehr als einer Bewegung in einem Land. Deswegen müssen wir das Ziel verfolgen, gemeinsame Forderungen und Aktionen über die nationalen Grenzen hinaus aufzustellen. Das kann anfangen, indem man gemeinsame Aktionstage plant und schließlich gemeinsame Strategie- und Aktionskonferenzen organisiert, in denen Aktivist:innen gemeinsam über die Perspektive der Bewegung entscheiden.

Bewegung alleine reicht nicht!

Doch die Aufgabenliste endet für uns damit nicht: Bewegung alleine reicht nicht aus. Sie kann es  nicht schaffen, die Wurzeln von sozialer Unterdrückung wie Rassismus, Sexismus oder LGBTIA+-Diskriminierung auszureißen, da diese mit dem kapitalistischen System verwoben sind. Deswegen besteht die Aufgabe für Revolutionär:innen innerhalb dieser Bewegung darin, einen klaren antikapitalistischen, internationalistischen Pol zu bilden und eine deutliche Perspektive aufzuzeigen. Wir treten für Verbesserungen im Hier und Jetzt ein, müssen aber gleichzeitig den Weg aufzeigen, wie wir zu einer sozialistischen Gesellschaft kommen. Deswegen werfen wir auf, dass bei Finanzierungsfragen dies durch Besteuerung der Reichen oder Enteignung passieren muss sowie die Kontrolle über Verbesserungen und, wie diese umgesetzt werden, bei Arbeiter:innen und Unterdrückten liegen sollte. Um dies zu realisieren, braucht es unserer Meinung nach eine internationale Organisation mit einem revolutionären Programm, das deutlich macht, dass es keine Spaltung aufgrund Herkunft, Geschlecht, Alter oder Sexualität geben darf, und das aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Nur so können wir unserer Unterdrückung auch in der Arbeiter:innenbewegung selbst entgegentreten und gleichzeitig dem Rechtsruck die Stirn bieten.

Wir fordern deshalb:

  • Aufbau einer antifaschistischen und internationalen Einheitsfront aus allen linken Organisationen und solchen der Arbeiter:innenklasse! Offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle!
  • Kampf dem Rechtsruck heißt Kampf dem Kapital: Für ein revolutionäres Programm der Jugend und der Arbeiter:innenklasse!



Gefangen im Schatten der Unterdrückung: Patriarchale Gewalt an Dalit-Frauen in Indien

Night Ophelia, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Die Situation von Frauen in Indien ist alles andere als homogen. Ihre Realität wird von Faktoren wie gesellschaftlicher Herkunft, Klassen- und Kastenzugehörigkeit, Nationalität und Religion geprägt. Ein kritischer Blick offenbart, dass insbesondere Dalit-Frauen, Angehörige der untersten Kaste, einer besonders unsicheren Lage ausgesetzt sind.

Allgemeines zum Kastenwesen

Das indische Kastensystem ist ein soziales Hierarchiesystem, das die Gesellschaft in verschiedene Gruppen oder Kasten einteilt, basierend auf Beruf und sozialer Stellung. Der Begriffe Kaste selbst stammt ursprünglich aus dem Portugiesischen und überlappt sich nur teilweise mit den indischen Begriffen jati (Gattung, Wurzel) und varna (Farbe), was der Einteilung in vier große Kasten am nächsten kommt: Brahmanen (traditionell intellektuelle Elite, Priester:innen), Kshatriyas (traditionell Krieger:innen, höhere Beamt:innen), Vaishyas (traditionell Händler:innen, Kaufleute, Grundbesitzer:innen, Landwirt:innen) und Shudras (traditionell Handwerker:innen, Pachtbauern/-bäuerinnen, Tagelöhner:innen).

Darunter stehen die Dalits und Adivasi (Indigene). Dazu ist zu sagen, dass die jeweiligen Kasten sich auch noch mal in Subkasten teilen können und das Kastensystem bereits jahrtausende vor der Kolonialisierung zurückreicht. Die Einteilung der Gesellschaft in Kasten entspricht historisch einer Produktionsweise, die selbst auf Gemeineigentum an Produktionsmitteln, einer relativ statischen Arbeitsteilung unter den Gemeindemitgliedern, die Agrikultur und Manufaktur verbindet, sowie einem zentralisierten Staatsapparat, der Beamte, Heer und allgemeine Infrastruktur zur Verfügung stellt, fußt.

Durch die Kolonisierung seitens der Brit:innen wird das Kastensystem keineswegs abgeschafft, sondern vielmehr für die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse umgewandelt, in gewisser Weise noch prägender. Während der Kastenwesen in der vorkapitalistischen Gesellschaft, die von Marx an mehreren Stellen als „asiatische Produktionsweise“ charakterisiert wurde, Ausdruck eine Gesellschaftsformation war, die auf dem Gemeineigentum an Grund und Boden basierte, so wurde das Kastensystem mit der Kolonisierung, mit der ökonomischen und gewaltsamen Zerstörung der traditionellen Dorfgemeinschaften zu einem Mittel, die privilegierte Rolle der nun mit der kolonialen Herrschaft verbundenen Eliten und das Privateigentum an Grund und Boden (wie an allen andere wichtigen Produktionsmitteln) zu legitimieren.

Vereinfacht gesagt sichert das Kastenwesen die Klassenverhältnisse, erschwert bis verunmöglicht sozialen Aufstieg und verfestigt somit die Spaltung der Gesellschaft wie auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen. Klasse und Kaste sind miteinander verwoben, jedoch nicht als Synonym zu verwenden, da  die kapitalistische Produktionsweise selbst Druck auf das Kastenwesen ausübt und es formt.

Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass in Indien Diskriminierung aufgrund der Kastenherkunft zwar formal verboten ist (Artikel 15 der indischen Verfassung oder bswp. Scheduled Castes and Scheduled Tribes [Prevention of Atrocities] Act). In Wirklichkeit verhindert aber ungleiche Kastenherkunft oft Heiraten und bestimmt generell Bildungschancen, Gesundheitsversorgung sowie rechtlichen Schutz.  Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Situation von Dalit-Frauen, auch als „Unberührbare“ bekannt, näher anschaut. Sie stehen am untersten Ende dieser Hierarchie und wurden historisch marginalisiert und diskriminiert.

Wer sind Dalit-Frauen?

Laut Zensus (Volkszählung) des indischen Staates von 2011 machen Dalits 16,6 % der indischen Bevölkerung aus, also rund 240 Millionen. Diese sind vor allem in den Bundesstaaten Uttar Pradesh (21 %), Westbengalen (11 %), Bihar (8 %) und Tamil Nadu (früher: Madras; 7 %) konzentriert und machen dort zusammen fast die Hälfte der Dalit-Bevölkerung des Landes aus. Gleichzeitig leben sie auch häufig in ländlichen Regionen und sind deswegen infrastrukturell schlechter angebunden.

Rund die Hälfte der Dalitbevölkerung sind Frauen und auch wenn sich die Diskriminierung auf beide Geschlechter erstreckt, sind diese doppelter Benachteiligung ausgesetzt. Die Verbindung zwischen dem Kastensystem und Patriarchat zeigt sich durch die Kontrolle über die weibliche Sexualität. Das Kastensystem wird durch die Einschränkung der sexuellen Autonomie von Frauen aufrechterhalten. Dies führt zu einem Klima, in dem sexuelle Gewalt und Vergewaltigung als Mittel der Unterdrückung und Machtausübung eingesetzt werden. Diese Gewaltakte dienen nicht nur der physischen, sondern auch der symbolischen Kontrolle, um die soziale Hierarchie aufrechtzuerhalten. Der Widerstand gegen diese Unterdrückung nimmt zu, da Dalit-Frauen und ihre Gemeinschaften für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kämpfen. Doch bevor wir dazu kommen, ein paar Fakten.

Ökonomische Lage

Das Kastenwesen im Kapitalismus hat eine gesellschaftliche Arbeitsteilung manifestiert, die die unterste Kaste als landlos zurücklässt. So arbeitet der Großteil im informellen Sektor und Dalits sowie Adivasi stellen landesweit den größten Anteil an temporären Arbeitsmigrant:innen dar. Obwohl sie nur 25 % der Bevölkerung ausmachen, stellen sie offiziellen Schätzungen zufolge mehr als 40 % der saisonalen Migrant:innen. Praktisch arbeiten sie in der Landwirtschaft sowie im Baugewerbe und werden häufig in den gefährlichsten, anstrengendsten und umweltschädlichsten Bereichen der Wirtschaft eingesetzt. Auch Anstellung in Bereichen wie der Abwasserreinigung sind nicht untypisch,  die vor allem für den Status der „Unreinheit“ gesorgt haben, da diese von den oberen Kaste als entwürdigend angesehen wurden. Insbesondere diese Arbeit, die zwar gesetzlich verboten wurde, wird heute mehrheitlich von Frauen verrichtet und sorgt dafür, dass sie weniger verdienen als Männer.

Durch die strukturelle Einstellung in schlechter bezahlte, prekäre Jobs kommt es zu größeren Einkommensunterschieden zwischen den Kasten. Zwar hat sich das in den vergangenen Jahren geringfügig verbessert – an der generellen Ungleichheit ändert das jedoch wenig. Für Frauen kommt noch der Gender Pay Gap hinzu, der dafür sorgt, dass sie im gleichen Beruf weniger verdienen.

Ebenso problematisch ist Schuldknechtschaft, die nicht anderes ist als Zwangsarbeit oder moderne  Sklaverei. So können jüngere Mädchen beispielsweise – um Kosten für die Mitgift zu bezahlen – in Spinnereien angeworben werden. Die Eltern warten oft mehrere Jahre, bevor sie das Geld erhalten, das in der Regel niedriger ist als ursprünglich vereinbart. Aber auch die Vererbung von Schulden über Generationen  ist möglich.

Grundsätzlich dient das Kastenwesen dazu, einen segregierten Arbeitsmarkt zu verfestigen und reproduzieren, auf dem die Dalits einen Kern einer permanent überausgebeuteten Arbeiter:innenschaft darstellen, die strukturell gezwungen ist, in ihrer großen Mehrheit unter den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu leben. Allein schon deshalb bildet das Kastensystem keineswegs einen „Überrest“ der Vergangenheit, sondern vielmehr einen integralen Bestandteil des indischen Kapitalismus.

Bildung

Eine Analyse der ILO auf Basis der Daten der Nationalen Stichprobenerhebung (NSS) deutet darauf hin, dass der Bildungsstand unter Dalits zugenommen hat, jedoch nicht in demselben Tempo wie bei den oberen Kasten. Während in den zwei Jahrzehnten nach 1983 Dalit-Männer eine Verbesserung von 39 Prozentpunkten (56 Prozentpunkte bei anderer Kastenzugehörigkeit) des Bildungsniveaus nach der Grundschule erreichten, sind es bei Dalit-Frauen nur 21 (38 Prozentpunkte bei Angehörigen der oberen Kaste). Ebenso ist die Abbruchquote innerhalb des Grundschulzeitraums hoch. Laut einer Analyse des IndiaGoverns Research Institute machten Dalits im Zeitraum 2012 – 2014 fast die Hälfte der Grundschulabbrecher:innen in Karnataka (früher: Mysore) aus. Das liegt jedoch nicht nur an der Diskriminierung, die während des Schulalltags passiert. Eine 2014 von ActionAid finanzierte Stichprobenerhebung ergab, dass von den staatlichen Schulen in Madhya Pradesh 88 Prozent Dalit-Kinder diskriminieren: So war es in 79 % der untersuchten Schulen Dalit-Kindern verboten, das Mittagessen anzurühren, und in 35 % befohlen, beim Mittagessen getrennt sitzen.

Der Hauptgrund dafür ist, dass die Einkommen der Familien nicht ausreichen, um diese zu ernähren und Kinder somit gezwungen werden, zu arbeiten, was wiederum schlechtere Anstellungsverhältnisse begünstigt.

Gewalt

Während Gewalt gegenüber Frauen ein Klassen (und Kasten) übergreifendes Problem und kastenbasierte Gewalt ebenfalls Alltag sind, wird hier das Ausmaß der gesellschaftlichen Stellung von Dalit Frauen sichtbar. Eine dreijährige Studie über die Erfahrungen von 500 Dalit-Frauen mit Gewalt in vier indischen Bundesstaaten zeigt, dass die Mehrheit mindestens eine der folgenden Erfahrungen gemeldet hat:

  • verbale Gewalt (62,4 %),

  • körperliche Übergriffe (54,8 %),

  • sexuelle Belästigung und Übergriffe (46,8 %),

  • häusliche Gewalt (43,0 %),

Ebenso werden nach Angaben des National Crime Records Bureau jeden Tag mehr als vier Dalit-Frauen vergewaltigt. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher, da viele solcher Verbrechen nicht gemeldet werden aufgrund Angst vor Gewalt und Einschüchterung sowie Tatenlosigkeit der Polizei und Gerichte. Die mangelnde Erfassung solcher Daten ist dabei ein großes Problem. Zwar gibt es lokale Statistiken, die aufzeigen, dass Sexualstraftaten mehr geahndet und verurteilt werden, wenn die Betroffenen höheren Kasten angehören, das Ausmaß lässt sich aber nur vermuten. Gleiches gilt für Zwangsheiraten sowie verbindliche Aussagen, wie viele Frauen als Devadasis (Prostituierte; ursprünglich bezeichnete der Begriff Tempeltänzerinnen; d. Red.) arbeiten müssen. Ein Bericht von Sampark (niederländische Stiftung für Bildungsfragen; d. Red.) aus dem Jahr 2015 an die ILO stellt fest, dass 85 % der befragten Devadasis aus Dalit-Gemeinschaften stammen. Wie viele es jedoch an sich gibt, ist unklar aufgrund der Weigerung mancher Bundesstaaten, zuverlässige Daten zu erfassen.

Widerstand

Der Widerstand gegen das Kastensystem an sich existiert schon lange. So engagierten sich in den 1920er Jahren beispielsweise Dalit-Frauen in Bewegungen gegen Kasten und Unberührbarkeit, in den 1930er Jahren in der Non-Brahman-Bewegung und haben dafür gekämpft, dass die eigenen Forderungen auch in der Frauenbewegung Indiens aufgenommen werden, was seit den 1970er Jahren auch Wirkung zeigt. Während der Widerstand gegen die gesellschaftliche Unterdrückung von Dalits in Indien zunehmend an Bedeutung gewinnt, steigt jedoch auch die Gewalt gegen diese, vor allem durch Unterstützer:innen der BJP und faschistische Kräfte. Nach besonders schockierenden Vorfällen von Gewalt, Femiziden oder Sexualstraftaten finden dabei regelmäßig Protestbewegungen statt wie im Fall von Manisha. Sie wurde am 14. September 2020 von vier Männern vergewaltigt, ihre Zunge durchgeschnitten und Wirbelsäule gebrochen, sodass sie nach 15 Tagen ihren Verletzungen erlag. Solche Taten sind keine Einzelfälle und führen regelmäßig zu Mobilisierungen und Aufschrei, gegen die anhaltende Gewalt und Unterdrückung vorzugehen. Auch am 4. Dezember 2023 gab es in Jantar Mantar einen größeren Protest, bei dem verschiedene Organisation für die Rechte von Dalits auf die Straße gingen. Ihre Forderungen waren mitunter: Schutz der bestehenden Wohlfahrtsprogramme für Dalits, Anerkennung von Dalit-Siedlungen, indem Eigentumsrechte eingeräumt werden. Landlose sollten für Wohngrundstücke identifiziert und der Besitz sollte für ihre Erben gesichert werden. Ferner wurde die sofortige Umsetzung des Gesetzes zur Abschaffung der Schuldknechtschaft (Bonded Labor Abolition System Act, 1976).

Was tun?

Die Realität zeigt: Formale Gleichheit auf dem Papier ist zwar ein wichtiger Schritt, reicht aber lange nicht aus, um diese auch in der Praxis umzusetzen. Dabei muss auch klar sein, dass der Kampf gegen den Chauvinismus, den das Kastensystem mit sich bringt, notwendig ist. Schulungen und Aufklärungskampagnen alleine werden jedoch nichts verändern.

Aufgabe muss sein, das Kastenwesen zu zerschlagen und mit ihm die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die es aufrechterhält. Große Worte, die in der Praxis bedeuten, für ein Sozialversicherungssystem, kollektive Organisation der Reproduktionsarbeit sowie ein Mindesteinkommen, gekoppelt an die Inflation, für alle zu kämpfen. Verbunden werden müssen diese Forderungen mit dem Kampf um ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle, finanziert aus den Profiten der Unternehmen, um für alle freie, kostenlos zugängliche Bildungs-, Gesundheits- und Altenvorsorge zu gewährleisten.

Denn nur wenn die grundlegende Lebensabsicherung für alle gegeben ist, kann die Ungleichheit anfangen zu verschwinden. Dies umzusetzen, ist jedoch einfacher geschrieben als getan. Zum einen kann das Vertrauen, wenn es darum geht, solche Maßnahmen umzusetzen, nicht bei Regierung und Staat liegen. Vielmehr braucht es Komitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die die Umsetzung kontrollieren. Dabei muss durch eine Quotierung sichergestellt werden, dass auch aus den untersten Schichten Repräsentant:innen sicher vertreten sind.

Zum anderen sorgt Indiens Stellung auf dem Weltmarkt für die massive Überausbeutung großer Teile der Bevölkerung. Um die Kosten der Ausweitung der Sozialversicherung und die Abschaffung des informellen Sektors zu tragen, muss man mit der Politik, die die Überausbeutung schützt, brechen. Das heißt: Schluss mit der Politik für die Interessen von Weltbank, Währungsfonds, USA, Japan und EU! Schuss aber auch mit einer Politik, die die indischen Großkapitale und Monopole fördert! Ansonsten wird es nie möglich sein, fundamentale Verbesserung für die Mehrheit der Bevölkerung einzuführen.

Kurzum: Der Kampf für konkrete Reformen muss mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden werden. Um die Umsetzung sicherzustellen, braucht es Selbstverteidigungskomitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die sich gegen die Angriffe von jenen wehren, die das System der Unterdrückung aufrechterhalten wollen.

Der Kampf für die Verbesserung der Situation von Dalit-Frauen ist darin unmittelbar eingebunden. Er bedeutet, für jene Forderungen zu mobilisieren, aktiv zu kämpfen und den Protest zu nutzen, um seitens der Gewerkschaften für organisierte Kampagnen in Stadtvierteln und Dörfern einzutreten, die über den Chauvinismus, der mit dem Kastensystem einhergeht, sowie Sexismus aufklären.

  • Für regelmäßige statistische Erhebungen über die Auswirkungen des Kastenwesens, Geschlecht, sowie Religion auf Beschäftigung und Lebensqualität – kontrolliert durch Gewerkschaften und Ausschüsse der Dalit!

  • Weg mit dem informellen Sektor! Für die flächendeckende Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Berufen!

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Weg mit dem Gender Pay Gap, Einführung eines Mindestlohns sowie Mindesteinkommen, das automatisch an die Preissteigerung angepasst wird!

  • Schluss mit Chauvinismus: Zerschlagung des Kastensystems, Kampf dem Hinduchauvisismus und Sexismus, für Aufklärungskampagnen seitens der Gewerkschaften in den Wohnvierteln und Dörfern!

  • Kampf gegen die Reproduktion des Kastensystems in der Linken und den Gewerkschaften, Recht auf gesonderte Treffen von Dalit und Frauen!

  • Kein Vertrauen in die Polizei: Für demokratisch gewählte sowie organisierte  Selbstverteidigungskomitees sowie Meldestellen für Diskriminierung von Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!

  • Nein zur Doppelbelastung: Für die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle!

Ein solches Programm, das wir hier nur knapp skizzieren können, ist unvereinbar nicht nur mit der Herrschaft der hinduchauvinistischen BJP, sondern mit dem indischen Kapitalismus selbst. Es muss daher im Rahmen eines Programms der permanenten Revolution mit dem Kampf um die Enteignung des indischen und imperialistischen Großkapitals und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Dazu braucht es den revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft in Indien und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte stützt.




Frauenbewegung in den USA und die Abtreibungsfrage

Jan Hektik, Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Seit Jahrzehnten stehen die Abtreibungsrechte im Fokus der Frauenbewegung in den USA – nicht erst seit dem 24.06.2022, als der Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof) die Grundsatzentscheidung „Roe vs. Wade” kippte (Entscheidung Dobbs vs. Women’s Health Organization). Dabei stellen sie nicht nur die Frage der Selbstbestimmung über den eigenen Körpers, des Lebens und der Gesundheit von Frauen auf die Tagesordnung. Der Stand der Bewegung zeigt auch auf, welchen Problemen die Frauenbewegung sich im Kampf gegen die (meist fanatisch christliche) Rechte gegenübersieht.

Rechtliche Situation

„Roe vs. Wade” wurde 1973 gefällt und garantierte seitdem Frauen grundsätzlich das Recht, über den Abbruch von Schwangerschaften selbst zu bestimmen – bis zum Juni 2022. In den Monaten nach dem Urteilsspruch  wurde der Zugang zu Abtreibungs- und Reproduktionsdienstleistungen in fast der Hälfte des Landes drastisch eingeschränkt oder verboten. Viele Kliniken bieten in den betroffenen Bundesstaaten keine Dienstleistungen mehr an, da die Rechtslage unberechenbar geworden ist, mit einer breiten Palette an staatlichen Maßnahmen, die nach dem Urteil eingeführt wurden – einschließlich Verboten, die vor Roe galten (einige davon stammen aus den 1800er Jahren), neuen Gesetzen und mehreren laufenden Gerichtsverfahren. Diese Unvorhersehbarkeit hat in vielen Staaten zu einer abschreckenden Wirkung geführt, so dass Anbieter:innen von Abtreibungen aus Angst vor rechtlichen Schritten ihre Dienste vorsorglich eingestellt haben. Die Lage gestaltet sich nun wie folgt:

In 14 Bundesstaaten ist Abtreibung bis auf wenige Ausnahmen illegal (Alabama, Arkansas, Idaho, Indiana, Kentucky, Louisiana, Mississippi, Missouri, North Dakota, Oklahoma, South Dakota, Tennessee, Texas, West Virginia). Dies bedeutet, auch bei sexualisierter Gewalt, psychischen Folgen oder unmittelbarer Gefahr für die Gesundheit der Mutter und unabhängig von den Überlebenschancen des Kindes ist ein Abbruch der Schwangerschaft in diesen Staaten nicht erlaubt. So verbot jüngst ein texanisches Gericht einer 31-jährigen die Abtreibung ihres höchstwahrscheinlich nicht lebensfähigen Fötusses, die einen Notfallschwangerschaftsabbruch beantragt hatte. Weitere 13 stehen Abtreibung generell feindlich gegenüber und planen entweder die Illegalisierung oder starke Einschränkungen. In 11 wurden der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen vereinfacht und besonders geschützt (Kalifornien, Connecticut, Hawaii, Illinois, Maryland, Minnesota, New York, Oregon, Vermont, Washington).

In den restlichen Staaten ist die Frage nicht so einfach zu beantworten. Beispielsweise versucht die Legislative in Florida, immer wieder Angriffe auf das Abtreibungsrecht durchzuführen, das oberste Gericht Floridas verhindert dies jedoch regelmäßig. Dabei ist herauszustellen: Die rechtliche Lage alleine gibt nicht wieder, wie der Zugang zu Kliniken, die Finanzierung des Eingriffs oder die Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten aussehen. Das heißt, selbst keine oder lediglich partielle Einschränkungen bedeuten nicht automatisch, dass Selbstbestimmung über den eigenen Körper so einfach möglich ist.

Seit dem Urteil des Supreme Court hat rund die Hälfte der Gesetzgeber:innen in den Vereinigten Staaten insgesamt mehr als 500 neue Gesetze zu Abtreibungen erlassen, die zu einer Verschärfung oder einem absoluten Verbot von Abtreibungen geführt haben, drohen allen, die Frauen helfen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, hohe Haft- und empfindliche Geldstrafen und als Arzt/Ärztin auch der Entzug der Berufslizenz. Die krassesten Forderungen der Abtreibungsgegner:innen sind die nach Verhängung der Todesstrafe (South Carolina), Verbot der Zulassung für die Abtreibungspille Mifepriston  und Streichung der Ausnahmen bei Vergewaltigung und Inzest (Texas).

Auswirkung

Schon vor Einschränkung der Selbstbestimmung war in keiner Industrienation die Müttersterblichkeit so hoch wie in den USA. Die Tendenz nimmt aktuell zu. Dabei zeigt die Realität, dass die Auswirkungen der Einschränkungen je nach Klassenlage unterschiedlich ausfallen: Der  Flickenteppich aus verschiedenen Regelungen, der eingeschränkte Zugang zu Krankenversicherungen sowie allgemein schlechte medizinische Versorgung in den USA führen dazu, dass vor allem proletarische Schichten ungleich stärker getroffen werden. Die emotionale Belastung, ungewollt schwanger zu sein, sowie die Ablehnung durch das Umfeld treffen zwar alle, es macht jedoch einen massiven Unterschied, ob man es sich leisten kann, nach Kalifornien zu fliegen, um dort eine Abtreibung durchzuführen, oder dies schlichtweg nicht bezahlen kann. Diesen bleibt dann nur übrig, Abtreibung illegal oder durch Freund:Innen vornehmen zu lassen – oder das Kind zu bekommen.

Dabei weisen viele der Bundesstaaten mit Abtreibungsverbot bereits jetzt die schlechtesten wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen für Frauen und Familien in den USA auf wie keinen garantierten, bezahlten Urlaub aus familiären und medizinischen Gründen, keine Ausweitung der MedicAid-Deckung auf 12 Monate nach der Geburt und schon jetzt höhere Armutsquoten von Frauen und Kindern als im Landesdurchschnitt. Diese Entscheidung sorgt letzten Endes dafür, dass die wirtschaftliche Stellung von Frauen sich weiter verschlechtert, und drängt sie in die Abhängigkeit von Beziehungen – und setzt sie auch der Situation aus, partnerschaftliche Gewalt aushalten zu müssen. Ebenso ist herauszustellen, dass nicht-weiße Frauen, insbesondere Schwarze, besonders davon getroffen werden, da sie schon jetzt überproportional in Gegenden mit schlechter medizinischer Infrastruktur leben, im Kindbett sterben und von rassistischen Übergriffen und Benachteiligungen im Gesundheitssystem betroffen sind.

Und der Widerstand?

Immer wieder kommt es zu größeren Protesten, zumeist angeführt von den Demokrat:innen wie zum 50. Jahrestag der „Roe vs. Wade”-Entscheidung, bei der Tausende auf die Straße gingen. Jedoch hat der Widerstand mehrere Probleme: Die sporadischen Proteste sind kaum miteinander koordiniert, was ihre Ausweitung erschwert. Vor allem ist jedoch die Strategie der Führung der Proteste – der bürgerlichen Demokratischen Partei – fehlerhaft. Hier zeigt sich sehr anschaulich, welche Probleme mit dem klassenübergreifenden Kampf für Unterdrückte verbunden sind.

Das Motto der Demokrat:innen lautet: wählen, bilden und überzeugen. Ganz nach dem Motto: „Wir müssen nur gut genug darlegen, warum es wissenschaftlich und gesundheitlich richtig ist, Menschen, die die das Recht auf Abtreibung anerkennen, in Positionen wählen, wo sie Entscheidungen treffen können, dann werden sich Gesetze und Gerichte danach richten. Schließlich haben doch auch die Rechten über Gesetzgebung und den Supreme Court diese Änderung bewirkt.“

Diese Überlegung krankt jedoch an zwei Denkfehlern: Zum einen vertauscht sie Ursache und Wirkung. Die US-amerikanische Rechte stellt eine Bewegung dar, welche durch Demonstrationen, Verbreiten von Propaganda und Angriffen ihre Ziele durchsetzt, damit die Republikanische Partei vor sich hertreibt und ihre Ziele umsetzt. Die Gesetzgeber:innen und Richter:innen im Supreme Court sind nämlich dabei nicht das Mittel, sondern Ergebnis einer kämpfenden Bewegung, welche auch nicht davor zurückschreckt, faschistoide Elemente zu verwenden. Dass sie Teile der Bevölkerung ansprechen kann, liegt auch nicht an mangelnder Aufklärung dieser, sondern entweder daran, dass diese ihre gesellschaftliche Stellung halten wollen oder sich bereits in einer schlechten ökonomischen Situation befinden und keine andere Alternative aufgezeigt bekommen, außer gegen marginalisierte Gruppen zu kämpfen.

Gerade deswegen ist zum anderen der Weg der Überzeugung fehlerhaft. Über 2/3 der US-Bevölkerung stehen dem Abtreibungsrecht grundsätzlich positiv gegenüber. Es gilt nicht, das letzte Drittel zu überzeugen, sondern sich zu fragen, weshalb 1/3 über 2/3 entscheiden kann und wie dies zu beheben ist. Wenn 70 % Mehrheit nicht reichen, warum sollten es 80 % tun? Wenn die Demokrat:innen seit den 1970er Jahren keine ihrer Mehrheiten genutzt haben, um Abtreibungsrechte gesetzlich zu verankern, warum sollten sie es in Zukunft tun?

Warum eigentlich?

Die Republikaner:innen und Rechten mit der gesellschaftlichen Dynamik über ein Werkzeug, ihre Position durchzusetzen. Die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung über weibliche Körper zementiert die Herrschaft von Männern über Frauen in Beziehungen, stärkt die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie und bietet Männern eine Ablenkung von der Krise (und individuell ein Gefühl ihrer Abschwächung), während es gleichzeitig Frauen bindet und daran hindert, dagegen zu kämpfen. Natürlich gibt es nicht irgendwo eine geheime Verschwörung rechter Köpfe, die einen Masterplan über die Stärkung der bürgerlichen Familie ausgeheckt haben, sondern es sind gesellschaftliche Kräfte und Tendenzen, die bestimmte Verhaltensweisen, Organisationen und Bewegungen stärken und andere schwächen.

Die Republikaner:innen und die Rechte profitieren gewissermaßen davon, dass ihre Ziele weniger widersprüchlich sind. Wer sich auf das religiös motivierte Verbot von Abtreibungen, Enthaltsamkeit als Verhütungsmethode und den Segen der bürgerlichen Familie beruft, kommt nicht nur gut bei religiösen Fundamentalist:Innen und konservativen Traditionalist:Innen an, sondern fördert auch nebenbei ein Umfeld, in welchem Frauen noch einfacher entlassen, unterbezahlt, teilzeitbeschäftigt und in die Reproduktionsarbeit getrieben werden können. Dies ist ein großes Plus für Unternehmer:innen – insbesondere in Krisenzeiten –,  welche Lohn- und Reproduktionskosten senken und nebenbei einen psychologischen Effekt der Überlegenheit bei ihren Arbeitern erzielen können, welcher sie ruhigstellt.

Die Demokrat:innen können sie sich in manchen Fragen zwar liberaler positionieren, kämpfen gegen offenen Sexismus, die Wurzel der Unterdrückung (die bürgerliche Familie) wollen sie jedoch nicht angreifen. Denn das würde bedeuten, dass sie mit ihrer Politik zugunsten der Profite der Unternehmen brechen müssten.

Wie kann die Bewegung Erfolg haben?

Um eine erfolgreiche Bewegung für Selbstbestimmung über den eigenen Körper auf die Beine zu stellen, bedarf es mehrerer Schritte:

Gemeinsame Forderungen, Slogans und koordinierte Proteste bilden einen ersten Schritt, um den bestehenden Aktivitäten einen gemeinsamen Deckel zu geben sowie mehr Ausstrahlung zu erreichen. Dies kann Ergebnis von Absprachen zwischen Organisationen sein, jedoch braucht es eine Strategiekonferenz, bei der Aktivist:innen zusammenkommen können und verbindliche Beschlüsse und Aktivitäten verabschieden. Dort muss diskutiert werden, wie die Bewegung aufgebaut werden kann – und wie ihr Weg verlaufen soll, ihre Forderungen zu erreichen. Unserer Meinung nach hat die Vergangenheit gezeigt, dass die Demokrat:innen sich zwar gerne an den Protesten beteiligen dürfen, ihre Strategie ist jedoch unzureichend und kann nicht als Grundlage genommen werden.

Wenn eine Bewegung Erfolg haben will, darf sie nicht nur Massendemonstrationen organisieren, sondern muss sich an Schulen, Universitäten sowie in Betrieben verankern und vor Ort präsent sein. Um das zu erreichen, ist es nicht nur wichtig, Aktivitäten vor Ort zu organisieren. Es ist auch notwendig, nicht nur gegen das Abtreibungsverbot zu kämpfen, sondern für konkrete Verbesserungen. Die Realität zeigt: Arme Schichten sowie insbesondere Nicht-Weiße sind besonders von den Abtreibungsverboten betroffen. Es müssen also Forderungen entworfen werden, die den Kampf um Selbstbestimmung mit dem für breitere Verbesserungen der Arbeiter:innenklasse insgesamt verbinden helfen. Ziel muss es sein, Druck auf die Gewerkschaften auszuüben, sodass diese sich aktiv an den Protesten beteiligen, selber mobilisieren und gemeinsam mit der Bewegung den politischen Streik als Waffe zur Durchsetzung der Forderungen lancieren können:

  • Reproduktive Gerechtigkeit jetzt: Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung!
  • Menschen statt Profite: Für ein staatliches Gesundheitssystem, in das alle einzahlen und welches alle Gesundheitsleistungen inklusive Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Geburten ohne Zusatzleistungen abdeckt (Single Payer HealthCare System)!
  • Schluss mit Abhängigkeit: Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Flächendeckender Ausbau von Schutzräumen für Betroffene von sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter, sowie LGBTIA+!
  • Für Aufklärungskampagnen an Schulen, Universitäten und in Betrieben durch Gewerkschaften zu Sexismus, sexuellem Konsens und Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

In so einer Bewegung ist es wichtig, dass Sozialist:innen eine revolutionäre Perspektive hereintragen. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass diese Probleme einer systematischen Umwälzung mindestens des US-Gesundheits-, Justiz-, Regierungs- und Polizeisystems bedürfen. Solange es einen Flickenteppich aus privaten Krankenkassen und Gesundheitseinrichtungen gibt, wird die Gesundheit (und werden damit sichere Abtreibungen, Schwangerschaften und Geburten) ein Privileg der Reichen sein! Das heißt: Wir unterstützen den Kampf für Reformen und Verbesserungen. Gleichzeitig muss dieser damit verbunden werden, dass Elemente von Arbeiter:innenkontrolle in die Forderungen mit eingebunden werden, um sicherzustellen, dass diese im Interesse der Klasse umgesetzt werden und aufzeigen, wie der Kapitalismus überwunden werden kann. Das kann beispielsweise so aussehen:

  • Versorgung garantieren: Verstaatlichung des Gesundheitssektors unter Kontrolle der Arbeiter:innen! Flächendeckender Ausbau von Kliniken, insbesondere in ländlichen Regionen, sowie massive Aufstockung des Personals!
  •  Schluss mit Diskriminierung in der Medizin: Für Sensibilisierungskampagnen gegen sexistische und rassistische Vorurteile!
  • Armut stoppen: Anhebung des Mindestlohns auf 15 USD/Stunde und Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Finanzierung durch die Besteuerung der Reichen und verbindliche Offenlegung der Geschäftskonten gegenüber den Gewerkschaften!

