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Droht eine neue Bankenkrise?

Markus Lehner, Neue Internationale 272, April 2023

Am 8. März verkündete die Silicon Valley Bank (SVB), dass sie 2 Milliarden US-Dollar über eine Kapitalerhöhung einholen wolle, um Verluste in ihren Vermögenswerten auszugleichen. Nachdem dadurch bekannt wurde, dass die Bank mehr als die Hälfte ihres Vermögens in langfristige Staatsanleihen angelegt hatte, die massiv an Wert verloren haben, brach unter den Kontoinhaber:innen Panik aus. Die 16.-größte US-Bank, die vor allem für viele Kund:innen aus dem Technologiebereich eine wichtige Dienstleisterin war, verzeichnete massiv Einlagen oberhalb der staatlichen Garantie von 250.000 US-Dollar. Jede/r davon wollte so schnell wie möglich ihre/seine Werte sichern. Innerhalb von nur 40 Stunden verschwanden so 42 Milliarden US-Dollar aus den Büchern der Bank – eine Hightechvariante des „Bankenruns“ über Twitter und Onlinetransfers, der innerhalb von wenigen Stunden ein Viertel der Bilanzsumme der Bank in Luft auflöste. Schon am 10. März erklärte die US-Finanzaufsicht die Bank für zahlungsunfähig.

Ausbreitung der Bankenkrise

Anfänglich wirkte dies wie ein lokales Ereignis, das sich auf Managementfehler einer einzelnen Bank zurückführen ließe. Doch schnell wurde klar, dass auch andere Banken in den USA zu schwanken begannen. Insbesondere solche mit Transfergeschäften in Kryptowährungen gerieten ebenso in Schieflage wie einige mittelgroße, die ähnliche Probleme mit ihren Vermögenswerten hatten wie die SVB, z. B. die First Republic. Dies schlug sich schnell in weiterem Kapitalabfluss und sinkenden Börsenkursen für Bankaktien nieder. Innerhalb nur einer Woche nach der SVB-Pleite verloren die US-Banken 229 Milliarden US-Dollar an Marktwert (– 17 %). Immer noch verkündeten die politischen Führungen in den USA und der EU, dass es sich um nichts mit 2008 Vergleichbares handle, dass die Regularien, die nach 2008 eingeführt wurden, wirken würden und sich alles schnell wieder entspannen werde.

Dann kamen schlechte Nachrichten aus dem Paradeplatz in Zürich, dem Sitz einer der beiden Großbanken der Schweiz, der Credit Suisse (CS). Angesichts ihrer nicht gerade rosigen Ertragslage (4 Verlustquartale in Folge) suchte auch sie angesichts der Erschütterungen des Bankensektors, sich durch eine Kapitalerhöhung abzusichern. Am 15. März wurde jedoch bekannt, dass einer der Hauptinvestoren in die Bank aus Saudi-Arabien nicht bereit war, ihr beizustehen. Prompt wurde Kapital in großen Mengen von der Bank abgezogen. Auch die Aussagen der Regulator:innen, der Bank beizustehen, bzw. die Bereitstellung eines 54 Milliarden US-Dollar-Kredits durch die Zentralbank führten nicht zu einer Beruhigung der Lage. Eine drohende Pleite der CS hätte nicht mehr wie bei der SVB durch die Finanzbehörden eingedämmt werden können.

Die CS gehört zu den 30 globalen Großbanken, die als „too big to fail“ eingestuft werden – die also mit so vielen Firmen und anderen Großbanken durch wechselseitige Verbindlichkeiten verbunden ist, dass es zu einem Systemcrash wie 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers gekommen wäre. Innerhalb von nur 4 Tagen wurde daher durch Bundesregierung und Schweizerische Nationalbank eine Notübernahme durch die andere Schweizer Großbank, die UBS, vermittelt. Eine Fusion, die sonst Jahre an Vorbereitung erfordert, wurde in wenigen Tagen so durchgeführt, dass für einen Zusammenbruch der CS keine Zeit mehr da war und die Anleger:innen erstmal beruhigt werden konnten. Die Verschiebung des Problems auf die UBS, die jetzt wider Willen mit den gigantischen Risiken der CS zurechtkommen muss, zeigt, welche Nervosität an den Schaltzentralen des großen Kapitals vor einer erneuten Erschütterung der Weltwirtschaft wie 2008 herrschte – und das angesichts der schon sowieso angespannten Weltlage nach der Pandemiekrise, dem Ukrainekrieg, den wachsenden Spannungen mit China, der fortdauernden Inflation und den Folgen der Klimakrise bzw. der damit verbundenen Energiekrise.

Von den Regierungen und Zentralbanken wird immer wieder betont, wie anders die Situation sei als 2008. Damals war die Krise durch den Totalverlust von in Wertpapiere verbrieften privaten Schulden und die mangelnde Eigenkapitalabsicherung insbesondere bei Investmentbanken zustande gekommen. Seitdem habe man Regulierungen eingeführt (Basel III), die solche Produkte und solch riskantes Kapital/Risiko-Verhältnis im Bankengeschäft unterbinden würden. Die jetzige Krise sei durch einzelne Verfehlungen, Rückschritte bei den Regulierungen etwa unter Trump bzw. durch ein zu spätes Reagieren auf die Zinswende der Zentralbanken zustande gekommen. Alles Faktoren, die durch entsprechende Maßnahmen der Finanzbehörden und der Zentralbanken rasch in den Griff zu bekommen seien.

Gründe für die gegenwärtige Krise

Bekanntlich hatte Marx in seiner Analyse der Finanzkrisen 1847 und 1857 festgestellt, dass jede solcher Krisen immer ihre ganz eigene Geschichte und Erscheinungsform hat, die immer ganz anders auszufallen scheint – um letztlich doch auf dieselben Probleme in der realen Akkumulation des Kapitals zurückzuführen zu sein. Gehen wir also zunächst auf die Gründe für die gegenwärtige Krise in ihrer unmittelbaren Form ein, um dann auf die Zusammenhänge mit der allgemeinen Krisentendenz zu kommen.

Nach der Finanzkrise 2008 betrieben die Zentralbanken eine Politik des „billigen Geldes“ (QE, Quantitative Easing) – sowohl durch niedrige Zinsen, Aufkäufe von Anleihen und anderen Wertpapieren als auch durch Expansion von niedrig verzinsten Staatsanleihen. Banken konnten dadurch ihr stockendes Kreditgeschäft weder in Gang bringen und somit das Wachstum der westlichen Wirtschaften, wenn auch auf historisch sehr niedrigem Niveau, über das 2010er Jahrzehnt aufrechterhalten. Im Allgemeinen stand damit den Einlagen und dem Kapital einer Bank gegenüber ein Mix aus „superstabilen“ Staatsanleihen, Immobilienkrediten (abgesichert durch wieder steigende Immobilienpreise) und den Krediten in anderen Bereichen. Die zum Teil riskanten Kredite (z. B. in die „Zombiefirmen“) schienen mehr als abgesichert durch den höheren Anteil an „sicheren Vermögenswerten“.

Mit der Coronakrise, der Lieferketten- und Kapazitätsausfälle, der nochmals gestiegenen Schuldenprobleme und der  wieder enorm zunehmenden Inflation kam es seit 2022 zur Abkehr von QE und einer Politik des „Quantitative Tightening“ (QT). Die Anleihekäufe wurden gestoppt, die Zinsen für Zentralbankkredite schrittweise erhöht und die Ausgabe von Staatsanleihen wieder mit Zinserträgen verbunden. In der Folge steigen Kreditkosten wieder, Immobilienpreise beginnen zu sinken und Anleihekurse, insbesondere für langfristige Staatsanleihen fallen (der „Wert“ eines Anleihepapiers berechnet sich aus der Abzinsung des Rückzahlungsbetrags zum jeweils gegenwärtigen Zinssatz). Alle diese Faktoren bedeuten, dass Vermögenswerte der Banken eigentlich neu berechnet werden müssten – bei den Anleihewerten ganz offensichtlich (teilweise auf 20 % gefallen), ebenso aufgrund der höheren Ausfallwahrscheinlichkeit von Firmenkrediten angesichts erhöhter Insolvenzgefahren und von Immobilienkrediten aufgrund der sinkenden Erträge aus dem Immobiliengeschäft.

Tatsächlich verhielt sich die Mehrheit der Banken aber so, als ob sie weiterhin in einem Umfeld wachsender Liquidität arbeiten würden und setzten ihre Anlagepolitik fast unverändert fort – mit ein Grund, warum die Wende zu QT wenig Wirkung auf das Inflationsgeschehen hatte. Um die Dimension des Problems aufzuzeigen, hier die konkreten Zahlen zur Bilanz des US-Bankensektors:

Den Einlagen der US-Bankkund:innen von 19 Billionen US-Dollar und dem Eigenkapital von 2 Billionen stehen als Vermögenswerte (nach nomineller Berechnung) 3,4 Billionen in Cash, 6 Billionen in Staatsanleihen und Immobilienkrediten sowie 11 Billionen in anderen Krediten gegenüber (noch ergänzt um etwa 3 Billionen in anderen Vermögenswerten bzw. Verbindlichkeiten auf beiden Seiten). Allein der Wertverlust der Anleihepapiere bedeutet, dass der Wert derselben bei Verkauf um 620 Milliarden niedriger ist als ihr nomineller – was bei einem Bankenrun, der die Cashreserven übersteigt, durch Notverkäufe von Anleihepapieren sofort wirksam wird. Eine Studie von Finanzwissenschaftler:innen der University of Southern California (die The Economist vom 18.3. zitiert) kommt zu dem Schluss, dass die Bewertung der Vermögenswerte der US-Banken tatsächlich um 2 Billionen nach unten berichtigt werden muss. D. h., im Fall eines Bankenruns würde die Eigenkapitaldecke der US-Banken nach Auflösung der Vermögenswerte praktisch ausgelöscht werden. Im Unterschied zum Tenor der allgemeinen Beruhigung stellt The Economist daher zu Recht fest: „time to fix the system – again“. Der SVB-Crash hat daher offensichtlich gemacht, dass das Geschäftsmodell der Banken aus der QE-Zeit heute zu einer Berichtigung ihrer Vermögenswerte führen muss, die unmittelbar eine Überprüfung der bestehenden Schulden wie auch der Risiken zukünftiger Kreditvergaben verlangt. Mit Verspätung setzt also auch bei den Banken die „Verknappung des Geldes“ ein. Tatsächlich erinnert die Krise 2023 daher eher an diejenige, die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nach der radikalen Zinswende der Reaganregierung („Volckerschock“) stattfand.

Falsche Fixierung und ihre Ursachen

Es wäre auch eine falsche Fixierung, die Schwere der Krise an den Ereignissen von 2008 festzumachen. Die Grundlage der wiederholten Bankenkrisen im Kapitalismus findet sich in der von Marx analysierten Verdoppelung der Ware in Ware und Geld und damit der Notwendigkeit, dass sich ihre Einheit immer wieder in der Metamorphose des Geld-Ware-Kreislaufes herstellen muss. Damit einher geht die Loslösung des realen Werts, der in tatsächlichen Arbeitsprozessen begründet ist, von der Wertform, den verschiedenen Preisausdrücken von allem Möglichen, das die Form einer Ware annehmen kann.

Die Verselbstständigung der Wertform, die im zinstragenden Kapital, im „Kapital als Kapital“ seinen Höhepunkt erreicht, ist jedoch immer rückgekoppelt an die Realisierung des realen Werts im Ware-Geldkreislauf. Während sich die Tendenz zur Ausgleichung der Profitrate nur als langfristiger Durchschnitt, aber kaum je aktuell konkret realisiert, erscheinen Zinsen, Kurse, Preise auf Terminbörsen, etc. als täglich/stündlich sich darstellende „konkrete“ Werte, um die sich das Wirtschaftsgeschehen zu drehen scheint – in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse!

Nachdem sich die Übereinstimmung von Wert und Wertform nur zufällig, im Durchschnitt und über mehr oder weniger lange Zeiträume ergibt, wird das Gleichgewicht der (Kapital-)Märkte immer wieder in unvorhersehbarer (zufälliger, katastrophischer) Weise durchbrochen, um eine Berichtigung der Wert/Wertform-Widersprüche auszulösen. Diese abstrakte Tendenz zur Finanzmarktkrise bekommt ihre allgemeine Form durch folgenden Zusammenhang: Grundlegend wird die Dynamik der Kapitalakkumulation durch den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate und den damit verbundenen Zwang zur ständigen Ausdehnung der Kapitalverwertung bestimmt – eine Bewegung die langfristig zu Überakkumulation (Überkapazitäten, einbrechender Nachfrage, Investitionsrückgang … führt. Dieser Tendenz wiederum wirkt das scheinbar davon unabhängige beständige Wachstum aller möglichen Formen des zinstragenden Kapitals entgegen, die weiterhin Verwertung des Kapitals zu ermöglichen scheinen, wenn die realen Profite dies auch gar nicht mehr tragen können. Wertform und Wert spiegeln vor, sich vollständig zu entkoppeln, und die Akkumulation kann fortgesetzt werden, solange sich noch „Kreditgeber:innen“ finden.

Sobald aber an wichtigen Stellen ein:e Akteur:in den „Kredit“ verspielt und sich dies dominoartig auf andere Bereiche ausdehnt, beginnt das Kartenhaus einzustürzen. Während es 2008 das Sinken von Immobilienpreisen und damit einhergehend der Zusammenbruch der Subprimewertpapiere war, so ist es paradoxer Weise 2023 der Wertverlust der scheinbar so sicheren Staatsanleihepapiere, der zu einer Wertberichtigung der Bankvermögen führte. Was auch immer der Anlass einer Finanzkrise ist – es geht immer darum, dass das Hinauszögern einer in der Realwirtschaft begründeten Krise durch die Finanzmärkte letztlich zu einer Berichtigung führen muss, um dann umgekehrt zum Verstärker der realwirtschaftlichen Krise zu werden.

Welche Auswirkungen wird die Bankenkrise zeitigen?

Zunächst einmal müssen hierzu die unmittelbaren Maßnahmen betrachtet werden, mit denen Regierungen und Zentralbanken die Bankenkrise eingedämmt haben. Im Fall der SVB und vergleichbarer Banken hat die US-Zentralbank zunächst die Einlagensicherung über die üblichen 250.000 US-Dollar erhöht – die von der SVB verspekulierten Gelder wurden also über Steuerzahlungen den Einlegern:innen erstattet. Darüber hinaus hat die US-Zentralbank für die betroffenen Banken ein Programm eingerichtet (Bank Term Funding Program), über das sie den Wertverlust der Staatsanleihen bis zum Nominalwert durch einen Kredit ersetzen können. Letzteres ist auf 1 Jahr begrenzt und soll somit den US-Banken die Möglichkeit geben, sich in einer Übergangsfrist an die Hochzinsumgebung anzupassen. Trotzdem bedeutet dies, dass diese Banken zwar ihr Vermögen berichtigen können, aber zusätzliche Zinslasten bekommen, die insgesamt auf ihre Fähigkeit zu Kreditvergaben wirken werden. Diese Maßnahme wird zwar zur Rettung vieler Banken führen – aber zur Verstärkung der Probleme der sowieso schon schwierigen Finanzierung von Neuinvestitionen beitragen (höhere Kreditzinsen, restriktivere Kreditbedingungen). Dies wird zum schon in den letzten Quartalen feststellbaren deutlichen Rückgang in der Investitionstätigkeit in der US-Privatwirtschaft nochmals hinzukommen. In der EU und in UK sind ähnliche Programme zu erwarten und werden daher auch dort die Stagnationstendenz verschärfen.

Die Maßnahmen in Verbindung mit der CS-Krise waren teilweise noch radikaler. Bei der Übernahme durch die UBS wurde nicht nur die CS weit unter Marktwert verscherbelt (um 3,2 Milliarden US-Dollar Kaufpreis für eine Bank, die noch zur letzten Finanzkrise über 100 Milliarden Marktwert auswies), es wurden auch hohe Staatsgarantien zur Risikoabsicherung bereitgestellt. Für die unmittelbar zu befürchtenden Ausfälle wurden fast 10 Milliarden von der Schweizer Regierung versprochen und für längerfristige Risiken weitere 100 Milliarden. Während hier also die Schweizer Steuerzahler:innen zur Kasse gebeten werden, wurde immerhin auch den Investor:innen in die CS etwas abverlangt: die Tier-1-Bonds (spezielle Form der Wandelanleihen) der CS wurden nicht mit dem Eigenkapital in die UBS überführt, so dass hier einige Premiuminvestor:innen (z. B. aus Saudi-Arabien) zusammen ungefähr 17 Milliarden verloren haben. Insgesamt ist mit der UBS+ aber eine Monsterbank entstanden, deren Bilanzsumme etwa doppelt so groß ist wie das Bruttonationalprodukt der Schweiz. Sollte also die UBS scheitern (wie schon mal 2008), könnte die „Rettung der globalen Märkte“ wohl nicht mehr von der Schweiz allein gestemmt werden. Auch wenn der Zusammenbruch einer Großbank damit erst mal verhindert wurde, wird die UBS schwer an der Abarbeitung der Probleme zu leiden haben und mit den Herkulesaufgaben einer solchen Großfusion (z. B. in der ganzen IT-Infrastruktur) noch lange beschäftigt sein. Jedenfalls ist mit der CS eine der wichtigen Investitionsbanken für Restrukturierungs- und Großinvestitionsvorhaben in Europa und den USA weggefallen bzw. nur teilweise durch die UBS+ ersetzt worden. Die CS-Krisenbewältigung verschärft damit nicht nur die Verschuldungsprobleme, sondern wird ebenfalls negative Folgen auf die Finanzierung von Investitionen haben.

Wie auch immer es mit der Bankenkrise weitergeht (nicht abschätzbar sind noch die Risiken im sogenannten Schattenbankensektor), jedenfalls wird die Krisenbewältigung die sowieso schon bestehenden Tendenzen zur Stagnation verstärken. Auch wenn eine synchronisierte Rezession in der EU und den USA dieses Jahr ausbleiben mag, so sind Wachstumsraten unter ein Prozent für die Kapitalverwertung katastrophal. Mit der Bankenkrise wird zur schwachen Investitionsnachfrage jetzt auch eine Welle von Insolvenzen folgen, die aus „Risikoberichtigungen“ und „Abschreibungen“ im Rahmen der Bankenstabilisierung resultieren. Mit der hartnäckigen Inflation um 5 – 10 % kombiniert sich diese Entwicklung zu einer chronischen Stagflation. Sinkende Reallohneinkommen, Austeritätsprogramme, drohender Arbeitsplatzverlust bei Pleiteunternehmen usw. werden auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Masse der Lohnabhängigen immer schlimmer einwirken – und zu einer Verstärkung der Abwehrkämpfe führen müssen!

Was tun gegen die Bankenkrise?

Neoliberale Kampfblätter wie The Economist oder die Financial Times streiten durchaus über den richtigen Umgang mit der erneuten Bankenkrise. Letztere befürchtet durch die neuerlichen Rettungsmaßnahmen einen „moral hazard“ (moralisches Risiko), eine Bestärkung von Fehlverhalten auf den Finanzmärkten und tendiert dazu, dass man der Krise endlich freien Lauf lassen müsse, um die „schlechten“ Finanzakteur:innen aus dem Markt zu drängen. The Economist neigt eher zum Vertrauen in die „Regulierer:innen“ und meint, dass man Extreme wie die SVB oder CS zwar tatsächlich „bestrafen“ muss, aber die Auswirkungen dann durch das Wirken der Regulierer:innen eingedämmt werden müssen. Dabei wird behauptet, dass dies von Krise zu Krise immer besser gelernt wird und das System so auch diesmal wieder gestärkt aus den Turbulenzen herauskommen würde. Liberale Ökonom:innen wie z. B. Joseph E. Stiglitz sehen dagegen das Problem, dass bestimmte Finanzmarktakteur:innen jede Regulierung umgehen würden und immer wieder das Gleichgewicht des Gesamtsystems ins Wanken bringen. Er fordert daher weitergehende „wissenschaftliche“ Kontrolle über Bankengeschäft und ihr Risikomanagement, wobei z. B. die Fehler bei der Bewertung der gegenwärtigen Bankvermögen in den USA vermieden werden hätten können.

