Gezeter um die Schuldenbremse: Auswirkungen und Hintergründe

Jürgen Roth, Infomail 1238, 12. Dezember 2023

Exemplarisch für die aktuelle Argumentation des Lagers der Hardliner nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil (siehe dazu: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/12/01/bundesverfassungsgericht-bremst-haushalt-aus-fiskalkrise-droht/) stellen sich die FDP-Spitzen gegen die Forderungen von SPD-Chefin Saskia Esken und des DGB, die Schuldenbremse auch für 2024 wegen noch nicht ausgestandener Energiekrise auszusetzen. „Wir werden jetzt gezwungen, mit weniger öffentlichen Subventionen die Wirtschaft zu modernisieren“, tönt ihr Finanzminister und Bundesvorsitzender Christian Lindner. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sekundiert, die Ausgabenwünsche der SPD begründeten sicher keine Notlage. Selbst im Lager der Wirtschaftsweisen bleibt jedoch die Schuldenbremse umstritten. Was sind die tieferen Hintergründe dieser Debatte? Welche Position sollte die Arbeiter:innenklasse beziehen?

Auswirkungen

60 Milliarden Euro werden bis 2027 dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) fehlen. Darunter fallen Projekte wie die Ansiedlung der Halbleiterchipfabriken von Intel bzw. TSCM in Magdeburg bzw. Dresden, aber auch die Wärmeversorgung der Kommunen und der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft und Zusagen für Anschubfinanzierungen auf dem Klimagipfel. Klima- und Wirtschaftsminister Habeck (Bündnis 90/Grüne) verweist auf den irreparablen Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen internationale Wettbewerbsfähigkeit. Unter Verweis auf die Subventionspolitik Großbritanniens und den Inflation Reduction Act der USA spitzt er zu, die Vorhaben im KTF beträfen den „wirtschaftspolitischen Kern“ der BRD.

Da auch der Arbeitsmarkt Schleifspuren der schwachen Konjunktur zeigt, wächst auch der Bedarf an Arbeitsförderungsmaßnahmen. Im Berliner Abgeordnetenhaus warnt die Linksfraktion vor einer Neuauflage der Spar- und Privatisierungsorgien, wie sie kurz nach der Jahrtausendwende allerdings von der eigenen Partei mitgetragen wurden.

Doch woher die Mittel nehmen? Über Kürzungen an anderer Stelle im Etat, wie es FDP und Union fordern? Über Sondervermögen, Steuererhöhungen, Aussetzung oder gänzliche Abschaffung der Schuldenbremse? Um diese Punkte kreist die ganze Diskussion unter den staatstragenden Parteien.

Bundeshaushalt 2024: Attacken und Rettungsversuche

In der Bundestagsaussprache nach der Regierungserklärung des Kanzlers am 28. November wurde eines deutlich: Ein weiteres Aussetzen der Schuldenbremse über 2023 hinaus wird es mit Christenunion und AfD nicht geben. Das BVerfG hatte die nachträgliche Umwidmung von Sondervermögen, eigentlich Schattenhaushalten, ebenso untersagt wie die Mitnahme von nicht verbrauchten Haushaltsposten in folgenden Jahren. Die roten, nicht wählbaren Roben in Karlsruhe hatten sich damit wieder einmal als Blockierer:innen wie seinerzeit beim Berliner Mietendeckel betätigt, als Prellbock für jede ernsthafte Reform, geschweige denn Umwälzung. Das sei allen Linken ins Stammbuch geschrieben, die sich die Transformation zum Sozialismus auf schiedlich-friedlichem parlamentarischem Weg vorstellen!

CDU-Chef Merz setzte sich vehement gegen eine Erhöhung des Bürgergelds ab 1. Januar 2024 und für weitere Einschnitte im größten Posten, dem Sozialetat, ein. Dies war auch ein Wink mit dem Zaunpfahl an seine Parteikollegen im Ministerpräsidentenamt Berlins, Sachsens, Sachsen-Anhalts und Schleswig-Holsteins, die bemängelten, die Schuldenregel verhindere notwendige Investitionen. Auf der gleichen Klaviatur wie Habeck spielten die Fraktionsvorsitzenden von Grünen und SPD, während Linksfraktionschef – mittlerweile Chef ohne Fraktion – Bartsch einen konsequenten Abschied von der Schuldenbremse, aber auch mehr Einnahmen durch „gerechte Steuerpolitik“ forderte.

CSU-Chef Söder steht Merz und der FDP vehement zur Seite in puncto Bürgergelderhöhung und setzt noch einen drauf: Neu ankommende Ukraineflüchtlinge sollen kein Bürgergeld mehr bekommen und andere Geflüchtete erst nach 5 Jahren statt bisher 18 Monaten Anspruch auf Sozialleistungen erhalten.

Eigentlich sollte am 1. Dezember der nächste Haushalt verabschiedet werden. Nun mussten aber erste Anpassungsmaßnahmen für 2023 her. Das betraf Kredite aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) zur Finanzierung der Energiepreisbremse, wodurch die Nettokreditaufnahme des Bundes von 45,6 auf 70,6 Milliarden Euro stieg. Folglich wurde dies mit einer „außergewöhnlichen Notlage“ wie schon in den vergangenen 3 Jahren geltend gemacht. Schwieriger als die Umbuchung dieser längst ausgegebenen Finanzen wird die Aufstellung eines verfassungskonformen Bundesetats für 2024. Laut Lindner fehlen 17 Milliarden Euro plus 13 aus dem KTF. Er kündigte bereits an, die Strom- und Gaspreisbremsen mit Jahreswechsel statt erst Ende März 2024 auslaufen zu lassen. Weitere Möglichkeiten böten zusätzliche Kürzungen öffentlicher sowie Stärkung privater Investitionen und die Erhöhung der Kreditvergabe der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Analyst:innen der Berenberg-Bank rechnen mit einem Loch von insgesamt 130 Milliarden Euro für die Jahre 2024 – 2027.

Mittelfristig bleiben der Bundesregierung 5 Möglichkeiten, um aus der Malaise ständiger Etatnachbesserungen zu entfliehen. Erstens könnte die Schuldenbremse abgeschafft oder reformiert werden, wofür es bei Grünen, SPD und Linkspartei eine Mehrheit gibt. Sonst wäre nächstes Jahr nur eine Neuverschuldung von 15 Milliarden Euro erlaubt. Da FDP und Union dagegen sind, scheitert aber die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung. Die 2. Möglichkeit bestände in Ausgabenkürzungen, die dritte in Steuererhöhungen, die vierte in neuen Sondervermögen, die zudem noch dieses Jahr und wohl ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden müssten. Wahrscheinlich ist, dass sich die Koalition auf moderate Ausgabenkürzungen festlegen wird, z. B. bei öffentlichen Investitionen (Bahnausbau). Fünftens bliebe die 5. Ausrufung eines Notstandes in Folge. Es ist zu erwarten, dass sich der Konflikt innerhalb wie außerhalb der Ampelparteien genau darum zuspitzen wird. Die Berenberg-Bank rechnet mit einem Deal mit der Opposition: Die Union werde wohl einer Reform der Schuldenregel zustimmen im Gegenzug für weitere Verschärfungen des Asylrechts.

Die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Schuldenbremse?

Vielen gilt sie als Garantin solider Ausgabenpolitik, darunter Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD)! Anderen wie der Deutschen Bank (!) erscheint sie bei der derzeitigen schwachen Konjunktur neben Steuererhöhungen als Wachstumsbremse. Die Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, die Argumente ihrer Kritiker:innen aufmerksam zu studieren. Sie wird dann feststellen, dass die allermeisten „Reformer:innen“ gar keine Einwände hegen, wenn es um die Ablehnung von Erhöhung oder auch nur Stabilisierung „konsumtiver“ Ausgaben z. B. für Soziales geht. Das eint sie mit den Befürworter:innen der Schuldenbremse mit dem Unterschied, dass Letztere gerne mit ihr als Totschlagargument gegen aufkeimende Kritik an Sozialkürzungen zu Felde ziehen.

Stellvertretend für die Riege der Reformer:innen verweist Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, denn auch auf den Nutzen von Staatsausgaben für Investitionen in „die“ Wirtschaft. Ob der Bau von Schulen, Investitionen in Lehr- und Klinikpersonal dazugehören, darüber streitet sich selbst diese Riege, während neue Autobahnkilometer zweifellos gut angelegt seien. Kinder, Kranke und Klima müssen sich nämlich als Wachstumsressourcen erweisen, sprich neue Einnahmen generieren oder/und Kosten sparen. Gegner:innen wie die Freie Porschefahrer:innenpartei FDP bringen das Argument vor, nur Privatinvestitionen könnten Technologien entwickeln, welche sich dann auf dem Markt durchsetzten. Das Problem für den nationalen Gesamtkapitalisten Staat besteht allerdings darin, dass für die klugen, smarten Privatunternehmen in der gegenwärtigen Phase industriellen und technologischen globalen Wettbewerbs die Risiken viel zu groß sind. In dieser allen Kontrahent:innen heiligen Wirtschaftsordnung ist der Erfolg insbesondere kreditfinanzierter Investitionen ebenso stets unsicher wie der der Sparpolitik – staatlicher wie privater! Verschärft wird das Dilemma, für Marxist:innen aus dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate resultierend, noch dadurch, dass die Großmächte den mit Unsicherheiten en masse behafteten Job der kreditfinanzierten Schaffung von Wachstumsmärkten in Konkurrenz gegeneinander verfolgen. Also: Kein Vertrauen in linksbürgerliche Kritiker:innen der Schuldenbremse einschließlich linker Reformist:innen wie DIE LINKE!

Konsequente Kritiker:innen?

Am Rande sei angemerkt, dass die ganze Schuldendebatte die Tatsache der erstmals laut Creditreform seit 2019 in der BRD wieder zunehmenden Privatverschuldung ebenso ignoriert wie die wachsende Zahl sog. Zombiefirmen, deren Kreditneuaufnahmen nur dazu dienen, alte Schulden zu begleichen, ohne dass diese Umschuldungen sie wieder in die Gewinnzone führen können.

Es gereicht Joachim Rock, Abteilungsleiter Sozial- und Europapolitik beim Paritätischen Gesamtverband zur Ehre, dass er unbeirrt von der Engstirnigkeit der Verfechter:innen klassischer wie „alternativer“ keynesianischer Wirtschaftspolitik die Erhöhung des Bürgergelds verteidigt. Er weist nach, dass die Regelsätze für laufendes und kommendes Jahr noch auf Einkommens- und Verbrauchsstichproben aus dem Jahr 2018 stammen – vor der Inflation also! Er wehrt sich auch gegen die Wiedereinführung des 2010 gestrichenen Lohnabstandsgebotes, mit dem stets die Senkung von Sozialleistungen, nicht aber Lohnerhöhungen gerechtfertigt werden sollen. Zu Recht verteidigt er die Erhöhung des Mindestlohns und den Ausbau des Wohngeldes wie die Verdreifachung der Zahl von Anspruchsberechtigten darauf. Es ist völlig richtig, soziale Errungenschaften zu verteidigen, ohne auch nur der Logik der wirtschaftspolitischen Debatte im bürgerlichen Mainstream ein Jota an Zugeständnissen zu gewähren.