Bewegung alleine reicht nicht

Das zeigt die Richtung, in die es gehen muss. Die Aufgabe von Revolutionär:innen in den USA ist letzten Endes eine dreifache: a) der Aufbau einer Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit; b) Bildung eines Pols in dieser Bewegung, der eine revolutionäre Perspektive aufzeigt; und c) der Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, die es schafft, unterschiedliche Bewegungen zu sammeln und mit einer Perspektive, einem realen Programm zum Erfolg zu führen – also das kapitalistische System zu zerschlagen. Ihre Aufgabe besteht  somit nicht primär darin, zu Wahlen anzutreten, sondern die Kämpfe zu organisieren, planen und aktiv zuzuspitzen. Dabei muss sie als Bindeglied zwischen den verschiedenen kämpfenden Gruppen (People of Colour, Frauen, Gewerkschaften, LGBTIA+, Umweltbewegung) fungieren und den offenen Kampf gegen die Politik der Mitverwaltung des Kapitalismus seitens Demokrat:innen und Gewerkschaftsführung in diese tragen. Nur so kann letzten Endes gesichert werden, dass reproduktive Gerechtigkeit nicht nur als Wahlkampfslogan benutzt, sondern aktiv umgesetzt wird. Dabei ist essentiell, dass in Gewerkschaften oder politischen Organisation der Arbeiter:innenbewegung gesellschaftlich unterdrückte Gruppen das Recht haben, einen Caucus zu bilden, sich gesondert nur unter sich zu treffen, um die eigene Unterdrückung in einem Schutzraum diskutieren zu können!




Schweiz: Perspektiven des feministischen Streiks

Rosa Favre, Was Tun Schweiz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Streik 2023

2019 erreichte der feministische Streik mit einer halben Million Teilnehmerinnen seinen bisherigen Mobilisierungshöhepunkt. 2023 hat der bisher letzte nicht mehr so viele Frauen angesprochen, auch wenn 300.000 am 14. Juni auf der Straße waren. Wenn man den Gewerkschaftsfunktionär:innen zuhört, war der Streik immer noch ein krönender Erfolg, da dieser radikaler als 2019 war und in einer solchen Größe überleben konnte, trotz frontaler Angriffe der Bourgeoisie, welche die Bewegung dämonisiert hat. Aber wenn wir dieser Erklärung glauben, sollten wir dann denken, dass sich die Massen arbeitender Frauen, welche 2019 präsent waren, mit den gleichen Forderungen wie 2023 (!), entradikalisiert hätten? Das wäre lächerlich.

Wenn also Frauen sich von den Männern alleingelassen fühlten, frustriert waren über die misogyne Welle, vor der sie standen, und sich bewusst waren über die Last, welche während der COVID-19-Krise auf ihre Schultern gelegt wurde, warum haben sie sich nicht in der gleichen oder größerer Zahl der Bewegung auf der Straße angeschlossen?

Französischsprachige Frauen sind in ähnlicher Stärke wie 2019 streiken gegangen. In der deutschsprachigen Schweiz hat die Bewegung an Kampfkraft verloren. Dies deshalb, da trotz einer Koordination auf nationaler Ebene jede kantonale Sektion der Gewerkschaften individuell die Bewegung aufbaut. Da es an den Aktivist:innen in allen einzelnen Kantonen liegt zu entscheiden, ob sie sich an die Aufgabe der Organisation machen wollen, gibt es viele Orte und Sektoren der Wirtschaft, an welchen fast keine Agitation vonstattengeht, wo wenig Schutz gegen Drohungen von Kündigungen gegen Streikende besteht.

Daher wurde der Streik 2023 größtenteils ein Streik der Jugend und der Student:innen. Da die Jugend sehr wenig Erfahrung am Arbeitsplatz hat, trugen die meisten Transpis Slogans gegen sexualisierte Gewalt, sexuelle Befreiung und für die Emanzipation der queeren Jugend, ob sexuell oder betreffend der Geschlechtsidentität. Eine Menge der Slogans prangerten Alltagssexismus oder unerwünschte sexuelle Kommentare an. Fast keine haben jedoch das wichtigste Ereignis des Jahres angesprochen: den Rückschlag der Frauenrechte in Form der Erhöhung des Renteneintrittsalters. Dies hat den Streik in seiner Natur größtenteils kleinbürgerlich gemacht, ein Rückschlag gegenüber 2019.

Probleme des Streiks

Der feministische Streik hat an Klassenbewusstsein verloren und die bestehende Führung der Bewegung ist dafür zu verantworten. In der Tat besteht sie aus den Gewerkschaften, welche wiederum größtenteils durch sozialdemokratische Bürokrat:innen geführt werden, welche vom Arbeitsfrieden profitieren.

Eine Ausnahme in der Organisation des Streiks ist die solidaritéS, eine Partei welche aus der trotzkistischen Tradition stammt und Beobachterin des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale (VSVI) ist. Auch sie fokussierte sich auf LGBTQ+-Anliegen und legte den Gewerkschaften ihre intersektionale Vision vor. Aber gleichzeitig passte sie sich an die Bürokratie an und gewährte Zugeständnisse bei den sozialen und ökonomischen Forderungen des Streiks, um ihre eigenen Positionen im Apparat nicht zu gefährden.

Auf der anderen Seite können wir nicht erwarten, dass ein Streik welcher nichts erreicht und nur sporadisch über die Jahre hinweg passiert, die Mobilisierungskraft in der Arbeiter:innenklasse aufrechterhalten kann. Um die Flamme des Klassenkampfes zu befeuern, reicht es nicht aus, dass eine soziale Bewegung konstant bleibt. Sie muss wachsen und neue Errungenschaften gewinnen. Die erfolgreichen Jahre waren geknüpft an siegreiche Arbeitskämpfe, internationale Bewegungen mit klaren Forderungen (wie die #MeToo-Bewegung) und das Aufhalten eines Angriffes auf die Altersvorsorge. Auch gab es nach den Streiks merkliche Auswirkungen auf Wahlen und umliegende Länder. 2023, das Jahr in welchem Frauen eine Niederlage an der Urne erlitten, weil die Schweizer Volkspartei gewann, ließ scheinbar keinen Grund zu, um an einem Streik teilzunehmen, welcher schlussendlich eher eine Feier war. Und erst kürzlich hat das Bundesgericht entschieden, dass bei „kurzen“ Vergewaltigungen eine Strafmilderung angemessen sei!

Einbezug

Damit es in einer Phase der Niederlage möglich ist, konstant zu bleiben, sind zwei Fehler der Bewegung zu umgehen: 1. Es braucht einen Einbezug von mehr und unterschiedlichen Wirtschaftssektoren in die Streiks, durch Aufbau von Aktions- und Streikkomitees. 2. Die Aktionen müssen länger und weiter gedacht werden.

Dafür darf sich die Bewegung nicht gegen mehrtägige Aktionen stellen (wie es 2019 vonseiten der Führung von solidaritéS getan wurde) und es muss auch mit dem reaktionären Arbeitsfrieden gebrochen werden. Das würde das Potenzial für einen Generalstreik langfristig eröffnen.

Neue Sektoren zu inkludieren, bedeutet auch, Männer in den Kampf einzubinden. Männer waren die großen Abwesenden in den Streiks 2019 und 2023. Dies ist symptomatisch für ein Programm, welches nicht versucht, eine Kampfeinheit unter den Proletarier:innen aufzubauen, und von Basisorganisationen einer Bewegung, welche sich zu sehr auf eine der Geschlechter fokussiert. Die Gewerkschaften brauchen daher eine marxistische Perspektive, welche gleichviel Potenzial in Frauen und Männern sieht. was die Erkämpfung von arbeitsrechtlicher Gleichstellung angeht. Natürlich ist möglich, dass nur Frauen an Streiks beteiligt sind! So war es auch in den ersten Tagen der Februarrevolution. Doch die russischen Frauen hätten 1917 nie ihre politischen Rechte erkämpfen können, hätten sie nicht gemeinsam mit Männern gekämpft. Es ist daher unabdingbar für zukünftige Aktionen, arbeitende Männer einzubinden!

Wir müssen auch große Unterschiede zwischen der französisch- und deutschsprachigen Schweiz zur Kenntnis nehmen. In Ersterer hatten radikale linke Organisationen wie die solidaritéS einen großen Einfluss auf den Lauf der Dinge. Dies war in Letzterer nicht der Fall. Die Bewegung für den Sozialismus (BFS, welche auch dem VSVI nahesteht und in den deutschsprachigen Städten Zürich und Basel viel stärker ist) wollte nicht gleich viel Zeit in den Aufbau des feministischen Streiks investieren wie solidaritéS. Daher waren die Organisator:innen vor allem im französischsprachigen Teil kämpferischer, während in der deutschsprachigen Schweiz größtenteils Sozialdemokrat:innen an der Spitze der Streikorgane standen.

Bürokratie und Arbeitsfrieden

Die Führung der Streiks durch die Gewerkschaftsbürokratie, welche wohl am meisten die Schweizer arbeitende Klasse verraten hat, stellt ein zentrales Hindernis für den feministischen Streik dar. Die Bürokratie der Gewerkschaften steht für den sog. Arbeitsfrieden, ein Abkommen, das 1937 mit den Unternehmer:innenverbänden abgeschlossen wurde und das die Gewerkschaften zur Klassenzusammenarbeit verpflichtet und faktisch das Streikrecht verbietet. Das Schweizer Proletariat wurde entwaffnet, da es die mächtigste Waffe gegen die Bourgeoisie verloren hat. Wir müssen sie um jeden Preis zurückgewinnen! Das ist der primäre Kampf, welchen alle klassenkämpferischen Kräfte in den Gewerkschaften führen müssen.

Zugleich ist die Gewerkschaftsführung eng mit der SP verbunden. Auch daher ahmen die Forderungen des feministischen Streiks die Klassenkollaboration nach. Zum Beispiel fordern sie die Erschaffung von Komitees, welche die gleiche Bezahlung in den Unternehmen überprüfen. Sie sagen jedoch nichts darüber, wer in solchen Komitees sitzen, ob es sich um Organe der Arbeiter:innenkontrolle oder der Sozialpartner:innenschaft handeln soll.

Es gibt ein weiteres Element der aktivistischen Kultur, welches verändert werden muss: Wir müssen den bürgerlichen Föderalismus ablehnen, welcher unseren Kampf lähmt. Diese föderalistische Struktur erlaubt es individuellen Gewerkschafts- und SP-Bürokrat:innen, einen bundesweiten Kampf für Befreiung auf unterer Ebene zu sabotieren, wenn sie lieber auf den Arbeitsfrieden hören wollen anstatt auf die Bedürfnisse der Basisgewerkschafter:innen. Alle Aktivist:innen müssen fest zusammenstehen und den Chauvinismus ihrer Zeit und ihres Ortes überwinden: sei es kantonal, national, ethnisch, männlich oder cisheterosexuell. Alle Gewerkschafts- und SP-Bürokrat:innen, welche die nationalen Entscheidungen nicht respektieren, müssen von ihren Positionen entlassen werden – und das durch demokratisch organisierte Wahlen innerhalb der Gewerkschaften bzw. der Bewegung als Ganzer.

Diese Diskussion knüpft natürlich an der Erschaffung eines Organs an, welches Arbeiter:innen auf dem nationalen Level mobilisieren kann. Ein solches ist essentiell für einen Generalstreik. Es ist daher wichtig, ein Organ aufzubauen, welches nicht nach jedem Streik zerlegt wird, sondern eine dauerhafte Struktur bildet. Dies wird zuerst die Involvierung von Frauen in einer konsistenten Weise ermöglichen und auf der einen Seite hoffentlich zur Ausbreitung in die Industrien führen, in welchen Frauen eine dominante Rolle einnehmen, und auf der anderen fortschreitend die Beteiligung der Männer stärken.

Diese Art der chauvinistischen Einstellung kann auch gefunden werden in der Ablehnung des 8. März als Streiktag. In der Schweiz ziehen wir es oft vor, uns an unserem Stolz nationaler Ereignisse aufzuhängen statt an der internationalistischen und kommunistischen Geschichte. Dies ist ein weiteres Element, welches die reformistische Tendenz und Richtung der Bewegung aufzeigt, welche sich lieber mit Konzessionen rühmt, welche 40 Jahre zu spät geschehen, anstatt den glorreichen Sieg der Frauen Petrograds über die zaristische Repression am 8. März, welcher die ganze Gesellschaft erfasst hat.

Aktuelle Angriffe

Wir wurden gezwungen zuzuhören, wie bürgerliche Politiker:innen uns erzählten, wir müssen ein Jahr mehr arbeiten, als das Renteneintrittsalter von 64 auf 65 angehoben wurde, da es für Männer 65 beträgt. In der Konsequenz bedingt die bösartige Sicht auf die Gleichheit unter den Geschlechtern der Bürgerlichen noch mehr unbezahlte Arbeit. Tatsächlich wurde für 2016 geschätzt, dass Frauen gratis Arbeit im Wert von 247 Milliarden CHF ausüben, ein Drittel des Schweizer BIP.

Die Überschattung der tatsächlichen Wurzeln der Ungleichheit ist klar für die proletarischen Frauen: Ungleichheit in der Aufteilung reproduktiver Arbeit, sexualisierter Gewalt etc. Das ist auch, warum Frauen massiv gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters stimmten. Aber die abstimmenden Schweizer Männer waren von einem seltenen Machismus durchdrungen.

Am 25. September 2022 stimmten 50,57 % für seine Erhöhung  für Frauen von 64 auf 65 Jahre. Am Ende war es eine Niederlage für die gesamte arbeitende Klasse. Dieses Jahr wird die Bourgeoisie uns darüber abstimmen lassen, ob es auf 66 oder noch höher angehoben werden soll – natürlich im Namen der bürgerlichen Gleichberechtigung für Frauen und Männer. Im kommenden Kampf gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters wird der feministische Streik ein unabdingbares Werkzeug sein, welches Solidarität zwischen den Geschlechtern bilden und so ein Mittel gegen die Offensive des Kapitals auf die Lebensbedingungen des Proletariats sein kann. Es ist unabdingbar, dieser Bewegung neues Leben zu geben.

Die Schaffung eines Kampforgans, welches über die kantonalen Grenzen hinausgeht, ist essenziell für den Erfolg des Kampfes um einzelne Reformen. Um uns von sexistischer Gewalt und Unterdrückung zu befreien, müssen wir gemeinsam mit FINTA+ und Männern auf der ganzen Welt kämpfen. Solidarität und Internationalismus ist unser Motto!

Wir denken, folgende Forderungen sollten in der Bewegung diskutiert werden, um in der Schweiz die Debatte um ein Programm der FINTA+- und LGBTQ+-Befreiung voranzubringen. Sie stellen aber noch nicht selber dieses Programm dar:

1. Zuallererst müssen wir das Renteneintrittsalter von Frauen verteidigen. Die Anhebung auf 65 ist nicht nur ein frontaler Angriff auf den Lebensstandard von Frauen, sondern auch ein Rammbock gegen die Arbeitsbedingungen der gesamten Arbeiter:innenklasse, angeführt von der Instrumentalisierung des Sexismus. Die Arbeiter:innenbewegung muss zusammen mit dem feministischen Streik eine militante Kampagne lancieren, um das Renteneintrittsalter zu verteidigen. Dieser Schlag gegen die Offensive der Bourgeoisie muss weiter gehen als die einfache Verteidigung vergangener Errungenschaften der Arbeiter:innenklasse. Die Produktivität der Arbeiter:innen ist beständig gestiegen, aber genauso das Rentenalter. Was für eine Gesellschaft muss beides erhöhen? Weiterhin fordern wir eine Volkspension fern den Fängen des Kapitals, mit vollen Vorteilen und Renten für Teilzeitarbeit.

2. Wir können uns weder auf wohlwollende Kapitalist:innen oder männliche Partner verlassen noch können wir dem Staat vertrauen, diese lebenswichtige Arbeit, welche primär von mehrfach marginalisierten Menschen ausgeführt wird, akkurat auszuwerten und wertzuschätzen. Daher müssen wir die Arbeitszeit radikal verkürzen (7-Stundentag, 4 Tage die Woche) bei gleichbleibendem Lohn sowie eine Elternzeit fordern, welche Frauen am Arbeitsplatz nicht diskriminiert. Nur der gemeinsame Kampf der Arbeiter:innenklasse gegen Kapitalismus und Staat kann diese Forderungen durchsetzen. Und nur unter einer demokratisch geplanten Wirtschaft kann reproduktive Arbeit und deren ungleiche Verteilung langfristig angegangen werden. Soziale und ökologische Krisen wie COVID oder der Klimawandel werden die Notwendigkeit reproduktiver Arbeit nur vergrößern. Wir müssen dafür kämpfen, dass diese Krisen nicht auf Frauen, queere Menschen und PoCs abgeschoben werden.

3. Wir fordern, dass reproduktive Arbeit gesellschaftlich organisiert wird, anstatt in der Nuklearfamilie aufgeteilt zu werden. Wir wollen Komitees an den Arbeitsplätzen etablieren, welche die Arbeit der Kindererziehung (und andere reproduktive Arbeiten, welche in der Familieneinheit geschehen wie z. B. die Betreuung älterer Eltern oder kranker Verwandten) öffentlich, unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse organisieren. Die vorhandene private Hausarbeit muss gleich unter den Geschlechtern aufgeteilt werden.

4. Es ist notwendig, dass alle Arbeiter:innen demokratisch entscheiden, welche Industrien wünschenswert für das Wohl aller sind, und welche in den Mülleimer der Geschichte gehören. Wir wollen mehr reproduktive Arbeit besserer Qualität, was bedeutet: Etwas muss aufgegeben werden! Wir kümmern uns nicht um die Auto- oder Ölindustrie. Wir wollen keine fast fashion oder anderen Konsumwahn. Die Entscheidung darüber, welche Industrien am Leben erhalten werden sollen, muss demokratisch in Betriebs- und Stadtteilkomitees entschieden werden.

5. Wir wollen Delegierte von Frauen der Arbeiter:innenklasse in Organen der Arbeiter:innenkontrolle, welche in allen Betrieben garantieren, dass Lohngleichheit besteht, mit selbst bestimmten Kriterien. Frauen werden häufig schlechter bezahlt als Männer, ob aus Gründen von Diskriminierung oder wegen Teilzeitarbeit, um für ihre Familien zu sorgen. Arbeitende Frauen werden sich nichts sagen lassen von bürgerlichen Ökonom:innen, welche ihnen weismachen wollen, dass ihre Notlage ein gerechtes und rationales Produkt einer „gerechten“ und „rationalen“ Gesellschaft ist, welche sie unterdrückt. Im Gegenteil, arbeitende Frauen versuchen, die Gründe für ihr Mühsal zu verstehen, und entdecken die Irrationalität der Klassengesellschaft und ihrer patriarchalen Auwüchse – und werden sich radikal gegen alle stellen, welche dies als gegeben und als Notwendigkeit betrachten. Denn das ist es nicht: Schaut nur, wie gut es die Männer der Kapitalist:innenklasse haben! Ähnliche Methoden und Argumente können für PoCs und queere Menschen wiederholt werden.

6. Wir fordern, dass Betriebe, welche gegen die Gleichstellung verstoßen, ohne Kompensation aus den Händen der Besitzenden entrissen, verstaatlicht und unter Arbeiter:innenkontrolle weitergeführt werden.

7. Wir sind für die volle Selbstbestimmung der Frauen über ihre Körper. Sie dürfen nicht sexistischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein, ob physisch oder verbal. Sie müssen fähig sein, alle Kleidungsstücke zu tragen, welche sie wollen – einen Rock, Hidschab oder Mini-Shorts, ohne sexistische oder herablassende Sprüche über sich ergehen lassen zu müssen. Frauen, trans Personen (und auch Männer) verdienen eine gebührende Sexualerziehung, welche nicht nur heterosexuellen, sondern auch homosexuellen Sex und transgeschlechtliche Gesundheit umfasst. Das bedeutet auch eine Transformation der Gesundheitsversorgung rundum. Wir brauchen eine öffentliche Einheitskrankenkasse, welche das bedingungslose Recht auf Abtreibung, Menstruationsprodukte, Verhütung und geschlechtsbejahende Pflege umfasst, sowie einen Mechanismus, um gegen Sexismus und Rassismus im Gesundheitswesen anzukämpfen.

8. Es ist bekannt, dass die Polizei und das Militär sehr sexistisch, rassistisch und queerphob sind. Diese Institutionen sind unrettbar. Es sind ihre Merkmale unterm Kapitalismus. Frauen müssen unterdrückt werden, um sie in ihrer Rolle als unbezahlte und über-ausgebeutete Arbeiter:innen zu halten. Deshalb kann die Polizei Beschwerden sexualisierter Gewalt nicht ernst nehmen, vergewaltigen eindringende Armeen Frauen und ihre Töchter. Diese Institutionen sind faul und müssen komplett abgeschafft werden; angefangen damit, ihre Finanzierung zu kappen. Wir wollen sie ersetzen mit Körperschaften bewaffneter und organisierter Arbeiter:innen: Arbeiter:innenmilizen, welche die Herrschaft des Proletariats und aller marginalisierten Gruppen durchsetzen und damit eine offene Gegenmacht gegen die Herrschaft der bürgerlichen Polizei und Armee darstellen.

9. Der Kampf für einen feministischen Streik, der zu einem umfassenden politischen Streik gegen die Rentenreform und für andere Forderungen wird, ist ein integraler Teil des Klassenkampfes. Doch um eine solche Perspektive durchzusetzen, müssen wir in den Gewerkschaften und in der Bewegung auch für den Aufbau einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei als Alternative zu Reformismus und Bürokratie eintreten, die den Kampf für die Frauenbefreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet.




Unser Körper, unsere Entscheidung

Aktionsprogramm für trans Jugendliche

Jaqueline Katherina Singh, Gruppe Arbeiter:innenmacht / Revolution, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

Weltweit werden trans Menschen unterdrückt.  Ob nun Konservative, die in Talkshows deren Existenz leugnen, Radikalfeminist:innen, die Geschlecht allein an Genitalien ablesen wollen oder CDU-Poliker:innen, die Gendern für das größte Problem unserer Zeit halten, weil sie die Klimakrise nicht ernst nehmen. Es wird deutlich: Die Sichtbarkeit von trans Personen in der Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren zwar verbessert, doch an der Unterdrückung hat sich wenig geändert. Schließlich ist diese in der gesamten Gesellschaftsstruktur verankert. Das Erstarken der Rechten bringt zudem gesellschaftliche Rollbacks mit sich wie in den USA oder Pakistan, die dafür sorgen, dass Queer- und insbesondere Transfeindlichkeit weiter zunehmen. Das beginnt mit reaktionären Argumentationen bezüglich Dragqueens und angeblicher „woker” Indoktrination in der Schule, kann dann auch zur Rücknahme erkämpfter Rechte und schließlich auch zu einer Zunahme von körperlichen Übergriffen gegen trans Personen führen. Dass diese Stimmung längst auch in Deutschland angekommen ist, können wir daran sehen, dass 2023 die Meldungen von körperlichen Angriffen auf Paraden zum Christopher Street Day (CSDs) die Nachrichten fluteten, während die CSU in Bayern diesen Kulturkampf der US-Amerikaner:innen versuchte zu adaptieren, indem auch sie gegen Auftritte von Dragqueens hetzten.  Im Folgenden wollen wir uns daher die Situation von trans Jugendlichen anschauen, die von vielen Unterdrückungsmechanismen nochmal stärker betroffen sind.

Unterdrückung in der Familie

Probleme mit der Familie sind für viele Jugendliche Alltag. Doch trans zu sein, kann diese noch mal verschärfen. Denn es geht nicht darum, einfach „nur” nicht verstanden zu werden.  Stell dir vor: Du kannst dich nicht so kleiden, wie du willst. Alle sprechen dich mit einem Namen an, der nicht dein eigener ist. Kurzum – man sieht dich nicht so, wie du wirklich bist. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts 69,4 % der trans Jugendlichen befürchten, dass ihre Familie sie nicht akzeptieren wird. Doch was bedeutet das konkret?

Das Coming-out kann eine große Hürde sein, da die finanzielle und juristische Abhängigkeit von der Familie es nahezu unmöglich machen kann, sich frei auszudrücken oder notwendige medizinische Behandlungen wie Hormontherapie zu erhalten. Denn letzten Endes bestimmst nicht du über deinen Körper, sondern deine Erziehungsberechtigten. Das ist der Kern des Problems: Wenn deine Eltern kein Verständnis haben (wollen), dich nicht ernst nehmen – oder einfach nur hilflos sind, dann wird es schwierig. Die juristische, sowie finanzielle Abhängigkeit erschwert es vielen trans Personen massiv, einfach so das Elternhaus zu verlassen und auszuziehen. Ganz zu schweigen von der emotionalen Belastung, die damit einhergeht, wenn die eigenen Eltern/Erziehungsberechtigten einen nicht unterstützen können oder wollen. rans Menschen, v.a. Jugendliche haben eine viel zitierte enorm hohe Rate an Suizidversuchen (je nach Studie um die 40%). Wenn mindestens eine erwachsene Person sie unterstützt, sinkt die Wahrscheinlichkeit um etwa 30% Doch die Beratungsangebote für trans Jugendliche sowie ihre Eltern sind selten – und die wenigen, die es gibt, sind oft überlastet oder gar nicht unvoreingenommen. Deswegen treten wir nicht nur für den Ausbau von Beratungsstellen ein, für Jugendliche braucht es auch die Möglichkeit, bei Bedarf ihr Leben unabhängig vom Elternhaus gestalten zu können!

  • Für die ökonomische Unabhängigkeit von Schüler:innen, Studierenden und Jugendlichen in Ausbildung! Für ein monatliches Mindesteinkommen, angepasst an die Inflation, von 1.100 Euro plus Warmmiete, finanziert durch Besteuerung von Reichtum und Kapital!

  • Für selbstverwaltete Freiräume für Jugendliche, den massiven Ausbau von Jugendzentren und kostenlose Zugang zu einem ausgebauten Freizeit- und Kulturangebot, bezahlt durch die Besteuerung der Reichen!

  • Ausbau von flächendeckenden Beratungsstellen von und für LGBTIA+ und ihre Angehörigen!

  • Für den Ausbau von Schutzhäusern für Kinder und Jugendliche! Niemand soll bei seiner Familie bleiben müssen, wer das nicht möchte! Für die Förderung neuer Formen des Zusammenlebens, beispielsweise durch den Ausbau und die Weiterentwicklung des sozialen Wohnungsbaus!

Schule und Ausbildung

Doch nicht nur in der Familie, sondern auch an Orten, wo man den Großteil seiner Lebenszeit verbringen muss – also Schule oder Ausbildungsstätte – wird man eingeschränkt. Eine weitere Studie des Bundesverbands Trans* aus dem Jahr 2017 zeigt, dass fast 90 % der trans Schüler:innen in Deutschland in der Schule diskriminiert werden. Dazu gehören u. a. die Verwendung des Deadnames und von falschen Pronomen, Belästigungen, Mobbing und auch physische Übergriffe. Die Studie zeigt auch auf, dass nur ein Bruchteil der betroffenen Schüler:innen sich an Lehrkräfte oder Schulleitungen wendet, da sie Angst haben, dadurch noch stärker stigmatisiert zu werden. Denn die wenigsten Schulen bieten Unterstützung gegen Mobbing und Diskriminierung an, auch wenn sich viele von ihnen das Abzeichen von Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage ans Tor hängen lassen. Aus einer weiteren Studie des Bundesverbandes geht hervor, dass nur 18 % der trans Schüler:innen das Gefühl haben, dass ihre Schule ein sicherer Ort für sie ist. Dies liegt auch daran, dass die Idee des binären Geschlechtersystems in der Gesellschaft vorherrschend ist und ebenso in der Schule reproduziert wird. Sei es durch Unterrichtsinhalte, bei denen Frau Meier den Wocheneinkauf für ihre Familie tätigt als Einleitung für eine Textaufgabe in Mathe, die klassische, heteronormative Sexualkunde im Biologieunterricht, lediglich ausgelegt auf Verhütung und Reproduktion, oder die Abwesenheit von queeren Lebensrealitäten in der Pflichtlektüre, die wir in Deutsch oder Englisch lesen müssen. Das gilt auch für Regelungen, die über den bloßen Unterricht hinausgehen, aber den Schulalltag prägen wie z. B. fehlende geschlechtsneutrale Toiletten oder Umkleideräume sowie die allgemeine Adressierung der Schüler:innenschaft in Rundbriefen. Das Verbot. an Schulen zu gendern, wie es in Sachsen und Sachsen-Anhalt bereits umgesetzt wurde, oder in Berlin durch die CDU-Regierung zumindest diskutiert wird, tut sein Übriges. Auch wenn Gendern nicht automatisch zur Befreiung von trans Personen führt, so ist dennoch die Repräsentation in der Sprache auch ein mögliches Kampffeld.

  • Schluss mit Deadnames auf Klassenarbeiten, Schüler:innenausweisen und Klassenbüchern!

  • Für die Möglichkeit, den Namen und Geschlechtseintrag in der Schule einfach und unbürokratisch zu ändern!

  • Wir bestimmen, was wir lernen wollen: Rahmenlehrpläne unter Kontrolle der Lernenden, Lehrenden, Arbeiter:innenbewegung und Vertreter:innen von Diskriminierten! Für angemessenen, verpflichtenden Aufklärungsunterricht vor der Geschlechtsreife und die gleichberechtigte Darstellung aller Formen von Geschlecht, Geschlechtsidentität, Sexualität und des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs!

  • Kampf der Diskriminierung an der Schule: Für breite Aufklärungskampagnen durch die Gewerkschaften von Lehrkräften und Schüler:innen und für eine von der Schulleitung unabhängige Antidiskriminierungsstelle, kontrolliert von Lernenden, Lehrenden und Organen der Arbeiter:innenklasse, die jederzeit wähl- und abhwähbar sind!

  • Von Schüler:innen selbstorganisierte Freiräume, die in den Pausen für alle frei zugänglich sind, an jeder Schule und den Ausbau von Unisextoiletten sowie Umkleideräumen!

Ähnlich sieht die Situation in der Ausbildung aus. Hier kommt jedoch der ökonomische Druck hinzu, der es vielen erschwert, sich selbst auszuleben oder dies sogar komplett unmöglich macht. Eine Studie – ebenfalls aus dem Jahr 2017 – von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat ergeben, dass trans Personen in der Ausbildung häufiger diskriminiert werden als ihre cis-geschlechtlichen Kolleg:innen. 48 Prozent der befragten trans Personen gaben an, bereits Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt zu haben, während es bei cis Personen nur 24 Prozent waren.

Die Diskriminierung reichte von Mobbing über das Ausgrenzen aus dem Team bis hin zu sexueller Belästigung. Dabei ist klar: Ob nun Kolleg:innen, die durch mangelndes Wissen mit Stammtischparolen um sich werfen, oder beispielsweise Kund:innen, die eine/n missgendern oder gar offen ausgelebte Transfeindlichkeit: Als Azubi für die eigenen Rechte einzustehen, ist um ein Vielfaches vertrackter. Das liegt aber nicht (nur) am Alter an sich, sondern der Status als Azubi ist hier das entscheidende Moment – Lehrjahre sind schließlich keine Herrenjahre. Dass man als ungleiche Arbeitskraft angesehen wird, die erstmal „richtig ausgebildet” werden muss, bevor man als gleichrangig angesehen wird, wirkt sich auch auf den Umgang miteinander aus. Herablassende Bemerkungen, gar Beleidigungen statt konstruktiver Kritik sind in bestimmten Branchen ganz offen an der Tagesordnung, in anderen existieren sie eher versteckt. Das kann soziale Unterdrückung verstärken und den Rahmen, wie man sich dagegen wehren kann, erheblich einschränken. Wenn wir also in der Ausbildung gegen Transfeindlichkeit kämpfen wollen, dann müssen wir das mit dem Kampf für bessere Ausbildungsrechte verbinden!

  • Tarifliche und rechtliche Gleichstellung aller Auszubildenden! Mindestausbildungsvergütung in Höhe des Mindestlohns und Anhebung dessen auf 15 Euro die Stunde!

  • Gegen alle Versuche und Regelungen wie „Job aktiv“ und „Kombilohn“, die den Billiglohnsektor ausweiten! Übernahme aller befristeten und Leiharbeits- in Normalarbeitsverhältnisse statt Ausdehnung der Flexibilisierung und des Niedriglohnsektors!

  • Probezeit? Nein Danke: Volle wirtschaftliche Rechte – inklusive des auf Streik – für Azubis!

  • Übernahme garantiert: Volle und unbefristete Übernahme aller Jugendlichen nach der Ausbildung – bei Verweigerung der Übernahme Strafzahlung! Für die Abschaffung aller Quoten, die die Übernahme beschränken!

  • Für das Recht, in Job und Ausbildung den gewählten Namen zu nutzen, auch wenn dieser noch nicht im Ausweis steht!