Offensichtlich gehen alle diese Ansätze insofern in die Irre, als sie das Problem an der „Irrationalität“ einzelner Finanzakteur:innen und dem Mehr oder Weniger der Regulierung von Finanzmärkten festmachen. Tatsächlich liegt der Ursprung der Krise aber gar nicht in den Finanzmärkten. Diese sind nur ein Element und Symptom der Gesamtkrise der Kapitalverwertung und können auch nur dort in den Griff bekommen werden. Eine linke Antwort darauf gibt z. B. Michael Roberts in seinem Blogbeitrag „Bank Busts and Regulation“ (21.3.), wo  er die Frage der Verstaatlichung des Bankensektors konkret aufwirft. Er entwickelt dabei ein Modell der „demokratischen Kontrolle“ der Banken und ihrer Finanzierungsgeschäfte sowie ihrer Einbettung in einen nationalen ökonomischen Entwicklungsplan.

So sehr die Bankenverstaatlichung natürlich im Zentrum eines Aktionsprogramms im Rahmen der kapitalistischen Gesamtkrise steht, so sehr kann diese Forderung nicht isoliert von der Frage des Gesamtkampfes gegen die Krise aufgestellt werden. Ein staatliches Bankensystem im Rahmen einer „Selbstverwaltung“ führte z. B. im früheren Jugoslawien zu einer de facto wirtschaftlichen Diktatur der Republiksbanken, die über ihre Kreditvergabe letztlich alle Ebenen der betrieblichen Selbstverwaltung und „Demokratie“ aushebeln konnten – und erst recht zu einer Finanzkrise führten.

Die Arbeiter:innenkontrolle über einen staatlicher Bankensektor kann letztlich keinen Dauerzustand bilden, sondern nur einen Hebel auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus selbst liefern. Dieser Kampf muss daher mit dem um Vergesellschaftung aller zentralen Produktionssektoren und für einen demokratisch bestimmten Plan entwickelt werden, in dessen Rahmen dann Banken reine Vermittlungsorgane für die gesellschaftliche Gesamtrechnung sind. Erst dann ist gewährleistet, dass die Verselbständigung der Wertform gegenüber den eigentlichen Gebrauchswert produzierenden Bereichen nicht wieder zu deren Diktatur über den Menschen wird und sich die Vermittlung von gesellschaftlichem Bedarf und produktiven Kapazitäten aus bewusster menschlicher Kooperation und Kommunikation herstellt. Eine solche, qualitativ andere Form der Vergesellschaftung erfordert eine Zerschlagung der alten Staatsmacht und die Errichtung einer rätedemokratischen neuen – kurz, eine proletarische Revolution.




Wirtschaftskrise und politische Instabilität: Politisch-Ökonomische Perspektive 2023

Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1214, 19. Februar 2023

Stagflation und instabile Regierungskoalition 2023

2023 wird die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten eintreten. Das ist die logische Folge aus schon länger fallenden Industrie-Profitraten und der gestiegenen Unsicherheit in Produktion und Kapitalverwertung. Diese Einschätzung teilen auch die wichtigsten bürgerlichen Wirtschaftsforschungsinstitute, das WIFO schreibt: „Nach der kräftigen Expansion im 1. Halbjahr 2022 befindet sich die österreichische Volkswirtschaft mittlerweile in einer Abschwungphase. Die Konjunkturabschwächung betrifft sämtliche Wertschöpfungsbereiche; das verarbeitende Gewerbe dürfte sogar in eine Rezession schlittern.“[1], und spricht von Stagflation.[2] Das Institut für Höhere Studien IHS prognostiziert für 2023 ein Wachstum von nur 0,3 % bei einer Inflationsrate von 8,6 %.[3] Die EU Kommission prognostiziert 2023 eine Rezession im gesamten Euro-Raum.[4]

Der Wirtschaftsabschwung 2023 hat denselben Hintergrund wie die Hochinflation 2022. Die Profitrate, also das Verhältnis von Profit zur Gesamtinvestition in Maschinen, Arbeitskraft, Miete usw., in der Industrie geht bereits seit Jahren zurück, was 2020 schon vor der Corona-Pandemie zu einem beginnenden Abschwung geführt hat. Der wurde dann aber von den Lockdownfolgen „überholt“ und aufgenommen. Am grundlegenden Problem (der Überakkumulation, siehe später im Text) hat sich aber nichts geändert, weil die in kapitalistischen Krisen übliche Vernichtung von Kapital durch Staatshilfen ersetzt wurde.

Fallende Profitraten befeuern auch die Inflation. Inflation ist im Großen die Summe aus individuellen Firmenentscheidungen, Preise zu erhöhen. Wenn ein:e individuelle:r Kapitalist:in auf zahlungsfreudige Nachfrage trifft, kann sie entscheiden mehr zu produzieren, oder mehr Geld zu verlangen. In einer unsicheren Wirtschaftssituation werden Kapitalist:innen eher die Preise erhöhen, statt zu investieren, und selbst die Firmen, die diese Entscheidung selber nicht getroffen hätten, „machen mit“ (blöd wären sie, wenn sie sich das entgehen lassen würden). Aber höhere Preise für dieselbe Warenmenge bremsen auch die Kapitalakkumulation, also die Verwandlung von Kapital in mehr Kapital durch Wieder-Investition. Eine Situation, in der die Kapitalakkumulation nicht funktioniert, läutet die Rezession ein, auch wenn einzelne Branchen noch hohe Profite machen.

Kapitalakkumulation funktioniert in drei Schritten: Aus Geld werden Waren (Produktionsmittel und Arbeitskraft), aus diesen Waren im Produktionsprozess andere Waren (die fertigen Produkte), und diese Waren werden zu mehr Geld gemacht (die Verwertung des Kapitals). Wenn einer der drei Übergänge ernsthaft unterbrochen wird, stockt die Akkumulation des Kapitals, eine Krise bricht aus. Die Kombination aus Corona, Klimakrise und Krieg hat an allen drei Übergängen Sand ins Getriebe geworfen.

Der Einfluss durch die globale Pandemie, die Auswirkungen der Klimakrise und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist besonders und zum Beispiel anders als die Krisendynamik der Finanzkrise ab 2008. Lockdowns in Produktionsstätten, Überschwemmungen und Dürren stören die Produktion, also die Verwandlung von Vorprodukten in Waren. Geschlossene Häfen und abgebrochene Wirtschaftsbeziehungen unterbrechen globale Produktionsketten, die in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich eingesetzt wurden, um den tendenziellen Fall der Profitraten zu bremsen. Generell führt die neue imperialistische Blockbildung zu einer Art De-Globalisierung, und unterläuft damit das Geschäftsmodell vieler imperialistischer Staaten. Das gilt auch für Österreich, dessen Bank- und Handelskapital eng mit den Balkanstaaten und Russland verwoben ist.

Eine Rezession wird zu Entlassungswellen und einem Einbruch der Arbeiter:inneneinkommen führen. Wenn wir aus der Erfahrung der Coronakrise schließen, werden die europäischen Regierungen rasch und schnell mit Subventionen eingreifen, die vor allem den Kapitalist:innen zugutekommen. Um die Verteilung der Krisenkosten wird wohl nicht mehr dieses Jahr gekämpft werden, die Regierung wird aber in der Zukunft auf Austerität, also Sparpolitik, und Deregulierung des Arbeitsrechts setzen. Insofern wird 2023 wohl von der Rezession und Abwehrkämpfen am Arbeitsplatz, aber noch nicht von Austerität und Widerstand dagegen geprägt sein. Dabei ist auch zu beachten, dass die Kosten für die Corona-Hilfen auch weiterhin stark auf den Regierungen lasten und noch nicht wieder zurückgeholt werden konnten. Das ist sicher auch einer der Gründe für die Unsicherheit im Handeln der jetzigen Regierung.

Die türkis-grüne Koalition ist instabil und angreifbar. Sie hat in den Umfragen massiv an Zustimmung verloren, die Minister:innen werden nicht anerkannt und die beiden Parteien streiten heftig, miteinander und intern. Das macht sie nicht weniger klassenbewusst (für die herrschende Klasse), sie verliert die Perspektive als „ideelle Gesamtkapitalistin“ aus dem Blick, weil der eigene Machtverlust bedrohlicher ist. Sie kann derzeit schon durch vergleichsweise wenig Druck auf der Straße und in den Betrieben zum Einlenken gezwungen werden.

Gleichzeitig setzt die ÖVP in solchen Fällen auf offenen Rassismus (Sachslehner: „Jeder Asylantrag ist einer zu viel“) und staatliche Schikanen vor allem gegen Asylwerber:innen. Auch die SPÖ hat nach der Wahl im Burgenland einen Kurs des offen hetzenden Rassismus eingeschlagen (Rendi-Wagner: „Wir haben ein Migrationsproblem“).

Die sozialdemokratische Opposition ist seit dem Abtreten von Sebastian Kurz schwach und fast handlungsunfähig. Ihre Strategie, die Regierung durch Untersuchungsausschüsse unter Druck zu setzen hat nicht funktioniert. Sicher auch deshalb, weil die ÖVP die Geschäftsordnung und Medienlandschaft geschickt navigiert, aber auch weil der Ausschuss-Fokus der SPÖ von Anfang an eine Vermeidungsstrategie war, um nicht auf die eigene Mitgliedschaft, die Betriebe, oder außerparlamentarische Oppositionsarbeit zurückzugreifen. Unter dem Eindruck von Krieg und Hochinflation arbeitet die Bundespartei als „loyale Opposition“, die Verbesserungsvorschläge macht und die langsame Umsetzung kritisiert. Die SPÖ präsentiert kein Alternativprogramm zur Regierungslinie und macht folgerichtig auch keinen Druck auf Neuwahlen oder wirksamen politischen Widerstand. Die Neuwahlen können natürlich trotzdem kommen, aber aus der Instabilität der Regierungskoalition wird sie den Sozialdemokrat:innen eher „passieren“.

In dieser Situation ist eine Annäherung der Nehammer-ÖVP an Kickl und die FPÖ möglich. Die Parteien stimmen in weiten Teilen ihrer Krisenpolitik überein, die aus rassistischer Spaltung und Politik im Sinne der Reichsten besteht. Die soziale Rhetorik der FPÖ ist auch nicht teurer als die Forderungen des Gewerkschaftsflügel in der SPÖ (als mögliche Alternative). Es ist nicht gesagt, dass die türkis-grüne Koalition platzen wird, sie ist aber viel Druck ausgesetzt. Eine Neuauflage des schwarz-blauen Rechtsblocks und seiner radikalen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse ist also durchaus im Bereich des Möglichen.

Es gibt keine tragfähige und politisch denkbare Koalition ohne ÖVP, es ist aber eine neue große Koalition mit einer deutlich nach rechts rückenden SPÖ denkbar. Das beschleunigt auch die Tendenzen innerhalb der ÖVP, die grüne Koalitionspartnerin anzugreifen.

Zusammengefasst ist die politische Ökonomie seit 2020 von den gleichzeitigen Auswirkungen der Gesundheitskrise, Klimakrise und der imperialistischen Zuspitzung geprägt. Daraus entstehen recht komplizierte Wechselwirkungen zwischen Produktion und Verwertung, die die kommende Rezession vertiefen werden.

Ausgangslage: Lockdowns und kapitalistische Reproduktion

Die grundlegende ökonomische Dynamik im Kapitalismus ist die Akkumulation von Kapital, die Marxist:innen in den „Reproduktionsschemata“ darstellen. Kapitalist:innen tauschen Kapital in Geldform (oft zumindest teilweise als Kredit) für Waren, besonders Produktionsmittel, Vorprodukte und Arbeitskraft. Wenn die im Produktionsprozess zusammenwirken, entstehen neue (andere) Waren. Werden diese verkauft, hält der/die Kapitalist:in am Ende wieder Kapital in Geldform in der Hand, im Idealfall mehr als am Anfang (die Verwertung des Kapitals). In einer nächsten Runde wird dieses Geld wieder in mehr Kapital investiert, dadurch vermehrt sich das gesellschaftliche Kapital ständig („Kapitalakkumulation“). Abgekürzt wird das als Geld – Ware – andere Waren – mehr Geld oder G – W – G‘ dargestellt.

Die Kapitalakkumulation ist der grundlegende Motor der kapitalistischen Entwicklung. Sie hat die Warenproduktion (W – W‘), die Kapitalverwertung (W‘ – G‘) und die Wieder-Investition (G‘ – W) als notwendige Bestandteile.

Im Produktionsprozess sinkt aber die Profitrate auf mittlere Sicht, weil bei beschleunigter Akkumulation immer mehr Kapital auf dieselbe Arbeitskraft kommt und damit weniger Mehrwert pro eingesetztem Kapitalstock entsteht. Eine Gegenstrategie (von mehreren) zur fallenden Profitrate ist die Beschleunigung des Kapitalumschlags (der Zeit zwischen G und G‘) durch reibungslose Logistik, globale Produktionsketten, aber auch kurzfristig verfügbaren Krediten.

Die Lockdowns ab 2020 haben diese beschleunigte Reproduktion immer wieder unterbrochen. Am offensichtlichsten war das anhand von geschlossenen Fabriken, aber auch großen chinesischen Häfen und Zusammenbrüchen in Containerschiffahrt oder LKW-Transporten. Die Zerstörung mehrerer russisch-europäischer Gaspipelines und die Einschränkung der Lieferungen durch die Pipelines in der Ukraine, aber auch die Sanktionen und Lieferembargos im Rahmen des Kriegs schlagen in dieselbe Kerbe.

Niedriginflation nach 2008, Hochinflation ab 2022

Nach der globalen Wirtschaftskrise ab 2008 folgte eine lange Zeit der Niedriginflation in den imperialistischen Zentren. Die von den Zentralbanken angestrebte Durchschnittsinflation von 2 % wurde nicht erreicht, das mit „unorthodoxer Geldpolitik“ günstig verborgte Geld kam nicht über die Banken hinaus. Statt in der Konsum- oder Investitionsnachfrage landeten die Zentralbank-Milliarden an den Börsen (wo es tatsächlich zu einer Preisexplosion von Finanzprodukten, also asset inflation kam). Die Niedriginflation war eine Krisenfolge und führte zu tatsächlichen Problemen in der Kapitalakkumulation. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass in den „Minwarenkörben“ der Arbeiter:innen sehr wohl Inflationsraten jenseits der 2 % erreicht wurden, einige neokoloniale Länder sogar in die Hyperinflation gingen.

Auf den Einbruch 2020 und den Kriegsbeginn 2022 folgte dafür eine Hochinflationsperiode. Die Preise hatten bereits ab 2021 deutlich an Fahrt aufgenommen. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und dem begleitenden Wirtschaftskrieg kam ein Preisschock auf den Energiemärkten dazu. Die liberalisierten Strom- und Gasbörsen auf dem Weltmarkt breiteten diesen Schock in alle Wirtschaftsbereiche aus.

Sowohl die Niedrig- als auch die Hochinflation zeigen systematische Probleme im Kapitalismus auf. Sie sind aber nicht für die Krise verantwortlich, sondern umgekehrt die Folge von erst niedrigen Profitraten und anschließend hoher Unsicherheit bei den erwarteten Profitraten. Die Antwort der Regierungen, besonders in den USA, ist eine Rezession einzuleiten, um die Konsumnachfrage zu schwächen. Die Inflation ist aber nicht durch „heißgelaufene“ Nachfrage ausgelöst worden und wird nicht im erhofften Ausmaß fallen. Trotzdem ist die Leitzinserhöhung ein wirkungsvoller Angriff, um die Krisenkosten auf unsere Schultern zu verteilen.

Neue Blockbildung und Positionierung der für den österreichischen Imperialismus zentralen Balkanstaaten

Nicht erst seit dem Krieg zeigt der weltweite Kapitalismus eine Tendenz zur Deglobalisierung. Das liegt einerseits an der neuen Blockbildung, grob zwischen den Polen USA/EU und China/Russland sowie den entstehenden Wirtschaftskriegen. Der zeitweise, wiederholte Zusammenbruch der internationalen Logistik, erst durch Ölpreisschwankungen Anfang 2020, dann durch Lockdowns, beschleunigte diese Tendenz. Die neue US-Administration führt hier im Großen und Ganzen die Trump-Politik einer weiteren Konfrontation mit China fort. Änderungen sind hier vor allem in Bezug auf 1) einen gemeinsamen Ansatz mit seinen traditionellen Verbündeten (EU, GB, Japan, Australien) aber auch neuen Verbündeten (Indien), 2) Zuspitzung auf zielgerichtetere Maßnahmen (Chips-Embargo statt Einfuhrzöllen). Im militärischen Bereich gibt es hingegen die größten Kontinuitäten (Quad, mögliche Verteidigung Taiwans gegen Angriff, etc.).

Die Blockbildung zieht sich aber auch durch Ost- und Zentraleuropa, für den österreichischen Imperialismus zentrale Regionen. Das österreichische Kapital konnte sich überhaupt erst durch den Zusammenbruch der stalinistischen Staaten und gezielte Investitionen des Bank- und Handelskapitals von Deutschland unabhängig machen. Bis heute ist Österreich am Balkan, in Zentraleuropa und in Russland über-exponiert. Das hat bereits 2011 zu massiven Verlusten österreichischer Banken geführt, als ein Rückzahlungseinbruch am Balkan mit der Rubelkrise zusammenfiel. Die teilweisen Versuche Russlands, serbische und ungarische Nationalist:innen auf ihre Seite zu ziehen, werden die Lage für das österreichische Kapital weiter anspannen und Angriffe auf die Arbeiter:innen zur Folge haben.

Bestandaufnahme: österreichische Wirtschaft 2022

2021 und 2022 hat das österreichische Kapital hohe Wachstumsraten erzielt. Das Bruttoinlandsprodukt ist um jeweils fast 5 % gestiegen. Der Arbeitsmarkt hat sich so weit erholt, dass es 2022 sogar zu einer Arbeitskräfteknappheit kam. Diese erstreckt sich von angelernten Niedriglohnberufen bis zu Facharbeiter*innen, ist also ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Das Wachstum war aber von Aufholeffekten getragen. 2021 produzierte die Industrie mehr als 2020, weil damals Fabriken und Transportwege teilweise geschlossen waren. 2022 waren es Tourismus und Hotellerie, die im Vergleich zu den Lockdownmonaten höhere Einnahmen hatten. Der Einbruch 2020 ist damit aber nicht ausgeglichen, wobei die staatlichen Hilfszahlungen hier viele Unternehmen vor der Insolvenz retten konnten. Das bedeutet aber auch, dass die Ursachen der Rezession, nämlich Überakkumulation und niedrige Profitraten, weiter auf den Ausbruch warten. Die Bruttoinvestitionen und der Privatkonsum sind 2022 bereits zurückgegangen.

Die österreichischen Banken sind gleichzeitig überexponiert, also hohem Risiko ausgesetzt, vor allem durch die Investitionen in Ost- und Zentraleuropa sowie Russland. Ein plötzlicher Einkommensverlust bei Facharbeiter:innen könnte außerdem die Kreditrückzahlung bei Hypotheken in Wanken bringen. Gleichzeitig scheinen die europäischen Regulierungsbemühungen nach 2008 bei den österreichischen Geschäftsbanken schon zu Veränderungen geführt zu haben. Die Eigenkapitalquote ist, bis auf Kleinstbanken wie im berüchtigten Mattersburg, relativ stabil. Das wird nicht ausreichen, wenn es eine gesamtwirtschaftliche Krisendynamik gibt (das zeigt auch die jetzt schon langsamere Kreditvergabe). Derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass diese in Österreich vom Bankensektor ausgehen würde.

Eine globale Finanzkrise ist aber durchaus im Rahmen des Möglichen. 2022 gab es Liquiditätsprobleme und sogar Insolvenzen bei Energieunternehmen, die auf liberalisierten Strom- und Gasmärkten ähnlich wie Finanzinstitute agieren. Gleichzeitig kam es an den großen Aktienbörsen zu einem anhaltenden Kursverfall im ersten Halbjahr 2022, und die Kryptowährungs-Börsen erlebten Zusammenbrüche. Sowohl bei der Deutsche Bank, Credit Suisse als auch bei Blackrock wurden Finanzierungslücken öffentlich. So kann bei fallenden Finanzrenditen die Blase platzen und zu einem „Lehman Moment“ wie 2008 führen, also dem ersten großen Bank-Dominostein, der umfällt. Egal ob die Krise vom Finanzsektor ausgeht oder der Finanzsektor als Multiplikator darunter liegender Krisendynamiken funktioniert, wird mit der Rezession ab 2023 auch eine Finanzkrise einhergehen. Die Banken werden keinesfalls stabilisierend wirken können, sondern im Gegenteil die Geschwindigkeit der Krisenentwicklung weiter anheizen.