Das möchte auch Elsa Egerer tun, ihres Zeichens Dozentin an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz mit Schwerpunkten Plurale Ökonomik und nachhaltiger Gestaltung von Geld- und Finanzmärkten, was immer diese begriffliche Geschwulst auch bedeuten mag. Sie verortet die 2009 eingeführte Schuldenbremse, die die Neuverschuldung des Bundes auf 0,35 % des BIP begrenzt, als Folge der expansiven Fiskalpolitik, mittels der die damalige globale Finanzkrise bewältigt worden sei. Doch in der Folge verteidigt Frau Egerer zwar im Unterschied zu oben genannten Streithähnen und -hennen auch konsumtive Ausgaben, jedoch mit aus der Mottenkiste des Keynesianismus entlehnter Moderner Monetärtheorie:

„… beruht die Schuldenbremse auf einer einseitigen und fehlgeleiteten ökonomischen Lehre […] der ökonomische Sachzwang, der die Schuldenbremse vermeintlich erfordert, existiert nicht. […] Haushaltsregeln sind keine ökonomischen Faktizitäten, sondern das Ergebnis des politischen Willens. […] Geld hingegen muss entgegen der dominanten Erzählung nicht erwirtschaftet werden, sondern entsteht, wenn Kredite vergeben werden. Schuld ist in unserem System die Voraussetzung für Geld.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 25./26. November 2023, S. 3)

Die „Theorie“ dieser ökonomischen Märchentante würde schon beim Monopolyspiel scheitern, zur Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise liefert sie erst recht nur Verdunklung.

Lasse Thiele (ND, 1. Dezember 2023, S. 8) ist beizupflichten, wenn er schreibt: „Natürlich muss die Schuldenbremse weg. […] Doch nicht nur die bisweilen sozialpartnerschaftliche Rhetorik der neuen konservativen Kritiker*innen gibt Anlass zum Misstrauen. Auch Mitte-links-Kritik an der Schuldenbremse wirkt wenig emanzipiert von Kapitalinteressen, hängt meist altem keynesianischen Denken an und vertritt oft platten Standortnationalismus.“ Er plädiert für größere politische Tabubrüche: Vermögens- und Erbschaftssteuern, Abbau fossiler Investitionen.

Auch seinen weiteren Ausführungen ist vollständig beizupflichten: „Das Geld zur Beseitigung sozialer und ökologischer Verwerfungen von den Profiteur*innen einzutreiben, ist besser, als es verzinst von ihnen zu leihen. Anders als der Diskurs derzeit suggeriert, würden sich Verteilungsfragen selbst mit einer aufgehobenen Schuldenbremse nicht erübrigen. Nicht nur, wie Spielräume geschaffen werden – durch Schulden, Steuererhöhungen oder Subventionsabbau –, sondern auch, wofür sie genutzt werden und wem sie zugutekommen, bleibt eine Frage politischer Kämpfe. […] Es bleibt richtig, sich als Linke breiten Bündnissen für die Aufhebung der Schuldenbremse anzuschließen. Doch braucht es darin auch eine eigenständige Position. Die sollte über standortnationalistische Sorge um ,unsere Wirtschaft’ hinausgehen, emanzipatorische Maßstäbe für Investitionen anlegen und nicht in der grün-kapitalistischen Wachstumslogik aufgehen, laut der man sich aus der Klimakrise bequem herausinvestieren könnte.“

Das objektive Fazit seiner Gedanken mag er jedoch nicht ziehen: Dieser Wunschzettel bedarf zu seiner dringend notwendigen Realisierung nicht des Weihnachtsmannes, sondern des gewaltsamen Sturzes und entschädigungsloser Enteignung der herrschenden Klasse und ebenso des Aufbaues einer sozialistischen Planwirtschaft!

Tanz ums goldene Kalb

Allem Gesagten fehlt ein zentraler Aspekt, der erst das Gezänk um die Schuldenbremse verständlich macht. Es ist der global entbrannte Kampf nicht nur um Wachstumspfade, sondern um die Rettung des Kapitalstocks und liquiden Vermögens und Einkommens zu seinen historischen Werten. Das übersehen auch viele sich auf den Marxismus berufende Zweifler:innen an der Gültigkeit des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und dessen immanenter Krisentendenz. Sie argumentieren, dass durch technologische Verbilligung des konstanten Kapitals die organische Zusammensetzung sinken und dadurch beschleunigte Akkumulation wieder einsetzen können. Sie ignorieren, dass dies ohne schlagartige, verheerende Entwertung des Anlagevermögens nicht zu haben sein wird. Und genau darum geht es eben auch bei der Schuldenbremse insbesondere in Zeiten, wo selbst die OECD mit alles anderem als einer „weichen Landung“ nach dem Pandemieschock und inmitten hartnäckiger Kerninflation, wachsender Verschuldung und Rezession im Euroraum und darüber hinaus rechnet.

Nachdem sich der kreditstimulierte Kasinokapitalismus zusehends seit 2008/2009 erledigt hat, droht ein Wettlauf darum, wer bzw. welche Macht zuerst sein/ihr fiktives Kapitals als realen Wert retten kann – Flucht in reale Sach- und Vermögenswerte, eben der Tanz um die Vergoldung des eigenen Kälberstalls.

Wenn die Börse in den USA bei der Quartalsmeldung über gestiegene Arbeitslosenzahlen zu einem Kursfeuerwerk abhebt, steckt dahinter die Spekulation, dass eine Rezession zu sinkenden Zinssätzen führen möge, die den Kurs der Geldanleihen in die Höhe treibt. Die Gläubiger:innen blieben dann besser im Geschäft auf Kosten des Bankrottes ihrer Konkurrent:innen und überdies kreditwürdiger und damit wachstumsträchtiger. Es geht also um ein Rattenrennen zur Verhinderung der Entwertung des Anlagevermögens, wenn sich zusehends Geld gebieterisch als Wertmaßstab und weniger als Zirkulationsmittel zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs zur Geltung bringt: Hic Rhodus hic salta! (Hier gilt es, hier zeige, was du kannst!). Die Schuldenbremse entbehrt also durchaus nicht der Logik für die Superreichen. Die Arbeiter:inneklasse muss nicht nur kapitalistischem Wachstum eine Absage erteilen, sondern ans Eingemachte heran: Konfiskation des Produktiv- und Geldvermögens mit Entschädigung nur für Kleinanleger:innen und -sparer:innen.

Brecht die Macht der Banken und Konzerne!

  • Weg mit der Schuldenbremse!

  • Nehmt DIE LINKE und linke SPD, vor alle aber: nehmt die DGB-Gewerkschaften beim Wort: Fordert die Einleitung von Kampfmaßnahmen bis hin zu politischen Massenstreiks und nötigenfalls Generalstreik gegen Sozialklau, Klimawandel, Rezession, Massenverarmung, Verfall der Infrastruktur (Wohnen, Gesundheitswesen, Bildung, öffentlicher Transport, Klimaschutz)!

  • Keine Rücksicht auf Koalitionsräson und konzertierte Aktion! Bruch mit den offen bürgerlichen Parteien und der „Partner:innenschaft“ mit Kapital und Kabinett!

  • Einberufung einer bundesweiten Aktionskonferenz , um einen Mobilisierungs- und Kampfplan gegen die Kürzungen zu diskutieren und zu beschließen!

  • Entschädigungslose Enteignung des Großkapitals, der Banken, Fondsgesellschaften und Großanleger:innen!

  • Entschädigung für Kleinsparer:innen und -anleger:innen!

  • Für einen Sanierungsplan gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle und zu Tariflöhnen!

Ein Kampf gegen die laufenden und drohenden Angriffe darf und soll nicht nur auf Deutschland beschränkte bleiben, sondern muss sich auch gegen die gesamte Austeritätspolitik in der EU wenden. Dazu braucht es europaweit koordinierte Aktionen und politische Massenstreiks – Kämpfe, die ihrerseits die Machtfrage aufwerfen werden, für dies Kampforgane in den Betrieben und Stadtteilen braucht und der Perspektive der Arbeiter:innenregierungen verbunden werden müssen -für ein sozialistisches Rätedeutschland in einer Föderation der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




Nein zur Verschärfung des Asylrechts!

Stefan Katzer, Neue Internationale 278, November 2023

Wenn man von der prokapitalistischen Partei der Reichen mit Spleen für Verbrennungsmotoren auch sonst nicht viel hält, muss man der FDP doch eines lassen: Sie hat noch rote Linien. Das heißt, sie vertritt politische Positionen, die für sie nicht verhandelbar sind. Steuererhöhungen zum Beispiel. Die wird es mit der FDP nicht geben. Das hat sie vor, während und nach dem letzten Bundestagswahlkampf klargemacht. Und das macht sie auch in der Ampelkoalition immer wieder deutlich. Egal wie marode die Schulen, wie überlastet das Gesundheitssystem, wie kaputt der öffentliche Nahverkehr – Geld von den Reichen zur Finanzierung dieser öffentlichen Angelegenheiten wird es nicht geben. Dafür steht der derzeitige FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner mit seinem Namen.

Die Grünen

Anders bei den Grünen. Bei der geradezu gymnastisch-pragmatischen Sonnenblumenpartei mit grünem Image und chamäleonartigem Anpassungsvermögen sucht man nach roten Haltelinien, nach nicht verhandelbaren Positionen vergebens. Egal ob Klimaschutz, Aufrüstung oder Asylpolitik – nichts scheint den Grünen zu schade, um nicht einem faulen Kompromiss geopfert zu werden. Geradezu stolz ist man auf die eigene ideologische Geschmeidigkeit, auf den zum Prinzip erhobenen Opportunismus. Frei nach dem Motto: Es ist besser, falsch zu regieren, als gar nicht zu regieren. Das geht zwar nicht immer ohne Reibungen innerhalb der eigenen Partei aus, kleinere Schlagabtausche zwischen Parteiführung und Basis inklusive, aber am Ende geht es meistens doch. Schließlich hat die Parteispitze nicht versäumt, die Basis bereits vor Eintritt in die Ampelkoalition auf Kompromisse einzuschwören.