Um die Situation am Arbeitsplatz nachhaltig zu verbessern, muss sich auch was in den Gewerkschaften ändern. Es ist ein erster Schritt gewesen, dass man auch „divers” im Mitgliedsausweis angeben kann – aber mal ehrlich, ausreichend ist das nicht. Erstmal sollte es nicht verpflichtend sein, das eigene Geschlecht überhaupt angeben zu müssen. Darüber hinaus müssen Gewerkschaften an Betrieben und Berufsschulen präsent sein. Das heißt, zum einen Aufklärungskampagnen gegen Diskriminierung an Betrieben, Schulen und Unis organisieren und zum anderen auch, die Präsenz durch Beratungsstellen an Berufsschulen sowie die Vertrauenskörperstruktur in den Betrieben flächendeckend auszubauen. Zusätzlich ist es ein Problem, dass für Länder wie Deutschland Datenerhebungen fehlen, wenn es darum geht, die Verbindung von Einkommen und Unterdrückung zu erfassen. Zahlen aus den USA belegen, dass dort insbesondere schwarze trans Frauen weniger als der US-Durchschnitt verdienen. Solche Erhebungen wären ein erster Schritt, um auch passende Forderungen aufwerfen zu können und würde zudem klar zeigen, dass Gewerkschaften sich bewusst positionieren.

  • Flächendeckender Ausbau der Vertrauenskörperstrukturen und Antidiskriminierungsstellen!

  • Für das Recht auf gesonderte Treffen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung, um den Kampf für Gleichberechtigung voranzutreiben und gegen diskriminierendes und chauvinistisches Verhalten vorzugehen!

  • Breite Kampagnen zur gewerkschaftlichen Organisierung von Jugendlichen! Wir wollen uns nicht bevormunden lassen: Gerechte Repräsentanz in den Gremien der Gewerkschaften!

  • Regelmäßige Erhebungen bzgl. Einkommen und Diskriminierungserfahrungen, kontrolliert durch Gewerkschaften!

Medien, Alltag und Gewalt

Ob Bahnhofstoiletten, Behördengänge, Bekleidungsgeschäfte oder das umfangreiche Sortiment an Waren, die man erwerben kann: Wenn man mal darauf achtet, dann wird deutlich, wie viel in unserer Gesellschaft eigentlich von der binären Geschlechterordnung bestimmt wird. Daraufhin einfach mal abschalten und eine Serie schauen, um den Stress in der Schule oder Familie zu vergessen? Das ist aber nur bedingt möglich. In den letzten Jahren wurden zwar immer mehr trans Charaktere in Serien und Filme integriert. Dennoch: Die Sichtbarkeit ist umkämpft und noch längst nicht ausreichend. Diversität heißt übrigens nicht, so viele unterdrückte Gruppen wie möglich zu zeigen, sondern auch eine Varianz dieser mit einzubeziehen.

Ansonsten werden immer wieder Stereotype reproduziert. Was bedeutet das in der Praxis? Es ist legitim, sich mit dem Thema Transition auseinanderzusetzen. Aber genauso notwendig ist es, unterschiedliche Erfahrungen mit einzubeziehen: Nicht-binäre trans Personen sind eher unterrepräsentiert und Menschen, die trans sind, aber sich nicht in die jeweilige Geschlechterrolle stecken lassen wollen, werden meistens negativ dargestellt. Die Charaktere, die am positivsten wegkommen, sind jene, die der binären Geschlechterordnung am meisten entsprechen. Das zu zeigen, ist nicht per se falsch, das ausschließlich zu zeigen, allerdings schon. Flache Charakterarchs hin zur Akzeptanz der eigenen Transidentität oder das bloße Darstellen von körperlicher und sozialer Transition oder dem Umgang mit Diskriminierung sind vielleicht für cis Personen interessante Geschichten, aber für trans Menschen ist das einfach unser selbstverständlicher Alltag und damit totlangweilig. Wir wollen trans Held:innen, Bösewichte, Mütter, Nebencharaktere, Kolleg:innen etc. in Serien und Filmen, deren Transidentität sie nicht definiert – aber eben selbstverständlicher Teil ihrer Geschichte und Lebensrealtität ist.

Besser wird es jedoch auf keinen Fall, wenn man die meisten Nachrichtenseiten aufruft. Die vermehrte Repräsentation von trans Personen, die Bevormundung von Jugendlichen, die Krise der bürgerlichen Familie, der allgemeine gesellschaftliche Rechtsruck und der Misserfolg des bürgerlichen Feminismus hinsichtlich der Überwindung von Frauenunterdrückung, haben unter anderem dazu geführt, dass (vermeintliche) Feminist:innen wie Alice Schwarzer vom „Transtrend“ sprechen. In Nachrichten – insbesondere in populistischen Blättern –   werden fiktive Szenarien beleuchtet, in denen angebliche Feminist:innen vor allem trans Frauen unglaubliche Dinge unterstellen, anstatt über die reale Gewalt, die trans Personen angetan wird, zu berichten. Die Kriminalstatistik zeigt jedoch: Zwischen 2018 und 2021 hat sich die Gewalt gegen queere Menschen mehr als verdoppelt. Das führt uns zur eigentlichen Gefahr: Während man in größeren Städten zwar etwas „sicherer” als in ländlicheren Gegenden ist, so ist es nicht gegeben, dass man mal „einfach so” Bahn fahren kann. Komische Blicke, Beleidigungen und die Angst vor Gewalt gehören in der Regel dazu, wenn man nicht so aussieht, wie die klassischen Geschlechterrollen es verlangen.  Das wird verstärkt durch den stetigen Rechtsruck, den wir erleben, und so steigt auch die Gefahr für gezielte Übergriffe. Selbst in vermeintlich „queerfreundlichen” Großstädten wie Berlin kommt es mittlerweile nicht nur zu verbalen, sondern auch körperlichen Angriffen.

  • Enteignet die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen, …) und organisiert die Produktion durch Räte aus Arbeiter:innen, Zuschauer:innen und Unterdrückten!

  • Gewalt stoppen: Demokratisch organisierte und gewählte Selbstverteidigungskomitees gegen Übergriffe auf LGBTIA+! Für den Ausbau von Schutzräumen für LGBTIA+ und Unisexorte in der Öffentlichkeit!

Medizinische Versorgung

Arz-/Ärztinttermine sind generell ein rares Gut. Wer versucht hat, einen Beratungstermin beispielsweise beim/bei der Endokrinolog:in zu bekommen, weiß, dass Wartezeiten von über einem halben Jahr keine Seltenheit sind. Deswegen bedeutet der Kampf für Selbstbestimmung auch ein Kampf für die Verbesserung des Gesundheitssystems insgesamt. Das bedeutet:

  • Weg mit Privatisierung der Krankenhäuser! Nein zu deren Schließungen auf dem Land!

  • Für einen höheren Personalschlüssel und Verkürzung der Arbeitszeit für alle Beschäftigten bei  vollem Lohnausgleich!

Finanziert werden sollte das Ganze durch die Abschaffung des DRG-Systems, Abschaffung des Zweiklassen-Gesundheitssystems (also nur gesetzliche Krankenkassen statt privater), Besteuerung der Reichen und Enteignung der Klinik- und Pharmaziekonzerne. So können eine schnellere Terminvergabe sowie qualitativ bessere Betreuung gewährleistet werden. Doch nicht nur Termine sind ein Problem: Arzt-/Ärztinbesuche bei Gynäkolog:innen sowie Urolog:innen sind für viele nicht nur mit emotionalem Stress verbunden sind – sondern können auch mit Ablehnung und Unverständnis seitens Praxismitarbeitenden oder anderen Patient:innen begleitet werden. So hat laut einer Studie der deutschen AIDS-Hilfe und des RKI von 2023 fast jeder fünfte nicht-binäre oder trans Mensch (17 Prozent) bereits aus Angst vor Diskriminierung lieber auf bestimmte medizinische Leistungen verzichtet. Auch in der Apotheke kann es unangenehm werden, wenn die Mitarbeiter:innen beispielsweise einem trans Mann keine Pille danach rausgeben möchten, da in manchen Apotheken die Vorgehensweise üblich ist, dass sie Pille nur an die betroffene Frau verkauft wird. In einer Situation, wo sich viele sowieso schon gedemütigt aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas bei Notfallverhütung fühlen, müssen trans Personen nun auch noch ihr Anliegen zusätzlich begründen.

Die Transition an sich ist auch mit vielen Hindernissen verbunden. So müssen sich trans Menschen vor einer Hormonbehandlung oder chirurgischen Eingriffen in zwei unabhängigen Gutachten unangenehmen psychosozialen Befragungen stellen, wo unter anderem intime Details über das Sexualleben und den mentalen Gesundheitszustand abgefragt werden, damit Ärzt:innen bestätigen können, dass die Person für eine solche Behandlung in Frage kommt. Das kann auch dazu führen, dass nicht-binäre trans Personen, welche den Wunsch nach einer Hormonbehandlung hegen, ihre Ärzt:innen anlügen müssen, da sie diese Hormone nur bei einer binären Transgeschlechtlichkeit verschreiben (können). Mit diesem unnötigen und beschämenden Herumstochern im Privatleben muss Schluss sein! Beratungsstellen müssen ausgebaut werden, aber die Beratung sollte sich nicht wie eine Prüfung anfühlen und letztendlich sollte es keine Fremdbestimmung durch das ärztliche Personal geben.

Für trans Jugendliche spielt auch die Frage von Pubertätsblockern eine Rolle, die verhindern sollen, dass sie in die Pubertät kommen und diesem Leidensdruck, der damit einhergeht, ausgesetzt werden, obwohl sie bereits beginnen, ihre Geschlechtsidentität zu hinterfragen. Es zu begrüßen, dass trans Jugendlichen so eine Möglichkeit geboten wird, die Selbstbestimmung über die Entwicklung ihres Körpers erlangen zu können. Statt Panikmache von Alice Schwarzer und Co. und Bevormundung durch die Eltern, braucht es gute Aufklärung über die bestehenden Studien (die existieren, da Hormonblocker schon seit Jahrzehnten in anderen medizinischen Fragen eingesetzt werden) und einfach medizinische Studien für Hormon Replacement Therapie.

Zudem ist – wie auch woanders – die Medizin von gesellschaftlicher Unterdrückung geprägt. Das wird deutlich daran, dass viele Patient:innenstudien, Symptome und Medikamentenvorgaben auf Basis cis-männlicher Körper stattfinden – was beispielsweise dazu führt, dass Personen mit biologisch weiblichem Körper vermehrt an Herzinfarkten sterben, weil sie andere Symptome aufweisen oder nicht ernst genommen werden, insbesondere wenn sie nicht-weiß sind. Falsche Kategorisierung des Geschlechts der Betroffenen oder die Annahme, es würde sich um einen cis Körper handeln, können auch fatale Folgen hinsichtlich der Beratung bei Verhütungsmethoden sowie der Behandlung von Geschlechtskrankheiten oder der HIV-Prävention haben, da manche Beratungen aufgrund der Vermutung einer Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung nicht durchgeführt werden und auch hier die Präparate unterschiedlich auf die Körper wirken. Nach einer Personenstands- und Namensänderung zahlt die Krankenkasse teilweise „geschlechtsspezifische“ Behandlungen wie HPV Impfungen nicht mehr (bzw. man muss sich ihnen extra erklären und damit rumschlagen).

Viele Ärzt:innen wissen außerdem schlicht nicht, was eine HRT (Hormone Replacement Therapy) an einem Körper ändern kann und ignorieren z.B. dass bei einer Testosterontherapie das Risiko von Herzerkrankungen auf das eines cis Mannes steigt, andere körperliche Vorgänge eher wie bei cis Frauen funktionieren und wieder andere Dinge mit beidem nur noch wenig zu tun haben. Faktisch führt das dazu, dass trans Menschen oft zu Ärzt:innen gehen und ihnen erstmal ihren Körper erklären müssen. Da an der Stelle aber zu wenig Forschung existiert, es sehr kompliziert werden kann, die Beschäftigung mit dem eigenen Körper mental schwierig sein kann und die Ressourcen begrenzt sind, sind viele trans Menschen dazu verständlicherweise nicht in der Lage. Der erschwerte Zugang führt aber dazu, dass manche trans Personen sich über inoffizielle Wege Hormone besorgen müssen. Ohne medizinische Überwachung der Dosierung und Nebenwirkungen kann das aber auch sehr gefährlich für die Betroffenen enden. Das heißt, wir brauchen Forschung, Lehre und Praxis, die die Auswirkungen gesellschaftlicher Diskriminierung mit einbeziehen, sowie eine Medizin, die eine biologische Bipolarität  der Geschlechter anerkennt! Des Weiteren brauchen wir auch eine Auseinandersetzung mit der Produktion von Medikamenten und Präparaten in der Pharmazie. Die Devise heißt hier Enteignung unter Arbeiter:innenkontrolle und die Aufhebung des Patentrechts, um zu gewährleisten, dass die Produktion von Pubertätsblockern und Hormonpräparaten nicht unter Profitinteresse steht und sie auch in einer Langzeitanwendung so sicher wie möglich sind!

  • Für Selbstbestimmung über den eigenen Körper: Für das Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zu medizinischer Geschlechtsangleichung!

  • Schluss mit Diskriminierung: Rahmenlehrpläne in der medizinischen Ausbildung unter Kontrolle von Ärzt:innen, Arbeiter:innen und Vertreter:innen von Unterdrückten! Für breite Sensibilisierungskampagnen gegen Diskriminierung im Gesundheitssystem und den Ausbau von Gesundheitszentren speziell für Frauen und LGBTIA+!

  • Intersex vollständig legalisieren: Verbot medizinisch nicht notwendiger, kosmetischer Genitaloperationen an Kindern!

  • Rekommunalisierung und Verstaatlichung aller privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen, die ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und guter Gesundheitsversorgung haben!

  • Freier und kostenloser Zugang zu Verhütungsmitteln! Massiver Ausbau der Beratung und Forschung in diesem Bereich!

Staatliche Diskriminierung

Seit August 2023 ist das TSG (Transsexuellengesetz) Geschichte und wurde durchs sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz” ersetzt. Erst einmal das Positive: Das Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht es trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen, ihren Namen und Geschlechtseintrag auf Antrag beim Standesamt zu ändern. Während man früher vor Gericht gehen musste sowie zwei psychologische Gutachten brauchte , nur um die Personenstandsänderung durchzusetzen, kann man ab Herbst 2024 Namen und Geschlecht angleichen, indem man sich 3 Monate vor der sogenannten „Erklärung mit Eigenversicherung“ beim Standesamt anmeldet. Doch für Minderjährige ist der Prozess der „Selbstbestimmung“ weitaus weniger frei und eigenständig möglich. Personen ab 14 Jahren haben zwar das Recht, ihren Antrag auf Geschlechtsänderung selbst einzureichen. Seine Wirksamkeit hängt jedoch von der Zustimmung der sorgeberechtigten Person oder des Familiengerichts ab.

Alle jüngeren Personen dürfen nicht mal den Antrag selber einreichen und haben wenig mitzureden, welches Geschlecht oder welcher Name angegeben wird. Ausgeschlossen werden ebenso Personen, deren Visum bald abläuft – um zu verhindern, dass sie sich vor der Abschiebung „drücken” können. Auch im „Spannungs- und Verteidigungsfall“ kann die Angleichung auch „ausgesetzt” werden, um Menschen in den Wehrdienst einzuziehen. Besonders fatal ist, dass mit dem Selbstbestimmungsgesetz eine Liste erstellt wird. Das heißt: Alle trans Personen (mit ihren Deadnames und Adressen) sind den staatlichen Strukturen wie BKA, Polizei und Geheimdienst bekannt. Man benötigt keine Datenschutzexpertise, um zu wissen, dass das überhaupt nicht nötig ist, sondern vielmehr eine Gefährdung darstellt .

  • Für Selbstbestimmung über die eigene Geschlechtsidentität: Für Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zur offiziellen Namens- und Personenstandsänderung! Gegen den Zwang, das Geschlecht in amtlichen Dokumenten anzugeben!

  • Keine Weitergabe dieser Informationen an Bundeskriminalamt (BKA), die Landeskriminalämter, die Bundespolizei, das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Militärischen Abschirmdienst!

  • Volle rechtliche Gleichstellung von LGBTIA+! Gleichstellung aller Partnerschaften und Lebensgemeinschaften mit der Familie! Für die automatische Eintragung queerer Eltern auf die Geburtsurkunden ihrer Kinder: mit ihren gewünschten Namen und Geschlecht!

Ursprung der Unterdrückung

Die Beispiele zeigen: Die Unterdrückung von trans Menschen ist überall zu finden. Doch wenn wir sie nicht nur oberflächlich bekämpfen wollen, müssen wir uns fragen: Woher kommt sie eigentlich?  Für uns als Marxist:innen ist die Diskriminierung von trans und anderen queeren Personen eng mit der Frauenunterdrückung verbunden. Letztere wird in der kapitalistischen Gesellschaft durch die Auslagerung von Reproduktionsarbeit (beispielsweise Kindererziehung, Pflege, Kochen, Waschen etc.) ins Private manifestiert. Kollektive Küchen, Waschhäuser oder auch Pflege könnte man gesamtgesellschaftlich organisieren und dadurch massiv Zeit einsparen (und so auch die Qualität verbessern). Doch um Kosten zu sparen, wird diese Arbeit in das Privatleben von Individuen gedrängt. Frauen tragen dabei oftmals die Hauptlast der reproduktiven Arbeit aufgrund der geschlechtlichen Arbeitsteilung, die vorherrscht. Der Stereotyp der bürgerlichen Familie macht das besonders deutlich:

Hier hat „alles seine Ordnung” und die Rollen sind klar verteilt: Der Mann ernährt als Hauptverdiener die Familie, während die Frau bestenfalls noch etwas dazuverdienen darf, sich aber hauptsächlich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmert. Wer sich jetzt denkt, dass die 1960er Jahre angerufen haben und ihre verstaubte Lebensrealität zurückhaben wollen, hat recht. Jedoch wird diese Aufteilung nach wie vor vielerorts reproduziert: Sei es in Medien, durch Religionen, konservative Politiker:innen oder durch Gesetze, die Hetero-Zweierbeziehungen bevorzugen. Kurzum: Die bürgerliche Familie nimmt im Kapitalismus einen ideologischen Stellenwert ein, der geschützt wird. Dies geschieht nicht rein zufällig, sondern ist einfach eine Ideologie und Praxis, die für den Kapitalismus besonders profitabel ist. So werden durch das Idealbild der Familie die Erbschaftsverhältnisse der Herrschenden geregelt, während die ganze Reproduktionsarbeit der Arbeiter:innenklasse unentgeltlich im Privaten stattfindet. Menschen, die nun nicht in dieses cis- und heteronormative Gesellschaftsbild hineinpassen, sind der bürgerlichen Gesellschaft natürlich ein Dorn im Auge. Denn mit ihrer bloßen Existenz stellen sie eine Gesellschaftsordnung in Frage, in der es „natürlich„ scheint, dass Männer arbeiten, Frauen Hausarbeit verrichten, und es normal ist, dass nur heterosexuelle Paare Kinder bekommen. Das erklärt auch, warum insbesondere Rechte und andere Reaktionär:innen so vehement gegen Queers eintreten.  Gleichgeschlechtliche Partner:innen lieben, mehr als eine/n Partner:in haben oder eben das eigene Geschlecht angleichen lassen – all das greift die geschlechtliche Arbeitsteilung an. Diese ist jedoch notwendig, um die Familie und somit die Auslagerung der Reproduktionsarbeit ins Private aufrechtzuerhalten und somit auch der Ursprung der Unterdrückung von LGBTIA+.

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse, damit die Reproduktionsarbeit auf alle  verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Kampf den Geschlechterrollen: Schluss mit geschlechtlicher Arbeitsteilung: Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit; gleichmäßige Aufteilung der übrigbleibenden privaten Tätigkeiten!

Was tun?

All diese Forderungen zu erkämpfen, wäre ein wichtiger Schritt in der Verbesserung der Situation von trans Personen. Unser Ziel muss jedoch sein, der Unterdrückung die materielle Grundlage zu entziehen. Deswegen ist für uns der Kampf für die Befreiung von LGBTIA+ verbunden mit der Notwendigkeit, die Reproduktionsarbeit zu vergesellschaften und die kapitalistische Gesellschaft zu zerschlagen!

In der Praxis setzen wir uns für einen gemeinsamen Kampf von Frauen-, LGBTIA+- und Arbeiter:innenbewegung ein. Zum einen, weil Erstere genauso Teil der Arbeiter:innenklasse sind und das Bild des „Arbeiters im Blaumann” als diese vollständig repräsentierendes veraltet ist. Zum anderen nimmt die Arbeiter:innenklasse eine Schlüsselposition ein, wenn es darum geht, Forderungen durchzusetzen. Durch ihre Stellung im Produktionsprozess kann sie durch Streiks ökonomischen Druck aufbauen und so sichern, dass Reformen durchgesetzt werden können. Sie ist auch zentral, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu zerschlagen. Deswegen ist es unsere Aufgabe, revolutionäres Bewusstsein in die Klasse zu tragen und den gemeinsamen Kampf zu führen, um gegen existierende Vorurteile sowie Diskriminierung zu kämpfen und letzten Endes die Grundlage von LGBTIA+-Unterdrückung zu beseitigen. Um das zu ermöglichen, glauben wir, dass es notwendig ist, dass in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse – ob nun Gewerkschaft, revolutionärer Organisation oder Partei – das Recht für gesellschaftlich Unterdrückte besteht, einen Caucus zu bilden, d. h. einen Ort, an dem sie sich unter ihresgleichen treffen können, um sich über erlebte Unterdrückung auszutauschen, ob nun innerhalb oder außerhalb der Strukturen. Dafür benötigen wir auch ein revolutionäres Programm, welches alle Forderungen, die sich auf die unterschiedlichen Ausgebeuteten und Unterdrückten beziehen, zu einem gemeinsamen Kampf verbindet.




Argentinien: Milei und sein Kabinett erklären den Klassenkrieg

Martin Suchanek, Infomail 1241, 6. Januar 2024

Argentiniens neuer Präsident Milei und sein rechtes Kabinett machen Ernst. Im Dezember verkündete er eine Schocktherapie für das Land, die an die „Reformen“ der rechtsperonistischen Regierung Menem und an die neoliberalen Programme seit Pinochet erinnert.

Der Amtsantritt im Dezember begann mit einem 10-Punkte-Liberalisierungs- und Sparprogramm. Im Fernsehen verkündete Milei danach ein Maßnahmenpaket zum wirtschaftlichen „Wiederaufbau“, das DNU (Decreto de Necesidad e Urgencia = Notwendigkeits- und Eildekret), das 366 bestehende Gesetze abschaffen oder abändern soll. Schließlich wurde Ende Dezember ein Mega-Gesetzespaket mit 664 Artikeln auf den Weg mit dem euphemistischen Titel „Grundlagen und Ansatzpunkte für die Freiheit der Argentinier“ gebracht, das seither auch unter dem Namen „Ley Ómnibus“ (Omnibus-Gesetz) bekannt wurde.

Generalangriff

Schon bei der Vorstellung des DNU verkündete er den öffentlichen Notstand in wirtschaftlichen, finanziellen, steuerlichen, administrativen, Renten-, Tarif-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten. Die Maßnahmen des DNU wie auch das Mega-Gesetzespaket vom Ende Dezember 2023 stellen einen massiven, seit Jahrzehnten nicht dagewesenen, gebündelten Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten dar:

Zum einen beinhalten sie massive Deregulierungen, darunter die Aufhebung staatlicher Preiskontrollen für Mieten, öffentliche Versorgung, Bergbau und Industrie sowie Privatisierungen. Staatliche Anteile an insgesamt 41 Einrichtungen (darunter Häfen, Post, Flugverkehr, Kernkraftwerke und weitere Energieunternehmen) sollen privatisiert, bei Handel und Finanzen soll der Verbraucher:innenschutz gänzlich gestrichen werden.

Den zweiten großen Block machen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen aus. Die ohnedies schon lückenhaften Arbeitsrechte sollen weiter liberalisiert, Probezeiten verlängert und Kündigungsschutz weiter ausgehöhlt werden. Strafen und Kontrollen für die Beschäftigung von Schwarzarbeit sollen entfallen.

Vor allem aber sollen die Arbeitskampfrechte extrem beschnitten werden. Die Beteiligung an Betriebsblockaden soll hinkünftig als Kündigungsgrund anerkannt werden. So müsste auch bei Streiks die Hälfte der Produktion in wesentlichen Bereichen aufrechterhalten bleiben. Zu diesen gehören unter anderem große Teile der Industrieproduktion und Dienstleistungen, darunter die Herstellung von Medikamenten, der Transportsektor, Radio und Fernsehen.

Auch die politischen Rechte der Arbeitslosen kommen unter die Räder. So droht bei Beteiligung an Demonstrationen der Entzug der Sozialhilfe. Generell sollen alle politischen Versammlungen mit mehr als 3 Personen genehmigungspflichtig werden. Leiter:innen von Versammlungen, die den öffentlichen oder privaten Verkehr oder Transport behindern, müssen mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, wenn das Dekret und die Gesetzesvorlagen durchgehen.

Mileis Stützen

Bei seinen Vorhaben können sich Milei und sein Kabinett der Unterstützung der herrschenden Klasse Argentiniens sicher sein. Generell stützt sich seine Regierung neben einigen extrem rechten Figuren und Vertreter:innen seines Parteienbündnisses La Libertad Avanza (LLA; deutsch: Die Freiheit schreitet voran), wie z. B. der Vizepräsidentin Victoria Villarruel, auf „bewährte“ Vertreter:innen des Kapitals, die schon unter der rechten Regierung Macri (2015 – 2019) im Amt waren.

So bekleidet Luis Caputo das Amt des Wirtschaftsministers. Zur Außenministerin wurde die Ökonomin Diana Mondino ernannt, die auch gleich die Abschaffung aller Außenhandelsbeschränkungen und den, mittlerweile vollzogenen, Bruch mit den BRICS versprach. Der konservativen Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich untersteht das Ministerium für Innere Sicherheit, ihr Parteifreund Luis Petri bekleidet das Amt des Verteidigungsministers.

Auch wenn Milei und seine Partei einen exzentrischen und auch etwas obskuren Anstrich haben mögen – und manche ihrer Forderungen wie die Einführung des US-Dollar als nationale Währung auch mangels Bereitschaft der USA wenig Chance auf Realisierung haben –, so ist der direkte Einfluss des argentinischen Kapitals und seiner westlichen imperialistischen Verbündeten wohl ungebrochener als bei fast jeder anderen Regierung seit Jahrzehnten.

Vor allem der Finanzsektor setzt große Hoffnungen in Milei, denn schließlich verspricht er lukrative Anlagemöglichkeiten. Kein Wunder also, dass der Aktienmarkt nach der Kabinettsbildung einen kurzfristigen Aufstieg von 22 % erlebte. Auch wenn Milei in den USA Trump nähersteht als Biden, so begrüßen die USA und der IWF nicht nur die angekündigten neoliberalen Sparmaßnahmen und Privatisierungen, sondern auch seine enge Westbindung.

Schließlich hat die neue Regierung auch nicht vor, in allen Bereichen zu kürzen. Die Ausgaben für Militär und innere Sicherheit sollen erhöht werden. Milei hat außerdem für alle drei Teilstreitkräfte neue Oberkommandierende ernannt und etwa zwei Drittel des Führungsstabs ausgetauscht. Auch im Verteidigungsministerium wurden zahlreiche Posten neu besetzt.

Hindernisse auf institutioneller Ebene

Zugleich sieht sich Milei wichtigen institutionellen Hindernissen gegenüber. In den beiden Kammern des Parlaments stellt seine Partei La Libertad Avanza nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten – 38 im 257 Abgeordnete umfassenden Kongress, 8 im 72-köpfigen Senat. Auch wenn sie in der ersten Kammer des Parlaments zusammen mit der konservativen Juntos por el Cambio theoretisch über eine Mehrheit verfügt, so ist diese wackelig, weil sie generell zu allen Maßnahmen nicht sicher ist. Die peronistische Unión por la Patria verfügt in beiden Kammern über eine relative Mehrheit (109 von 257 im Kongress, 34 von 72 im Senat). Gerade im Senat benötigt die peronistische Allianz nur die Stimmen von 2 der 6 unabhängigen Senator:innen, um eine Regierungsmehrheit zu verhindern. Eine Mehrheit für die Regierung ist zwar unsicher, in den letzten Wochen vermochte jedoch die Vizepräsidentin Villaruel, Kräfte des rechten Provinz-Peronismus einzubinden, womit es also auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Regierung eine Mehrheit verschaffen kann.

Zweitens können die Gerichte Milei einen Strich durch die Rechnung machen wie jüngst, als einige Dekrete zur Arbeitsmarktreform vom obersten Gericht aufgehoben wurden.

Auch wenn Milei wahrscheinlich eine Reihe seiner Maßnahmen durch die beiden Kammern des Parlaments bringen könnte, so würde eine solche Form des Regierens immer wieder auch langwierige Verhandlungen und Kompromisse mit den Parlamentarier:innen inklusive der peronistischen Opposition, der „Kaste“, erfordern.

Genau das wollen Milei, seine Regierung und die argentinische Bourgeoisie vermeiden. Sie wollen die aktuelle Krise und die Niederlage des Peronismus nutzen, um auch mit dessen institutionellem und politischem Vermächtnis aufzuräumen.

Als populistische Partei und Bewegung inkludierte der Peronismus und auch das politische System, das er etablierte, eine institutionelle, korporatistische Einbindung der Arbeiter:innenklasse über die Apparate der Gewerkschaften sowie von klientelistischen Organisationen der Arbeitslosen und anderen gesellschaftlicher Gruppen. Dem entspricht auch der Charakter der peronistischen Partei, die eine klassenübergreifende Allianz, eine Art Volksfront in Parteiform darstellt – natürlich auf Kosten der Arbeiter:innenklasse.

Ganz allgemein mussten die Lohnabhängigen für diesen Korporatismus in den letzten Jahren einen hohen Preis in Form von sinkenden Löhnen und Einkommen zahlen. Die Inflationsrate von rund 140 % (Oktober 2023) wurde über Jahre nicht kompensiert. Rund 40 % der Bevölkerung lebten schon vor dem Amtsantritt Mileis unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend.

Die argentinische Bourgeoisie will aber die Kosten des Korporatismus nicht mehr länger tragen, sondern mit ihm Schluss machen. Milei erwies sich mit seiner demagogischen Rhetorik und seiner populistischen Hetze gegen die „Kaste“, worunter er eine bunte Mischung von peronistischer Bürokratie, Vetternwirtschaft, aber auch die organisierte Arbeiter:innenklasse und Linke zusammenfasst, als probates Mittel, bei den Wahlen nicht nur die traditionellen Unterstützer:innen der Konservativen und Rechten aus den Mittelschichten und dem Kleinbürger:innentum anzusprechen, sondern auch bedeutende Teil der „Deklassierten“, der Arbeitslosen und Prekären, für die sich das  peronistische Sozialstaatsversprechen längst als Chimäre erwiesen hatte.

Milei ist jedoch bewusst, dass das eigentlich entscheidende Hindernis für seine Angriffe nicht im Parlament oder in der Justiz zu finden sein wird, sondern in den Betrieben und auf der Straße. Auch wenn die argentinische Arbeiter:innenklasse durch die Auswirkungen der Krise, durch Arbeitslosigkeit und einen sehr großen, nicht mehr tariflich regulierten Sektor geschwächt ist, so ist sie noch nicht geschlagen.

Ruf nach einem „Ermächtigungsgesetz“

Das von Milei vorgeschlagene Omnibus-Gesetz beinhaltet daher nicht nur ein Programm des neoliberalen Generalangriffs auf allen Ebenen. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass die Legislative für zwei Jahre ihre wichtigsten gesetzgeberischen Befugnisse an die Regierung abgeben soll. Es handelt sich also um ein Notstandsgesetz, das Präsident und Regierung faktisch sämtliche Staatsmacht übertragen soll, also zeitlich begrenzte, quasi diktatorische Vollmachten, um dieses Programm gegen Widerstand durchzuziehen.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Milei dieser Schachzug gelingt. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ihm die erste Kammer diese Machtbefugnis überträgt und das würde reichen, da beide Kammern das Gesetz blockieren müssten. Eine zweite Hürde wäre das Verfassungsgericht, denn das Ermächtigungsgesetz widerspricht eigentlich dem argentinischen Grundgesetz. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dies eine zuverlässige Garantie gegen die Notstandsmaßnahmen ist.

Hinzu kommt, dass Milei – sollten die Institutionen sein Ansinnen blockieren – diese für die Fortdauer der Krise verantwortlich machen wird. Schon jetzt baut er rhetorisch die Alternative auf, dass das Land zwischen seinen „Rettungsmaßnahmen“ oder einer „Katastrophe“, also dem Zusammenbruch wählen müsse. Und diese stellt bei einer Inflationsrate von mittlerweile 160 % eine reale Möglichkeit dar. Auch wenn keine seiner Maßnahmen umgesetzt wird, so wird sich die soziale Lage weiter dramatisch verschärfen. Milei wird versuchen, eine solche Entwicklung für sich zu nutzen, und dafür die korrupten und parasitären Vertreter:innen des „alten“ Argentiniens verantwortlich machen, den Peronismus und eine Kaste von faulen Menschen, die am Sozialstaat hängen und seine „Rettung“ verhindern. Solcherart könnte er den Boden für eine „härtere“ Gangart vorbereiten, bis hin zu einem offenen Präsidialputsch, um die parlamentarischen und institutionellen Hindernisse für die „Rettung des Landes“ zu beseitigen.

Auch wenn die institutionellen Auseinandersetzungen die Angriffe Mileis verlangsamen mögen, so verfügt die peronistische Opposion, die selbst jahrelang soziale Verschlechterungen durchsetzte und bei den Wahlen mit dem rechtsperonistischen Kandidaten Massa angetreten war, über keine wirkliche Alternative. Sie will letztlich in die Verwaltung der Krise einbezogen werden, weil sie keineswegs deren Ursachen wirklich angehen will oder kann.

Generalstreik!

Die einzige Kraft, die den Generalangriffe der Regierung Mileis und des Kapitals abwehren kann, ist die Arbeiter:innenklasse. Schon im Dezember fanden erste wichtige Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung statt, organisiert von Arbeitslosenverbänden und vom kleineren Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos Autónoma (CTAA). Der größte Gewerkschaftsverband Confederación General del Trabajo (CGT) ruft zu Protestkundgebungen vor dem Parlament während der Gesetzesdebatte und zu einem Generalstreik für den 24. Januar auf. Korrekterweise tun dies auch die Mitgliedsorganisationen der FIT-U, die Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einer Einheitsfront des Widerstandes gegen die Angriffe der Regierung auffordern.

