G7-Gipfel 2022: Spaltung statt Mobilisierung?

Veronika Schulz, Neue Internationale 263, April 2022

Turnusgemäß findet vom 26. – 28. 6. 2022 wieder ein G7-Gipfel unter deutscher Präsidentschaft statt. Tagungsort ist wie bereits vor 7 Jahren das Luxushotel auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen. Die Klimapolitik, Weltwirtschaft und der weitere Umgang mit der Corona-Pandemie sollten eigentlich im Zentrum des diesjährigen Treffens der Staatschefs der führenden westlichen Industrienationen stehen. Der Kampf um die Ukraine wird es jedoch prägen. Mehr denn je wird der Charakter der G7 als Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt in den Vordergrund drängen. Schien es noch vor einigen Jahren, als wäre das Format nicht mehr „zeitgemäß“, so gewinnt der Gipfel wieder an Bedeutung – und zwar als mehr oder weniger unverhohlenes Treffen einer Mächtegruppe, die sicherstellen will, dass sie auch die zukünftige Weltordnung bestimmt.

Die sieben Staaten stehen allesamt ganz weit oben auf der Liste der größten Klimakiller, engstirnigsten Vertreter des Impfstoffnationalismus und größten Militärmächte der Welt – um nur einige Eckdaten der Leistungen dieser illustren Runde aufzuzählen. Und ausgerechnet sie präsentiert sich als „Retterin“ des Klimas, der Gesundheit, der Weltwirtschaft, von „Freiheit“ und „Demokratie“.

Umso wichtiger ist deshalb auch die Gegenmobilisierung durch alle linken und progressiven Kräfte gegen diesen erlesenen Club führender kapitalistischer Nationen, deren Reichtum auf der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse und der halbkolonialen Welt beruht.

Wer mobilisiert wogegen?

Bisher haben sich mehrere Dutzend Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen aus dem ökologischen, kommunistischen, kapitalismuskritischen, antirassistischen und antimilitaristischen Spektrum zu einer Plattform zusammengefunden, die das Treffen der G7 nicht ungestört über die Bühne gehen lassen will. Neben Parteien wie DKP und DIE LINKE sind bisher u. a. auch mehrere lokale FFF- und XR-Gruppen, bundesweite Organisationen wie SDAJ, Linksjugend [’solid], SAV, ISO, Arbeiter:innenmacht, Revolution, Aktivist:innen aus der Mieter:innenbewegung, Perspektive Kommunismus, der Funke und das Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus beteiligt.

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gegenmobilisierung, anders als vor sieben Jahren oder auch gegen den G-20-Gipfel in Hamburg, letztlich von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) faktisch dominiert wird, darunter Greenpeace, BUND, Campact, WWF, Oxfam, Naturfreunde, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und attac.

Rolle der NGOs

Schon zu Beginn hat sich in den Gesprächen ihr Alleingang angedeutet. Sie wurden nicht müde zu betonen, dass sie ihren Status als gemeinnützige Organisationen riskieren, sollten sie gemeinsam mit Parteien und „Linksradikalen“ zu Aktionen aufrufen. Ein weiterer Streitpunkt ergab sich in der Frage der Gewalt bzw. einer klaren Distanzierung der NGOs von Gruppen, die militante Protestformen nicht bereits im Vorfeld ausschließen.

Über mehrere Wochen kam Gegenmobilisierung daher nicht voran, bis am 6. März die Karten auf den Tisch gelegt wurden. Von den NGOs wurden alle übrigen Gruppen davon in Kenntnis gesetzt, dass die anvisierte Großdemonstration am 25. Juni in München, also die sicherlich größte Aktion, von ihnen selbst geplant wird. Der Rest könne sich jedoch gerne einem Aufruf anschließen.

Man sei sich dessen bewusst, so die Vertreterin von Greenpeace und Sprecherin der an der Plattform beteiligten NGOs, dass man an dieser Stelle undemokratisch agiere, es bleibe ihnen aber aus genannten Gründen keine andere Wahl. Die Demonstration wird nun von einem Trägerkreis allein aus NGOs organisiert und „verantwortet“. Ergänzt soll dieser durch einen „Unterstützerkreis“ werden, der Einzelpersonen verschiedener Milieus einbindet – natürlich nur nach einem vorhergehenden Check durch die NGOs.

Ihr provokatorisches und putschistisches Vorgehen führt nun erneut – wie bereits im Vorfeld des G20-Gipfels 2017 in Hamburg – zu einer Schwächung sowohl der Proteste als auch der Mobilisierung. Doch damals war es ihnen nicht möglich, das Bündnis zu übernehmen. Diesmal konnten sie die Großdemonstration kapern.

Wir verurteilen dieses undemokratische Vorgehen und die bewusst herbeigeführte Spaltung aufs Schärfste, nimmt es doch allen weiteren Beteiligten die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die politische Gestaltung der zentralen Großdemonstration in München zu nehmen.

Das Manöver der NGOs, selbst ein direkter Kotau vor Regierung und reaktionärer Gesetzgebung, hat freilich weitgehendere politische Gründe. Während die linken Kräfte die Legitmität der G7 selbst zurückweisen und deren Gipfel als Treffen einer imperialistischen Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt begreifen, betrachten erstere die G7 ganz wie die Bundesregierung als (mögliche) Partnerinnen bei der Verbesserung der Welt. Die Kontrolle von Demo, Aufruf und politischer Ausrichtung soll also nicht nur die zukünftigen Spendenkassen von Greenpeace und Co. schützen, sondern vor allem auch all jene Kräfte marginalisieren, die die G7 und kapitalistische Weltordnung grundsätzlich ablehnen!

Aus diesem Grund müssen die Erwartungen an eine schlagkräftige Protestbewegung schon jetzt relativiert werden. Die NGOs bringen zweifelsohne Geld und weitere Ressourcen auf, behalten sich aber das Recht vor, die Demo nach ihren Wünschen auszurichten. Alle anderen Gruppen und Organisationen sind gewissermaßen die nützlichen Idiotinnen, die die wirkliche Mobilisierungsarbeit übernehmen. Zusammengefasst dürfen sie also die Hauptlast tragen, während die NGOs ihre finanziellen und personellen Ressourcen aufbieten und die Hoheit über die politische Ausrichtung der Demonstration ausüben.

Eigenständige Mobilisierung

Ein schlagkräftiges „Bündnis“ sieht anders aus. Trotz Dominanz der NGOs wäre es jedoch ein Fehler, die Demonstration am 25. Juni in München rechts liegenzulassen. Trotz ihrer mutmaßlich politisch kleinbürgerlichen bis reformistischen Ausrichtung werden wahrscheinlich Zehntausende nach München kommen. Diese müssen wir als Revolutionär:innen, Antikapitalist:innen, antiimperialistischen und Klassenkämpfer:innen zu erreichen versuchen. Daher werden wir auf jeden Fall mit einem eigenen Aufruf, eigenen Parolen, eigenem Material dafür mobilisieren. Wir werden uns auch der geplanten Gegendemonstration am 26. Juni in Garmisch-Partenkirchen anschließen und hoffen, dass das geplante Protestcamp und Workshops zur Diskussion und Aktionsplanung stattfinden können.

Angesichts der aktuellen krisenhaften Zuspitzung der Weltordnung und Weltwirtschaft müssen wir die Gegenmobilisierung nutzen, um eine Bewegung gegen Krise, Militarisierung und Krieg aufzubauen. Wir brauchen eine massenhafte Mobilisierung in den Betrieben, Schulen, Vereinen, an den Universitäten und in den Kulturstätten – unsere Organisierung muss jetzt beginnen!




Ampelkoalitionsverhandlungen: Drei Mal freie Fahrt fürs Kapital

Leo Drais, Neue Internationale 260, November 2021

Die Ampelregierung von SPD, Grünen und FDP kommt wohl. Entgegen der Regierungsbildung von 2017 scheint es dieses Jahr eine schnelle und reibungslose Einigung zu geben.

Die Grünen mit dem geplatzten Kanzlerintraum und die FDP preschten vor und verkündeten Selfie postend, dass sie gemeinsam auf die Kanzlersuche gehen. Sie entschieden sich für Scholz, Jamaika war angesichts der inneren Krise der Union schnell vom Tisch. Dabei war dieses Manöver kein zufälliges: Nach der Wahl war klar, dass Grüne und FDP die Königsmacherinnen spielen, die zwar in manchem wie der Klimafrage einiges trennt, aber beide bedienen wichtige Teile der Mittelschichten und sind im Gegensatz zur SPD rein bürgerliche Parteien ohne enge Verbindung zu den Gewerkschaften.

Die SPD wiederum steht im Gegensatz zur Union wie auferstanden und einig wie lange nicht da. Zettelte Kevin Kühnert als Juso-Vorsitzender 2017 noch einen Minibasisaufstand gegen die Große Koalition an, ist er als Vizeparteichef mittlerweile fein ins sozialdemokratische Dasein integriert und bringt wie zum Lohn für den Gehorsam auch gleich 49 seiner Juso-FreundInnen mit ins Parlament. Vergessen ist, dass man mal BMW enteignen wollte. Derweil räumt Norbert Walter-Borjans vom linken Flügel das Feld. Den Platz neben Saskia Esken werden wohl – wenn sie denn an der Parteispitze bleibt – Lars Klingbeil vom Seeheimer Kreis oder Hubertus Heil einnehmen. Es kann ja nicht sein, dass ein Kanzler Olaf Scholz einer rein „linken“ Parteiführung gegenübersteht.

Sondierungsergebnisse

In die Sondierung gingen die drei zur Zeit innerlich stabilsten Bundestagsparteien und präsentierten rund vier Wochen nach der Wahl ein zwölfseitiges Ergebnis. Neben dem üblichen Gelaber von Innovation, Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit bürgerlicher Berufspolitik boten die Gespräche doch einen gewissen Aufschluss darüber, was wohl kommt, was nicht, wo es präsentierbare Einigkeit oder unerwähnte Kontroversen gibt.

Ein paar kleine Reförmchen enthält natürlich auch das Sondierungspapier. So wird wohl die Cannabis-Legalisierung in der einen oder anderen Form beschlossen werden. Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 soll kommen, vielleicht auch eine verbesserte staatliche Anerkennung der Rechte nicht-binärer Menschen. Alles unzureichend, aber immerhin.

Von der SPD wird vor allem die Mindestlohnanhebung auf 12 Euro zum Jahrhundertereignis hochstilisiert. Dabei reichen diese schon heute nicht. Die Steuern reduzieren sie weiter und schließlich wird sie großteils, ohne zu kauen, von der Inflation gefressen werden. Darüber hinaus ist unklar, ob der Mindestlohn für alle sofort erhöht oder das, wie in der Vergangenheit, für ganze Branchen stufenweise über mehrere Jahre umgesetzt werden soll.

An die Stelle von Hartz IV soll ein Bürgergeld treten, das Betroffenen gewiss nicht aus der Armut helfen wird. Ein bundesweiter Mietendeckel kommt nicht, stattdessen soll mehr und schneller gebaut werden, was zwar die Wohnungskrise nicht löst und hohe Mieten auch nicht senkt, dem Kapital aber nach wie vor satt Profite bringt.

Zumutungen

Die Coronapandemie scheint für die SondiererInnen um Scholz, Baerbock und Lindner auf dem Papier zumindest schon nicht mehr zu existieren. Booster-Impfung und Herdenimmunität werden’s für den Standort BRD und Europa wohl schon richten. Dafür werden die Überlastung des Gesundheitssystems und der Tod Tausender letztlich billigend in Kauf genommen.

Ausgebaut und aufgerüstet sollen dafür Polizei und Überwachung werden. Gegen alles, was als politisch extrem betrachtet wird, soll ein „Demokratieförderungsgesetz“ kommen, was auch immer das mit sich bringen wird.

Was das grüne Steckenpferd des Pseudoklimaschutzes angeht, wurde das Autobahntempolimit entsorgt, das passioniert-religiöse Rasen bleibt den Deutschen dank der FDP bewahrt. Der Kohleausstieg wird vielleicht doch schon 2030 kommen, vielleicht aber auch nicht. Ansonsten ist die sogenannte Klimapolitik der Ampel eigentlich ein Investitionsprogramm: Unternehmen sollen bei der „sozialökologischen Transformation“ gefördert werden, ansonsten heißt es: mehr Ökostrom, mehr Ökolandbau, mehr E-Mobility – auf der Straße natürlich. Das 1,5 °C-Ziel steht auch auf dem Papier, wenigstens dort, denn Realität wird es mit der Ampel sicher nicht.

Auch abgesehen davon will man viel investieren: Digitalisierung und Bildung sollen dem deutschen Kapital konkurrenzfähige Infrastruktur und Fachkräfte schaffen.

Wie, als würde das alles nichts kosten, bekennen sich die SondiererInnen zur Schuldenbremse. Steuererhöhungen soll’s keine geben, schon gar nicht auf große Vermögen und hohe Einkommen – vor der Wahl noch gegen die FDP kämpferisch angekündigt, hat die SPD es nun, wenn auch etwas kontrovers, vergessen.

Hier zeichnet sich schon jetzt ab: Die Finanzierung der Erneuerung des deutschen Kapitals wird bezuschusst, öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen fehlt es an Mitteln. Abhilfe schaffen soll dabei wohl ein erneuter Privatisierungsschub – sei es durch Verkauf oder durch „Partnerschaften“ von öffentlichen Einrichtungen und privaten AnlegerInnen.

Konkurrenz als Rahmen

Außenpolitisch scheint die Ampel den bisherigen Kurs fortsetzen zu wollen: klares Bekenntnis zur EU, NATO und transatlantischen PartnerInnenschaft. Abseits aller Beschwörungsformeln zeichnet sich aber ab, dass die rassistische Abschottung der EU fortgesetzt wird und die Bundeswehr massiv aufgerüstet werden soll, inklusive der Anschaffung neuer Waffensysteme (Drohnen für Angriffe) für den Cyberwar und weitere Auslandseinsätze. Offengehalten wird die Suche nach alternativen Verbündeten mit dem Willen zum Multilateralismus.

Zugleich drückt sich in den, öffentlich wenig umstrittenen Bestimmungen der Außenpolitik auch schon das Dilemma der nächsten Regierung wie überhaupt des deutschen Imperialismus aus. Einerseits drängt die starke Exportwirtschaft dazu, vehement beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt mitzuspielen, andererseits ist man politisch und militärisch alleine zu schwach dafür. Das nächste Außenministerium wird weiter zwischen Kooperieren und Konfrontieren lavieren, im Gravitationsfeld zwischen den beiden Hauptpolen China und USA versuchen müssen, irgendwie den marodierenden EU-Hinterhof beisammen zu halten, um zumindest halbwegs eigenständig auftreten zu können.