Türkis-Grüne Umverteilungsmaschine

Die türkis-grüne Regierung ist in allererster Linie instabil. Die beiden Parteien halten sich aneinander fest, für die ÖVP geht es um den Machterhalt nach dem Zusammenbruch von Schwarz-Blau, für die Grünen um die erstmalige Regierungsbeteiligung. Die politische Schnittmenge der Koalition ist gering.

Im Gegensatz zur rot-schwarzen großen Koalition sind aber bei türkis-grün die Arbeiter:inneninteressen nicht einmal mehr indirekt vertreten. Der Einfluss der Gewerkschaften im SPÖ-Parlamentsklub hat die Klasse zwar politisch gelähmt, aber sie waren nie bereit ihre grundlegenden Interessen aufzugeben. Worauf sich ÖVP und Grüne einigen können, ist eine breite Bereitstellung von Staatsmitteln an das Kapital, mit Detailfragen zu Klein- oder Großkonzernen und wie wichtig der Öko-Fokus bei den Förderungen sein soll. Außerdem wissen die Grünen, dass ihr nächstes Wahlergebnis davon abhängt, wie glaubwürdig sie ihre soziale Rhetorik formulieren.

Türkis-grün wird medial und von der Opposition vor allem als zurückhaltend und inkompetent dargestellt. Tatsächlich hat die Regierung aber als Umverteilungsmaschine von unten nach oben effektiv funktioniert. Das zeigt sich am Wachstum der Profite durch COFAG-Hilfen bei gleichzeitigen Reallohnverlusten, der Preistreiberei staatlicher Energiekonzerne (zugunsten der privaten Minderheits-Shareholder) und auch an den Vorschlägen für Verschärfungen im Arbeitslosenversicherungs- und Pensionsgesetz (auf die sich die Koalitionspartnerinnen aber nicht einigen konnten).

Für direkte Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse ist die Koalition derzeit aber zu schwach. Auch wenn die Bundes-SPÖ desorganisiert ist, haben die Gewerkschaften mit Warnstreiks und der Mobilisierung für Preissenkungen im Herbst klar gemacht, dass sie noch Kampfmittel haben. Daraus erklärt sich auch die Zurückhaltung bei Erzwingungsstreiks bei den Kollektivvertragsverhandlungen, eine Mobilisierungsniederlage hätte diese Drohung abgeschwächt.

Auch eine Neuauflage der großen Koalition ist denkbar, für die ÖVP und die hinter ihr stehenden Kapitalfraktionen aber weniger attraktiv als Schwarz-Blau und Schwarz-Grün. Diese Koalition würde den Rechtsruck der SPÖ weiter beschleunigen, die parteiinternen Konflikte beruhigen aber hinter der Fassade weiter zuspitzen. Eine SPÖ, die die Krisenausterität mitträgt, würde die Gewerkschaft nachhaltig schwächen, aber oppositionelle Kräfte in ihr stärken.

Die Instabilität der Koalition geht aber mit einem entschlossenen Kurs einher. Beide Parteien wollen dringend an der Macht bleiben, für die Grünen steht perspektivisch mal wieder die Existenz im Parlament, für die ÖVP das Umkrempeln der Partei nach Mitterlehner auf dem Spiel. Vor allem wollen sie ihre Kern-Kapitalfraktionen an sich binden, die sich wegen dem Tumult der letzten Jahre auch auf andere Kräfte (vor allem NEOS und FPÖ) orientieren könnten.

Wenn Nehammer und Kogler gemeinsam an der Macht bleiben, werden sie in die Offensive gehen müssen. Zerbrechen sie an dieser Herausforderung, droht eine neue Rechtsblock-Regierung.

Schwache Opposition

Die parlamentarische linke Opposition wird in Österreich vor allem von der Sozialdemokratie gestellt. Sie hatte bis in die 1990er-Jahre eine entscheidende Rolle im Aufbau und der Verwaltung des österreichischen Kapitals. Wegen der zentralen Rolle der verstaatlichten Industrie übernahm die Verwaltungsbürokratie die unterstützende Rolle, die andere Kapitalfraktionen für normale bürgerliche Parteien einnehmen. Damit hatte die SPÖ eine soziale Basis sowohl in der organisierten Arbeiter:innenklasse als auch im Management der Kernindustrien. Die ideologische Entsprechung war die Sozialpartner*innenschaft mit jährlichen Lohnverhandlungen und hoher kollektivvertraglicher Abdeckung als Abstimmungsmechanismus.

Die ökonomische Grundlage der Sozialpartner:innenschaft war die historische Schwäche des österreichischen Kapitals nach dem zweiten Weltkrieg. Sie war kein Zugeständnis an eine besonders kämpferischen Arbeiter:innenklasse, sondern ein Einbinden in die nationale Akkumulationsstrategie. Nachdem die ganz gut funktionierte und das österreichische Kapital ab 1990 sogar eigenständig imperialistische Bestrebungen durchführen konnte fiel die ökonomische Basis der Sozialpartner:innenschaft weg. Der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten in Ost- und Zentraleuropa schuf einen Nährboden für einen eigenständigen österreichischen Zusammenbruch, gleichzeitig fiel die „Systemalternative“ weg, die viele Zugeständnisse motiviert hatte. Firmen haben, bis auf Ausnahme- und Krisensituationen, kein Interesse mehr an Sozialpartner:innenschaft, die entsprechenden Rechtsformen und die Ideologie existieren aber weiterhin.

Die Sozialdemokratie orientiert sich also weitgehend an einem Gesellschaftsentwurf, den es nicht mehr gibt. Ihre Strategie in der Regierung und in der Opposition ist die Befriedung von Klassenkämpfen bei gleichzeitiger Verlangsamung von Verschlechterungen für die eigene soziale Basis. Ihre programmatische Stoßrichtung ist aber leer und die Partei kommt auch deshalb nicht aus ihrer Krise heraus. Angesichts einer rechten Wähler:innenmehrheit bedeutet das einen massiven Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten.

Die parlamentarische Opposition hat das dadurch entstehende Vakuum nicht füllen können. Die KPÖ ist, bis auf die Steiermark, zu schwach, um ihr eigenes linksreformistisches Programm verwirklichen zu können. Noch weniger ist sie in der Lage, eigene Kämpfe gegen die Regierung zu führen oder effektiv auf die parlamentarische Ebene zu tragen.

Die Grünen als bürgerliche Partei konnten nach dem Aufflammen der Klimaproteste im ersten Halbjahr 2019 bei den Wahlen im Herbst 2019 deutlich profitieren – vor allem auf Kosten der SPÖ. Doch mit dem Regierungseintritt Anfang 2020 verlor einerseits die breite Klimabewegung an Fahrt (vielmehr ging der Fokus nach einer Pandemie-Pause auf radikalere, aber kleinere Aktionsformen über), andererseits enttäuschten die Grünen in der Regierung mit ihrer zaghaften Klimapolitik.

Aber auch die außerparlamentarische Opposition ist gleichzeitig schwächer geworden, statt den Bedeutungsverlust des Reformismus für sich zu nutzen. Wir haben es nicht geschafft, einen Fuß in die Tür zu den Gemeindebauten und Arbeiter*innenbezirken zu bekommen, als sie langsam hinter der SPÖ zugegangen ist. Zu keinem Zeitpunkt wurde außerparlamentarischen Gruppen das Vertrauen entgegengebracht, dass die SPÖ zu ihren Hochzeiten genoss, nämlich die Anliegen der Arbeiter:innen und Erwerbslosen effektiv zu vertreten.

Aber auch die klassische Rolle der außerparlamentarischen Linken, gegen die richtigen Dinge zu protestieren und scharfe Kritik zu äußern, hat sie in der Bevölkerung verloren. Gegen den Aufstieg der FPÖ, gegen Rassismus und auch gegen die eskalierende Klimakrise hatten wir noch Antworten mit Massenwirkung gefunden, auch wenn sie nicht mehrheitsfähig waren. Wir haben es aber nicht geschafft, auf Pandemiepolitik und Krieg Antworten zu finden, die breiter in der Arbeiter:innenklasse oder den fortschrittlichsten Schichten verankert wären. Die Mobilisierungsfähigkeit der radikalen Linken und der linken „Zivilgesellschaft“ ist 2022 massiv gesunken. Das ist ein ordentliches Problem, wenn wir uns auf ein Jahr der Abwehrkämpfe vorbereiten.

Perspektiven

Die Weltwirtschaft wird 2023 in eine Rezession übergehen, bei weiterhin hoher Inflation in den imperialistischen Zentren. Die ist durch die Unsicherheit in der Kapitalakkumulation getrieben, die wiederum auf den Krieg, die Pandemie, und Auswirkungen der Klimakrise zurückgeht. Das wird Österreich besonders betreffen, weil die Abhängigkeit von Energie aus Russland, und der wirtschaftlichen Entwicklung Osteuropas besonders groß ist. Das österreichische Bankensystem ist in Gebieten überexponiert, die von der neuen Blockbildung betroffen sind, wirkt aber stabil genug um nicht der Auslöser einer tiefen Krisendynamik zu sein.

Die Regierungskoalition ist instabil, sie muss sich gleichzeitig um das Vertrauen von entscheidenden Kapitalfraktionen und ein Mindestmaß an Zustimmung aus der Bevölkerung bemühen. In dieser Konstellation rechnen wir nicht mit breiten Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse, aber großzügigen Mitteln für das Kapital und Umverteilung von Unten nach Oben. Einzelne scharfe Verschlechterungen, beispielsweise bei Erwerbslosen und rassistische Angriffe sind aber zu erwarten. Außerdem wird 2023 bestimmt ein Sparpaket vorbereitet und eventuell schon stückchenweise umgesetzt werden.

Die rechte Opposition um FPÖ und NEOS wird weiter stärker werden, sie bündelt auch effektiv die Unzufriedenheit in verschiedenen Teilen der Bevölkerung.  Ein Koalitionsbruch mit kurzem „freiem Spiel der Kräfte“ und anschließender Rechtsblock-Regierung ist eine reale Gefahr.

In dieser Situation werden sich auch die Konflikte innerhalb der SPÖ zuspitzen, die im Niedergang der Sozialpartner:innenschaft keine strategische Orientierung mehr hat. Durch den rassistischen Rechtsruck der Parteiführung sind Konflikte mit den Jugendorganisationen wahrscheinlich. Aber auch in den Gewerkschaften kann ein Streit über die Ausrichtung der eigenen Arbeit und die fehlende Kampfbereitschaft der Führung entstehen.

Kommunist:innen und Revolutionär:innen starten also mit großen Aufgaben und wenigen Ressourcen ins Jahr 2023. Um überhaupt außerparlamentarisch wirkmächtig zu werden, müssen sie eine stringente Analyse der Periode weiterentwickeln und klare Antworten auf die Fragen von Inflation und Krieg geben. Wir müssen außerdem klären und erklären, welches Feindbild in dieser Situation angegriffen werden kann – die Umverteilungsregierung, die Überprofit-Konzerne und die rechten Hetzer:innen.

In den kommenden Auseinandersetzungen, wie schon bei den rotesten um die Kollektivvertragsverhandlungen 2022, können wir den Kontakt zu organisierten Arbeiter:innen aufbauen und Zusammenarbeit mit gewerkschaftlichen Strukturen suchen. Auch die sich radikalisierende Klimabewegung und antirassistische Mobilisierungen sind Felder, wo gemeinsamer Protest und kritische Diskussionen notwendig sind.

Die immer tieferen, immer komplexeren Krisen des Kapitalismus zeigen auf, dass es eine Alternative zum bestehenden System braucht. Das bedeutet nicht nur, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen, sondern auch Organisationsformen und eine Partei aufzubauen, die die Unterdrückten vereint und mit der sie erfolgreich siegen können. In Österreich bedeutet das, den Kräften links der reformistischen Organisationen ein revolutionäres Programm vorzulegen, und sie in der gemeinsamen Aktion von einer revolutionären Methode zu überzeugen.

Endnoten

[1] WIFO Presseaussendung am 7. Oktober 2022. „Stagflation in Österreich. Prognose für 2022 und 2023.“

[2] Stagflation ist ein Begriff aus der Volkswirtschaftslehre. Bürgerliche Ökonom*innen gehen davon aus, dass Inflationsraten gedämpft werden wenn die Wirtschaft schrumpft, weil die sinkende Nachfrage auch die Preise dämpft. In den Ölpreiskrisen der 1970er-Jahre hat dieses „Patentrezept“ (das auf Kosten von Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau geht) versagt, weil die Inflation weder von Konsum- und auch nicht von Investitionsnachfrage getrieben wurde. Von damals stammt auch das Wort Stagflation.

[3] IHS Presseinfo am 6. Oktober 2022. „IHS-Direktor Klaus Neusser zur Herbstprognose der österreichischen Wirtschaft 2022–2023: „Wir kommen mit ein paar Schrammen gut durch den Winter.“

[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/eu-kommission-herbstprognose-bip-inflation-101.html




Teuerungskrise 2022

Mo Sedlak, ursprünglich veröffentlicht auf http://arbeiterinnenstandpunkt.net/, Teil 2, Infomail 1204, 15. November 2022

Der erste Teil des Artikels beschäftigte sich vor allem mit den Ursachen der Inflation, im zweiten Teil geht er auf die Antworten der verschiedenen Klassen und ein Programm im Interesse der Arbeiter:innenklasse ein.

Globalisierung und Outsourcing der Inflation

Politiker:innen, Wirtschaftsforscher:innen und Kapitalist:innen reagieren auf die scheinbar unaufhaltsam steigenden Preise wie die aufgeschreckten Hühner. Wir, die Betroffenen und die Linke, eh auch. Und zwar zu Recht: Die Preisexplosion droht, zu einer sozialen Krise, zu einer nachhaltigen Schlechterstellung der Arbeiter:innenklasse zu führen (wenn wir uns nicht wehren). Aber: Außerhalb der imperialistischen Zentren schreckt diese Einsicht wenige. Denn in vielen neokolonialen Ländern wurden in den letzten Jahren ausführliche Erfahrungen mit hoher Inflation und deren sozialen Folgen gemacht.

Das liegt vor allem an zwei Umständen: den Kosten der Geldmengenkontrolle und der Auslagerung von Inflation aus den imperialistischen in die neokolonialen Länder.

Erstens ist die Regulierung der Geldwarenproduktion teuer und umso teurer, wenn dabei die Währungen anderer Länder kontrolliert werden sollen. In vielen unterentwickelten Ländern sind Dollar und Euro anerkannte Parallelwährungen, über deren Produktion und Einfuhr die Regierungen kaum Kontrolle haben. Wir verwenden hier die Formulierung des antikolonialen Marxisten Walter Rodney, der mit dem Begriff Unterentwicklung zeigen will, dass dieser Folge einer bewussten, imperialistischen Politik ist.

Zweitens können Firmen aus imperialistischen Ländern auf den Kapitalexport zurückgreifen, wenn Investitionen im „eigenen Land“ nicht profitabel erscheinen. Tausende „Freihandelsabkommen“ und ökonomische Abhängigkeiten stellen sicher, dass Nestlé, OMV und Wienerberger überall investieren können, wo sie wollen und die Profitraten noch höher sind. Zum Beispiel wegen niedrigerer Löhne oder technisch weniger entwickelter Konkurrenz. Das nimmt den Inflationsdruck aus den imperialistischen Zentren heraus. Die Kapitalist:innen in den Neokolonien und Schwellenländern verfügen über diese Möglichkeit so nicht.

Natürlich spielen Krieg und Pandemie eine zentrale Rolle

Das macht die Inflation bei gleichzeitigem Krieg in der Ukraine auch bedenklich. Durch die neue Blockbildung kommt es zu einer De-Globalisierung. Ein Geflecht aus Sanktionen, Sanktionsumgehungen, Wirtschaftskrieg und unterbrochenen Lieferketten erschwert den Kapitalexport und Produktionsketten. Dieses Gegenmittel gibt es also nicht und die Auslagerung der Profitproduktion nach China ist auch schwerer möglich. Und auch die Klimakrise hat ihren Anteil: Zum Beispiel haben durch Dürre ausgelöste Unfälle in der Halbleiterproduktion Taiwans und Texas‘ 2020 die Lieferketten so beeinträchtigt, dass es bei Auto- und Elektronikpreisen noch heute spürbar ist.

Der Teufel steckt auch hier in vielen Details. Wenn ein Hafen in China eine Woche zusperrt, heißt das, dass Vorprodukte nicht bei Fabriken ankommen. Aber es heißt auch, dass in der nächsten Woche leere Container nicht da sind, weil sie noch voll auf hoher See herumschippern. Was wiederum bedeutet, dass Bananen verfaulen und irgendwelche Müsliriegel nie produziert werden. Was jetzt blöd ist für den/die Zerealienlieferant:in, der /die seine/ihre pünktlich gelieferten Getreidekörner nicht bezahlt bekommt und den anderen Kund:innen deshalb die Preise raufsetztum überhaupt liquide zu bleiben.

Die Inflation sitzt im Kapitalismus wie das Picknbleiben im Beislabend. Aber jetzt werden erprobte Gegenmittel (die auch nicht für alle Länder funktioniert haben) durch den Krieg, die Pandemie und Extremwetter in der Folge des Klimawandels wirkungslos. Das heißt wirklich nicht, dass der Kapitalismus ohne diese Extremerscheinungen nicht inflationär wäre. Aber es kann sein, dass dieses Zusammenspiel zu einer Trendwende führt, von der Niedriginflation auf Kosten der Arbeiter:innenklasse hin zur Hochinflation, die uns auch umgehängt werden soll.

Wir müssen uns auf eine Wirtschaftskrise vorbereiten

Zentralbanken, Wirtschaftsforscher:innen und Unternehmensverbände sagen deutlich, dass eine Stagflationsphase kommt. Das bedeutet, hohe Inflation mischt sich mit einer Stagnation, also niedrigem Wirtschaftswachstum, Firmenpleiten, Arbeitslosigkeit. So eine Phase gab es bereits nach den Ölpreisschocks in den 1970er Jahren und die Lösung der Herrschenden sollte uns zu denken geben. Es folgte nämlich die neoliberale Wende: Privatisierungen, Zerstörung von vielen sozialstaatlichen Errungenschaften, aber auch Angriffe aufs Arbeitsrecht und brutale Repression gegen die Gewerkschaften.

Auch nach der 2008er Krise war das die Lösung der EU. Griechenland wurde brutal ausgehungert. Das Lohnniveau hat sich bis heute nicht erholt ebenso wenig wie Gesundheitssystem oder Sozialleistungen. Italien, Spanien und Portugal erlebten Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 %, eine Generation an Niedrigstlohnarbeitenden wird diesen Rückstand in ihrem Leben nicht mehr aufholen. Der einzige Grund, warum das deutsche Diktat nicht für sich selbst gegolten hat, war, dass die Hartz-Reformen so einen Niedriglohnsektor schon in den Jahren zuvor geschaffen hatten.

In anderen Worten: Die Herrschenden spielen jetzt noch ein paar Monate mit Einmalzahlungen und Subventionen. Aber wenn klar wird, dass eine Rezession droht, werden sie probieren, die Kosten auf uns abzuwälzen und zumindest die Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit und Preisexplosion nicht mehr abfedern. Es kann der Arbeiter:innenbewegung gelingen, das durch harten Widerstand abzuwehren, die Herrschenden in dieser Situation der Instabilität zurückzudrängen. Das wäre auch gut, weil die Alternative nicht gut für uns ausschaut.

Dass eine neue imperialistische Zuspitzung droht, ist angesichts der Ukrainekriegs sonnenklar. Auch die Konfrontationen in den zehn Jahren davor, Ukraine, Syrien und Taiwan, haben gezeigt, dass sich EU, USA, China und Russland in eine neue Blockbildung und auch eine neue Eskalation begeben. Der imperialistische Krieg ist schon jetzt eine Bedrohung in den Gebieten, wo er geführt wird. Seine Ausweitung bedroht die Mehrheit der Weltbevölkerung.

