Pakistan: Solidarität mit den afghanischen Flüchtlingen und Massenprotesten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1237, 20. November 2023

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele der 1,7 Millionen sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung.

Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und der Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung miserabel gemacht hat. Sie erkennen, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Darüber hinaus will die Regierung paschtunische Führer:innen und Händler:innen dazu zwingen, künftig Grenzkontrollen durchzuführen. Der Zusammenschluss von Kaufleuten und lokalen Stämmen soll gezwungen werden, Pässe und Visa auszustellen. Doch zumindest bisher haben sie diese Anordnungen abgelehnt. Derzeit beteiligen sich Bauern und Bäuerinnen, Händler:innen, Stammesführer:innen und berufstätige Paschtun:innen verschiedener politischer Parteien an diesem Protest und lehnen die Regierung und ihre Politik ab.

Die Demonstrant:innen lehnen die Zwangsvertreibung von afghanischen Flüchtlingen ab und fordern, dass die Regierung diese unmenschliche Politik zurücknimmt und das Leben der afghanischen Flüchtlinge nicht noch härter und ärmer macht. Ihre Vertreibung wird alles zerstören, was sie in harter Arbeit ein Leben lang und über Generationen hinweg aufgebaut haben. Zurück in Afghanistan gibt es nichts für sie und viele sind ernsthaften Bedrohungen durch das Regime ausgesetzt.

Die geschäftsführende Regierung von Anwaar-ul-Haq Kakar will von der Krise des Systems, der grassierenden Inflation und der Energieknappheit ablenken. Sie macht die Afghan:innen für den Mangel an Ressourcen verantwortlich. Deshalb werden die afghanischen Flüchtlinge zum Sündenbock gestempelt und der Rassismus gegen sie wird angeheizt. In der Tat wird die Bewegungsfreiheit aller Menschen ohne Pass an der Grenze von Chaman in Zukunft vollständig unterbunden.

Der Grenzhandel ist auch in Belutschistan zu einem ernsten Problem geworden. Dort ist die Beschäftigung und der Lebensunterhalt von Millionen von Menschen damit verbunden. Die Politik der pakistanischen Regierung vernichtet diese im Interesse des Großkapitals.

Diejenigen, die bereits Opfer der vom Imperialismus und dem Staat aufgezwungenen Marginalisierung und des Krieges sind, werden um alles gebracht. Daher liegt es in der Verantwortung der Arbeiter:Innen im ganzen Land, auch in Belutschistan, sich mit den afghanischen Flüchtlingen zu solidarisieren. Die pakistanischen Gewerkschaften müssen die Massensitzstreiks und Proteste an den Grenzen unterstützen. Sie müssen in Solidaritätsmobilisierungen und Streiks mit ihren afghanischen Brüdern und Schwestern auftreten und sich in einem gemeinsamen Kampf gegen alle Abschiebungen, für das Recht aller Flüchtlinge, in Pakistan zu leben und zu arbeiten, und gegen die Inflation, die staatlichen Kürzungen, die Diktate des Internationalen Währungsfonds und die kapitalistische Krise, die die wahre Ursache für das Elend der pakistanischen Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der afghanischen Flüchtlinge sind, vereinen.

Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Sie müssen Proteste und Kundgebungen in verschiedenen Ländern organisieren und Solidaritätsbotschaften an die Protestierenden senden!




Nein zur Verschärfung des Asylrechts!

Stefan Katzer, Neue Internationale 278, November 2023

Wenn man von der prokapitalistischen Partei der Reichen mit Spleen für Verbrennungsmotoren auch sonst nicht viel hält, muss man der FDP doch eines lassen: Sie hat noch rote Linien. Das heißt, sie vertritt politische Positionen, die für sie nicht verhandelbar sind. Steuererhöhungen zum Beispiel. Die wird es mit der FDP nicht geben. Das hat sie vor, während und nach dem letzten Bundestagswahlkampf klargemacht. Und das macht sie auch in der Ampelkoalition immer wieder deutlich. Egal wie marode die Schulen, wie überlastet das Gesundheitssystem, wie kaputt der öffentliche Nahverkehr – Geld von den Reichen zur Finanzierung dieser öffentlichen Angelegenheiten wird es nicht geben. Dafür steht der derzeitige FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner mit seinem Namen.

Die Grünen

Anders bei den Grünen. Bei der geradezu gymnastisch-pragmatischen Sonnenblumenpartei mit grünem Image und chamäleonartigem Anpassungsvermögen sucht man nach roten Haltelinien, nach nicht verhandelbaren Positionen vergebens. Egal ob Klimaschutz, Aufrüstung oder Asylpolitik – nichts scheint den Grünen zu schade, um nicht einem faulen Kompromiss geopfert zu werden. Geradezu stolz ist man auf die eigene ideologische Geschmeidigkeit, auf den zum Prinzip erhobenen Opportunismus. Frei nach dem Motto: Es ist besser, falsch zu regieren, als gar nicht zu regieren. Das geht zwar nicht immer ohne Reibungen innerhalb der eigenen Partei aus, kleinere Schlagabtausche zwischen Parteiführung und Basis inklusive, aber am Ende geht es meistens doch. Schließlich hat die Parteispitze nicht versäumt, die Basis bereits vor Eintritt in die Ampelkoalition auf Kompromisse einzuschwören.

Die erste dicke Kröte, die vor allem die Grüne Jugend herunterwürgen musste, bekam diese von der selbsternannten Fortschrittskoalition unter Einschluss der Grünen im Sommer diesen Jahres serviert. Die sogenannte Asylkrisenverordnung, die von den Regierungen der EU-Staaten ausgehandelt worden war und für die am Ende auch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock geworben hat – auf Druck vom Kanzler und mit ordentlich Bauchschmerzen, versteht sich –, hatte es schon in sich.

Neben mehr Abschottung an der EU-Außengrenze sieht dieser Kompromiss auch die Möglichkeit der Verlängerung der Lagerhaft für Geflüchtete vor. Diese erzwungene Haft soll es den Behörden erleichtern, bei negativem Asylbescheid die Menschen schneller wieder in ihre Heimatländer abzuschieben. Außerdem wurde im Zuge dieser Asylrechtsverschärfung auch der Personenkreis ausgeweitet, der in solchen Lagern künftig untergebracht werden kann. Darunter sind nun auch Familien mit Kindern.

Nach anfänglicher Kritik und daran anschließenden minimalen Verbesserungen hat die Bundesregierung dem Vorschlag letztlich zugestimmt. Man wollte endlich ein Ergebnis, einen zustimmungsfähigen Kompromiss in der Asylpolitik auf EU-Ebene vorweisen können, bevor nächstes Jahr das EU-Parlament neu gewählt wird. Wenn er dort durchgewunken wird, könnten somit geflüchtete Kinder in Zukunft an der Außengrenze der Festung Europa in Lagern eingesperrt werden, während die grüne Außenministerin, die diesem Kompromiss zugestimmt hat, auch weiterhin im Kabinett auf ihrem bequemen Sessel Platz nehmen darf. Wahrlich schmerzhafte Kompromisse – für die Grünen.

Verschärfungen vom Oktober

Nun hat sich die Bundesregierung im Oktober auf weitere Verschärfungen im nationalen Asylrecht geeinigt. Nachdem man wochenlang der AfD nach dem Mund geredet und beinahe sämtliche sozialen Probleme im Land – angefangen beim Wohnungsmangel über fehlende Kitaplätze bis hin zum überlasteten Gesundheitssystem – auf die Überlastung durch „illegale Migration“ zurückgeführt hat, musste man schließlich auch liefern. Das hat die Ampel nun getan. Das Innenministerium unter der Führung von Nancy Faeser hat kürzlich einen Gesetzentwurf zur „Verbesserung der Rückführung“ vorgelegt, der massive Verschlechterungen für Geflüchtete vorsieht – eine Abschiebeoffensive also, von der die Rechten schon lange träumen.

Dieses Mal standen insbesondere die Ausreisepflichtigen im Fokus der Debatte. Das sind Personen, die sich aufgrund eines abgelehnten Asylantrags, eines abgelaufenen Visums oder einer nicht verlängerten Aufenthaltserlaubnis rechtlich gesehen nicht länger in Deutschland aufhalten dürfen. Derzeit betrifft das ca. 300.000 Menschen. Von diesen ist allerdings der größte Teil, ca. 90 %, geduldet. Diese Personen können also auch weiterhin aus rechtlichen Gründen (noch) nicht abgeschoben werden. Das kann unterschiedliche Gründe haben, etwa weil den Betroffenen in ihren Heimatländern Verfolgung droht oder ihr Heimatland als nicht sicher gilt, z. B. weil dort Krieg herrscht.

Unmittelbar ausreisepflichtig sind derzeit somit nur ca. 54.000 Personen. Um diesen Personenkreis geht es in dem neuen Gesetzentwurf. Diese sollen durch das neue Gesetz nun schneller und effektiver abgeschoben werden können. Um dies zu erreichen, hat die bei der Hessenwahl erfolglose SPD-Spitzenkandidatin und Immer-noch-Bundesinnenministerin Nancy Faeser einen Entwurf ausgearbeitet, der massive Grundrechtseinschränkungen, neue Straftatbestände für Geflüchtete und erweiterte Kompetenzen für die Polizei vorsieht.

Laut Pro Asyl könnte es durch das neue Gesetz möglich werden, dass Menschen schon aufgrund eines „falschen“ Familiennamens bzw. der gleichen Familienzugehörigkeit aus Deutschland ausgewiesen werden. Dies soll es erleichtern, Menschen abzuschieben, von denen man annimmt, dass sie einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB angehören, ohne dass es zu einer rechtskräftigen Verurteilung gekommen ist. Hier bedienen die Ampelparteien das rechte Narrativ der „Clankriminalität“, der angeblich besonders schwer beizukommen ist und für deren Bekämpfung man daher auf unkonventionelle (lies: grundrechtswidrige) Verfahren zurückgreifen möchte. Dafür ist man offenbar bereit, Menschen pauschal unter Verdacht zu stellen bzw. abzuurteilen, ohne dies im Einzelfall richterlich bestätigt zu bekommen.