Die erste dicke Kröte, die vor allem die Grüne Jugend herunterwürgen musste, bekam diese von der selbsternannten Fortschrittskoalition unter Einschluss der Grünen im Sommer diesen Jahres serviert. Die sogenannte Asylkrisenverordnung, die von den Regierungen der EU-Staaten ausgehandelt worden war und für die am Ende auch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock geworben hat – auf Druck vom Kanzler und mit ordentlich Bauchschmerzen, versteht sich –, hatte es schon in sich.

Neben mehr Abschottung an der EU-Außengrenze sieht dieser Kompromiss auch die Möglichkeit der Verlängerung der Lagerhaft für Geflüchtete vor. Diese erzwungene Haft soll es den Behörden erleichtern, bei negativem Asylbescheid die Menschen schneller wieder in ihre Heimatländer abzuschieben. Außerdem wurde im Zuge dieser Asylrechtsverschärfung auch der Personenkreis ausgeweitet, der in solchen Lagern künftig untergebracht werden kann. Darunter sind nun auch Familien mit Kindern.

Nach anfänglicher Kritik und daran anschließenden minimalen Verbesserungen hat die Bundesregierung dem Vorschlag letztlich zugestimmt. Man wollte endlich ein Ergebnis, einen zustimmungsfähigen Kompromiss in der Asylpolitik auf EU-Ebene vorweisen können, bevor nächstes Jahr das EU-Parlament neu gewählt wird. Wenn er dort durchgewunken wird, könnten somit geflüchtete Kinder in Zukunft an der Außengrenze der Festung Europa in Lagern eingesperrt werden, während die grüne Außenministerin, die diesem Kompromiss zugestimmt hat, auch weiterhin im Kabinett auf ihrem bequemen Sessel Platz nehmen darf. Wahrlich schmerzhafte Kompromisse – für die Grünen.

Verschärfungen vom Oktober

Nun hat sich die Bundesregierung im Oktober auf weitere Verschärfungen im nationalen Asylrecht geeinigt. Nachdem man wochenlang der AfD nach dem Mund geredet und beinahe sämtliche sozialen Probleme im Land – angefangen beim Wohnungsmangel über fehlende Kitaplätze bis hin zum überlasteten Gesundheitssystem – auf die Überlastung durch „illegale Migration“ zurückgeführt hat, musste man schließlich auch liefern. Das hat die Ampel nun getan. Das Innenministerium unter der Führung von Nancy Faeser hat kürzlich einen Gesetzentwurf zur „Verbesserung der Rückführung“ vorgelegt, der massive Verschlechterungen für Geflüchtete vorsieht – eine Abschiebeoffensive also, von der die Rechten schon lange träumen.

Dieses Mal standen insbesondere die Ausreisepflichtigen im Fokus der Debatte. Das sind Personen, die sich aufgrund eines abgelehnten Asylantrags, eines abgelaufenen Visums oder einer nicht verlängerten Aufenthaltserlaubnis rechtlich gesehen nicht länger in Deutschland aufhalten dürfen. Derzeit betrifft das ca. 300.000 Menschen. Von diesen ist allerdings der größte Teil, ca. 90 %, geduldet. Diese Personen können also auch weiterhin aus rechtlichen Gründen (noch) nicht abgeschoben werden. Das kann unterschiedliche Gründe haben, etwa weil den Betroffenen in ihren Heimatländern Verfolgung droht oder ihr Heimatland als nicht sicher gilt, z. B. weil dort Krieg herrscht.

Unmittelbar ausreisepflichtig sind derzeit somit nur ca. 54.000 Personen. Um diesen Personenkreis geht es in dem neuen Gesetzentwurf. Diese sollen durch das neue Gesetz nun schneller und effektiver abgeschoben werden können. Um dies zu erreichen, hat die bei der Hessenwahl erfolglose SPD-Spitzenkandidatin und Immer-noch-Bundesinnenministerin Nancy Faeser einen Entwurf ausgearbeitet, der massive Grundrechtseinschränkungen, neue Straftatbestände für Geflüchtete und erweiterte Kompetenzen für die Polizei vorsieht.

Laut Pro Asyl könnte es durch das neue Gesetz möglich werden, dass Menschen schon aufgrund eines „falschen“ Familiennamens bzw. der gleichen Familienzugehörigkeit aus Deutschland ausgewiesen werden. Dies soll es erleichtern, Menschen abzuschieben, von denen man annimmt, dass sie einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB angehören, ohne dass es zu einer rechtskräftigen Verurteilung gekommen ist. Hier bedienen die Ampelparteien das rechte Narrativ der „Clankriminalität“, der angeblich besonders schwer beizukommen ist und für deren Bekämpfung man daher auf unkonventionelle (lies: grundrechtswidrige) Verfahren zurückgreifen möchte. Dafür ist man offenbar bereit, Menschen pauschal unter Verdacht zu stellen bzw. abzuurteilen, ohne dies im Einzelfall richterlich bestätigt zu bekommen.

Außerdem soll es künftig leichter möglich sein, Menschen in Abschiebehaft zu nehmen. Hierfür genügt bereits der Vorwurf gegenüber den Antragsteller:innen, die Mitwirkungspflichten bei der Bearbeitung des Asylantrags zu verletzen. Letztlich können auf Grundlage des neuen Gesetzes alle Personen, die ausreisepflichtig sind, in Haft genommen werden, und das nun nicht mehr „nur“ für drei, sondern ganze sechs Monate. Vor dem Hintergrund, dass laut Pro Asyl bereits heute die Hälfte der sich in Abschiebehaft befindlichen Menschen zu lange oder zu Unrecht in Haft sitzt, ist dies besonders perfide.

Doch damit nicht genug. Auch wenn kein Verdacht vorliegt, einer kriminellen Vereinigung anzugehören, soll es zur Erleichterung von Abschiebungen künftig möglich sein, Menschen länger als bisher einzusperren. Dies soll ermöglicht werden durch die Ausdehnung des sogenannten Ausreisegewahrsams. Statt wie bisher zehn, sollen ausreisepflichtige Personen künftig bis zu 28 Tage in Gewahrsam genommen werden dürfen, um den Behörden die Vorbereitung der Abschiebung und diese selbst zu erleichtern. Auch Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden und gegen die keine sonstigen strafrechtlichen Verfahren angestrengt werden, sollen künftig in Abschiebehaft genommen werden dürfen.

Ebenso werden die Polizei und andere in das Verfahren involvierte Behörden deutlich mehr Befugnisse erhalten, die ihnen die Durchführung von Abschiebungen erleichtern sollen. Diese dürfen nun ohne richterlichen Beschluss de facto zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Wohnungen und Unterkünfte von Geflüchteten eindringen. Doch nicht nur in die Wohnungen oder Unterkünfte der unmittelbar Ausreisepflichtigen, sondern letztlich in jede Räumlichkeit, sofern die Behörden davon ausgehen, dass die gesuchte ausreisepflichtige Person sich dort aufhalten könnte. Und das, mit Ausnahme von Familien, in denen Kinder unter 12 Jahren leben, ohne jegliche vorherige Ankündigung. Dass dies für die betroffenen Personen enorme psychische Belastungen mit sich bringt, nimmt man offenbar in Kauf. Sie können sich in keiner Sekunde mehr sicher sein, müssen ständig befürchten, von der Polizei besucht, überwältigt und zur Abschiebung geholt zu werden.

Gemeinsam gegen Rassismus

Gegen diese Asylrechtsverschärfung und den gerade stattfindenden Rechtsruck insgesamt muss die Linke, muss die Arbeiter:innenbewegung aktiv werden. Sie müssen der rechten Hetze und den Spaltungsversuchen der Herrschenden eine solidarische, letztlich eine revolutionäre Perspektive entgegensetzen. Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer, Grenzkontrollen in der EU und einer insgesamt menschenverachtenden rassistischen Politik braucht es eine menschenwürdige Alternative.

Statt für schnellere Abschiebungen müssen wir für sichere Fluchtrouten, offene Grenzen und gleiche Rechte für alle hier lebenden Menschen kämpfen. Dies schützt nicht nur die Geflüchteten vor Abschiebung und Entrechtung, sondern trägt auch dazu bei, die Spaltung der Lohnabhängigen zu überwinden.

Die Gewerkschaften müssen daher Geflüchtete in ihre Reihe aufnehmen und gemeinsam mit diesen für soziale Verbesserungen kämpfen – und zwar mit den Methoden des Klassenkampfes, nicht der warmen Worte. Sie müssen den Kampf führen gegen die Spaltung der Arbeiter:innenklasse, gegen die Selektion von Flüchtlingen und Migrant:innen in Ausgestoßene und Deportierte einer- und entrechtete Lohnabhängige zweiter Klasse andererseits. Nur wenn wir entschieden gegen Nationalismus und Chauvinismus kämpfen, können wir die lähmende Spaltung der Klasse überwinden und die Kampfbedingungen insgesamt verbessern.

Dafür müssen wir auch die Lügen der Herrschenden entlarven, die behaupten, dass die sich zuspitzenden sozialen Probleme letztlich auf die Überlastung durch „illegale Migration“ zurückzuführen sind, während sie selbst gerade dabei sind, an allen Ecken und Enden – außer beim Militär – massive Kürzungen durchzusetzen.

Wir brauchen eine Massenbewegung von antirassistischen, Migrant:innenorganisationen, allen Arbeiter:innenorganisationen und vor allem von den Gewerkschaften!

• Volles Asylrecht für alle Geflüchteten! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland und der EU leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Organisierte Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant:innen, unterstützt von der gesamten Arbeiter:innenbewegung! Öffnung der Gewerkschaften für alle Geflüchteten und Migrant:innen!




Сексизмът убива, власта прекрива! Sexismus tötet, Macht korrumpiert!

… und die Regierung vertuscht das Problem: Protestwelle in Bulgarien gegen Gewalt gegen Frauen

Leonie Schmidt, Infomail 1230, 5. September 2023

Nach einem versuchten Femizid im Juni 2023 in Bulgarien, bei welchem eine 18-Jährige von ihrem Ex-Freund mit 21 Wunden durch ein Teppichmesser zugerichtet und mit Knochenbrüchen übersät wurde, flammte eine Protestwelle gegen Gewalt gegen Frauen auf. Besonders schockierend für die Protestierenden: Der mutmaßliche Täter kam einige Tage später wieder auf freien Fuß und wurde wegen angeblich „leichter“ Verletzungen des Opfers freigesprochen!