Seit 2008 waren es auch keine rosigen Jahre für die ärmeren Teile der Arbeiter:innenklasse, Niedrigverdiener:innen, prekär Beschäftigte, Erwerbslose und Alleinerziehende. Die kommende Krise droht aber, breite Teile der Bevölkerung, auch die lohnabhängigen Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum, vor echte Existenzangst zu stellen. Das Kleinbürger:innentum im 21. Jahrhundert meint Akademiker:innen und kleine Manager:innen, aber auch Selbstständige und Besitzer:innen kleinerer Firmen.

Das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum stellte seit eh und je die soziale Basis des Faschismus und Rechtspopulismus. Wenn es den Herrschenden und den Hetzer:innen gelingt, die Wirtschaftskrise auf gierige Gewerkschaften oder Minderheiten zu schieben, lässt es sich ganz gut mobilisieren. Das hat sich leider auch bei den verschwörungstheoretischen Coronademonstrationen gezeigt, die einen Grundstock für eine rechte Bewegung in der Wirtschaftskrise darstellen können. Die Geschichte von FPÖ und Identitären über elitäre Verschwörungen und Interessengemeinschaften von weiß-österreichischen Kapitalist:innen mit den Arbeiter:innen sind leider tief verankert in diesen Kreisen. Aber nur eine linke Bewegung, die um Solidarität und radikale Umverteilung kämpft, kann verhindern, dass solche Bewegungen einen Massenanhang bekommen.

Preise steigen nicht, wenn wir es verhindern können

Das Problem der Kapitalist:innen beseht darin, dass sie bei steigenden Kosten und unsicherer Profiterwartung nicht wissen, ob sie ihre Warenmenge verkaufen können. Das Problem der Arbeiter:innen ist, dass die Preise so hoch sind. Hohe Preise können aber verhindert werden: kurzfristig durch Preisdeckel, mittelfristig durch die demokratische Kontrolle über Produktion und Preisfestsetzung.

Mal wieder zeigt die kapitalistische Krise, dass der Markt eben nicht „regelt“, sondern der Markt- und Wettbewerbswirtschaft Tendenzen zur Krise innewohnen. Alleine, dass weiterhin günstig produzierter Wasserkraftstrom wegen steigender Gaspreise ebenfalls durch die Decke geht, macht das ein für alle Mal klar.

Aber Preise können auch einfach beschränkt werden. Besonders gerne machen das kapitalistische Regierungen im Krieg, wo die staatliche Nachfrage (nach Waffen und Kriegsproduktion) so in die Höhe geht, dass Mitschneiderei den Kapitalist:innen das Logischste wäre. Aber auch in der Nachkriegszeit, und in Österreich für bestimmte Produkte bis in die 1970er Jahre, wurden Preise immer wieder gedeckelt. Bis heute gibt es Preiskommissionen für Medikamente, einen Richtwertmietzins für Altbauwohnungen. Für Energie, Grundnahrungsmittel und Wohnungen, egal ob alt oder neu, sind solche Preisdeckel jetzt dringend notwendig.

Die Preiskommissionen aus Gewerkschaft und Wirtschaftskammer haben allerdings nicht vor allem die Lage der Arbeiter:innen im Blick gehabt, sondern maximal die schlimmste Verelendung eindämmen wollen. Diesen bürokratischen, sozialpartner:innenschaftlichen Preiskontrollen von oben haftet immer etwas Konservatives, Zurückhaltendes und in der Krise Unzureichendes an. Marxist:innen sind deshalb für tatsächlich demokratische Entscheidungen der Arbeitenden und der Konsument:innen über Preise, Diskussionen und darüber, was wir brauchen und wie teuer es sein darf. Gerade jetzt wird offensichtlich, dass demokratische Kontrolle über die Produktion eine deutlich bessere Alternative ist, als „der Markt regelt“.

Inflation bedeutet aber immer auch eine Kürzung der Reallöhne und realen Sozialleistungen. Also dessen, was Arbeiter:innen und Erwerbslose ausgeben können. Wenn die Preise schneller steigen als die Löhne, ist das eine Umverteilung von unten nach oben. Deshalb fordert der radikale Teil der Arbeiter:innenbewegung schon lange die automatische Inflationsanpassung von Löhnen, Arbeitslosengeld und Sozialleistungen. Dazu würde dann über Lohnerhöhungen verhandelt und gestreikt werden – die Grundanpassung wäre schon vorweggenommen.

Es ist bemerkenswert, dass die türkis-grüne Regierung sich bei einigen Sozialleistungen schon auf diese Maßnahme eingelassen hat, die sonst selbst linke Teile der SPÖ nur zurückhaltend fordern. Es ist auch ein Anzeiger dafür, wie bedrohlich die kommende soziale Krise wahrgenommen wird. Denn generell gilt: bürgerliche Regierungsmaßnahmen mal Zehn ergibt, was notwendig wäre, damit die Lage für uns nicht schlimmer wird.

Leitzinserhöhung heißt noch mehr Lebenskostenkrise

Stattdessen setzen die Bürgerlichen, also Finanzminister:innen und Zentralbanken darauf, die Geldmenge zu beschränken. Statt auf die konkreten Preisentscheidungen wollen sie auf das Makrosystem einwirken. Durch Zinserhöhungen sollen Banken bewogen werden, selber weniger zu borgen, daher weniger Kredite vergeben zu dürfen (Geld zu produzieren, wie wir oben erklärt haben). Die Nachfrage nach Investitionsgütern und kreditfinanziertem Konsum wird so eingedämmt, die Preise sollten fallen.

Aber: Das hat massive Auswirkungen: Gebeutelte Unternehmen können Zahlungsunfähigkeit nicht durch Kredite überbrücken, gehen insolvent und Arbeiter:innen landen auf der Straße. Verschuldete Arbeiter:innen mit „variablen“ Hypothekenzinssätzen können ihr Haus oder Auto nicht mehr abbezahlen, und generell geht die Konsumnachfrage zurück.

Gleichzeitig ist nicht gesagt, dass das überhaupt wirkt. Die gegenwärtige Inflationsperiode geht nicht auf eine „heißgelaufene“ Wirtschaft, schnell wachsende Löhne und massive Investitionen zurück, sondern auf fallende Profitraten und stockende Lieferketten. Daran ändert der erhöhte Leitzins gar nichts, er droht aber den Rezessionsanteil an einer Stagflation noch zu verschlimmern.

Auch einzelne Sozialdemokrat:innen und Gewerkschafter:innen würden sich zu Zinserhöhungen überreden lassen, wenn sie von einer „nachfrageseitigen“ (also von Investitionen und Lohnerhöhungen) getriebenen Inflation ausgehen. Das verstehen sie teilweise unter verantwortungsvoller, keynesianischer Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig fordern sie den Beschäftigungserhalt durch staatliche Subventionen und Absicherung der sozial am schlimmsten Betroffenen. Das bedeutet aber nur, dass die Kapitalakkumulation stockt, Firmen nicht mehr produzieren, während die Auswirkungen aus Steuern beglichen werden. Und die zahlen zu 80 % Arbeiter:innen aus Einkommens- und Konsumsteuern.

WIFO-Preisdeckel: Umverteilung von unten nach oben

Ein anderer bürgerlicher Ansatz wird im Moment mit der lieben Bezeichnung Felbermayr-Deckel diskutiert (der Autor dieser Zeilen muss dabei eher an die Kaffeehausschulden des WIFO-Chefs denken). Der neue Kopf an der Spitze des wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstituts empfiehlt, die Energiekosten abzufedern, indem der Staat einen Höchstpreis festsetzt (klingt schon mal gut) und den Unternehmen die Differenz zum Marktpreis bezahlt (klingt schon mal teuer). Das wäre aber nur ein riesiges Geschenk an die Übergewinne (auch zu diesem Begriff schrieben wir einen eigenen Artikel in dieser Ausgabe der flammenden) der Energiekonzerne. Ein Teil würde aus unseren Steuern kommen, ein anderer Teil durch spätere soziale Kürzungen nachfinanziert werden. Der Vorschlag ist also eher nicht so lieb und auch nicht nur teuer, sondern zu Ende gedacht wirklich reaktionär.

Grundbedürfnisse sichern durch Vergesellschaftung

Aber die garantierte Deckung der Grundbedürfnisse ist das Problem, das sich jetzt allen stellt. Für eine Lösung dessen müssen Linke jetzt den Protest sammeln, Kämpfe gewinnen können. Und gerade jetzt ist offensichtlich, dass die kapitalistische Produktionsweise diese Grundbedürfnisse nicht decken kann.

Wir fordern deshalb die Vergesellschaftung von Heizung, Wohnen und Grundnahrungsmitteln. Wir sprechen den Energie-, Immobilien- und Lebensmittelriesen das Recht ab, mit unserer Lebensgrundlage zu spielen. Wir wollen die entschädigungslose Verstaatlichung von OMV, Verbund, BUWOG, Agrana und den weniger bekannten Namen.

Aber das sind teilweise schon verstaatlichte und teilstaatliche Unternehmen, die aber als Aktiengesellschaften nach Marktlogik funktionieren. Das zeigt leider, dass eine Verstaatlichung unter bürgerlichen Regierungen nur die halbe Miete ist. Vergesellschaftung heißt mehr als das, bedeutet auf der einen Seite eben keine Aktienunternehmer:innen unter ÖBAG-Verwaltung, sondern demokratische Entscheidungen durch Kommissionen der Beschäftigten und Konsument:innen – wie ein Wiener Linienfahrgastbeirat, aber ernsthaft, gewählt und mit einer tatsächlichen Entscheidungsmacht.

Zusammen kämpfen, den Scherbenhaufen den Herrschenden überlassen!

Wir müssen um diese Forderungen kämpfen. Nicht nur, um der kommenden rechten Mobilisierung den Massenanhang zu verunmöglichen, sondern auch, weil es in den nächsten Monaten um unsere Lebensgrundlagen geht. Aber dazu kommt: Die Krise untergräbt jede Legitimation der bürgerlichen Regierungen, egal ob türkis-grün im Bund, rot-pink in Wien oder die Ampel in Deutschland.

Wir Marxist:innen sind in einer Position der Schwäche. Aber wir sind auch in einer klaren, unmissverständlichen Oppositionsrolle. Akademische, bürgerliche und reformistische Teile der Linken tendieren dazu, den Kapitalismus zu verteidigen. Vor allem wenn die rechten Argumente gegen die Regierung zu sehr an den Haaren herbeigezogen sind, wollen sie beweisen, dass es so arg nun auch nicht ist. Sie begeben sich in die Position der Herrschenden, ohne an der Macht zu sein. Sie machen sich selber zur Zielscheibe des berechtigten Protests, ohne jede Not.

Die Opposition ist die Rolle, in der sich Marxist:innen im Kapitalismus immer befinden. Aber sie ist eine besonders dankbare, wenn die Regierung ihre Legitimation mit jedem Tag mehr verliert. Die Herrschenden sind jetzt schwach und instabil. Sie werden darauf mit Zugeständnissen, aber auch Repression reagieren. Aber sie befinden sich in einer Position, wo sie Kämpfe verlieren werden. Und das kann die Opposition nachhaltig stärken, die Schwäche und den gesellschaftlichen Vertrauensverlust wettmachen, wenn wir im gemeinsamen Kampf siegreich sind.

Das bedeutet die Einheitsfront, das prinzipienfeste Bündnis mit allen Linken und Teilen der Arbeiter:innenbewegung, die jetzt um die richtigen Forderungen kämpfen wollen. Es heißt auch, die „Volksfront“, also das Bündnis mit den Bürgerlichen gegen besonders reaktionäre oder besonders blöde Teile der Rechten zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.

International: Sturz der Regierung oder Zahlungsstreik – oder beides?

Es ist in dem Artikel schon ein- oder zweimal angeklungen: Die Teuerungswelle ist ein internationales Phänomen. Das bedeutet, auch der Widerstand muss international (und international solidarisch) sein. Aktivist:innen außerhalb von Österreich haben sich schon gute Ideen einfallen lassen.

In Sri Lanka ist als Reaktion auf die galoppierende Inflation die Regierung gestürzt worden. Nach einer Besetzung des Präsidentenpalasts traten die Minister:innen zurück. Als die Protestierenden trotzdem dort blieben (und Streiks im ganzen Land vorbereiteten), verschwand auch der rechte Präsident. Die Bewegung hat jetzt große Aufgaben vor sich. Zwischen chinesischem und US-amerikanischem Imperialismus ist wenig Spielraum, die soziale Krise in Sri Lanka sitzt tief und auch die rassistische Unterdrückung der Tamil:innen bietet Potential für reaktionäre Gegenmobilisierungen. Aber der Sturz einer Regierung durch Massenproteste ist mal ein Ansatz der zumindest nicht zu zaghaft ist.

Auch aus Britannien erreichen aufmerksame Social-Media-Nutzer:innen schöne Bilder. Eine Million Flugblätter hat die Initiative „Don’t Pay UK“ gedruckt, und 31.000 Unterstützer:innen und 4.000 Aktivist:innen in Gruppen organisiert. Sie fordern die Kürzung der Energiepreise und wollen ab 1. Oktober ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, wenn sich 1 Million dahinter stellen – Mitte August waren es mehr als Hunderttausend.

Und auch in Deutschland orientieren sich Teile der radikalen Klimabewegung auf die Vergesellschaftung der fossilen Energieunternehmen um. „RWE und Co enteignen“ orientiert sich am an der Stimmenzahl gemessen erfolgreichen Kampf gegen privatisierte Immobilien in Berlin und verbindet die Kritik an Öl und Gas mit einer Forderung nach Energieproduktion im Interesse der Bevölkerung.

Löhne rauf, Preise runter!

Und auch in Österreich nehmen Linke und Gewerkschaften die Teuerung sehr ernst. Der ÖGB hat zu einer Betriebsrätekonferenz mobilisiert und organisiert Teuerungskundgebungen in allen Bundesländern Mitte September. Zwischen radikaler Linker und Zivilgesellschaft formieren sich Bündnisse.

Gleichzeitig stehen im Herbst Lohnverhandlungen an, die mit riesigen Reallohnverlusten umgehen müssen. Die Verhandler:innen stehen unter großem Druck der Belegschaften. Und das ist gut so. Der Kampf um höhere Löhne und niedrigere Preise geht Hand in Hand. Eine starke Bewegung um beide Forderungen verhindert auch ein Einknicken, das beim ÖGB öfter vorkommt. Dazu muss sich eine Teuerungsbewegung aber das Vertrauen der Belegschaften erarbeiten, durch Solidaritätsaktionen in den Verhandlungen, gemeinsame Diskussionen und Aktionskonferenzen und echte tatkräftige Unterstützung ihrer Forderungen.

Dem ÖGB ist immer zuzutrauen, eine große Dampfablass-Aktion zu organisieren, den gesellschaftlichen Druck aber klein zu halten. Die Riesendemo gegen 12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche, auf die genau gar nichts gefolgt ist, bleibt uns in bitterer Erinnerung. Aber das muss man der Gewerkschaftsspitze nicht erlauben. Solche breiten Mobilisierungen liefern eine Chance für Aktivist:innen, alle möglicherweise Interessierten zu erreichen und den Druck für konsequente Kämpfe aufzubauen. Eigene, tragfähige Aktionen der Linken erhöhen die Aufmerksamkeit der Gewerkschaftsführung und der Sozialdemokrat*innen und erschweren diesen den Ausschluss der kampfbereitesten Elemente.

Und jetzt: Bilden wir uns, organisieren wir uns, bewegen wir uns!

Der Herbst 2022 ist ein Krisenherbst. Er muss auch ein Kampfherbst werden. Die Inflation stellt die Arbeiter:innenklasse vor eine reale Existenzbedrohung und die herrschende Klasse vor eine ernsthafte Legitimitätskrise. Die kommende Rezession wird durch massive Angriffe auf uns und weitgehende Planlosigkeit der Regierung geprägt sein.

Denn Preiserhöhungen sind eine Entscheidung der einzelnen Kapitalist:innen, wo die Gegenentscheidung den Einzelnen auch nichts bringt. Weder durch gute Worte noch durch Pressekonferenzen kann der „ideelle Gesamtkapitalist“ türkis-grün daran etwas ändern, bevor es zu spät ist. Und andere Lösungen, die er hätte, gehen nur auf unsere Kosten.

Es ist jetzt an uns Revolutionär:innen und Marxist:innen, das Bündnis mit allen kampfbereiten Teilen der Arbeiter:innenklasse zu suchen. Das notwendige Problembewusstsein über die Teuerung ist da, die Zeit für eine gemeinsame Analyse der tatsächlichen kapitalistischen Ursachen bleibt auch. Durch Massenmobilisierungen, greifbare aber radikale Forderungen und nicht zuletzt die für alle offensichtliche Schwäche bürgerlicher Antworten, kann die Teuerung zurückgeschlagen werden.




Teuerungskrise 2022

Mo Sedlak, ursprünglich veröffentlicht auf http://arbeiterinnenstandpunkt.net/, Teil 1, Infomail 1204, 12. November 2022

Die Preise explodieren, nicht nur in Österreich, sondern von Europa bis in die USA. Energie, Lebensmittel und Mieten sind für breite Teile der Bevölkerung nicht mehr leistbar. Für neokoloniale Länder im globalen Süden gehört diese Existenzbedrohung der Arbeiter:innenklasse und der Erwerbslosen schon länger zur Krisennormalität. Aber dass die beschworene Preisstabilität auch in den imperialistischen Zentren wackelt, zeigt, wie gefährlich der weltweite Kapitalismus unter Krieg und Gesundheitskrise taumelt. Das ist mehr als eine spannende Beobachtung: Wenn es nicht gelingt, die Lebenskostenkrise der Arbeiter:innenklasse abzuwehren, droht eine tiefe soziale Krise und eine weitere Schwächung der Linken.

Vor nur zwei Jahren hat das Gegenteil den Zentralbanken und Unternehmensverbänden Kopfweh gemacbereitet. Die jährlichen Preiserhöhungen wollten und wollten nicht an das „Inflationsziel“ von 2 % herankommen. Die Geldmengenpolitik der EZB ging direkt in Aktienblasen statt in die Supermärkte und Firmeninvestitionen.

Beides, sowohl Niedrig- als auch Hochinflation, sind Krisenphänomene des Kapitalismus seit der globalen Rezession 2008. Die Hochinflation ist allerdings deutlich kurzfristiger existenzbedrohend für Arbeiter:innen, Erwerbslose und Arme. Um das effektiv zu verhindern, müssen wir um mutige Forderungen kämpfen, Preise beschränken und die wichtigsten Wirtschaftsbereiche von Heizung bis Lebensmitteln unter demokratische Kontrolle stellen. Und wir müssen verstehen, was sich da eigentlich tut. Eine marxistische Analyse ist zwar anstrengend, aber hilfreich.

Hochinflation ab 2022

„Die Inflation ist zurück“ haben unsere deutschen Genoss:innen von der Gruppe Arbeiter:innenmacht Anfang des Jahres geschrieben. „Inflation is here to stay“ verkündete die US-Zentralbank FED. In der anhaltenden Coronakrise sind dramatische Preissteigerungen in die imperialistischen Zentren zurückgekehrt mit Anstiegen, wie sie zum Beispiel Österreich seit den Ölpreisschocks der 1970er Jahre nicht mehr erlebt hat.

Das hat schon letztes Jahr begonnen. Im September 2021 lagen die durchschnittlichen „Verbraucher:innenpreise“ um 3,3 % über dem Vorjahresmonat. Der durchschnittliche Wocheneinkauf („Miniwarenkorb“) war sogar um 6,8 % teurer. Vor allem die Preise für Energie und Gastronomie sind damals schnell gestiegen, Preise, die im ersten Coronajahr 2020 stark gefallen waren.

Das war kein „Wiederaufholen“ zum Vorkrisenniveau, was die Preisexplosion 2022 klar zeigt. Mittlerweile gehen Wirtschaftsforscher:innen von einer Jahresinflation um die 10 % aus. Die Preise für Heizung und Strom haben sich verdoppelt bis vervierfacht. Wien Energie zum Beispiel hat dieses Jahr schon mehrmals die Preise für Strom, Gas und Fernwärme erhöht. Die „Preisindizes“, an denen sich diese Rechnungen orientieren, haben sich dieses Jahr für Gas vervierfacht (+ 323 %), für Strom mehr als verdreifacht (+ 249 %).

Das ist keine österreichische oder europäische Besonderheit. Auch in den USA liegt die Durchschnittsinflation bei 9 %, in China um die 5 %.