Für die Einschätzung der künftigen Scholz-Regierung ist es zentral, diese Erfordernisse der globalen Konkurrenz im Blick zu behalten. Sie bilden letztlich auch den Rahmen für die Innenpolitik und den Verteilungsspielraum insbesondere gegenüber der ArbeiterInnenklasse. Ohne eine politische oder militärische Strategie, die sie auch nur ansatzweise allein und eigenständig international durchsetzen könnten, auch wenn hier sicher mehr Aggression unter dem Mantel der Verantwortungsübernahme zu erwarten ist, müssen Regierung und Kapital vor allem auf das stärkste Moment des BRD-Imperialismus setzen: die Industriekonzerne und dabei nicht zuletzt auf die AutoherstellerInnen.

Schon am Tag nach der Wahl hat VW 10 Punkte für die Koalitionsbildung gefordert, die klar darauf abzielten, dass der Staat bitteschön die E-Mobilität auf der Straße ordentlich bezuschussen soll, Stichworte: Ladesäulen und Kaufprämien. Auch sonst zieht sich der Tenor des subventionierten Klimaschutzes, der keiner ist, sowie der Digitalisierung durch die Forderungen diverser Unternehmensverbände. Unter grünem Label soll mit massiver Investition das Kapital erneuert werden, um ihm auf dem Weltmarkt neue Wettbewerbsvorteile zu ermöglichen. Gleichzeitig bedingt die globale Konkurrenz aber eben auch, das Kapital steuerlich nicht groß zu belasten sowie die Staatsverschuldung einzudämmen – womit wir wieder bei der Schuldenbremse sind.

Bleibt also die Frage: Wer zahlt das Ganze? Einerseits soll es natürlich die Konkurrenz tun, andererseits die überausgebeutete halbkoloniale Welt im EU-Hinterhof oder dort, wo das Lithium für die E-Autos herkommt. Letztlich stellen sich Regierung und Konzerne gerade dafür auf, dass auch die hiesige ArbeiterInnenklasse dafür aufkommt.

Angriff auf die Lohnabhängigen

Auch wenn unmittelbar keine politisch geführten Großangriffe anstehen wie die Agenda 2010, von der die deutschen Konzerne gerade jetzt massiv profitieren, so werden der von der Ampel angestrebte Umbau der Industrie und die Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse ohne ausbleibende Gegenwehr weiter abgewälzt werden.

Vor dem Hintergrund einer volatilen globalen Wirtschaftslage, einer gebremsten Konjunktur, einer weltweit weiter grassierenden Pandemie und Krise werden sich die Konjunkturprogramme der USA und der EU wahrscheinlich als unzureichend erweisen, längerfristig die Weltwirtschaft zu beleben. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass sie nach einer gewissen konjunkturellen Sonderwirkung rasch verpuffen, weil die grundlegenden Krisenmomente – fallende Profitraten, Überakkumulation von Kapital und damit verschärfte globale Konkurrenz – durch diese nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben werden.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus denkbar, dass die Ampelkoalition im Laufe der Legislaturperiode auf ein größeres, grundlegendes Angriffsprogramm umschaltet. Die sog. Rentenreform zeigt, wohin die Reise dabei gehen könnte. Die Deutsche Rentenversicherung soll auf dem Kapitalmarkt die Rente bei 48 % des Einkommens sichern. Eine solche weitere Privatisierung und Finanzialisierung bedeutet natürlich auch, dass die Altersversorgung selbst an die krisenhaften Zyklen des Finanzkapitals gekoppelt wird.

Ebenso wenig wird der Inflation entgegengesetzt, die Mieten bleiben exorbitant, viele durch Corona zerstörte Jobs wohl verloren, Niedriglohnsektor und Prekarisierung wachsen, verdächtig oft spricht das Sondierungspapier von Flexibilisierung am Arbeitsplatz. Proletarische Frauen und rassistisch Unterdrückte werden davon üblicherweise Hauptbetroffene sein, von allem Diversitätsbekenntnis und Gerechtigkeitsgerede der Ampel haben sie so gut wie nichts.

Sämtliche Versprechungen von mehr soziale Gerechtigkeit werden an der kapitalistischen Realität verbogen oder brechen an ihr, die Abkehr der SPD von einer Vermögenssteuer ist Teil davon.

Großangriff auf Jobs

Der angestrebte Umbau der Industrie bedeutet aus Kapitalsichtweise, Arbeitskräfte einsparen zu können. Genau darauf zielt die Digitalisierung zu einem Gutteil ab. Hier läuft der Großangriff bereits. In der Autoindustrie ist der Stellenabbau längst eine Realität und wird weitergehen: Mit über 170 000 Stellenstreichungen wird für die nächsten Jahre gerechnet.

Die Rolle der SPD als führende Regierungs- und bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist hierbei nicht zu unterschätzen. Sie macht Politik für das Kapital, hat aber noch immer soziale Wurzeln in den schweren Bataillonen der deutschen IndustriearbeiterInnenschaft – um deren Arbeitswelt und -platz es in den nächsten Jahren gehen wird. Einerseits muss die SPD dem Kapital irgendetwas abringen und der ArbeiterInnenklasse anbieten, das Sterbebett der Sozialdemokratie ist immerhin noch warm. Gerade im gemeinsamen Regieren mit der FDP liegt hier Sprengstoff, selbst wenn die Vermögenssteuer vom Tisch ist. Andererseits bietet die SPD in ihrer engen Verbindung mit der DGB-Bürokratie und der dadurch ausgeübten Kontrolle über zentrale Sektoren der Klasse dem deutschen Kapital auch einen Vorteil in der Durchsetzung der geplanten „Transformation“.

Und der DGB?

Dazu passt, dass der DGB im Grunde kaum was zu den Verhandlungen der letzten Wochen gesagt hat. Er setzt damit auf seine Weise den Kurs des Burgfriedens mit dem Kapital fort. Die IG Metall und ihre Betriebsräte begleiten den Jobkahlschlag, der durch Investitionen der Ampelregierung mitfinanziert wird – Gelder, die letztlich über Steuern ebenfalls zu großen Teilen von der ArbeiterInnenklasse kommen. Anstatt den Abwehrkampf anzugehen, wird mitgestaltet und die Beschäftigten werden ruhig gehalten, Lohnkämpfe, die die Inflation ausgleichen, gibt es nicht – über die unmittelbar tariflichen Fragen hinausgehende politische Streiks, die z. B. die Wohnungsfrage oder den Klimaschutz zum Thema machen, schon mal gar nicht. Es liegt hier schon der Verweis darauf verborgen, wie wichtig der Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition zu den Gewerkschaftsapparaten gerade wird.

Natürlich werden die Koalitionsverhandlungen nicht ohne Kontroversen ablaufen. Die Frage der Investitionsfinanzierung und die Begleichung der Coronaschulden ist noch nicht abschließend geklärt. Die Möglichkeiten zur Investition sind begrenzt. Worauf wird sich also konzentriert? Auf das E-Auto oder doch auf die Bahn? Gibt’s 5G nur für die Stadt oder auch auf dem Land? Wie hoch wird das Bürgergeld? Und: Wer besetzt welches Ministerium?

Wie auch immer diese Fragen von Scholz und Co beantwortet werden: Für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten gibt’s in der kommenden Periode nicht viel mehr als ein paar Krümel. Sie sind gut beraten, sich auf Abwehrkämpfe vorzubereiten.

In vielerlei Hinsicht könnten die kommenden Jahre entscheidende für eine längere Periode werden. In der Klimakrise wird in vier Jahren schon sehr absehbar sein, wie es um die 1,5 °C steht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt drängt früher oder später zu Entscheidungsschlachten. Der Umbau und die Erneuerung der Industrie finden jetzt statt – nicht für den Klimaschutz, wohl aber für die Stellung des deutschen Kapitals in der Welt entscheidend. Entlassungen, Kürzungen, Armut werden zunehmen.

Warum wir eine Aktionskonferenz brauchen

Der Rechtsruck hat tiefe Spuren hinterlassen, die Zerbröckelung des bürgerlichen Lagers zeigt sich nicht zuletzt in der ersten 3-Parteien-Regierung seit Adenauer. Je nachdem, wie sie sich den Massen verkauft, kann sie das Hinsterben der „bürgerlichen Mitte“ und den Rechtsruck verzögern oder verstärken. Angesichts neuer Geflüchtetenbewegungen, Pandemie und vielfachen sozialen Abstiegs liegen rechtspopulistische bis faschistische Kräfte von AfD bis Dritter Weg schon auf der Lauer.

Die Stärkung bürgerlicher und rechter Kräfte ist aber nur eine mögliche Entwicklung. Eine fortschrittliche Alternative dazu wird jedoch nur zu einer realen Möglichkeit werden, wenn die Reorganisation der ArbeiterInnenklasse angegangen, sie zur zentralen, eigenständigen Kampfkraft gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe wird. Der Sieg des Berliner Volksentscheides Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die riesigen Demonstrationen von Fridays for Future, die zahlreichen Waldbesetzungen und eine Reihe anderer großer Mobilisierungen in den letzten Jahren zeigen nicht nur, dass neue Bewegungen entstanden bzw. im Entstehen begriffen sind, sie verweisen auch auf ein Potential des Widerstandes.

Diese Mobilisierungen gilt es, zu stärken und zugleich das politische Bewusstsein der AktivistInnen zu erhöhen. Wie können wir Enteignungen wirklich durchsetzen? Wie können wir Massentlassungen und Privatisierungen stoppen? Wie können wir verhindern, dass Inflation und Preissteigerungen mühsam erkämpfte Lohnerhöhungen gleich wieder wegfressen? Wie können wir der imperialistischen Außenpolitik und der rassistischen Abschottung Deutschlands und der EU entgegentreten? Wie können wir den Kampf für reale, sofortige Verbesserungen mit dem um eine andere Gesellschaft verbinden?

Es braucht daher dringend die Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes und darum, wie wir diese Auseinandersetzungen wirklich verbinden können. Das aber fällt nicht vom Himmel. Es braucht einen konkreten Startpunkt dafür, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren – eine Aktionskonferenz. Sie sollte nicht aus einem linken Für-sich-Selbst bestehen, sondern im Gegenteil größtmöglich die Organisationen der ArbeiterInnenklasse einbeziehen, allen voran die Gewerkschaften oder jedenfalls deren oppositionelle Kräfte, Linkspartei und SPD-Linke oder mindestens alle, die nicht stramm hinter Scholz oder der Koalitionspolitik der Realos in der Linkspartei stehen.

Eine solche Aktionskonferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den wichtigsten Angriffen gemeinsam auf der Straße und im Stadtteil, in den Betrieben und Büros, an Schulen und Unis entgegenzutreten. Wir schlagen vor, sie Anfang 2022 Spektren übergreifend zu organisieren und dort einen bundesweiten Mobilisierungsplan zu beschließen und überall Bündnisse aufzubauen, die diesen Kampf koordinieren.




Erklärung zum Antikrisenbündnis Hamburg (AKB-HH)

Gruppe ArbeiterInnenmacht Hamburg, Infomail 1168, 30. Oktober 2021

Die Initiative für ein Antikrisenbündnis in Hamburg entstand vor ca. einem Jahr im Oktober 2020. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland und der EU zugespitzt und war durch die Corona-Pandemie eskaliert. Gleichzeitig waren die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland kaum sicht- und wahrnehmbar und schienen wie in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Die Straßenproteste wurden von den rechten oder zumindest stark nach rechts offenen und von Irrationalität sowie einem Hang zu Verschwörungstheorien geprägten Querdenken-Demos dominiert, die teilweise erhebliche Mobilisierungserfolge aufweisen konnten.

In dieser Situation war es vor allem angesichts der Tatenlosigkeit der großen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland, insbesondere der Gewerkschaften, aber auch der Linkspartei und natürlich auch der in der Großen Koalition regierenden SPD notwendig und richtig, die Initiative für ein Antikrisenbündnis zu starten. Für uns war das Bündnis von Anfang an ein Versuch, linke und progressive Kräfte zu sammeln, um mit Aktionen eine Mobilisierungsstärke zu entwickeln und dadurch vor allem auch Druck auf die größeren Organisationen auszuüben, ebenfalls aktiv zu werden. Wir gaben und geben uns nicht der Illusion hin oder verfolgten bzw. verfolgen die Absicht, linksradikale Bündnisse als Selbstzweck aufzubauen. Für uns steht die Bündnisarbeit in der Tradition der Einheitsfronttaktik, die darauf abzielt, angesichts der politischen Dominanz der ArbeiterInnenklasse durch reformistische Massenorganisationen gemeinsame Aktionen durchzuführen und größere Teile der Klasse in Bewegung zu bringen.

Davon waren und sind wir sicherlich weit entfernt. In dem Bündnis haben sich früh sehr unterschiedliche Vorstellungen über die notwendigen Inhalte, die Vorgehensweise und die Ausrichtung gezeigt. Einen ersten Bruch gab es bereits im Januar 2021, als nach der ersten gemeinsamen Kundgebung die GenossInnen des Jour Fixe – Gewerkschaftslinke Hamburg und des Blauen Montag ihren Austritt erklärt haben. Wir finden es dennoch richtig, dass wir damals den Weg in erste gemeinsame Aktionen in Form von Kundgebungen gegangen sind. Wenn wir nicht zur gemeinsamen Aktivität gekommen wären, hätte sich das Bündnis in den unbefriedigenden Grundsatzdiskussionen sehr viel schneller zerlegt. Dass die genannten Organisationen – und in der Folge auch weitere Individuen – damals bereits ausgetreten sind, war ein Fehler und hat das Bündnis geschwächt. Sie haben bis heute keinerlei alternative Handlungsoption entwickelt. Sie haben sich daher zu einer rein passiven Kritik an der bestehenden Initiative des Bündnisses entschieden, anstatt gemeinsam an einer Perspektive zu arbeiten, zumal die damals vorgebrachten Argumente einen Bruch nicht – oder zumindest noch nicht – notwendig gemacht hätten.

Die erste Kundgebung war sicherlich weit davon entfernt, unseren Ansprüchen zu genügen. Aber sie war immerhin ein erster Schritt und die Lage sah danach nicht grundlegend schlecht aus. Neue, vor allem jüngere Organisationen haben sich dem Bündnis angeschlossenen und einige Kontakte zu anderen Bündnissen konnten etabliert und ausgebaut werden.