Außerdem soll es künftig leichter möglich sein, Menschen in Abschiebehaft zu nehmen. Hierfür genügt bereits der Vorwurf gegenüber den Antragsteller:innen, die Mitwirkungspflichten bei der Bearbeitung des Asylantrags zu verletzen. Letztlich können auf Grundlage des neuen Gesetzes alle Personen, die ausreisepflichtig sind, in Haft genommen werden, und das nun nicht mehr „nur“ für drei, sondern ganze sechs Monate. Vor dem Hintergrund, dass laut Pro Asyl bereits heute die Hälfte der sich in Abschiebehaft befindlichen Menschen zu lange oder zu Unrecht in Haft sitzt, ist dies besonders perfide.

Doch damit nicht genug. Auch wenn kein Verdacht vorliegt, einer kriminellen Vereinigung anzugehören, soll es zur Erleichterung von Abschiebungen künftig möglich sein, Menschen länger als bisher einzusperren. Dies soll ermöglicht werden durch die Ausdehnung des sogenannten Ausreisegewahrsams. Statt wie bisher zehn, sollen ausreisepflichtige Personen künftig bis zu 28 Tage in Gewahrsam genommen werden dürfen, um den Behörden die Vorbereitung der Abschiebung und diese selbst zu erleichtern. Auch Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden und gegen die keine sonstigen strafrechtlichen Verfahren angestrengt werden, sollen künftig in Abschiebehaft genommen werden dürfen.

Ebenso werden die Polizei und andere in das Verfahren involvierte Behörden deutlich mehr Befugnisse erhalten, die ihnen die Durchführung von Abschiebungen erleichtern sollen. Diese dürfen nun ohne richterlichen Beschluss de facto zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Wohnungen und Unterkünfte von Geflüchteten eindringen. Doch nicht nur in die Wohnungen oder Unterkünfte der unmittelbar Ausreisepflichtigen, sondern letztlich in jede Räumlichkeit, sofern die Behörden davon ausgehen, dass die gesuchte ausreisepflichtige Person sich dort aufhalten könnte. Und das, mit Ausnahme von Familien, in denen Kinder unter 12 Jahren leben, ohne jegliche vorherige Ankündigung. Dass dies für die betroffenen Personen enorme psychische Belastungen mit sich bringt, nimmt man offenbar in Kauf. Sie können sich in keiner Sekunde mehr sicher sein, müssen ständig befürchten, von der Polizei besucht, überwältigt und zur Abschiebung geholt zu werden.

Gemeinsam gegen Rassismus

Gegen diese Asylrechtsverschärfung und den gerade stattfindenden Rechtsruck insgesamt muss die Linke, muss die Arbeiter:innenbewegung aktiv werden. Sie müssen der rechten Hetze und den Spaltungsversuchen der Herrschenden eine solidarische, letztlich eine revolutionäre Perspektive entgegensetzen. Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer, Grenzkontrollen in der EU und einer insgesamt menschenverachtenden rassistischen Politik braucht es eine menschenwürdige Alternative.

Statt für schnellere Abschiebungen müssen wir für sichere Fluchtrouten, offene Grenzen und gleiche Rechte für alle hier lebenden Menschen kämpfen. Dies schützt nicht nur die Geflüchteten vor Abschiebung und Entrechtung, sondern trägt auch dazu bei, die Spaltung der Lohnabhängigen zu überwinden.

Die Gewerkschaften müssen daher Geflüchtete in ihre Reihe aufnehmen und gemeinsam mit diesen für soziale Verbesserungen kämpfen – und zwar mit den Methoden des Klassenkampfes, nicht der warmen Worte. Sie müssen den Kampf führen gegen die Spaltung der Arbeiter:innenklasse, gegen die Selektion von Flüchtlingen und Migrant:innen in Ausgestoßene und Deportierte einer- und entrechtete Lohnabhängige zweiter Klasse andererseits. Nur wenn wir entschieden gegen Nationalismus und Chauvinismus kämpfen, können wir die lähmende Spaltung der Klasse überwinden und die Kampfbedingungen insgesamt verbessern.

Dafür müssen wir auch die Lügen der Herrschenden entlarven, die behaupten, dass die sich zuspitzenden sozialen Probleme letztlich auf die Überlastung durch „illegale Migration“ zurückzuführen sind, während sie selbst gerade dabei sind, an allen Ecken und Enden – außer beim Militär – massive Kürzungen durchzusetzen.

Wir brauchen eine Massenbewegung von antirassistischen, Migrant:innenorganisationen, allen Arbeiter:innenorganisationen und vor allem von den Gewerkschaften!

• Volles Asylrecht für alle Geflüchteten! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland und der EU leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Organisierte Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant:innen, unterstützt von der gesamten Arbeiter:innenbewegung! Öffnung der Gewerkschaften für alle Geflüchteten und Migrant:innen!




Ampel gegen Geflüchtete: bei Einreise rot, bei Ausreise grün

Jürgen Roth, Infomail 1229, 10. August 2023

Am 8. Juni 2023 hatten sich die EU-Innenminister:innen auf einen Kompromiss zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Zukünftig sollen Asylverfahren für Menschen mit geringen Aussichten (Einreise aus „sicheren“ Staaten wie der Türkei, Anerkennungsquote unter 20 % z. B. bei Herkunft aus Afghanistan) in grenznahen, haftähnlichen Lagern innerhalb von 12 Wochen abgewickelt werden können. Diese Inhaftierung gilt ebenfalls für Familien mit Kindern.

Zahlen

2022 verzeichnete das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Rekordzahlen an Geflüchteten. 5,2 Millionen benötigten internationalen Schutz, weil sie gewaltsam vertrieben wurden, und gehörten nicht zu einer der im Weiteren genannten Gruppen. 5,4 Millionen ersuchten um Asyl. 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge wurden vom UN-Hilfswerk UNRWA betreut. 29,4 Millionen waren unter UNHCR-Mandat ins Ausland geflohen. 62,5 Millionen suchten innerhalb ihres Heimatlandes Schutz.

Die ersten 5 Plätze bei den Herkunftsländern der ins Ausland Geflüchteten belegten in dieser Reihenfolge Syrien (6,55 Millionen), Ukraine (5,7 Millionen), Afghanistan (5,66 Millionen), Venezuela (3,45 Millionen) und Südsudan (2,4 Millionen). Bei den Aufnahmeländern waren die ersten Ränge vergeben an: Türkei (3,57 Millionen), Iran (3,43 Millionen), Kolumbien (2,46 Millionen), Deutschland (2,08 Millionen) und Pakistan (1,74 Millionen). Die meisten Binnenflüchtlinge gab es in: Kolumbien (6,8 Millionen), Syrien (6,8 Millionen), Ukraine 5,9 Millionen), Demokratische Republik Kongo (ehem. Zaire; 5,5 Millionen), Jemen (4,5 Millionen) und Sudan (3,6 Millionen).

Weitere Details fürs Trilogverfahren

Angesichts dieser erschreckenden Fakten wirkt das Gefeilsche des EU-Innenminister:innenrats um weitere Verschärfungen der Asylgesetzgebung geradezu bizarr und gibt zu Verzweiflung und Kopfschütteln Anlass. Im sogenannten Trilogverfahren, bei denen EU-Mitgliedstaaten, -Parlament und -Kommission verhandeln sollen, stehen weitere Details zur Debatte.

Die Einigung umfasst noch weitere Punkte. Eine Mehrheit im Rat stimmte für sog. verpflichtende Solidarität mit den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der Festung EU. Länder wie Polen und Ungarn, die keine Geflüchteten aufnehmen (außer im Fall des Ersteren aus der Ukraine) wollen, sollen ein Kopfgeld (20.000 Euro pro Flüchtendem/r) zahlen. Mit Solidarität mit Geflüchteten hat das nun allerdings gar nichts zu tun. Staaten wie Griechenland oder Italien sollen so motiviert werden, Neuankömmlinge nicht einfach weiterziehen zu lassen, sondern sich an die Dublinverordnung halten, der zufolge Asylbewerber:innen dort registriert werden, wo sie zuerst die EU betreten haben. In der Praxis funktioniert dieses System schon lange nicht mehr, weshalb z. B. Deutschland und Österreich wieder Grenzkontrollen eingeführt haben, die dem Schengenabkommen eigentlich zuwiderlaufen.

Will die EU Rückführungen durchsetzen, wird sie z. B. der Türkei erneut Geld in die Hand geben müssen. Bisher können dorthin keine Abschiebungen erfolgen, so dass sich auf den griechischen Inseln, Kos, Samos und Leros Geflüchtete in von der EU finanzierten geschlossenen Zentren für den kontrollierten Zugang (CCAC) aufhalten müssen, in denen der Zugang zu Rechtsbeistand und medizinischer Hilfe stark eingeschränkt ist und menschenunwürdige Zustände herrschen. Diese Lager gelten als Versuchsballon für die geplanten Verschärfungen.

Im Gespräch ist beim in der BRD herrschenden Flughafenverfahren, dem zufolge schon jetzt Asylsuchende, die ohne gültigen Pass oder aus einem „sicheren“ Herkunftsland auf dem Luftweg eingereist sind, für 19 Tage inhaftiert werden können, diesen Zeitraum künftig auf 12 Wochen zu verlängern. Zudem könnten Menschen, die auf dem Landweg hierhergekommen sind und zuvor in  keinem anderen EU-Staat registriert wurden, im Grenzverfahren inhaftiert werden. Dies könnte auch für aus Seenot Gerettete gelten, die im sog. Relocationverfahren nach Deutschland gelangten.

Bei den verstärkter anfallenden Rückführungen soll die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) mehr als bisher schon einbezogen werden. Insgesamt nimmt die Zahl der unter ihrem Mandat Abgeschobenen stetig zu: 2020: 12.000, 2021: 18.000 und 2022: 25.000. Frontex hat extra dafür eine aus Begleit- und Unterstützungsbeamt:innen bestehende bewaffnete Eingreiftruppe unter der Bezeichnung „Ständige Reserve“ aufgebaut. Sie soll bis 2027 10.000 (!) Leute umfassen.