Dazu drei Nebensätze: In den neokolonialen Ländern des globalen Südens sind Hoch- und Hyperinflation nichts Besonderes oder Neues. Auch das soziale Elend, das dadurch zum Beispiel in Venezuela, der Türkei oder Argentinien entsteht, ist nicht geringer oder normaler als in den imperialistischen Zentren. Trotzdem: Wenn es den Imperialist:innen nicht gelingt, solche Entwicklungen vor der eigenen Haustür abzuwenden, liegt einiges im Argen.

Diese Zahlen bilden einen krassen Unterschied zu den letzten 15 Jahren. Nach der Finanzkrise 2008 haben sich die US- und EU-Zentralbanken regelmäßig ein „Inflationsziel“, also durchschnittliche Preissteigerungen von 2 % pro Jahr gesetzt. Und sie sind regelmäßig daran gescheitert, trotz radikaler Maßnahmen wie „Quantitative Easing“, Null-Leitzins und direktem Kauf von Unternehmensanleihen (dazu später mehr).

2022, unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs und anhaltenden Corona-Lockdowns, sind die imperialistischen Staaten aus einer Niedriginflationsphase in allgemeine Teuerungsexplosion übergegangen. So richtig passt es quasi nie.

Eine soziale Krise, die Lebenskosten

Das ist nicht egal, sind nicht nur Details der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Ende 2022 werden sich viele Haushalte schwertun, Nahrungsmittel und Heizung zu bezahlen. Die stark angehobenen Mieten (Richtwertmietzins) und noch stärker steigenden Betriebskosten machen Angst vor Zwangsräumung und Wohnungsverlust.

In Österreich droht im Winter eine breite soziale Krise, eine Lebenskostenkrise. Zum ersten Mal seit vielen Jahren werden Hunderttausende schlagartig und massiv an Lebensstandard verlieren.

Der Kreditschutzverband KSV1870 rechnet deshalb 2022 mit massiv steigenden Privatkonkursen. Alltägliche Rechnungen werden sich so auftürmen, dass Haushalte nicht mal hinterherkommen, wenn sie ihre Ausgaben massiv einschränken.[i]

Das heißt konkret: Im Winter 2022 werden sich zehn- oder hunderttausende Haushalte die Heizung nicht leisten können. Wenn die Energieversorger:innen sie ihnen dann abdrehen, frieren sie sich zu Tode. Wenn der Hahn nicht gesperrt wird, schlittern entweder der Haushalt in Schuldenfalle und Konkurs, oder das Unternehmen, oder beide.

Das heißt auch: Im Winter 2022 werden sich zehntausende Eltern zwischen Essen und Heizung im Kinderzimmer, zwischen Waschmaschinenreparatur oder Wocheneinkauf entscheiden. Und wenn die Lebensmittelpreise so weiter steigen wie bisher, dann wird sich keins davon wirklich ausgehen.

Auch die Kreditversicherungsgesellschaft Coface gibt vierteljährlich einen Bericht heraus, der das Risiko von Zahlungsausfällen angibt. Sie berechnet quasi, wie viele Menschen es sich nicht leisten können, ihre Rechnungen zu bezahlen, sowohl Konsument:innen (zum Beispiel Wien Energie-Kund:innen) als auch Unternehmen. Sie geht für 2022 von einem hohen (und dramatisch gestiegenen) Risiko in der Agrar-, Chemie-, Bau-, Metall- und Energiebranche aus.[ii]

Das bedeutet auch: Bei vielen Unternehmen steigen gerade die Produktionskosten und sie wissen nicht, ob ihnen jemand ihre Produkte noch abkaufen kann. Das führt zu Baustoffmangel und stockenden Produktionsketten, aber auch zu Insolvenzen und Arbeitsplatzverlust. Für Unternehmer:innen ist ein Konkurs ärgerlich, für zehntausende Arbeiter:innen, die dabei ihren Job verlieren, ist das existenzbedrohend.

Schon jetzt betrifft die Inflation vor allem Arbeiter:innen, Erwerbslose, Alleinerziehende und prekär Beschäftigte. Bei einer folgenden Rezession oder anhaltenden Stagnation würden wir doppelt draufzahlen.

Was ist Inflation nochmal?

Inflation ist ein Angstwort. Für normale Menschen, weil sie sich für ihr Geld weniger leisten können, und für Ökonom:innen, weil sie sich schwer tun, sie wirklich zu verstehen, geschweige denn zu erklären.

Inflation bedeutet eine anhaltende und allgemeine Preiserhöhung. Obwohl im Kapitalismus die Produktion immer effizienter, die Arbeitskosten pro Stück immer niedriger, die Transportwege immer perfekter abgestimmt werden, steigen die Preise.

Aber das wird in erster Linie als Durchschnittswert gemessen: Energiekosten-, Verbraucherpreis-, Investitionskostenindex. Das macht Sinn, um die Situation von Betroffenen zu beschreiben, weil sie für den bestehenden Konsum so und so viel Prozent mehr Geld ausgeben müssen.

Wenn es jetzt aber „Ausreißer“branchen gibt (und die gibt es eigentlich immer), steigt auch der Durchschnittswert sofort. Wenn Russland den Ölhahn zudreht, macht das unmittelbar erstmal nichts mit den Ticketpreisen für die Wiener Linien, aber die durchschnittlichen Preise für Verkehr schießen in die Höhe. Umgekehrt haben in den vergangenen Jahren die sinkenden Preise für PCs den Verbraucherpreisindex ordentlich nach unten gezogen, obwohl Nudeln im Supermarkt jedes Jahr fünf Cent mehr gekostet haben.

Allgemeine Preissteigerungen bedeuten, dass so gut wie alle Zeilen auf dem Kassazettel raufgehen. Dafür gibt es zwei Gründe. Wenn der Gaspreis hochgeht, erhöhen sich auch die Energiekosten in der Produktion, das könnte man „Zweitrundeneffekt“ nennen. Und gleichzeitig wären Firmen ja blöd, bei einer sich ausbreitenden Preissteigerung nicht mitzumachen und ein bisschen zu übertreiben (solange Konsument:innen sich das noch leisten können und tatsächlich mehr Geld liegenlassen), das heißt dann „Mitnahmeeffekt“.

Im Moment beobachten wir beides und noch viel mehr. Aber wir sehen auch, dass genau das „Sich- noch-leisten-Können“ bald nicht mehr gegeben sein wird. Viele Haushalte konnten während der Coronalockdowns gar nicht so viel Geld ausgeben wie sonst, weil Beisln geschlossen waren und der Sommerurlaub an der Reisesperre scheiterte. Dieses „zwangsersparte“ Geld ist aber schon aufgebraucht, die Menschen sind nicht mehr flüssig und haben ein Liquiditätsproblem.

Das ist die Ursache der kommenden sozialen Krise und auch die Angst der Unternehmen. Wenn jetzt einzelne Firmen ausscheren, die Preise nicht erhöhen, dann steigen ihre Produktionskosten trotzdem und ihnen geht die Liquidität aus. Schlimmer noch, wenn die direkte Konkurrentin mehr Gewinne macht, kann sie schneller wachsen und in der Konsequenz den Markt dominieren. Und es gibt ja auch keine Belohnung, als einzelnes Unternehmen nicht mitzuschneiden vom großen Kuchen. Das lässt sich dann nur wer andere/r schmecken. Also reiten sie die Welle mit, bis sie bricht und darüber hinaus. Und hoffen, dass der kapitalistische Staat, der so genannte „ideelle Gesamtkapitalist“, Regeln für alle einführen wird, damit man nicht mehr mitziehen muss.

Erst Niedriginflation, dann Preisexplosion

Da hat sich, wie erwähnt, recht rasch etwas geändert. Der weltweite Kapitalismus ist von einer Niedrig- in eine Hochinflationsphase übergegangen. Es ist wichtig zu verstehen, warum es im Kapitalismus überhaupt Inflation, also allgemein steigende Preise gibt, aber auch, warum er zu niedrige Inflation genauso kennt wie explodierende Werte.

Denn eigentlich, und auch dazu später mehr, bedeutet Inflation, dass Unternehmen nicht mehr investieren, obwohl Konsument:innen mehr kaufen wollen und könnten. Firmen entscheiden sich gegen Investitionen, wenn die Profitrate niedriger ist als in anderen Bereichen – dann erhöhen sie zum Beispiel einfach die Preise, fangen so das „verfügbare Einkommen“ auf und legen es in Finanzprodukten an.

Nach der Finanzkrise 2008 befand sich der Kapitalismus in Europa und den USA in einer tiefen Verwertungskrise. Schon Jahre davor hatten Unternehmen lieber in Spekulationsblasen (am Immobilien- und Aktienmarkt) investiert. Dieses zusammenbrechende Kartenhaus riss dann auch Fabriken aus Ziegeln und Stahl mit. Trotzdem folgte eine Phase von sehr, sehr langsam wachsenden Preisen, vor allem bei den Kapitalgütern: Firmenwachstum war billig, und billiger als für Arbeiter:innen, deren Wocheneinkäufe schon teurer wurden. Und das, obwohl die Wachstumsraten von Produktion und Profiten wirklich niedrig waren.

Dafür gab es drei Gründe, wie unser Genosse Markus Lehner von der Gruppe Arbeiter:innenmacht in Deutschland erklärt (seinen Artikel findest du ebenfalls in dieser Ausgabe der flammende):[iii]

„(1) Die Gewichte im Welthandel hatten sich stark zu Gunsten von China verschoben, das als Lokomotive der Weltwirtschaft mit seinen Produktionsketten den Weltmarkt weiterhin mit billigen Herstellerpreisen bedienen konnte; (2) die Antikrisenpolitik in den imperialistischen Ländern fußte weiterhin auf Stagnation der Löhne und Massenkaufkraft; (3) trotz der Politik des billigen Geldes vertraute das globale Kapital aus Angst vor schlimmeren Verlusten in sogar gesteigertem Maße ihr Geld den klassischen imperialistischen Anlagemärkten an. In Folge wurden viele der angeblich aufsteigenden Schwellenländer (z. B. Brasilien, Türkei) durch Kapitalmangel und schrumpfende Weltmarktchancen gebeutelt. In vielen dieser Länder breitete sich bereits Stagflation aus.“

Auch 2020 – 2022 führen die Produktionsunterbrechungen in Coronalockdowns (vor allem die zeitweise Schließung wichtiger chinesischer Häfen) und der russische Angriffskrieg in der Ukraine zu niedrigen erwarteten Profitraten. Firmen wissen nicht, ob sie Vorprodukte kaufen können (oder zu welchem Preis), ob sie überhaupt produzieren können und ob das irgendwer kaufen wird. Jetzt reagieren sie aber genau umgekehrt, indem sie ihre Preise hinaufsetzen und die Produktionsmenge heruntersetzen.

Ein Grund dafür ist die internationale Tendenz zur „Deglobalisierung“ durch Krieg, Sanktionen und Handelssanktionen. Auch der damalige Wirtschaftsmotor China, in den europäische Gewinne profitabel investiert werden konnten, läuft nicht richtig an. Zahlungsausfälle im Immobiliensektor und wiederholte Unterbrechungen in Produktion und Handel beuteln den neuen Imperialismus. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass sich das so schnell ändern sollte.

Der Kapitalismus ist ein inflationäres System

Um zu verstehen, dass der Kapitalismus unmenschlich und instabil ist, muss man nur die Augen aufsperren. Um zu verstehen, warum das so ist, kann es hilfreich sein, den Blick auf ein bisschen marxistische Ökonomie zu richten. Auch wenn die teilweise unnötig kompliziert geschrieben ist.

Im Kapitalismus arbeiten die Kapitale, die sich in Unternehmen und Banken sowie Interessenverbänden sammeln, gegeneinander. Ein/e Kapitalist:in tut entweder, was notwendig ist, um ihre Investitionen zu vermehren (Kapital zu akkumulieren), oder sie geht im Wettbewerb unter. Das bedeutet, Firmen versuchen vor allem, Profit zu scheffeln, und agieren, wenn sie sich dafür Profit erwarten. Das sind grundlegende Widersprüche, zwischen Unternehmen genauso wie zwischen Unternehmen und Beschäftigten, und diese Widersprüche treiben den Wirtschaftsmotor an.

Solche Widersprüche gestalten den Kapitalismus zu einer grundlegend inflationären Wirtschaftsweise, zu einer Art Produktion, in der Preise weiter und weiter steigen. Das ist eigentlich, Vorsicht Wortwitz, widersprüchlich. Denn im Wettbewerb führen Firmen immer effizientere, günstigere Produktionsweisen ein, unterbieten sich gegenseitig im Preis und steigern die Arbeitsproduktivität. Um den Lebensstandard einer Arbeiter:in aus dem 19. Jahrhundert zu erreichen (Zimmer zu zehnt und ein Stückerl Fleisch am Sonntag), muss man nicht mehr 80 sondern eher 5 Stunden in der Woche arbeiten. Aber man wird halt auch sozial isoliert und stirbt mit ungefähr 45 an Mangelernährung.

Der Schlüssel zur Inflation ist das Geld. Preise ergeben sich aus den produzierten Waren und dem Geld, das dafür ausgegeben wird. Mehr Waren mit gleich viel Geld heißt Deflation, mehr Geld für gleich viele Waren heißt Inflation. Aber gleich viele Waren gibt es genauso selten (nämlich niemals) wie gleich viel Geld.

Geld ist ebenfalls eine Ware, also ein Produkt, das hergestellt wird, damit es auf dem Markt gekauft wird und die Herstellerin Profit erzielt. Marx nennt das „Geldware“, ein Produkt, das gegen alle anderen direkt eingetauscht werden kann. So spart man es sich, für seinen produzierten Tisch genau den/die Abnehmer:in zu finden, der/die den Mantel loswerden will, den man wiederum selber haben will. Und Sparen ist nicht nur eine bürgerliche Tugend, Zeit sparen, effizient sein, ist eine notwendige Voraussetzung für kapitalistisches Wachstum.

Typische Geldwaren sind Kaurimuscheln, Goldstücke oder Silbermünzen. Und auch die werden dann produziert, wenn es Nachfrage gibt. In einer wachsenden Gesellschaft, die immer mehr Waren zum Tausch herstellt, ist eine gewisse Nachfrage nach Geldwaren immer gegeben. Also: Die Geldware hat einen Gebrauchswert, jemand möchte sie haben, und deshalb erst kann sie einen Tauschwert bekommen.

Wie profitabel die Produktion ist, hängt vom Tauschwert und von  alternativen Investitionsmöglichkeiten ab. Als zum Beispiel der Goldrausch in Kalifornien auf dem absteigenden Ast war, hat man stattdessen mit Denimhosen mehr Geld gemacht, dachte sich zumindest Levi Strauss, der die Blue Jeans erfand.

Und dann gibt es bei Marx noch Geldzeichen, Fetzen Papier, die versprechen, dass man dafür eine Geldware bekommt. Solange die frei weitergetauscht wird, kann sie wie Geld verwendet werden. Und auch diese Geldzeichen wollen gedruckt werden. Auch das ist ein Produktionsprozess, den sich Kapitalist:innen nur antun, wenn Gebrauchswert, Nachfrage und Profit winken.

Heute sind Geldzeichen vor allem Zeilen im Computer: Banken vergeben Kredite, indem sie einer Firma versprechen, Geld zu überweisen, wenn sie etwas kaufen oder wen anstellen will. Für einen Kredit gibt es Zinsen, für ein bedrucktes Geldzeichen bekommt man ein anderes (nämlich eine Aktie), und für eine mühsam geprägte Silbermünze kriegt man einen Wocheneinkauf oder ein Bussi vom Enkerl. Alles sehr profitabel oder zumindest schön.

Das Herstellen von Geld ist profitabel, weil mit einer wachsenden Warenmenge auch die Nachfrage nach dem Tauschmedium steigt. Und weil viele Firmen, Banken, Prägereien miteinander konkurrieren, stellen sie sogar ein bisschen mehr her, als eine einzelne Firma müsste. Da kommt die Inflation prinzipiell einmal her. Und das genauer zu verstehen, heißt auch zu verstehen, wann die Inflation besonders hoch und niedrig ist.

Die Geldproduktion ist übrigens genau deshalb auch genau reguliert. Staaten kontrollieren in Extremfällen sogar die Preise (zum Beispiel in den Weltkriegen, oder in Österreich früher die Lohn-Preis-Kommissionen der Sozialpartner:innenschaft). Davor gab es die Abmachung, dass weltweit nur so viel Geld in Umlauf sein durfte, wie Goldreserven in Tresoren lagern (der Goldstandard), später dann in Gold und Dollarscheinen mit einem festgelegten Tauschverhältnis (das „Bretton-Woods-System“).

Nach der Hochinflation der 1970er Jahre wurden mit der „neoliberalen Wende“ auch diese strikten Regelsysteme abgeschafft. Aber in schwächerer Form existieren sie immer noch. Zum Beispiel verlangt die Europäische Zentralbank von Einzelbanken, dass sie einen gewissen Prozentsatz der Kredite, die sie ausgeben, mit Reserven decken können. Diese Reserven leihen sie sich von der Zentralbank, die frei entscheidet, wie viel sie davon ausgibt. Nachdem die Kreditvergabe durch Banken der wichtigste Aspekt moderner Geldproduktion ist, bedeuten die Regeln für Banken eine Beschränkung der Geldproduktion.

Preise steigen nicht, sie werden erhöht

Das Zusammenspiel von Geldmenge, Geldproduktion und Gebrauchswert der Geldware ist aber nicht alles. Sie sind nur die Rahmenbedingungen, das „Makrosystem“, in die sich konkrete Preisentscheidungen einordnen. Preise steigen nicht, sie werden erhöht.

Ein/e Supermarktkassierer:in pickt einen neuen Preiszettel ins Regal, jemand in der Firmenzentrale gibt eine neue Zahl ins Kassensystem ein, eine Managerin oder ein Manager beschließen: clever Nudeln kosten ab nächstem Montag Euro 1,39, und drei Wochen drauf gibt es eine Sonderaktion, wo sie kurzzeitig auf Euro 0,99 heruntergesetzt werden. Das sind Managemententscheidungen, die Entscheidungen von wirtschaftlich handelnden Personen im Interesse des Kapitals, eingebettet in Wettbewerb und Markt – aber der Markt lässt keine Preise steigen.

Das Verwechseln von Menschen und Waren, von Macht und Markt, ist leider tief in das menschliche Bewusstsein eingefressen – im Kapitalismus. Marxist:innen nennen das Warenfetisch, konkrete Dinge und Lebensverhältnisse mit einem mystischen Markt zu verwechseln. Es ist zwar der/die Personalchef:in, der/die die Entlassungspapiere unterschreibt, der Aufsichtsrat, der die Belegschaft halbiert. Aber oft sprechen wir vom Arbeitsmarkt, von der Auftragslage, oder im falschesten Fall von der Massenzuwanderung, die unser Einkommen auf 55 % Arbeitslosengeld mit begleitenden AMS-Schikanen kürzt.

Konkrete Menschen, Kapitalist:innen und ihre Managementstäbe, entscheiden also, wie viel sie produzieren lassen und für welchen Preis das verkauft wird. Wenn nun die „effektive Nachfrage“ (das heißt, jemand mag das haben und kann es auch bezahlen) steigt, können Kapitalist:innen entweder mehr herstellen oder das Hergestellte teurer verkaufen, um sich den verfügbaren Batzen Geld einzustecken.

In der Tendenz (und diktiert vom Makrosystem, in das alle eingebettet sind) wird dann investiert, wenn die Investition sich auszahlt, wenn dabei ein Profiteuro pro Investitionseuro herausspringt, den man woanders nicht bekommt. Das bevorzugt das Kapital immer: Kapital kaufen, damit produzieren, die Waren verwerten und mit dem Profit neues Kapital anhäufen. Das heißt Kapitalakkumulation, die Triebfeder im Kapitalismus.

Nur manchmal ist es nicht bevorzugt, nämlich wenn die Profitrate nicht stimmt, zu unsicher ist oder eine kleine Bitcoinspekulation (voraussichtlich) mehr einbringt. Der marxistische Ökonom Anwar Shaikh drückt das weniger blumig aus, wenn er von der entscheidenden erwarteten Unternehmensprofitrate spricht. Das ist die Differenz aus erwartetem Profit und Zinssatz, den man fürs Verborgen bekommt (die sichere und vor allem weniger anstrengende Alternative).