Protestaktionen und Demonstrationen oder ein eintägiger Generalstreik können helfen, die Kräfte des Widerstands gegen die Angriffe der Regierung, gegen ein drohendes neoliberales Massaker und das Ermächtigungsgesetz zu sammeln. Sie werden aber sicher nicht reichen, um Milei und sein Kabinett zu stoppen.

Gegen den Generalangriff hilft nur ein Generalstreik. Die Gewerkschaften müssen dazu aufgefordert werden, diesen auszurufen und zu organisieren und mit jeder falschen Rücksichtnahme auf und Unterordnung unter die parlamentarischen Manöver der peronistischen Partei zu brechen. In den Gewerkschaften braucht es dazu Basisversammlungen und eine organisierte klassenkämpferische Opposition, die die Führung zum Kampf treibt oder selbst die Initiative ergreift.

Die Einheitsfront für den Generalstreik richtet sich aber nicht nur an die Gewerkschaften und die radikale Linke, sondern auch an Arbeitslosenorganisationen, soziale Bewegungen, die Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung, indigene Gemeinden und Student:innenorganisationen.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückging und viele Lohnabhängige arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, aber auch um den Kampf möglichst effektiv zu führen, sind Massenversammlungen in den Betrieben wie auch Stadtteilen nötig, die Streik- und Aktionskomitees zu wählen und diese als Kampforgane auf lokaler, regional und landesweiter Ebene zu zentralisieren.

Angesichts der zugespitzten Lage wird die Regierung gegen jeden größeren Widerstand mit polizeilicher Repression, eventuell auch mit reaktionären Banden und rechten Gruppierungen vorgehen. Schon in den letzten Wochen wurden die Befugnisse des Ministeriums für Innere Sicherheit ausgeweitet – und es unterliegt keinem Zweifel, dass Ministerin Bullrich davon Gebrauch machen wird. Daher muss ein Generalstreik auch durch Streikposten und Selbstverteidigungsorgane, embryonale Arbeiter:innenmilizen, geschützt werden.

Ein unbefristeter Generalstreik kann die Angriffe der Regierung stoppen, er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – die Frage, ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben von Milei kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen die Inflation, die Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen. Ein solches Programm würde seinerseits die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und des Finanzsektors unter Arbeiter:innenkontrolle erfordern, um so für alle einen existenzsichernden Mindestlohn oder ein Einkommen zu sichern, um die Löhne an die Preissteigerungen anzupassen und die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen zu reorganisieren.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass die FIT-U aufhören muss, als bloße Wahlfront aus mehreren zentristischen Organisationen zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros (Demonstrant:innen, die Straßen und Unternehmen blockieren) und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für eine solches Programm kämpfen wollen.




Gemeinsame Erklärung zu Palästina

Internationale Trotzkistische Opposition (ITO) und Liga für die Fünfte Internationale (LFI), 4. Januar 2024, Infomail 1241, 4. Januar 2024

Die Internationale Trotzkistische Opposition (ITO), die Liga für die Fünfte Internationale (LFI) und die Revolutionary Workers Party (RRP) of Russia, die sich über revolutionäre Perspektiven für Palästina einig sind, haben diese gemeinsame Erklärung verabschiedet.

Die ständige Unterdrückung, Vertreibung und Ermordung von Palästinenser:innen in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen haben durch den Gegenangriff der Hamas und anderer Widerstandskämpfer:innen am 7. Oktober und die brutale Antwort Israels auf die gesamte Bevölkerung im Gazastreifen, die größer ist als seine früheren Angriffe dort, erneut die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregt. Dies hat Millionen von Menschen auf der ganzen Welt empört und gegen den zionistischen Staat und die uneingeschränkte Unterstützung, die er von seinen imperialistischen und rassistischen Unterstützer:innen erhält, mobilisiert.

Es ist die dringende Pflicht aller Revolutionär:innen, diese weltweite Bewegung maximal zu unterstützen und gleichzeitig eine klare revolutionäre antikapitalistische Perspektive für ihre Entwicklung aufzuzeigen. Zu diesem Zweck legen wir die folgende Erklärung vor und rufen alle, die die Situation so sehen wie wir, auf, sich uns in diesem Bemühen anzuschließen.

Zionismus und Imperialismus

Der Zionismus ist seit seinen Anfängen ein Siedlungskolonialprojekt. Sein Ziel ist es, die einheimische arabische Bevölkerung Palästinas zu vertreiben, um Platz für jüdische Siedler:innen zu schaffen. Eine zionistische Kolonie in Palästina schien weit hergeholt, bis der Holocaust sechs Millionen europäische Juden und Jüdinnen ermordete und viele der übrigen drei Millionen verzweifelt nach einem Zufluchtsort suchten. Der Antisemitismus hinderte die meisten Juden und Jüdinnen an der Auswanderung in die USA und nach Westeuropa. Zionistische Organisationen brachten viele nach Palästina.

In einer der größten Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts fügte ein schrecklich unterdrücktes Volk, die europäischen Juden/Jüdinnen, einem anderen unterdrückten Volk, den palästinensischen Araber:innen, schreckliche Unterdrückung zu. In der Nakba von 1948 eroberten die Zionist:innen 78 Prozent des Mandatsgebiets Palästina und erklärten es zu Israel. Zionistische Milizen und die israelische Armee vertrieben 750.000 Palästinenser:innen und viele Tausende mehr flohen. Durch die Nakba verringerte sich die arabische Bevölkerung in dem von Israel beanspruchten Gebiet von 1.324.000 im Jahr 1947 auf 156.000 im Jahr 1948.

Der US-amerikanische und europäische Imperialismus, Israels Verbündete, verfolgen zwei Hauptinteressen im Nahen Osten: seine strategische Lage an der Schnittstelle zwischen Asien, Europa und Afrika sowie sein Öl und Gas. Seit mehr als einem Jahrhundert versuchen sie, die Region durch eine Kombination aus Gewalt und dem Ausspielen von Teilen der Bevölkerung gegeneinander zu beherrschen.

Im Laufe der 1950er und 1960er Jahre verdrängten die USA Großbritannien und Frankreich als dominierende imperialistische Mächte in der Region und diese wurden zu Juniorpartnerinnen. Das Trio unterstützte Monarchien und Militärdiktaturen von Marokko bis Iran und fand Wege, nationalistische Regierungen wie die von Algerien, Ägypten, Syrien und Irak in ihre neokoloniale Weltordnung einzubinden.

Israel erwies sich bei der Schaffung der neokolonialen imperialen Ordnung als äußerst nützlich, insbesondere nachdem es Ägypten, Syrien und Jordanien im arabisch-israelischen Krieg von 1967 besiegt hatte. Die USA haben Milliarden von Dollar an Hilfe und Waffen geschickt, um Israel als Gendarm im Zentrum der arabischen Welt aufzubauen. Israel hat auch eine politische Funktion, denn es ermöglicht den USA, ihre militärischen Operationen zu verschleiern, und hilft den reaktionären arabischen Kompradorenregierungen, die Aufmerksamkeit von ihrer eigenen Misswirtschaft auf einen äußeren Feind, Israel, zu lenken.

Intifada

Im Krieg von 1967 eroberte Israel den Gazastreifen, das Westjordanland und die Golanhöhen und schloss damit die Besetzung Palästinas vom Jordan bis zum Mittelmeer ab. Außerdem besetzte es die ägyptische Sinaihalbinsel. Im Krieg von 1973 kämpften Ägypten und Syrien gegen Israel bis zum völligen Stillstand. Ägypten gewann den Sinai zurück und erkannte Israel 1979 an.

Seitdem hat sich ein Muster herausgebildet: Israel, unterstützt von den USA und seinen europäischen Verbündeten, besetzt Palästina; die arabischen Staaten protestieren, tun aber nichts; und die Palästinenser:innen erheben sich in regelmäßigen Abständen, um ihre Marginalisierung anzufechten.

Die erste Intifada von 1987 – 1993 führte zu den Osloer Verträgen, mit denen die Palästinensische Nationalbehörde (PNA) zur Verwaltung des Westjordanlands und des Gazastreifens gegründet wurde. Die Abkommen sahen eine Zwei-Staaten-Lösung für den arabisch-israelischen Konflikt in Palästina vor, aber Israel stimmte weder dieser Lösung noch einer Teilung zu, mit der die Palästinenser:innen leben könnten.

Die Zweite Intifada von 2000 – 2005 zwang Israel zum „Rückzug“ aus dem Gazastreifen, indem es seine Truppen abzog und die israelischen Siedlungen dort auflöste. Bei den palästinensischen Parlamentswahlen 2006 traten die im Westjordanland ansässige Fatah und die im Gazastreifen ansässige Hamas gegeneinander an. Die Hamas gewann eine Mehrheit, was die Fatah zur Spaltung der PNA veranlasste. Nach einem kurzen Bürgerkrieg festigte die Fatah ihre Position im Westjordanland, während die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm.

Israelische Expansion

Israel unterdrückt die Palästinenser:innen in allen drei Sektoren seiner Apartheidbesatzung: im Westjordanland, im Gazastreifen und in Israel selbst.

Seit 2007 hat sich Israel im Westjordanland und auf den Golanhöhen weiter ausgebreitet. 450.000 israelische Siedler:innen sind in das Westjordanland (außer Ostjerusalem), 220.000 in Ostjerusalem und 25.000 in die Golanhöhen gezogen. Die Siedler:innen sind eine bewaffnete paramilitärische Kraft. Unterstützt von der israelischen Armee mit Begünstigung durch die Polizei der Palästinensischen Autonomiebehörde terrorisieren sie ihre palästinensischen Nachbar:innen und rauben ihnen ihr Land.

Im Gazastreifen gibt es keine Siedler:innen, aber Israel kontrolliert den Luftraum, die Küste und sechs der sieben Landübergänge des Gebiets. Es kontrolliert die Wasserversorgung, die Elektrizität und die Telekommunikation in Gaza. Das israelische Militär hält innerhalb des Gazastreifens eine No-go-Zone aufrecht und betritt das Gebiet nach Belieben. Israel führte 2008 – 2009 und 2014 große Kriege gegen den Gazastreifen und griff gewaltlose Demonstrant:innen während des Großen Marsches der Rückkehr 2018 – 2019 an.

Israel behauptet, eine Demokratie zu sein, aber es verweigert nicht nur den 5,5 Millionen Palästinenser:innen, die im Westjordanland und im Gazastreifen leben, und einer ähnlichen Anzahl, die als Flüchtlinge außerhalb Palästinas leben, demokratische Rechte, sondern auch den 2,1 Millionen Palästinenser:innen, die in Israel leben. Juden und Jüdinnen, die irgendwo auf der Welt leben, können nach Israel ziehen und die volle Staatsbürger:innenschaft erlangen. Palästinenser:innen, deren Familien schon lange vor der Existenz Israels in Palästina gelebt haben, können niemals die volle Staatsbürger:innenschaft erlangen. Sie werden systematisch diskriminiert, wirtschaftlich und politisch ausgegrenzt und als Feind:innen behandelt.

7. Oktober

Seit den Camp-David-Vereinbarungen von 1978 haben die USA versucht, die Regierungen der arabischen Staaten dazu zu bewegen, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren, trotz der Behandlung der Palästinenser:innen durch Israel und des Hasses, den dies in der arabischen Bevölkerung hervorruft. Im Jahr 2020 vermittelten die USA Abkommen, die die Beziehungen Israels zu Bahrain, Marokko, Sudan und den Vereinigten Arabischen Emiraten normalisierten. Saudi-Arabien nahm Gespräche auf, um das Gleiche zu tun.

Der Anschlag vom 7. Oktober ließ die israelischen und imperialistischen Pläne platzen. Nach einem Jahr sorgfältiger Planung, die von den israelischen Sicherheitskräften unterschätzt wurde, überrannten palästinensische Kämpfer:innen unter Führung der Hamas die israelische Grenzverteidigung und griffen Dutzende von militärischen sowie einige zivile Ziele an. Sie nahmen Hunderte von Geiseln, bevor sie über die Grenze zurückgedrängt wurden.

Die Misshandlung, Folter und Tötung von unbewaffneten Zivilist:innen, insbesondere jenen, die nicht im wehrfähigen Alter sind, muss ohne Umschweife verurteilt werden, auch wenn wir anerkennen, dass dies zum Teil Ausdruck der Wut der Palästinenser:innen über die israelischen Massaker und die Enteignung ihres Volkes war. Es spielte der zionistischen Propagandamaschinerie in die Hände, die Palästinenser:innen zu entmenschlichen und ihre eigenen Kriegsverbrechen zu „rechtfertigen“, die ein größeres Ausmaß annehmen als die der Hamas oder der anderen Widerstandskräfte. Der größte Teil der Operation war jedoch militärisch legitim.

Der Angriff stoppte den von den USA geförderten Prozess der „Normalisierung“ der Beziehungen Israels zu arabischen und muslimischen Staaten, enthüllte den zugrundeliegenden Siedlerkolonialkrieg Israels gegen das palästinensische Volk und brachte Palästina wieder auf die Tagesordnung der Weltöffentlichkeit.

In den darauffolgenden Wochen hat Israel einen völkermörderischen Krieg gegen den Gazastreifen begonnen. Das israelische Militär hat Häuser, Krankenhäuser, Schulen und Gemeindezentren bombardiert und dabei ein Vielfaches der Zahl der Opfer des Angriffs vom 7. Oktober getötet. Die Hälfte der Opfer waren Kinder, ein weitaus größerer Anteil als bei dem Angriff am 7. Oktober. Das israelische Militär stimmte einem kurzen Waffenstillstand zu, um Gefangene auszutauschen, und hat danach seinen völkermörderischen Angriff wieder aufgenommen, der die 2,3 Millionen Einwohner:innen in einen immer kleiner werdenden Winkel des Gazastreifens drängt und eine neue Nakba androht.

Solidarität

Die Kühnheit des palästinensischen Widerstands und die Grausamkeit des israelischen Gegenangriffs haben die weltweite Palästina-Solidaritätsbewegung wieder in Gang gebracht. Überall in der arabischen Welt, aber auch in Europa, den USA und anderswo kam es zu großen Demonstrationen. Die Solidaritätsbewegung war durch die langsame Strangulierung Palästinas und die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und vier weiteren arabischen Staaten eingeschläfert worden. Der 7. Oktober hat die Bewegung wieder zum Leben erweckt.

Revolutionäre Marxist:innen sollten sich an Solidaritätsaktionen aller Art beteiligen. Ein Waffenstillstand in Gaza und der Rückzug der israelischen Verteidigungskräfte (IDF), um den Völkermord zu stoppen, ist die dringendste Priorität, aber die Solidaritätsbewegung sollte auch humanitäre Hilfe für Gaza, die Eindämmung der israelischen Siedler:innen im Westjordanland, den Schutz der Rechte der israelischen Araber:innen und der antizionistischen Juden und Jüdinnen in Israel, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge und den Abbruch der militärischen Beziehungen zu Israel fordern.

Zu den laufenden Aktionen gehören bereits Demonstrationen, ziviler Ungehorsam, öffentliche Veranstaltungen, Medienpräsenz und Kampagnen für Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel. Gewerkschaften und andere Organisationen nehmen Entschließungen an, in denen sie einen Waffenstillstand und die Einstellung der Militärhilfe fordern. An einigen Orten folgen die Beschäftigten dem Aufruf der Palestinian General Federation of Trade Unions (PGFTU), die Produktion und Lieferung von Waffen an Israel zu unterbrechen.

Perspektive

Revolutionäre Marxist:innen sollten sich zwar an Solidaritätsaktionen beteiligen, wo immer wir können, aber unsere einzigartige Aufgabe besteht darin, das Verständnis der Arbeiter:innenklasse für die Krise und die Lösung zu fördern.

Dies beginnt damit, die Wahrheit auszusprechen. Ein Waffenstillstand in Gaza ist notwendig, aber nicht ausreichend, da die Zionist:innen ihre Kampagne zur Vertreibung der Nicht-Jüd:innen aus Palästina fortsetzen werden. Eine Verhandlungslösung ist unmöglich, da Israel nicht genug Land für einen lebensfähigen palästinensischen Staat abtreten wird, und es wird die zionistische Vorherrschaft nicht für eine säkulare Demokratie in einem binationalen Staat aufgeben. Der US-amerikanische und der europäische Imperialismus werden Israel weder zu einer Zwei-Staaten- noch zu einer Ein-Staaten-Lösung zwingen, da sie es brauchen, um ihre Vorherrschaft in der Region zu sichern.

Der Kapitalismus bietet keine Lösung für Palästina. Die Alternativen sind entweder die Abschlachtung und Enteignung der Palästinenser:innen oder das Eingreifen der Arbeiter:innenklasse in die Geschichte.

Die Arbeiter:innen in Israel könnten die israelische Gesellschaft zum Stillstand bringen, die Armee spalten und die Zionist:innen daran hindern, ihre Atomwaffen einzusetzen. Aber im Moment ist die große Mehrheit der israelischen Arbeiter:innenklasse dem Zionismus ergeben und hält Ausbeutung mit zionistischer Vorherrschaft für besser als Ausbeutung ohne zionistische Vorherrschaft, eine alte Geschichte in Siedlerkolonialstaaten. Nur die Aussicht auf ein demokratisches, säkulares, sozialistisches Palästina könnte ihnen einen Grund geben, mit ihren herrschenden Klasse zu brechen.

Die Lohnabhängigen in den USA und Europa könnten Israel die wirtschaftliche und militärische Unterstützung entziehen, die es braucht, um seine völkermörderische Politik fortzusetzen. Die Sympathie für die Palästinenser:innen wächst, da sie nicht nur leiden, sondern auch Widerstand leisten. Sie könnte das Ausmaß der Opposition gegen den Vietnamkrieg Ende der 1960er Jahre erreichen, die eine Fortsetzung des Krieges unmöglich machte. Revolutionäre Marxist:innen und andere Aktivist:innen der Palästina-Solidarität – einschließlich Zehntausender antizionistischer Juden/Jüdinnen und Zehntausender Gewerkschafter:innen – sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, damit dies geschieht.

Die Arbeiter:innen in den arabischen Ländern könnten ihre kollaborierenden Regierungen stürzen, die US-amerikanischen und europäischen Imperialist:innen zwingen, Israel aufzugeben, und der israelischen Arbeiter:innenklasse die Aussicht auf eine säkulare, demokratische Zukunft frei von kapitalistischer Herrschaft und endlosem Krieg bieten. Der Arabische Frühling hat das Potenzial gezeigt.

Wir können nicht wissen, wie die Ungerechtigkeit der zionistischen Herrschaft über Palästina enden wird, oder ob sie überhaupt endet, bevor der Kapitalismus die Welt in eine ökologische Katastrophe oder einen Atomkrieg stürzt. Was wir tun können, ist, ein Aktionsprogramm vorzuschlagen und dafür zu kämpfen, das von unmittelbaren Forderungen ausgeht und in der einzigen wirklichen Lösung gipfelt: der Arbeiter:innenrevolution in der gesamten Region. Hier ist unser Vorschlag:

  • Beendet den völkermörderischen Angriff auf Gaza. Waffenstillstand jetzt. Abzug der israelischen Truppen. Beendet die Blockade. Öffnet die Grenzübergänge.

  • Wiederaufbau der zerstörten Häuser, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Infrastruktur von Gaza auf Kosten Israels und seiner imperialistischen Unterstützer:innen.

  • Beendigung der zionistischen Besetzung des Westjordanlandes. Abzug des israelischen Militärs und der Siedler:innen.

  • Freilassung aller palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen. Volle Gleichberechtigung für Palästinenser:innen im israelischen Staat.

  • Beendigung der US-amerikanischen und anderen imperialistischen Hilfe und Waffenlieferungen an Israel. Unterstützung von Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel.

  • Solidarität mit dem palästinensischen und arabischen Volk. Kein Frieden mit Zionismus und Imperialismus.

  • Für die revolutionäre Überwindung des zionistischen Staates. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina.

  • Für das Recht auf Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge. Gleiche Rechte für die arabische Mehrheit und die jüdische Minderheit in Palästina.

  • Nieder mit den arabischen Kapitalist:innen, Grundbesitzer:innen, Monarchien und Staaten, den Agent:innen des Imperialismus. Für die revolutionäre Einheit des arabischen Volkes.

  • Für die Arbeiter:innenrevolution im Nahen Osten und in Nordafrika. Für eine sozialistische Föderation in der Region.



Argentiniens Präsidentschaftswahlen: Für das „kleinere Übel“ zu stimmen, bringt nichts

Tim Nailsea, Neue Internationale 278, November 2023

Die erste Runde der argentinischen Parlamentswahlen endete mit einem klaren Vorsprung für den peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa, der 37 Prozent der Stimmen erhielt. Der demagogische rechtsextreme neoliberale Kandidat Javier Milei kam mit 30 Prozent auf den zweiten Platz. Die konservative Patricia Bullrich lag mit 24 Prozent hinter ihnen. Sie hat nun Milei für die Stichwahl unterstützt, aber die Koalition, die sie unterstützte, hat sich gespalten, da zwei ihrer drei Parteien, die Bürgerliche Koalition und die Radikale Partei, sich weigern, ihr zu folgen. Nur wenn es Milei gelingt, die meisten Bullrich-Wähler für sich zu gewinnen, wird er genug haben, um Massa zu besiegen. Massa hofft jedoch, Stimmen von ihren konservativen Anhängern zu gewinnen, die über ihr Bündnis mit dem Demagogen Milei entsetzt sind.

Die einzige Stimme der Arbeiter:innenklasse, Myriam Bregman, Präsidentschaftskandidatin der FIT-U (Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) eines Wahlblocks aus vier Parteien, die verschiedenen trotzkistischen Traditionen angehören, erzielte knapp drei Prozent der Stimmen – etwa 850.000 Stimmen. Cristian Castillo von der PTS (Partido de los Trabajadores Socialistas, Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen), wurde für die Provinz Buenos Aires gewählt und fügte den vier bei den Zwischenwahlen gewählten FIT-U-Abgeordneten einen weiteren hinzu. Aber die unmittelbare Zukunft der ArbeiterInnen des Landes wird jetzt nicht durch einen Wahlblock entschieden, sondern durch eine vereinte Kampffront in den Betrieben und auf den Straßen.

Zweite Runde – keine Wahl für die Arbeiter:innen

Keiner der drei bürgerlichen Kandidaten hat die für einen Gesamtsieg erforderlichen 45 Prozent erreicht, so dass es nun am 19. November zu einer Stichwahl zwischen Massa und Milei kommen wird. Für die argentinische Arbeiterklasse bedeutet dies, dass sie überhaupt keine Wahl hat. Zwar fürchten viele eine rechtsradikale Präsidentschaft Mileis, doch haben sie aus erster Hand erfahren, wie es ist, unter etablierten peronistischen Regierungen zu leben, die zu einer Aushöhlung ihres Lebensstandards und Angriffen auf ihre Organisationen geführt haben. 

Die Armut hat sich seit 2018 vervierfacht, die Armutsquote liegt derzeit bei 40 Prozent. Die Inflation liegt bei über 100 Prozent und die Lebenshaltungskosten steigen rasant an. 

Der „Peronismus“, benannt nach Juan Peron, der von 1946-55 und erneut von 1973-4 Präsident war, hat eine lange Geschichte des Verrats an der Arbeiter:innenklasse. Peron, der für sich in Anspruch nahm, eine „dritte Position“ zwischen links und rechts einzunehmen, pflegte enge Beziehungen zur mächtigen argentinischen Gewerkschaftsbürokratie, während er und seine Justicialist Party (PJ) in den Boomjahren nach dem Krieg einige politische Maßnahmen zugunsten der Armen des Landes ergriffen und das Frauenwahlrecht einführten, später aber, insbesondere nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 1973, nach rechts rückten. 

Seit Perons Tod wird die peronistische Bewegung weitgehend von ihrem rechten Flügel dominiert, auch wenn sie weiterhin die sklavische Unterstützung des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes (CGT) genießt. Die peronistischen Regierungen, beginnend mit Carlos Menem in den 1990er Jahren und weiterführend mit den Kirchnern Nestor und Cristina sowie dem amtierenden Albertio Fenandez, waren dadurch gekennzeichnet, dass sie riesige Schulden bei ausländischen Banken auftürmten und dann vom IWF diktierte brutale Sparpakete durchsetzten. Trotz des rhetorischen argentinischen Nationalismus des Peronismus hat er sich immer den Forderungen des globalen Kapitalismus und des US-Imperialismus gebeugt. 

Massa steht ganz in dieser Tradition. Er ist eine Figur des Establishments und hat im letzten Jahr als Wirtschaftsminister versucht, einen Ausgleich zwischen den eher interventionistischen und den marktwirtschaftlich orientierten Fraktionen in der peronistischen Koalition zu schaffen. Unter ihm werden die argentinische Lebenshaltungskostenkrise und der Kotau der Regierung vor dem IWF weitergehen. Sein überraschend gutes Ergebnis ist auf die verständlichen Ängste vor der extremen Rechten zurückzuführen.

Faschismus oder extremer Neoliberalismus?

Die Freiheitsbewegung von Javier Milei ähnelt dem rechten MAGA-Flügel der Republikanischen Partei in den USA, mit einer ultra-neoliberalen „libertären“ Wirtschaftspolitik und einer heftig reaktionären Sozialpolitik. Das Ganze ist verpackt in die „Anti-Establishment“-Demagogie, die von Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien vorangetrieben wird. 

Milei ist ein rechtsgerichteter Wirtschaftswissenschaftler und Journalist. Zu seiner Politik gehören Angriffe auf die Rechte der Frauen, einschließlich des Zugangs zu Abtreibung und Sexualerziehung. Er plant, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, und während des Wahlkampfs sprach sich Milei für die Privatisierung der argentinischen Eisenbahnen aus. Seine schockierendste Politik ist das Versprechen, den argentinischen Peso abzuschaffen und die Wirtschaft zu dollarisieren. Tatsächlich gibt es in der Zentralbank nicht genügend Dollarreserven, um dies zu verwirklichen.

Im Gegensatz zu einigen der hysterischen Reaktionen auf seinen Aufstieg ist Mileis Bewegung nicht faschistisch. Der Faschismus kommt auf der Grundlage außerparlamentarischer paramilitärischer Gewalt an die Macht, die auf die Zerschlagung der Arbeiterbewegung abzielt, während seine Bewegung in erster Linie auf Wählerstimmen setzt. Zwar haben sich Mitglieder seiner Bewegung, darunter auch seine Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel, positiv über die argentinische Militärdiktatur von 1976-83 geäußert, aber wie bei Trump und Bolsonaro gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Militärhierarchie Milei bei der Errichtung einer Diktatur unterstützt, zumindest nicht unter den unmittelbaren Bedingungen. Es ist vielmehr der brutale neoliberale Abbau von Sozialleistungen, Frauenrechten, staatlicher Beschäftigung und den Überresten von Arbeits- und Umweltvorschriften, den die Arbeiter:innen zu fürchten haben.

Milei und sein Wahlbündnis enthalten zwar Elemente, die sich bei einer Verschärfung der Wirtschaftskrise in eine faschistische Richtung entwickeln könnten, sind aber eigentlich ein Beispiel für das, was in der kapitalistischen demokratischen Politik üblich geworden ist – ultrakonservative, extreme Neoliberale, die darauf abzielen, den Kapitalismus von den letzten Resten der Beschränkung zu befreien und ihn auf die Arbeiterklasse und die Armen loszulassen. 

Das geringere Übel?

Aufforderungen an die Linke und die Arbeiter:innenbewegung, sich hinter Massa und das Establishment zu stellen, müssen entschieden zurückgewiesen werden. Das System der Stichwahlen ist darauf ausgelegt, die Wähler zu disziplinieren, damit sie die etablierten Parteien unterstützen. Sie dürfen sich im ersten Wahlgang mit Stimmen für alternative Kandidaten vergnügen, aber danach wird von ihnen erwartet, dass sie „ernst machen“ und für eine der beiden verbleibenden Optionen stimmen. 

Dies gilt insbesondere angesichts eines möglichen Sieges der Rechten, wobei Politiker und Medienvertreter die Menschen auffordern, für das „kleinere Übel“ zu stimmen. Da es nur zwei Möglichkeiten gibt, warum nicht den Kandidaten wählen, der trotz seiner Schwächen zumindest kein fanatischer Reaktionär ist, der alles, was von den Rechten der Lohnabhängigen, der Frauen und der Homosexuellen übrig geblieben ist, abschaffen will?

Es ist die neoliberale Politik der peronistischen Koalition, die Argentinien in diese Sackgasse geführt hat. Wenn sie weiter regiert, wird sich die Krise nur vertiefen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rechte dies ausnutzen und an die Macht kommen kann.

Der einzige Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein kämpferischer Kampf, bei dem die Gewerkschaften in den Betrieben, die Arbeitslosenorganisationen und die Frauenbewegung zu einer gemeinsamen Front des Widerstands gegen denjenigen, der Präsident wird, gewonnen werden. Nur eine unabhängige, vom Peronismus und allen kapitalistischen Parteien losgelöste Arbeiter:innenbewegung kann sich sowohl den Angriffen des Neoliberalismus als auch einer aufständischen extremen Rechten entgegenstellen.

Eine solche Bewegung ist kein Hirngespinst. In Jujay, der ärmsten Provinz Argentiniens mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von 80 %, haben Kampagnen gegen die Auswüchse der Lithiumkonzerne und reaktionäre Verfassungsänderungen die argentinische Politik in diesem Jahr erschüttert, wobei Lehrer:innen und indigene Arbeiter:innen den Kampf anführten. Eine solche Bewegung kann als Vorbild dienen und auf nationaler Ebene verallgemeinert werden. 

Eines der Hauptziele der Linken muss es sein, die argentinische Arbeiter:innenbewegung von ihrer historischen Unterstützung für den Peronismus zu lösen, und das kann nur geschehen, indem der Ruf nach einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei laut wird. Der bescheidene Erfolg des linksextremen Wahlbündnisses FIT-U zeigt, dass es Aktivist:innen gibt, die eine solche Partei aufbauen könnten. Doch dazu bedarf es einer Einheit, die über die von zersplitterten Wahlbündnissen hinausgeht. Es erfordert ein revolutionäres Aktionsprogramm, das bei den wichtigsten Forderungen und Taktiken ansetzt und notwendig ist, um den neuen Präsidenten anzugreifen und zu besiegen.




Ein Programm von Übergangsforderungen

Das Trotzkistische Manifest, Kapitel 3, Sommer 1989

Die gegenwärtige Periode ist durch defensive ökonomische Massenkämpfe in den imperialistischen Ländern, durch aktuelle oder latente politisch- revolutionäre Krisen in den degenerierten Arbeiterstaaten und durch vorrevolutionäre und revolutionäre Krisen in den halbkolonialen Ländern gekennzeichnet. Diese fortdauernde Ungleichheit macht es unmöglich, wie Trotzki 1938 von einer weltweit vorrevolutionären Situation zu sprechen. Aber dies ändert nichts an der Dringlichkeit, die Arbeiterbewegung mit einem Übergangsprogramm zu bewaffnen.

Nur ein solches Programm kann absichern, daß die Fortschritte, die die Massen in diesem oder jenem Teilkampf erreicht haben, aufeinander aufgebaut und konsolidiert werden und daß ihnen diese nicht bei der ersten Gelegenheit von den Kräften der Reaktion wieder gestohlen werden. Nur ein solches Programm kann den fundamentalen Widerspruch, an dem die internationale Arbeiterbewegung krankt, lösen: einerseits sind die Massen bereit, ihre Errungenschaften zu verteidigen und auch die revolutionäre Offensive zu wählen; andererseits aber sind die etablierten Führungen immer noch in der Lage, eben diese Kämpfe zu demobilisieren und zu verraten.

Ein Übergangsprogramm bemüht sich, diese subjektive Schwäche anzusprechen, indem es für die Massen eine Brücke zwischen ihren unmittelbaren Verteidigungskämpfen und dem Kampf für die sozialistische Revolution baut. Diese Brücke hat die Form einer Reihe miteinander verbundener Forderungen, die in ihrer Gesamtheit eine offene und direkte Herausforderung an die kapitalistische Herrschaft darstellen. Aber Revolutionäre sind keine Sektierer. Sie kämpfen für Mindestforderungen und sind in jedem Teilkampf die gründlichsten und gewissenhaftesten Taktiker und Organisatoren. Wir stehen bei allen Kämpfen der Arbeiterklasse an vorderster Front, egal wie partiell sie sind. Aus diesem Grund wäre es falsch, das Übergangsprogramm den existierenden Massenkämpfen als Ultimatum entgegenzustellen.

Aber es ist eine zentristische Verzerrung des Übergangsprogramms, einzelne Forderungen vollständig aus dem in sich verketteten System herauszutrennen und sie als dürftig maskierte und isolierte Gewerkschaftsforderungen zu präsentieren. Ebenso sind alle Versuche, Übergangsforderungen als strukturelle Reformen des Kapitalismus darzustellen, äußerst opportunistisch. Der eigentliche Zweck von Übergangsforderungen ist, die Massen gegen den Kapitalismus zu mobilisieren. Die Aufgabe der revolutionären Avantgarde ist es deshalb, in den unmittelbaren Massenkämpfen einzelne Forderungen im Kontext eines Kampfes für das Programm als ganzes zu verwenden.

In der Praxis wird dies bedeuten, innerhalb eines Einzelkampfes für zugespitzte, relevante Übergangsforderungen zu agitieren, während Propaganda für das Programm als ganzes gemacht wird, indem erklärt wird, was die Realisierung dieser oder jener Forderung für die nächste Phase des Kampfes bedeuten wird. Wie muß dieser Fortschritt gefestigt werden, wie können wir einen Gegenangriff der Herrschenden verhindern? Das Verhältnis zwischen solcher Agitation und Propaganda, der Punkt, von dem an die Massenagitation die Propaganda ersetzt, wird vom Umfang, Tempo und der Intensität des Kampfes bestimmt.

Der Übergangscharakter des Systems von Forderungen wird durch verschiedene Merkmale ausgedrückt. An erster Stelle sprechen solche Forderungen die fundamentalen ökonomischen und politischen Bedürfnisse der Massen, wie sie durch die objektive Situation bestimmt werden, an. Die Forderungen hängen in ihrer Richtigkeit nicht davon ab, ob sie für das reformistische Massenbewußtsein annehmbar sind; auch werden sie nicht entwertet, wenn die kapitalistischen oder stalinistischen Bürokraten dazu gezwungen sind, solchen Forderungen zu entsprechen. Zweitens versuchen Übergangsforderungen, die Massen unabhängig von den offenen politischen Repräsentanten der Bourgeoisie und deren reformistischen Agenten innerhalb der Arbeiterbürokratie zu organisieren. Dies wollen wir durch Gewerkschaften, Fabrikkomitees, Arbeiterräte und die revolutionäre Partei erreichen.