Krisenverordnungspläne …

Kaum hatten sich die EU-Innenminister:innen auf eine Verhandlungsposition geeinigt, karteten sie Anfang Juli nach. Eine Krisenverordnung soll Asylsuchende bedeutend länger an den Außengrenzen festhalten, bis zu 5 Monaten. Zudem sollen auch Flüchtende ohne gültigen Ausweis, aus Seenot Gerettete und solche, die widersprüchliche Angaben gemacht haben, in den „Genuss“ dieser Grenzverfahren kommen können.

Eine neue Screeningverordnung soll die Erfassung biometrischer Daten ermöglichen. Dabei wird so getan, als seien die Betroffenen noch nicht in die EU eingereist (fiktive Nicht-Einreise). Ein neues Asyl- und Migrationsmanagement soll die Dublin-III-Verordnung ersetzen. Demnach können Einreiseländer unter bestimmten Bedingungen einen erhöhten „Migrationsdruck“ ausrufen und andere Mitgliedstaaten zur Aufnahme der Schutzsuchenden und Bearbeitung ihrer Asylanträge auffordern. Alle 27 sollen der Kommission dazu jährlich ihre Kapazitäten mitteilen. In diesem Punkt sind sich die Innenminister:innen bereits einig, bei der Krisenverordnung noch nicht in allen Details (z. B. Verlängerung der Inhaftierungszeit). Erst dann können die Verhandlungen mit Kommission und Parlament beginnen. Bis zur Europawahl 2024 soll die Festung Europa noch  abgeschotteter sein.

Erste Vorschläge zur GEAS-Reform stammen aus dem Jahr 1999, nahmen ab 2015 deutlich an Fahrt auf, stockten jedoch wegen der harten Linie einiger Staaten (bspw. Polen und Ungarn). Ab 2020 hatte die EU-Kommission vorgeschlagen, das Gesamtpaket Brüssels namens „Pakt zu Migration und Asyl“ in 9 einzelne Richtlinien aufzuteilen, deren Teile u. a. Krisen-, Screening- sowie Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung bilden.

… vorläufig gescheitert

Am 26. Juli konnte sich der Rat nicht auf weitere Verschärfungen einigen. Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn gehen einerseits die Pläne nicht weit genug, andererseits sperren sie sich gegen die verpflichtende Umverteilung Schutzsuchender im Fall der Ausrufung eines „Massenzustroms“. Die BRD hatte sich enthalten, weil auch Minderjährige ins ausgedehnte Grenzverfahren gezwungen werden sollen. Die Enthaltung erfolgte aber auch aus dem Grund, weil die Bundesregierung eine Instrumentalisierung der Krisenverordnung befürchtet wie 2020 an den Außengrenzen zu Belarus und der Türkei. Deren Regierungen hatten die Weiterreise in die EU genehmigt und zum massiven Grenzübertritt ermutigt.

Da das EU-Parlament sich nur mit den einzelnen 9 Vorschlägen beschäftigen will, wenn sich der Europäische Rat der Mitgliedstaaten auf das Gesamtpaket geeinigt hat, ist z. B. die Screening-Verordnung ausgesetzt. Das Parlament blockiert auch die Eurodac-Verordnung, der zufolge auch Kinder ab 6 Jahren Fingerabdrücke und Gesichtsbilder abgeben müssen. Ebenfalls auf Eis liegt die Reform des  Schengener Grenzkodexes. In dessen Gefolge hätte im Fall eines „Migrationsdrucks“ die EU u. a. ihre Übergänge an den Außengrenzen schließen und die Einreise in ganzen Regionen verhindern sowie Grenzübergänge innerhalb des Schengenraums wieder in Betrieb nehmen können.

Druck auf Tunesien

Unmittelbar nach dem GEAS-Kompromiss im EU-Minister:innenrat reisten Kommissionschefin von der Leyen und die Regierungschef:innen Italiens und der Niederlande nach Tunis zur Beratung mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saed. Ähnlich wie 2016 mit der Türkei sollte ein Abkommen festgezurrt werden, Boote mit Migrant:innen konsequent am Ablegen Richtung Italien zu hindern. So darf sich Tunesiens Regierung auf zunächst 255 Milliarden Euro freuen: 105 für Abschiebungen, 150 für „Grenzmanagement und Schmuggelbekämpfung“. Das Land ist auf Hilfe als Voraussetzung für neue IWF-Kredite angewiesen. Die EU-Regierungen fürchten bei einem Zusammenbruch der Staatsfinanzen, dass wieder vermehrt Tunesier:innen Kurs Richtung Europa übers Mittelmeer einschlagen werden. Ihr Anteil an den Angekommenen lag zuletzt bei nur 7 %. In vergangenen Jahren machten sie zeitweise die größte Gruppe aus.

Tunesien soll sich also auch in die Riege „sicherer Herkunftsstaaten“ einreihen. Die deutsche Innenminister:innenkonferenz nahm das gleich zum Anlass, diese Liste zusätzlich um Ägypten, Algerien, Indien, Marokko und die Republik Moldau zu erweitern. Dazu hat Tunesien als erstes afrikanisches Land Mitte Juli mit der EU-Kommission eine „Operative Partnerschaft zur Bekämpfung des Menschenschmuggels“ unterzeichnet. Ihr Vorgehen dabei verstößt eigentlich gegen die EU-Verträge, die die Zustimmung der 27 Mitgliedstaaten vorsehen. Doch wenn’s der Abschreckung dient …

Das Abkommen fußt auf den 5 Säulen zwischenmenschliche Beziehungen, wirtschaftliche Entwicklung, Investitionen und Handel, erneuerbare Energien und Migration. Tunesien darf zusätzlich zu den o. a. Zuwendungen auf günstige Darlehen in Höhe von 900 Millionen Euro hoffen. Erneuerbare Energien sind dabei nicht für das Land geplant. Sie sollen Europas Fabriken mit Strom beliefern, deren Produkte dann wieder in Nordafrika verkauft werden dürfen. Auch die Technologie stammt aus der EU. Es handelt sich also um ein Beispiel für Ökoimperialismus.

Eine neue Welle der Gewalt gegen schwarze Geflüchtete bis hin zu Pogromen erfolgt in einer Region, in der auch die BRD aktiv ist. Das Bundesverteidigungsministerium hat die tunesisch-libysche Grenze mit einer Überwachungsanlage eines deutschen Rüstungskonzerns aufgerüstet, die als gut geeignet gegen eine Welle „illegaler Einwanderer:innen“ bezeichnet wird. Die Vertreibung Geflüchteter in die andere Richtung zum Verdursten in der Sahara ist dagegen keine Überwachung wert!

Neuer Türsteher Ägypten

Ägypten kooperiert mit Italien seit 2007. 2008 wurde ein bilaterales Abkommen geschlossen. Seit 2017 gibt es den sog. Migrationsdialog des Militärregimes mit der EU, seit dem gleichen Jahr auch eine bilaterale Übereinkunft mit der BRD. Noch in diesem Jahr will die EU-Kommission mit ihm einen Deal nach tunesischem Muster abschließen.

Seine Küstenwache erhält dazu 2 neue Schiffe im Wert von 23 Millionen Euro geschenkt. Die Mittel stammen aus dem Fonds NDICI (Neighbourhood, Development and International Cooperation Instrument – Global Europe), aus dem die sog. Nachbarschaftshilfe finanziert wird. Außerdem erhält Ägypten Wärmebildkameras, Satellitenortungssysteme und anderes Überwachungsgerät. Es rüstet auch seine Landgrenzen mit EU-Mitteln auf. Der Finanzierungsplan 2022 sah 57 Millionen Euro aus EU-Töpfen vor. 2023 wurde das auf 87 Millionen aufgestockt. Zusätzlich erhält Kairo 23 Millionen zum „Schutz von Flüchtlingen, Asylbewerber:innen und Migrant:innen“ plus weitere 20 Millionen für die Aufnahme von Personen, die vor dem Bürgerkrieg aus dem Sudan geflohen sind. Für diese hatte die ägyptische Regierung vor 2 Monaten die Bedingungen drastisch verschärft. Sie müssen ein Visum für den Grenzübertritt beantragen. Seitdem sitzen Tausende unter katastrophalen Bedingungen an der Grenze fest.

Einer Stationierung von Frontex verschließt sie sich einstweilen noch, doch koordiniert diese „gemeinsame Rückführungsaktionen“ für abgelehnte Asylbewerber:innen. Auf Grundlage des „Gesetzes Nr. 82 zur Bekämpfung der illegalen Migration und der Schleusung von Migrant:innen“ aus dem Jahr 2016 verstärkte auch Ägypten seine Überwachung der libyschen Grenze deutlich.

Frontex und Vorverlagerung der Flüchtlingsabwehr

Frontex bekommt zusätzlich zum Jahresbudget (250 Millionen Euro) weitere 200 Millionen. EU-Außenstaaten dürfen 140 Millionen für neue Überwachungssysteme kassieren, Bulgarien und Rumänien – beide noch keine Schengen-Vollmitglieder – 56 Millionen für die Sicherung ihrer Grenzen zur Türkei und zu Serbien. Für die libysche „Küstenwache“ hat die Kommission bereits 50 Millionen Euro ausgegeben, Fortsetzung folgt. Allein dieses Jahr hat sie 7.562 Personen auf hoher See aufgegriffen. Libyen, Ägypten und Tunesien gehören zu den Staaten der „Europäischen Nachbarschaft“ und erhalten Zuwendungen über das dazugehörige Finanzprogramm.

Die EU-Kommission will die „Vorverlagerung“ der Migrationsabwehr aber auch auf Westafrika ausweiten. Frontex will zu diesem Zweck Grenzbeamt:innen nach Mauretanien und in den Senegal schicken, wenn entsprechende Statusabkommen ausgehandelt sind.