Inflation entsteht, wenn Geldproduzent:innen mehr Geldzeichen in Umlauf bringen, diese auch für Käufe verwendet werden, als die Warenmenge steigt. Inflation steigt (ist also bei 10 % statt 2 %) wenn mehr Kapitalist:innen Preise erhöhen, als zu investieren.

Das liegt dann zum Beispiel an gesunkenen Profitraten (die eine Krise ankündigen). Oder an der Unsicherheit, was in den nächsten Monaten passieren wird, ein Anzeichen, dass die Krise schon begonnen hat. Und da stehen wir jetzt.

Im zweiten Teil beschäftigt sich der Artikel mit der Antwort der verschiedenen Klassen auf die Inflation.


Endnoten

[i]https://tirol.orf.at/stories/3164716/

[ii]https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20220629_OTS0012/coface-risiko-fuer-zahlungsausfaelle-in-oesterreich-steigt-anhaenge

[iii]https://arbeiterinnenmacht.de/2022/01/19/rueckkehr-der-inflation/




Schreckgespenst Lohn-Preis-Spirale

Jürgen Roth, Neue Internationale 269, November 2022

Die diesjährigen Tarifverhandlungen gehen mit deutlich höheren Lohnforderungen als in den letzten 2 Jahrzehnten einher. Im krassen Gegensatz dazu tönen die Unternehmer:innen, es gebe wegen der massiven Energiepreissteigerungen nichts zu verteilen und überzogene Lohnforderungen der Beschäftigten könnten Betriebe auf Jahre hinaus zu hohen Preissteigerungen zwingen, was im Extremfall sogar zu einer anhaltenden Stagflation (hohe Inflationsrate bei gleichzeitig geringem Wachstum) führe.

Ihr Argument läuft darauf hinaus, Lohnanstiege seien Ursache wie Motor der Inflation. Bevor wir darauf eingehen, eine kurze Skizze zum aktuellen Ausmaß der Preissteigerungen.

Fakten

In der BRD haben die Verbraucherpreise von Oktober 2021 bis Oktober 2022 von 4,5 % auf 10,4 % zugelegt. Auch weltweit stieg die Inflationsrate von durchschnittlich 3,18 % 2020 und 4,35 % 2021 auf aktuell 7,4 %. In 10 Ländern kann man von einer Hyperinflation sprechen: zwischen 35,6 % (Iran) und 260 % (Sudan). Die Plätze 11 bis 20 belegen Länder mit hoch inflationärer Entwicklung zwischen 16,82 % (Nigeria) und 28,7 % (Sri Lanka). In Europa liegen die Türkei (69,97 %) und zahlreiche osteuropäische und Balkanländer vorn. Die EU weist im Mittel 8,1 % auf, die Eurozone und Deutschland 7,4 %. Für die BRD stammen die Zahlen vom April diesen Jahres. Das bedeutet, der Preisanstieg hat sich seitdem um mehr als 40 % beschleunigt!

Zeitrahmen und Statistik

Schon ein Blick auf die Statistik widerlegt die vulgärökonomische Theorie von der Lohn-Preis-Spirale. Die Inflation in Deutschland betrug im Januar 2021 2,2 %, im September bereits über 4 %. Die allermeisten Tarifrunden zuvor hatten sich mit Abschlüssen knapp unter 2 % zufriedengegeben und beinhalteten somit nichts weiter als Reallohnverluste.

Zudem untertreibt die amtliche Statistik die Preissteigerung für die Lohnabhängigen. Im Warenkorb einer Arbeiter:innenfamilie sind nämlich die Preistreiber überrepräsentiert, also Mieten, Energie, Lebensmittel.

Lohnverzicht und Zurückhaltung haben die Preissteigerungen offenkundig nicht verhindert, wohl aber die Einkommen und Vermögen der Beschäftigten entwertet. Die Thesen, dass Preissteigerungen durch Lohnerhöhungen verursacht würden, ist statistisch falsch, politisch aber für die Herrschenden sehr zweckmäßig, soll sie doch die Arbeiter:innen davon abhalten, für einen vollen Inflationsausgleich zu kämpfen.

Lohn und Warenwert

Der Lohn-Preis-Spirale zufolge müssten eigentlich die Preise der Waren mit der Erhöhung der Löhne steigen. Würde diese Theorie stimmen, wäre allerdings auch erklärungsbedürftig, warum eine Lohnsenkung keineswegs zu fallenden Preisen führt, wie nicht nur die Entwicklung am Wohnungsmarkt seit Jahrzehnten verdeutlicht.

Die Vertreter:innen der Lohn-Preis-Spirale gehen im Grunde davon aus, dass die Preise einer Ware aus den sog. Produktionsfaktoren Kapitalkosten, Löhnen und Gewinnen entstehen würden. Hohe Löhne würden damit automatisch zu höheren Preisen führen, da die Unternehmen ansonsten ja auf ihren Gewinn verzichten müssten. Diese Vorstellung ist jedoch vollkommen oberflächlich, weil sie die Frage ausblendet, wodurch die Preise letztlich bestimmt werden.

Sie verkennt, dass der Wert jeder Ware durch den Wert der Produktionsmittel (Maschinen, Rohstoffe, Gebäude, Energie) und dem Wert gebildet wird, den die Lohnarbeiter:innen diesen im Produktionsprozess zusetzen. Letzterer zerfällt in einen Teil (variables Kapital), den die Arbeiter:innen in Form des Arbeitslohn erhalten, um ihre Reproduktionskosten zu bestreiten, und in einen anderen Teil, den Mehrwert, den sich die Kapitalist:innen aneignen.

Der Wert der Ware ändert sich keineswegs, wenn der Lohn steigt oder fällt. Sinkt er, so erhöht sich der Mehrwert – und damit die Profitmasse – und umgekehrt. Das stört die herrschende Klasse an allen Lohnsteigerungen und die Lohn-Preis-Spirale dient dazu, diesen Zusammenhang zu verschleiern.

Wert und Kapitalstock

In den Wert jeder Ware gehen Lohnkosten und Mehrwert nur anteilig ein. Aufgrund des technischen Fortschritts bildet die menschliche Arbeit jedoch einen immer geringeren Anteil am Gesamtwert des Produktes. Im Kapitalismus nimmt der Wertanteil von konstantem Kapital (Maschinen, Gebäude, Rohstoffe) stetig zu, was sich in einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals ausdrückt.

Nebenbei bemerkt ist dies auch die Hauptursache dafür, dass die Zunahme des Mehrwerts (Profit, Gewinn) nicht mehr Schritt halten kann mit der Wertzunahme des konstanten Kapitals. Anders ausgedrückt: Je mehr sich der Kapitalstock aufbläht, desto mehr sinkt die Rate des Profits (Mehrwert geteilt durch Wert des Kapitalvorschusses). Dieser umfasst sowohl Kapitalstock wie Löhne. Oder: Je reicher die Kapitaleigentümer:innen werden, desto größer geraten ihre Verwertungsschwierigkeiten.

Für die aktuelle Inflation heißt das: Nicht nur sind die Löhne in der jüngsten Vergangenheit hinter der Teuerungsrate zurückgeblieben. Der auf sie zurückzuführende Anteil am Gesamtprodukt ist viel niedriger geworden! Ganz deutlich gilt das für den Sektor der fossilen Energieerzeugung, wo die organische Zusammensetzung des Kapitals überdurchschnittlich hoch ist und zudem über den zurzeit teuersten Energielieferanten (Erdgas) auch noch der Strompreis bestimmt wird (Merit-Order-Prinzip der Preisgestaltung an der Strombörse).

Geldmenge und Inflation

Inflation bedeutet deutlich mehr als Preissteigerung, nämlich eine Ausweitung der Geldmenge insgesamt. Diese wird letztlich von der Zentralbank gesteuert. Hier kommen wir zu des Pudels Kern. Dies rührt letztlich von der Großen Rezession 2008/2007 her, wo Zentralbanken und IWF dadurch eine Kernschmelze des Finanzkapitals verhindert haben. Eine Ausweitung des Kreditgeldes geht aber nur solange gut, wie der Konjunkturmotor wieder anspringt und die Profitabilität zur Zufriedenheit des Großkapitals verläuft.

Bricht letztere ein, deckt die laufende Produktion nicht mehr die Schuldentilgung. Unter Bedingungen wie dem Ausfall von Lieferketten während und nach der Coronapandemie sowie geringen Neuinvestitionen in der Industrie kam es zu einem Angebotsschock, weil der Produktionsausstoß die als Nachfrage auftretende aufgeblähte Geldmenge nicht mehr decken konnte. Resultat: Geldentwertung, sprich: Inflation.

Schon in den 1970er, 1980er Jahren und 1993 resultierte die Geldpolitik mit dem Ziel einer Vermeidung des Ausbruchs von Konjunkturkrisen in solchen. Die Inflation markierte also jeweils den Vorboten der kommenden Krise. Viele bürgerliche Volkswirtschaftler:innen trösten sich damit, dass die nächste Rezession ebenso mit dem Gespenst der Inflation aufräumen wird. Doch ist dies trügerisch, weil die Weltwirtschaft vor massiveren Problemen als damals steht. Ein Zeichen dafür ist die zunehmend militärisch ausgetragene Weltmarktkonkurrenz.

Vorübergehender Schock?

Hintergrund deren bildet die ins Ungeheuerliche gestiegene Verschuldung selbst großer Unternehmen, der Staaten und Privathaushalte. Mit Ausnahme der noch florierenden Hightechkonzerne wie Apple, Netflix, Facebook, Google & Co. geht es zunehmend Firmen so dreckig, dass sie aus ihren Profiten kaum noch die Kredite bedienen können (Zombiefirmen).

Viele werden jetzt einwenden: Denen kommt dann doch die Inflation gerade recht, denn sie entwertet ihre Schulden. Dies ist nur bedingt richtig, denn sie verteuert auch aktuelle Kredite aufgrund der Leitzinserhöhungen und damit die Insolvenzgefahr. Die Zentralbanken gehen nämlich zur Zeit zu einer Politik des Quantitative Tightening (QT) über, dem Gegensatz zum vorherigen mehr als 10 Jahre anhaltenden Quantitative Easening (QE). Außerdem sind die größten Kreditgeber:innen auch die heftigsten Profiteur:innen. Konkurrenzfähiges Industrie- wie Finanzkapital fürchtet die Inflation, weil sie ihre Guthaben entwertet und den Transfer von fiktivem Aktienkapital in reale Vermögen behindert.

Das Problem lässt sich also weit bis ins 21. Jahrhundert hinein nur auf viel größerer Stufenleiter lösen. Eine „normale“ Rezession wird nicht reichen, um den überakkumulierten und -bewerteten Kapitalstock der Schwächeren (Zombies) zu vernichten und wieder profitablere eigene Anlagebedingungen zu schaffen (Lösung der fast 50-jährigen Überakkumulationskrise). Und dies kann zunehmend nur auf höherer Ebene der Konkurrenz als der zwischen den Einzelkapitalen gelingen. Die innerstaatliche und Weltmarktkonkurrenz muss zu einer zwischen den Großmächten mutieren.

Vertrauen auf die eigene Kraft statt Illusionen in Hilfsprogramme, Medien und Geldpolitik

Alarmmeldungen zur Teuerung sind also durchaus angesagt. Wenn das Handelsblatt mahnt, Europa müsse sich auf einen anhaltenden Preisanstieg vorbereiten und BILD titelt: „Inflation frisst unsere Löhne auf!“, geht es jedoch nicht um die Interessen der Arbeiter:innen. Vielmehr dreht es sich darum, wie die Zentralbanken auf die seit Jahrzehnten anhaltende Krise des Kapitalismus reagieren sollen. Schon während der Politik des billigen Geldes (QE) und des Aufkaufs fauler Kreditschuldenpapiere ermahnte die EZB ständig Regierungen und Gewerkschaften, sich mit Sozialausgaben und Lohnforderungen zurückzuhalten, um die Konkurrenzfähigkeit „ihrer“ Konzerne auf dem Weltmarkt zu verbessern. Je erfolgreicher diese, desto mehr „freie“ Marktwirtschaft, umso weniger staatliche Eingriffe durch die Notenbanken.

Konservative greifen diesen Gedanken auf. Ihnen kommt die Inflation gelegen, um so große Zugeständnisse von der Arbeiter:innenklasse zu verlangen, damit die EZB ihre Kreditprogramme kürzen kann, um sie nicht aus dem Ruder geraten zu lassen.

Wirtschaftswissenschaftler:innen aus dem postkeynesianischen Lager, darunter auch der Gewerkschaften und des DIW, spielen dagegen die Inflationsgefahr herunter, um der EZB keine Argumente für eine knappere Versorgung der Konzerne mit Geld zu liefern. Beide scheinbar gegensätzlichen Lager eint in Wirklichkeit die grundsätzliche Akzeptanz der kapitalistischen Konkurrenz, nur in Bezug auf Geldpolitik gehen sie auseinander: restriktiv oder expansiv? Wie oben dargestellt, handelt es sich dabei aber um die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Teils erkennen auch Postkeynesianer:innen an, dass es sich bei der Lohn-Preis-Spirale um einen Mythos handelt, aber nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil aktuell schwächer werdende Gewerkschaften ohnedies „den Bogen nicht überspannen“ können (DIW Berlin). Das DIW versteigt sich zum Lob auf die Sozialpartner:innenschaft, die in der BRD dazu geführt habe, dass hohe Löhne und unternehmerischer Erfolg einander bedingten und zu niedrige mangels Endnachfrage die Konjunktur schwächten.

Diese Nachfragetheoretiker:innen dürften schwer erklären können, warum die Unternehmer:innen in der aktuellen Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie eine Null fordern. Dabei liegt das in der Logik der Sache, fallende Profitraten durch Senkung des Arbeitslohns zu kompensieren. Das DIW sieht darüber hinaus kein Problem darin, die immens gestiegene Staatsschuld noch weiter auszuweiten, als gebe es keinen Zahltag dafür. Das sieht das Finanzkapital ganz anders. Viele bürgerliche Kommentator:innen sehen in der „neuen“ Politik des QT bereits eine Ablösung der Zentralbanken durch die privaten Finanzmärkte. Aber sie sehen nicht, dass der Meister den Zauberlehrling ablöst!

In jedem Fall ist die Arbeiter:innenklasse gut beraten, sich nicht auf das Märchen von der Lohn-Preis-Spiral einzulassen. Stattdessen muss der Kampf um die Durchsetzung der aktuellen Tarifforderungen mit dem für eine gleitende Lohnskala verbunden werden.




Sieben Gründe gegen die G7

Martin Suchanek, Neue Internationale 265, Juni 2022

Weitab von der Masse der Bevölkerung tagen die Staats- und Regierungschefs der sieben mächtigsten Staaten der Welt im bayrischen Schloss Elmau in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten waren die G7-Gipfel und andere Tagungen zentraler Organisationen der Weltpolitik und -wirtschaft von oft radikalen Massenprotesten begleitet, die die Legitimität dieser Veranstaltungen offen zurückwiesen. Die G7 und andere Institutionen des globalen Kapitalismus wie die G20-, IWF- oder WTO-Tagungen galten ihnen nicht als Teil der Lösung der großen Probleme der Menschheit, sondern als Problems selbst.

Daher fanden und finden diese Treffen der Staats- und Regierungschef:innen der mächtigsten Länder der Welt immer wieder in schwer zugänglichen Regionen statt. Die G7 schienen lange ein Auslaufmodell der Weltpolitik zu sein und durch Formate wie die G20 abgelöst zu werden. Noch unter Donald Trump gerieten sie regelmäßig zur peinlichen Zurschaustellung der Uneinigkeit der eigentlich verbündeten westlichen Mächte.

Doch nicht nur die Neubesetzung im Weißen Haus und die Wiederbelebung der Allianz zwischen den USA und Westeuropa haben den G7 neues Leben eingehaucht. Dass Letztere wieder gebraucht werden, bringt vor allem eine grundlegende Veränderung der internationalen Lage zum Ausdruck. Die ökonomische, politische, geostrategische und letztlich auch militärische Konkurrenz zwischen dem von den USA geführten westlichen imperialistischen Lager und den konkurrierenden Mächten China und Russland hat sich in der letzten Krise und unter Corona noch einmal massiv verschärft. Der Krieg um die Ukraine treibt diesen Antagonismus noch einmal auf eine höhere Stufe, auch wenn er nicht direkt zwischen den Hauptkonkurrenten USA und China, sondern in Europa entbrannt ist.

In dieser Situation sollen sich die G7 als Instrument der neuen Einheit des Westens, der NATO und zur Koordinierung der gemeinsamen Interessen gegenüber den globalen Rivalen bewähren. Die reaktionäre Invasion Russlands in der Ukraine dient dabei als Mittel, die politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele der G7 im Licht von Demokratie, Menschenrechten, ja sogar ökologischer und sozialer Sorge um die Weltgemeinschaft erscheinen zu lassen.

Die G7 und ähnliche Institutionen galten jahrelang auch in der Masse der Bevölkerung als zweifelhafte, illegitime Veranstaltungen. Auch wenn sie sich als „Retter:innen der Welt“ inszenierten, so glaubte das kaum jemand. 2022 ist das zumindest ein Stück weit anders. Das Treffen der sieben Länder wird öffentlich und mit mehr Nachdruck als in vergangenen Jahren als wirklich entscheidende Tagung präsentiert. So verkündet Kanzler Scholz: „Wir werden unsere G7-Präsidentschaft nutzen, damit dieser Staatenkreis zum Vorreiter wird. Zum Vorreiter für klimaneutrales Wirtschaften und eine gerechte Welt.“

Die alles überragenden Themen in Elmau werden natürlich Krieg, Aufrüstung und Sanktionen sein, die selbstverständlich auch Klima und Gerechtigkeit voranbringen sollen.

Doch während sich die Versprechungen der G7 über Jahre fast schon selbst als leere Phrasen entlarvten, können wir 2022 nicht davon ausgehen. Nicht, dass die Gründe besser argumentiert oder stichhaltiger wären, aber die Tatsache, dass der Krieg um die Ukraine – nicht zuletzt wegen des realen, barbarischen Charakters der russischen Kriegsführung – einigermaßen erfolgreich als Krieg zwischen Demokratie und blutiger Diktatur verkauft werden kann, verleiht dem G7-Gipfel wie auch anderen Institutionen der westlichen Großmächte (z. B. der NATO) eine Legitimität, die sie jahrelang nicht besaßen.

Hinzu kommt, dass der Krieg die strategischen Differenzen und Interessengegensätze zwischen den USA und ihren Verbündeten, insbesondere den führenden EU-Mächten Deutschland und Frankreich, für die nächste Zukunft in den Hintergrund drängt und die US-Führungsrolle massiv gestärkt hat.

Bei Lichte betrachtet, entpuppen sich die G7 freilich als alles anders als ein selbstloser Verein gutwilliger Mächtiger zur Rettung der Menschheit, sondern als Dach, unter dem die sieben mächtigsten westlichen imperialistischen Nationen ihre Interessen koordinieren und ihre gemeinsamen Ziele abstimmen und verfolgen. Das können sie natürlich auch ohne solche Gipfeltreffen, aber das G7-Format bringt dennoch eine Stärke zum Ausdruck, die nicht nur auf symbolischer Ebene besteht. Die westlichen Führungsmächte verfügen über Institutionen und Gremien, die ihren gemeinsamen Willen, ihre Interessen gegenüber ihren Rivalen zum Ausdruck zu bringen, während diese auf vergleichbare Strukturen noch nicht zurückblicken, diese erste entwickeln müssen.

Zur Mobilisierung gegen die G7 und die Weltordnung, die sie verteidigen, gibt es sicher mehr als nur sieben Gründe. Wie wollen hier dennoch sieben der wichtigsten nennen, warum wir gemeinsam zu den Demonstrationen und Aktionen nach München am 25. und nach Garmisch am 26. Juni und danach mobilisieren.

1. Aufrüstung, Militarisierung, Krieg, Interventionen

Nicht erst mit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird die Aufrüstung der westlichen Staaten – so auch der Bundeswehr – zur dringenden Notwendigkeit angesichts eines vorgeblichen russischen Übergewichts erklärt. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Die G7 gaben lt. SIPRI-Jahrbuch 2021 (SIPRI: Stockholmer Friedensforschungsinstitut) für ihr Militär insgesamt 1094,5 Milliarden US-Dollar aus, gegenüber 65,9 Mrd., die Russland aufbrachte, also mehr als das Fünfzehnfache. Nehmen wir die verbündeten Staaten im Rahmen der NATO oder anderer US-geführter „Verteidigungspakte“ hinzu, so vergrößert sich dieser Abstand.