Seitdem gehen die Menschen auf die Straße. Das ist gerade für dieses Land etwas Ungewöhnliches, denn wie Organisator:innen des 8. März berichteten, kamen in den vergangenen Jahren nur wenige Personen zu ihren Kundgebungen. Jedoch begann die Entwicklung, dass es mehr und mehr Leute auf Proteste für Frauenrechte zog, bereits 2018, nachdem ein Schulmädchen mit Säure überkippt wurde. Auf den aktuellen Protesten sind vor allem junge Akivist:innen anzutreffen. Veranstaltet wird das Ganze unter anderem von der Organisation Feminist Mobilization. Sie fordert in erster Linie eine Verschärfung der Gesetzeslage, denn zum Zeitpunkt der Tat gab es noch nicht einmal einen Paragraphen, welcher häusliche Gewalt im Strafgesetzbuch definierte. Aber in ihren Reihen finden sich auch Personen, die einen Kampf gegen Kapital und patriarchale Strukturen fordern.

Druck auf die Regierung wirkt – oder?

Mittlerweile hat sich die europaorientierte rechte Regierung Bulgariens dazu bequemt, einige Gesetzesänderungen durchzuführen. Täter und Betroffene müssen nun nicht mehr zusammenwohnen, damit es sich um häusliche Gewalt handelt. Eine zweite Reform wurde trotz Sommerpause durchgebracht: Künftig gilt es als Beziehungstat, wenn Täter und Opfer seit mindestens 60 Tagen in einer „intimen Beziehung“ zueinander stehen. Das ist offensichtlich ein Gesetz, das viele Schlupflöcher für die Täter beinhaltet. Die Tat ist nicht weniger schlimm, wenn sie am 40. Tag oder 1. Tag passierte. Der Nachweis, wann die Beziehung begann und ob es sich wirklich um eine intime (also sexuelle) Beziehung handelt, ist unfassbar schwierig. Wenn man als Betroffene vor Gericht eine Chance haben will, braucht man also einen guten anwaltlichen Beistand, den sich besonders Frauen der Arbeiter:innenklasse wohl kaum leisten können.

Aber dass es nun zu so einer Laissez-faire-Reform kommt, ist leider nicht verwunderlich: In Bulgarien richten sich Politiker:innen nicht erst seit heute gegen Frauen und explizit Betroffene häuslicher Gewalt. Seit Jahren mobilisieren rechte Parteien, aber auch die sog. sozialistische Partei Bulgariens, die linksnationalistisch und linkspopulistisch einzuordnen ist, gegen die Istanbul Konvention (ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), da damit die Grundlage zur Einführung für die „Ehe für alle“ geschaffen werden würde.

Warum es zu häuslicher Gewalt kommt

Um einen effektiven Weg zur Bekämpfung häuslicher Gewalt zu finden, muss erst einmal geklärt werden, wie es überhaupt dazu kommt. Kleinbürgerliche Feminist:innen versuchen, das entweder mit der Natur des Mannes oder der Rückschrittlichkeit der Kultur oder Klasse zu erklären, in welchen die Gewalt stattfindet. Als Marxist:innen ist uns bewusst, dass häusliche Gewalt nur mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse erklärt werden kann. Denn sie findet nicht außerhalb der Gesellschaft statt, das Private ist nicht einfach unpolitisch, im Gegenteil: Häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter:innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche Waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter:innenklasse als Ganze neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter:innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Betrachten wir Bulgarien, so geht es vor allem um die Auswirkungen der Krise. Die Frauen müssen auch Lohnarbeit nachgehen, um die Existenz der Familie abzusichern, während gleichzeitig der Lohn des Mannes nicht mehr zu deren Ernährung ausreicht. Hinzu kommen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innnenklasse und die sozialen Absicherungen wie Sozialleistungen oder Krankenkassen, um die Profite des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern und dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken. Solche Krisen sind ein Kennzeichen für die Periode, in welcher wir uns aktuell befinden.

Die Krise der Familie bildet also die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter:innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage dringt. Somit kann sich der Täter noch ein letztes Mal über das Opfer stellen.

Durch diese Analyse wird also auch klar, warum die herrschende Klasse gar kein Interesse hat, grundlegend gegen häusliche Gewalt vorzugehen, denn auf der einen Seite gehört die Einsparung im Sozialsicherheitssystem schließlich zum Rettungsschirm des Finanzkapitals und auf der anderen Seite müsste sie sonst die Institution der bürgerlichen Familie angreifen, welche zu den Grundfesten des kapitalistischen Systems gehört. Des Weiteren ist es auch im Sinne des herrschenden Klasse, wenn Frauen auch in ihrer Familie unterdrückt bleiben und sich nicht von ihren Geschlechterrollen zu befreien versuchen. Diesen Punkt kann man gut erkennen an den Teilen der herrschenden Klasse Bulgariens, welche an der bürgerlichen Familie festhalten wollen, indem sie sich gegen die Istanbuler Konvention stellen. Diese Analyse macht auch klar, warum besonders die Ärmsten und am stärksten unterdrückten Teile der Arbeiter:innenklasse von jener Gewalt betroffen sind.

Lage in Bulgarien

Schauen wir uns nun die Lage in Bulgarien an. Tatsächlich gilt dies als ärmstes Land der EU. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei der Hälfte des EU-weiten Durchschnitts. 2022 betrug das jährliche  BIP/Kopf 13.079 Euro gegenüber 25.650 in der EU und 29.180 in der Euro-Zone. Des weiteren stagnieren die Löhne und Gehälter auf einem niedrigen Niveau. Interessant ist diesbezüglich auch, dass der Dienstleistungssektor dominiert: Vor allem outgesourcter Kundendienst in Form von Callcentern für imperialistische Staaten ist hier ansässig, welcher die Lohnabhängigen hier noch mehr ausbeuten kann. Dementsprechend müssen die Löhne auch auf einem derartig niedrigen Niveau bleiben, damit sich das Outsourcing für die Imperalist:innen der EU überhaupt lohnen kann.

Über 2,2 Millionen Lohnabhängige (mehr als die Hälfte!) verkaufen ihre Arbeitskraft in anderen EU-Ländern. Viele Frauen, welche aus Bulgarien emigrieren, übernehmen in reichen imperialistischen EU-Staaten Carearbeit im Niedriglohnsektor, also als Putzkräfte, Krankenpflegerinnen und so weiter. Auch hier sind sie vor ökonomischer Abhängigkeit, Gewalt und Ausbeutung nicht sicher, im Gegenteil. All das verdeutlicht die halbkolonialen Verhältnisse in Bulgarien.

Hinsichtlich der Gewalt gegen Frauen in Bulgarien kann festgehalten werden, dass jede 3. Frau laut Befragungen bereits Opfer partnerschaftlicher Gewalt wurde. Des Weiteren wurden dieses Jahr bereits 14 Frauen Oper von Femiziden (Stand: August 2023). Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken, dass dies keine offiziellen Zahlen sind, da in Bulgarien diese von niemandem/r erhoben werden. Lediglich Frauenrechtsorganisationen sammeln sie. Dementsprechend ist also auch klar, dass die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte. Denn wie bereits eingangs erwähnt, gab es vor der aktuellen Protestwelle noch nicht einmal eine Definition im Strafgesetzbuch hinsichtlich häuslicher Gewalt!

Außerdem ist die sozialstaatliche Absicherung in Bulgarien besonders prekär, was Frauen am meisten trifft. Es fehlt an Kindergartenplätzen, was dazu führt, dass sie gezwungen sind, sich entweder unbezahlt „freizunehmen“, um ihre Kinder zu betreuen, oder flexiblere Arbeitsverhältnisse inklusive besonders schlechter Bezahlung anzunehmen. So oder so werden sie damit umso mehr an ihre Familie und ihre potentiell gewalttätigen Oberhäupter gebunden.

Perspektive der Proteste

Obwohl die Regierung versucht, durch Reformen die Protestierenden ruhigzustellen, gehen diese weiterhin auf die Straße und bringen auch antipatriarchale und antikapitalistische Forderungen mit ein, werfen die Frage auf, wem es am Ende nützt, dass Gewalt gegen Frauen herrscht und diese nur mehr als unzureichend vom bürgerlichen Staat bekämpft wird. Klar ist, die Proteste dürfen nicht bei dieser einen Frage stehen bleiben. Es gilt, eine breite Massenbewegung aus Frauen, Lohnabhängigen, und sozial Unterdrückten aufzubauen, welche für klare Forderungen und ein klares Programm hinsichtlich der Unterdrückung von Frauen und LGBTIA+-Personen eintritt. Hierbei müssen auch die Gewerkschaften aufgefordert werden, sich zu beteiligen. Des Weiteren darf diese Bewegung auch nicht im nationalen Rahmen stehen bleiben, sondern muss international aufgebaut werden. Diese Forderungen könnten sein:

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben. Frauenhäuser müssen vom Staat finanziert, aber von den Frauen selbst verwaltet werden.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Natürlich dürfen wir uns aber auch keine Illusion machen, dass wir patriarchale Gewalt im Kapitalismus einfach wegreformieren könnten. Es gilt, den Kapitalismus mitsamt seinen Institutionen zur Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Arbeiter:innenklasse zu zerschlagen und für eine solidarische Gesellschaft auf Basis von vergesellschafteter und demokratisch geplanter Produktion und Reproduktion sowie Rätemacht einzutreten. Das heißt auch, dass das Ideal der bürgerlichen Familie dann das Zeitliche gesegnet hat und sich Rollenbilder auflösen werden dadurch, dass die Reproduktionsarbeit bspw. durch gemeinsame Mensen und Waschküchen vergesellschaftet wird. Dazu braucht es mehr als Bewegungen – eine politische Kraft, die gegen alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung führt, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Frankreich: 2 Millionen auf den Straßen – was ist der nächste Schritt?

Marc Lassalle, Neue Internationale 271, Februar 2023

Die Zahlen sprechen für sich. Mehr als zwei Millionen Arbeiter:innen demonstrierten am 19. Januar gegen den jüngsten Versuch von Präsident Emmanuel Macron, das Rentensystem zu reformieren. Ein Zeichen für den weit verbreiteten Widerstand unter den Lohnabhängigen war eine seltene Einheitsfront, bei der alle großen Gewerkschaftsverbände streikten und so den Verkehr, die Energieversorgung und die Schulen zum Stillstand brachten.

Heftiger Angriff

Die Reform ist ein schwerer Angriff auf die Arbeiter:innenklasse. Die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre wird sich unverhältnismäßig stark auf Industriearbeiter:innen und weniger qualifizierte Arbeitskräfte auswirken, die bereits eine kürzere Lebenserwartung und weniger Rentenjahre haben.

Nachdem er einen früheren Versuch im Jahr 2019 wegen der Covid-Pandemie aufgegeben hatte, hat Macron beim aktuellen Projekt nicht um den heißen Brei herumgeredet: Die Beschäftigten müssen mehr arbeiten, um die verschiedenen Maßnahmen der Regierung zur Stützung der Wirtschaft zu bezahlen, sowohl während der Pandemie als auch in letzter Zeit wegen der steigenden Energiekosten.