Die folgenden Kundgebungen im März und April haben jedoch gezeigt, dass die Aktionen keine weitere Anziehungskraft entwickeln konnten. Sie stagnierten vielmehr in ihrer Größe. Auch die folgende Initiative zu einem weiteren Vernetzungstreffen war eher enttäuschend.

Vor diesem Hintergrund haben wir im Juni diskutiert, dass wir uns zunächst auf kleinere Aktionen (Infostände, Solidarität mit Arbeitskampfmaßnahmen) vor allem in Stadtteilen konzentrieren möchten, um darüber mittelfristig das Bündnis auch außerhalb der „Szene“ bekannter zu machen und eine Basis aufzubauen.

Das wurde leider nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen kam es im August zu einer unserer Meinung nach völlig unnötigen und politisch fatalen Wende hin zu noch mehr Aktionismus. Es wurde beschlossen, eine „After-Wahl-Demonstration“ direkt nach den Bundestagswahlen zu organisieren. Die politische Lage nach den Bundestagswahlen wurde dabei völlig falsch eingeschätzt. Ohne jegliche fundierte Grundlage wurde ein Protestpotential prognostiziert, das nach den Wahlen die Menschen aus Wut auf die Straße treiben würde. Die Entscheidung stand zudem in direktem Gegensatz zu unseren Erfahrungen mit den Kundgebungen und dem Beschluss, uns auf Stadtteil- und Streiksoliarbeit zu konzentrieren. Zwar wurden Hinweise zu Streikaktionen, wie jetzt zum ErzieherInnenstreik, hin und wieder versendet, sie erzielen aber nur dann eine Wirkung, wenn sie länger vorbereitet werden und uns eine Bindung an die jeweiligen Kämpfe ermöglichen. Kurz Flagge zeigen allein ändert an dem Außenseiterstatus des AKB nichts. Nicht nur die politische Lage, sondern auch die eigene Mobilisierungsfähigkeit wird entgegen eigenen Erfahrungen falsch eingeschätzt.

Diese Differenz in der Ausrichtung hatte sich auch bereits zuvor bei der Diskussion um einen allgemeinen Vorstellungsflyer des Bündnisses angedeutet. Während wir in früheren Texten noch bewusst Wert darauf gelegt haben, an bestehende Auseinandersetzungen anzuknüpfen und auch Menschen außerhalb der linken Szene anzusprechen, wurde mit der Wortwahl nunmehr völlig darauf abgezielt (ob bewusst oder unbewusst), bereits radikalisierte Menschen zu mobilisieren. Das zeugt von einem anderen Verständnis der Bündnisausrichtung. Die Texte haben auch inhaltlich unserer Auffassung nach stark an Qualität verloren.

Nicht nur der inhaltliche und taktische endgültige Schwenk zum Aktionismus war problematisch. Auch die Art und Weise der Entscheidungsfindung und der  Diskussion waren unserer Auffassung nach für ein Bündnis unangemessen. Die Entscheidung wurde auf einem Bündnistreffen in unserer Abwesenheit gefällt. Als wir anschließend Kritik daran geäußert und eine Diskussion darüber auf einem weiteren Treffen angeregt haben, wurde diese abgelehnt. Es wurde argumentiert, dass es einen „Konsens“ gegeben habe und die Entscheidung getroffen sei. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass neben uns noch zwei weitere Organisationen im Bündnis – attac und die MLPD – die Entscheidung für die Demo als falsch erachteten. Das war zu dem damaligen Zeitpunkt ein wesentlicher Teil des Bündnisses, das bereits auf schwachen Füßen stand. Wer in so einer Situation über den Widerspruch wesentlich beteiligter Organisationen derart hinweggeht, riskiert folgerichtig den Zusammenhalt des Bündnisses.

In der Folge litten auch die innere Kommunikation und Transparenz enorm. Die  Kommunikation lief fast nur noch über Telegram. Die Mitglieder des Bündnisses auf dem E-Mailverteiler wurden praktisch ausgeschlossen (und verfielen daraufhin logischerweise vermehrt in Passivität). Zu Treffen wurde nicht mehr rechtzeitig eingeladen, Protokolle wurden nur noch unregelmäßig geschrieben. So kann für uns keine Bündnisarbeit gelingen.

Wir halten die Initiative für eine Antikrisenbewegung nach wie vor für richtig und aktuell, auch wenn sich die politische Situation mittlerweile weiterentwickelt hat. Die Frage der Verteilung der Krisenkosten wird auch für eine neue Post-Merkel-Bundesregierung virulent werden und wir können mit Angriffen und Auseinandersetzungen rechnen. Auch vor dem Hintergrund der massiven Stimmenverluste der Linkspartei wird sich die Linke in Deutschland insgesamt neu sortieren und vorbereiten müssen. Die Vernetzung von kämpferischen Bündnissen und Orientierung auf bundesweite Aktionskonferenzen zu den Schwerpunkten des Klassenkampfes wird eine der wichtigsten Aufgaben sein. Dafür werden wir uns weiterhin engagieren. Aktuell sehen wir jedoch in dem verbliebenen AKB-HH keine Grundlage mehr dafür.

Zum Schluss möchten wir betonen, dass wir trotz der unterschiedlichen Auffassungen und der Entwicklungen in den letzten Monaten das Bündnis ohne Groll verlassen. Wir haben kein Interesse daran, persönliche Auseinandersetzungen zu führen. Wir hoffen vielmehr, dass wir auf der gemeinsamen Arbeit aufbauen und auch zukünftig zusammen in Hamburg aktiv werden können.




Neues und Altbekanntes: Was bleibt vom revolutionären 1. Mai(-Bündnis) in Frankfurt/Main?

Richard Vries, Infomail 1152, 29. Mai 2021

Vieles verändert sich in den Jahren der Corona-Krise. Und doch bleibt es bei ganz Grundsätzlichem. Etwa, wenn der DGB in der Mainmetropole am 1. Mai ‘21 zur Demo mit abschließender Kundgebung aufruft und dabei seine FunktionärInnen in Einklang mit SPD-Oberbürgermeister Feldmann die Solidarität und Einheit der Gesellschaft fordern, obwohl die Bosse und KapitalistInnen von so was schon lang nichts mehr wissen wollen. Sie lassen uns die Krise zahlen. Immerhin ging der Frankfurter DGB überhaupt auf die Straße. 4.000 AktivistInnen und GewerkschafterInnen folgten dem Aufruf. Das zumindest ist ein Fortschritt zu ausgebliebenen 1. Mai-Gewerkschaftsaktionen des letzten Jahres.

Doch betrachten wir den diesjährigen Aufzug von der Hauptwache zum Opernplatz genauer. Den kleineren Teil an der Spitze der Demo stellten Mitgliedergewerkschaften des DGB wie z. B. die IG Metall, den absoluten Großteil der Demo aber Gruppen und AktivistInnen der radikalen Linken sowie migrantischer ArbeiterInnenorganisationen. Ohne ihr Erscheinen bliebe von der Demo nicht viel mehr als eine Versammlung von FunktionärInnen und Apparatschiks übrig. Die offiziellen Reden dieser hörten sich dann auch an, als seien es Regierungserklärungen. Im Namen deutscher Standortpolitik wird nimmer endend die nationale Einheit beschworen, wenn nicht direkt, so doch um so deutlicher zwischen den Zeilen. Und so passt der Frankfurter 1. Mai dann auch gut ins Gesamtbild des DGB in der Krise. Kein Aufruf zum Kampf gegen Arbeitsplatzstreichung, für bessere Bedingungen in Krankenhäusern, für deutlich höhere Löhne und schon gar keine Streiks oder gar Betriebsbesetzungen gegen das Abwälzen der Krisenkosten auf Lohnabhängige oder für einen Lockdown in der Produktion mit drei Wochen bezahltem Urlaub. Kapitulation total, dem Kapital stets loyal, mit verräterischen Grüßen, ihre DGB-Führung.

Der revolutionäre 1. Mai (und die Polizei)

Neu war am diesjährigen Ersten Mai am Main, dass ein Bündnis linker Gruppen für einen „Revolutionären 1. Mai Frankfurt“, zum „Tag der Arbeiter:innen. Tag unserer Klasse. Tag der Wut.“ aufrief – als bewusster Alternative zur beschriebenen DGB-Demo. Und so versammelten sich dann am Abend erneut an die 4.000 auf dem Opernplatz, begleitet von einem Polizeigroßaufgebot.

Die Stimmung war entsprechend eine ganz andere als am Vormittag, wie auch die Gesichter zu einem guten Teil andere waren. Kräfte der radikalen Linken, viel mehr Jugendliche und Menschen, die sich vom DGB nicht in der Krise unterstützt sehen, anstelle von Apparat und Bürokratie.

Drei Blöcke – der des Ersten-Mai-Bündnisses an der Spitze, gefolgt von den Blöcken von „Wer hat, der gibt“ (Enteignungsblock) und des F*streikbündnisses (FLINTA-Block) setzten sich in Bewegung, liefen am Hauptbahnhof vorbei ins Gallus, die Mainzer Landstraße stadtauswärts, die Frankenallee wieder stadteinwärts, begleitet von mehreren Drangsalierungen und Angriffen der Cops. Kurz vor dem Bahnhof Galluswarte war dann Schluss. Die Polizei griff die Demo massiv an und löste sie auf. Ergebnis: viele Festnahmen und schwerste Verletzungen wie Platzwunden und gebrochene Knochen, darunter Schädelbasisbrüche. Begleitet und legitimiert wurde die Polizeigewalt dann von Medien wie der FAZ oder der Bild, die die diffamierende Darstellung der Polizei übernahmen. Staat und bürgerliche Medien lieferten am neuen revolutionären Frankfurter Ersten Mai in diesem Sinne also Altbekanntes. Zu keinem Zeitpunkt ging ein Angriff auf die Polizei von der Demo aus. Erst als diese mit Schlagstöcken brutal reinging, versuchten TeilnehmerInnen der Demo, dies abzuwehren und zurückzuschlagen. Dass der Angriff just dann erfolgte, als Pyrotechnik eingesetzt wurde, ist freilich nur ein bequemer Vorwand für die Staatsmacht. Letztlich ging es darum, die Bilder zu liefern, die eine revolutionäre Alternative zur bestehenden Regierungs- (und DGB-Politik) delegitimieren und in der Öffentlichkeit von antikapitalistischen Inhalten ablenken.

Bilanz und Bündnis

Angesichts der Krise und des Stillhaltens des DGB war das Abhalten einer revolutionären Abenddemo in Frankfurt politisch richtig. Es ist der Grund, warum wir uns an der Bündnisarbeit beteiligten – trotz aller Schwächen des Bündnisses. Darauf und die aktuellen Entwicklungen werden wir weiter unten eingehen.

Aber zuvorderst ist zu bilanzieren, dass in Frankfurt, in einer Stadt mit vielen Verwerfungen in der radikalen Linken, eine Demo mit revolutionärem Anspruch 4.000 ArbeiterInnen, Jugendliche und gesellschaftlich besonders Unterdrückte wie FLINTA-Menschen oder von Rassismus Betroffene aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet mobilisieren konnte. Dies stellt einen großen Erfolg dar und ist Ausdruck eines wachsenden Bedürfnisses nach fortschrittlichen Antworten auf die Krise, die jenseits der Regierungspolitik oder dem Irrationalismus der CoronaleugnerInnen liegt. Völlig richtig war z. B. die skandierte Parole „Lockdown für die Produktion – Betriebe dicht bei vollem Lohn“. Ebenso war es richtig, dass sich die Demo nicht an der Gewaltfrage, schon gar nicht im Zusammenhang von Pyro, spalten ließ. Natürlich lief bei dieser nicht alles perfekt, auch hätte sie lauter und gleichzeitig ihre Spitze offener wirken können. Das Bündnis hat über vielerlei die Demo Betreffendes reflektiert und versuchte, Selbstkritik zu üben. Positiv ist auch, dass in der Nachbereitung von Verletzungen und Repression Betroffene nicht im Stich gelassen werden.

Wir wollen nun auf zwei Aspekte bezüglich des Bündnisses eingehen. Der erste Kritikpunkt betrifft den Aufruf. Dieser glich einem bunten Sammelsurium von Dingen, die derzeit mies laufen, wie z. B. dass die Autoindustrie Milliardengewinne gemacht hat und für Pflege das Geld fehlt. Das ist an sich natürlich richtig. Problematisch ist unserer Ansicht nach zweierlei, nämlich, dass diesen eine Oben-vs.-Unten-Rhetorik auszeichnete, die auch einen leicht populistischen Beigeschmack hatte, was durch eine fehlende konkrete Perspektive ergänzt wurde. Besser wäre es gewesen, sich auf einige wenige konkretere Forderungen zu einigen, wie z. B. die entschädigungslose Enteignung von Immobilienkonzernen, Verkehrsindustrien und Krankenhäusern oder auch die internationale Freigabe von Impfpatenten usw. Und ja, wir wissen, dass wir mit in dem Bündnis waren und somit auch unter dem Aufruf standen. Letzteres gefällt uns weniger, aber wir erachteten es als sinnvoll, die Debatte im Bündnis weiter zu begleiten und somit darin zu verbleiben – und natürlich auch Kritik zu üben, was die Selbstkritik inkludiert. Überhaupt liegt die Leistung des Bündnisses weniger in seinem Aufruf, sondern vielmehr darin, dass es eine geeinte Aktion organisierte und trotzdem die Diskussion und Debatte suchte (in der hiesigen Linken ist dies keine Selbstverständlichkeit) und austrug – jedenfalls im Vorfeld des Ersten Mai, aber auch auf dem Auswertungstreffen danach.

Von angeblichen Fahnenverboten, …

Eine jener, bisweilen hart geführten Debatten drehte sich um das Verbot von Partei- und Nationalfahnen auf der Demo. Die Überschrift dieses Artikels kündigte ja bereits von Altbekanntem – in diesem Fall Debatten in der deutschen Linken.

Die Position für das erlaubte Tragen von Parteifahnen, ein Element der Propagandafreiheit, konnten wir leider nicht durchsetzen. Problematisch bei jenem Verbot ist, dass es nicht nur als Partei organisierte Kräfte der radikaleren Linken ausschließt, sondern auch Mitglieder großer reformistischer Massenparteien wie Linke oder SPD. Natürlich betreiben Letztere kapitalistische Politik in Landes- oder Bundesregierungen, setzten soziale Angriffe durch. Aber wir werden ihre einfache Mitgliedschaft nicht von diesen Parteien gewinnen, wenn wir ihnen von vornherein verbieten, sich unserer Demo anzuschließen und ihre Fahne zu zeigen. Und klar, eine AfD-Fahne hätte keinen Platz in unseren Reihen, aber damit, dass offen bürgerliche Parteien bei der revolutionären Maidemo auftauchen, ging im Bündnis ja ohnedies keine/r aus.