Zweitens ist der technologische Vorsprung der USA und ihrer Verbündeten gegenüber Russland auf dem Gebiet konventioneller Waffentechnik in den letzten Jahrzehnten größer geworden. Wirklich auf gleicher Ebene kann es mit den USA nur als Nuklearmacht mithalten.

Der ökonomische Vorsprung des Westens und die massiven Aufrüstungsprogramme werden den Wettlauf verschärfen und Russland wird wirtschaftlich nicht in der Lage sein, hier Schritt zu halten. Im Grunde geht es aber auch nicht in erster Linie um Russland, sondern längerfristig um China, das mit 293 Milliarden US-Dollar den zweitgrößten Rüstungshaushalt der Welt stellt (und damit mehr aufwendet als die gesamte EU nach dem Austritt Britanniens).

Auch bei der Anzahl der Auslandsinterventionen erweist sich der Westen als führend. Allein die USA führten seit 1993 152 Auslandseinsätze durch, darunter Kriege mit Hunderttausenden Toten wie in Afghanistan und im Irak. Gefolgt wird die USA darin von Russland und westlichen verbündeten Staaten.

Militärische Interventionen in Nachbarländern (z. B. Türkei, Saudi-Arabien) oder Grenzkonflikte zwischen Staaten sind durchaus stetiger Bestandteil der Weltpolitik. Aber Auslandsinterventionen fernab der unmittelbaren Grenzen und Verfolgung globaler ökonomischer und geostrategischer Interessen bilden ein Kennzeichen der führenden imperialistischen Nationen, die faktisch ein Monopol darauf beanspruchen und sich auch als oberste Gewalt darüber aufzuspielen versuchen, welche Interventionen legitim sind und welche nicht. Während russische Interventionen der G7-Auffassung zufolge den Weltfrieden in Gefahr bringen, sichern ihn umgehrt die „humanitären“ Interventionen westlicher Mächte in ehemaligen Kolonialgebieten, ob in Mali, Afghanistan oder sonst wo.

In Wirklichkeit handelt es sich bei all dem Gelaber nur um ideologische Begleitmusik, um Rechtfertigungen für die eigentlichen, imperialistischen Ziele der G7-Staaten.

2. Plünderung des globalen Südens

Fast noch verlogener als die Kriegs- und Aufrüstungsanstrengungen stellen sich die zynischen Verlautbarungen bezüglich der Armutsbekämpfung in den Ländern der sog. Dritten Welt dar. Einmal mehr schwört die deutsche Präsidentschaft der G7, sich für ein „soziales und gerechtes globales Wirtschaftssystem“ starkzumachen.

Dazu sollen ausgerechnet jene Strukturen der Weltwirtschaft beitragen, die seit Jahr und Tag die ökonomische Vorherrschaft der führenden imperialistischen Nationen und die Dominanz des westlichen Finanzkapitals über ganze Länder sichern. Die neoliberale Öffnung ganzer Märkte der letzten Jahrzehnte hat die Plünderung der Rohstoffe, die Ausbeutung der vergleichsweise billigen Arbeitskräfte, die Umstrukturierung der Landwirtschaft durch das westliche Agrobusiness massiv verstärkt – bis hin zur Verwüstung ganzer Regionen, der Ausbreitung von Armut, Vertreibung von Bauern/Bäuerinnen und Indigenen von ihrem Land. Zweifellos haben die westlichen Mächte, wie die Politik des chinesischen Imperialismus zeigt, kein Alleinstellungsmerkmal, wenn es um die Verfolgung der eigenen Profitinteressen geht.

Für die G7 geht geht es freilich unter Schlagwörtern wie „gerechte Ordnung“ vor allem um ihre Ordnung, um die Kontrolle der globalen Finanzmärkte und -ströme durch das große Kapital. Die Verschuldung der Staaten des globalen Südens sowie die zahlreichen, von den G7 dominierten Institutionen der Weltwirtschaft (z. B. IWF, WTO) bilden dabei zentrale Hebel, um die imperialistische Ausplünderung durchzusetzen.

Die Entrechtung und Verelendung der Arbeiter:innenklasse, Bauern und Bäuerinnen sowie die Sicherung dieser durch reaktionäre, oft diktatorische Regime, Paramilitärs und rechte Bewegungen bilden faktisch Instrumente zur Durchsetzung dieser Politik.

3. Klimakatastrophe und Umweltzerstörung

Die G7 bilden den Kern der Umweltzerstörer:innen des Globus. In diesen Ländern sind historisch die größten Emittent:innen nicht nur von CO2 konzentriert. Trotz gegenteiliger Beschwörungen fußt der reale, von den G7 verteidigte und forcierte globale Kapitalismus auf der Ausbeutung von Mensch und Natur.

Ein Ausstieg aus den fossilien Energien ist in Wirklichkeit nicht in Sicht. Als Ersatz für russisches Gas und Öl soll „ohne Tabus“ über alternative Importe aus den Golfstaaten oder den USA nachgedacht werden. Selbst dort, wo unter dem Deckmantel des Green Deal die ökologische Erneuerung beschworen wird, handelt es sich im Grunde um ein Projekt zur Erneuerung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Da der Zweck der kapitalistischen Produktion auch dann weiter die Profitmaximierung bleibt, ist eine Abkehr von extraktivistischen Methoden und expansivem Wachstum nicht nur nicht zu erwarten, sondern auch strukturell unmöglich.

Die G7 wollen den Kapitalismus natürlich nicht abschaffen, sondern effektiver und profitabler gestalten.

Das trifft vor allem die Länder der sog. Dritten Welt, deren Rohstoffe weiter ausgeplündert und angeeignet werden und denen die Mittel fehlen, auch nur einigermaßen den Auswirkungen des Klimawandels, des Artensterbens, von Dürren, Verwüstung und generell von Exremwettern entgegenzuwirken.

Im Gegenteil, die Umweltpolitik der G7 ist Umweltimperialismus. Während sie in den westlichen Staaten noch eine gewisse grüne Tünche erhalten mag, so basiert sie wesentlich darauf, die Kosten der ökologischen Krise den Ländern des globalen Südens und den Lohnabhängigen aufzuhalsen.

4. Globale Gesundheits- und Versorgungskrise

Die Pandemie verdeutlichte einmal mehr den mörderischen Charakter der Profitmacherei. Um globale Produktionsketten aufrechtzuerhalten, wurde billigend der Tod von Hunderttausenden, ja Millionen weltweit in Kauf genommen.

In den G7-Staaten war es noch möglich, die Lasten dieser Krise für die Arbeiter:innenklasse ein Stück weit über Kurzarbeiter:innengeld, Lohnfortzahlung und andere staatliche Maßnahmen abzufedern. In den Ländern des globalen Südens wurden Millionen vor die Alternative Corona oder Hunger gestellt.

Die Ressourcen zur Bekämpfung der Pandemie wurden auf die reichen, westlichen Länder konzentriert. Besonders deutlich und zynisch zeigte sich das, als wirksame Impfstoffe entwickelt wurden. Während eine Mehrheit der Bevölkerung der G7-Staaten zumindest teilweise immunisiert wurde, wartet sie in Afrika noch immer auf die erste Impfung.

Bis heute weigern sich Regierungen der G7-Staaten, darunter die deutsche, die Patente oder Gelder für den Aufbau von Produktion und medizinischer Versorgung freizugeben.

Dabei muss die wachsende Gefahr von Pandemien selbst im Kontext der Ausplünderung der Natur und vor allem der kapitalistischen Landwirtschaft begriffen werden. Dass Millionen und Abermillionen ohne Gesundheitsschutz dastehen, ist selbst eine Folge jahrzehntelanger Kürzungen, von Privatisierungen und einer generellen Zerstörung kollektiver Gesundheits- und Altersvorsorge. Die „Erfolge“ des Kapitalismus der letzten Jahrzehnte basieren nicht zuletzt auch auf der Plünderung und Zerstörung öffentlicher Vorsorge und Infrastruktur durch den Markt, der es den G7 zufolge richten soll.

5. Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse

Die gerechte Welt, die die G7 auf ihre Fahnen schreiben, basiert auf der verstärkten Ausbeutung der globalen Arbeiter:innenklasse.

Weltweit betrachtet, ist sie in den letzten Jahrzehnten massiv angewachsen, vor allem in Ländern wie China, Indien und vielen anderen Ökonomien Asiens. Zugleich wurde die Klasse auch weitaus heterogener, eine Entwicklung, die selbst durch neoliberale Angriffe der letzten Jahrzehnte vertieft wurde.

Die Arbeitsproduktivität stieg in vielen Ländern massiv. Eigentlich könnten weltweit in weniger Zeit genügend Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs produziert werden, um allen ein sicheres Leben ohne Hunger und Existenzangst zu gewährleisten. Diese Ressourcen könnten eigentlich zum ökologischen Umbau und zur Ausweitung sinnvoller gesellschaftlicher Arbeiten (Gesundheitswesen, Altersversorgung, Bildung, Vergesellschaftung der Hausarbeit, öffentlicher Verkehr, Wohnungsbau, Sanierung von Umweltschäden) verwendet werden.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Schließlich wird im Kapitalismus nicht für die Bedürfnisse der Menschen, sondern für die Vermehrung des Profits produziert. Die Ausdehnung von prekären Arbeitsverhältnissen, Intensivierung der Arbeit, Sozialkürzungen und Überausbeutung gerade der Arbeiter:innenklasse des globalen Südens sind hier nur folgerichtig. Über Jahre versuchte man, dem Fall der Profitraten durch eine Steigerung der Ausbeutungsrate, also durch Lohnverluste sowie Senkung der Konsumgüterpreise entgegenzuwirken. Zur Zeit werden die Löhne weiter gedrückt, doch zugleich sind die Lohnabhängigen weltweit mit massiven Preissteigerungen infolge der Inflation und mit dem kompletten Verfall ihrer Kaufkraft in vielen halbkolonialen Ländern konfrontiert.

Die Antwort der G7: einige kosmetische Maßnahmen in den reichen Ländern bei massivem Reallohnverlust; drastische Verarmung, Entwertung ganzer Währungen im globalen Süden. G7 und andere neoliberale Institutionen sollen die Nationalökonomien retten – auf Kosten der Massen durch Lohnstopps, Privatisierungen, Kürzungen.

6. Spaltung der Massen durch Rassismus, Nationalismus, Sexismus

Damit nicht genug. Trotz aller Beteuerung von Gleichheit, Humanismus, universellen Menschenrechten fördert die Politik der G7 in Wirklichkeit Ungleichheit und Spaltung der Arbeiter:innenklasse und aller Unterdrückten durch Rassismus, Nationalismus, geschlechtliche Unterdrückung – um nur einige zentrale Unterdrückungsmechanismen zu nennen.

Dabei geben sich die federführenden Regierungen nicht mit der quasi automatischen Vertiefung sozialer Ungleichheit infolge von Lohnkürzungen und Einschränkungen von Sozialleistungen zufrieden. Die Spaltung wird vielmehr aktiv vorangetrieben.

Rassistische, rechtspopulistische und andere reaktionäre bis hin zu faschistischen Bewegungen finden wir in allen G7-Staaten. Während sich die meisten Regierungen offiziell dagegenstellen, erfüllen sie in Wirklichkeit viele der Forderungen der Rechten.

Deutlich wird das bei den Grenzregimen der G7-Staaten – sei es beim rassistischen Grenzzaun der USA oder beim mörderischen Regime der Festung Europa.

Nicht minder deutlich wird dies im Inneren – der Rassismus gegen Schwarze, People of Color, Migrant:innen aus dem globalen Süden, Muslime:innen gehört zur Struktur der „großen Demokratien“, sei es in den USA, Frankreich oder Deutschland.

Während sich die G7 gern als Verteidiger:innen von Frauen und sexuell Unterdrückten aufspielen, kann von einer wirklichen Gleichheit der Geschlechter keine Rede sein. Im Gegenteil, Gewalt gegen Frauen und LGBTIAQ-Menschen gehört zum Alltag in diesen Ländern. Errungene, selbst noch unzugängliche Rechte stehen auf der Kippe, wie der Angriff auf das Abtreibungsrecht in den USA zeigt.

Hinzu kommt, dass in einer Periode der Krise und angesichts des härter werdenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt Rassismus und Nationalismus nicht nur im ökonomischen Kampf spalten, sie dienen auch zur Mobilisierung der „eigenen“ Nation unter Führung der herrschenden Klasse. Nationalismus und Rassismus dienen, zumal in ihrem „demokratischen“ Gewand, als Mittel zur Rechtfertigung von Auslandsinterventionen, Aufrüstung, Überwachung, Abbau demokratischer Rechte und Krieg.

7. G7 als imperiale Ordnungsmächte

Die G7 sind nicht einfach eine Gruppe von Ländern, die gemeinsame Absprachen treffen, mal schlechte, mal weniger schlechte Ziele verfolgen. Sie bilden den Kern jener Staaten, die die imperialistische Weltordnung seit dem Zweiten Weltkrieg beherrschten und auch gegen aufstrebende Konkurrenz weiter dominieren wollen.

Sie und die ihnen angelagerten westlichen Staaten vereinigen bis heute den größten Teil des Kapitalstocks der Welt, also der Anlagevermögen. Sie kontrollieren mit US-Dollar und Euro ihre zentralen Reservewährungen. Gerade auf dem Finanzsektor verfügt das US-amerikanische Kapital noch über eine Dominanz, die ihresgleichen sucht.

Nur wenige andere Länder, also nur die globalen Rivalen wie China und Russland oder besonders starke Halbkolonien wie Indien konnten auch Großkapitale bilden, die mit den großen Konzernen aus den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Britannien, Italien und Kanada mithalten können. Aber gerade der Aufstieg Chinas drückt sich selbst hier in einer beachtlichen Verschiebung aus.

Für die G7 ist ihre Vormachtstellung in Gefahr. Die internationale Isolierung Russlands und die inneren Widersprüche Chinas bilden aktuell eine günstige Situation, die Durchsetzung der eigenen Interessen voranzutreiben.

Umso mehr ist dies der Fall, als die barbarische Kriegsführung Russlands dem Westen insofern in die Hände spielt, als die eigene imperialistische Politik als Form „demokratischer“ Selbstverteidigung im Interesse der gesamten Menschheit verkauft werden kann und verkauft wird. Wir müssten uns, so US-Präsident Biden im März in Polen, auf einen langen Kampf um Demokratie und Freiheit einstellen. Die G7 würden das Lager der Freiheit gegen den russischen und chinesischen Despotismus verkörpern.

Auf einen langen, harten Kampf müssen wir uns allerdings einstellen – gegen die G7 wie auch gegen alle anderen imperialistischen Mächte und die globale kapitalistische Ordnung, die sie vertreten.

Die G7 und ein ganzes Geflecht von Institutionen, die die USA, EU-Mächte und ihre Verbündeten über Jahrzehnte entwickelt haben, bilden dabei eine Allianz, die im Kampf um die Neuaufteilung der Welt den Globus in ihrem Sinne organisieren will – sowohl gegen ihre imperialistischen Rivalen wie China und Russland als auch gegen die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten weltweit.

So wie die Beherrscher:innen der Welt ihre internationalen Institutionen schaffen, müssen wir ihnen unsere, wirklich globalen Strukturen entgegensetzen – eine Internationale des Widerstandes und des Klassenkampfes für eine sozialistische Gesellschaftsordnung.




Das Comeback der G7 und die Krise der Globalisierung

Martin Suchanek, Neue Internationale 265, Juni 2022

Bis vor wenigen Jahren erschien das G7-Format als Auslaufmodell der imperialistischen Ordnung. Die Veränderungen der Weltwirtschaft im Zuge der Globalisierung nährten jahrelang die Vorstellung einer neuen „partnerschaftlichen“ und „freien“ Weltordnung. Russland wurde zeitweilig als Partner in die erlauchte Runde der führenden westlichen imperialistischen Nationen aufgenommen (G8). Die stetige, scheinbar unaufhaltsame Ausdehnung des Weltmarktes, die Etablierung internationaler Wertschöpfungsketten sowie der wachsende Anteil der neuen Großmacht China, aber auch Indiens und anderer sogennanter Schwellenländer an der globalen Produktion schienen eine neue Ära anzukündigen. Diese neue Ordnung schien die Nationalstaaten immer mehr in den Hintergrund zu drängen – und damit auch den Antagonismus zwischen den imperialistischen Großmächten.

Die Ideolog:innen der kapitalistischen Globalisierung versprachen eine Welt, in die freie Marktwirtschaft Wachstum, (bescheidenen) Wohlstand für alle, Gleichheit und Demokratie tragen würde.

In der globalisierungskritischen und antikapitalistischen Bewegung stießen diese wohlfeilen Versprechungen von Beginn an auf Widerspruch und Widerstand – oft auch in Form massenhafter und militanter Mobilisierungen gegen Gipfeltreffen der G7/8, der G20, von IWF und WTO. Zugleich übernahmen jedoch große Teile dieser Bewegung einige Illusionen der Globalisierungserzählung.

Die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Großmächten sei mehr und mehr in den Hintergrund getreten, da der „neue“ Kapitalismus, der nach 1990 Gestalt angenommen hätte, nicht mehr durch nationale Großkapitale der imperialistischen Mächte, sondern von einem neuen, transnationalen Finanzkapital dominiert würde. Die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Mächten wäre daher nur noch ein Randphänomen, Kriege zwischen den imperialistischen Staaten gehörten im Grunde der Vergangenheit an. Manche verkündeten gar das Ende des Imperialismus, andere vertraten faktisch eine Theorie des Ultraimperialismus, bei dem eine mehr oder minder geeinte Welt des Finanzkapitalismus den Massen und Ländern des globalen Südens gegenüberstehen würde.

Die List der Geschichte erwies sich hier einmal mehr als wirksamer als vorschnelle Kurzschlüsse. Auch wenn diese falschen Theorien scheinbar durch die Entwicklung des Welthandels, die massive Ausdehnung der Finanzinstitutionen und die Kooperation der führenden Nationen unter Einschluss von Mächten wie China und Russland bei einer mehr oder minder partnerschaftlichen Ausplünderung der Welt gerechtfertigt schienen, so saßen sie letztlich Oberflächenphänomenen auf.

Die Entwicklungsdynamik der Weltwirtschaft selbst trieb die „Globalisierung“ an ihre Grenzen. Sie war selbst Resultat einer veränderten Weltordnung – des Sieges der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg und der Restauration des Kapitalismus in China, Russland und Osteuropa, aber auch eine Antwort auf die inneren Krisentendenzen des Kapitalismus – den Fall der Profitraten in den Weltzentren und eine strukturelle Überakkumulation des Kapitalismus. Die Expansion des Weltmarktes, die Verlagerung der Produktion in Länder mit geringeren Lohnkosten und Umweltstandards, die „Flucht“ in Finanzmärkte und der Aufbau spekulativer Blasen, die Zerschlagung von Rechten der organisierten Arbeiter:innenklasse und damit einhergehende Erhöhung der Ausbeutungsrate bildeten allesamt Faktoren, die zeitweilig die Profitabilität des Kapitals erhöhten.

Doch sie konnten seine inneren Widersprüche nicht beseitigen. Die Finanzkrise 2008 und die folgende Rezession markieren den Beginn einer Krise der Globalisierungsperiode selbst, die von einer zunehmenden Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten geprägt war und ist. Die globale Rezession 2020 und die Corona-Pandemie vertieften diese Tendenz noch einmal massiv und signalisieren ihr Ende.

Der Aufstieg Chinas schien lange die Internationalisierung der globalen Produktion und Wertschöpfungsketten nur in eine Richtung vorangetrieben zu haben. Der Aufstieg zur zweitgrößten imperialistischen Macht und zum zentralen Herausforderer des niedergehenden Hegemons USA spiegelt diese Veränderungen der Weltwirtschaft wider. Zugleich trug die Expansion des chinesischen Kapitals auch wesentlich dazu bei, die Bedingungen zu schaffen, auf denen die Konkurrenz selbst nicht mehr die Ausdehnung des Weltmarktes beförderte, sondern dessen Krise und Kontraktion. Anstelle der „Partner:innenschaft“ trat die Formierung konkurrierender Blöcke.