Rund um diese Forderungen mobilisiert, stellt die Arbeiterklasse in solchen Organisationen die Herrschaft der Kapitalisten in Frage. Sie beeinträchtigt die bürgerliche Herrschaft in Fabrik, Büro und Schule, durch Streikpostenketten und Straßenaktionen, ja sogar auf Regierungsebene. Zu diesem Zweck verkörpert jede Übergangsforderung einen Kampf für irgendein Element direkter Arbeiterkontrolle über die Kapitalisten. Indem im Kampf für die Erhaltung von Arbeitsplätzen elementare Formen von Arbeiterkontrolle über die Produktion errichtet werden, wird die Auseinandersetzung auf eine höhere Ebene gebracht. Die Frage ist aufgeworfen: Wer hat die Macht in der Fabrik, die Arbeiter oder die Bosse? Ein erfolgreicher Kampf auf Fabrikebene stellt die Arbeiter in der Folge vor neue Herausforderungen, sowohl in Beziehung zu anderen Industriezweigen als auch zur Gesellschaft als ganzer.

Zusätzlich üben sich die Massen durch das System der Arbeiterkontrolle im Führen der Fabrik und bereiten sich so auf die kommenden Aufgaben unter der Diktatur des Proletariats vor. Daher sind Übergangsforderungen einerseits das Mittel zum Übergang von den heutigen, unmittelbaren Kämpfen zu einem revolutionären Angriff auf das gesamte kapitalistische Regime und andererseits eine Schule, ein Mittel, die Arbeiter für die Aufgaben des Übergangs zum Sozialismus selbst zu erziehen.

Gegen die kapitalistische Offensive

Die vereinte Offensive der Kapitalisten zur Lösung ihrer Krisen und zur Herbeiführung eines Konjunkturaufschwunges hat einen schweren Tribut auf die Lebensbedingungen der Weltarbeiterklasse und der unterdrückten Bauernschaft gefordert. Steigende Preise, die in einigen Halbkolonien sogar das Niveau der Hyperinflation erreichten, und Massenarbeitslosigkeit sind der Preis zeitweiser Stabilisierung. Um ihre Kampfkraft zu erhalten, muß die Arbeiterklasse ihr Recht auf Arbeit verteidigen und einen ausreichenden Lohn verdienen. Sie ist dazu gezwungen, das von der Bourgeoisie zugestandene Wohlfahrtssystem – den sogenannten Soziallohn – zu verteidigen und auszudehnen. Es ist notwendig, Forderungen voranzutreiben, die den Überlebenskampf zu beenden versuchen.

In jedem Land kämpfen wir für einen gesetzlich garantierten Mindestlohn in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung und nicht von den Herrschenden bestimmt wird. Das soll natürlich keinesfalls heißen, daß sich Kollektivverträge auf ein solches Minimum beschränken. Die Arbeiterklasse muß sich ständig bemühen, über den Mindestlohn, der einfach nur ein Sicherheitsnetz gegen niedere Löhne und die Armut des unterdrücktesten Teils der Arbeiter ist, hinausgehen.

Kampf der Inflation

Unter Bedingungen, unter denen die Herrschenden steigende Preise dazu benutzen, die Arbeiter zu verarmen, kämpfen wir für den Schutz kollektiver Abkommen gegen jede Preissteigerung durch die Unternehmer. Zu diesem Zweck kämpfen wir für eine gleitende Lohnskala, die Lohnsteigerungen zum Ausgleich für steigende Lebenshaltungskosten garantiert. Natürlich werden die Herrschenden mit gefälschten Indizes zu beweisen versuchen, daß die Lebenshaltungskosten nicht steigen, und dadurch die Massen zu hintergehen. Um dieser Gaunerei zu begegnen, kämpfen wir für einen Lebensmittelindex der Arbeiterklasse, erstellt und bestimmt durch Preiskontrollkomitees, bestehend aus gewählten Delegierten von den Arbeitsplätzen und den Arbeiterbezirken: den Wohnsilos, den Arbeitervierteln, den Barrios und Slums, den Organisationen der Frauen der Arbeiterklasse und den proletarischen Konsumenten. Unter der Bedingung der Hyperinflation werden darüber hinausgehende Maßnahmen erforderlich, um die Ausgebeuteten und Unterdrückten vor dem Hunger, der Zerstörung ihrer Sicherheit und ihrer dürftigen Ersparnisse zu schützen. Sie müssen um die Kontrolle über die lebensnotwendigen Güter kämpfen. Dies bedeutet Arbeiterkontrolle über die Lebensmittelindustrie, die großen landwirtschaftlichen Betriebe, die verarbeitende Industrie, das Transportwesen und die Supermarktketten. Weiters bedeutet dies, direkte Handelsbeziehungen zwischen den Arbeitern und den Bauern durch den Austausch von Gütern einzuführen. Dies führt zum Aufbau von Arbeiter- und Bauernkomitees, um die Lebensmittelpreise und deren Verteilung zu kontrollieren.

Aber um die Hyperinflation zu stoppen, müssen die Arbeiter die Kontrolle über die Banken erlangen und ihre vollständige Nationalisierung erzwingen, einschließlich der Konfiszierung der Einlagen der Bourgeoisie und der ausländischen Multis. Wir fordern Aktionen zur Verhinderung der Kapitalflucht ins Ausland, zur sofortigen Nichtanerkennung der Auslandsschuld und zur Einstellung aller Zinsenzahlungen. Die Ersparnisse der Arbeiter, Bauern und Kleinbürger sollten zu ihrem vorhyperinflationären Wert gesichert werden.

Alle diese Maßnahmen verweisen auf die Notwendigkeit eines Staatsmonopols über den Außenhandel und auf die Einführung demokratischer Planung durch die Produzenten. Um ein Arbeiter- und Bauernprogramm gegen die Inflation durchzusetzen, ist eine Regierung eben dieser Klassen ein unerläßliches Instrument. Ohne dieses wird die Bourgeoisie die Hyperinflation dazu benutzen, die Arbeiter zu demoralisieren und die Bauernschaft und das Kleinbürgertum gegen sie aufzuhetzen (Bolivien 1985 – 1986). Sie wird versuchen, die inflationäre Krise zu lösen, indem sie die Arbeiter niederknüppelt und ihnen brutale deflationäre Maßnahmen aufzwingt: Kürzung des Staatsbudgets für Gesundheits- und Erziehungswesen, Lohnkürzungen und Schließungen von Fabriken und Bergwerken. Inflation und Deflation sind beides Waffen der Bourgeoisie, um das revolutionäre Moment der Arbeiterklasse zu brechen. Gegen beides vereinigen wir die Massen um ein Programm, das darauf besteht: „Laßt die Reichen zahlen!“

Die Geissel der Arbeitslosigkeit

Massenarbeitslosigkeit ist heute ein beständiges Merkmal eines jeden kapitalistischen Landes. In den Halbkolonien führt der Zusammenbruch der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt zur Zerstörung ganzer Industrien, während die Landwirtschaft Millionen von landlosen Bauern in die Städte getrieben hat, wo sie keine Arbeit finden und in die Reihen des Lumpenproletariats hinabgedrückt werden. In den imperialistischen Kernländern ließ die kapitalistische Umstrukturierung Millionen Menschen am Schrotthaufen der Arbeitslosigkeit landen. Gegen diese Geißel bringt unser Programm die Forderung für das Recht auf Arbeit für alle, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Alter, Glaubensbekenntnis oder sexueller Orientierung, vor. Diese Forderung ist nur verwirklichbar auf der Basis von militanten, direkten Aktionen – Streiks gegen Entlassungen, Besetzungen gegen Betriebsschließungen, militante Proteste durch die Organisationen der Arbeitslosen. Solche Kämpfe müssen sich die Erreichung einer gleitenden Arbeitszeitskala zum Ziel setzen. Unter der Herrschaft der Arbeiterkontrolle soll die Arbeit unter allen Arbeitenden eines Unternehmens aufgeteilt und die Arbeitswoche verkürzt werden, um diese Arbeitsaufteilung zu erleichtern. Unter keinen Umständen sollen bei weniger Arbeitsstunden die Löhne gekürzt werden. Dies ist eine bewußte Verallgemeinerung und revolutionäre Ausdehnung von Forderungen, die spontan von den Arbeitern für die „35-Stunden-Woche ohne Lohnverlust“ (Britannien, BRD) oder von „30 für 40“ (USA) aufgestellt wurden.

Für jene, die die Kapitalisten in der Arbeitslosenschlange stehen lassen, kämpfen wir für Arbeit oder vollen Lohn. Wenn die Kapitalisten keine Arbeit zur Verfügung stellen, fordern wir staatliche Arbeitslosenunterstützung in einer Höhe, die von der Arbeiterbewegung festgelegt werden soll. Wenn der Kapitalismus unfähig ist, soziale Betreuungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen, und Frauen daran gehindert werden, ganztägig zu arbeiten, dann fordern wir volle Unterstützungsleistungen. Aber diese Forderung muß mit dem Kampf für soziale Einrichtungen für Kinder, Kranke und Behinderte verbunden werden, sodaß es Frauen möglich ist zu arbeiten.

Volle Unterstützungszahlungen sollten für all jene gefordert werden, die der Kapitalismus aufgrund ihres Alters, ihrer Behinderung oder Krankheit aus der gesellschaftlichen Produktion ausschließt. Für die Älteren verlangen wir das Recht, in einem Alter in Pension zu gehen, das von der Arbeiterbewegung eines jeden Landes festgelegt wird. Inflationsgesicherte Pensionen müssen vom Staat in einer von der Arbeiterklasse festgesetzten Höhe, die den Lebensstandard der Älteren erhält, bezahlt werden. Für jene über dem Pensionsalter, die weiterarbeiten wollen, muß dies zu vollen von den Gewerkschaften ausgehandelten Löhnen möglich sein.

Die Arbeitslosen selber dürfen nicht als Zuschauer im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit stehengelassen werden. Kommunisten und Kommunistinnen streben nach dem gemeinsamen Kampf von Arbeitslosen und Arbeitenden. Wir sind für das Recht der Arbeitslosen, sich in den Gewerkschaften mit vollen Rechten, aber reduzierten Beiträgen zu organisieren. Wir sind auch für den Aufbau von demokratischen Massenarbeitslosenbewegungen, die durch die Arbeiterbewegung beträchtliche finanzielle Unterstützung erhalten, ohne daß Bedingungen an diese Zahlungen geknüpft werden. Sie sollen volle Vertretungsrechte innerhalb der Arbeiterbewegung haben. Solche Organisationen werden eine entscheidende Rolle spielen, um zu verhindern, daß die Arbeitslosen der Ideologie des Faschismus (oder anderen reaktionären Ideologien und Bewegungen), der Kriminalisierung und der Verlumpung zum Opfer fallen. Sie sind ein wichtiges Druckmittel gegenüber den beschäftigten Arbeitern, um einen aktiven Kampf zur Verteidigung ihrer arbeitslosen Kollegen und Kolleginnen aufzunehmen.

Um alle Arbeitslosen in den Produktionsprozeß zu integrieren und es ihnen zu ermöglichen, sozial nützliche Arbeit zu verrichten, kämpfen wir unermüdlich für ein Programm von öffentlichen Arbeiten unter Arbeiterkontrolle, bezahlt durch den kapitalistischen Staat. Die Notwendigkeit für ein solches Programm ist unübersehbar. In den imperialistischen Kernländern sind alle Arten von öffentlichen Einrichtungen verbesserungs- oder renovierungsbedürftig. In den Halbkolonien leben die Massen im Elend und müssen die grundsätzlichsten Annehmlichkeiten des Lebens (Wohnen, Wasser, sanitäre Anlagen und Heizung, Erziehung und Gesundheitsversorgung) entbehren. Das Programm für öffentliche Arbeiten versucht sowohl diese brennenden Bedürfnisse, wie den Bau von Wohnungen, Spitälern, Schulen und sonstigen Einrichtungen, zu befriedigen, als auch Arbeitsplätze für Millionen Menschen bereitzustellen. Weiters schult es die Arbeiterklasse, die Wirtschaft in einer Art und Weise zu führen, die ihre Bedürfnisse befriedigt. Es ist eine Schule für die Planwirtschaft selbst.

Verbunden mit einem solchen Programm für öffentliche Arbeit ist der Kampf für soziale Einrichtungen oder für deren Verteidigung und Ausbau. Diese dienen in gewisser Weise dazu, die Arbeiterklasse vor den schlimmsten Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung zu schützen. Der Kapitalismus ist nicht nur bereit, unseren Lebensstandard seinem Lechzen nach Profit zu opfern, er ist dies auch in Bezug auf unser Recht auf Bildung, auf das Recht, die uns verbleibende Freizeit zu genießen und in Bezug auf das Recht auf Krankenversorgung. Was für ein besseres Zeugnis für den Bankrott des Kapitalismus kann erwartet werden als das Faktum, daß die USA als reichstes und mächtigstes Land der Welt eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten aller industrialisierten Länder aufweisen. Um solche Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, kämpfen wir für kostenlose Bildung, freie öffentliche Einrichtungen und Freizeitmöglichkeiten und ein kostenloses Gesundheitswesen für alle. Diese Rechte müssen durch staatliche Subventionen in einer von den Massen selbst bestimmten Höhe garantiert werden. Diese Einrichtungen dürfen nicht von kapitalistischen Managern geleitet werden, sondern durch eine Arbeiterkontrolle über die öffentlichen Dienste.

Die habgierige Suche nach Profit degradiert und zerstört die Individuen weit über die Fabrik und das Büro hinaus. Im Kapitalismus treibt der Gebrauch von Drogen Hunderttausende über die Grenzen von Genuß und Stimulation hinaus in die Unproduktivität von Abhängigkeit und Knechtschaft: Alkoholismus und Drogenabhängigkeit zerstören das Leben von vielen potentiellen Klassenkämpfern gegen das System, das solche Abhängigkeiten verursacht. Wir fordern die Entkriminalisierung des Drogengebrauchs und die Beschlagnahme der enormen Profite, die die Rauschgiftmagnaten aus dem illegalen Import und Export von Drogen ziehen. Wir sind für ein staatliches Monopol, das von einem Arbeiter- und Bauern-Preiskomitee überwacht wird, für den Verkauf von Drogen für den pharmazeutischen und nicht-pharmazeutischen Gebrauch. Wir fordern wissenschaftlich fundierte Erziehung und Information über die Gefahren des Gebrauchs von manchen Drogen für nicht-medizinische Zwecke.

Es wird keinen Mangel an Kapitalisten, bürgerlichen Politikern, wirtschaftlichen „Experten“ und reformistischen Apologeten des Kapitalismus geben, welche „beweisen“ werden, daß unsere Forderungen für Löhne, Arbeitsplätze und Dienstleistungen nicht realisierbar seien und sicher nicht geleistet werden können. Darauf antworten wir, daß wir es uns nicht leisten können, ohne die Erreichung unserer Forderungen zu leben. Wir gehen nicht davon aus, was das kapitalistische System behauptet, sich leisten zu können. Die ganze Geschichte hindurch traf jede unserer Forderungen auf den Aufschrei, daß unsere Herrscher sie nicht verkraften könnten. Dennoch haben wir sie gewonnen, denn was leistbar ist, wird durch den Kampf entschieden; in Summe sind Reformen das Nebenprodukt des revolutionären Kampfes gegen den Kapitalismus. Wenn der bürgerliche Staat die Forderungen der Massen nach Löhnen, Arbeit oder Sozialleistungen mit dem Argument ablehnt, daß das zu einem Budgetdefizit führen würde, dann schlagen wir ein revolutionäres Programm der Besteuerung vor.

Die Arbeiter in den Fabriken und Banken sollen das veranlagte und flüssige Vermögen der Arbeitgeber berechnen. Auf der Grundlage dieses Kapitals und anderen Besitzes soll eine stark progressive Vermögenssteuer von ihnen eingehoben werden. Mit diesen Einnahmen wird es möglich sein, mit der Finanzierung der Bedürfnisse der Massen anzufangen. Andererseits soll die indirekte Besteuerung von Gütern des Massenkonsums und die Einkommensteuer der besitzlosen Massen über Bord geworfen werden. Die progressive Einkommens- und Vermögenssteuer für die Kapitalisten muß durch Arbeiter kontrolliert werden, um die Umgehung und Korruption durch Finanzexperten aufzudecken. Auch muß jeder Versuch, die Sonderbesteuerung der Kapitalisten auf die Preise der Massenkonsumgüter abzuladen, durch die Arbeiterkontrolle verhindert werden. Wenn die Kapitalisten sich weigern, ihre Steuern zu zahlen, diese zu hinterziehen versuchen oder Zahlungsunfähigkeit vorgeben, dann muß ihr Vermögen konfisziert werden.

Die Gewerkschaften

In vielen Teilen der Welt sind die Gewerkschaften dauerhafte Massenorganisationen des Proletariats geworden. Revolutionäre und Revolutionärinnen müssen daher eine zentrale Ausrichtung auf die Gewerkschaften haben, trotz deren reaktionärer Führungen. Eine richtige revolutionäre Intervention in die Gewerkschaften erfordert ein klares Verständnis ihres Charakters, ihrer Grenzen im Kapitalismus sowie eine systematische Strategie für deren Umwandlung in Instrumente des revolutionären Kampfes.

Reines Gewerkschaftertum verkörpert Klassenkampf in den Grenzen des Kapitalismus. Im allgemeinen haben sich die Gewerkschaften als elementare Organisationen zur Verteidigung der Arbeiterklasse gegen die Auswüchse der kapitalistischen Ausbeutung, zur Erlangung der Mittel für den Lebensunterhalt und zur Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter und ihrer Familien herausgebildet. Auf diese Weise anerkennt das reine Gewerkschaftertum das Lohnsystem, das System der Lohnsklaverei. Als eine Form des Bewußtseins verbleibt es auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft. Rein gewerkschaftliches Bewußtsein ist daher eine Form des reformistischen, bürgerlichen Bewußtseins innerhalb der Arbeiterklasse.

Das System der kapitalistischen Ausbeutung erzeugt jedoch den Klassenkampf selbst, wenn auch zumindest anfangs rein ökonomisch und zersplittert. Dies geschieht deswegen, weil die Bourgeoisie durch die Konkurrenz gezwungen ist, die Arbeitskosten zu senken und damit entweder die Intensität zu steigern oder den Arbeitstag zu verlängern. Dieser Klassenkampf schafft die objektiven Bedingungen für die Überwindung der reformistischen Beschränkungen des reinen Gewerkschaftertums. Die Arbeiterklasse wird zur Anwendung von Klassenkampfmethoden getrieben, die drohen, über die Grenzen reformistischer gewerkschaftlicher Lösungen hinauszugehen. Diese objektive Tatsache gibt Gewerkschaftsorganisationen einen widersprüchlichen Charakter. Auf der einen Seite widerspiegeln sie den selbstbeschränkenden Reformismus eines reinen gewerkschaftlichen Bewußtseins. Andererseits verkörpern sie episodenweise das revolutionäre Potential einer Arbeiterklasse, die zur Anwendung von Streiks, Besetzungen und Streikposten gezwungen ist. Sie können daher als „Kriegsschulen“ der Arbeiterklasse dienen.

Dieser widersprüchliche Charakter der Gewerkschaftsorganisationen offenbart sich auf mannigfaltige Weise. Selbst mit der Ausdehnung des Proletariats in die halbkoloniale Welt organisieren die Gewerkschaften weiterhin nur eine Minderheit der internationalen Arbeiterklasse. Die etablierten Bürokratien sind bei der Integration neuer Arbeiterschichten durch konservative Trägheit gekennzeichnet. Sie sind ängstlich besorgt, daß der Zustrom solcher Arbeiter ihre Privilegien und ihr ruhiges Leben gefährden könnte. Tendenziell organisieren die Gewerkschaften die Arbeiteraristokratie, die besser ausgebildeten und privilegierten Teile der Klasse. Sie widerspiegeln den Gruppenegoismus und das enge handwerklerische Bewußtsein dieser Schichten. Sie neigen im Namen der Neutralität zu einer selbstschädigenden Enthaltsamkeit in der Politik, obwohl die Gewerkschaftsführung oft gleichzeitig bei Wahlen die Stärke der Gewerkschaften reformistischen oder liberalen bürgerlichen Parteien ausliefert.

Im wesentlichen werden Gewerkschaften von einer reformistischen Bürokratie dominiert, die sich in den imperialistischen Ländern während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus der Arbeiteraristokratie entwickelte und sich vor allem auf die organisierten Facharbeiter stützte. In vielen Halbkolonien entstand ebenfalls eine Bürokratie, auch hier aus der Arbeiteraristokratie. Doch ist sie kleiner und genießt weniger materielle Privilegien als die der imperialistischen Länder. Sie wurde von bürgerlich- nationalistischen oder reformistischen Kräften gefördert, die sich so eine soziale Basis zu sichern hofften (wie in Mexiko und Argentinien). In anderen Ländern, wo sich entweder noch keine Arbeiteraristokratie entwickelt hat oder diese noch zu schwach ist, um die Gewerkschaften oder reformistische bzw. nationalistische Parteien zu beeinflussen, entstand eine reformistische Bürokratie oft durch Verbindungen mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung und durch die materielle Hilfe der Bürokratien in den imperialistischen Ländern.

Die Gewerkschaftsbürokratie ist eine besondere Kaste, die ihre Position und ihre materiellen Privilegien (wie gering sie auch immer sein mögen) ihrer Rolle als Unterhändler im Klassenkampf zwischen den Arbeitern und ihren Bossen verdankt. Ihre privilegierte Position geht oft einher mit ihrer Einbindung in untere Ebenen des kapitalistischen Staates. Um diese Positionen aufrechtzuerhalten, hat sie ein objektives Interesse an der Erhaltung des Systems der Klassenausbeutung und beschränkt und verrät daher die Klassenkämpfe. Sie handelt also als Feldwebel der Kapitalisten in der Arbeiterklasse und ist ein verschworener Feind des militanten Klassenkampfes und einer echten Arbeiterdemokratie.

Im Gegensatz dazu hat die Gewerkschaftsbasis kein objektives Interesse an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ausbeutung. In den Momenten verschärften oder verallgemeinerten Klassenkampfes erweisen sich die Bestrebungen der Arbeiter an der Basis als das genaue Gegenteil der Methoden der Bürokratie. Im Angesicht der Attacken von seiten ihrer Bosse greifen die Arbeiter zu direkten Aktionen zur Verteidigung ihrer Interessen. Sie versuchen, die sektoralen Verschiedenheiten in ihren Reihen zu überwinden, die Unorganisierten zu organisieren und sich mit Arbeitern anderer Industrien und Gewerkschaften zu vereinigen. Im Gegensatz zur notorischen „Neutralität“ ihrer Bürokratie gibt es unzählige Beispiele, wo Arbeiter an der Basis ihre Organisationen für eindeutig politische Ziele zu nutzen versuchten. Die grundlegenden Interessen der Gewerkschaftsbasis sind daher nicht einfach verschieden von denen der Bürokratie, sondern ihr genaues Gegenteil.

Um dieses elementare Klassenbewußtsein der Gewerkschaftsbasis zu revolutionärem Bewußtsein zu entwickeln, ist es notwendig, für eine revolutionäre Umwandlung der Gewerkschaften zu kämpfen. Entweder werden Gewerkschaften zu Instrumenten der Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Interessen des Kapitals, oder sie werden zu Instrumenten des revolutionären Kampfes gegen den Kapitalismus. So etwas wie Neutralität der Gewerkschaften im Klassenkampf kann es nicht geben. Das Ergebnis des Kampfes für die Umwandlung der Gewerkschaften hängt in erster Linie von der organisierten Stärke des revolutionären Kommunismus in ihnen ab. Wir sind bestrebt, kommunistische Fraktionen in den Gewerkschaften aufzubauen, die von Mitgliedern und Sympathisanten der revolutionären Partei gebildet werden und auf der Grundlage eines revolutionären Programms offen um die Gewerkschaftsführung kämpfen.

Um unser Ziel der Entmachtung der Bürokratie zu erreichen, befürworten wir oppositionelle Basisbewegungen, die der Basisdemokratie, der jederzeitigen (Ab-)Wählbarkeit und Verantwortlichkeit aller Funktionäre und einem Klassenkampfprogramm verpflichtet sind. Wir bekämpfen alle Beschränkungen der Basisdemokratie, jede von der Bürokratie erzwungene Spaltung, alle Versuche, die Gewerkschaften politisch „neutral“ zu halten oder genauer, sie von revolutionärem Einfluß freizuhalten. Wir leisten Widerstand gegen alle Versuche, Revolutionäre und Militante mit bürokratischen Mitteln aus Gewerkschaftsorganen zu jagen. Wir bekämpfen alle Bemühungen, die Kämpfe der Arbeiterklasse zu verraten beziehungsweise sie um ihren Erfolg zu bringen. Wir verteidigen die Rechte der gesellschaftlich Unterdrückten (Frauen, Jugendliche, sexuelle und rassische Minderheiten) auf eigene getrennte Treffen. Wir treten für die Einheit der Gewerkschaften auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis und für Industriegewerkschaften ein.

Die Taktik der oppositionellen Basisbewegung (nach dem Modell des „Minority Movement“ 1920 in Britannien) widerspricht nicht dem Ziel, eine kommunistische Gewerkschaftsfraktion zu bilden. Sie ist eine Bewegung, in der die Kommunisten eine Fraktion bilden, aber durch die sie gleichzeitig versuchen, eine Massenkraft zu werden und auf der Grundlage eines Aktionsprogramms von Übergangsforderungen die Führung der Gewerkschaften zu übernehmen. Sie ist eine Form der Einheitsfront, die dort notwendig ist, wo Kommunisten eine Minderheit darstellen, aber gleichzeitig die Möglichkeit der Mobilisierung nicht-kommunistischer Arbeiter besitzen.

Die Geschichte des reformistischen Verrats und die Einbindung einiger Gewerkschaften in den bürgerlichen Staat hat viele Sektierer dazu geführt, die Massenorganisationen preiszugeben und „saubere“Gewerkschaften oder „rote Gewerkschaften“ aufzubauen, die weder die Massen noch irgendwelche bedeutenden Teile der Arbeiterklasse miteinschließen. Diese Politik der ‚Doppelgewerkschaften‘ ist in Wirklichkeit eine Form der feigen Enthaltung. Sie überläßt die Massen der verräterischen Bürokratie. Sie beläßt sie unter deren Einfluß und damit zur Niederlage verdammt. Unsere Politik ist es daher nicht, uns von den reformistischen Massengewerkschaften abzuspalten anstatt darin für eine revolutionäre Führung zu kämpfen. Wir kämpfen in ihnen für die volle politische und organisatorische Unabhängigkeit vom Staat und den Unternehmern. Arbeitermilitante sollten sogar in vom Management oder vom Staat kontrollierten Gewerkschaften arbeiten, wenn diese die Masse der Arbeiter organisieren; und zwar mit dem Ziel, die Massen zum Bruch mit diesen Gewerkschaften zu führen und tatsächliche Arbeitergewerkschaften zu bilden. Wir sind andererseits keine Fetischisten der Gewerkschaftseinheit. Wir sind sehr wohl bereit, Gewerkschaften zu spalten, die tatsächlich Streikbrecherorganisationen geworden sind. Insbesondere lehnen wir jede Verbindung mit Gangster-Syndikaten oder Politikern offen bürgerlicher Parteien ab, die sich als „Freunde der Arbeiter“ darstellen wollen.

Auch sind wir keine Gewerkschaftsfetischisten. Gewerkschaftsorganisationen vereinigen notwendigerweise breite Schichten. Sie sind uneinheitlich und umfassen sowohl fortgeschrittene als auch noch wenig entwickelte Teile der Arbeiterklasse. Sie können daher nicht die politisch geschulte Avantgarde ersetzen – die revolutionäre Partei. Im Gegensatz zu den Syndikalisten und Trade- Unionisten sehen wir in Gewerkschaften keinen Selbstzweck und keinen Ersatz für die Partei und die Arbeiterräte. Denn nur die Partei kann die strategischen Interessen des Proletariats in seiner Gesamtheit vertreten. Und nur die Partei kann die vielen Bewegungen des Klassenkampfes zur Niederlage des kapitalistischen Systems selbst hinführen. Gewerkschaften, selbst wenn sie von Revolutionären geführt werden, stellen für uns nur ein Instrument unter vielen dar, um unser Ziel zu erreichen – die sozialistische Revolution. Nur der Sieg der Partei und ihres Programms in den Gewerkschaften, genauso wie in allen anderen Organisationen des Massenkampfes, garantiert einen bleibenden Sieg des Proletariats über das Profitsystem.

Arbeiterkontrolle und Fabrikkomitees

Das kapitalistische Ausbeutungssystem erfordert, daß die Bosse jeden Aspekt des Produktionsprozesses kontrollieren. Die Suche nach höherer Produktivität und höheren Profiten gefährdet die Sicherheit, ruiniert die Gesundheit und intensiviert die Ausbeutung. Die Arbeiterklasse ist daher zunehmend gezwungen, auf die kapitalistische Kontrolle mit Arbeiterkontrolle zu antworten, um selbst grundlegende und begrenzte Forderungen durchzusetzen. Aus diesem Grund stellt die revolutionäre Avantgarde den Kampf für Arbeiterkontrolle in den Mittelpunkt ihrer Propaganda und Agitation. Gegen die kapitalistische Ausbeutung kämpfen wir für die Arbeiterkontrolle über die Produktion. Kurz gesagt heißt das, daß wir uns ein Vetorecht über die Pläne und Aktionen der Bosse in jedem Teil der Produktion vorbehalten, von den grundlegendsten Dingen (Arbeitstempo, Recht auf Pausen) bis auf die Ebene der Verwaltung der Fabrik (Zahl der Beschäftigten, Bezahlung der Löhne, Art der Produktion). Wir lehnen aber die tausendundein Schemata von Arbeitermitbestimmung kategorisch ab. Diese sind nur dazu entwickelt worden, um die Arbeiterklasse zu täuschen und in die Mechanismen des Kapitalismus zu integrieren, und sie versuchen, die Arbeiter dazu zu verführen, Verantwortung für das Versagen der kapitalistischen Produktion zu übernehmen. Sie sind darauf ausgerichtet, Absprachen für Angriffe auf Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen abzusichern.

Die Arbeiterkontrolle auf der Ebene der Fabrik ist unvollständig, wenn sie nicht auf die gesamte kapitalistische Produktion ausgeweitet wird. Die Kapitalisten halten ihre Geschäftsbücher und Konten streng geheim vor den Arbeitern (wenngleich nicht untereinander). Dadurch täuschen und manipulieren sie die Arbeiterklasse. Wir kämpfen daher gegen den Schwindel des Geschäftsgeheimnisses, für die Öffnung aller Geschäftsbücher der Kapitalistenklasse – ihrer Firmen, ihrer Gesellschaften, ihrer Banken und ihres Staates – und für die Untersuchung durch die Arbeiter und Arbeiterinnen selbst. Das Ziel dieser Kontrolle ist nicht, eine Niederlage zuzugestehen, falls sich dieses oder jenes Unternehmen tatsächlich als bankrott erweist. Der Ruin individueller Kapitalisten ist nicht unsere Schuld. Und auch nicht unsere Sorge. Nein: Die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses ist darauf ausgerichtet, den Bankrott des gesamten kapitalistischen Systems darzulegen, seinen Betrug und sein Mißmanagement der Wirtschaft, seinen Parasitismus, seine Tendenz, den Reichtum zu vergeuden, den die Arbeiter schaffen, und seine extrem ungerechten Methoden der Verteilung dieses Reichtums.

Aber die seit 1945 stark ausgeweitete Anwendung von Wissenschaft und Technik in der Produktion verlangt immer weiter reichende Formen der Arbeiterkontrolle. Da Wissenschaft und Technik vom Kapital organisiert werden, werden Ziel und Auswirkung der Einführung neuer Technologien immer mehr vor den Arbeitskräften verborgen. Sie erlangen davon nur bei Rationalisierungen, durch Sicherheitsrisiken, bei der Intensivierung der Arbeit und durch die verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt Kenntnis. Die Frage der Arbeiterkontrolle über die technische und wissenschaftliche Planung des Staats und der Unternehmer kann sogar eine Frage des Überlebens werden – nicht nur für die Arbeitskräfte, sondern auch für die umliegenden Gemeinden. Das zeigte sich immer wieder, sei es nun in Bhopal oder Tschernobyl. Die Arbeiterkontrolle über den technischen und wissenschaftlichen Apparat bedeutet auch, daß die Arbeiter die Trennung von Hand- und Kopfarbeit überwinden. Ein diesbezüglicher Erfolg wird es ermöglichen, daß technische und wissenschaftliche Arbeiter und Arbeiterinnen dafür gewonnen werden, mit den Fabrikarbeitern in Arbeiterkontrollkomitees zusammenzuarbeiten.

In der imperialistischen Epoche haben die Tendenzen zur verstärkten staatlichen Regulation der Industrie verschiedene Reformisten und Zentristen dazu geführt, alternative Produktionsschemata innerhalb des Kapitalismus zu entwickeln. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wurden sogar aufgerufen, unter der Aufsicht reformistischer oder nationalistischer Regierungen bestimmte Unternehmen zu „managen“. Die alternative Planung im Kapitalismus ist aber eine Utopie. Natürlich entwickeln wir in Zeiten tiefer ökonomischer und sozialer Krisen einen Aktionsplan für eine revolutionäre Arbeiterregierung zur Lösung dieser Krisen. Aber selbst der elementarste Plan muß auf der Arbeiterkontrolle über die Produktion im nationalen Maßstab basieren, wenn er einen Fortschritt gegenüber kapitalistischem Chaos und Sabotage bringen soll. Es bedeutet, die Rolle frommer Berater des bankrotten kapitalistischen Systems zu spielen, solch einen Plan vom revolutionären Kampf für Arbeiterkontrolle zu trennen und ein Arbeitermanagement auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft zu befürworten. Die Arbeiterkontrolle ist kein Mittel, eine sozialistische Planwirtschaft durch die Hintertür einzuführen. Sie muß vielmehr den revolutionären Kampf um die Macht in der ganzen Gesellschaft beflügeln und dient so als Voraussetzung des Arbeitermanagements für die Zeit nach dem Sieg der Revolution.