Die Regierung argumentiert, dass die Reform notwendig ist, um ein prognostiziertes Defizit von 14 Milliarden Euro bis zum Ende des Jahrzehnts zu schließen. Aber während der Pandemie hat der „Präsident der Reichen“ nicht zehn, sondern hunderte von Milliarden Euro in die Stützung der kapitalistischen Wirtschaft gesteckt, und niemand hat das vergessen.

Während Macron mit einer Schwächung der Kampfbereitschaft der Arbeiter:innenklasse rechnete, hat der Aktionstag vom 19. Januar ihn und seine bürgerlichen Expert:innen eines Besseren belehrt. Selbst die gemäßigte Gewerkschaft CFDT, die die Reformen der ersten Regierung Macron zum Arbeitsschutz (Code du Travail) unterstützt hatte, verurteilte sie als „eine der brutalsten Rentenreformen seit 30 Jahren“. Philippe Martinez, Vorsitzender der linkeren Gewerkschaft CGT, sagte, der Plan bündele „die Unzufriedenheit aller“ mit der Regierung. Umfragen zufolge sind etwa 9 von 10 Arbeiter:innen gegen die Vorschläge.

Macron begründete seine beiden Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen, das zu tun, was früheren Regierungen in den letzten 30 Jahren nicht gelungen ist: den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Rentenreform zu brechen. Der Präsident, dessen Partei der bürgerlichen Mitte La République en Marche (Die Republik im Vorwärtsgang) bei den letztjährigen Parlamentswahlen ihre Mehrheit im französischen Parlament verloren hat, ist auf die Stimmen der rechten Republikanischen Partei  angewiesen. Die Überreste des Gaullismus werden sich jedoch nicht so leicht dazu überreden lassen, die politischen Kosten für Macrons Reformvorhaben zu übernehmen.

Gelingt es ihm nicht, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzuschustern, könnte der Präsident auf Notstandsgesetze zurückgreifen, die es ihm erlauben, das Parlament zu überstimmen, auch auf die Gefahr hin, Neuwahlen zu erzwingen. Macron hat die Zukunft seiner Regierung von der Verabschiedung dieser Reform abhängig gemacht. Der letzte Versuch im Jahr 2019 löste die längste Streikperiode seit dem Generalstreik von 1968 aus. Alle Seiten spielen um die höchsten Einsätze.

Entscheidender Kampf

Millionen von Arbeiter:innen bereiten sich jetzt auf einen entscheidenden Kampf mit der Regierung vor. Trotz des großen Erfolgs des ersten Tages muss die Arbeiter:innenklasse ernsthafte Schwächen in ihrem eigenen Lager überwinden. Während die Parole eines Generalstreiks auf den Demonstrationen weithin aufgegriffen wurde, steht sie nicht auf der Tagesordnung der Gewerkschaftsführungen – im Gegenteil. Sie drohen lediglich mit einer langen Kampagne und haben für den 31. Januar einen weiteren Aktionstag mit Streiks und Demonstrationen angekündigt.

Die Gewerkschaftsspitzen verfolgen ihre übliche, gefährliche und in der Regel tödliche Taktik gelegentlicher „Aktionstage“ mit Pausen dazwischen, die der Regierung nur zum Vorteil gereichen, die sie nutzen wird, um einen Deal mit der CFDT zu schließen, das Bündnis der Gewerkschaftsverbände zu schwächen und schließlich zu brechen.

Die beiden großen linken Parteien sind gegen die Reform, aber für die Arbeiter:innenschaft unzuverlässige Verbündete. Die Überbleibsel der Sozialistischen Partei haben die letzte Rentenreform 2014 eingeführt. Jean-Luc Mélenchon, Parteivorsitzender von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), fordert eine Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre, ist aber mehr auf die parlamentarische Bühne konzentrierte, als einen ernsthaften sozialen Widerstand in den Betrieben und auf den Straßen aufzubauen. Die Schwäche der „Revolutionär:innen“ lässt sich an der prekären Lage der NPA (Neue Antikapitalistische Partei) ablesen. Nach einer Spaltung im vergangenen Dezember gibt es derzeit zwei NPAs mit demselben Namen, wenn auch sehr unterschiedlichen politischen Einschätzungen und Ausrichtungen. Keine von ihnen ruft zu einem Generalstreik auf.

Welche Strategie, welche Kampfmethoden?

Die Frage, die sich allen Lohnabhängigen und Jugendlichen stellt, ist, welche Organisation und Strategie erforderlich ist, um diesen Angriff abzuwehren. Diese Aufgaben müssen in den betrieblichen Vollversammlungen und in Arbeiter:innenausschüssen behandelt werden. Macrons Regierung steht und fällt mit der Frage, ob er diese Reform verabschiedet – aber unsere Bewegung muss die Lohnabhängigen für eine umfassende Antwort auf die Krise mobilisieren: nicht nur die Abschaffung der Rentenreform, sondern den Kampf für Lohn- und Rentenerhöhungen, einen massiven Plan für Investitionen in den öffentlichen Sektor, insbesondere in Schulen und Krankenhäuser, mehr hochwertigen bezahlbaren Wohnraum, einen speziellen Plan für junge Menschen und die Aufhebung der rassistischen Anti-Migrationsgesetze.

Die Beschäftigten der Ölraffinerien planen bereits, ihre Streiks Ende des Monats auszuweiten. Diesem Beispiel sollten wir folgen, aber angesichts der Tatsache, dass sich die Gewerkschaftsführer:innen der Verantwortung entziehen, indem sie die Entscheidung den verschiedenen Sektoren überlassen, müssen wir eine alternative Strategie und Führung im Hier und Jetzt vorbereiten.

Der 31. Januar muss zum Ausgangspunkt für eine Reihe eskalierender Streiks werden für die Bildung von Aktionsräten der Arbeiter:innenklasse zur Koordinierung und Kontrolle der sozialen Bewegung, die in einem Generalstreik gipfeln, um Macron und den Arbeit„geber“:innen eine umfassende Niederlage zuzufügen und den Weg für eine Arbeiter:innenregierung zu ebnen, die mit dem kapitalistischen System in seiner Gesamtheit abrechnen kann.

Eine schwere Niederlage Macrons würde den Weg weisen, den viele andere europäische Länder einschlagen sollten.




Gemeinsam gegen Inflation und Krise!

Flugblatt der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1201, 16. Oktober 2022

Ob der Gang durch den Supermarkt, Sprit oder Gasabschlagszahlung: die Preise steigen ins Unendliche! Die „Entlastungspakete“ der Bundesregierung sind wenig mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Einmalzahlungen von 100 Euro hier, Anhebung von Steuerfreibeträgen da  bringen keine dauerhafte Entlastung. Schon gar nicht, wenn die Gasrechnung um mehrere 100 Euro steigt! Jetzt droht auch noch die nächste Rezession samt Betriebsschließungen, Kurzarbeit und Entlassungen.

Der Krieg um die Ukraine und die Sanktionen wirken dabei wie Brandbeschleuniger, insbesondere was die Gas- oder Energiepreise angeht – ganz so wie die Pandemie davor die Krise weltweit verbreitete. Doch die Ursachen liegen tiefer – in der kapitalistischen Konkurrenz selbst. Zwar werden in Deutschland und weltweit von Kriegsgewinnler:innen massive Profite eingefahren. Aber das Kapital interessiert nicht nur die Masse, sondern vor allem Rate des Profits, die Gewinnspanne – und diese ist zu gering. Daher „flieht“ das Kapital in die Börse, in Fonds, in die Spekulation, bis der ganze Laden zusammenbricht. So stehen wir heute vor den Scherben einer globalen Konkurrenz, die auch politisch und militärisch ausgetragen wird. Dabei will niemand den Kürzeren ziehen und die Kosten für das Elend sollen wir, die Lohnabhängigen als Verbraucher:innen und Beschäftigte, zahlen.

Nicht mit uns!

Klar ist: Einfaches Abwarten und Aussitzen sind nicht drin. Wenn wir nicht frieren und immer mehr bezahlen wollen, müssen wir auf die Straße gehen. Deswegen brauchen wir eine Massenbewegung gegen die Preissteigerungen, drohenden Schließungen und Entlassungen. Dabei müssen wir uns klar gegen Kriegspolitik und Aufrüstung stellen, die die Inflation befeuern. Um erfolgreich zu sein, reicht es jedoch nicht, nur  auf die Straße zu gehen. Wir müssen unseren Protest auch in unsere Betriebe und Büros, Schulen und Ausbildungsstätten tragen. Dazu brauchen wir aber auch klare Ziele, klare Forderungen im Interesse der Masse von uns Lohnabhängigen!

Automatische Anpassung von Löhnen, Renten & Sozialleistungen an die Inflation!

Das Schreckgespenst der „Lohn-Preis-Spirale“ geht um. Man ruft uns zu Verzicht auf, zur Zurückhaltung und warnt davor, „in diesen Zeiten“ mehr zu fordern. Wir brauchen  aber das Gegenteil! Eine automatische Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Preissteigerung hat dabei mehrere Vorteile. Wir sind den Schwankungen des Marktes weniger stark ausgeliefert und alle Arbeiter:innen, ob beschäftigt oder nicht, ob alt oder jung brauchen eine solche Erhöhung ihrer Einkommen.

Kampf um höhere Löhne! Mindestlohn und Mindestrente von 1.600 Euro!

In den laufenden Tarifrunden wie in allen Betrieben ist es von großer Bedeutung, dass wir Forderungen nach vollem Inflationsausgleich und Wettmachen des Verzichts der letzten Jahre aufstellen. In allen Betrieben sollten die Gewerkschaften, Betriebsräte und Vertrauensleute dazu Versammlungen organisieren, um die Frage zu diskutieren, wie die Preissteigerungen wettgemacht werden können.

Bundesweite Deckelung der Preise für Mieten, Strom, Gas und Lebensmittel!

Um die weitere Steigerung der Preise zu verhindern, müssen sie gedeckelt werden. Zentral dabei ist, wer die Umsetzung des Deckels kontrolliert. Das können wir weder den Konzernen noch Behörden überlassen, sondern sollten wir Arbeiter:innen selber in Preiskontrollkomitees tun, damit unsere Interessen durchgesetzt werden.

Massive Besteuerung der großen Unternehmen und Vermögen!

Damit das klappt, müssen Unternehmen ihre Geschäftsbücher offenlegen. So können wir nachvollziehen, wer zu den Gewinner:innen der Krise gehört. Dabei sollten wir aber nicht stehenbleiben. Die Schere zwischen Arm und Reich wächst, und statt dem weiter stumm zuzusehen, müssen wir dem entgegenwirken. Wir brauchen daher eine massive Besteuerung von Kapital, Gewinnen und privaten Vermögen!