Innenminister:innenkonferenz (IMK)

Auf Initiative der Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD), turnusgemäß Chefin der IMK, trafen sich die obersten Sheriffs der Republik während der 3. Juniwoche in der Hauptstadt. Die IMK besteht seit 1954. Aufgaben der Gefahrenabwehr fallen nach dem Grundgesetz unter Länderhoheit. Was sie Riege so anstellt, entzieht sich weitgehend dem Blick der Öffentlichkeit. Beschlüsse werden einstimmig und durch die Länder getroffen; die Bundesinnenministerin ist nur Gast. Die Geheimbündelei erstreckt sich auch auf vorgelegte Berichte, Beschlussvorlagen und Beschlüsse. Erst seit 2015 herrscht eine Transparenz bei Dokumenten, deren Veröffentlichung die IMK einmütig beschließt. So viel zur bürgerlichen Demokratie!

Ein bestimmendes Thema bildeten Maßnahmen zur Verringerung der Zahl der Geflüchteten, die in die BRD kommen. An der deutsch-polnischen Grenze wurden seit März des Jahres doppelt so viel „irreguläre“ Einwander:innen festgestellt wie an der zu Österreich. An beiden ist das Schengenabkommen partiell ausgesetzt. Eine besonders makabre Note erhielt das Ansinnen der IMK, die Kosten für Schutzsuchende zu reduzieren, dadurch, dass gleichzeitig vor der griechischen Küste mehrere Hundert Menschen auf der Flucht nach Europa ertranken.

Erschwerte Seenotrettung

In diesem wie in vielen anderen Fällen wussten griechische Küstenwache und Frontex von der Seenot und haben die Menschen schlicht ersaufen lassen. In dieses Bild reihen sich die eskalierenden Schikanen gegen private Hilfsorganisationen ein. Früher wurden Schiffe wegen z. T. nur behaupteter erfundener Mängel tagelang festgesetzt. Heute werden sie nach einer Rettung sofort aus dem Mittelmeer abgezogen. Somit war die zivile Seenotrettung 2022 nur noch an 11 % der Ankünfte von Flüchtenden nach Europa beteiligt. Damit wird die Flucht noch gefährlicher, die Abschreckung noch größer. Im Vergleich zu 2014 gibt es heute sechsmal mehr Grenzbefestigungen, Fontex sei Dank.

Seit Jahren finanziert die EU die sog. libysche Küstenwache, die nichts weiter tut, als mittels Formen schwerer, darunter auch sexualisierte Gewalt Menschen an der Überfahrt in ein vermeintlich sicheres Europa zu hindern. In ihrem Koalitionsvertrag hatte die rot-grün-gelbe Bundesregierung die Unterstützung für die zivile Seenotrettung festgeschrieben. So sollte das Bündnis „United 4 Recue“ 8 Millionen Euro über den Zeitraum von 4 Jahren erhalten. Bis Ende Juni war aber kein Cent geflossen. Eine Recherche des „Spiegel“ förderte zutage, dass die Nichtauszahlung politisch motiviert und nicht nur durch die Bürokratie bedingt sei. Es sollen nur Projekte an Land mitfinanziert werden.

Italien erließ am 24. Februar d. J. ein Gesetz, das Seenotrettung kriminalisiert. In einer 1. Phase des Dekrets wurde die „Sea-Eye 4“ 20 Tage in Verwaltungshaft genommen und mit 3.333 Euro bestraft. In der nächsten Phase wären 6 Monate und 50.000 Euro fällig, in der 3. Stufe ein Festsetzen auf Dauer.

Vorbild Großbritannien?

Zahlreiche Innenminister:innen jonglieren derzeit auch mit Gedanken, dem britischen „Vorbild“ nachzueifern. Die Regierung Rishi Sunaks hat den Stopp der Migration über den Ärmelkanal zur Priorität erhoben. Mittels des „Gesetzes gegen illegale Migration“ sollen alle, die auf irregulärem Weg auf die Insel gekommen sind, automatisch deportiert werden, ohne einen Asylantrag stellen zu können. Sie können bis zum Zeitpunkt der Deportation in ihr „sicheres“ Ursprungsland oder einen Drittstaat festgehalten werden.

Doch wohin mit ihnen? Seit dem Brexit gelten die Dublin-Bestimmungen nicht mehr und es gibt keine bilateralen Rückführungsabkommen mit EU-Staaten. Mit Ausnahme Ruandas hat London keine Überführungsverträge von Asylsuchenden geschlossen. 2022 einigten sich Großbritannien und Ruanda, dass Letzteres gegen finanzielle Hilfen Tausende Flüchtlinge aufnimmt, die eigentlich im Vereinigten Königreich Asyl beantragen wollen. Vor wenigen Wochen entschied allerdings das Londoner Berufungsgericht, dass es sich bei Ruanda um keinen sicheren Drittstaat handelt. Das Abkommen ist also rechtswidrig.

Scheinheiligkeit

Am 8. Juni hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) noch die Forderung zurückgewiesen, das deutsche Asylrecht unabhängig von jenem der EU weiter einzuschränken. Nur wenig später stimmte sie der „Reform“ des EU-Asylrechts in puncto Abschaffung des Anspruchs auf Einzelprüfung der Anträge zu, was bereits als Kompromiss gelten sollte.

Knapp 100 Delegierte des Länderrats, wie der kleine Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen heißt, trafen sich am 17. Juni im hessischen Bad Vilbel, um die dicke Kröte der geplanten EU-Asylrechtsverschärfung zu schlucken. Etwas anderes war bei diesem Funktionär:innengremium nicht zu erwarten. Ohne ernsthaftes Zerwürfnis, aber mit „viel Bauchschmerzen“ segnete der Länderrat das Vorhaben ab und stellte sich damit in der Schlange der Scheinheiligen an.

Bund und Länder: mehr Abschiebungen, weniger Asylrecht

Am 2. August legte das Bundesinnenministerium einen Entwurf vor, der mit den Ländern abgestimmt werden soll, bevor er ins Gesetzgebungsverfahren gehen kann. Die Rechte von Menschen in den Abschiebegefängnissen sollen eingeschränkt und die Befugnisse der Polizei ausgeweitet werden. Die maximale Dauer des Ausreisegewahrsams wird von 10 auf 28 Tage verlängert. Die Polizei soll auf der Suche nach abzuschiebenden Ausländer:innen nicht nur die Räume der gesuchten Person, sondern auch alle anderen betreten dürfen.

Verbessern soll sich die Lage für Leute mit subsidiärem Schutz. Sie sollen Aufenthaltserlaubnis von 3 Jahren statt bisher einem bekommen. Ihre Rechtsstellung ist damit aber noch nicht völlig gleich mit der von Geflüchteten mit Schutzanerkennung gemäß Genfer Konvention bzw. Asylberechtigten. Sie erhalten z. B. keinen Reisepass für Geflüchtete.

Ferner geht es um verbesserten Datenaustausch zwischen Ausländer- und Sozialbehörden. Im  Ausländerzentralregister soll erfasst werden, wer existenzsichernde staatliche Leistungen erhält. Bundesinnenministerin Faeser schlägt u. a. auch vor, dass Widerspruch und Klage gegen Einreise- und Aufenthaltsverbote zukünftig keine aufschiebende Wirkung mehr haben. Viele Neuerungen gehen auf den Druck der Bundesländer zurück.

2022 wurden knapp 13.000 ausreisepflichtige Personen aus Deutschland abgeschoben. 304.000 waren ausreisepflichtig, darunter 248.000 mit einer Duldung. Neben Asylbewerber:innen können auch Tourist:innen, Beschäftigte und Studierende ausreisepflichtig werden, wenn Visum bzw. Aufenthaltserlaubnis abgelaufen sind. Geduldete sind Ausreisepflichtige, die nicht abgeschoben werden dürfen.

Abschiebung auch ohne Straftat?

Die scheinheilige Hardlinerin Faeser gibt auch in einem anderen Punkt dem Druck einiger Bundesländer nach, die Regeln aus der Terrorismusbekämpfung gegen „Clankriminalität“ angewandt sehen wollen. Dafür soll das Aufenthaltsgesetz geändert werden. Die vermutete Zugehörigkeit zu kriminellen Vereinigungen, auch dann, wenn die Betroffenen keine Straftaten begangen haben, soll künftig für eine mögliche Abschiebung ausreichen.

Dies zielt auf einen Personenkreis, der im Polizeijargon „Gemeinschaften der Organisierten Kriminalität“ heißt. Unklar bleibt freilich, wie eine solche Zugehörigkeit festgestellt werden soll und ob hierfür Gerichte zuständig sind. Einige der als Clans bezeichneten Familien erhielten vor Jahrzehnten eine Duldung als Staatenlose, für deren Abschiebung es kein Zielland gibt. Das „Ruanda-Modell“ könnte sich hier anbieten.

Sicher ist nur: Unter dem Deckmantel einer Bekämpfung von „Clankriminalität“ werden Menschen allein aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit verfolgt. Razzien in Cafés, Shisha-Bars, Friseurläden und Wettbüros erfolgen häufig in Form von „Verbundeinsätzen“ von Ordnungsamt, Polizei und Zoll und enden nahezu ausschließlich höchstens in der „Aufdeckung“ von Bagatelldelikten. Für die Besitzer:innen, ihre Angestellten, Gäste und Kund:innen bedeuten sie jedoch rassistische Stigmatisierung, Rufmord und finanzielle Einbußen.

Dass die Grünen Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit anmeldeten, dürfte für sie wenig Trost bereiten. Betroffenheitsheuchelei und politische Bauchschmerzen gehören zu deren Grundausstattung. Wenn’s drauf ankommt, folgen sie stets den Wünschen der Herrschenden (siehe Bad Vilbel). Mehr Rückgrat in vergleichbaren Fällen zeigte sogar der Europäische Gerichtshof. In einem Urteil von Anfang Juli entschied er, dass Flüchtlingen, denen in ihren Herkunftsländern Verfolgung droht, nicht einfach ihr Schutzstatus genommen werden darf, auch dann nicht, wenn sie schwere Straftaten begangen haben. Es ist ganz einfach: Straftaten werden da verbüßt, wo sie begangen wurden – im Aufnahmeland!