Die reformistisch geführten Gewerkschaften sind bestenfalls nur teilweise dazu geeignet, die Arbeiterkontrolle über die Produktion auszuüben. Die Berufsgruppentrennung in den Fabriken, die oft durch auf dieser Trennung basierende Gewerkschaftsorganisationen wiedergespiegelt und befestigt wird, begrenzt die Fähigkeit dieser Gewerkschaften, die Kontrolle über die Produktion auszuüben. Abgesehen von speziellen Kontrollkommissionen, die ad hoc für bestimmte Ziele eingerichtet werden, ist das Fabrikkomitee die beste Organisationsform, um den Kampf für die Arbeiterkontrolle zu führen. Das Fabrikkomitee ist in der Lage, alle Arbeitskräfte zu vereinigen, diese auf den täglichen Kampf um Kontrolle zu orientieren und die Macht des Managements herauszufordern, indem darin alle Arbeiter und Arbeiterinnen einer Fabrik – unabhängig von Beruf, Abteilung und Gewerkschaftsmitgliedschaft – organisiert werden. Weiters kann das Fabrikkomitee im Kampf für die Umformung der Gewerkschaften in klassenkämpferische Industriegewerkschaften eine Rolle spielen. Das Fabrikkomitee muß direkt-demokratisch aufgebaut sein, das heißt, daß die Delegierten, die auf Abteilungs- und Massenversammlungen gewählt werden, jederzeit abwählbar sind und in täglichem Kontakt mit den Arbeitern und Arbeiterinnen stehen.

Als „inoffizielle“ Organe werden die Fabrikkomitees gleichermaßen von den Bossen und Bürokraten angegriffen und sabotiert werden. Der Grund dieser Feindschaft ist ihre Möglichkeit, Kampforgane des Proletariats zu sein. Die Fabrikkomitees sind (so wie die Fabriksbesetzung) eine Herausforderung für das Recht des Managements auf Leitung, die unantastbare Natur des Privateigentums und für die Macht der Gewerkschaftsbürokratie über die Arbeitenden. Sie etablieren eine Doppelmachtsituation in der Fabrik, und ihre Existenz stellt die Frage: Wer herrscht in der Fabrik – die Arbeitenden oder die Bosse? Daher sind sie für Perioden intensiven Klassenkampfes charakteristisch. Und genauso wie die Doppelmacht in der Gesellschaft nicht für längere Zeit aufrechterhalten werden kann, kann sie dies auch in der Fabrik nicht. Das Fabrikkomitee ist gezwungen, den Kampf für Arbeiterkontrolle immer kühner voranzutreiben. Wenn das nicht der Fall ist, riskiert es seinen Zerfall oder seine Vereinnahmung.

In Österreich und Deutschland entstanden nach dem ersten Weltkrieg Fabrikkomitees als Kampforgane. Aber die Niederlage der Revolution führte zur Umwandlung dieser Komitees in Organe der Kollaboration mit den Bossen. Diese Komitees werden von der Gewerkschaftsbürokratie und der Bourgeoisie als Stützen des sozialen Friedens verwendet. Diese Erfahrung zeigt gerade die Gefahr der Vereinnahmung auf, wenn sich das Fabrikkomitee nicht in revolutionäre Richtung entwickelt. Wo keine Fabrikkomitees existieren, müssen sie von Anfang an als Kontrollorgane der Arbeiterinnen und Arbeiter aufgebaut werden. Wo sie als Organ bürokratischer Kontrolle existieren, müssen sie zur Gänze transformiert werden, um die Rolle von Arbeiterkontrollorganen zu spielen.

Verteidigt die Umwelt durch Arbeiterkontrolle

Alle Produktionsweisen haben zur Störung der Umwelt geführt. Der Kapitalismus aber hat in der imperialistischen Epoche eine Zerstörung auf einer qualitativ neuen Stufe möglich gemacht. Die kapitalistische Produktionsweise hat ein Umweltproblem hervorgebracht, das sowohl physische Beschädigungen (an lebenden Organismen, Ökosystemen und der Ozonschicht) als auch die daraus folgenden sozialen und psychischen Auswirkungen für die Menschen einschießt (Krankheit, Hunger, psychischer Streß). Die Verbindung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt hat die Möglichkeit von Überfluß für die gesamte Menschheit hervorgebracht. Aber das nach wie vor bestehende Privateigentum an den Produktionsmitteln führte im Kontext einer von den imperialistischen Mächten beherrschten Welt zu einer vierfachen Bedrohung der Menschheit: Sie wird durch einen möglichen Nuklearkrieg von ihrer vollständigen Ausrottung bedroht; das Regenerationsvermögen der natürlichen Umwelt wird durch die rücksichtslose Zerstörung lebenswichtiger Teile des Ökosystems aufs Spiel gesetzt; die Bevölkerung wird durch die unzureichende Kontrolle der Anwendung gefährlicher Substanzen und Prozesse gefährdet; die sozialen Folgen der weltweiten Arbeitsteilung des Imperialismus trieben Millionen in den Hungertod und machten die Verstädterung zur ökologischen Gefahr.

In den degenerierten Arbeiterstaaten hat die Herrschaft der Bürokratie zu ähnlichen Konsequenzen geführt. Diese Kaste greift auf Produktionsmethoden zurück, die auf eine kurzfristige Maximierung des Outputs ausgerichtet sind. Die langfristigen Auswirkungen auf die Umwelt bleiben unberücksichtigt. Ähnlich der Bourgeoisie hat auch die Bürokratie die Wissenschaften weiterentwickelt. Aber sie steht ihren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Massen und den Folgen ihrer Anwendung auf die Produktion gleichgültig gegenüber. Auch in den degenerierten Arbeiterstaaten erfordert ein grundlegender Fortschritt auf diesem Gebiet den Sturz der herrschenden Macht.

Obwohl das Proletariat und die kleinen Bauern am meisten unter den zerstörerischen Folgen des Kapitalismus litten und leiden, waren es Teile des städtischen Kleinbürgertums und der Intelligenz in den imperialistischen Ländern, die die gegenwärtige Gefahr als erste in größerem Maßstab erkannten. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre vervielfachte sich die Anzahl von Ein- Punkt-Kampagnen beispielsweise in der BRD und in Österreich, aber später auch in Frankreich und Italien. Diese mündeten schließlich in eine breite Ökologiebewegung. Diese Bewegungen waren vorwiegend vom Kleinbürgertum getragen. Erstmals wurden ihre Wohngegenden, ihre Kinder und ihre Gesundheit bedroht. Aufgrund ihrer sozial und kulturell privilegierten Position waren sie in der Lage, die Umwelt zum politischen Thema zu machen. Einige von ihnen beleuchteten sogar die Folgen für die halbkolonialen Ländern. Die Politik dieser kleinbürgerlichen Schicht war zwar begrenzt, aber fortschrittlich, da sie das Problem der Umweltzerstörung in einer systematischen Form stellte. Sie führte Massenmobilisierungen durch und die Ökologie-Frage gewann als deren Folge erstmals Einfluß auf das öffentliche Bewußtsein. Außerdem gelang es ihnen, eine bedeutende Anzahl von qualifizierten und gut bezahlten Arbeitern und Arbeiterinnen einzubeziehen. Die großteils utopischen, sogar offen reaktionären Antworten dieser Bewegungen ändern nichts an der fortschrittlichen Rolle, die sie angesichts reformistisch dominierter Arbeiterorganisationen spielten, die in dieser Frage selbstzufrieden an der Seite ihrer Bourgeoisie standen.

Die von den Umweltschützern vorgeschlagenen Lösungen griffen weder die Herrschaft des Privateigentums an Produktionsmitteln noch die des bürgerlichen Staates an. Das spiegelt die soziale Lage des Kleinbürgertums und der Intelligenz wider. Die von ihnen vorgeschlagenen Strategien und Taktiken waren – abgesehen von ihrer häufigen Ineffektivität – auch Ablenkungen von der notwendigen Aufgabe, die soziale und ökonomische Macht der Arbeiterklasse zu mobilisieren. Aber wo diese Bewegungen Mobilisierungen initiierten, die die Interessen der Arbeiterklasse verteidigen oder vorantreiben, dort sind gemeinsame Aktionen der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen mit diesen kleinbürgerlichen Bewegungen notwendig. Unser Ziel ist, deren fortgeschrittenste Elemente für eine proletarische Orientierung zu gewinnen und folglich die kleinbürgerliche Bewegung zu spalten.

Die Arbeiterklasse hat ein lebendiges Interesse daran, die Gefährdung der Umwelt durch den Imperialismus zu bekämpfen. Während seiner ganzen Geschichte hat das Proletariat für den Stopp gefährlicher Produktionsmethoden und den Kapitalisten die Einführung von Sicherheitsstandards aufgezwungen. Die Arbeiterklasse hat dadurch in diesen Bereichen Ziele verwirklicht, die zur Schaffung einer bewohnbaren Umwelt für die Lohnabhängigen führte. Wiewohl dieser Kampf fortgesetzt und intensiviert werden muß, kann er niemals dauerhaft gewonnen werden, ohne den Kapitalismus selbst zu stürzen. Die erfolgreichsten Kampfmethoden – selbst für unmittelbare Verbesserungen – sind die Methoden des Klassenkampfes, sei es auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene. Trotz der häufigen Gleichgültigkeit der momentanen Gewerkschaftsführung ist es entscheidend, daß der Kampf für eine proletarische Antwort auf die Umweltfrage in die Massenorganisationen der Arbeiterklasse getragen wird. Das ist ein integraler Bestandteil des Kampfes, den Reformisten die Gewerkschaftsführung zu entreißen. Um sicherzustellen, das die Arbeiter und Arbeiterinnen Zugang zur Beratung mit unabhängigen Experten und Expertinnen haben, fordern wir die Bildung von Beratungskommissionen für Umweltschutz- und Sicherheitsbelange in den Gewerkschaften.

Gegen gefährliche Prozesse und Praktiken in den Werken kämpfen wir dafür, daß Fabrikkomitees und Gewerkschaften ein Veto einlegen und die Einführung von sichereren Technologien oder Arbeitsbedingungen auf Kosten des Profits überwachen. Wo die Gefahr über das Unternehmen hinausgeht, treten wir für die direkte Aktion der Arbeiter und Arbeiterinnen des Werks und der örtlichen Gemeinde mit dem Ziel ein, die Regierung zu zwingen, die Verwendung sichererer Methoden und Materialien vorzuschreiben. Wo die Bosse oder ihr Staat die Gefahr leugnen oder wirtschaftliche Rentabilität zur Verteidigung gefährlicher Fabriken ins Treffen führen, rufen wir zur Offenlegung aller relevanten Geschäftsbücher und Protokolle für eine Arbeiteruntersuchung auf. Wir weisen die Forderung nach unmittelbarer Schließung aller Atomkraftwerke zurück. Das heißt aber nicht, daß wir die Gefahren ignorieren, die Atomkraftwerke verursachen. Der Forderung nach unmittelbarer Schließung stellen wir die nach einer Untersuchung durch die Arbeiter oder durch von ihnen ausgewählte Repräsentanten gegenüber. Die revolutionäre Partei präjudiziert die Entscheidung einer solchen wissenschaftlichen Untersuchung nicht. Wir unterstützen die Mobilisierung der Arbeiterklasse zur Forderung und Durchsetzung der Schließung, wo eine Arbeiteruntersuchung oder eine Kommission der Arbeiterbewegung die Schließung empfiehlt oder wo akute und unmittelbare Gefahr gegeben ist. In diesen Fällen fordern wir die Erhaltung des Lebensstandards der dortigen Arbeitskräfte durch den Staat.

Wir kämpfen für Arbeiterkontrolle über Forschung und Planung der wissenschaftlich-technischen Institutionen der Unternehmen und des Staates. Das beinhaltet die Offenlegung der Art der Forschungs- und Entwicklungsprojekte und die Formulierung von darauf bezüglichen Gesundheits- und Sicherheitsforderungen. Weiters kann es auch bedeuten, im Zusammenhang mit einem Programm gesellschaftlich nützlicher, öffentlicher Arbeiten andere Forschungsziele durchzusetzen.

Für das Proletariat erschöpft sich die Ökologiefrage nicht in einem Kampf um vorbeugende Maßnahmen. Vieles wurde bereits zerstört und muß wiederhergestellt werden. Wir fordern daher, daß die Wiederherstellung einer lebenswerten Umwelt einen zentralen Platz im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher gesellschaftlicher Arbeiten einnimmt. So ist die Gewährleistung angemessene sanitärer Anlagen und sauberen Trinkwassers eine brennende Notwendigkeit für Millionen Slumbewohner. Integrierte regionale Wiederherstellungsprogramme sind in großen Teilen Afrikas, die in den letzten Jahren in Wüsten verwandelt wurden, dringend notwendig. Große Mittel müssen für die Konstruktion von Hochwasserdämmen in den Monsungebieten der Erde verwendet werden. Die Bourgeoisie muß gezwungen werden, die in diesen Programmen vorgesehenen notwendigen Reparaturen durchzuführen.

Zahlreiche Gefahren können nicht auf der Ebene der Veränderung oder Schließung einzelner Produktionsstätten gelöst werden. Luft- und Wasserverschmutzung, Zerstörung ganzer Ökosysteme durch Abholzung oder Monokulturen oder die vollständige Auslaugung natürlicher Ressourcen sind oft internationale Erscheinungen, auch wenn ihre Auswirkungen anfangs meist in einzelnen Ländern bemerkbar sind. Auf nationaler und internationaler Ebene treten wir für die Einführung gesetzlicher Sicherheitsstandards für die Umwelt ein – aber wir kämpfen für diese mit den Methoden des proletarischen Klassenkampfes und wir vertrauen den internationalen Agenturen des Imperialismus in keiner Weise, wenn es darum geht, diese Standards, selbst wenn sie eingeführt würden, durchzusetzen. Keine dieser Forderungen kann dauerhaft verwirklicht werden, ohne daß das Proletariat die politische und ökonomische Macht von den Kapitalisten errungen und eine demokratische internationale Planung etabliert hat. Nur auf diesem Weg kann der Gegensatz von Stadt und Land aufgehoben und die menschliche Produktion mit der Natur ausgesöhnt werden.

Enteignung und Nationalisierung

Das sozialistische Programm tritt für die vollständige Enteignung der Kapitalistenklasse, die Zerschlagung ihres Staates und die Etablierung der Arbeitermacht ein. In der imperialistischen Epoche wurde eine ganze Reihe staatskapitalistischer Verstaatlichungen entweder durch „konsensuale“ konservative und reformistische Regierungen in den imperialistischen Nationen oder durch nationalistische Regierungen in den Halbkolonien durchgeführt.

Im ersten Fall sind die staatskapitalistischen Nationalisierungen generell im Interesse der gesamten Kapitalistenklasse. Sie gewährleisten die Fortführung notwendiger wirtschaftlicher Bereiche, die für die individuellen Kapitalisten zu wenig profitabel sind. Diese stellen anderen Teilen der Wirtschaft üblicherweise Produkte und Leistungen zu geringen Kosten zur Verfügung. Sie sind auch eine Möglichkeit, bankrotte und schlechte Manager, die für ihre Inkompetenz mit ungeheuren Entschädigungen bezahlt werden, abzusichern.

In den Halbkolonien war die Verstaatlichung eine Methode, durch die eine schwache oder embryonale Bourgeoisie die Mittel zur Kapitalakkumulation, die zuvor in den Händen des Imperialismus waren, konzentrierte. Das war für das Wachstum der nationalen Bourgeoisie notwendig.

Obwohl diese oder jene Verstaatlichung einen Schlag gegen den Imperialismus bedeuten mag (Nasser in Ägypten, die Verstaatlichungen der Kupferminen in Chile unter Allende) oder Zugeständnisse an die Massen darstellen können, so führen sie keineswegs zur Enteignung des Kapitalismus. Vielmehr wird die Herrschaft der Kapitalistenklasse in einem bestimmten Sektor oder mehreren Sektoren der Wirtschaft durch den kapitalistischen Staat ausgeübt. Die Verstaatlichungen verführen die Massen zu dem Glauben, daß ihnen dieser oder jener Teil der Ökonomie „gehört“, obwohl diese Nationalisierungen nur eine betrügerische Methode der Verwaltung des Kapitalismus, nicht aber seines Sturzes ist. Gleichzeitig werden die Arbeiter und Arbeiterinnen staatlicher Unternehmen daran gehindert, irgendeine Kontrolle über die Produktion auszuüben.

Wo die Arbeiter und Arbeiterinnen aufgerufen werden mitzuverwalten, dient dies generell dazu, den Fortbestand der Unternehmen zu sichern oder das bürgerliche Regime zu retten, das die Verstaatlichungen durchgeführt hat, und sich in einem, wenngleich nur zeitweiligen Konflikt mit dem Imperialismus befindet (Mexiko in den 30er Jahren, Bolivien in den 50er Jahren). Dasselbe gilt für Managementbeteiligungen der Arbeiter und Arbeiterinnen in den kränkelnden Industrien und Werken. Dabei beuten sie sich oft unter der Maske von „Kooperativen“ selbst aus; sie werden gezwungen, beständig Lohnforderungen zurückzunehmen und Lohneinbußen hinzunehmen, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Sobald diese verstaatlichten Sektoren wieder profitabel sind, kennt der kapitalistische Staat keine Gewissensbisse, wenn er die einst nationalisierten Unternehmen zu Schleuderpreisen an Privatkapitalisten zurückgibt (Ägypten unter Sadat, Britannien unter Thatcher). Die Reformisten und Nationalisten werden keinerlei ernsthafte Aktion setzen, um diese Übergaben zu verhindern.

Trotz unserer Kritik an bürgerlichen Verstaatlichungen, stellt die Privatisierung, wie sie immer wieder von den Bossen versucht wird, einen Rückschritt dar, der auf Kosten der Arbeiterklasse durchgeführt wird. Das Proletariat wird dabei gezwungen, die Kosten der Privatisierung durch Arbeitslosigkeit und Lohneinbussen direkt zu bezahlen. Im allgemeinen gehen sie auf Kosten von Sozialleistungen, gewerkschaftlicher Organisations- und Mitspracherechte. Die Arbeiterklasse zahlt die Privatisierungen auch indirekt durch die Steuern, die ursprünglich für die Verstaatlichungen aufgewandt wurden. Wenn diese Unternehmen wieder verkauft werden, erhält die Arbeiterklasse im Gegensatz zu den ehemaligen Eigentümern, die für die Nationalisierung Entschädigungen erhielten, keine solchen von den neuen Bossen. Schließlich wird, allgemein gesprochen, die Aufgabe des Übergangs zum Sozialismus durch die Existenz privater Unternehmen erschwert.

Obwohl wir diese verstaatlichten Industrien nicht als sozialistische betrachten, bedeutet die Zentralisation in den Händen des Staates einen klaren Vorteil für einen Arbeiterstaat in der Übergangsepoche. Wir fordern daher von den Reformisten und Nationalisten in der Regierung, die behaupten, daß sie gegen Kapitalismus und Imperialismus seien, daß sie alle privaten Industrien ohne Entschädigung und unter Arbeiterkontrolle wieder verstaatlichen.

Im Gegensatz zu den Reformisten und Nationalisten und ihren Sonntagsreden treten wir für die Enteignung ein. Die Arbeiterklasse benötigt die politische Macht, um die ökonomische Herrschaft der Kapitalistenklasse zu zerstören. Trotzdem argumentieren wir schon heute für die unmittelbare Enteignung unter Arbeiterkontrolle und ohne Entschädigung für die Bosse, wo sie ein Werk oder eine ganze Industrie schließen wollen. Eine Verstaatlichung, die auf dieser Basis durchgeführt wird, zwingt alle Unternehmer, vermittelst des Staates, für die Krise ihres Systems zu zahlen. Wir schrecken auch nicht davor zurück, zur Enteignung ganzer Sektoren der Industrie oder der Infrastruktur (Transport, Energie und Trinkwasseraufbereitung) aufzurufen, um die Anarchie der kapitalistischen Produktion zu bekämpfen. Jeder Erfolg, den die Arbeiter durch das Erzwingen solcher Enteignungen machen, stellt sie vor die Notwendigkeit der Enteignung weiterer Teile der Wirtschaft, um die kapitalistische Sabotage der von den Arbeitern kontrollierten Industrien zu verhindern. Um das Monopol des Großkapitals über Information und Propaganda durch die sogenannte ‚freie Presse‘ zu brechen, stellen wir die Losung der Verstaatlichung der Zeitungs- und Fernsehgesellschaften und der anderen Medien unter Arbeiterkontrolle und ohne Entschädigung für die Medienbarone auf. Diese Maßnahme ist weit davon entfernt, eine freie Presse zu verhindern. Im Gegenteil: Sie ermöglicht den Arbeitern, die Kapitalisten am Verbreiten von Lügen, von Attacken auf Kämpfe der Arbeiter und von ekelhafter sexistischer, rassistischer und homosexuellenfeindlicher Propaganda zu hindern. Gleichzeitig verteidigen wir das Recht der Arbeiterorganisationen und ihrer politischen Parteien, ihre eigene Presse unabhängig von staatlicher Kontrolle zu organisieren.

Obwohl die Enteignung des gesamten Kapitals das strategische Ziel der Arbeiterklasse ist, muß das Proletariat der taktischen Wichtigkeit der Neutralisierung bestimmter Kleinkapitalisten und kleinbürgerlicher Eigentümer Rechnung tragen. Daher soll diese Schicht, die in den Halbkolonien oft zahlenmäßig sehr bedeutend ist, von ihren drückenden Schulden ans Finanzkapital befreit werden. Das Maß der Enteignung großer und kleiner Kapitale wird in einem jungen Arbeiterstaat einerseits durch den Rhythmus des Klassenkampfs im Land und international bestimmt und andererseits durch den Grad der Enteignungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Brechen des kapitalistischen Widerstands und zur Sicherung der ökonomischen Entwicklung notwendig sind. Analog dazu und vorausgesetzt, daß es möglich ist, können Entschädigungen an Kleinkapitalisten und kleinbürgerliche Investoren bezahlt werden, wenn das dazu beiträgt, diese Schichten zu neutralisieren.

Die Enteignung eines Teils der Industrie bringt die Arbeiter und Arbeiterinnen in Konflikt mit den Banken und Finanzhäusern, die den Geld- und Kreditfluß kontrollieren. Das wirtschaftliche Regime dieser Parasiten ruiniert nicht nur die Arbeiter, sondern auch Teile des städtischen Kleinbürgertums und der Bauern. Gegen ihre Sabotage treten wir für die Enteignung der Banken und Finanzhäuser ein. Nur dadurch können die Kredite für die Bauern und Bäuerinnen billiger gemacht werden. Nur dadurch können die bedeutendsten Rechnungsbücher der Gesellschaft für die aufmerksamen Augen der Arbeiter und Arbeiterinnen geöffnet werden. Nur so können die in zahlreichen unterdrückten Ländern angehäuften Schulden gestrichen werden, ohne eine plötzliche wirtschaftliche Erschütterung zu riskieren. Nur so können die Massen Schritte ergreifen, um die Plage der Hyperinflation zu beenden. Die Arbeiterkontrolle über die Banken und Finanzhäuser wird auch gewährleisten, daß die kleinen Sparer, die proletarischen Eigenheimbesitzer und die kleinen Bauern von den gierigen Finanziers nicht ausgepreßt werden.

Die Enteignung von Industriesektoren, der Banken und Finanzhäuser stellt einen Übergang zur vollständigen wirtschaftlichen Vernichtung der Kapitalistenklasse dar. Nur dann wird wirkliche Planung möglich sein, d.h. Produktion für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und nicht für den Profit. Die Ungleichgewichte zwischen einzelnen Teilen der Industrie, die für das System des Privateigentums charakteristisch sind, werden auf fortschrittliche Weise überwunden. Dasselbe gilt für die Gesellschaft, in der ständige Überproduktion mit unbefriedigten Bedürfnissen einhergeht, da nützliche Güter unverkauft bleiben, wenn sie keinen Profit erzielen. Doch die Enteignung der Kapitalistenklasse wird nur dann die Grundlage für eine sozialistische Planung sein können, wenn die Staatsmacht vollständig von den Händen der Kapitalisten und der stalinistischen Bürokratie in die der Arbeiter und Arbeiterinnen übergeht.

Von der Verteidigung der Streikposten zur Arbeitermiliz

Alle entscheidenden Konflikte in der Geschichte wurden letztendlich mit Waffengewalt entschieden. Die Reformisten, die über einen friedlichen Weg zum Sozialismus blöken, sind entweder naive Narren, die sich nicht bewußt sind, wie Geschichte „gemacht“ wird, oder zynische Diener der Bourgeoisie. Keine herrschende Klasse ist jemals kampflos von der Bühne der Geschichte abgetreten. Das Proletariat ist die einzige Klasse in der Geschichte, die ein Interesse an der Abschaffung aller Klassen hat. Um dies zu erreichen, muß es durch einen bewaffneten Aufstand seine Diktatur über die Ausbeuter errichten. Die Vorbereitung der Arbeiterklasse für den Aufstand durchläuft eine Reihe von Forderungen und Aktionen, die sich alle auf die Verteidigung der Arbeiterkämpfe und die Destabilisierung und Zerstörung der bürgerlichen Staatsgewalt konzentrieren.

Seit Beginn der kapitalistischen Gesellschaft wurde der Arbeiterklasse mit Gewalt entgegengetreten, wenn sie versuchte, für ihre Rechte am Arbeitsplatz zu kämpfen. Angesichts solcher Angriffe entwickelte sie ihr eigenes Mittel zur Verteidigung: die Streikpostenkette. Aus diesem Grund versucht der bürgerliche Staat diese auf einen ineffektiven Protest zu beschränken. Andererseits haben Arbeiter, die ernsthaft siegen wollen, versucht, aus den Streikposten eine Massenkraft zu machen, welche in der Lage ist, Streikbrecher, Firmengangster und ebenso die Staatspolizei zu verjagen. Aber egal wie groß sie ist, die Streikpostenkette ist unzureichend, sowohl um ihre unmittelbaren Ziele gänzlich durchzusetzen, als auch für die ausreichende Verteidigung der kämpfenden Arbeiter. Die Arbeiter müssen in jedem Kampf ihre eigene Verteidigung organisieren und so die Basis für die Arbeitermiliz zu schaffen.

Der erste Schritt dazu ist die Verteidigung der Streikpostenkette und der Fabriks- oder Landbesetzung. Jedesmal, wenn Arbeiter oder arme Bauern versuchen, ihren Willen durchzusetzen, wird ihnen mit Repression entgegengetreten. Die Agenten solch einer Repression variieren je nach Ort und Umständen. Aber gleichgültig, ob die Streikbrecher und ihre Drahtzieher die Polizei (wie in Westeuropa), die Armee (wie in vielen Halbkolonien) oder bezahlte Gangster und „Nationalgardisten“ (wie in den USA) sind, ihre Funktion ist die physische Zerschlagung der Streikpostenkette der Arbeiter und Arbeiterinnen. Unter Bedingungen extremer Krisen wird die Bourgeoisie Zuflucht zu faschistischen Banden nach dem Modell der „Schwarzhemden“ Mussolinis oder der „Braunhemden“ Hitlers nehmen oder zu geheimen „Todesschwadronen“, die mit den Streitkräften verbündet sind, um nach und nach die Kampfkraft der Arbeiterklasse zu brechen.

Die Streikbrecher lassen sich selbstbewußt auf diese Auseinandersetzung ein, weil sie wissen, daß sie das ganze Gewicht des bürgerlichen Staates hinter sich haben. Jedoch stehen ihre Erfolge in direktem Verhältnis zum Mangel an Organisation innerhalb der Arbeiterklasse und armen Bauernschaft. Besondere Einheiten von Streikenden, unterstützt von den Massen, aber speziell zum Zweck des bewaffneten Kampfes ausgebildet, können das Selbstvertrauen der Streikbrecher zerstören und diesen Mob in die Flucht schlagen. So kann die Streikpostenkette von einer bloßen Scheingeste oder einer schlecht organisierten Demonstration in eine disziplinierte und effektive Abteilung der proletarischen Armee umgewandelt werden. Damit können auch die ersten Elemente einer Arbeitermiliz versammelt werden. In allen Phasen dieses Kampfes sind wir für die Mobilisierung und Ausbildung von proletarischen Frauen, so daß jene eine vollwertige Rolle in den militärischen Organisationen der Arbeiterklasse spielen können.

Natürlich muß der Aufbau einer solchen Organisation mit der gebührenden Rücksichtnahme auf das vorhandene Bewußtsein der Massen und ihr erreichtes Niveau der Organisierung durchgeführt werden. Im Falle eines Streikes oder einer Besetzung sind Verteidigungstrupps notwendig. Sogar in „friedlichen“ Perioden des Klassenkampfes erkennen wir die Notwendigkeit, junge Kämpfer der Arbeiterklasse für die zukünftigen Auseinandersetzungen zu trainieren, und benutzen dazu alle möglichen Mittel und Organisationen. Aber unter keinen Umständen darf diese Aufgabe aufgeschoben werden. Verzögerung führt zur Niederlage – und die Niederlage zum Weiterbestand der Klassengesellschaft.

Für die Zerschlagung der bewaffneten Staatsmacht

Allein wird die Arbeitermiliz nicht in der Lage sein, die Macht des bürgerlichen Staates zu zerschlagen. Die bewaffneten Streitkräfte der herrschenden Klasse müssen sowohl von innen als auch von außen gebrochen werden. Jede revolutionäre Situation hat gezeigt, daß in einer entscheidenden Auseinandersetzung mit der Arbeiterklasse Teile der bewaffneten Streitkräfte (Polizei, Armee, Marine, Luftwaffe) schwankten und mit ihren kapitalistischen Auftraggebern brachen.

Das Wesen der Streitkräfte und Polizeiorganisationen ist in vielen Teilen der Welt unterschiedlich. Normalerweise bilden die Polizeikräfte den alltäglichen Repressionsapparat des kapitalistischen Staates. In Notfällen, in Situationen von Kriegsrecht und unter Militärregierungen wird auch die Armee die direkt repressive Rolle spielen. Deshalb stellen wir uns überall jener utopischen Idee entgegen, daß diese Organe bewaffneter Männer und Frauen demokratisiert, in eine neutrale Kraft oder in einen Verbündeten der Arbeiterklasse umgewandelt werden können. Sie müssen zerschlagen und durch eine Volksmassenmiliz auf der Grundlage der Arbeiter und armen Bauern ersetzt werden.

Jedoch erfordert die Verschiedenheit in Zusammensetzung und Organisation der Streitkräfte (Berufsheer oder allgemeine Wehrpflicht, arme bäuerliche oder proletarische Rekruten) verschiedene Taktiken, um sie zu zerbrechen. Aber alle diese Taktiken zielen darauf ab, die Kette zwischen Kommando und Gehorsam zu destabilisieren und zu sprengen. Zu diesem Zweck treiben wir den Klassenkampf innerhalb des Militärs voran. Das Offizierscorps bildet eine absolut unreformierbare und hingebungsvolle Vorhut der herrschenden Klasse gegen das Proletariat. Die Arbeiter müssen dafür kämpfen, die niederrangigen Soldaten und Unteroffiziere gegen die Autorität, die Privilegien und die Korruption dieser Kaste zu organisieren. Um diese Arbeit anzuleiten, bemühen wir uns, (geheime) kommunistische Zellen in den Streitkräften aufzubauen, welche an die einfachen Soldaten gerichtete Bulletins herausgeben.

Genauso wichtig wie die Untergrabung der Disziplin ist, daß Kommunisten und Kommunistinnen den berechtigten Groll der einfachen Soldaten unterstützen. Nur auf einer solchen Basis können wir hoffen, die repressive Rolle der Streitkräfte zu unterminieren und die einfachen Soldaten dazu zu gewinnen, sich mit der Arbeiterklasse zu solidarisieren, indem sie zum Beispiel ablehnen, Demonstrationen und Streikposten anzugreifen, oder sich weigern, Gefangene zu foltern. Deshalb fordern wir das Recht für die einfachen Soldaten und Polizisten, Gewerkschaften und politische Organisationen zu gründen, politische Literatur in Umlauf zu bringen und zu streiken.

Obwohl es nicht unsere Aufgabe ist, höhere Löhne oder bessere Bedingungen für die Armee oder Polizei des kapitalistischen Staates zu verfechten, unterstützen wir die Kämpfe der unteren Ränge, wo diese sie in einen fortschrittlichen Konflikt mit dem kapitalistischen Staat bringen. Zu diesem Zweck kämpfen wir für das Ende des Kasernierungssystems und für die Wahl aller Offiziere durch die niederen Ränge. Wir kämpfen für Tribunale dieser unteren Ränge, um Offiziere vor Gericht zu stellen, die der Brutalität, der Korruption, der Verschwörung und reaktionärer Anschläge bezichtigt werden. In vorrevolutionären Situationen agitieren wir dafür, daß die Soldaten Räte bilden und Delegierte zu den lokalen, regionalen und nationalen Räten der Arbeiter und Bauern schicken.

Solange jedoch die Polizei, die Gefängniswärter und die Armee unter dem ungebrochenen Kommando des bürgerlichen Staates bleiben, kommt es überhaupt nicht in Frage, ihren Gewerkschaften oder Organisationen Zutritt in die Reihen der Arbeiterbewegung einschließlich ihrer nationalen oder lokalen Gewerkschaftsverbände zu gewähren.

Im Kampf um die Zerstörung der bürgerlichen Streitkräfte gehen wir vom Grundsatz aus: Keinen Groschen, keine Person für dieses System! Wir verurteilen alle Arbeitervertreter, die für Militärbudgets oder Kriegskredite unter dem Vorwand der Verteidigung der Nation stimmen. Daraus folgt, daß wir gegen die Einberufung junger Arbeiter in das Heer der Bourgeoisie sind. Wir sind gegen die Einführung der Wehrpflicht und ihre Existenz. Aber wir sind dies nicht vom Standpunkt des Pazifismus aus. Wir sind für das Recht und die Möglichkeit aller, militärische Fertigkeiten zu lernen und Waffen zu tragen. Dies schließt das Recht der Frauen auf militärische Ausbildung in bürgerlichen Armeen ein. Nieder mit dem Monopol der Kapitalisten auf Gewaltmittel! Militärische Ausbildung sollte am Arbeitsplatz und in Gemeinschaften der Arbeiterklasse organisiert werden, unter Gewerkschaftskontrolle und in Verbindung mit Soldatenkomitees.