Die Verstaatlichung von Energiekonzernen unter Kontrolle der Lohnabhängigen!

Der freie Markt regelt – nichts. Zumindest nichts in unserem Interesse. Was wir deswegen brauchen, ist eine entschädigungslose Enteignung aller Unternehmen im Energiesektor, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das verhindert auch  die Preissteigerungen für Lohnabhängige und Kleinunternehmen und hilft, die Energiewirtschaft im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit umzustellen.

Wie setzen wir das um?

Klar: Auf die Straße gehen und protestieren statt frieren! Das Ganze kann aber nur erfolgreich sein, wenn wir eine Masse an Menschen ansprechen sowie über einen Plan verfügen, wie wir über Demos hinaus Druck aufbauen können. Das heißt:

a) Mehr Leute erreichen!

Wenn wir Erfolg haben wollen, brauchen wir eine Masse an Menschen. Um jene zu erreichen, die noch nicht überzeugt sind, sollten wir Vollversammlungen an den Orten organisieren, wo wir uns tagtäglich aufhalten müssen, wie Schulen, Unis und Betrieben. Wir brauchen Aktionskomitees dort und im Stadtteil, in denen diese Menschen aktiv werden können.

b) Organisationen in die Verantwortung bringen!

Einzelpersonen haben immer begrenzte Ressourcen. Wir fordern die Gewerkschaften, DIE LINKE, SPD-Gliederungen, die die Politik der Ampel nicht weiter mittragen wollen, und fortschrittlichen Organisationen auf, sich zu einer bundesweiten Bewegung zusammenzuschließen. Dazu schlagen wir eine Aktionskonferenz vor, die gemeinsame Forderungen und Aktionen beschließt.

c) Demos alleine werden nicht reichen!

Wenn wir dauerhaft Druck erzeugen wollen, müssen wir dort ansetzen wo es Regierung & Unternehmen wirklich trifft: bei den Profiten. Kurzum: Wir müssen bereit sein, für unsere Ziele diese anzugreifen, also zu streiken. Streik in der Schule, Uni und Betrieb – das ist unsere Antwort auf ihre Politik!

d) Über die Grenzen hinaus denken, gemeinsam entscheiden!

Um erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Aktionen bundesweit und international, vor allem in Europa zusammenführen. Dazu brauchen wir als ersten Schritt europaweit koordinierte Aktions- und Streiktage, internationale Versammlungen und Konferenzen, die gemeinsame Forderungen und weitere Kampfmaßnahmen beschließen.

Internationalismus ist unsere Antwort!

Unsere Bewegung muss Kapitalismus, Krise und Krieg ins Visier nehmen. Unser Slogan ist klar: weder Putin, noch NATO! Deswegen lehnen wir die Sanktionen und den Wirtschaftskrieg ab. Sie dienen nicht der Selbstbestimmung der Ukraine, sondern den imperialistischen Interessen des Westens, der USA und Deutschlands. Wir solidarisieren uns mit den Geflüchteten, verteidigen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine gegen Putin und NATO und unterstützen die Antikriegsbewegung in Russland. Wir wissen, dass diese Positionen in den Protesten gegen Inflation umstritten sind – und wir machen sie nicht zur Bedingung für gemeinsame Mobilisierungen, Aktionen und Bündnisse. Aber wir wissen auch, dass ein konsequenter Kampf gegen Inflation und Krise letztlich mit dem gegen Aufrüstung und Kriegstreiberei verbunden werden muss. Denn unsere Hauptfeind:innen sind die „eigene“ herrschende Klasse und deren Regime.

Zweitens muss sich unsere Bewegung klar von den Rechten, von rechtspopulistischen und faschistischen Mobilisierungen abgrenzen. Diese haben auf unseren Demos und Aktionen nicht nur nichts verloren, sie kämpfen in Wirklichkeit auch für ganz andere, nationalistische, rassistische und chauvinistische Ziele.

Den Wettlauf mit rechtspopulistischen oder nationalistischen Kräften werden wir aber nur gewinnen, wenn wir selbst eine Bewegung aufbauen, die die Interessen aller Lohnabhängigen ins Zentrum stellt.




Heizung, Brot & Frieden!

Demonstration am 03. Oktober um 13 ab Potsdamer Platz in Berlin

Protestieren statt Frieren!

In Deutschland bahnt sich eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe an. Die Preise schießen durch die Decke, aber Löhne und Einkommen halten nicht mit. Die Deindustrialisierung bedroht die Existenzgrundlagen breitester Schichten der Bevölkerung.

Es ist völlig klar: Die Zeche für Krieg, wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen und Krisen zahlen wir, die Bevölkerung, die einfachen Leute, die Arbeiterinnen und Arbeiter, Handwerkerinnen und Handwerker, Angestellten, Arbeitslosen, Rentnerinnen und Rentner, wir kleinen Selbstständigen, Kleingewerbetreibenden, Geflüchteten und Armen. Es ist auch keine internationale Solidarität, wenn im Schatten der Kriegspolitik Menschen in Afrika verhungern.

Während die Superreichen und Großkonzerne Profite mit den Krisen machen und sich die Taschen vollstopfen. Während die Regierung Milliarden für Aufrüstung locker macht. Während die Gewinne der Rüstungsindustrie sprudeln, werden wir mit Peanuts abgespeist und sollen mit der Gasumlage auch noch Konzerne und Spekulanten retten.

Die Politik der Ampelkoalition ist Zynismus pur. Das machen wir nicht länger mit. Es ist höchste Zeit, gegen diese Verarmungspolitik auf die Straße zu gehen. Wir wollen eine andere Wirtschaft und eine grundsätzlich andere Politik. Genug ist genug.

Aus diesen Gründen fordern wir:

1. Weg mit der unsozialen Gasumlage

2. Lebensmittelpreise runter, Löhne und Einkommen rauf!

3. Gesetzliche Deckelung der Gas- und Strompreise!

4. Krisengewinne besteuern!

5. Energiewirtschaft in öffentliche Hand!

Deshalb rufen wir zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober zu einer Demonstration nach Berlin auf, um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Kommt Alle nach Berlin und lasst uns gemeinsam in einem Bündnis für Demokratie, Frieden und soziale Gerechtigkeit auf die Straße gehen. Nazis und Rassismus werden dabei keinen Platz haben. Wir wollen den Herrschenden Dampf machen:

Energie und Essen für Alle!

Schluss mit der Eskalation – die Waffen nieder!

Für einen heißen Herbst – soll sich die Regierung warm anziehen!

Versammlungsort/Aufzugsstrecke 13.00 bis 14.00 Uhr Auftaktkundgebung: Potsdamer Platz 14.00 Uhr Demo-Route: Leipiger Str. – Charlottenstr. – Unter den Linden – Bebelplatz 15.00 bis ca. 16.30 Uhr Abschlusskundgebung: Bebelplatz




Organisieren, protestieren, streiken – wir zahlen nicht für eure Krise!

Aufruf der Gruppe Arbeiter:innenmacht und der Jugendorganisation REVOLUTION zur Demonstration gegen die Krisenpolitik der Ampel in Leipzig, Infomail 1197, 3, September 2022

Demonstration, 5. September, Leipzig, Augustusplatz, 19.00

Wirtschaftskrise und Inflation haben längst auch in Deutschland voll eingeschlagen. Seit der letzten Wirtschaftskrise von 2007/8 nie tatsächlich überwunden, hatte sich bereits auf der Höhe der Coronapandemie eine erneute Zuspitzung angekündigt. Der Krieg in der Ukraine und der Wirtschaftskrieg zwischen NATO und Russland wirken nun als Brandbeschleuniger dieser Entwicklung.

Sowohl Russland als auch der Westen drehen an der Schraube der Inflation, sei es durch das Zurückhalten von Gas- und Getreideexporten auf der einen oder die Wirtschafssanktionen auf der anderen Seite. Ihren Konkurrenzkampf um Einfluss in der Ukraine und Europa tragen sie rücksichtslos auf dem Rücken der Lohnabhängigen in der Ukraine, sowie der Lohnabhängigen in ihrem eigenen Land aus.

Die Folge sind massive Preissteigerungen für Produkte des täglichen Bedarfs, wie Lebensmittel, Strom und Heizstoffe. Die damit einhergehenden Reallohnverluste haben bereits jetzt Hundertausende in Deutschland unter die Armutsgrenze rutschen lassen. Im Winter steht eine soziale Katastrophe bevor, wenn sich viele das Heizen nicht mehr leisten können. Die Lage in den ärmeren Ländern dieser Welt ist noch dramatischer, Millionen Menschen droht der Hungertod, hunderte Millionen werden nicht regelmäßig satt.

Gleichzeitig weiß ein kleiner Teil der Gesellschaft nicht wohin mit seinem Reichtum. Denn die Konzerne und ihre Bosse fahren weiterhin gewaltige Profite ein – trotz oder gerade wegen der Krise. Das betrifft z. B. die Mineralölkonzerne, aber auch die Rüstungsindustrie. Angesichts dessen ist es ein Hohn, wenn uns bürgerliche Politiker:innen dazu aufrufen nun „zusammenzurücken“ oder „für den Frieden“ zu frieren. Politiker:innen wohlgemerkt, die sich ein Gehalt aus Steuergeldern zahlen, welches den durchschnittlichen Lohn eines/einer Arbeiter:in um ein vielfaches übersteigt.

Während 100 Milliarden für den deutschen Militarismus aus dem Hut gezaubert werden, sind die Maßnahmen der Regierung zur „Abfederung“ der Krisenlast ein Hohn, wie zum Beispiel der einmalige Zuschuss von 300 € zu den Heizkosten. Die gewaltigen Profite der Konzerne und der Reichtum der Bonzen werden dabei nicht ansatzweise angefasst. Im Gegenteil, diese sollen durch Steuergelder und Gasumlage geschützt und gerettet werden. Schon jetzt ist klar: Wir Lohnabhängigen, Rentner:innen und Sozialhilfeempfänger:innen sollen die Kosten für die Krise zahlen!

Gegen diese Abwälzung der Kosten für Krieg und Krise auf unserem Rücken müssen wir massiven Widerstand auf der Straße, in den Betrieben, den Unis und Schulen organisieren. Was wir brauchen ist eine internationale Bewegung gegen Krieg und Krise.