Fachkräfteeinwanderungsgesetz

Ende 2022 blieben in der BRD 1,8 Millionen Stellen unbesetzt. Bis 2035 werden lt. Prognosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 7 Millionen Arbeitskräfte fehlen, besonders in Handwerk und Pflege. Auch wenn die Verantwortung der Kapitalbesitzer:innen für den hausgemachten Fachkräftemangel nicht geleugnet werden darf, so ist doch zu begrüßen, dass die Einwanderung von Arbeitskräften aus dem nichteuropäischen Ausland jetzt erleichtert werden soll. Ein Punktesystem vergleichbar dem kanadischen soll’s regeln: 3 Punkte gibt’s für ein im Heimatland absolviertes staatlich anerkanntes Studium oder 3 Jahre Berufserfahrung per Arbeitsvertrag. Für Deutschkenntnisse, eine in Deutschland lebende Bezugsperson oder Nichtüberschreitung eines Höchstalters gibt es weitere. Für mind. 6 Punkte erhalten Hochschulabsolvent:innen eine Blaue EU-Karte oder Fachkräfte eine nationale Aufenthaltserlaubnis.

Voraussetzung fürs Visum ist die Selbstfinanzierung des eigenen Lebensunterhalts. Wer nach 1 Jahr eine Festanstellung gefunden hat, soll seine Aufenthaltsgenehmigung unbürokratisch verlängern können. Bisher war die Anerkennung eines Berufsabschlusses nur möglich, wenn er in der BRD erfolgte. Das soll jetzt über einen einfachen Arbeitsvertrag auch im Ausland möglich sein. Eine niedrige Mindestgehaltsschwelle für Berufsanfänger:innen mit Hochschulabschluss soll die Arbeitsaufnahme erleichtern. Hier ist allerdings Vorsicht geboten, damit dadurch nicht Tarifabschlüsse und Mindestlohnregelungen in einer Art Ausländerklausel unterlaufen werden können. Vor dem 29. März 2023 eingereiste Asylbewerber:innen, die ihren Antrag zurückgezogen haben und eine Qualifikation und ein Arbeitsangebot vorweisen können, müssen jetzt nicht erst wieder ausreisen und sich vom Ausland her um ein Arbeitsvisum bemühen, um eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.

Laut Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) soll Migration besser „gesteuert und sortiert“ werden. Der FDP-Abgeordnete Johannes Vogel drückt es so aus: „Die irreguläre Migration muss runter, die reguläre Migration muss hoch“. „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ könnte zur Ampeldevise werden. Gökay Akbulut, integrations- und migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion, warnt zu Recht vor einer „Zwei-Klassen-Migrationspolitik“ und einer zu starken Ausrichtung des Gesetzentwurfs auf die Interessen derer, die sich ungestraft „die Wirtschaft“ nennen dürfen.

Chancen-Aufenthaltsgesetz

Seit gut einem halben Jahr ist das Gesetz in Kraft. Es sollte die Praxis der Kettenduldungen abschaffen und langjährig Geduldeten eine Bleibeperspektive weisen. Menschen, die zum Stichtag 31. Oktober 2022 5 Jahre lang geduldet in Deutschland leben und nicht straffällig geworden sind, erhalten 18 Monate Zeit, um die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis zu schaffen. Dazu zählen Sprachkenntnisse, Ausweis und Bestreiten des eigenen Lebensunterhalts.

Im ersten halben Jahr seit Gültigkeit haben 49.000 Personen einen entsprechenden Antrag auf Chancen-Aufenthalt gestellt. Davon wurden 17.000 bewilligt, 2.100 abgelehnt. In Bayern gingen bis zum 18. April 9.980 Anträge ein, darunter 2.347 bewilligte und 658 abgelehnte. Häufiger Grund für die Ablehnung ist eine fehlende durchgängige Duldung (Kettenduldung). Die hohe Dunkelziffer in Bayern – mit über zwei Drittel ausbleibenden Bescheiden – führen der bayrische Flüchtlingsrat und der Republikanische Anwaltsverein (RAV) auf Machenschaften der Ausländerbehörden zurück. So erhalten Personen, die bereits einen Pass abgegeben haben, keine Duldung mehr; die, die noch keinen abgegeben haben, erhielten Strafanzeigen wegen Passlosigkeit. Duldungen würden ungültig gestempelt und Ausweisungsverfahren wegen minimaler ausländerrechtlicher Vergehen eingeleitet. Schon früher habe Bayern auf solchen Umwegen massiv Bleiberechtsregelungen unterwandert.

Auch wenn wir anerkennen müssen, dass es sich beim neuen Chancen-Aufenthaltsgesetz um eine bescheidene, aber echte Reform handelt, müssen wir Flüchtlingsrat und RAV Recht geben, die fordern, dass nicht nur Geduldete, sondern „alle vollziehbar Ausreisepflichtigen“ es in Anspruch nehmen können.

Für konsequenten Antirassismus!

Natürlich müssen wir alle Mobilisierungen gegen Migrationsrechtsverschärfungen, seien sie auch noch so zahm geraten, unterstützen. Die Arbeiter:innenklasse muss gemäß ihren ureigensten historischen Interessen auch das Feld der Migrationspolitik zu ihrem gestalten. Sie muss beginnen mit dem Eintreten für konsequente demokratische Reformen, die in der Forderung nach offenen Grenzen und vollen staatsbürgerlichen Rechten, nicht nur Bleiberecht und Duldung, gipfeln.

Darüber hinaus muss sie die legalen Voraussetzungen für ihre Klasseneinheit ergänzen durch soziale Forderungen wie Verteilung der Arbeit auf alle hier Lebenden, Mindestlohn, Anspruch auf volle Sozialhilfe, Reisefreiheit, gegen Arbeitsverbote und Residenzpflicht, für normales Wohnrecht statt Unterbringung in Lagern, Anerkennung der Berufsabschlüsse, kostenlosen Sprachunterricht usw.

Der Kampf gegen den Rassismus und die Abschottung der europäischen und deutschen Außengrenzen ist selbst Teil des Klassenkampfes und unerlässliche, wenn wir die Einheit im Kampf gegen Krieg, Krise und Umweltzerstörung wirklich herstellen wollen. Jedes Zugeständnis an die staatliche und rassistische Selektionspolitik verstärkt die Spaltung der Lohnabhängigen und den Sozial-Chauvinismus und ist Wasser auf den Mühlen der AfD.

Eine konsequente anti-rassistische Politik bildet letztlich eine Voraussetzung dafür, dass die Arbeiter:innenklasse überhaupt als von den bürgerlichen Parteien unabhängiges Subjekt in Erscheinung treten kann.




Nein zur EU-Asylrechtsreform! Offene Grenzen für alle!

Paul Dreher, Infomail 1226, 26. Juni 2023

Am 8. Juni verständigten sich die EU-Innenminister:innen auf eine „Reform“ des Gemeinsamen Europäischen Asylrechts (GEAS). Faktisch stellt sie eine Abschaffung des ohnedies schon massiv eingeschränkten Asylrechts für Hunderttausende Geflüchtete dar. Ohnehin ist der Status einer geflüchteten Person längst äußerst prekär. So sind Geflüchtete der Hetze bürgerlicher Medien sowie rechter Gewalt ausgesetzt und haben in der Regel weder das Recht zu arbeiten noch, ihren Wohnort zu wählen.

Und auch das nur, wenn sie den tödlichsten Fluchtweg der Welt, das Mittelmeer mit seiner Festung Europa, überleben. Keine Woche nach dem Beschluss nahm die rassistische Außenpolitik der EU 500 – 600 weitere Tote in Kauf, als ein überfülltes Fischerboot vor der Küste Griechenlands kenterte. Laut Aussagen von Geflüchteten aufgrund der griechischen Küstenwache, welche im Rahmen eines Pushbacks das Boot aus dem Gleichgewicht brachte.

Der Beschluss der Innenminister:innen stellt einen weiteren massiven rassistischen Angriff dar. Bevor er in Kraft tritt, muss er noch durch die gesetzgebenden Institutionen – EU-Kommission, -Rat und -Parlament. Eine Verteidigung des Asylrechts ist von diesen nicht zu erwarten, zumal die Regierungen der EU-Staaten wie auch alle größeren Fraktionen des EU-Parlaments in den Beschluss der Innenministerkonferenz eingebunden waren.

Aber die Verhandlungen und Beratungen der EU-Organe können und müssen noch genutzt werden, um eine Bewegung zur Verhinderung der „Reform“ und zum Kampf für ein uneingeschränktes Asylrecht auzubauen.

Was haben die Innenminister:innen beschlossen?

Die Reform, welche von der Bundesregierung als „politischer Durchbruch” gesehen wird, bedeutet eine quasi Abschaffung des geltenden Asylrechts. Sie sieht unter anderem die Nutzung von großen Asylzentren an den EU-Außengrenzen mit Einschränkung der Bewegungsfreiheit – praktisch Gefängnisse für Antragssteller:innen auf Asyl – vor. In diesen sollen Geflüchtete, worunter ebenfalls Familien mit Kindern zählen, bis zu drei Monate lang eingesperrt, jedoch möglichst schnell wieder abgeschoben werden.

Insbesondere,  wenn es sich um Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten” handelt oder aus Staaten, aus denen Antragssteller:innen in der Vergangenheit mit einer ziemlich geringen Wahrscheinlichkeit Erfolg auf Asyl hatten (darunter fallen z. B. die Türkei, Indien oder Tunesien). Sollte eine Abschiebung in das Herkunftsland nicht möglich sein (zum Beispiel, weil dort Krieg herrscht), so ist jetzt auch eine in ein „sicheres Drittland” möglich, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise (wie entfernte Verwandtschaft) mit der geflüchteten Person assoziiert wird.