Anders verhielt es sich in der Debatte zum Nationalfahnenverbot – genauer gesagt jener Kurdistans und Palästinas. Während die kurdische Flagge unstrittig erlaubt war, gab es eine verschärfte Diskussion zur palästinensischen Fahne, auch wenn dies von vorneherein keinen logischen Sinn ergibt. Beides sind vom Imperialismus und lokalen Staaten unterdrückte Nationalitäten. Somit sollte das Zeigen beider Fahnen als solidarisches Zeichen mit ihrem Kampf kein Thema sein. Doch weit gefehlt, denn keine deutsche Linke ohne jene antideutsche Infragestellung internationaler Solidarität mit Palästina. Hauptverantwortlich dafür war die Linke Liste. Es ist die Ironie der Geschichte, dass sich die Unterdrückung durch den israelischen Staat keine zwei Wochen nach dem Frankfurter Ersten Mai wieder allzu deutlich zeigte.

Letztlich setzten die internationalistischen Kräfte des Bündnisses den politisch leicht angefaulten – immerhin – Kompromiss durch, dass Nationalfahnen zwar nicht erwünscht, aber auch nicht verboten seien und der Frontblock nur aus roten Fahnen bestehen solle. Aber: Es gab definitiv kein Verbot von Palästina-Fahnen.

 … sektiererischen Angriffen …

Nun kommt eine Kraft ins Spiel, die nicht im Bündnis war, aber auf der Demo: FreePalestineFFM, seines Zeichens verbunden mit der Kommunistischen Organisation und Aitak Barani. Diese stellten uns in sozialen Medien die Frage, ob wir dahin gewirkt hätten, die Linke Liste aufgrund ihrer antideutschen Gesinnung aus dem Bündnis zu drängen als Auswirkung dessen, dass sie in der einige Jahre zurückliegenden Vergangenheit einen Palästina-Solistand an der Uni angegriffen hat. Damit konfrontiert brachte die Linke Liste im Bündnis vor, dass jene, die dies taten, nicht mehr in der Liste seien und sie selbst, die im Bündnis für die Linke Liste anwesend waren, dies nicht tun würden. Eine eindeutige Distanzierung sieht anders aus. Aber da es bei der Demo im Kern um den Ersten Mai und nicht um eine Palästinasolidarität ging, war dies für uns auch kein Grund, das Bündnis zu verlassen oder auf einen Rausschmiss der Linken Liste hin zu eskalieren.

Auf der Demo selbst war FreePalestineFFM dann auch anwesend, mit Palästinafahnen – finden wir gut. Die Ironie dabei ist, dass sie, anstatt es den internationalistischen Kräften im Bündnis zu danken, dass sie überhaupt so auftreten konnten, da andere und wir dafür sorgten, dass Palästinafahnen eben erlaubt waren, sie weiter Vorwürfe und Angriffe gegen eben jene Kräfte erhoben, schlicht weil wir im Bündnis die Debatte führten, die eine internationalistische Position vorantreibt. Eine Debatte, der FreePalestineFFM wie KO sektiererisch ausweichen, womit sie antideutschen Kräften von vorneherein das Feld in der Linken überlassen und somit dem palästinensischen Befreiungskampf in hiesigen Gefilden mehr schaden denn nutzen, ganz davon abgesehen, dass sie es sich mit internationalistischen Kräften verderben und selbige spalten.

 … und angeblichen Vetorechten

Ein Vorwurf, der weiterhin erhoben wurde, ist, dass Menschen mit Palästinafahnen auf der Demo angegriffen wurden. Als dies auf dem Auswertungstreffen auf den Tisch kam und neben uns andere InternationalistInnen wie Young Struggle einforderten, dies – so es denn geschah – in einem Statement als Verstoß gegen den Demokonsens zu brandmarken, blockierte die Linke Liste mit einem Veto und Verzögerungen wie z. B. der Forderung, zunächst eine letztlich umfassende Klärung des Imperialismusbegriff vorauszusetzen.

Das Veto selbst hat unserer Ansicht nach keine Gültigkeit, da sich das Bündnis unserer Ansicht nach nie für die Gestattung undemokratischer Vetorechte entschieden hatte, das Gegenteil wurde uns nicht belegt. Zudem schickte sich mit der Linken Liste eine Gruppe eher gesellschaftlich Privilegierter an, mit Vetos zu hantieren, was die Sache gewiss nicht richtiger macht. Es bleibt ein blockierendes und sabotierendes Unding, dieses Verhalten der Linken Liste, die sich nach dem Ersten Mai den Beschluss zu Palästinafahnen malt, wie es ihr gefällt, und beraubt das revolutionäre Erste-Mai-Bündnis so jeglicher Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit. Wir haben daher das Bündnis aufgefordert, die Linke Liste von weiterer Zusammenarbeit auszuschließen.

Fazit

Der erste Revolutionäre Erste Mai in Frankfurt am Main war ein Mobilisierungs- und als Alternative zum DGB-Stillhalten auch ein großer politischer Erfolg. Doch am Rande dessen begegnete uns allerlei Altbekanntes der deutschen Linken – von antideutschen Manövern hin zu sektiererischen Angriffen. Was wir mitnehmen ist, dass uns der Boden für eine weitere Diskussion mit den Kräften, die nicht unter diese Muster fallen, fruchtbar erscheint. Wir würden uns freuen, die begonnene Debatte mit Euch fortzuführen!




Erster Mai 2021: Die politische Krise und die Aufgaben der Linken

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 255, Mai 2021

Es gibt Jahrzehnte, in denen passiert nichts. Und es gibt Wochen, in denen passieren Jahrzehnte.“ Diese Worte werden Lenin zugeschrieben, der am 22. April seinen 151. Geburtstag feierte. Damals beschrieb er die Geschehnisse der Russischen Revolution, aber diese Beobachtung trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf die gegenwärtige Lage zu. Denn wir stecken inmitten einer politischen Gemengelage, die deutlich eine Krise der bürgerlichen Politik und auch des Kapitalismus zutage bringt wie seit Jahren nicht mehr. Instabilität, abrupte Veränderungen der Lage mehren sich. Und gerade solche Perioden der Instabilität erfordern eine klare politische Perspektive – und genau an dieser fehlt es auch in den Reihen der (radikalen) Linken und ArbeiterInnenbewegung.

Krisenerscheinungen

Die aktuelle politische Krise folgt aus den zunehmenden wirtschaftlichen Spannungen. Ihre spezifische Form wurde durch die Pandemie entscheidend mitgeprägt, aber auch durch Spätfolgen der letzten Weltwirtschaftskrise, die wie ein Schatten über den Verhältnissen des letzten Jahrzehnts schwebte. Im Nachfolgenden werden einzelne Ausdrücke dessen benannt.

Mit dem Scheitern einer europäischen Impfstrategie bei gleichzeitigem Erfolg nationaler Alleingänge wie in den USA, China, Israel und Großbritannien gerät das Projekt des weltgrößten Binnenmarktes EU zunehmend an seine Grenzen. Die Globalisierungsperiode und ihre Organe hängen an einem immer seideneren Faden, drohen zugrunde zu gehen, und das ohne eindeutige absehbare anschließende Alternative.

In der Ukraine erleben wir, wie ein eingefrorener Konflikt um geostrategische Einflussgebiete wieder droht, zu einem heißen und offenen militärischen zu werden. Während Russland ein gigantisches Militärmanöver auffährt und die Frage der Annexion des Donbass durch es lauter gestellt wird, rasselt die NATO ebenfalls mit ihren Säbeln – vor allem mit Joe Biden als neuem US-Präsidenten, der für eine erneute Verschärfung des Konflikts der NATO mit Russland wie überhaupt des Westens mit den Rivalen China und Russland steht.

CDU/CSU

Das Pandemiemanagement der Großen Koalition unter Führung der Union wird mit Zickzackkursen und fehlender Berechenbarkeit beschrieben. Wie sollte es auch anders sein, versucht der Flatten-the-Curve-Ansatz doch zwischen gegensätzlichen Zielen zu vermitteln, zwischen Pandemiebekämpfung und Lockerungen für das Kapital. Dies reiht sich ein in eine Krise der Union, die schon vor der Pandemie erkennbar war. Konkret stehen CDU/CSU vor der Frage, wohin die deutsche Bourgeoisie sich strategisch ausrichten soll, ob auf einen Green New Deal auf europäischer Ebene oder einen neoliberalen Kurs, ob auf eine Unterordnung unter die transatlantische Führungsmacht USA oder auf die Formierung der EU zu einer wirklichen Weltmachtkonkurrenz gegenüber China und den USA.

Derweil werden die Fliehkräfte in der Union immer stärker, wird sie schlussendlich auch Opfer der Krise ihres Systems der bürgerlichen Demokratie und ihrer Parteien. Die Auseinandersetzung zwischen Laschet und Söder ist dabei weniger Ausdruck des Kampfes zweier strategischer Linien, sondern vielmehr Resultat eines Scheiterns, einen klaren politischen Kurs zu bestimmen. Daher auch die relative Stärke ihrer bürgerlichen RivalInnen, allen voran der Grünen.

Rechte Kritik

Gegenüber diesem Schlingerkurs von Union und Regierung erscheint die Relativierung der gesundheitlichen Krise eine Alternative. Unter dem Slogan „Mit dem Virus leben“ schlagen das Kapital und seine Lobbyverbände seit Wochen Wellen. Aber in diesem Windschatten konnten auch reaktionär-kleinbürgerliche Bewegungen wie die QuerdenkerInnen Oberwasser bekommen. Sie erscheinen als die einzige Kraft, die der herrschenden Politik in ihrer Gesamtheit etwas entgegensetzt, und bieten daher eine Anlaufstelle für KleinbürgerInnen und Lohnabhängige, die an der Situation verzweifeln und wirtschaftlich am Ende sind.

Mit der Kampagne #allesdichtmachen von verschiedenen deutschen SchauspielerInnen können wir sehen, wie verbreitet die verkürzte liberale Öffnungsfantasie ist und dass wir uns in einem Moment verschärfter ideologischer Defensive befinden. Parallel dazu erleben wir, wie Neurechte und offene FaschistInnen in der Bewegung neue UnterstützerInnen gewinnen können und als verlässliche PartnerInnen der QuerdenkerInnen dastehen. Auch skurrile Gruppen wie die Freie Linke schließen sich als nützliche IdiotInnen der Rechten diesen Aktionen an.

Die verfassungsgerichtliche Niederlage des Berliner Mietendeckels offenbart einmal mehr, wie wenig wir in dieser Situation in einem Boot sitzen. Zehntausende müssen nun den Immobilienverbänden fette Rückzahlungen leisten. Die Deutsche Wohnen geht im Durchschnitt all ihrer Wohnungen von etwa 450 Euro Rückzahlungen pro Haushalt aus. Die Immobilienwirtschaft ist aber nicht die einzige Krisengewinnerin. Denn die 119 deutschen MilliardärInnen haben ihr Gesamtkapital im Vergleich von Mitte 2019 zu Mitte 2020 um 19 % gesteigert, von 500,9 Mrd. Dollar auf 594,9 Mrd. Dollar, und seit Sommer 2020 hat sich dies nochmals massiv verschoben.

 Widerstand dagegen

Gegen den kassierten Mietendeckel gingen am selben Tag in Berlin spontan mindestens 20.000 Menschen auf die Straßen, was das beachtliche Potenzial einer MieterInnenbewegung aufzeigt, die auch über die Grenzen Berlins hinausreichen könnte – und die Unterstützung für die Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen in den Augen der BerlinerInnen dringlicher machte.

Auch tarifliche Auseinandersetzungen gab es in den vergangenen Wochen. Während in hunderten Aktionen die Mitglieder der IG Metall in die Auseinandersetzung eingestiegen sind, gab es sogar Forderungen, die einen härteren Kurs gegen das Programm von Lohnverzicht und Massenentlassungen der UnternehmerInnenverbände verlangten. Währenddessen gaben die VerhandlungsführerInnen der IGM ihren Kurs der Mitverwaltung des Elends der Krise gesundheitlich wie wirtschaftlich nicht auf. Zuerst setzten sie die Tarifrunde Ende des 1. Quartals 2020 aus, jetzt machten sie einen katastrophalen Abschluss, dafür aber über 21 Monate. Und das Ganze in einer Situation, in der Bankrotte bevorstehen und bereits im letzten Jahr in der Metallindustrie allein die Streichung von knapp 400.000 Stellen angekündigt wurde, während Daimler beispielsweise in der Krise die ausgeschütteten Aktiendividenden im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelte.

Zugleich wurde mit der Onlinepetition von #ZeroCovid im Januar, die über 111.000 UnterzeichnerInnen gewinnen konnte, sichtbar, welches Potenzial eine linke Bewegung gegen Pandemie und Krise hätte, die den desillusionierten und verängstigten ArbeiterInnen und verarmten KleinbürgerInnen eine eigenständige Perspektive zur Bekämpfung der Pandemie vermittelt. Ein Potenzial, welches jedoch sowohl durch die Weigerung großer Teile der radikalen oder nicht so radikalen Linken verschenkt wird, den Kampf gegen die Pandemie mit dem gegen die kapitalistische Krise zu verbinden. Diese Politik führt nicht nur dazu, dass ein vorhandenes Widerstandspotenzial nicht organisiert wird – sie erleichtert den Führungen der Gewerkschaften und reformistischen Parteien auch ihre Politik der Klassenzusammenarbeit.

Dass das Potenzial durchaus groß ist, zeigten nicht nur die spontanen Demos gegen den Mietendeckel. Die großen Veranstaltungen zum 8. März, dem internationalen Frauenkampftag, und die Gedenkveranstaltung zum faschistisch-terroristischen Anschlag von Hanau machen deutlich, welch enorme Kampfkraft vor allem geschlechtlich und rassistisch Unterdrückte haben. Mit der Bildung von Migrantifa, aber vor allem durch die sich verschärfenden Angriffe erkennen wir, wie sich MigrantInnen sozialen Kämpfen zunehmend anschließen.