Wir unterstützen das Recht von einzelnen, sich zu weigern, zu den Streitkräften einberufen zu werden, aber solch einen Schritt zu propagieren, ist ein Akt von kleinbürgerlichem Pazifismus. Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen gehen in die Armeen, wo auch die Arbeiter zu finden sind, und arbeiten für die Revolution von innen her. Wo es Massenbewegungen gegen einen reaktionären imperialistischen Krieg gibt, die unter pazifistischer oder reformistischer Führung stehen, geben wir diesen kritische Unterstützung, insofern sie die Kriegsbemühungen behindern oder sabotieren. Aber wir betonen, daß Militärdienstverweigerungen die Bourgeoisie niemals ihrer bewaffneten Macht berauben werden.

Gegen bürgerlichen Militarismus, gegen imperialistischen Krieg!

Das Proletariat ist eine internationale Klasse, die keinerlei Interesse an der Verteidigung des bürgerlichen Nationalstaates hat. Deshalb müssen die Arbeiter und Arbeiterinnen in den imperialistischen Ländern in ihrem Defätismus unerschütterlich sein. Die leninistische Position, die zwischen 1914 und 1918 entwickelt wurde, behält vollständig ihre Gültigkeit. Revolutionärer Defätismus basiert auf dem Prinzip, daß der Hauptfeind der Arbeiterklasse die Bourgeoisie des eigenen Landes ist. Die Niederlage der „eigenen“ imperialistischen Bourgeoisie infolge des revolutionären Kampfs der Arbeiterklasse um die Macht ist ein geringeres Übel als ihr Sieg infolge von Klassenkollaboration und des Verzichts auf die proletarische Unabhängigkeit während des Krieges. Die Sozialchauvinisten, die Partei für den sozialen Frieden ergreifen, werden argumentieren, daß sich die Arbeiter und Arbeiterinnen während eines Krieges den Notwendigkeiten der „Nation“ beugen sollten, indem sie die Produktion beschleunigen und gesetzliche Beschränkungen des Streikrechts akzeptieren.

Wir müssen jedoch gegen eine Beteiligung der Arbeiterklasse an den Kriegsbemühungen kämpfen. Die Arbeiterorganisationen müssen den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln. Angesichts eines Krieges gegen eine Halbkolonie oder einen Arbeiterstaat müssen die Arbeiter dem Feind des Imperialismus Solidarität und Hilfe geben. In einem Konflikt mit einem Arbeiterstaat, egal wie degeneriert dieser ist und welche militärischen Waffen in diesem Konflikt angewendet werden (nukleare, biologische, chemische oder konventionelle Waffen), müssen ihn die Arbeiter gegen den imperialistischen Angriff verteidigen.

Außerhalb der imperialistischen Länder ist verallgemeinerter Defätismus nicht in jedem Konfliktfall die richtige Methode. Die konkreten Bedingungen werden verschieden sein, und die revolutionäre Avantgarde wird entweder für Defätismus oder für Verteidigung kämpfen müssen, was primär vom Charakter der kriegführenden Staaten abhängig ist. Innerhalb von Halbkolonien oder degenerierten Arbeiterstaaten, welche sich in Konflikt mit dem Imperialismus befinden, muß das Proletariat eine Verteidigungsposition beziehen. In Anbetracht von Kriegen zwischen Halbkolonien (Indien-Pakistan) oder zwischen degenerierten Arbeiterstaaten (China-Vietnam) sollten die Arbeiter auf beiden Seiten generell eine defätistische Position einnehmen, außer es ist der Fall, daß eine Seite ein Handlanger des Imperialismus ist und daß das internationale Proletariat durch den Sieg einer Seite gestärkt würde.

Das Proletariat verteidigt die Halbkolonien und Arbeiterstaaten nicht mit den gleichen Methoden wie die Bourgeoisie oder die Bürokratie. Die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse ist notwendig, um internationale Solidarität und die Niederlage der Imperialisten zu sichern. Selbst wo sich eine imperialistische Macht in einem militärischen Bündnis mit einem Arbeiterstaat befindet, behält das Proletariat in jenem imperialistischen Land seine defätistische Position bei und sollte unter keinen Umständen den Klassenkampf aussetzen. Nur wo die Fortführung einer bestimmten Aktion im Klassenkampf die Kriegsbemühungen des Arbeiterstaates direkt behindert, würde das Proletariat seine Aktion unterbrechen. Aber keinesfalls würde solch ein Ausnahmefall einen Aufschub der Politik des Defätismus in Bezug auf den imperialistischen Krieg und die kapitalistische Klasse signalisieren.

Die Existenz riesiger Arsenale atomarer Sprengköpfe, biologischer und chemischer Waffen, die in der Lage sind, die Menschheit mehrfach zu vernichten, erzeugen berechtigte Angst im Herzen von Millionen. Angesichts dieser Bedrohung predigen die sozialdemokratischen und stalinistischen Reformisten der Arbeiterklasse von weltweiter Abrüstung und der Verbannung des Krieges von der Erde. Es geht aber nicht abstrakt um die Frage der Abrüstung, sondern darum, wer entwaffnet werden soll und mit welchen Mitteln. Die Bourgeoisie wird nie kampflos ihre Waffen aufgeben. Sie muß vom revolutionären Proletariat gewaltsam entwaffnet werden. Indem versucht wird, die Arbeiter und Teile eben jener Bourgeoisie in einer Abrüstungskampagne zu vereinigen, wird die Illusion geschürt, daß die Herrschenden überzeugt werden könnten, jene Waffen aufzugeben, die sie zur Verteidigung ihres Monopols auf die Produktionsmittel besitzen. Tatsächlich gehen die ausgehandelten Abkommen zwischen den Imperialisten und den degenerierten Arbeiterstaaten, bestimmte Waffentypen zu reduzieren, Hand in Hand mit neuen Aufrüstungsrunden. Wie vor den beiden Weltkriegen können internationale Friedenskonferenzen ein Vorspiel des Krieges sein, indem sich jede Seite damit beschäftigt, propagandistische Schliche auszuarbeiten, welche die gegnerische Seite als den Feind des Friedens darstellen.

Wo immer jedoch die Pazifisten Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums in direkte Auseinandersetzungen führen, die das Militärprogramm der herrschenden Klasse untergraben, nehmen Revolutionäre und Revolutionärinnen an solchen Aktionen teil, während sie aber ihre vollständige Opposition gegen die utopische Politik der Pazifisten klarlegen und unser Übergangsprogramm mit Forderungen zu Krieg und Militarismus vorbringen.

Die Kriegsindustrie ist für die herrschende Klasse sehr profitabel. Wir kämpfen für die Veröffentlichung ihrer Geschäftsgeheimnisse, für die Beschlagnahme ihrer Militärprofite und für ihre Enteignung und Stellung der Produktionsmittel unter Arbeiterkontrolle. Indem die Bourgeoisie Kriegsvorbereitungen trifft, werden Geld und Leute in die Streitkräfte gepumpt. In Opposition zu ihren Rüstungsprogrammen fordern wir ein Programm nützlicher öffentlicher Arbeiten.

Sogar in Zeiten, in denen es keinen globalen Konflikt gibt, konstruieren die Imperialisten Pakte und Verträge zur Verteidigung ihrer Interessen und unterstützen sie durch die Androhung militärischer Intervention. Wir fordern die Auflösung aller imperialistischen Pakte und Verträge und ein Ende der Geheimdiplomatie. Alle Verträge und Abkommen sollten offengelegt und veröffentlicht werden.

Wir stellen die Forderung an die reformistischen bürgerlichen Arbeiterparteien, daß sie, wenn sie in der Regierung sind, Forderungen durchsetzen, die im Interesse jener Klasse sind, die sie zu vertreten beanspruchen. Wir verlangen den Rückzug aus NATO, ANZUS, SEATO, die Ablehnung der Militärbudgets und die Weigerung, Waffengewalt gegen die Arbeiter und unterdrückten Völker anzuwenden. Sie müssen die Forderung nach vollen demokratischen Rechten für Soldaten unterstützen, das Recht auf Gründung von Soldatenkomitees und -gewerkschaften anerkennen und Arbeiterinspektionen und -kontrollen der Kasernen unterstützen, die allgemeine Wehrpflicht abschaffen und das Recht der Arbeiter auf Bildung von Selbstverteidigungsorganisationen befürworten. Wir müssen den progressiven Wunsch der Arbeiter nach Frieden verwenden, um für solche Forderungen innerhalb der Arbeiterbewegung zu kämpfen, zugleich aber beharrlich vor der bankrotten Strategie des Pazifismus warnen. Der einzige Weg, die schreckliche Barbarei eines Atomkriegs zu verhindern, ist die internationale sozialistische Revolution.

Bürgerliche Demokratie und demokratischen Forderungen

Solange die soziale und politische Stabilität aufrechterhalten werden kann, ist die bürgerliche Demokratie die bevorzugte Herrschaftsform in den imperialistischen Ländern. Sie ist die spezifische Herrschaftsform, welche die Bourgeoisie in ihrer revolutionären Epoche als Mittel zur Gewinnung der Massen im Kampf gegen den Feudalismus, und um sich selbst politisch gegen die feudalen Stände zu konsolidieren, entwickelte. Mit dem Parlament wird eine demokratische Fassade errichtet, um die tatsächliche Diktatur der Bourgeoisie zu verbergen. Mittels der parlamentarischen Demokratie wirft die Bourgeoisie der Arbeiterklasse kleine Brocken hin, gewährt ihr das Recht, von Zeit zu Zeit zu wählen, und gliedert ihre Führung in die Verwaltung des bürgerlichen Staates ein. Durch die Medien und die Presse haben die Kapitalisten eine mächtige Propagandamaschinerie zur Verfügung, die imstande ist, für ganze Perioden die Massen zu täuschen und sie an die Illusion zu binden, daß unter diesem System das Volk herrsche.

Aber hinter der Fassade liegt die Realität der kapitalistischen Staatsmacht – die Exekutive: die ungewählte (oder, wenn sie gewählt ist, die nicht rechenschaftspflichtige) Richterschaft und Bürokratie, die Polizei und die Streitkräfte. Sobald die Kapitalisten meinen, daß ihr Eigentum oder ihre Herrschaft durch die Arbeiterklasse streitig gemacht wird, wird die volle Wucht des Repressionsapparats ins Spiel gebracht. Die Reformisten in der parlamentarischen Quatschbude sehen ohnmächtig zu, wenn Polizei und Armee Streikpostenketten durchbrechen und die Richter Gewerkschafter inhaftieren. Selbst wenn eine reformistische Mehrheit im Parlament versucht, die schwächlichsten Reformen im Interesse der Arbeiter und Arbeiterinnen durchzusetzen, wird sie von der Staatsbürokratie sabotiert, verwenden die Wirtschaftsmagnaten ihre finanzielle Kontrolle, um die Reformisten zu bescheidenem Gehorsam zu zwingen, und warten die Sicherheitsdienste und Streitkräfte jederzeit hinter den Kulissen, bereit einzugreifen, sollten die Dinge außer Kontrolle der Herrschenden geraten. Und in jeder bürgerlichen Demokratie werden in der Gestalt von Monarchen oder Präsidenten die potentiellen Instrumente einer bonapartistischen Herrschaft bewahrt.

Im imperialistischen Südafrika existiert die parlamentarische Herrschaftsform nur für die weiße Minderheit. Der Masse der Bevölkerung, den Schwarzen, werden die meisten elementaren demokratischen Rechte verweigert, und sie werden von einer unbarmherzigen Diktatur beherrscht. Unter Umständen wie diesen kann der Kampf der Arbeiterklasse für demokratische Rechte, selbst wenn diese an die bürgerliche Demokratie angeschlossen sind, als Sprengsatz für den revolutionären Kampf dienen. Aber während eine solche Revolution als demokratische beginnen kann, erfordert ihr Sieg ihre Umwandlung in eine sozialistische Revolution.

Die strategische Aufgabe der revolutionären Avantgarde besteht in der Zerstörung aller Formen bürgerlicher Herrschaft, einschließlich ihrer demokratischen Form. Zu diesem Zweck bemühen wir uns, die parlamentarische Attrappe vor der Arbeiterklasse zu entlarven und Organisationen proletarischer Demokratie zu schaffen. Allerdings wurden die gesetzlichen Rechte, welche die Arbeiterklasse in der bürgerlichen Demokratie erreichen konnte, den Herrschenden in Kämpfen abgerungen und stellen Errungenschaften dar, die gegenüber Angriffen von seiten der Kapitalistenklasse verteidigt werden müssen. Die wiederkehrenden Krisen der gegenwärtigen Periode zwingen die Kapitalisten, die von den Arbeitern erreichten demokratischen Rechte in Frage zu stellen. In der imperialistischen Epoche besteht immer eine Tendenz zur Negation der bürgerlichen Demokratie und ihrer Ersetzung durch bonapartistische, offen diktatorische Herrschaftsformen.

Diese Tendenz wird in allen imperialistischen Kernländern heftiger. Gewerkschaftsfeindliche Gesetze, die Beschneidung der Redefreiheit, die Fähigkeit, Gesetze mittels einer völligen Umgehung des Parlaments einzuführen, die Stärkung des Repressionsapparates; all dies stellt eine embryonale Form des Bonapartismus dar. In allen solchen Fällen kämpfen Revolutionäre für die Verteidigung der von der Arbeiterbewegung erreichten grundlegenden Rechte in der bürgerlichen Demokratie: das Streikrecht, die Redefreiheit, Zugang zu den Medien, das Recht auf Versammlung und Bildung von Vereinigungen. Mehr noch, wir verteidigen die parlamentarische Demokratie, wenn sie vom Bonapartismus bedroht wird und wo wir sie noch nicht durch proletarische Demokratie ersetzen können. Wir machen das nicht als Selbstzweck, sondern als ein Mittel, die gesetzlichen Rechte der Arbeiterklasse auf Organisierung zu bewahren und ihren Kampf gegen die Ausbeuter fortzusetzen.

Wir bekämpfen die „Mini-Apartheid“-artigen Beschränkungen der demokratischen Rechte, die überall in der Welt den immigrierten Arbeiter und Arbeiterinnen auferlegt werden. Diese Beschränkungen sind Mittel, um die Überausbeutung dieser Immigranten und die Spaltung der Arbeiterklasse eines Landes entlang rassischer oder nationaler Linien zu erleichtern. Indem wir uns auf die Prinzipien des revolutionären Internationalismus stellen, kämpfen wir für das Recht auf völlige Bewegungsfreiheit der Arbeiterschaft – gegen alle von den imperialistischen Ländern auferlegten Einwanderungs- und Auswanderungskontrollen, für das Recht aller Arbeiter und Arbeiterinnen auf volle demokratische Rechte, einschließlich des Wahlrechtes in dem Land, in dem sie leben und arbeiten. In den Halbkolonien sind wir gegen alle Einwanderungskontrollen und kämpfen für diese demokratischen Rechte, außer im Falle kolonialer Ansiedelungen. Wir sind gegen jegliche Nationalitätengesetzgebung, welche als Mittel zur Verfolgung und Unterdrückung der immigrierten Arbeiter und Arbeiterinnen dient.

Im Kampf um die Erreichung oder Verteidigung demokratischer Rechte wendet das Proletariat die Methoden des Klassenkampfes an. Das Streikrecht zum Beispiel wird in jenem Ausmaß erreicht und verteidigt, als die Arbeiterklasse bereit ist, die Waffe des Streiks im Kampf zu verwenden. Der Widerstand gegen die Einschränkung unserer Rechte, die Weigerung, sich vor dem kapitalistischen Klassengesetz zu beugen, die Bereitschaft zur Verwendung aller proletarischen Kampforganisationen und Kampfmethoden auf politischem Gebiet, das den Kampf für Wahlrecht einschließt; dies sind die nötigen Methoden, welche sicherstellen, daß die Arbeiterklasse aus dem Kampf für demokratische Rechte profitiert. Wie in allen Kämpfen wird die Opferung der unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse im Interesse einer Einheit mit „progressiven“ oder „demokratischen“ bürgerlichen Kräften fatal für das Proletariat und seinen Kampf für die sozialistische Revolution sein.

Unter Bedingungen einer tiefen sozialen Krise kann sich die Bourgeoisie, um ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse zu erhalten, einer faschistischen Bewegung zuwenden. Faschismus, eine reaktionäre Massenbewegung, welche sich hauptsächlich aus den Reihen des durch die Krisen des Kapitalismus zur Verzweiflung gebrachten Kleinbürgertums und Lumpenproletariats rekrutiert, hat die Zerstörung der unabhängigen Arbeiterbewegung und die Errichtung der durch keinerlei Elemente bürgerlicher Demokratie gehemmten Herrschaft des Finanzkapitals zum Ziel. Er ist der letzte Ausweg für die Bourgeoisie, nachdem sie in die Abschaffung ihrer eigenen parlamentarischen Vertretungen verwickelt wurde. Trotzdem, wie Nazi-Deutschland und Mussolini-Italien zeigen, ist er eine Maßnahme, die ergriffen wird, wenn die Situation es erfordert.

In den halbkolonialen Ländern kann sich der Faschismus als eine Bewegung entwickeln, die aus kommunalen Konflikten oder reaktionären klerikalen Bewegungen entsteht. Die Phraseologie solcher Bewegungen kann zeitweise antiimperialistisch sein. Aber dies sollte uns gegenüber dem antikommunistischen und arbeiterfeindlichen Charakter solcher Bewegungen nicht täuschen. Diese Rhetorik ist von derselben Beschaffenheit wie der demagogische Antikapitalismus der Nazis. Durch den Triumph eines Kommunalismus oder klerikalen Faschismus in den Halbkolonien wird die Herrschaft des Imperialismus aufrechterhalten oder sogar gestärkt werden.

Vom Augenblick des Entstehens dieses Faschismus an muß die Arbeiterklasse einen unbarmherzigen Kampf führen, um ihn zu zerschlagen. Auch wenn er seine allgemeineren Ziele verbirgt und sich darauf konzentriert, die giftigen Dämpfe des Rassenhasses zu verbreiten, muß zu seiner Bekämpfung die Arbeitereinheitsfront organisiert werden. Den Faschisten können keine demokratischen Rechte (wie z.B. Rede-, Presse- und Organisationsfreiheit) zugestanden werden. Indessen stellen wir nicht die Forderung auf, sie durch den bürgerlichen Staat verbieten zu lassen. Da die Bourgeoisie die eigentliche Stütze der Faschisten ist, kann ihr diese Aufgabe nicht anvertraut werden. Der Staat würde in Wirklichkeit die Verbote zur Entwaffnung und Behinderung des antifaschistischen Widerstandes verwenden. Die revolutionäre Avantgarde mobilisiert die Arbeiterklasse um die Slogans: Keine Plattform für Faschisten, werft die Faschisten aus den Arbeiterorganisationen hinaus. Wir setzen uns für eine physische Bekämpfung aller ihrer Mobilisierungen ein und organisieren Arbeiterverteidigungseinheiten, um faschistische Angriffe auf rassisch Unterdrückte und die Arbeiterbewegung zurückzuschlagen.

Der Kampf zur Verteidigung der demokratischen Rechte der Arbeiter und gegen den Faschismus bildet in keiner Weise eine vom gesamten Übergangsprogramm abgesonderte und getrennte Reihe von Aufgaben. Der Kampf gegen Bonapartismus und Faschismus kann schließlich nur gewonnen werden durch die Verwirklichung des Programms von Übergangsforderungen in ihrer Gesamtheit.

Wahltaktik

Die Arbeiterklasse kann die Macht nicht durch Parlamente und Wahlen erreichen. Es ist die Pflicht der Revolutionäre, den parlamentarischen Kretinismus erbarmungslos zu entlarven ohne dem wahlfeindlichen Kretinismus der Anarchisten nachzugeben. Revolutionäre benützen Parlamente als Tribünen, um die Massen anzusprechen. Diese bieten die Gelegenheit, wesentliche Punkte des kommunistischen Aktionsprogramms in Form allgemeiner Propaganda zu präsentieren.

Die beste Methode, diese Propagandamöglichkeit zu nutzen, ist es, Kandidaten der revolutionären Partei auf Basis ihres Programms aufzustellen. Wenn eine revolutionäre Kandidatur unmöglich ist, ist es zulässig, einer reformistischen oder zentristischen Partei, die organisch mit einem großen Teil der proletarischen Avantgarde oder der Volksmassen im allgemeinen verbunden ist, kritische Wahlunterstützung zu gewähren. Das Ziel der Wahl ist es, diesen Schichten zu sagen: Wir werden für eure Partei stimmen, trotz unseres völligen Fehlens an Vertrauen in ihre Führer und in ihr Programm, um euch zu helfen, ihre Handlungen, in und außerhalb der Regierung, zu testen. Wir fordern euch auf dafür zu kämpfen, daß eure Führer Maßnahmen setzen, die eindeutig im Interesse der Arbeiter sind, und daß sie mit der Bourgeoisie brechen. Diese Taktik erfordert es von Revolutionären und Revolutionärinnen, vollständige Kritik an Reformismus und Zentrismus, am Parlamentarismus, aber auch an der verräterischen Vergangenheit der jeweiligen Partei zu üben.

Wo nur klassenfremde Parteien oder hoffnungslos unbedeutende, reformistische oder zentristische Sekten bei den Wahlen antreten, sind wir verpflichtet, klassenbewußte Arbeiter dazu aufzurufen, „weiß“ zu wählen. Dies darf nicht mit einem Wahlboykott verwechselt werden, der als Taktik nur zulässig ist, wenn der revolutionäre Kampf der Arbeitermassen die Frage des Umsturzes des Parlaments als unmittelbare Perspektive stellt.

Die Arbeiter- und Bauernregierung und die Diktatur des Proletariats

Das strategische Ziel des Kampfes des Proletariats ist der Übergang zum Kommunismus. Um diesen Übergang zu verwirklichen, muß das Proletariat seine eigene Diktatur errichten. Wenn das Proletariat einmal die Staatsmacht errungen hat, kann es, wie es Anarchisten anstreben, nicht sofort auf diese verzichten. Auf nationaler und internationaler Ebene wird sich die Bourgeoisie verschwören und versuchen, die Konterrevolution zu organisieren. Die Arbeiterklasse ist verpflichtet, ihren Willen der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen, um die Revolution zu verteidigen und den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen. Sie übt ihre Klassendiktatur auf Basis ihrer eigenen – eindeutig proletarischen – Demokratie (Arbeiterräte, Fabrikkomitees, Arbeitermilizen) offen aus. Sie zentralisiert diese Demokratie in einer nationalen Regierung, einer revolutionären Arbeiter- oder Arbeiter- und Bauernregierung. Die einzige konsequent revolutionäre Arbeiter- oder Arbeiter- und Bauernregierung ist die, welche die Diktatur des Proletariats ausübt.

Dennoch treten in der Übergangsperiode Krisen auf, welche die Machtfrage für das Proletariat stellen, bevor seine Mehrheit für die revolutionäre Partei gewonnen wurde. In diesen Situationen erwartet die Arbeiterklasse selbstverständlich von ihrer aktuellen Führung, falls diese an der Regierung ist, die Erlassung eines Programms in ihrem Interesse.

Unter solchen Umständen benutzten die Bolschewiki – und entwickelte die Komintern – die Losung der Arbeiter- sowie Arbeiter- und Bauernregierung. Das wesentliche an der Taktik der Bolschewiki in Bezug auf die provisorische Regierung war es, von den kleinbürgerlichen Führern der Arbeiter (Menschewiki) und der Bauern (Sozialrevolutionäre) zu verlangen, mit der Bourgeoisie zu brechen und in den Kampf für eine wirkliche Arbeiter- und Bauernregierung einzutreten.

Revolutionäre und Revolutionärinnen verlangen nicht nur einen formalen Bruch mit den bürgerlichen Parteien, die an der Regierung sind, sondern auch, daß die Führer der Arbeiter und Arbeiterinnen sofortige Maßnahmen zur Lösung der Krise auf Kosten der Bourgeoisie durchführen. Dies muß die sofortige Enteignung von imperialistischem Besitz und der großen Kapitalisten unter Arbeiterkontrolle einschließen, ebenso wie die Beschlagnahmung des Großgrundbesitzes, die sofortige Bewaffnung der Arbeiterorganisationen und die Entwaffnung der bürgerlichen Konterrevolution. Es muß der gesamte staatliche Repressionsapparat, der gegen Arbeiter- und Bauernorganisationen eingesetzt wird, aufgelöst und die Autorität aller Organisationen der Arbeiter- und Bauerndemokratie anerkannt werden. Auf dem Weg zu solch einer Regierung bietet die Arbeiterklasse allen ihre revolutionäre Hilfe gegen Angriffe der Imperialisten und der Bourgeoisie unter Beibehaltung ihrer Unabhängigkeit an, ohne jedoch politische Verantwortung für solch eine Regierung zu übernehmen, deren Mehrheit nicht aus Revolutionären besteht.

Die Erfahrung von 1917 hat gezeigt, daß die Weigerung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, einem solchen Weg zu folgen, keine Ausnahme war. Alle späteren Erfahrungen bestätigen dies. Die heutigen Führer der Arbeiter und der Bauern tun ihr möglichstes, um – entweder durch Volksfronten oder durch bürgerliche Arbeiterregierungen – den Kapitalismus vor dem Untergang zu retten. Die Ereignisse in Frankreich und Spanien in den dreißiger, in Bolivien in den fünfziger und achtziger Jahren und heute in Nicaragua bezeugen diese Tatsache.

Die heutigen Zentristen haben sich den Stalinisten in deren opportunistischer Entstellung der Losung der Arbeiter- und Bauernregierung angeschlossen. Während die Stalinisten Lenins aufgegebene Formel von der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ in den zwanziger Jahren wiederbelebten, indem sie diese zu einer notwendigen bürgerlichen Stufe der Revolution erklärten, tat das heutige Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VS) dasselbe mit Trotzkis Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“. In Algerien und Nicargua wurden kleinbürgerlich-nationalistische Regierungen, die nicht einen Schritt zum Bruch mit der Bourgeoisie getan hatten, zu „revolutionären Arbeiter- und Bauernregierungen“ erklärt, die der politischen Unterstützung wert seien.

Verschiedenartige Strömungen des zentristischen „Trotzkismus“ (z.B. die Lambertisten in Frankreich und Portugal in den siebziger und achtziger Jahren) bezeichnen Regierungen, die von Arbeiterparteien (Sozialdemokraten und Stalinisten) gebildet werden, als „Arbeiterregierungen“. Das ist ein betrügerischer und opportunistischer Gebrauch dieser Losung. Nur wenn eine Regierung von Arbeiterparteien durch die Massen in einen wirklichen Kampf gegen die bürgerliche Ordnung getrieben wird und gezwungen ist, sich auf die Massenorganisationen auf eine Art und Weise zu stützen, sodaß dies deren Bewaffnung beinhaltet, kann sie als revolutionäre Arbeiterregierung gesehen werden.

Trotz der opportunistischen Verzerrung der Arbeiter- und Bauern- Regierungslosung bleibt sie eine entscheidende Waffe bei der Erziehung und die Vorbereitung der Massen für bzw. auf die Macht. Wir benutzen sie, um Forderungen an die Führung der Arbeiterklasse zu stellen und um den Anhängern dieser Führung zu zeigen, daß diese es ablehnt, mit der Kapitalistenklasse zu brechen. Diese Losung beinhaltet die Möglichkeit, die reformistischen und kleinbürgerlich-nationalistischen Parteien zu spalten, die Basis und die besten Führer für einen wirklichen Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus zu gewinnen.

Diese Losung ist notwendigerweise abstrakt, da jede Krisensituation von der anderen verschieden ist und unterschiedliche Führungen an die Macht bringt. Das heißt, daß die tatsächliche Zusammensetzung solch einer Regierung nicht vor dem konkreten Kampf fixiert werden kann. Wenn eine Arbeiterregierung entsteht, die nicht die direkte Diktatur des Proletariats darstellt, wäre sie lediglich eine Regierung des Bürgerkrieges gegen die Kapitalistenklasse. In Konfrontation mit der Bourgeoisie muß sie entweder zurücktreten oder sich als zeitlich begrenzte Brücke zu dieser Diktatur erweisen. Auf keinen Fall ist die Arbeiterregierung, in Einheitsfrontform, eine historisch notwendige Stufe, die vor der Errichtung der Diktatur des Proletariats durchlaufen werden muß.

Trotzki postulierte im Übergangsprogramm die theoretische Möglichkeit, daß in einer außergewöhnlichen revolutionären Krise die traditionellen Führungen dazu gezwungen werden, weiter zu gehen, als sie eigentlich wollten, das heißt, mit der Bourgeoisie zu brechen und eine Arbeiterregierung zu etablieren. In der Geschichte hat sich diese Möglichkeit mehrere Male praktisch bewiesen, allerdings immer mit konterrevolutionärem Ergebnis.

Die Stalinisten stürzten unter außergewöhnlichen Umständen in Osteuropa, China, Indochina und Cuba den Kapitalismus. Die Werkzeuge dieser sozialen Umstürze waren bürokratische Arbeiterregierungen. Diese hatten nichts gemeinsam mit einer revolutionären Arbeiterregierung, welche den Weg zum Kampf für den Sozialismus öffnet. Obwohl die bürokratischen Arbeiterregierungen den Kapitalismus beseitigten, geschah dies in konterrevolutionärer Form. Bevor die Bourgeoisie enteignet wurde, erstickten die Stalinisten alle unabhängigen Organe der Arbeiterdemokratie, um die Etablierung ihrer eigenen bürokratischen Kastenherrschaft zu sichern.

Die Pflicht des Proletariats unter solchen Umständen ist es, nicht die Enteignung der Kapitalisten aufzuhalten, sondern die bürokratische Form der Durchführung zu bekämpfen. Indem der Kampf für proletarische Demokratie in den Vordergrund gestellt und die Forderung an die Stalinisten gerichtet wird, das Regime der Arbeiterkontrolle in den Fabriken anzuerkennen, und indem weiters die Bewaffnung der Massen und die Auflösung der stalinistisch kontrollierten Sicherheitskräfte gefordert wird, können die Massen dazu organisiert werden, den Prozeß der Enteignung fortzusetzen und gleichzeitig das geplante konterrevolutionäre Resultat zunichtezumachen: nämlich die Entstehung eines degenerierten Arbeiterstaates, der den Weg zum Sozialismus versperrt.

Arbeiterräte und der Kampf für die Macht der Arbeiterklasse

Die krönende Losung des Übergangsprogramms ist die Forderung nach Sowjets – oder auf Deutsch nach Arbeiterräten. Ist das Fabrikkomitee das Organ der Doppelmacht in der Fabrik, so ist der Arbeiterrat, koordiniert auf nationaler Ebene, das Organ der Doppelmacht in der ganzen Gesellschaft. Solche wirklichen Arbeiterräte entstehen auf lokaler und nationaler Ebene, wenn die Gesellschaft in eine revolutionäre Krise eintritt, wenn die Massen über die Grenzen ihrer traditionellen Organisationen hinauswachsen und revolutionäre Organisations- und Kampfformen anwenden. Eine revolutionäre Krise entsteht, wenn die Gesellschaft eine Sackgasse erreicht: Die Bourgeoisie ist gespalten und von Regierungskrisen heimgesucht, die Massen sind nicht mehr bereit das alte Regime zu tolerieren, und demonstrieren wiederholt ihren Willen und die Bereitschaft, alles zu opfern, um den Kapitalismus zu besiegen.

In der Geschichte des Kapitalismus hat es eine Reihe von revolutionären Perioden gegeben, bestehend aus einer ausgedehnten Kette von ökonomischen und politischen Krisen, die nur durch die grundlegende Niederlage einer der konkurrierenden Klassen gelöst hatten werden können. Danach erlaubten radikal neue ökonomische und politische Kräfteverhältnisse eine Stabilisierung und die weitere Entwicklung des Kapitalismus. Perioden revolutionärer Krisen erfassen ein Land, einen Kontinent oder die ganze Welt. Sie sind verschieden in Länge und Tiefe, wobei die tiefgreifendsten mit Kriegen, erfolgreichen Revolutionen oder Konterrevolutionen verbunden sind.

Eine revolutionäre Situation kann aus mehreren kürzeren Phasen oder Situationen bestehen. Eine vorrevolutionäre Situation besteht, wenn eine tiefgehende ökonomische Krise massive Inflation (oder Deflation), Arbeitslosigkeit und Bankrotte nach sich zieht. Durch diese Katastrophen zeigt sich der todkranke Charakter des kapitalistischen Systems für Millionen. Eine vorrevolutionäre Situation kann auch durch eine militärische Niederlage, wie in Rußland 1905, entstehen. Solche Krisensituationen tendieren dazu, politische Krisen zu produzieren, die die Bourgeoisie dazu zwingen, entweder zu autoritäreren Regierungsmethoden Zuflucht zu nehmen oder die Führer der Arbeiter darin einzubinden, die Krise auf Kosten der Arbeiterklasse zu lösen. Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse darüber, welcher Kurs einzuschlagen sei, geben dem Proletariat einen zusätzlichen Impuls, im allgemeinen und in den politischen Formen des Kampfes immer militanter zu werden. Eine revolutionäre Situation ist die Folge.

In einer vorrevolutionären Situation ist es die zentrale Aufgabe der revolutionären Partei, die allgemeinsten Losungen des politischen Klassenkampfes (Generalstreik, Arbeiterselbstverteidigung, der Aufbau von embryonalen Arbeiterräten, wie z.B. Aktions-, Streik- oder Einheitsfrontkomitees) aufzustellen. In einer revolutionären Situation ist es zentral, all diese Organe in voll ausgeformte Arbeiterräte umzuwandeln: Der direkte Kampf um die Macht kann nicht mehr länger verschoben werden. Wenn die Arbeiterklasse darin versagt, eine erfolgreiche Revolution durchzuführen, wird die Konterrevolution entweder in Form einer Diktatur (faschistisch oder bonapartistisch) über die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten oder in der mehr beschränkten Form der „demokratischen Konterrevolution“ triumphieren. Letztere beläßt eine bürgerlich-demokratische Verfassung mehr oder weniger in Kraft und überläßt die revolutionäre Avantgarde dem Terror von Militär, Polizei und Justiz.