Wir fordern:

  • Anpassung der Löhne und Einkommen, der Renten und des Arbeitslosengeldes an die Inflation. Offenlegung der Geschäftsbücher. Kontrolle der Preis- und Lohnentwicklung durch Organe der Lohnabhängigen
  • Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen, Rentner:innen und Erwerbslosen durch massive Besteuerung von Reichtum und Kapital
  • Weder NATO noch Putin! Russische Truppen raus aus der Ukraine, sofortiges Ende der Sanktionen und Waffenlieferungen. Solidarität mit der ukrainischen Zivilbevölkerung und der Antikriegsbewegung in Russland
  • 100 Milliarden für Sozialpolitik, Bildung und Umweltschutz statt Aufrüstung
  • Bedingungslose Soforthilfen für die von Hungerkrisen betroffenen Länder, Streichung der Schulden der dritten Welt
  • Verstaatlichung des Großkapitals, der Banken, der Immobilien- und Mineralölkonzerne und großen Dienstleistungsunternehmen unter Kontrolle der Beschäftigten, um diese für die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung in Bewegung zu setzen, statt für die Profite der wenigen
  • Koordinierte branchenübergreifende Streiks zur Durchsetzung unserer Forderungen



Britannien: Nach der TUC-Demonstration – Koordination von Streiks gegen die Inflation!

KD Tait, Workers Power, Infomail 1191, 21. Juni 2021

Am Samstag, dem 18. Juni, marschierten Zehntausende Menschen durch das Zentrum Londons, um Maßnahmen zur Bekämpfung der wachsenden Lebenshaltungskostenkrise zu fordern.

Die Demonstrant:innen kamen aus dem ganzen Land zu der ersten landesweiten Demonstration, zu der der britische Gewerkschaftsdachverband TUC aufgerufen hatte. Es war die erste umfassende Mobilisierung seit 2018. Die Gewerkschaften forderten Lohnerhöhungen zum Ausgleich der Inflation, bessere Arbeitsbedingungen und Steuererhöhungen für die Reichen zur Finanzierung von Bildungs-, Gesundheits- und Umweltreformen.

Forderungen

Die Eisenbahner:innen der Gewerkschaft RMT (Eisenbahn-, See- und Transportarbeiter:innen), die in dieser Woche drei Tage lang streiken werden, wurden bei ihrer Ankunft auf der Kundgebung auf dem Parlamentsplatz mit großem Beifall empfangen. Lehrer:innen und Postangestellte, die sich auf einen Streik vorbereiten, mobilisierten ebenso wie viele andere Gewerkschaften aus dem öffentlichen und privaten Sektor große Kontingente.

Gewerkschaftsführer:innen riefen zu gemeinsamen Aktionen auf, um Lohnerhöhungen zu erreichen, die mit der Inflation Schritt halten. Die Unite-Generalsekretärin Sharon Graham sagte: „Die Beschäftigen haben genug. Die Gewerkschaftsbewegung muss wiederbelebt werden. Wir müssen gemeinsam handeln.“ (Unite: Gewerkschaft im Bau-, Transportsektor und verarbeitendem Gewerbe)

Mark Serwotka, Generalsekretär der PCS (Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und Handelsarbeiter:innen), deren Mitglieder im öffentlichen Dienst von 90.000 Stellenstreichungen bedroht sind, erkärte: „Wenn wir alle zusammenarbeiten, gemeinsam marschieren und einen Arbeitskampf führen, können wir die Lohnerhöhung bekommen, die wir verdienen“.

Im Vorfeld der Demonstration wies die Vertretung der Krankenschwestern und -pfleger, das Royal College of Nursing, auf die Auswirkungen hin, die mehr als ein Jahrzehnt realer Lohnkürzungen auf die Personalausstattung und das Wohlergehen der Patient:innen nach sich zog. Angesichts der Tatsache, dass Tausende von Krankenschwestern und -pflegern darum kämpfen, ihre Familien zu ernähren oder sogar ihr Auto vollzutanken, um zur Arbeit zu kommen, fordert die Gewerkschaft, dass die kommenden Gehaltsvereinbarungen des Nationalen Gesundheitsdienstes nicht nur der Inflation entsprechen, sondern fünf Prozent darüber liegen.

Reaktion der Herrschenden

Am Sonntag berichtete die Financial Times über die wachsende Besorgnis in der Regierung über das Risiko, dass die Lohnzurückhaltung eine Welle von Arbeitskampfmaßnahmen auslösen könnte. Ein Kabinettsminister sagte: „Wenn wir das falsch machen, riskieren wir einen De-facto-Generalstreik, der weitere Unruhen auslösen wird, die die gesamte Wirtschaft zum Stillstand bringen könnten.“

In dieser Woche werden 40.000 Mitglieder der RMT drei 24-stündige Streiks gegen den geplanten Stellenabbau und für Lohnerhöhungen durchführen, die mit der Inflation Schritt halten. Die Regierung, die das Geld kontrolliert, hat sich geweigert zu verhandeln. Sie weiß, dass eine Isolierung und Niederlage der RMT den Schwung der bevorstehenden Urabstimmung über die Löhne im öffentlichen Sektor brechen könnte. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Aktivist:innen die größtmögliche Unterstützung für den Streik mobilisieren: Sie müssen Streikposten besuchen und unterstützen, die Lügen der Regierung entlarven und in der Öffentlichkeit für Solidarität werben.

Unsere Bewegung wiederaufbauen

Die Demonstration hat gezeigt, dass die Arbeiter:innen entschlossen sind zu verhindern, dass Löhne, Arbeitsplätze und Lebensstandards gekürzt werden, um die Profite der Arbeit„geber“:innen zu schützen oder die Bücher der Regierung auszugleichen. Die Aktivist:innen müssen sich jetzt organisieren, um bei den anstehenden Lohnurabstimmungen eine hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. Aber Mandate und eintägige Streiks werden nicht ausreichen, um zu gewinnen.

Unsere Bewegung ist in der Defensive. Bei British Gas und dem Reederei-Konzern P&O haben die Bosse gut organisierten Teilen der Belegschaft große Niederlagen zugefügt. Die Demonstration vom Samstag war die größte seit vielen Jahren – aber sie hätte noch eindrucksvoller sein können. Trotz der Bemühungen von Aktivist:innen an der Basis war die Werbung für die Demonstration durch den Dachverband und einige Einzelgewerkschaften bestenfalls lauwarm.

RMT-Generalsekretär Mick Lynch forderte die Labour-Partei auf, „aufzustehen und mit uns zu kämpfen oder uns aus dem Weg zu gehen“. Doch Keir Starmer, der Vorsitzende der Partei, der die meisten TUC-Gewerkschaften angehören, blieb der Veranstaltung fern. Wes Streeting, der sich kürzlich beim Schattenkabinett für seine öffentliche Unterstützung der Streiks entschuldigte, posierte für ein Selfie mit TUC-Generalsekretärin Frances O’Grady.

Wir müssen die Lehren aus dem Rentenkonflikt von 2011 ziehen, bei dem zwei Millionen Beschäftigte im größten Streik seit Jahrzehnten die Arbeit niederlegten – nur damit TUC und Unison (Gewerkschaft Öffentlicher Dienst) einen faulen Ausverkauf mit der Koalitionsregierung vereinbarten.

Um echte Lohnerhöhungen für Millionen von Geringverdiener:innen zu erreichen, um Rechnungen und Mieten zu begrenzen und zu verhindern, dass die Inflation unsere Löhne und Gehälter auffrisst, müssen wir die Arbeiter:innenbewegung von Grund auf neu aufbauen:

In den Gewerkschaften müssen wir Streikkomitees aus den Reihen der Belegschaften bilden, um Streitigkeiten und Verhandlungen zu kontrollieren. Gewerkschafts- und Betriebsdelegierte sollten Aktionsräte bilden, um lokale und nationale Aktionen zu koordinieren.

Um die Masse der Arbeiter:innenklasse – Mieter:innen, Rentner:innen, Arbeitslose, Organisationen der sozial Unterdrückten, Student:innen – zu mobilisieren, sollten in allen Städten und Bezirken Versammlungen der Bevölkerung auf Delegiertenbasis gebildet werden.

Die Gewerkschaften sollten Abgeordneten und Ratsmitgliedern, die sich weigern, Streiks zur Verteidigung von Löhnen, Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen bedingungslos zu unterstützen, die Finanzierung entziehen.

Wir brauchen eine Kampagne mit koordinierten, eskalierenden Streiks, um für eine Antwort der Arbeiter:innen auf die Krise zu kämpfen:

  • einen existenzsichernden Lohn von 15 Pfund pro Stunde und eine gleitende Lohnskala, um die Inflation auszugleichen;
  • Renten und Sozialleistungen, die sich am existenzsichernden Lohn orientieren und an die Inflation angepasst werden;
  • Kontrolle von Mieten und Rechnungen, die an einen Lebenshaltungskostenindex für Lohnabhängige gekoppelt sind;
  • Verstaatlichung des öffentlichen Verkehrs und der Versorgungsbetriebe ohne Entschädigung, unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Verbraucher:innen.



Kein Sparen, kein Frieren für den deutschen Imperialismus!

Arbeiter:innenmachtrede auf der Kundgebung gegen das 100-Milliarden-Sondervermögen am 3. Juni, Infomail 1190

Ihr wisst genau, warum wir heute hier sind. Gleich wird das Sondervermögen für die Bundeswehr abgestimmt – ganze Hundert Milliarden Euro.

Hundert Milliarden für Waffen, für die Interessen des deutschen Imperialismus, Hundert Milliarden, die Tod statt Frieden bringen.

Während die Abstimmung im Bundestag – ganz demokratisch – ohne Debatte vonstattengeht, stehen wir hier draußen und protestieren. Doch wir lassen uns nicht beirren: Nur weil die Abstimmung vorbei ist, heißt das nicht, dass wir aufhören zu kämpfen.

Denn der Krieg, der heute um die Ukraine geführt wird, ist ein Krieg, der uns alle betrifft. Er läutet ein neues Zeitalter ein, denn die kapitalistische Krise hat den Kampf um die Neuaufteilung der Welt, den Kampf um Einflusssphären und neue Partner:innen massiv zugespitzt. Das merken wir ganz praktisch: Die aktuelle Situation macht Angst. Angst, dass der Krieg über die Grenzen hinausgetragen wird und zum nächsten Weltkrieg eskaliert.

Klar ist: Wir sind gegen den Angriff Putins und für den sofortigen Abzug aller Truppen aus der Ukraine. Wir hegen keine Sympathie für die imperialistischen Interessen Russlands, wir solidarisieren uns mit der russischen Arbeiter:innenklasse und Antikriegsbewegung, die die Kosten für Putins Kriegsziele tragen sollen.

Doch wir dürfen gleichzeitig nicht auf leere Floskeln der NATO-Staaten, der Ampel-Koalition, der Unionsfraktion und der bürgerlichen Medien reinfallen. US-Präsident Biden hat in Warschau betont, dass es in der aktuellen Situation um die Verteidigung westlicher Werte, Frieden und Freiheit geht. Doch wir wissen: So wenig wie in Afghanistan werden Waffenlieferungen und Interventionen in der Ukraine Frieden schaffen.