Aufgabe der politischen Linken

Die Gründe für das Scheitern der „radikalen“ Linken, einschließlich ihrer klassenorientierten Teile können freilich nicht spontan, durch das Entstehen neuer Bewegungen und deren Mobilisierung, überwunden werden. Bereits vor der Pandemie standen wir einem politisch-programmatischen Elend in der Linken gegenüber, die der gesamtgesellschaftlichen Tendenz des Rucks nach rechts nichts entgegenzustellen vermochte.

Und so kommt es, dass sich größere Teile der Linken in der momentanen Krise selbst beschränken, auf Teilforderungen und lokale Auseinandersetzungen ausweichen oder nur abstrakt kapitalismuskritische Gesinnung predigen. Andere hingegen weigern sich, eine politische Antwort auf die gesundheitliche Krise zu geben und begrenzen sich auf reine Finanzierungsforderungen.

Kurzum, es fehlt an einer Strategie in der Linken. Eine solche müsste nämlich von einem Verständnis der Totalität, der Gesamtheit der aktuellen Krise und Problemstellungen ausgehen. Politisch-programmatisch müsste sie dabei jedoch eine Methode verfolgen, die objektive Situation mit ihren aktuellen, konkreten Problemen und Ansätzen von Widerstand mit einer revolutionären Antwort darauf zu verbinden. Kurz sie braucht ein Aktionsprogramm, das der gegenwärtigen Lage entspricht. Die Aufgabe der antikapitalistischen und klassenkämpferischen Linken bestände darin, eine weiterführende Perspektive aufzuzeigen, die nicht nur die unmittelbare Not, sondern auch ihren wesentlichen Kern aufzeigt und Tageskämpfe mit dem für eine andere, sozialistische Gesellschaft strategisch vermittelt.

Als ArbeiterInnenmacht haben wir in den letzten Monaten versucht, über die #ZeroCovid-Initiative einen solchen Ansatz beispielhaft mit zu erarbeiten. Jedoch konnte diese bisher nicht eine Schlagkraft entwickeln, die ihrer politischen Stoßrichtung gebührt. Dabei präsentieren ihre Schlüsselforderungen wichtige Elemente für einen gemeinsamen Kampf gegen Pandemie und Krise, die durch weitere Forderungen (z. B. zur Wohnungsfrage, Umstrukturierungen in der gesamten Industrie, ökologische Probleme, Rechtspopulismus, Rassismus, Faschismus) ergänzt werden müssten.

Eine Schlüsselrolle wird in diesen Kämpfen die Frage der ArbeiterInnenkontrolle über die zu erkämpfenden Maßnahmen spielen. Diese Losung gilt es daher zu erklären und konkret zu bestimmen.

Eine notwendige Aufgabe für die gesamte Linke besteht in jedem Fall darin, eine offene Debatte über die Möglichkeiten gemeinsam organisierten Widerstands zu führen, sich dabei über die verschiedenen Perspektiven zu verständigen und gemeinsame Forderungen und Aktionen zu beschließen.

Im Wahljahr 2021, in dem die sogenannte K-Frage lauter wird, müssen wir von der Straße eine schlagkräftige Bewegung aufbauen, die die eigentliche K-Frage konkret besetzt. Die Frage lautet: Welche Klasse leidet unter der herrschenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krise? Welche zahlt für sie? Wie kommen wir dahin, die KrisengewinnerInnen zur Kasse zu bitten? Welchen gesundheitlichen Schutz brauchen wir und wer kontrolliert ihn? Wie können wir den versöhnlerischen Kurs in den Gewerkschaften zurückschlagen?

Daher schlagen wir eine Aktionskonferenz vor, die diese Fragen diskutiert und gemeinsam für ein kämpferisches Jahr 2021 sorgt.




Enteignet die Enteigner! Vergesellschaftung erkämpfen!

Aufruf zum Enteignungsblock am 1. Mai in Berlin, Infomail 1147, 24. April 2021

Freitag, 30. April, 17.00, Leopoldplatz, Von der Krise zur Enteignung!
Samstag, 1. Mai, 11.00, Hackescher Markt, Nicht auf unserem Rücken – Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive!
Samstag, 1. Mai, 17.00, Hermannplatz, Revolutionäre 1. Mai Demo

Steigende Mieten und Wohnungsspekulation, Krankenhausprivatisierungen und Gesundheitsnotstand, Massenentlassungen und Kurzarbeit, prekäre Jobs, doppelte Last in der Hausarbeit und knappe Kassen prägen unseren Alltag. Viele fühlen sich nach Monaten eines Zick-Zack-Kurses in der Pandemiebekämpfung, nach überhasteten Öffnungen von Schulen und Kitas sowie ebenso überhasteten Schließungen am Ende ihrer Kräfte. Millionen Menschen drohen Verarmung, Pleiten und Arbeitslosigkeit, während andere Überstunden im Krankenhaus oder in der Exportindustrie schieben müssen.

Dabei hat die Pandemiebekämpfung von Bund und Ländern schon im letzten Jahr Zehntausenden das Leben gekostet. Die Lasten dieser Politik müssen wir Lohnabhängige tragen, während der Lockdown vor den Pforten der großen Konzerne haltmacht, die weiter Milliardenprofite einfahren: seien es Konzerne wie Daimler und Volkswagen; seien es Amazon und die IT-Industrie; seien es BioNtech-Pfizer, Merck und andere Pharmariesen, seien es Deutsche Wohnen, Vonovia und andere.

Auch 2020 bleiben den 100 umsatzstärksten Konzernen in Deutschland noch satte 60 Mrd. Euro an Gewinnen, 32 Mrd. wurden an die Aktionär:innen als Dividenden ausgeschüttet. Krisengeschüttelte Unternehmen wie die Lufthansa wurden mit Milliarden Steuergeldern gerettet, während an den Schulen und Kitas bis heute Luftfilter oder IT-Endgeräte für viele Schüler:nnen fehlen. Die Politik ließ die Corona-Held:innen in den Krankenhäusern und im Einzelhandel zwar hochleben, auf Lohnerhöhungen, Arbeitsverkürzung und mehr Personal warten sie aber bis heute vergeblich.

Seit mehr als einem Jahr ist unser Leben von einer dreifachen Krise geprägt, deren Ende nicht in Sicht ist: der tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg; einer Pandemie, die weltweit schon drei Millionen Tote gefordert hat und einer fortdauernden Umweltkrise, deren Auswirkungen immer deutlicher werden. Und geht es nach denen, die im Kapitalismus das Sagen haben, sollen wir für Krise und Pandemie bezahlen, sollen wir die Staatsverschuldung durch mehr Steuern und Kürzungen finanzieren; sollen wir den Buckel krumm machen, damit Deutschland und deutsche Konzerne den Weltmarkt erobern und beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt erfolgreich sein können.

Während der Staat in der Krise mit unzureichenden Hilfen wie Kurzarbeiter:innengeld notdürftig eingesprungen ist, sollen wir in „Eigenverantwortung“ eine Misere ausbaden, für die wir keine Verantwortung tragen. Während viele von uns aus ihren Wohnungen verdrängt werden und ihre Arbeitsplätze zu verlieren drohen, bereichern sich Konzerne auf unsere Kosten. Während wir – und erst recht Millionen auf der ganzen Welt – auf Impfungen und Impfstoff warten, entpuppen sich die Patente der Pharmariesen als Lizenz zum Gelddrucken. Während wir um unsere Arbeitsplätze fürchten, erhöhen die ChefIinnen in den Konzernzentralen den Druck auf uns. Die einen werden gefeuert, die anderen sollen für weniger Geld immer mehr arbeiten, ob nun in den Produktionsstätten, in den Kaufhäusern, im Versandhandel oder im Home-Office.

Sie, die kapitalistischen Ausbeuter:innen, diktieren uns unsere Lebensbedingungen bis in die Freizeit. Sie verdrängen uns aus unseren Wohnungen und Stadtteilen, sie machen Gewinne mit unserer Gesundheit und durch die Ausbeutung unserer Arbeitskraft. Sie bluten soziale Einrichtungen und Sicherungssysteme aus und zwingen vor allem Frauen noch mehr Sorgearbeit im Haushalt auf. Sie verwehren migrantischen Arbeiter:innen und Geflüchteten den Zutritt zum „freien“ Arbeitsmarkt und organisieren die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft.

Ein besseres Leben, das frei ist von Existenzangst, das frei ist von der Angst um die eigene Gesundheit, mit der Regierung und Corona-Leugner:innen auf wahnwitzige Weise spielen; ein Leben das frei ist von Sexismus, Rassismus und Kriegstreiberei – all das müssen wir uns selbst erkämpfen. Wir müssen uns fragen: Welche Klasse, welche Kraft, welche Bewegung bestimmt über die Wirtschaft und Politik? Ein besseres Leben können wir nur erkämpfen, wenn wir selbst die Verfügungsgewalt des Kapitals über unsere Arbeit, über unser Leben, über unsere Wohnverhältnisse, unsere Gesundheit, über die soziale Reproduktion in Frage stellen.

Daher wollen wir gemeinsam eine Massenbewegung gegen Krise und Pandemie aufbauen, die vor der Eigentumsfrage nicht haltmacht. Deshalb demonstrieren wir gemeinsam am Ersten Mai. Organisieren wir uns in Kampagnen wie DWE und Co. enteignen, in den Betrieben und Gewerkschaften, an Schulen und Unis, in den Communities und Stadtteilen, in Aktionsbündnissen, so dass nicht wir, sondern die Reichen und Vermögenden die Kosten der Krise tragen müssen!

  • Verbot aller Räumungen und Wohnungskündigungen, Erlass der Mietschulden! Für die Wiedereinsetzung der Wohngemeinnützigkeit und Enteignung der großen profitorientierten Wohnungskonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. unter Kontrolle der Mieter:innen!
  • Gegen jede Diskriminierung von MigrantIinnen bei der Suche nach Wohnung oder Arbeitsplatz! Volle Staatsbürger:innenrechte für alle!
  • Enteignung des Gesundheitssektors und der Pharmaindustrie; Aufhebung aller Patente auf Impfstoffe! Rasche und gerechte globale Verteilung! Kontrolle der Maßnahmen durch die Beschäftigten im Gesundheitssektor! Streichung der Schulden der Länder des globalen Südens!
  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Carearbeit zur Durchbrechung der sexistischen Arbeitsteilung! Milliardeninvestitionen in Bildung, Erziehung und Pflege, bezahlt durch progressive Besteuerung von Reichen und Kapitalist:innen!
  • Nein zur Festung Europa – offene Grenzen! Organisierter Selbstschutz gegen rechte Gewalt! Verteidigt die Demonstrationsfreiheit und demokratische Rechte!
  • Schluss mit allen Auslandseinsätzen, Waffenexporten, politischen und wirtschaftlichen Hilfen für reaktionäre Regime! Austritt aus der NATO!
  • Kampf gegen alle Entlassungen! Gesetzlicher Mindestlohn und Mindesteinkommen für alle von 15,- Euro/Stunde! Hundertprozentige Fortzahlung der Einkommen der Beschäftigten und kleiner Selbstständiger während eines solidarischen Lockdowns.
  • Enteignung aller Unternehmen, die mit Massenentlassungen drohen! Energiewende durch Enteignung des Energie- und Verkehrssektors unter Kontrolle der Beschäftigten! Die Reichen müssen zahlen – massive Besteuerung von Reichen und Kapitalist:innen!

Unterstützende Gruppierungen: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Razem Berlin, REVOLUTION, Revolutionäre Internationalistische Organisation/Klasse gegen Klasse, Sozialistische Alternative (SAV) Berlin, #ZeroCovid Berlin




Für einen kämpferischen 1. Mai – Gewerkschaften in die Offensive!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, Infomail 1144, 4. April 2021

Lohnabhängige sehen sich mit einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise konfrontiert. Eine Rezession und die damit einhergehende Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit hat sich nicht erst seit der Corona-Pandemie Bahn gebrochen. Schon 2019 hat sich eine erneute kapitalistische Krise angedeutet. Die Ausbreitung und notwendige Bekämpfung des Virus hat die Lage verschärft und zusätzlich für eine gesundheitliche Gefahr, nicht zuletzt am Arbeitsplatz, gesorgt. Damit die Kosten und Folgen der Krise nicht von der Arbeiter*innenklasse getragen werden, müssen die Gewerkschaften – natürlich unter Einhaltung nötiger Hygienemaßnahmen – ihre Mitgliedschaften und möglichst große Teile der Belegschaften mobilisieren, um gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf den Rücken der Beschäftigten zu kämpfen.

Schluss mit der Verzichtslogik

Wöchentlich ereilen uns neue Meldungen von Massenentlassungen. Von Kaufhof bis ThyssenKrupp. Von Continental bis Daimler. Immer wieder haben die Gewerkschaftsführungen Zugeständnisse an die Kapitalseite gemacht. Doch Entlassungen, die unter anderem durch Lohnverzicht verhindert werden sollten, werden dennoch umgesetzt. Dass mit Verhandlungen Vereinbarungen im Sinne der Beschäftigten zu erreichen wären, ist eine Illusion. Denn gerade in der Krise wird deutlich, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft unterschiedliche Interessen zwischen den Kapitaleignern und den Lohnabhängigen gibt. Die Lasten der Krise sollen auf dem Rücken der Beschäftigten abgeladen werden.

Kampf um jeden Arbeitsplatz

Daher muss stattdessen um jeden einzelnen Arbeitsplatz gekämpft werden, mit Mittel von Streiks und gegebenenfalls Betriebsbesetzungen – mit der Forderung nach einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, um die vorhandene Arbeit gerecht zu verteilen. Es sollte die Forderung aufgestellt werden, dass Konzerne, die solche Sparprogramme gegen die Beschäftigten durchsetzen, unter demokratischer Kontrolle durch die arbeitende Bevölkerung vergesellschaftet werden. Was produziert wird, darf nicht länger von den Profitinteressen des Kapitals abhängen, sondern muss sich nach den Bedürfnissen von Belegschaften, Umwelt und der Gesellschaft richten.

Für sichere Schulen und Kitas

Die ausbleibenden Investitionen sowie die soziale Spaltung innerhalb des Bildungssystems haben während der Pandemie besondere Spuren hinterlassen. Etliche Schüler*innen werden abgehängt, Eltern und Lehrer*innen werden zum größten Teil sich selbst überlassen. Immer wieder wurden Schüler*innen zu Versuchskaninchen im Zuge von Pandemie-Maßnahmen. Hier stehen Kapitalinteressen im Vordergrund. Maßnahmen, um Schulen und Kitas sicher zu machen, wurden fahrlässig verzögert. Zudem wurde deutlich, was es heißt, dass seit Jahren der Ruf nach mehr Personal nicht erhört wurde. Wir benötigen dauerhaft mehr und besser bezahltes Personal im Bildungswesen, das auf Wunsch zeitnah geimpft wird.