An den Außengrenzen inhaftierte Geflüchtete werden registriert und möglichst gründlich identifiziert. Die entsprechenden Daten, darunter neben biometrischen Fingerabdrücken auch Gesichtsfotos, sollen in einer EU-Datenbank gesichert und von Asyl- und Strafverfolgungsbehörden aller EU-Staaten abgerufen werden können, damit sogenannte „Sekundärmigration”, d. h. die Chance auf Asyl in einem anderen Land der EU (mit möglicherweise menschengerechteren Lebensgrundlagen), verhindert wird. Ein Recht auf Asylberatung oder rechtlichen Beistand wird den Menschen dabei nicht gewährt.

Widerstand in Basis von SPD und Grünen?

Während die SPD-Bundestagsfraktion 2020 noch Horst Seehofer kritisierte und die EU-Asylrechtsreform mitsamt „Massenlager[n] an der EU-Außengrenze” und einem „abgeschwächten Asylverfahren” ablehnte, sieht es heute ganz anders aus, von den Grünen ganz zu schweigen. Wieder einmal beweisen beide Parteien mit ihrer Zustimmung, dass ihnen die imperialistischen Interessen der EU, insbesondere Deutschlands, wichtiger sind als Menschenleben. Zwar sprachen sich 24 Abgeordnete der SPD und der Grünen aus dem Bundestag sowie eine Handvoll aus Landtagen gegen die aktuelle Fassung der Asylreform aus, tragen die Politik aber faktisch mit. Überhaupt fällt die parteiinterne Kritik sehr schwach aus, auch wenn die Berichterstattung mancher bürgerlichen Medien das anders sieht. Von grünen Kritiker:innen der Parteispitze fallen Aussagen wie, dass die Verhandlungssituation „sicherlich schwierig” sei und man sich sicher sei, dass doch trotzdem irgendwie für die richtige Politik gekämpft werde. Erik Marquardt, ein Mitglied der Grünen, welcher dafür bekannt ist, sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen zu wollen, spricht trotzdem von „Vertrauen in die Bundesregierung”, und dass eben alle Menschen Fehler machen. Dass es sich hier jedoch nicht um einen alltäglichen menschlichen Fehler handelt, sondern um die systematische Vertretung der Politik des Kapitals, wird von den parteiinternen Kritiker:innen verkannt.

Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform grundlegend als Angriff auf die Menschenrechte ab. Während SPD, FPD und auch die Grünen die faktische Aushebelung des Asylrechts als „geringeres Übel“ (für wen???) verteidigten, bezeichnen CDU und CSU die Verschärfungen als „guten Schritt“, dem weitere folgen müssten. Damit will sich die AfD erst gar nicht aufhalten. Für sie stellt selbst dieser rassistische Hammer eine „bloße Alibiveranstaltung“ dar, denn noch immer könnten Geflüchtete aus einzelnen Ländern wie Afghanistan und Syrien Asyl erhalten. Auch wenn die AfD-Forderungen im EU-Parlament keine große Rolle spielen werden, so verweisen sie darauf, dass längst nicht das Ende der rassistischen Fahnenstange erreicht ist, selbst wenn die „Reform“ angenommen wird.

Widerstand ist nötig!

Auch wenn von den EU-Institutionen nichts zu erwarten ist, so können und müssen die Beratungen und Verhandlungen der kommenden Monate genutzt werden, um eine Bewegung zur Verhinderung der „Reform“ und zum Kampf für ein uneingeschränktes Asylrecht aufzubauen.

Der Protest gegen den rassistischen Angriff darf nicht weiter auf Petitionen und Kundgebungen von Menschenrechtsorganisationen, von NGOs und antirassistischen Initiativen beschränkt sein wie beim bundesweiten Protesttag am 15. Juni.

Wir brauchen eine Massenbewegungen, von antirassistischen,  Migrant:innenorganisationen, Gewerkschaften, der Linkspartei. Die Abgeordneten, die sich im Parlament gegen die rassistischen Maßnahmen ausgesprochen haben, müssen eine solche Mobilisierung unterstützen – und zwar nicht nur EU-weit!

Was braucht es stattdessen?

Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer und einer insgesamt menschenverachtenden EU-Außenpolitik braucht es eine menschenwürdige Alternative in der Hand von Arbeiter:innen, Geflüchteten und anderen unterdrückten Menschengruppen und deshalb fordern wir:

• Volles Asylrecht für alle Geflüchtete! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Statt des Europas der Imperialist:innen ein Europa des Widerstands, der Unterdrückten und Ausgebeuteten! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




EU-Migrationsregime: Vorsicht Falle!

Jürgen Roth, Neue Internationale 274, Juni 2023

Wie zynisch kann Geschichte doch sein! Fast auf den Tag genau 30 Jahre sind vergangen seit der Asylrechtsänderung durch den Deutschen Bundestag (26. Mai 1993). Drei Tage später verübten 4 Neonazis einen verheerenden Brandanschlag auf das Haus einer türkischstämmigen Familie in Solingen, bei dem 5 Menschen ums Leben kamen und 14 zum Teil schwer verletzt wurden. So viel zur Wirksamkeit der Asylrechtsänderung, die mit entsprechendem Mediengetrommel als Eindämmung des rechten Straßenmobs verkauft wurde, um ihm die Basis zu entziehen, die angeblich in „Überfremdung“ bestehe. Überfremdung wurde zum Unwort des Jahres 1993 gewählt.

Blutspur

Schon vorher hatte der rassistische Pöbel in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln gewütet – ebenfalls mit Toten und Verletzten. Doch weit entfernt davon, seine Untaten in die Schranken zu weisen, wirkte die legale Verschärfung des Asylrechts – gegen Geflüchtete, nicht den rechten Mob! Erinnert sei nur an die Attentate des NSU und den Amoklauf in Hanau, die sich wie eine Blutspur durch die jüngere Geschichte der BRD ziehen, begleitet von anschwellenden Massenbewegungen wie Pegida. In diesem Szenario muss man die demokratischen Abgeordneten, die für das neue Asylrecht gestimmt haben, als Kompliz:innen, nicht Gegner:innen der offen physischen Gewalt gegen Migrant:innen bezeichnen.

Am 26. Mai 1993 beschloss der Bonner Bundestag mit Zweidrittelmehrheit eine Grundgesetzänderung. Ohne die Zustimmung durch die meisten SPD-Parlamentarier:innen wäre sie nicht zustande gekommen. Dieser „Asylkompromiss“ Artikel 16 a des Grundgesetzes sah vor, dass der alte Artikel „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ erheblich eingeschränkt wurde. 16 a führte den „sicheren Drittstaat“ ein. Demnach erhält ein/e Schutzsuchende/r kein Recht auf Asyl in Deutschland, wenn sie/er über ein EU-Mitglied oder einen anderen Staat eingereist ist, in dem die Möglichkeit existiert, einen Asylantrag einzureichen. Deutschland ist von solchen vollständig umringt. Heute werden weniger als 1 % aller Asylanträge positiv beschieden. Weitere verschärfte Klauseln wurden im Grundsatz im Mai 1993 angelegt: das Asylbewerberleistungsgesetz, das die soziale Versorgung auf ein Niveau deutlich unterhalb der regulären Sozialhilfe senkt; das sogenannte Flughafenverfahren, mittels dessen auf dem Luftweg eingereiste Schutzsuchende seither 3 Wochen im Transitbereich eines Airports festgehalten werden können, das als „exterritoriales Gebiet“ eingestuft wurde.

Als die Grünen damals für den Tag der Abstimmung die Aufhebung der Bannmeile um den Bundestag forderten wurde dies mit den Worten abgelehnt, man beuge sich nicht dem Druck der Straße. Man beugte sich genauer nicht diesem, fortschrittlichen Druck, sehr wohl aber dem reaktionären: 521 Abgeordnete stimmten für die gravierenden Verschlechterungen. Kanzler Kohl weigerte sich, an den Trauerfeiern in Mölln und Solingen teilzunehmen. Sein Terminkalender gestatte keinen „Beileidstourismus“ – ganz in diesem selektiven Sinn.

EU der Menschenrechte?

Erhalten nicht trotzdem 35 % der Asylsuchenden in der BRD einen Schutzstatus? Dies gilt aber nur, weil Genfer Flüchtlingskonvention und Europäische Menschenrechtskonvention gewisse Abschiebungen verbieten. Doch jetzt droht hier schlimmeres Ungemach als vor 30 Jahren in Deutschland, wo ja Schutzsuchende auf andere EU-Staaten verwiesen wurden. Am 8. Juni 2023 wollen die Innenminister:innen eine Vorentscheidung fällen.

Im Klartext: Schutzsuchende werden im geplanten neuen Grenzverfahren behandelt, als seien sie niemals eingereist. Das deutsche Flughafenverfahren steht hier deutlich Pate. Sie werden an den Außengrenzen in Lagern festgesetzt und überwacht. Gleichzeitig will man die Anforderungen an „sichere Drittstaaten“ senken. Folglich sollen sie in solche Staaten verfrachtet werden können, in denen sie niemals waren und in die sie auch nicht gelangen wollten. Erforderlich ist nur, dass Teilgebiete als sicher gelten. Die Genfer Flüchtlingskonvention muss also nicht verbrieftes Recht darstellen, um im Eilverfahren abgeschoben werden zu können. Eine individuelle Prüfung der Fluchtgründe ist ebenso wenig vorgeschrieben, obwohl im Koalitionsvertrag der Ampel steht: „Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“

Scholz und Faeser opfern also elementare Bestandteile des EU-Asylrechts, um einerseits mit rechtspopulistischen Regierungen einen Deal zu schließen, der das Auseinanderfallen dieses Blocks verhindern soll. In geringerem Maß spielen auch die bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern eine Rolle bei dieser „Kehrtwende“. Entschuldigen können sie sie nicht. Ukrainekrieg, Verfolgungsdruck in Afghanistan, Syrien und der Türkei stehen fürs genaue Gegenteil.