Diese Konterrevolutionen beenden eindeutig die revolutionäre Periode. Was folgt, kann sich als langandauernde Periode der Konterrevolution herausstellen, wie sie etwa den Niederlagen der Arbeiter in Deutschland 1933 oder der chilenischen Arbeiter 1973 folgte. Auf der anderen Seite kann eine nichtrevolutionäre Periode auftreten, eine Periode sozialer Stabilisierung, wenn eine tiefgreifende Erholung von der ökonomischen und politischen Krise auftritt. Trotzdem: Wo fundamentale Widersprüche, die die Revolution haben aufbrechen lassen, fortdauern und wo die Arbeiterklasse nicht eine Niederlage von historischem Ausmaß erlitten hat, kann eine zwischenrevolutionäre Periode auftreten, bevor der Kampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie erneut losbricht. Das Erkennen dieser Änderungen von Perioden kann entscheidend sein für das Wachstum oder gar das Überleben einer revolutionären Partei. Es ist lebenswichtig, die geeigneten legalen oder illegalen Taktiken und Methoden der Organisation zu ergreifen und zum richtigen Zeitpunkt in die Defensive oder in die Offensive zu gehen.

Rußland im Februar 1917, Deutschland 1918, Spanien in den dreißiger Jahren und viele andere Beispiele zeigen deutlich auf, daß, falls das Proletariat es schafft, seine eigenen bewaffneten Kräfte aufzubauen, ohne gleichzeitig die bewaffneten Kräfte der Bourgeoisie total zu zerstören, es zu einer Situation der Doppelmacht kommt, in welcher sich zwei Regime verschiedener Klassen gegenüberstehen. Diese Situation der Doppelmacht ist in ihrem Wesen instabil. Sie kann nur – egal für welchen Zeitraum – existieren, wenn die bewaffneten Kräfte der Arbeiter stark sind und die Bourgeoise die Kontrolle über wesentliche Sektoren ihrer bewaffneten Kräfte verloren und Angst vor der endgültigen Konfrontation hat.

Ansonsten kann Doppelmacht nur für längere Zeit andauern, wenn die reformistische oder zentristische Führung des Proletariats zaudert und schwankt, wenn sie mit der Aufgabe der Führung des Kampfes, der auf die endgültige Entscheidung hinsteuert, konfrontiert ist. Solche Kräfte innerhalb der Arbeiterbewegung versuchen, entweder die Doppelmacht im Sinne eines „legitimen“ (bürgerlichen) Staates zu lösen oder einen Staat mit dauerhaftem Doppelmachtcharakter zu begründen. Dieses Konzept, welches dahin strebt, einen „Zwitterstaat“ mit Parlament parallel zu Arbeiterräten zu etablieren, ist immer zum Scheitern verurteilt (Deutschland 1918-23), da es das Unvereinbare zu vereinigen versucht. Die Versuche von linken Reformisten oder Zentristen, Arbeiterräte mit parlamentarischer Demokratie zu „kombinieren“, laufen einfach darauf hinaus, den revolutionären Kampf der Massen zu demobilisieren.

Wenn eine Situation der Doppelmacht auch ein enormer Schritt vorwärts ist, verglichen mit der unbestrittenen Ordnung der Bourgeoisie, so ist sie dennoch weder eine unvermeidliche Phase noch ein strategisches Ziel für sich selbst. Unser Ziel ist die vollständige Vernichtung des bürgerlichen Staates, und wir streben danach, die Doppelmacht durch die Diktatur des Proletariats als Ergebnis einer bewaffneten Erhebung zu ersetzen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die revolutionäre Partei die Führung in den Arbeiterräten erringt. Nur dann kann die Losung „Alle Macht den Arbeiterräten!“ tatsächlich verwirklicht und die Konterrevolution besiegt werden.

Embryonale Arbeiterräte können sich aus verschiedenen Organisationsformen entwickeln – aus revolutionierten Gewerkschaften, aus Fabrikkomitees oder aus Aktionskomitees, die um Teilkämpfe herum aufgebaut wurden. Obwohl wir der Frage der Form keine übergroße Bedeutung zumessen, bestehen wir darauf, daß es keinen Ersatz für jene Kampforgane gibt, die das Wesen der Arbeiterräte zum Ausdruck bringen. Wir trachten danach, die verschiedenen embryonalen Formen von Arbeiterräten so weiterzuentwickeln und anzuleiten, daß sie zu tatsächlichen Arbeiterräten werden. Fabrikkomitees und -gewerkschaften, egal wie radikal sie sind, können aus sich selbst heraus nicht als Arbeiterräte dienen. Die Gründe dafür sind im Charakter der Arbeiterräte selbst angelegt.

Arbeiterräte sind nicht fabrik- oder industriespezifisch. Tatsächlich sind sie zentrale Mittel, um Teile der Gesellschaft, wie etwa die arme Landbevölkerung und die einfachen Soldaten, für die Sache des Proletariats zu organisieren und zu gewinnen. Alle, die sich im Kampf befinden, sind in diesen Räten vertreten. Sie setzen sich aus Delegierten der Fabriken, der Gewerkschaften, von allen Arbeitsplätzen, Arbeiterbezirken, von Bauernkomitees und den Arbeiterparteien zusammen. Sie durchbrechen sektorale Barrieren und ersetzen diese durch eine klassenweite kämpferische Einheit. Sie haben territorialen Charakter, durch welchen alle Ausgebeuteten und Unterdrückten in einer Stadt oder einer Region einbezogen werden. Durch regelmäßige Wahlen und die jederzeitige Abberufbarkeit wird die demokratischste Form repräsentativer Organisation der Arbeiter, die die Geschichte je gesehen hat, erzeugt. Frei von vorher bestehenden bürokratischen Apparaten, sind sie unmittelbar empfänglich für die Änderungen in der Stimmung, die politischen Ansichten und die Militanz der Massen. Arbeiterräte sind das sicherste Entscheidungsmittel über den tatsächlichen, momentanen Willen des kämpfenden Proletariats.

Aufgrund dieser Eigenschaften eignen sich Arbeiterräte außergewöhnlich gut für den revolutionären Kampf. In Perioden sozialen Friedens aber kann ein Arbeiterrat keine dauerhafte Organisation sein. Er lebt und atmet durch den täglichen Kampf mit der Bourgeoisie, beobachtet jede ihrer Bewegungen, organisiert Widerstand gegen jede ihrer Attacken, kämpft für die Interessen der Massen, die er vertritt, und hebt das kämpferische Selbstvertrauen der Massen mit jedem Sieg. Keine andere Organisationsform ist im Durchführen der notwendigen taktischen Manöver im revolutionären Kampf mit der Bourgeoisie so flexibel wie der Arbeiterrat.

Zuletzt, aber keinesfalls am unwichtigsten, sind Arbeiterräte die Basis für die Verwaltung des zukünftigen Arbeiterstaates. Sie sind Organe der Macht der Arbeiterklasse. Ebenso wird die Arbeitermiliz vom Werkzeug des Aufstandes in die Bastion zur Verteidigung des Arbeiterstaates gegen die Konterrevolution verwandelt. Jede revolutionäre Situation hat bewiesen, daß die Arbeiterklasse nicht einfach die existierende Staatsmaschinerie beibehalten und dazu benützen kann, um den Sozialismus aufzubauen. Neue proletarische Organisationen müssen den Platz des kapitalistischen Staates einnehmen. Die Arbeiterräte, welche in Situationen der Doppelmacht dazu gezwungen sind, die Kontrolle über Produktion, öffentliches Leben und Verteilung auszuüben, sind ideal dafür geeignet, die Leitung des Arbeiterstaates zu übernehmen. Sie sind beides: revolutionäre Werkzeuge im Kampf um die Macht und revolutionäre Organe der Machtausübung. Bis jetzt hat niemand eine Form der Organisation gefunden, die sich besser für diese Zwecke eignen würde. Versuche, Ersatz für Arbeiterräte zu finden, führten ausnahmslos zu opportunistischen Fehlern.

Der Aufstand

Die Aufgabe der revolutionären Partei in den Arbeiterräten ist es, alle Kämpfe auf das Ziel der Zerschlagung des kapitalistischen Staates hin zu vereinigen. Der Generalstreik und der bewaffnete Aufstand sind Schlüsselwaffen, um dieses Ziel zu erreichen. Aufstände haben sich auch ohne Generalstreik als erfolgreich erwiesen (wie in Petrograd, Oktober 1917), aber der Generalstreik ist unter vielen Umständen eine revolutionäre Schlüsselmethode des Kampfes, da er die gesamte Maschinerie des kapitalistischen Feindes und seines Staates lähmt. Er stellt die Frage: Wer regiert die Gesellschaft, die Kapitalisten, die die Produktionsmittel besitzen, oder die Arbeiter, die sie am Laufen erhalten? Er setzt den Kampf um die Macht auf die Tagesordnung. Aber aus sich selbst heraus kann eine massenhafte Arbeitsniederlegung die Frage, wer regiert, nicht beantworten. Daher muß ein Generalstreik den Weg zum bewaffneten Aufstand vorbereiten.

Die Geschichte hat gezeigt, daß das Proletariat der Bourgeoisie die Staatsmacht nur durch gewaltsame Mittel entreißen kann. Natürlich wird das notwendige Ausmaß an Gewalt, abhängig von der Verteilung der Kräfte am Vorabend des Aufstandes, verschieden sein. Es wird teilweise davon abhängen, in welchem Ausmaß die bewaffneten Kräfte für die Sache des Proletariats gewonnen werden konnten. Wie auch immer: Die Arbeiterklasse muß damit rechnen, dem maximalen Widerstand der Kapitalisten zu begegnen, und sie muß deshalb auch ihre eigenen Kräfte zu maximieren versuchen, um dem Widerstand entgegenwirken und ihn zerstören zu können. Ohne revolutionäre Situation, in welcher die Massen vollständig hinter der revolutionären Partei stehen, wird ein Aufstand, der von einer revolutionären Minderheit geführt wird, ein abenteuerlicher Putsch sein und zu Rückschlägen für den revolutionären Kampf führen. Wenn das neue Regime, das durch den Aufstand geschaffen wird, stabil und dauerhaft sein soll, muß die Partei bereits die Mehrheit der organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen der großen Städte und der Ortschaften gewonnen haben.

Aufstände hat es, historisch gesehen, in zwei Formen gegeben. Die eine ist die „Februarrevolution“ (Frankreich 1848, Rußland 1917), in der spontane Massenerhebungen gegen ein diktatorisches Regime stattfinden und wo keine dominante bewußt-revolutionäre Partei die Massen führt. Hier kann das Resultat ein demokratisch-bürgerliches Regime sein, eine Situation der Doppelmacht oder, in seltenen und nur ausnahmsweisen Umständen, ein Triumph der Arbeiter und Arbeiterinnen, wie etwa die Pariser Kommune, unter einer Führung, die entweder nicht die Führung behalten will oder nicht weiß, wie sie diese festigen beziehungsweise ausweiten kann. Der Standpunkt der revolutionären Minderheit zu solch einer spontanen Erhebung ist es, voll daran teilzunehmen, danach zu streben, ihr eine bewußte Führung zu geben, im speziellen durch den Kampf für Arbeiterräte und eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung, die auf letzteren aufbaut.

Die andere Form des Aufstandes ist die bewußte, geplante, gewaltsame Übertragung der Staatsmacht an das Proletariat nach dem Modell der Oktoberrevolution in Rußland. Das Durchführen des Aufstandes ist eine technische Aufgabe, welche heimliche Planung erfordert. Die Arbeiterräte müssen für das Ziel des Aufstandes gewonnen werden, und die Arbeitermiliz und diejenigen Regimenter, die auf der Seite der Arbeiterklasse stehen, sind die Mittel zur Durchführung der Erhebung. Nur die revolutionäre Partei alleine kann den allgemeinen Führungsstab zur Leitung der Erhebung zur Verfügung stellen. Obwohl sich die Partei die Hilfe von Offizieren, die aus den einfacheren Mannschaftsgraden kommen, zunutze machen kann, muß deren Kommando immer auf die militärische Handlungen beschränkt bleiben, kontrolliert durch gewählte Kompanie- und Regimentskomitees. Die Inbesitznahme der Schlüsseleinrichtungen, die Organisation der Verteidigung des neuen Regimes, die Verteilung von Waffen und die Zuteilung von proletarischen Aufständischen kann nicht der Spontaneität der Massen oder „aufgeklärten Offizieren“ überlassen werden. Die Partei ist entscheidend für die Koordination dieser Tätigkeiten. Aber am Tag nach einem erfolgreichen Aufstand wird die Belohnung für diese Vorbereitung klar sein: die Zerschlagung des kapitalistischen Staates und die Etablierung der Diktatur des Proletariats auf Basis der Macht der Arbeiterräte.




Bitte wenden! Ein antikapitalistisches Mobilitätsprogramm

Leo Drais, Neue Internationale 276, September 2023

So breit der Konsens über die Notwendigkeit einer Verkehrswende auch ist, so unterschiedlich ist die Vorstellung, was darunter verstanden wird. Selbst in der Politik der CDU finden sich floskelhafte Versprechen etwa über die Verlagerung auf die Schiene – wobei es dann auch bleibt. Von einer echten Verkehrswende kann in Deutschland nicht die Rede sein. In anderen Ländern sieht es nur geringfügig besser aus, international existiert die Verkehrswende sowieso nicht.

Jetzt ist das Wort schon einige Male gefallen. Was verstehen wir also unter einer wirklichen Verkehrswende?  Sie besteht vereinfacht gesagt im fortschrittlichen Auflösen der akuten Mobilitätskrise:

  • Klimakrise: 15 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen werden in diesem Sektor emittiert (in der BRD 21 %). Mehr als die Hälfte des Erdöls wird in Flugzeugen (6 %), Schiffen (4 %) und auf den Straßen (40 %) verbrannt. Die Werte sind kritisch zu betrachten, da die Art der Stromerzeugung für den Schienenverkehr in den verwendeten Quellen vermutlich unberücksichtigt blieb.

  • Verkehr als Teil weiterer Umweltprobleme: Luftverschmutzung, Oberflächenversiegelung, Lärmemissionen, Abfälle von Fahrzeugen und Fahrwegen (z. B. Reifenabrieb als Mikroplastik in den Meeren).

  • Verkehr als Teil der Energie- und Ressourcenfrage – die Geschwindigkeit einer Verkehrswende wird zentral von der Energiewende abhängen.

  • Todeszahlen: 2018 starben weltweit 1.350.000 Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr. Davon ist der überwiegende Teil in armen Ländern und unter Armen zu beklagen. Für Menschen von 5 – 29 Jahren ist dies die wahrscheinlichste Todesursache. Abgesehen davon existiert die Gefahr von Erkrankungen durch Lärm, Stress, Abgase.

  • Stadt-Land-Frage: Platznot durch städtischen (Individual-)Verkehr auf engstem Raum steht ländlichem Infrastrukturmangel gegenüber. Beides bedeutet auf unterschiedliche Weise einen Verlust von Lebensqualität und sowieso knapper Zeit.

  • Mobilität und Logistik als gesellschaftlich irrationale Konzeption: Warenketten um die ganze Welt, Wettbewerb als Verursacher von überflüssigem Verkehr (Leerfahrten usw.), abgestellte und Raum beanspruchende Massen an Privat-Pkws, transportintensive Just-in-time-Produktion.

  • Krise und Kampf um die Neuaufteilung der Welt: (militärischer) Kampf um Absatzmärkte sowie Ressourcen (Lithium, Öl, Erdgas), Verkehrswegebau den Erfordernissen der imperialistischen Welt entsprechend. Die einsetzende Deglobalisierung wird mittelfristig die Konkurrenz im Güterverkehrssektor zuspitzen.

  • Zurückdrängung des öffentlichen, Bevorzugung des ineffizienten motorisierten Individualverkehrs.

  • Klassen- und Unterdrückungsfrage: Die Möglichkeit, von A nach B zu kommen, im Generellen sowie grenzüberschreitender Verkehr im Speziellen hängen ab von der gesellschaftlichen Stellung und dem Pass. Freien Reisen für die Reichsten in alle Länder der Welt stehen fehlende sichere und legale Fluchtwege für Millionen Menschen gegenüber. Oder noch anschaulicher: Weitgehend ungehinderten Warenverkehren auf einem Weltmarkt stehen unfreie Menschen gegenüber.

  • Abschließend: Klassenkampf unmittelbar im Sektor selbst – Ausbeutung der Verkehrsarbeiter:innen, Kampf um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsplatzerhalt usw.

Ausgehend davon und im Unterschied zu weiten Teilen der bürgerlichen Politik ist die Verkehrswende für uns daher keine vorrangig technologische, sondern zuerst eine gesellschaftliche Frage. Zwar erkennt die bürgerliche Gesellschaft die Notwendigkeit tiefgreifender Änderungen, aber sie ist unfähig, sie zu verwirklichen. Ihre Vorstellung von Nachhaltigkeit ist eine, die sich stets ihren eigenen ökonomischen Erfordernissen unterwerfen muss. Was „nachhaltig“ ist und was nicht, was eine Mobilitätswende ist und was nicht, richtet sich für das Kapital an den eigenen Klasseninteressen aus – für die deutsche Autoindustrie bedeutet die Verkehrswende einfach eine Antriebswende.

Demgegenüber ist sie für uns ein integraler Teil antikapitalistischer, sozialistischer Politik, die die Frage der Nachhaltigkeit zuerst aus dem Blickwinkel des langfristigen Erhalts der Lebensgrundlagen der Menschheit betrachtet und nicht aus dem einer kapitalistischen Verwertungslogik.

Eckpunkte eines Programms

  • Herstellen einer Produktions- und damit Verkehrsweise mit ausgeglichenem Mensch-Natur-Verhältnis. Während den Produzent:innen im Kapitalismus ab dem Verkauf der Ware naturgemäß egal ist, was mit ihr passiert – ergo auch bei oder nach ihrem Verbrauch – bedeutet eine ökologische Kreislaufwirtschaft eine möglichst große Langlebigkeit von z. B. Fahrzeugen, ohne die Natur in einem nicht nachhaltigen Maß auszubeuten oder sie als Senke zu vernutzen.

  • Bezogen auf das Verkehrsaufkommen muss der Leitsatz dabei lauten: „So wenig wie möglich, so viel wie nötig.“ Schon hierbei springt ins Auge, dass der Kapitalismus dazu nicht in der Lage ist, weil sein Kreislauf Geld – Produktion – Produkt – Ware – Geld + Gewinn – mehr Produktion, mehr Produkte, mehr Waren … zur Ausdehnung (des Verkehrsaufkommens) drängt und dessen Logistik insgesamt ineffizient organisiert ist. Anders ausgedrückt: Was bringt es, den Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern, wenn trotzdem immer mehr Verkehr produziert wird?

  • Eine wirklich nachhaltige Wirtschaftsweise kann weltweit daher nur als Planwirtschaft verwirklicht werden, die schon bei der Produktion von Fahrzeugen und Transportwegen einbezieht, was am Ende ihrer Lebenszeit passiert. Während für die Kapitalist:innen dieser Gedanke in der Konkurrenz tödlich ist, ist es bei einer Planwirtschaft umgekehrt: Nicht auf den Ressourcenkreislauf zu achten, wäre ihr Untergang (auf lange Sicht ist das allerdings auch für den Kapitalismus der Fall). Andere populäre Konzepte – Postwachstum (Degrowth), Gemeinwohlökonomie etc. – sind schließlich zum Scheitern verurteilt. Sie kennen weder den Weg zu ihrer Verwirklichung noch brechen sie offen mit dem Kapitalismus, von dem auch keine korrekte Analyse geleistet wird.

  • Eine Planwirtschaft im Interesse der gesamten Menschheit hat wiederum die Aufhebung der kapitalistischen Klassengesellschaft (in der die Profitinteressen des Kapitals über den Bedürfnissen der Gesamtheit der Menschen stehen) zur Voraussetzung. Notwendig hierfür ist der Sturz des bürgerlichen Staates und die Errichtung einer demokratischen Rätemacht der Arbeiter:innenklasse über die Gesellschaft, die die Mobilität durch eine Enteignung der Transportindustrie und Entwicklung und Kontrolle der Produktion einem demokratischen Plan unterstellen kann.

  • Das aber erfordert, die Arbeiter:innenklasse nicht nur als zentrale Kraft der Mobilitätswende zu begreifen, sondern sie auch zum bewussten Subjekt dieser zu „erziehen“, was in der Notwenigkeit mündet, revolutionäre Arbeiter:nnenparteien und eine neue Internationale aufzubauen, die die Verkehrsfrage als Teil ihres Programms begreifen.

Verkehrsträger

Diese Eckpunkte sollen ein integrales Mobilitätsübergangsprogramm abstecken, einen Wegweiser, der von tagesaktuellen Forderungen aus auf die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und damit des Verkehrs zeigt. Dabei müssen wir von dem ausgehen, was heute vorhanden ist. Schauen wir also auf das Potential der heutigen Verkehrsträger in einer Mobilitätswende.

Personenverkehr

  • Eigene Körperkraft (Gehen und Radfahren): die ökologischste Art der Fortbewegung und die mit Abstand meist genutzte, oft sogar schnellste auf der Kurzstrecke.

  • Motorisierter Individualverkehr (v. a. Auto, Moped, Roller, Motorrad): die ineffektivste Art der Fortbewegung, gemessen an der Auslastung der Fahrzeuge (nicht zu verwechseln mit Auslastung der Parkplätze und Straßen!) und möglichen Personenkilometern (ein voll besetztes Standardauto legt in einem Kilometer fünf Personenkilometer zurück, ein voll besetzter ICE 4 bis zu 918 Personenkilometer). Zudem meistens fossil angetrieben. Das E-Auto ist demgegenüber aus gleich mehreren Gründen keine generell grüne Alternative. Seine Herstellung erfordert bisher einen Wasser verschlingenden Lithiumabbau (1 t Lithium erfordert 1.900.000 l). Seine Herstellung emittiert die doppelte Menge an Treibhausgasen gegenüber Autos mit Verbrennungsmotoren und macht diesen Rückstand gegenüber ihren bauartgleichen Geschwistern erst nach 8 Jahren wett. Der flächendeckende E-Auto-Rollout verzögert die Energiewende. Weiterhin weisen E-Auto wie Verbrenner den gleichen ineffizienten Nachteil auf, ihr/en Treibstoff/Depot als zusätzliches Gewicht mit sich führen zu müssen. Weitere aktuelle Probleme des E-Autos: Entsorgung und Selbstentzündlichkeit der Akkus, brennende E-Autos sind kaum zu löschen.

Für die Anbindung kleiner Orte an den nächsten öffentlichen Anschluss oder für Kleintransporter bleibt ein Rest an motorisiertem Individualverkehr als Sharingkonzept bzw. durch öffentliche Ruftaxis in einer Verkehrswende wahrscheinlich sinnvoll.

  • Landgebundener öffentlicher Verkehr (v. a. Bus, Tram, U-Bahn, Bahn): Verkehrsmittel mit dem Potential, den Kern eines nachhaltigen Verkehrs darzustellen, sowohl im Nah- als auch Fernverkehr. Busse (ggf. mit Oberleitung) machen dort Sinn, wo aus Schienenwegen zu wenig Nutzen entspringt oder diese aufgrund der Topographie unmöglich sind. Tramkonzepte können schon ab einigen tausend Menschen im Einzugsgebiet sinnvoll sein. U-Bahn-Konzepte, die ihrerseits vor allem aufgrund der „autofreundlichen Stadt“ einen Hype erfuhren, machen über ihren Erhalt hinaus keinen Sinn wegen Bauaufwands, Evakuierungsschwierigkeiten und der zusätzlichen Wege nach unten und oben. Zudem ist der betonintensive Tunnelbau ebenfalls ein Klimakiller.

Im Regional- und vor allem Fernbahnverkehr ist das Potential des Rad-Schiene-Systems noch lange nicht ausgeschöpft: Elektrifizierung, integrale Taktfahrpläne, internationaler komfortabler Nachtzugverkehr, Knoten- und Streckenentflechtung usw. können potentiell zu Land auch innerhalb von Kontinenten Flugzeug- und Fernautoverkehr ersetzen. Der Hochgeschwindigkeitsbetrieb ist zumindest zu prüfen, da über einer Geschwindigkeit um die 250 km/h Luftwiderstand und daher Energieverbrauch extrem steigen; außerdem hoher baulicher und betonintensiver Aufwand dieser Rennbahnen. Zumindest theoretisch kann jedoch auch ein Zug mit 350 km/h vollkommen ökologisch fahren, immer aber bleibt das eine Frage der Energieerzeugung. Das Konzept eines elektrisch getriebenen Fahrzeugs kann freilich nur wirklich umweltschonend sein, wenn die elektrische Energie auf entsprechende erneuerbare Art gewonnen wird.

  • Luft- und Schifffahrt: im Personenverkehr zur Überquerung der Meere mehr oder weniger alternativlos, beide sehr energieaufwändig und bisher fast komplett fossil betrieben. Fähren machen vielerorts ökologisch möglicherweise mehr Sinn als lange Tunnel und Brücken zur Meeresunter/-überquerung.

Güterverkehr

  • Straße: Im Fernverkehr extrem ineffektiv, nur auf die „letzte Meile“ und in der Kurzstrecke ohne großes Aufkommen mit alternativen Antrieben sinnvoll oder für die minimal notwendige Erschließung von abgelegenen Zielen.

  • Schienengüterverkehr: Landgebundenes Transportmittel mit dem größten Potential, den Kern künftiger Transportketten zu bilden, sowohl lokal wie auch global. Im Vergleich zum Lkw bei gleicher Last deutlich weniger Rollwiderstand zwischen Fahrzeug und Fahrweg bei leicht möglicher externer Energieversorgung (Oberleitung).

  • Luftfahrt: Nur für absolut dringende und notwendige Güter vernünftig, extrem energieaufwändig.

  • Schifffahrt: Sehr energieintensiv. Möglich sind statt Schweröl auch Gasantriebe (auch aus erneuerbaren Quellen, z. B. power-to-gas). Im interkontinentalen Verkehr nach wie vor notwendig, aber mit Änderung der Produktionsweise enorm reduzierbar im Aufkommen.

Soweit zu den technischen Voraussetzungen. In den vergangenen Jahrzehnten haben immer wieder auch neue technische Entwicklungen Furore gemacht, sei es das autonome Fahren oder beispielsweise die Magnetschwebebahn in den Varianten deutscher Transrapid oder als Elon-Musk-Vakuumröhre Hyperloop. Diese sind bisher nie wirklich über das Erprobungsstadium hinausgekommen und bei allen stellt sich auch ganz grundsätzlich die Frage der Sinnhaftigkeit. Vielmehr scheinen sie die Entfremdung zwischen Mensch und Natur auf ein technisch neues Niveau zu heben.

Und natürlich wäre es falsch, sich gegen die Erforschung neuer Verkehrskonzepte zu stellen. Entscheidend muss aber immer die Frage des Gesamtnutzens und -aufwands für die Menschheit als Ganze sein, was schon in sich trägt, dass es eine demokratische Kontrolle und keine der Konzerne und Milliardär:innen braucht.

Die wichtigste Voraussetzung, die der Kapitalismus für eine Verkehrswende geschaffen hat, sind schließlich die Abermillionen Arbeiter:innen einschließlich der Wissenschaftler:innen und Ingenieur:innen, die weltweit in dem Bereich arbeiten. Sie vereinen auf sich eine riesige Expertise darüber, wie ein schnellstmöglicher Umbau von Logistik und Transport überhaupt geschehen kann. Sie können das treibende Subjekt des Umbruchs darstellen.

Übergangsprogramm

Betten wir schließlich die Verkehrswende in die aktuelle Lage einerseits und in eine sozialistische Perspektive andererseits ein. Gleich vorweg: Eine fortschrittliche Verkehrspolitik wird dabei, um der akuten ökologischen Notlage gerecht zu werden, nicht ohne repressive Einschränkungen gegenüber besonders umweltschädlichen Verkehrsweisen auskommen, die manche als eine Gängelung der (bürgerlichen, auf den Besitz und den rechten Fuß beschränkten) Freiheit empfinden werden. Auf der anderen Seite werden sich aber ganz andere, für die Mehrheit der Menschheit ungleich größere Freiheiten ergeben.

  • Für ein ökologisches Notsofortprogramm! Massive Einschränkung des Flugbetriebs, Verbot von Inlandflügen und Flügen unter 2.000 km! Aufbau kontinentaler Fernzug- und Nachtzugnetze! Für den schnellstmöglichen, umfänglichen Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel und baulich getrennter Radwege in der Stadt und auf dem Land! Gleitende Anpassung der Fahrpreise hin zu einem kostenlosen Nah- und Berufsverkehr!Für eine Preisgestaltung, die Bahnreisen gegenüber dem Autoverkehr entscheidend günstiger macht! Einschränkungen und Verbote für bestimmte Fahrzeugklassen (Verbrauchsobergrenzen)! Schnellstmögliche Abkehr vom innerstädtischen Autoverkehr! Weitreichender Stopp der Automobilproduktion und sofortiger Umbau der Fabriken für andere Produkte, einem gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsplan entsprechend! Verbot des Motorsports als Aushängeschild fossiler und rücksichtsloser Raserei!

  • Für eine Umweltbewegung, die sich zu einer konkret-revolutionären weiterentwickelt und die Arbeiter:innenklasse in den Mittelpunkt einer Mobilitätswende stellt!#wirfahrenzusammen kann dafür nur der Anfang sein.

  • Für die demokratische Gestaltung und Kontrolle eines solchen Notfallplanes und des Verkehrswegebaus im Kleinen und Großen durch Komitees der Beschäftigten im Transportbereich sowie Anwohner:innen, Pendler:innen und Reisende! Für die Finanzierung eines solchen Notprogramms durch eine massive Besteuerung von VW, Shell, Lufthansa und alle die, die jahrzehntelang mit fossiler Mobilität riesige Gewinne getätigt haben!

  • Für die innige Verknüpfung der Energie- mit der Verkehrswende unter Arbeiter:innenkontrolle! Erforschung und Entwicklung von power-to-gas als möglicher Energiequelle alternativer Antriebe wie Speichermedium für Überschussstrom!

  • So oder so steht die Arbeiter:innenklasse nicht zuletzt in den Autokathedralen vor großen Umbrüchen. Aber statt sie als passiven Spielball von Politik und Konzernen zu betrachten, schlagen wir vor: Keine einzige Jobstreichung! Weiterbeschäftigung bei vollem Lohn! Entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung der Autoindustrie unter demokratischer Arbeiter:innenkontrolle! Ein Startpunkt kann schon in den kommenden Kämpfen liegen: Für Streiks und Besetzungen unter Kontrolle der Arbeiter:innen selbst, nicht der Gewerkschaftsbürokratie von IG Metall und Co!

  • Gegen das Ausspielen der Verkehrsbeschäftigten gegeneinander, von Pilot:innen und Bodenpersonal, polnischen und deutschen Lkw-Fahrer:innen, EVGler:innen und GDL-Mitgliedern. Wir halten dem die Perspektive einer Neuordnung der Gewerkschaften entlang der Wertschöpfungsketten entgegen im Rahmen eines demokratisch erneuerten und fusionierten DGB! Für eine internationale Transportarbeiter:innengewerkschaft unter direkter Kontrolle aller Logistik- und Transportbeschäftigten statt einer zahnlosen ITF!

  • Für die generelle Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle! Sämtliche Steigerungen und Entwicklungen der Produktivkraft ermöglichen eine weitere Ausweitung der Freizeit – und schaffen somit die Möglichkeit zur Verkehrsvermeidung!

  • Für die weltweite Restrukturierung von Stadt und Land, von Wohn- und Produktionsstätten und damit der Verkehrsinfrastruktur nach einem globalen Wirtschaftsplan! Aufbau von Infrastruktur, wo es der Imperialismus immer verhindert und sabotiert hat! Umbau, wo er eine unökologische Verkehrsweise erschaffen hat: Für die weitgehende Renaturierung von Autobahnen und anderen Asphaltwüsten, sofern sie nicht anders sinnvoll genutzt werden können! Für so wenig wie möglich, so viel wie nötig Transport in der Produktion! Weitgehende Trennung von Transportwegen und Wohnorten! Gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung, Land- und Forstwirtschaft, Dienstleistungs- und Freizeitangeboten, Industrie nach einem Clustermodell (Wohnen und Arbeiten im Mittelpunkt)! Vernetzung durch ein Verkehrskonzept, das öffentliche Schienenverkehre zum Kern hat! Für die Vergesellschaftung der Hausarbeit – nicht nur als Teil der Frauenbefreiung, sondern auch als Möglichkeit zur Transportvermeidung: Gemeinschaftskantine statt eines privat zu füllenden Kühlschranks!

  • Für offene Grenzen und einen freien internationalen Verkehr! Für das Recht, überall leben und arbeiten zu dürfen, statt unachtsam-bewusstlosen Massentourismus’!

Das Programm ist bewusst skizzenhaft gehalten. Die jeweilige lokale Ausgestaltung der Verkehrswende ist Aufgabe derer, die dort leben und arbeiten. Jedoch ist sie stets vom globalen Standpunkt, als Teil einer internationalen Perspektive zu betrachten.

Zum Schluss wollen wir darauf verweisen, dass Entschleunigung einen konkret erreichbaren Fortschritt darstellen kann. Ein Mensch, der die alltägliche Konkurrenz, Bewusstlosigkeit und Erniedrigung des Kapitalismus nicht mehr kennt und im Gegenzug als Teil eines wirklichen, bewussten Kollektivs arbeitet und lebt und dabei auch noch über ein vielfach größeres Maß an Freizeit als heute verfügt, wird den Drang nach Flucht, Schnelligkeit, Zerstreuung und Besitz eines eigenen Fahrzeugs als Scheinfreiheit auf vier Rädern vermutlich kaum noch spüren. Seine Bewegung durch den Raum würde viel eher bewusstes Erleben statt Mühsal oder Ablenkung bedeuten. Voraussetzung dafür bleibt, die Verkehrsfrage heute mit einem konkreten Antikapitalismus zu verbinden.

Dieses Programm ist ein Auszug aus unserem Theoriejournal „Revolutionärer Marxismus“, Ausgabe 54. Erhältlich bei uns vor Ort oder über die Kontaktadresse info@arbeiterinnenmacht.de