Außerdem benötigen wir massive Investitionen in das Bildungssystem, um kleinere Klassen und eine deutlich bessere Ausstattung zu ermöglichen, sowie eine Abkehr von der Noten- und Prüfungslogik. Sofort müssen massenhaft Luftfilter und Testkits produziert und für Schulen und Kitas zur Verfügung gestellt werden. Komitees, bestehend aus Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern, sollten über das Ob und Wie von Schulöffnungen demokratisch entscheiden.

Für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitssystem

Nicht erst seit dem starken Ansteigen von Infektionszahlungen und Hospitalisierungen wissen wir, auf welch wackligem Fundament unser Gesundheitssystem steht. Kürzungen, das Einführen der Fallkostenpauschale und Privatisierungen bzw. Schließungen von Krankenhäusern haben dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen des Personals und das Patientenwohl zugunsten von Profiten gelitten haben. Nötig sind Investitionen und eine bedarfsdeckende Finanzierung des Gesundheitswesens. Das System der Fallkostenpauschalen, genau wie alle durchgeführten Privatisierungen müssen abgeschafft bzw. rückgängig gemacht werden. Was gebraucht wird, ist ein öffentliches Gesundheitswesen nach Bedarf statt für Profit. Für diese Forderungen sollte ver.di eine bundesweite Kampagne in Gang setzen, bei der die Beschäftigten in den Krankenhäusern und den Gesundheitsberufen mobilisiert werden, die durch eine breite Solidaritätskampagne aller DGB-Gewerkschaften und sozialen Bewegungen unterstützt wird.

Kampf gegen Pandemie

Um die Infektionszahlen zu verringern, werden zwar Kontaktbeschränkungen im Privatbereich verhängt, aber das Runterfahren von Produktion, die nicht unmittelbar lebensnotwendig ist, wird im Interesse von Konzernen nicht durchgesetzt. Stattdessen wäre ein mindestens dreiwöchiger Zusatzurlaub von nicht-systemrelevanter Produktion bei voller Lohnfortzahlung ein Hebel, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Dafür sollten sich die Gewerkschaften einsetzen.

Die momentane akute Impfstoffknappheit ist eines der größten Versagen bürgerlicher Politik der letzten Jahre. Vor allem aber wird deutlich, dass die private Konkurrenz zwischen Pharmaunternehmen darüber, ob und wie geforscht bzw. produziert wird, vor allem den Eigentümern eben jener Konzerne nützt. Während die Entwicklung der Impfstoffe zu einem großen Teil aus öffentlichen Geldern finanziert wurde, werden sie nun zu überhöhten Preisen gekauft, damit die Konzerne damit Profite machen können. Stattdessen setzt die VKG sich für einen demokratischen Plan zur Impfstoffproduktion ein, der vorsieht, dass alle Impfstofflizenzen freigegeben werden und die zur Verfügung stehenden Produktionskapazitäten unter demokratischer Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung vergesellschaftet werden, um die Bevölkerungen – hier in Deutschland, aber auch international – im höchst möglichen Tempo impfen zu können.

Reiche besteuern

Währende Hunderttausende ihre Jobs verloren haben oder enorme Einkommenseinbußen hinnehmen mussten, sind die Vermögen der Superreichen auch währen der Krise weiter gestiegen. Millionen von Menschen sind noch immer Opfer des schikanösen Hartz-Systems oder kämpfen in sogenannter „prekärer Beschäftigung“ um‘s Überleben. Finanzielle Mittel fehlen im Bildungssektor, im Gesundheitssystem oder beim ökologischen Umbau.

Um dem entschlossen entgegenzuwirken, bedarf es einer Vermögensabgabe für Superreiche sowie einer deutlich höheren Besteuerung von Vermögen und Kapital.

Kampf statt „Sozialpartnerschaft“

Aktuelle Massenentlassungen und Forderungen der Arbeitgeber, soziale Errungenschaften einzukassieren, machen wieder einmal deutlich, dass es mit dem „partnerschaftlichen“ Verhalten nicht weit her ist, sondern Klassenkampf von oben vorbereitet wird. Einheit und Kampfbereitschaft der Lohnabhängigen schaffen die Grundlage für Siege in Ausein-andersetzungen, nicht „geschicktes Verhandeln“ oder Appelle an die Vernunft des Kapitals. Die Politik der Sozialpartnerschaft, an der die Gewerkschaftsführungen weiterhin festhalten, führt zu Ausverkauf, Arbeitsplatzabbau und Verzicht. Stattdessen muss Widerstand organisiert werden – und zwar dringend.

Für einen bundesweiten Aktionstag im September

Noch vor den Bundestagswahlen muss der Druck auf Regierung und Arbeitgeber aufgebaut werden. Briefe und Petitionen reichen nicht aus. Wir müssen den Druck aus den Betrieben auf die Straße bringen – gegen die Abwälzung der Krisenlasten, für die Überwindung des Profitprinzips. Daher fordern wir den DGB auf, für Anfang September zu einem bundesweiten Aktionstag zu mobilisieren. Wenn es die Pandemiesituation erlaubt, sollte der DGB zu einer Großdemonstration aufrufen. Wenn nicht, an einem Tag in allen Städten zu Demonstrationen aufrufen. Schon jetzt sollten die Diskussionen darüber in den Betrieben und gewerkschaftlichen Gruppen über die Forderungen begonnen werden.

Wir halten folgende Forderungen für wichtig:

  • Nein zu Arbeitsplatzabbau und Entlassungen. Stattdessen 30-Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich
  • 100 Prozent Lohnfortzahlung statt Kurzarbeitergeld
  • Milliardenprogramm sofort in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Soziales. Keine Gelder in die Rüstung!
  • Keine Profite mit der Gesundheit: Produktion von Masken, Impfstoffen und Tests in staatlicher Hand, kontrolliert und verwaltet durch demokratisch gewählte Komitees aus Beschäftigten, Virolog*innen, Ärzt*innen
  • Deutliche Aufwertung der Berufe in Pflege, Krankenhäusern, Kitas, Schulen und mehr Personal
  • Nein zu Kürzungen bei kommunalen Einrichtungen wie bei Krankenhäusern, Schwimmbädern, Bibliotheken usw – Schuldenstreichung
  • Stopp Privatisierung – Rekommunalisierung aller privatisierten Krankenhäuser unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die Beschäftigten
  • Vermögensabgabe ab 1 Million Euro von 30 Prozent zur Bewältigung der Corona-Krise sowie Einführung einer Vermögenssteuer von 10 Prozent ab 1 Million Euro
  • Miethaie stoppen – ausgehend von der Kampagne Deutsche Wohnen und Co enteignen: Forderung nach Enteignung der Immobilienkonzerne, Einführung von Kostenmieten, Schaffung neuer Wohnungen durch öffentlichen Wohnungsbau
  • Offenlegung der Geschäftsbücher aller Betriebe, die entlassen wollen
  • Überführung der großen Konzerne und Banken in Gemeineigentum – Umstellung auf gesellschaftlich und ökologisch sinnvolle Produktion unter demokratischer Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung

Für einen kämpferischen Kurs der Gewerkschaften

Es bedarf eines Kurswechsels der Gewerkschaften. Den wird es nicht von alleine geben. Alle, die unsere Vorschläge gut finden, fordern wir deshalb auf, mit uns in Kontakt zu treten, um gemeinsam zu überlegen, wie wir diese Punkte in die Gewerkschaften tragen können.




Ein Jahr nach Hanau: kein Vergeben, kein Vergessen!

Jonathan Frühling, Infomail 1139, 19. März 2021

In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 erschoss in Hanau ein faschistischer Attentäter neun Menschen, weitere wurden schwer verletzt. Dabei nahm der Rassist Tobias Rathjen gezielt MigrantInnen ins Visier. Nach den Anschlägen flüchtete er nach Hause, tötete seine Mutter und nahm sich selbst das Leben.

Rechtsruck und faschistischer Terror

Der Attentäter von Hanau war aller Wahrscheinlichkeit nach in einschlägigen Incel-Foren unterwegs, wo sich Männer austauschen, radikalisieren und gegenseitig zu (terroristischen) Gewalttaten anstacheln. (Incel: Abkürzung für „involuntary celibate“; „unfreiwilliges Zölibat“) Tiefer Hass auf Frauen, eliminatorischer Rassismus und wahnhafte Verschwörungstheorien, angetrieben von tiefem Narzissmus, waren Teil von Rathjens menschenfeindlicher Ideologie, die er vor der Tat im Internet ähnlich anderen Rechtsterroristen wie Breivik (Norwegen), Balliet (Halle a. d. Saale) oder Tarrant (Christchurch/Neuseeland) auslebte und propagierte.

Die etablierte Politik hatte natürlich sofort das Märchen vom psychisch kranken Einzeltäter bemüht. Ein verwahrloster und dissozialer Mann, der durch Frust auf die schiefe Bahn geraten und dann auf eigene Rechnung aktiv geworden sei. Dieser Ansatz greift aber viel zu kurz.

Das Massaker fand nicht unabhängig von der Gesellschaft im luftleeren Raum statt, sondern ist Teil eines nationalen und internationalen Rechtsrucks, der von faschistischen bis rechtspopulistischen Parteien und Organisationen, aber auch von Parteien der sogenannten „Mitte“ aktiv befördert wird. Dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, kriminelle AusländerInnen abzuschieben seien, Warnungen vor deutschem „Identitätsverlust“, all das wird auch immer wieder vom bürgerlichen Mainstream von Union über FDP bis Grüne vertreten. Dass die Migration kontrolliert werden müsse und die Geflüchteten nicht noch einmal in Massen nach Europa kommen dürften – dem widersprechen auch SPD, Gewerkschaftsführungen, ja selbst bedeutende Teile der Linkspartei nicht.

Antisemitismus feiert derzeit durch die CoronaleugnerInnen ein unheimliches Comeback. Dass geheime Mächte unsere Welt steuern und es einen Überlegenheitsanspruch einer sogenannten „weißen Rasse“ gibt, das sind nicht nur die Vorstellungen eines psychisch kranken Terroristen. Sie bilden auch das ideologische Futter einer neuen rechten Massenbewegung, die sich aus weiten Teilen des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten zusammensetzt, die, wirtschaftlich zunehmend entgleist und individualisiert, anfällig werden für Verschwörungstheorien, Rassismus und den Glauben an eine höhere Volksidentität.

Was tun?

Auf die Polizei können wir uns im Kampf gegen den Rechtsruck nicht verlassen. Das zeigt gerade der Anschlag von Hanau. Obwohl sie mehrmals gerufen wurde, kam der Notruf nicht durch. Auch andere Vorwürfe wurden ihr gegenüber laut. Zudem hatte der Täter bereits Ende 2019 einen Brief an die Hanauer Staatsanwaltschaft geschrieben, in dem er seine rechtsextremen Ansichten offenlegte. Seinen Waffenschein durfte er trotzdem behalten.

Außerdem ist die Polizei mit der Umsetzung der rassistischen Regierungspolitik betraut, setzt Abschiebungen, „racial profiling“ und das Abriegeln der Außengrenzen um. Zahlreiche FaschistInnen sind in der Polizei, wie das Auffliegen diverser rechter Netzwerke hier beweist. Folglich ist das Gerede von Einzelfällen genauso lächerlich wie gegenüber den Attentätern von Halle und Hanau.

Die Hinterbliebenen und Angehörigen der Opfer vom 19. Februar fordern Aufklärung, Konsequenzen und Gerechtigkeit, doch diese werden von Staat und Regierung wohl kaum kommen. Die Frage des Selbstschutzes und der Aufklärung gegen rechten Terror und Drangsalierung durch Polizei und Staat wird deshalb gerade seit Hanau vermehrt durch die nicht-weiße Community aufgeworfen. Wir halten dies für einen richtigen Schritt, aus dem dauerhafte antirassistische und antifaschistische Selbstverteidigungsstrukturen weiter entwickelt werden sollten.

Faschismus und Rassismus können geschlagen werden. Aber dazu braucht es einen politischen Kurswechsel in der Linken und ArbeiterInnenbewegung. Dass der Rechtspopulismus zu einer Massenkraft geworden ist und in seinem Schlepptau auch faschistische Organisationen und Terrorismus verstärkt ihr Unwesen treiben, resultiert auch daher, dass sich die reformistische ArbeiterInnenbewegung als bessere Systemverwalterin zu profilieren versucht. In Wirklichkeit frustriert sie mit ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit nicht nur die eigene Basis, sie stößt auch jene Lohnabhängigen, die sie in den letzten Jahren verloren hat, weiter ab. GewerkschafterInnen wählten überdurchschnittlich die AfD. Wir setzen dem die Aktionseinheit der ArbeiterInnenbewegung, von SPD, der Linkspartei, der Gewerkschaften und der MigrantInnen gegen rechten Terror, Populismus und Rechtsruck, verbunden mit einem Kampf gegen die Auswirkungen der aktuellen Krise, für bessere Gesundheitsversorgung, Aufteilung der Arbeit auf alle hier Lebenden entgegen!

Wir rufen alle AntifaschistInnen auf, sich an den Gedenkkundgebungen zu beteiligen, um den Angehörigen unser Beileid und unsere Anteilnahme zu zeigen. Aber die Teilnahme muss auch eine Machtdemonstration von linken Kräften gegen die rechte Bedrohung beinhalten. Die große Anzahl an angemeldeten Demos zeigt, dass das gelingen kann. Lasst uns unsere Wut, Trauer, Zorn und Solidarität auf die Straße tragen!

Liste der Kundgebungen und Demos in Deutschland und Österreich




#ZeroCovid aufbauen!

Vorschläge der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Neue Internationale 253, Februar 2021

Die kommenden Wochen werden entscheidend, um das Potential von #ZeroCovid zu nutzen und eine Massenbewegung für Gesundheitsschutz und gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Massen aufzubauen.

Die fünf Hauptforderungen von #ZeroCovid, die mittlerweile an die 100.000 UnterstützerInnen gefunden haben, sollen dabei die Grundlage für die Kampagne bilden, die durch weitere Forderungen, Aufrufe, betriebliche und öffentliche Aktionen ergänzt und unterstützt werden kann. Wir sollten uns aber vor allem auf den Kampf für die fünf Punkte konzentrieren, die Zehntausende unterzeichnet haben – und die Diskussion vor allem darauf konzentrieren, wie wir eine schlagkräftige Bewegung aufbauen, die diese auch durchsetzen kann.