Diskursschwenk

Wie vor 30 Jahren bereiten die Damen und Herren im Parlament zum rechten Diskurs. Innenministerin Nancy Faeser sprach direkt nach den Vorfällen der Berliner Silvesternacht von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“, Jens Spahn (CDU) strickte flugs eine Verbindung mit „ungeregelter Migration“ her, in der Bundesregierung ist „irreguläre“ Einwanderung zum geflügelten Wort mutiert, Robert Habeck hat nichts mehr gegen Haftlager einzuwenden und eine FDP-Bundestagsabgeordnete nahm wieder das Unwort des Jahres 1993 in den Mund. Die Täter:innen in Nadelstreifen handeln wieder nach dem Motto: „Wir schlagen Schaum, wir seifen ein, wir waschen unsere Hände wieder rein!“

Abschiebepraxis: Malta, Libyen …

Weitgehend unbeachtet hatte die EU-Kommission bereits im Dezember 2021 Änderungen des Schengener Grenzregimes angestoßen, die der EU-Rat dann im Juni übernahm. Das Straßburger Parlament hatte sie nur geringfügig abgeschwächt. Die Vorgänge an der polnischen Grenze zu Belarus (Weißrussland) vom Winter 2021 wurden zum Anlass genommen, Kontrollen an den Binnengrenzen erst nach zweieinhalb Jahren gegenüber der Kommission rechtfertigen zu müssen. An den Außengrenzen wird alles ignoriert, was passiert. Griechenland darf ungestraft Migrant:innen zurückdrängen. Frontex leistet aktive Beihilfe. So jüngst bei der Rückführung eines ehemaligen Fischerboots mit 500 Geflüchteten aus Maltas Seezone durch eine libysche Miliz nach Bengasi: Frontex, maltesische Behörden und ein Schiff der Bundesmarine, welches regelmäßig im Mittelmeer patrouilliert – warum wohl? –, schritten nicht ein, geschweige denn leisteten sie Seenotrettungshilfe.

… Niger

Der Niger gilt seit 2015 als weiterer Grenzwächter Europas. Im Juli 2022 erneuerte die EU ihre „Antischmuggelpartnerschaft“, lagert ihre Grenzen nicht nur an der Mittelmeerküste, sondern bis in die Mitte Nigers aus. 2010 hat die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) hier angefangen, von den EU-Staaten bezahlte „Transitzentren“ zu bauen. Von hier sollen aus Algerien oder Libyen Abgeschobene in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. 2015 erließ Niger das Gesetz 036, das Migration und ihre Unterstützung (Transport, Unterbringung) illegalisiert und mit Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren und Geldbußen bis zu 3.000 Euro ahndet. In der Folge wichen Flüchtende auf gefährlichere und teurere Fluchtrouten durch die Sahara aus. Bleibt ein Auto liegen, gibt es kaum Hilfe, zumal allein die Benutzung eines Satellitentelefons als Straftat gilt. Seit 2014 registrierte die UNO 2.000 Todesfälle in der Wüste – Tendenz steigend. Expert:innen rechnen mit weit höheren Zahlen.

… Polen

Polen gilt als Opfer der Destabilisierungsversuche der EU durch den belarusischen Diktator Lukaschenko. Kein Wunder also, dass jetzt auch seine Binnengrenzen verstärkt überwacht werden. Die Bundesinnenministerin traf sich diesbezüglich jüngst mit dem polnischen Vizeressortchef Grodecki. Deutsche und polnische Behörden werden demnach ihre Kontrollen entlang der gemeinsamen Grenze ausweiten. Brandenburgs Innenminister Stübgen (CDU) hatte seine Bundeskollegin aufgefordert, dem schon lang praktizierten Beispiel Bayerns und Österreichs folgend, auch stationäre Grenzkontrollen zu errichten. Dies wurde zwar einstweilen zurückgewiesen, doch wird die Bundespolizei (früher: Bundesgrenzschutz) Einsätze in der polnischen Grenzregion weiter intensivieren.

… Österreichs

Zuvor hatte Faeser bereits mit dem österreichischen Innenminister Gerhard Karner über die Beibehaltung Beibehaltung der gemeinsamen Grenzkontrollen gesprochen, die eigentlich schon lange gegen das Schengener Abkommen verstoßen. Beide waren sich gerade in Hinblick auf den derzeit verhandelten „Asyl- und Migrationspakt“ (GEAS) einig, dass Binnengrenzkontrollen innerhalb des Schengengebiets erst aufgehoben gehören, wenn der Außengrenzschutz funktioniert. Dass das ähnlich wie im Mittelmeer und Nordafrika nur mit illegalen Rückführungen (Pushbacks) vor sich gehen muss, ist eine Binsenweisheit.

Pushback für GEAS!

Der Aufschrei unter einschlägigen humanitären und Seenotrettungs-NGOs wie Pro Asyl, Sea-Watch etc. ist zwar riesig, doch im Gegensatz zu 2015 bleiben die Straßen, so am 26. Mai 2023 in Berlin, beschämend leer. Die Politik dieser Organisationen besteht zum großen Teil aus Petitionen, also einer Form von Betteln an „unsere“ Politiker:innen, darunter ausgerechnet Hauptkriegstreiberin Baerbock. Natürlich sollten wir alle Mobilisierungen, seien sie auch noch so zahm geraten, unterstützen. Die Arbeiter:innenklasse muss gemäß ihren ureigensten historischen Interessen jedoch auch das Feld der Einwanderungspolitik zu ihrem gestalten. Sie muss beginnen mit dem Eintreten für konsequente demokratische Reformen, die in der Forderung nach offenen Grenzen und vollen staatsbürgerlichen Rechten, nicht nur Bleiberecht und Duldung, gipfeln. Darüber hinaus muss sie die legalen Voraussetzungen für ihre Klasseneinheit ergänzen durch soziale Forderungen wie Verteilung der Arbeit auf alle hier Lebenden, Mindestlohn, Anspruch auf volle Sozialhilfe, Reisefreiheit, gegen Arbeitsverbote und Residenzpflicht, für normales Wohnrecht statt Unterbringung in Lagern, Anerkennung der Berufsabschlüsse, kostenlosen Sprachunterricht usw. Doch um ihren Anspruch, die führende Klasse in der zukünftigen Weltgesellschaft zu werden zu untermauern, bedarf es des Aufbaus einer revolutionären kommunistischen Arbeiter:innenpartei und -internationale, die sich für die Abschaffung des kapitalistischen Systems in die Bresche wirft, das in seiner imperialistischen Epoche durch das Wirken des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt auch die Ungleichheiten zwischen den Nationen und Ungleichmäßigkeit ihrer Entwicklung zugunsten der Großmächte und auf Kosten einer immer mehr zunehmenden Masse der Weltbevölkerung verstärkt…




Solidarität? Verantwortung? Abschiebung! – Der Plan der EU-Kommission für ein neues Asylsystem

Jürgen Roth, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Ende 2019 waren 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht, so die Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Damit ist ein Rekordhoch erreicht. Allein im letzten Jahr stiegen die Zahlen um 9 Millionen. Mit der Corona-Pandemie dürfte sich die Lage weiter zuspitzen. 45,7 Millionen suchen in ihrem eigenen Land Zuflucht und gelten als Binnenvertriebene. Dazu kommen 26 Millionen in andere Staaten Geflohene und 4,2 Millionen Asylsuchende. Das UNHCR zählte erstmals 3,6 Millionen VenezolanerInnen mit, die ins Ausland geflohen waren, aber keinen Flüchtlingsstatus besitzen.

Die Türkei nahm mit 3,6 Millionen Geflüchteten und 300.000 Asylsuchenden die meisten Menschen auf, gefolgt von Kolumbien, Pakistan, Uganda und Deutschland. Pakistan und Uganda haben im letzten Jahr jeweils 1,4 Millionen aufgenommen. Insgesamt kamen 85 % in sogenannten Entwicklungsländern unter, weniger als 10 % in Europa. In ihre Heimat kehren immer weniger Menschen zurück aufgrund anhaltender Konflikte. In den 1990er Jahren waren es 1,5 Millionen pro Jahr im Durchschnitt, im letzten Jahr waren es 385.000.

Der Kommissionsplan

In der EU leben 513 Millionen BürgerInnen und nur gut 2 Millionen Flüchtende. Letzteres ist also ein Klacks im Vergleich zu o. a. Zahlen. Die EU-Kommission hat Ende September ihren Plan zur Reform des europäischen Asylsystems vorgelegt. Er sieht Asylverfahren an den Außengrenzen, schnellere Abschiebungen und die Ernennung eines/r RückführungskoordinatorIn vor. Bei „hohen Flüchtlingszahlen“ sollen alle Mitgliedsländer zu „Solidarität“ mit den Ankunftsländern verpflichtet werden – sei es über Flüchtlingsaufnahme oder Hilfe bei Abschiebungen. Im Fall dieser „Krise“ werden MigrantInnen auf einzelne Länder verteilt, auch ohne Aussicht auf einen Schutzstatus. Abschiebungen werden als Gewährung der Hilfeleistung akzeptiert und müssen binnen 8 Monaten erfolgen. Andernfalls muss das Land die Flüchtlinge aufnehmen. Gleichzeitig plant die von der Leyen-Behörde mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten. 2016 war der Versuch gescheitert, die damals noch 28 EU-Staaten für eine Reform des Asylrechts zu gewinnen.

Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt moniert, der Pakt laufe auf die Abschaffung eines fairen Asylverfahrens hinaus durch eine Vorprüfung an den Außengrenzen, wer überhaupt zum Verfahren zugelassen wird. Cornelia Ernst, Abgeordnete der Linken im EU-Parlament, sieht in ihm rote Linien wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und die EU-Grundrechtecharta überschritten. Besonders kritisierte sie die Möglichkeit, dass sich Länder von der Aufnahme von Flüchtlingen freikaufen dürfen.