Und während Scholz sich noch fragt, ob man Kriegspartei ist, wenn man Panzerfäuste oder Luftabwehrsysteme liefert, wenn man mit Sanktionen in historischem Ausmaß einen Wirtschaftskrieg führt, ist doch längst klar: Die NATO-Staaten und auch Deutschland sind de facto längst Kriegspartei. Der einzige Grund, warum die Ukraine hier „stellvertretend“ handelt, ist eben die Gefahr einer Ausweitung des Krieges – einer direkten NATO-Russland-Konfrontation bis hin zum Einsatz von  Nuklearwaffen.

Es stellt sich uns als Aufgabe, eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern. Deswegen sind wir hier und sagen klar: Nein zu jeder imperialistischen Intervention! Nein zu Putin und NATO! Nein zu den Hundert Milliarden für die Bundeswehr und zur Kriegstreiberei in den Medien! Wir werden nicht sparen oder frieren, damit der deutsche Imperialismus in Zukunft auf der Welt besser morden kann.

Wir sagen: Krieg dem Krieg! Unsere Solidarität kennt keine Nationalflagge, keine Grenzen. Statt rassistischer Hetze und Kriegstreiberei muss unsere Antwort Internationalismus lauten!

Und die Zeit drängt. Während Panzer fahren, steigen die Preise für Lebensmittel und Energie. Parallel dazu geht die Zerstörung unserer Lebensgrundlage munter weiter, denn – Überraschung– der Klimawandel wartet nicht, auch nicht auf all jene, die Krieg spielen wollen. Es scheint, als ob alles eine einzige Krise verkörpert.

Lasst uns deswegen gemeinsam aktiv werden: Unsere Zukunft liegt in unseren Händen!

Doch um erfolgreich gegen all diese Brandherde, all diese Ungerechtigkeit zu sein, brauchen wir ein Programm. Ein Programm, das klar gegen Spaltung kämpft, aktuelle Kämpfe zusammenführt und mit dem Eintreten für Sozialismus verbindet. Wenn wir den Aufgaben der Zeitenwende, der kommenden Periode gerecht werden wollen, brauchen wir einen klassenkämpferischen und revolutionären Internationalismus! Das heißt konkret:

Wir brauchen eine Politik, eine Programm, das von der Erkenntnis ausgeht, dass keines der großen Probleme der Menschheit im nationalen Rahmen gelöst werden kann: weder Klimawandel, der Kampf gegen den Krieg noch die massive Krise, der wir gegenüberstehen. Ein Programm, das zeigt, dass dass die Enteignung des Kapitals die unerlässliche Voraussetzung für die Lösung aller globalen Probleme ist und gleichzeitig den Weg weist, wie wir dahin kommen. Denn wenn Internationalismus unsere Grundlage ist, müssen wir uns auch gleichzeitig so organisieren: mithilfe einer neuen Internationale! Kurzum: Wir brauchen ein Programm, das die internationalen Kämpfe um Verbesserung im Hier und Jetzt damit verbindet, die Ursache an der Wurzel zu packen: dem Kapitalismus!

One Solution – Revolution!




G7-Gipfel 2022: Spaltung statt Mobilisierung?

Veronika Schulz, Neue Internationale 263, April 2022

Turnusgemäß findet vom 26. – 28. 6. 2022 wieder ein G7-Gipfel unter deutscher Präsidentschaft statt. Tagungsort ist wie bereits vor 7 Jahren das Luxushotel auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen. Die Klimapolitik, Weltwirtschaft und der weitere Umgang mit der Corona-Pandemie sollten eigentlich im Zentrum des diesjährigen Treffens der Staatschefs der führenden westlichen Industrienationen stehen. Der Kampf um die Ukraine wird es jedoch prägen. Mehr denn je wird der Charakter der G7 als Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt in den Vordergrund drängen. Schien es noch vor einigen Jahren, als wäre das Format nicht mehr „zeitgemäß“, so gewinnt der Gipfel wieder an Bedeutung – und zwar als mehr oder weniger unverhohlenes Treffen einer Mächtegruppe, die sicherstellen will, dass sie auch die zukünftige Weltordnung bestimmt.

Die sieben Staaten stehen allesamt ganz weit oben auf der Liste der größten Klimakiller, engstirnigsten Vertreter des Impfstoffnationalismus und größten Militärmächte der Welt – um nur einige Eckdaten der Leistungen dieser illustren Runde aufzuzählen. Und ausgerechnet sie präsentiert sich als „Retterin“ des Klimas, der Gesundheit, der Weltwirtschaft, von „Freiheit“ und „Demokratie“.

Umso wichtiger ist deshalb auch die Gegenmobilisierung durch alle linken und progressiven Kräfte gegen diesen erlesenen Club führender kapitalistischer Nationen, deren Reichtum auf der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse und der halbkolonialen Welt beruht.

Wer mobilisiert wogegen?

Bisher haben sich mehrere Dutzend Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen aus dem ökologischen, kommunistischen, kapitalismuskritischen, antirassistischen und antimilitaristischen Spektrum zu einer Plattform zusammengefunden, die das Treffen der G7 nicht ungestört über die Bühne gehen lassen will. Neben Parteien wie DKP und DIE LINKE sind bisher u. a. auch mehrere lokale FFF- und XR-Gruppen, bundesweite Organisationen wie SDAJ, Linksjugend [’solid], SAV, ISO, Arbeiter:innenmacht, Revolution, Aktivist:innen aus der Mieter:innenbewegung, Perspektive Kommunismus, der Funke und das Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus beteiligt.

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gegenmobilisierung, anders als vor sieben Jahren oder auch gegen den G-20-Gipfel in Hamburg, letztlich von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) faktisch dominiert wird, darunter Greenpeace, BUND, Campact, WWF, Oxfam, Naturfreunde, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und attac.

Rolle der NGOs

Schon zu Beginn hat sich in den Gesprächen ihr Alleingang angedeutet. Sie wurden nicht müde zu betonen, dass sie ihren Status als gemeinnützige Organisationen riskieren, sollten sie gemeinsam mit Parteien und „Linksradikalen“ zu Aktionen aufrufen. Ein weiterer Streitpunkt ergab sich in der Frage der Gewalt bzw. einer klaren Distanzierung der NGOs von Gruppen, die militante Protestformen nicht bereits im Vorfeld ausschließen.

Über mehrere Wochen kam Gegenmobilisierung daher nicht voran, bis am 6. März die Karten auf den Tisch gelegt wurden. Von den NGOs wurden alle übrigen Gruppen davon in Kenntnis gesetzt, dass die anvisierte Großdemonstration am 25. Juni in München, also die sicherlich größte Aktion, von ihnen selbst geplant wird. Der Rest könne sich jedoch gerne einem Aufruf anschließen.

Man sei sich dessen bewusst, so die Vertreterin von Greenpeace und Sprecherin der an der Plattform beteiligten NGOs, dass man an dieser Stelle undemokratisch agiere, es bleibe ihnen aber aus genannten Gründen keine andere Wahl. Die Demonstration wird nun von einem Trägerkreis allein aus NGOs organisiert und „verantwortet“. Ergänzt soll dieser durch einen „Unterstützerkreis“ werden, der Einzelpersonen verschiedener Milieus einbindet – natürlich nur nach einem vorhergehenden Check durch die NGOs.

Ihr provokatorisches und putschistisches Vorgehen führt nun erneut – wie bereits im Vorfeld des G20-Gipfels 2017 in Hamburg – zu einer Schwächung sowohl der Proteste als auch der Mobilisierung. Doch damals war es ihnen nicht möglich, das Bündnis zu übernehmen. Diesmal konnten sie die Großdemonstration kapern.

Wir verurteilen dieses undemokratische Vorgehen und die bewusst herbeigeführte Spaltung aufs Schärfste, nimmt es doch allen weiteren Beteiligten die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die politische Gestaltung der zentralen Großdemonstration in München zu nehmen.

Das Manöver der NGOs, selbst ein direkter Kotau vor Regierung und reaktionärer Gesetzgebung, hat freilich weitgehendere politische Gründe. Während die linken Kräfte die Legitmität der G7 selbst zurückweisen und deren Gipfel als Treffen einer imperialistischen Allianz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt begreifen, betrachten erstere die G7 ganz wie die Bundesregierung als (mögliche) Partnerinnen bei der Verbesserung der Welt. Die Kontrolle von Demo, Aufruf und politischer Ausrichtung soll also nicht nur die zukünftigen Spendenkassen von Greenpeace und Co. schützen, sondern vor allem auch all jene Kräfte marginalisieren, die die G7 und kapitalistische Weltordnung grundsätzlich ablehnen!

Aus diesem Grund müssen die Erwartungen an eine schlagkräftige Protestbewegung schon jetzt relativiert werden. Die NGOs bringen zweifelsohne Geld und weitere Ressourcen auf, behalten sich aber das Recht vor, die Demo nach ihren Wünschen auszurichten. Alle anderen Gruppen und Organisationen sind gewissermaßen die nützlichen Idiotinnen, die die wirkliche Mobilisierungsarbeit übernehmen. Zusammengefasst dürfen sie also die Hauptlast tragen, während die NGOs ihre finanziellen und personellen Ressourcen aufbieten und die Hoheit über die politische Ausrichtung der Demonstration ausüben.

Eigenständige Mobilisierung

Ein schlagkräftiges „Bündnis“ sieht anders aus. Trotz Dominanz der NGOs wäre es jedoch ein Fehler, die Demonstration am 25. Juni in München rechts liegenzulassen. Trotz ihrer mutmaßlich politisch kleinbürgerlichen bis reformistischen Ausrichtung werden wahrscheinlich Zehntausende nach München kommen. Diese müssen wir als Revolutionär:innen, Antikapitalist:innen, antiimperialistischen und Klassenkämpfer:innen zu erreichen versuchen. Daher werden wir auf jeden Fall mit einem eigenen Aufruf, eigenen Parolen, eigenem Material dafür mobilisieren. Wir werden uns auch der geplanten Gegendemonstration am 26. Juni in Garmisch-Partenkirchen anschließen und hoffen, dass das geplante Protestcamp und Workshops zur Diskussion und Aktionsplanung stattfinden können.

Angesichts der aktuellen krisenhaften Zuspitzung der Weltordnung und Weltwirtschaft müssen wir die Gegenmobilisierung nutzen, um eine Bewegung gegen Krise, Militarisierung und Krieg aufzubauen. Wir brauchen eine massenhafte Mobilisierung in den Betrieben, Schulen, Vereinen, an den Universitäten und in den Kulturstätten – unsere Organisierung muss jetzt beginnen!