Ziel

Zur Zeit stellt #ZeroCovid noch eine Art Dach für Arbeits- und entstehende Ortsgruppen dar und noch kein schlagkräftiges Aktionsbündnis. Das soll und muss es aber werden, wenn wir erfolgreich sein wollen. Dazu bedarf es einer Massenbewegung, die  lokale und betriebliche Strukturen von aktiven UnterstützerInnen, also Orts- und Betriebsgruppen sowie Gewerkschaften, politische Organisationen und Gruppen umfasst. Aus den Basisstrukturen der Kampagne und unterstützenden Organisationen sollte eine Koordinierung gebildet werden, deren Aufgabe in der Präsentation nach außen, vor allem aber in der Koordinierung und Verbreiterung von Aktionen auf der Straße, in Betrieben und Schulen besteht, um den nötigen Druck zur Durchsetzung der Forderungen zu entfalten.

Zur Zeit tragen die Strukturen eine „provisorischen“ Charakter und das ist für eine erste Phase auch unvermeidlich. Je größer die Kampagne wird, umso mehr braucht es aber eine demokratische und politische Legitimation der Koordination, also der Führung der Initiative. Diese sollte am besten über eine Aktionskonferenz erfolgen, die die Koordinierung wählt und zugleich die Aufnahme von VertreterInnen neuer Orts- und Betriebsgruppen sowie von politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in die Koordinierung erlaubt. Sollte #ZeroCovid sehr groß werden, müsste die Koordinierung eventuell noch eine kleinere, arbeitsfähige Struktur aus ihrer Mitte bestimmen.

Aktionsfähige Strukturen und Verankerung

Ein wichtiger Schritt besteht darin, zehntausende UnterstützerInnen als AktivistInnen in lokalen Strukturen oder Arbeitsgruppen zu gewinnen. Neben Ortsgruppen sollten wir unbedingt den Aufbau von Gruppen in Betrieben, im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern, Schulen, Kitas, Unis vorantreiben.

Die Gewinnung von Gewerkschaften bzw. ihrer Gliederungen, der Aufbau von Betriebsgruppen und deren Vernetzung wird von entscheidender Bedeutung sein, weil sich die Forderungen nicht durch Unterschriftenlisten oder symbolische Aktionen durchsetzen lassen werden. Nötig sind dazu betriebliche Aktionen bis hin zum europaweiten, politischen Massenstreik. Es geht nicht darum, dass #ZeroCovid bzw. die unterstützenden Organisationen diesen alleine ausrufen oder durchführen, sondern dass die Kampagne die Initiative in diese Richtung entfaltet.

Um UnterstützerInnen in Betrieben, an Krankenhäusern und Schulen oder im öffentlichen Dienst zu gewinnen, sollte #ZeroCovid auch ReferentInnen zur Verfügung stellen, die die Kampagne vorstellen, und Arbeits-, lokale Gruppen und unterstützende Gewerkschaftsstrukturen sollten interessierten KollegInnen helfen, #ZeroCovid am Arbeitsplatz aufzubauen – z. B. über Betriebsversammlungen oder über kollektive Forderungen nach Gesundheitsschutz oder Aktionen gegen drohende Entlassungen. Ähnliches gilt auch für SchülerInnen und andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.

Klassenkampf und Kontrolle

Die Forderungen von #ZeroCovid werden sich nur durch Methoden des Klassenkampfes, durch Aktionen bis hin zu Massenstreiks durchsetzen lassen.

Regierungen und Kapital wollen keinen Lockdown, der sich am Gesundheitsschutz der ArbeiterInnenklasse und der Masse der Bevölkerung orientiert und mit sozialer Absicherung aller, einem Ausbau des Gesundheitswesens, Rücknahmen von Privatisierung und massiver Besteuerung der Reichen verbunden ist.

Eine solche Corona-Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen ins Zentrum stellt und auch kleinbürgerlichen und Mittelschichten die Existenz sichert, kollidiert mit der Politik von Bundesregierung, EU-Kommission und aller wichtigen Unternehmerverbände. Das heißt, wir müssen uns auf knallharten Klassenkampf einstellen. Dazu brauchen wir Selbstorganisation und Kampforgane nicht nur zur Durchsetzung der Forderungen, sondern auch zu deren Kontrolle.

Hier muss die Kampagne klarer, radikaler, direkter werden. Ansonsten wird sie die gescheiterte Corona-Politik der Regierungen nicht kippen können. Die Bedeutung einer solchen Radikalisierung, die Massenaktionen, Arbeitsniederlegungen und den Kampf für ArbeiterInnenkontrolle ins Zentrum rückt, ginge dabei weit über den Kampf um Gesundheitsschutz hinaus. #ZeroCovid könnte so auch zu einem Ausgangspunkt für eine europäische und internationale Bewegung gegen Pandemie und Krise werden.




Ein Schritt in die richtige Richtung: Zero Covid!

Markus Lehner, Neue Internationale 253, Februar 2021

Die Corona-Pandemie mit ihren bisher weltweit über 2 Millionen Toten ist sicherlich die gefährlichste sich schnell verbreitende globale Epidemie seit der Spanischen Grippe. Diese forderte am Ende des Ersten Weltkriegs mehr Todesopfer als der gesamte grausame Krieg zuvor. Sie breitete sich in insgesamt 4 Wellen über alle Kontinente aus, um am Ende alle mehr oder weniger schwer zu treffen – allein in Indien soll die Todesrate über 6 % gelegen haben. Damals dauerte es über ein Jahrzehnt, bis ein Impfstoff gegen Grippeviren vom Typ A gefunden wurde. Nach dem Höhepunkt 1918/19 brauchte es noch bis spät in die 1920er Jahre, bis die Epidemie ausklang -, um davor noch viele Todesopfer zu fordern!

Insofern ist die Geschwindigkeit, mit der diesmal ein Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden wurde, ein entscheidender Vorteil gegenüber der damaligen Situation. Allerdings lehrt diese Erfahrung auch, dass sich ein hochinfektiöses, global ausbreitendes Virus auch nur global ausrotten lässt – und die Geschwindigkeit dabei ein entscheidender Faktor ist. Einerseits: Solange es noch Weltregionen gibt, in denen das Virus unkontrolliert ausbrechen kann, ist es immer wieder gut für eine neue globale „Welle“. Andererseits: RNA-Viren wie Corona mutieren aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit sehr schnell. Dies führt nicht nur zu einem Wettrennen mit der Zeit, um rechtzeitig einen Impfstoff zu entwickeln, sondern wird uns auch in den kommenden Jahren immer wieder vor das Problem stellen, einen neuen Impfstoff gegen eine neue Variante des Virus komponieren zu müssen.

Keine Entwarnung

Dies liegt vor allem daran, dass eine breit eingesetzte Impfung einen Entwicklungsdruck auf das Virus ausüben und gerade die Virusvarianten, welche immun gegen den breitflächig eingesetzten Impfstoff sind, selektieren wird. Diese können sich dann im Verborgenen erneut aufbauen, bis es zu einer neuen Infektionswelle kommen wird. Dies sehen wir jedes Jahr in Form der Influenza (Grippe), gegen die unter hohem logistischen Aufwand ein neuer Impfstoff gezüchtet und appliziert werden muss. Das Gleiche kann uns im Kampf gegen Corona ebenfalls bevorstehen. Die Warnungen der VirologInnen verweisen darauf, dass eine kontinuierliche Beobachtung der Virusveränderung dringend geboten ist, um den Impfstoff schnell dahingehend verändern zu können, wenn die Impfung mit dem alten nicht mehr greifen würde.

Die Schnelligkeit der Entwicklung von Impfstoffen sollte daher nicht zu der Illusion führen, dass damit das Virus „besiegt“ sei. Erstens muss natürlich betont werden, dass ihre kurze Testphase weder ausreichend über medizinische Nebenfolgen Auskunft gibt noch über die tatsächliche Wirksamkeit des Impfschutzes (sowohl was den Schutz vor Erkrankung als auch die Infektiösität betrifft). Die Verimpfung stellt daher ein kalkuliertes Risiko dar, das mit den Gefahren der Weiterverbreitung des Virus abgewogen werden muss und auch weitere gesellschaftlich kontrollierte Überprüfungen der Wirkungsweise der Impfstoffe erfordert.

Zweitens wurde global gesehen die Kontrolle über die Produktion der Impfstoffe weitgehend großen Pharmakonzernen überlassen, die Geschwindigkeit und Ausmaß der Produktion ihrer Kostenkalkulation und damit ihren Profitinteressen unterordnen. Damit ergibt sich sogar in den „reichen“ Ländern eine viel zu geringe Geschwindigkeit der Lieferung von Impfstoffen, aber auch eine noch viel geringere und verzögerte Lieferung für den „globalen Süden“. Drittens: Da somit vor Ende 2022 nicht mit einer globalen „Durchimpfung“ zu rechnen ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass bis dahin gefährlichere Mutationen des Corona-Virus aufgetreten sind, die dann die Pandemie weiterhin am Leben erhalten. Schon jetzt gibt es eine große Zahl, die in bestimmten Formen weitaus ansteckender zu sein scheinen (ob sie auch tödlicher sind, ist derzeit noch in Untersuchung) und bei denen nicht abschließend geklärt wurde, ob die derzeitigen Impfstoff weiterhin ihre hohe Wirkung zeigen.

Zweite Welle

Wir befinden uns derzeit in der zweiten Welle der Pandemie – und wie bei der spanischen Grippe ist diese weitaus tödlicher als die erste. Dies zeigt sich auch in Deutschland bei der Auswertung der Übersterblichkeitsstatistik, die Ende letzten Jahres fast ein Drittel über dem Durchschnitt lag. Auch wenn man Alterseffekte und andere Ursachen herausrechnet, ist das Bedrohungspotential insbesondere für ältere Menschen eindeutig. Auch scheinen inzwischen die Mutationen des Virus für jüngere Menschen und Kinder bedrohlichere Krankheitsverläufe zu bewirken.

Eine dritte Welle mit möglicherweise gefährlicheren Formen des Virus sollte daher unbedingt verhindert werden – und aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Impfung alleine dagegen nicht ausreichen wird! Wenn wir die Selektion der „überlebenswerten“ PatientInnen (wie jetzt schon wieder z. B. in Portugal) oder das Sterben vor den Toren von Kliniken, die nicht mal mehr Betten für Schwerkranke haben (wie jetzt z. B. in Manaus in Brasilien) vermeiden wollen, braucht es eine wirksame internationale Strategie zur Pandemiebekämpfung!

Deren bisherigen Methoden können in drei Typen zusammengefasst werden. Geschwindigkeit und Ausmaß von Neuinfektionen hängen natürlich davon ab, wie viele noch nicht betroffene Menschen durch Kontakt mit VirenträgerInnen infiziert werden können. Sind etwa 70 % der Bevölkerung „immun“ (entweder durch Impfung oder, sofern die Antikörper durch Erkrankung noch vorhalten), so zeigt einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass die Zahl der Neuinfektionen so gering wird, dass das Virus einfach keine/n neue/n WirtIn mehr findet und damit verschwindet. Damit ist die berühmte „Herdenimmunität“ erreicht. Damit diese bei einer Pandemie eintritt, muss dies allerdings für 70 % der Weltbevölkerung gelten. Für neuere, infektiösere Mutanten wie die aus Großbritannien, Südafrika oder Brasilien würde eine Herdenimmunität jedoch schwerer zu erreichen sein. Die vielzitierten 70 % würden dann nicht mehr ausreichen.

Herdenimmunität

Der erste Typ der Pandemiebekämpfung ist daher, durch Verbreitung des Virus so schnell wie möglich „Herdenimmunität“ zu erreichen (wenn außer Acht gelassen wird, dass Personen nicht von neuen Varianten erneut angesteckt werden können oder mit der Zeit ihre Immunität verlieren). Letztlich war dies die „Strategie“ im Fall der Spanischen Grippe, womit das Virus nach etwa 10 Jahren verschwand bzw. durch „normale“ Grippeviren ersetzt wurde. Bei Corona ist die Geschwindigkeit der Verbreitung offensichtlich langsamer, so dass diese Strategie hier sehr viel länger brauchen würde. Bekanntlich wurde sie in Europa (kein Lockdown, aber mit Schutzmaßnahmen für „vulnerable Gruppen“) nur von Schweden versucht: Während nicht mal 5 % Immunität erreicht wurde, war die Todesrate wesentlich höher als in Ländern mit Lockdowns – diese Strategie gilt daher als gescheitert.

Allerdings stellt sie bis heute für eine große Zahl von halbkolonialen Ländern die vorherrschende dar. In den Metropolen des Nordens sieht man zynisch darüber hinweg, was das für die dortigen Gesundheitssysteme bedeutet – und schiebt die Schuld auf „wahnsinnige“ StaatschefInnen wie Brasiliens Bolsonaro oder wiegt sich in Sicherheit aufgrund der niedrigen Fallzahlen, die sich aus mangelhaften Testsystemen vor Ort ergeben. Die Weiterverbreitung des Virus im globalen Süden ist damit vorprogrammiert und untergräbt jede weltweite Strategie zur Pandemiebekämpfung.

Abflachen der Kurve

Nach der Abkehr von der Herdenimmunitätsstrategie in den imperialistischen Ländern ist die vorherrschende dort „das Abflachen der Kurve“. Diese beruht auf der statistisch aus der „Reproduktionszahl“ zu berechnenden Zahlder Neuinfektionen. Die Reproduktionszahl besagt, wie viele nicht immune Personen von einem/r Infizierten während seiner/ihrer aktiven Infektion „im Durchschnitt“ angesteckt werden. Die Geschwindigkeit der Ansteckungen ist durch die Exponentialfunktion an die Reproduktionszahl gebunden. Daher machen schon wenige Unterschiede in den Zahlen hinterm Komma spürbare Effekte beim Anstieg der Neuinfektionen (z. B. gemessen in der Verdoppelungsrate) aus, wenn die Zahl größer als eins ist, oder beim Rückgang der Neuinfektionen (gemessen z. B. in der Halbierungszeit), wenn die Zahl unter eins liegt.