Am Dublin-System, dem zufolge jener Staat für das Asylverfahren zuständig ist, dessen Boden der/die Schutzsuchende zuerst betritt, rüttelt der Plan nicht. Dieses hat Ländern den Vorwand geliefert, jede Verantwortung auf den „äußeren Ring“ (Griechenland, Italien, Malta) abzuwälzen. Die Kommission will den Außengrenzenschutz durch Frontex verstärken, aber auch durch neue Verträge mit Anrainerstaaten nach dem Muster des Deals mit der Türkei sowie Nutzung des EU-Visumsystems. Die schwedische Kommissarin für Inneres, Ilva Johansson, kündigte einen fünftägigen, verpflichtenden „Screening“-Prozess für MigrantInnen nach ihrer Ankunft an – mit polizeilicher Registrierung und einer ersten Entscheidung über die Aussichten eines Asylanspruchs. Dies entspricht der seit Jahren verfolgten Linie Bundesinnenminister Horst Seehofers!

Widerspruch aus der rechten Ecke erfolgte aus Ungarn und Tschechien. Ihnen missfällt, dass sie in Ausnahmefällen verpflichtet werden sollen, Schutzsuchende aufzunehmen. Sie wollen Verhandlungen mit nordafrikanischen Ländern über die Einrichtungen von Hotspots wie Moria auf Lesbos, wo die Geflüchteten dann zusammengepfercht und registriert werden sollen. Die Idee ist nicht neu, nur gibt es bislang keine entsprechenden Abkommen.

Unser Fazit: Der neue Vorschlag ist nichts weiter als ein Herumdoktern an einem inhumanen System und eine Fortschreibung der Abschottung, des Ausbaus der „Festung Europa“. Am katastrophalen Lagersystem z. B. an den griechischen Außengrenzen, wo Mindeststandards bei der Unterbringung und beim Schutz der dortigen Menschen missachtet werden, will die Kommission nichts ändern. Im Gegenteil: sie sollen am besten erst gar nicht bis an die Grenzen der EU gelangen dürfen und gleich in Libyen, der Türkei, Marokko, Niger, Mali oder sonst wo bleiben.

5 Jahre Veränderungen

Aber nicht nur mit der Türkei, sondern auch mit der sogenannten libyschen Küstenwache hat die EU Mittel und Wege gefunden, um Asylsuchende vor Europas Grenzen zu stoppen. Letztere wurde von EuropäerInnen ausgebildet und mit technischen Mitteln unterstützt. Amnesty International kann ein Lied von deren Menschenrechtsverletzungen singen an Bootsflüchtlingen, die von der „Küstenwache“ aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht wurden. Staatliche wie nichtstaatliche TäterInnen pferchen sie in menschenunwürdigen Lagern ein, töten sie, lassen sie verschwinden oder zwingen sie zu SklavInnenarbeit.

Vor 5 Jahren rief Merkel im Obama-Stil angesichts der Flüchtlingswelle aus: „Wir schaffen das!“ Doch was hat sich seither getan? In welche Richtung ist der Zug der Migrationspolitik gefahren? Die ursprüngliche Seenotrettung der EU im Mittelmeer ist eingestellt (Mare Nostrum, Sophia). Die zivile Seenotrettung wird behindert und kriminalisiert (Italien, Malta). Das Bundesverkehrsministerium fordert von Rettungsorganisationen aufwendige und unbezahlbare Anpassungen. Eine neue Bundesverordnung für Seesportboote und Schiffssicherheit, ermächtigt durch das Seeaufgabengesetz, untersagt z. B. der NGO Mare Liberum mit ihrem gleichnamigen Boot die Seenotrettung. Die griechische Küstenwache schiebt Geflüchtete illegal in die Türkei zurück oder setzt sie auf aufblasbaren Plattformen im offenen Meer aus. Ein Schutzstatus für verfolgte Lesben und Schwule bleibt in der BRD weiterhin Ermessenssache. Griechenland nahm im März einen Monat lang keine Asylanträge mehr an und involvierte erstmals das Militär umfassend in die Flüchtlingsabwehr.

Die Innenministerkonferenz im Juni 2019 verschärfte die Rückführungsbestimmungen nach Afghanistan. In Bezug auf Syrien wurde zwar der Abschiebestopp bis zum 31. Dezember 2019 verlängert, doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll danach nicht mehr subsidiären Schutz gewähren, sondern den schwächeren Abschiebeschutz. Die im gleichen Monat von der Großen Koalition beschlossenen 8 Gesetzesänderungen, darunter das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das „Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ („Geordnete-Rückkehr-Gesetz“), verschärften u. a. die Bestimmungen zur Abschiebehaft. Fluchtgefahr ist keine Vorbedingung mehr. Die Polizei hat jetzt bundesweit das Recht, Unterkünfte Geflüchteter ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Bei „Gefahr im Verzuge“ kann auch die Ausländerbehörde das Eindringen der Polizei genehmigen.

Am 23. Juli 2020 tagten in Wien VertreterInnen von 20 beteiligten Staaten zwecks Errichtung eines Frühwarnsystems auf der sogenannten Balkanroute. Grenzschutz, Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht und beschleunigte Asylverfahren wurden als Ziele genannt. Werden diese an den Außengrenzen nicht aufgehalten, soll sich zukünftig eine Wiener Behörde um das Schicksal derer in diesem Sinne kümmern, die es in die Binnenländer der EU geschafft haben. Dieses Amt bildet offensichtlich die Blaupause für den/die RückführungskoordinatorIn im Plan von der Leyens. Kroatien spielt den gewünschten Part beim Schutz u. a. Deutschlands vor ungewollter Migration an der bosnischen Grenze: zu Tausenden wurden dort Aufgegriffene stundenlang eingesperrt, geschlagen und um ihre Habseligkeiten gebracht, bevor sie zurückgeschickt werden. Diese Push-Backs sind nach internationalem Recht gar nicht erlaubt.

Dissonanzen

Während der jüngsten Brandkatastrophe im Lager Moria entzündete sich in der EU eine Debatte, ob und wenn ja, wie viele Refugees in den einzelnen Ländern aufgenommen werden sollten. Die BRD und Frankreich hatten schon vorher Versuche unternommen, eine „Koalition der Willigen“ zustande zu bringen. Bei einem EU-Ministertreffen in Helsinki Mitte Juli 2020 hatten sie 14 Staaten um ihren Vorschlag herum gruppiert – davon 8 zu „aktiver Mitarbeit“ bereite –, eine gemeinsame Verteilung für in Seenot Gerettete durchzusetzen. Italien wehrte sich gegen das Ansinnen, dass Boote mit geretteten MigrantInnen in seinen oder maltesischen Häfen anlegen können sollten, die dann zur Umverteilung in andere Länder anstünden. Italien bemängelte, dass ihr Ausstieg z. B. in französischen Häfen nicht vorgesehen war.

Schon im März hatte der „willige Koalitionspartner“ Deutschland versprochen, 1.500 Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln aufzunehmen. Es handelte sich dabei um Kinder von Angehörigen, die sich schon in der BRD aufhielten. Das vom Bundestag beschlossene Kontingent zur Familienzusammenführung von 1.000 Menschen pro Monat war noch gar nicht ausgeschöpft worden. Nach der Brandkatastrophe wiesen NGOs wie Seebrücke, Sea-Watch u. a. darauf hin, dass etliche deutsche Städte und Bundesländer sich längst zur Aufnahme Geflüchteter bereiterklärt hatten. Doch Seehofer blockierte, stand anfänglich nur 150 Aufzunehmende zu, bis es dann nicht zuletzt auf Druck durch zahlreiche Demonstrationen doch 1.500 werden sollten. Die griechische Regierung teilte dazu mit, dass eine Chance auf Ausreise nur jene erhielten, deren Asylverfahren positiv beschieden wurde – so auch die 408 Flüchtlingsfamilien, die nun von der BRD aufgenommen werden sollen.

Der Bundesinnenminister hatte noch im September die Landesaufnahmeprogramme von Berlin und Thüringen gestoppt, weil sie die Verteilungsverhandlungen in der EU gefährdeten. Wer wie die Grünen, die Linkspartei und einige SPD-PolitikerInnen fordere, auf die Bereitschaft vieler Kommunen zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu setzen, müsse auch nach Italien, Malta, Spanien und auf den Balkan schauen, wo es viele Asylsuchende gebe.

Abseits von humanitärem Geschwafel verfolgt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft (ab 1. Juli 2020) die bekannte Linie. Am 7. Juli beriet das Innen- und Justizministertreffen über Verzahnung und Datenaustausch zwischen nationalen Polizeibehörden und die Stärkung von Europol. Die „VerweigerInnen“, die sich einem im letzten September auf Malta ausgehandelten Verteilungsmechanismus für aus Seenot gerettete Flüchtende entziehen, wurden sanft ermahnt. Das Anfang 2020 in Kraft getretene griechische Asylrecht, das auf Abschreckung und Abschiebung setzt, den Zugang zum Asylverfahren erschwert und Antrags- wie Entscheidungsfristen verkürzt, wurde nicht kritisiert.

Trotz aller Dissonanzen halten „Willige“ wie „VerweigerInnen“ am gemeinsamen Ziel fest, das europäische Asylsystem tiefgreifend zu verschärfen. Das humanitäre Gehabe einiger „Williger“ dient nur dessen Flexibilität und Stabilisierung. Die Blockade der HardlinerInnen ist ein willkommener Vorwand, die menschenfreundliche Fassade der „Gutmenschen“ aufzupolieren und gleichzeitig die Zugeständnisse minimal zu halten.

Forderungen

  • Weg mit dem Dublin-System!
  • Weg mit Frontex!
  • Ungehinderte staatliche und zivile Seenotrettung!
  • Freie Einreise für Geflüchtete in jedes Land ihrer Wahl!
  • Für offene Grenzen! Für volle demokratische und staatsbürgerliche Rechte aller, die im Land leben wollen!
  • Verknüpft den Kampf gegen die Festung Europa mit dem gegen die Krise!
  • Schafft eine antirassistische ArbeiterInneneinheitsfront und antirassistische Selbstverteidigung gegen rechte Angriffe!