Die „Flatten the curve“-Strategie besteht nun darin, Maßnahmen zu ergreifen, die Anzahl der Neuinfektionen erstmal so zu steuern, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht – also zunächst den Anstieg unterhalb der Grenze der Kapazität an Behandlungsmöglichkeiten (Intensivstationen, Pflegepersonal etc.) zu halten. Dazu muss die Reproduktionszahl Richtung der Eins abgesenkt werden, da ansonsten per exponentiellem Wachstum das Limit mehr oder weniger schnell erreicht wird. Dies kann zumeist nur durch starke Kontaktbeschränkungen wie Lockdowns, Schulschließungen, Maskenpflicht im öffentlichen Raum, Ausgangssperren, wiederholte Massentests, Quarantänemaßnahmen etc. erreicht werden. In einem zweiten Schritt muss die Zahl der Neuinfektionen auf ein Maß gesenkt werden, das eine Rückverfolgung von Infektionsketten und regionale Eindämmung von neuen Ausbrüchen ermöglicht. Dabei kommt es darauf an, wie weit die Reproduktionszahl tatsächlich unter eins gebracht wird. Bei den heute zumeist erreichten Werten der Zahl um die 0,9 dauert aber die Halbierung der Neuinfektionszahlen tatsächlich mehrere Monate. Schon eine Reduktion auf 0,8 würde dies auf wenige Wochen beschränken.

Dies führt auch ins Zentrum der Kritik an der heute vorherrschenden Strategie zur Pandemiebekämpfung. Die Regierungen des „globalen Nordens“ sind letztlich bürgerlich-kapitalistische, die nicht nur die Interessen von Pharma- und Gesundheitskonzernen nicht einmal in Pandemiezeiten anzutasten wagen – sie würden auch nie Maßnahmen ergreifen, die „ihrer“ Wirtschaft, d. h. den Profiten der wichtigsten Kapitalgruppen zuwiderliefen.

Daher ist auch die Strategie der Kurvenabflachung danach ausgerichtet, das öffentliche Leben nur soweit einzuschränken, wie es für die Profitinteressen des Kapitals gerade noch akzeptabel ist. D. h. es werden nicht die konsequenten Schritte zur Senkung der Infektionsausbreitung gesetzt, die notwendig wären, sondern die Reproduktionszahl wird gerade soweit gesenkt, dass das Gesundheitssystem es gerade noch aushält und andererseits „die Wirtschaft“ nicht weitere Wachstumseinbrüche erleidet. Heraus kommt dann ein monatelanger Teil-Lockdown mit immer absurderen Einschränkungen im privaten Bereich bei weitgehender Aufrechterhaltung der Aktivitäten großer Privatbetriebe. Einzig über die (Teil-)Schließungen im Bildungsbereich oder das Ausmaß von „Homeoffice“ werden größere Debatten geführt. Dabei wird deutlich, dass alle diese Maßnahmen nicht die Reduktion der Reproduktionszahl bringen, die tatsächlich zu raschen Halbierungszeiten der Zahl der Neuinfektionen führen würde – und damit zu einer echten Eindämmung von Infektionswellen.

#ZeroCovid

Mitte Dezember 2020 haben daher führende WissenschaftlerInnen auf dem Gebiet der Pandemiebekämpfung in dem einschlägigen Wissenschaftsjournal „The Lancet“ einen Aufruf publiziert, in dem sie einen radikalen Strategiewechsel gefordert haben. Diese dritte Strategie wurde mit dem Label #ZeroCovid versehen und bedeutet, dass durch einschneidende kurzzeitige Maßnahmen (3-4 Wochen) unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Bereiche die Zahl der Neuinfektionen soweit gesenkt werden kann (Ziel: nicht mehr als 10 Neuinfektionen pro einer Million EinwohnerInnen pro Tag), dass eine Vermeidung weiterer Infektionswellen erreicht werden kann.

Dazu schlägt der Aufruf entsprechende Testkapazitäten, Nachverfolgungsstrukturen und Quarantäne-Mechanismen im Infektionsfall vor. Es wird dabei auch vorgerechnet, dass ein solcher kurzfristiger Total-Lockdown weitaus weniger kostet als ein langwieriger Teil-Lockdown samt gesundheitlicher Folgeschäden. Die inzwischen oft vorgebrachte Kritik, „zero Covid“ sei gar nicht möglich, da ja das Virus durch diese Strategie nicht völlig verschwinden kann (was erst bei Herdenimmunität möglich ist), geht also ins Leere: Die Strategie ist eine, die für die Zeit, bis Herdenimmunität erreicht wird, das Niveau der Neuinfektionen soweit senkt, dass keine weitere Infektionswelle über das Land schwappt.

Wenn eine Kritik gerechtfertigt ist, dann, dass es sich um ein Programm rein für Europa handelt – und hier um eine Eindämmung durch synchronisierte Maßnahmen in der EU bei Aufrechterhaltung der offenen Grenzen handelt. Eine wirklich wirksame Strategie des „zero Covid“ müsste global koordiniert solche Maßnahmen umsetzen, um tatsächlich eine weitere globale Infektionswelle auszuschalten.

Daneben ist zu dem Aufruf in „The Lancet“ natürlich noch anderes zu bemerken: Die positive Bezugnahme auf China oder Australien, die angeblich erfolgreich auf eine „zero Covid“-Strategie gesetzt haben, ist mehr als fragwürdig. Im Fall von China ist ungewiss, inwiefern die drakonischen und autoritären Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung (im Rahmen der Verhängung von Kriegsrecht über Quarantäneregionen) tatsächlich die behaupteten Erfolge gezeitigt haben. Im Fall von Australien und Neuseeland wurden die Maßnahmen sicherlich nicht unter der Vorgabe von „offenen Grenzen“ durchgeführt. Ein weiterer kritischer Punkt an dem WissenschafterInnen-Aufruf ist natürlich, dass er sehr unkonkret bleibt, woraus die nun notwendigen Shutdown-Maßnahmen denn bestehen sollen.

Schranke Kapitalinteresse

Auch wenn es daher zu begrüßen ist, dass führende WissenschaftlerInnen erkannt haben, dass die von den herrschenden Regierungen in der EU durchgeführten Maßnahmen völlig unzureichend und nicht zielführend sind, so bleiben sie in der Ursachenforschung unterhalb der Erkenntnis, dass dies etwas mit den herrschenden Kapitalverhältnissen in der EU zu tun haben könnte.

Die Reaktion der Kapitalverbände (und wie nicht anders zu erwarten auch der Gewerkschaftsführungen) war trotzdem eindeutig: Eine Lockdown-Strategie, die auch die Privatwirtschaft betreffen würde und die geheiligten Lieferketten unterbricht, wäre völlig unakzeptabel und hätte „unabsehbare“ ökonomische Folgen. So meinte etwa der Präsident des BDI, dass ein Industrie-Shutdown schon von einer Woche zu einem Wachstumseinbruch von 5 % führen würde.

Verschwiegen wird sowohl, dass natürlich auch bei einem Zero-Covid-Shutdown Wirtschaftsbereiche, die für das Überleben notwendig sind, z. B. für Lebensmittelproduktion, weiterarbeiten müssten. Verschwiegen wird auch, dass nach dem ersten Lockdown die Lieferketten, anders als jetzt angedroht, nicht wochenlang wieder für den Anlauf brauchten. Verschwiegen wird natürlich auch, dass die deutsche Industrie momentan gerade im Export mit China wieder Milliardenprofite macht – und dies die Hauptsorge vor einem neuerlichen Lockdown ist, dass diese wieder wegbrechen.

Daher werden auch gerade jetzt wieder in solchen Branchen wie der Automobilindustrie Überstunden gefahren – und wird auf Beschäftigte Druck ausgeübt, jedenfalls zur Arbeit zu kommen und ja nicht sich etwa wegen einer Covid-Erkrankung krankzumelden (wegen der Quarantänefolgen, die das haben könnte). Hier gilt also wieder der volle Einsatz unter Lebensgefahr für „unsere Wirtschaft“, sprich ihre Profite!

Solidarischer Shutdown

Es ist daher eine sehr wichtige und richtige Initiative, dass der WissenschaftlerInnen-Aufruf von „The Lancet“ von der Kampagne „#ZeroCovid“ aufgegriffen und kritisch durch einen Aufruf „Für einen solidarischen europäischen Shutdown“ erweitert wurde (https://zero-covid.org/). Die InitiatorInnen dieses Aufrufs stammen überwiegend aus linken Organisationen oder sind bekannte progressive WissenschaftlerInnen und Kulturschaffende. Viele Unterzeichnende kommen auch aus Gewerkschaften oder sind aktiv in sozialen Bewegungen. Auch wenn der Aufruf von Menschen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland propagiert wurde und bis zum 25. Januar über 80.000 UnterzeichnerInnen mobilisieren konnte, so läuft er jedoch auch parallel zu ähnlichen Aufrufen in Großbritannien, Spanien und anderen europäischen Ländern.

Im Unterschied zum WissenschaftlerInnenaufruf benennt er auch konkret, dass der Shutodwn auch den Arbeitsbereich betreffen muss: „Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden. Diese Pause muss so lange dauern, bis die oben genannten Ziele erreicht sind. Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen.“

Hier wird auch ein entscheidender Punkt angesprochen: Die temporäre Stilllegung all der genannten Bereiche darf nicht den Regierungen, Ordnungsbehörden oder Unternehmerverbänden überlassen werden – wir wissen, was sie unter „lebensnotwendigen Arbeiten“ alles verstehen. Sowohl, was die noch weiterarbeitenden Betriebe (vor allem die im Gesundheitsbereich) als auch die Stilllegungen betrifft, müssen die dort Beschäftigten die Kontrolle über diese Maßnahmen übernehmen!

Insofern ist es sehr wichtig, dass der Aufruf auch die Vergesellschaftung des Gesundheitsbereichs, insbesondere die Zurücknahme der Privatisierungen in diesem Sektor fordert. Wenn nach der Erreichung der oben n  genannten Ziele wieder eine Kontrolle über die Pandemie erreicht ist, muss eine Neuordnung des Gesundheitsbereichs, eine Aufstockung der Institutionen stattfinden, die die Infektionen nachverfolgen  – und vor allem auch eine Überführung solcher Kontrollaufgaben weg von Ordnungsbehörden hin zu echten kommunalen Einrichtungen, die unter Kontrolle der dort lebenden Bevölkerung stehen.

Die Reichen müssen zahlen!

Weiterhin sind natürlich auch die Forderungen zur Finanzierung der Folgen des Shutdowns und zur sozialen Sicherung aller von den Maßnahmen betroffenen ArbeiterInnen, kleinen Selbstständigen und prekär Beschäftigten richtig und notwendig. Sie – nicht die großen und kleineren Konzerne – sind es, die vor allem unter der Krise bisher zu leiden hatten -, und denen sicherlich in naher Zukunft die ganze Last der weiteren Kosten noch aufgebürdet werden soll.

Insofern ist es richtig, schon jetzt, gerade durch die Organisierung einer wirksamen Pandemiebekämpfung die Strukturen des Widerstandes gegen die Krisenpolitik des Kapitals aufzubauen. Gerade hier zeigt es sich, wie sehr es notwendig ist, solche Initiativen wie „#ZeroCovid“ mit dem Aufbau von bundes- und europaweit koordinierten Antikrisenbündnissen zu verbinden.

Schließlich ist auch richtig an dem Aufruf, dass trotz der Zielrichtung eines „europäischen Shutdowns“ die Frage der globalen Pandemiebekämpfung klar aufgegriffen wird. Hier wird gefordert, die globale Produktion von Impfstoffen der Kontrolle der Konzerne zu entreißen, ihre Patente zu globalen öffentlichen Gütern zu machen. Allerdings bleibt diese Forderung  inkonsequent formuliert – klarerweise müsste die Stoßrichtung auf eine Enteignung dieser Konzerne und einen globalen Plan zur Herstellung, Verteilung und Verabreichung der Impfstoffe unter Kontrolle von Beschäftigten und Stadtteilen, ländlichen Gemeinden etc. zielen.

Von einer Unterschriftensammlung zur Aktionseinheit

Sicherlich bleibt auch dieser Aufruf in vielen Punkten vage, z. B. wer die AkteurInnen seiner Umsetzung sein sollten. Zwar werden auch die Gewerkschaften aufgefordert, für diese Ziele zu mobilisieren und an vielen Stellen wird von der Kontrolle durch Betroffene oder Beschäftigte geredet. Klar ist auch, dass in den Gewerkschaften solche Forderungen gegen einen Großteil der Führung hart erkämpft werden müssen, dass in den Parteien wie der LINKEN unterschiedliche Interessen vorherrschen, die in Bezug auf solche Forderungen heute positives Aufgreifen, morgen wieder völliges Dementieren erkennen lassen.

Auch wenn es in vielen Teilen der arbeitenden Bevölkerung große Sympathien für die Forderungen gibt, so herrscht doch auch große Angst über die Folgen eines weitergehenden Shutdowns, auch was die eigene soziale Situation betrifft. Daher ist es mit einem Aufruf bei weitem nicht getan. Die zigtausend UnterstützerInnen müssen organisiert werden, Druck in den Gewerkschaften, aber auch Parteien, Kommunen und Medien entwickeln, um diese Forderungen auch tatsächlich zu einer konkreten Option zu machen, die sich vor Ort und in den Betrieben umsetzen lässt. Die begonnene Gründung von Ortsgruppen und Kampagnenstrukturen stellt dazu einen essentiellen, richtigen Schritt dar.

Im Unterschied zu der Situation der letzten Monate, in der es nur die Alternative „Regierungs-Lockdown“ oder Proteste der von der Realität der Pandemie völlig entfernten QuerdenkerInnen, vor allem auch in Verbindung mit der politischen Rechten, gab, bietet der Kampf um den solidarischen Shutdown eine echte linke Perspektive. Er lässt sich nur gegen Kapital und Regierung durchsetzen und erfordert die selbstbestimmte Eigeninitiative von Arbeitenden und von sozialen Härten Betroffenen.

Bei aller Kritik an Mängeln, Fehlern und Leerstellen der Initiative – sie bietet eine Gelegenheit, die wir unbedingt ergreifen müssen, wollen wir nicht vollständig vor der gescheiterten Strategie der Regierenden kapitulieren und hinnehmen, dass die Folgen sowohl gesundheitlich wie ökonomisch dann wiederum der ArbeiterInnenklasse und den armen Teilen der Bevölkerung aufgebürdet werden. Wenn wir jetzt die Initiative ergreifen, werden wir dann im Kampf gegen diese Folgen und die uns sicher noch lange belastende Pandemie wesentlich besser eingreifen können!