Auch Russland schien für einige Zeit, ein wichtiger, strategischer Partner vor allem für den deutschen und französischen Imperialismus zu werden. Kohl und Mitterrand, vor allem Schröder und Chirac setzten mehr oder weniger offen auf eine Achse Berlin-Paris-Moskau als globales Gegengewicht zu den USA – eine Achse, die natürlich von den beiden westlichen Mächten dominiert werden sollte. Heute erscheint das als Projekt einer weit entfernten Vergangenheit. In Wirklichkeit wurden diese Ziele erst 2013/14 nach dem Maidan und schließlich mit dem Krieg um die Ukraine begraben.

Aus den G8 wurden die G7 – aus einem angeblichen Auslaufmodell ein Instrument zur Koordinierung und Zusammenführung der gemeinsamen Interessen der wichtigsten, westlichen imperialistischen Mächte.




Die Inflation und wie wir sie bekämpfen können

Martin Suchanek, Infomail 1185, 15. April 2022

Die Preissteigerungen fressen ein tiefes Loch in unsere Geldbeutel oder Konten. Längst können die geringen Lohnzuwächse und Rentenerhöhungen die Einkommensverluste nicht mehr auffangen. Betraf hohe Inflation bis vor der Pandemie und der globalen Rezession vor allem die Menschen in den Ländern des „globalen Südens“, also den von den führenden kapitalistischen Mächten und deren Kapitalen beherrschten Staaten, so ist sie längst zum Alltag für die gesamte Arbeiter:innenklasse auch in den imperialistischen Ländern geworden.

Der Krieg um die Ukraine wirkt dabei als Brandbeschleuniger.

Zahlen

Die Pressemitteilung 160 des statischen Bundesamts vom 12. April (https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/PD22_160_611.html) gibt einen Überblick über die Dimension der Inflation in Deutschland.

So stieg der Verbraucherpreisindex im März im Vergleich zum Vorjahresmonat (März 2021) um + 7,3 %. Der harmonisierte Index, also jener, der einen direkten Vergleich aller EU-Staaten erlaubt, liegt sogar bei 7,6 %. Tendenz steigend. So hatte die Steigerung gegenüber dem Vorjahresmonat im Februar noch 5,1 % betragen.

Damit wurde der Höchststand vom Herbst 1981, ein Jahr nach dem Beginn des ersten Golfkriegs zwischen Iran und Irak, erreicht.

Die entscheidenden Preistreiber bilden in der aktuellen Lage die gestiegenen Energiekosten:

„Die Preise für Waren insgesamt erhöhten sich von März 2021 bis März 2022 um 12,3 %. (Anmerkung: höher als der Verbraucherpreisindex!) Besonders stark stiegen die Preise für Energieprodukte, die im März 2022 um 39,5 % über dem Niveau des Vorjahresmonats lagen (Februar 2022: +22,5 %). Mit +144,0 % haben sich die Preise für leichtes Heizöl mehr als verdoppelt. Auch Kraftstoffe (+47,4 %) und Erdgas (+41,8 %) verteuerten sich merklich. Die Preiserhöhungen für die anderen Energieprodukte lagen ebenfalls deutlich über der Gesamtteuerung, zum Beispiel für feste Brennstoffe (+19,3 %) und für Strom (+17,7 %). Der Preisauftrieb bei den Energieprodukten wurde von mehreren Faktoren beeinflusst: Neben den krisenbedingten Effekten wirkte sich auch die zu Jahresbeginn gestiegene CO2-Abgabe von 25 Euro auf 30 Euro pro Tonne CO2 aus.“

Den zweiten Faktor, der zur aktuellen Inflation beiträgt, sind die Preise für Nahrungsmittel. Sie erhöhten sich im März 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat um 6,2 %. Besonders betroffen sind folgende Produkte:

„Mehr bezahlen mussten die Verbraucherinnen und Verbraucher vor allem für Speisefette und Speiseöle (+17,2 %, darunter Sonnenblumenöl, Rapsöl oder Ähnliches: +30,0 %) sowie frisches Gemüse (+14,8 %). Erheblich teurer wurden neben Energie und Nahrungsmitteln auch andere Waren, zum Beispiel Kaffeeprodukte (+8,9 %) und Fahrzeuge (+8,2 %, darunter gebrauchte Pkw: +23,9 %). Insgesamt verteuerten sich Verbrauchsgüter um 16,7 % und Gebrauchsgüter um 4,3 %.“

Diese beiden Sparten tragen in Deutschland und auch weltweit entscheidend zur Inflation bei. Die Preissteigerung würde lt. statischem Bundesamt ohne Energie „nur“ 3,6 % betragen, ohne Energie und Nahrungsmittel 3,4 %.

Noch vergleichsweise gering fallen die erhöhten Kosten für Dienstleistungen aus. Insgesamt lagen sie im März 2022 um 2,8 % über dem Niveau des Vorjahresmonats.

Woher kommt Inflation?

In dem Artikel „Rückkehr der Inflation“ haben wir uns ausführlicher mit ihren Ursachen beschäftigt. Wir haben dabei auch gezeigt, dass während der sog. Globalisierungsphase, vor allem im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, trotz massiver Überakkumulation von Kapital die Inflation in den imperialistischen Zentren niedrig gehalten werden konnte – und zwar selbst nach der Krise 2009/10 und trotz der Politik des „billigen Geldes“, also einer massiven Ausweitung der Geldmenge.

Dies hängt damit zusammen, dass mehrere Faktoren Preissteigerungen entgegenwirkten:

  • Senkung des Werts der Waren infolge von Produktivitätssteigerung, Ausdehnung des Welthandels und des Kapitalexportes.

  • Zur Senkung der Warenwerte und infolge dessen auch des Preises trug maßgeblich eine Verlagerung der industriellen Produktion in neue imperialistische (China) und halbkoloniale Länder bei.

  • Stagnation der Löhne und Einkommen während der „Antikrisenpolitik“ auch in den kapitalistischen Zentren.

  • Sicherung der Anlagen überschüssigen Finanzkapitals in den imperialistischen Zentren und damit schon vor der Krise Abfluss aus den sog. Schwellenländern.

Inflationäre Entwicklungen zeigten sich auch schon damals – jedoch konzentriert auf spekulative Finanzmärkte (was zeitweilig die Wirtschaft befeuerte) und auf die halbkolonialen Länder. Dass Inflation nicht mehr als ökonomisches Problem erschien, traf aber auch damals im Grunde nur auf die imperialistische Welt zu. Für die Halbkolonien waren Preissteigerungen und Währungskrisen schon lange vor der „Rückkehr“ der Inflation ein riesiges Problem.

Inflation is here to stay

Doch die der Inflation entgegenwirkenden Faktoren sind aus mehreren Gründen praktisch erschöpft. Erstens hat sich der Weltmarktzusammenhang weiter verändert. Die infolge von Corona synchronisierte globale Rezession hat nicht nur massive Finanzmittel erfordert und die Verschuldung von Staaten und Unternehmen dramatisch gesteigert. Das Ausbleiben eines raschen und deutlichen Aufschwungs führt nun dazu, dass die Verschuldung und auch Ausdehnung von Unternehmen, die ohne Finanzhilfen eigentlich längst pleite sein müssten, die gesamtwirtschaftliche Produktivität und damit auch die Profitraten und die Akkumulation drücken.

Hinzu kommt, dass infolge von Corona bis heute Zulieferketten unterbrochen sind, Mangel an Rohstoffen und Vorprodukten zusätzlich die Produktion und damit die Profite dämpft.

Außerdem fällt China anders als nach 2010 als Motor der Weltwirtschaft aus.

Der Krieg um die Ukraine, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt und die Tendenz zur Blockbildung (Deglobalisierung) wirken unmittelbar extrem verschärfend auf diese Entwicklung. Dies drückt sich besonders bei Energie- und Nahrungsmittelpreisen aus; aber auch die  Finanzmärkte (Handeln von Eigentumstiteln) wirken preistreibend (z. B. auf dem Wohnungsmarkt).

Ingesamt müssen wir mit einer Kombination von Stagnation und Inflation (Stagflation) für die kommenden Jahre rechnen. Die aktuellen Preissteigerungen stellen keine vorübergehende Erscheinung dar. Sie führen vielmehr zu einer dauerhaften Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbeiter:innenklasse, für die Bauern-/Bäuerinnenschaft und alle unterdrückten Schichten der Bevölkerung, ja selbst für große Teile der Mittelschichten, wenn es dagegen keinen organisierten und massenhaften Kampf gibt.

Die Halbkolonien, vom Imperialismus beherrschte Länder, sind von der aktuellen Entwicklung besonders betroffen. In Ländern wie Sri Lanka drohen Hyperinflation und der Zusammenbruch der Währung.

Doch auch in den imperialistischen Zentren wie Deutschland bedeutet die Inflation für die Arbeiter:innenklasse insgesamt eine Entwertung der Löhne, Einkommen (Renten, ALG, Unterstützungsleistungen wie Kindergeld) und Ersparnisse.

Für die Massen führt die sinkende Kaufkraft zu einer Einschränkung ihrer Konsummöglichkeiten. Die ärmeren, schlechter bezahlten und sozial unterdrückten Teile der Klasse sind hiervon besonders hart und rasch betroffen, also prekär und/oder Teilzeitbeschäftigte, Aufstocker:innen, Arbeitslose, Rentner:innen, Jugend, Frauen, Migrant:innen, Geflüchtete.

Grundsätzlich treffen Preiserhöhung essentieller Güter des täglichen Verbrauchs, von Energie oder Nahrungsmitteln die Menschen umso härter, über je weniger Einkommen sie verfügen. Sie können, weil sie ohnedies schon am Existenzminimum leben, nicht groß verzichten. Sie müssen weiter versuchen, die Mieten trotz erhöhter Nebenkosten zu bestreiten, sie müssen bei erhöhten Preisen beim Discounter einkaufen usw. usf.

Im schlimmsten Fall droht ihnen die Verarmung und Verelendung. Verschärft wird das Problem noch dadurch, dass die Inflation mit der Knappheit an bestimmten Gütern einhergeht, so dass z. B. bei den Tafeln schon jetzt ein Engpass an gewissen Lebensmitteln herrscht.

Inflation treibt zwar auch Teile des Kleinbürger:innentums (v. a. untere Schichten) und sogar schwächere Kapitale in den Ruin und beschleunigt somit die Zentralisation und Konzentration des Kapitals – sie trifft aber in den imperialistischen Ländern besonders die Lohnarbeiter:innen.

Die Verlust an Kaufkraft, der Preisverlust Arbeitskraft führt auf Dauer auch zur Senkung ihres Werts, wird er nicht mittels steigender Löhne und Einkommen kompensiert. Dies betrifft nicht nur die Lohnabhängigen als Beschäftigte, sondern durch eine Senkung der Kaufkraft von Renten, Arbeitslosengeld und anderen Transferleistungen auch all jene Teile der Arbeiter:innenklasse, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen müssen oder können. Für das Kapital bietet die Inflation damit eine Chance zur Erhöhung der Ausbeutungsrate, ohne selbst direkt Lohnsenkungen durchsetzen zu müssen.

Die Frage der Preissteigerung stellt daher auch ein zentrales Problem des Klassenkampfes in der aktuellen Lage dar.

Gewerkschaften und ihre Antwort

Hier machen sich die geringen Abschlüsse – also faktisch Lohnverzicht – der letzten Jahre und in der Regel extrem lange Laufzeiten von 2 Jahren und mehr dramatisch bemerkbar.

Die meisten Abschlüsse der letzten Monate (https://www.dgb.de/aktuelle-nachrichten/tarifverhandlungen-tarifrunden-tarifrunde-streiks-warnstreiks) reproduzieren diese Politik des Verzichts und Zurückweichens. Hier nur einige Beispiele aus dem Jahr 2022:

  • Banken/Versicherungen: 5 % – aber über 2 Jahre plus eine Einmalzahlung von 500 Euro.

  • IG BCE: Brückenlösung für sieben Monate – Einmalzahlung pro Beschäftigter/m von 1400 Euro (1000 Euro für „notleidende Betriebe).

  • Druck: 3,5 % in zwei Schritten bei 25 Monaten Laufzeit!

Allein diese Beispiele verdeutlichen, dass die Entgelterhöhungen deutlich unter der aktuellen Preissteigerung liegen. Einmalzahlungen von 1000 Euro oder mehr wie in der chemischen Industrie mögen zwar auf den ersten Blick gut ausschauen, doch sie sind eben mehr oder weniger rasch verbraucht und fließen nicht in die Entgelttabellen ein.

Doch wenn die Anpassungen schon vollkommen unter jenen der Branchen blieben, die sich zur Zeit in Tarifauseinandersetzungen befinden, so trifft es jene, die vor dem massiven Anstieg der Inflation abgeschlossen haben, noch viel härter. Sie müssen, folgt man dem üblichen Tarifrundenritual, eben noch einige Monate oder mehr als ein Jahr warten. Oder sie müssen auf ein „Entgegenkommen“ von einzelnen Unternehmen hoffen – und das sicher nicht ohne Zugeständnisse in anderen Bereichen.

Un- oder gering organisierte Branchen, die ohnedies nicht oder kaum zum Tarif zahlen, spielen bei der Strategie der DGB-Gewerkschaften erst recht keine Rolle.

Noch dramatischer ist jedoch die Lage für alle Lohnabhängigen, die nicht beschäftigt sind:

  • So fällt die Erhöhung der Renten mit 5,5 % nach eine Nullrunde im Jahr 2021 viel zu gering aus. Und auch hier trifft die rein lineare Erhöhung vor allem diejenigen mit den geringsten Renten am härtesten.

  • Dasselbe trifft für Minijobber:innen, Erwerbslose, Hartz-IV-Empfänger:innen wie alle Bezieher:innen von Transferleistungen zu.

  • Schließlich wird auch der Effekt der Erhöhung des Mindestlohns rascher aufgehoben.

Die Gewerkschaftsbürokratie gibt ebenso wie die Spitzen von SPD und Linkspartei auf diese Entwicklung keine Antwort. Ihr ganzes politisches Repertoire besteht darin, leere Appelle an den Staat und die „Sozialpartner:innen“ zu richten. Vom Bruch mit der Routine des Tarifrundenrituals, selbst von der allgemeinen und koordinierten Aufkündigung der bestehenden Verträge, wollen sie nichts wissen – schon gar nicht von einem politischen Kampf und politischen Streiks für alle Lohnabhängigen. Und das, obwohl (oder weil?) die allgemeine Preissteigerung die Unzulänglichkeit und Untauglichkeit der sozialpartnerschaftlichen und rein tarifpolitischen Antwort des Gewerkschaftsapparates offenbart. Für die Masse der Arbeiter:innenklasse führt sie unwillkürlich zu Verzicht und massivem Verlust an Kaufkraft.

Welche Antwort?

Dabei käme den Gewerkschaften eigentlich eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Preissteigerungen zu. Die Millionen organisierten Arbeiter:innen stellen jene unverzichtbare Kraft dar, die ein Programm durchsetzen kann, das verhindert, dass die Inflation auf die Lohnabhängigen abgewälzt wird. Umso wichtiger ist es, dass oppositionelle Strömungen wie die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) die Initiative ergreifen und sich andere klassenkämpferische Kräfte mit dieser koordinieren, um gemeinsam für eine Antwort auf die Preissteigerungen zu kämpfen. Dazu schlagen wir folgende Forderungen vor:

  • Automatische Anpassung der Löhne, Gehälter, Einkommen an die Preissteigerung. Diese muss von Kontrollausschüssen der Beschäftigten, Gewerkschaften, Rentner:innen und Erwerbslosen kontrolliert werden.

  • Bestimmung des Warenkorbs, der als Grundlage für die Anpassung der Einkommen herangezogen wird, durch solche Ausschüsse, da die Erhöhung der Lebenshaltungskosten oft höher liegt als der amtliche Verbraucherpreisindex.

  • Massive Anhebung von Mindestlöhnen und Einkommen (Arbeitslosengeld, Renten) gegen Armut auf 1600,- netto/Monat.

  • Preisstopps und -kontrolle in bestimmten Sektoren.

Die Verbraucher:innenpreise und Kosten von Waren, die v. a. Lohnabhängige für Wohnen, Energie, Lebensmittel bezahlen müssen, müssen offengelegt, kontrolliert und z. B. bei Mieten eingefroren werden. Die Kosten müssen durch den Staat oder das (Wohnungs-)Kapital übernommen werden.

  • Kostenlose Grundversorgung: ÖPNV, garantierter Zugang zum Gesundheitssystem und zur Bildung für alle.

  • Enteignung und Kontrolle des Agrarkapitals; direkte Verbindung zu landwirtschaftlichen Produzent:innen; Enteignung der Immobilienkonzerne.

  • Enteignung der Energiekonzerne und Fortführung unter Arbeiter:innenkontrolle.

Wenn Preissteigerungen v a. aus diesem Sektor herrühren, müssen wir diesen unter Kontrolle bringen.

  • Finanzierung durch massive Besteuerung von Vermögen und Unternehmensgewinnen. Alle Enteignungen müssen entschädigungslos und Arbeiter:innenkontrolle stattfinden zur Reorganisation der Produktion im Interesse der Massen und ökologischer Nachhaltigkeit.

Tarifkämpfe sollten als Mittel genutzt werden, um massive Entgelterhöhungen möglichst branchenübergreifend durchzusetzen und Kampforgane aufzubauen. Doch sie reichen nicht. Sie müssen als Mittel verstanden werden, alle Lohnabhängigen für einen gemeinsamen politischen Klassenkampf, letztlich für einen politischen Massenstreik zu sammeln. Diese Bewegung muss sich auf Aktionskomitees in den Betrieben, Büros, aber auch in den Stadtteilen und Gemeinden stützen, um auch Arbeitslose und Rentner:innen, Jugendliche und Studierende zu einer Kampfeinheit zu formieren.

Inflation, Stagnation und Krise gehen Hand in Hand. Ihre Lösung erfordert die Verbindung der Mobilisierung gegen Preissteigerungen mit der Eigentumsfrage und der sozialistischen Umwälzung. In diesem Rahmen erst ergeben Übergangsforderungen wie die gleitende Skala der Löhne (automatische Anpassung an die Inflation) und Arbeiter:innenkontrolle ihren eigentlichen Sinn – als Schritte im Kampf für eine zukünftige Gesellschaft.




Rückkehr der Inflation?

Markus Lehner, Infomail 1176, 19. Januar 2022

Inflationsraten Ende 2021 von 5,3 % in Deutschland oder 7 % in den USA – so etwas kannten viele BewohnerInnen der imperialistischen Zentren nur noch aus Erzählungen „aus grauer Vorzeit“ oder von Ländern des „globalen Südens“. Seit einigen Monaten sind Inflationsraten über 2 % üblich geworden. Zunächst erklärten WirtschaftsforscherInnen und ZentralbänkerInnen, dass es sich um Sondereffekte handeln würde: kurzfristige Lieferengpässe aufgrund der wirtschaftlichen Folgen von Corona oder Spezialeffekte, wie die Rücknahme der Mehrwertsteuerermäßigung.

Inzwischen sind die meisten dieser ExpertInnen sehr viel vorsichtiger geworden – insbesondere nachdem der Vorsitzende der FED, der US-Zentralbank, erklärte: „Inflation is here to stay“. Die Frage ist also: Stehen wir am Beginn einer neuen Ära der Inflation – und wenn ja, aus welchem Grund? Insbesondere stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf die ArbeiterInnenklasse und die notwendige Reaktion darauf.

Zunächst einmal: Was ist überhaupt Inflation?

Einfach gesagt geht es um eine allgemeine und längerfristige Steigerung der Preise, die nicht nur einen bestimmten Sektor, sondern wesentliche Bereiche sowohl für den Massenkonsum als auch für Investitionsgüter betrifft. Das Schwierige dabei ist, dass eine solche übergreifende Preissteigerungstendenz sehr verschiedene Ursachen haben kann. Da es sich bei Preisen um ein quantitatives Verhältnis von Geld und Waren handelt, in dem sich letztlich ein Wertverhältnis widerspiegeln muss, kann die Ursache sowohl auf der Geld- wie auf der Warenseite liegen.

Geld dient einerseits als Zirkulationsmittel, um den Tausch von Waren zu ermöglichen, und andererseits als Wertmaßstab im Tauschverhältnis (tritt uns also z. B. als Preis einer Ware entgegen). Daher können sowohl Schwankungen in der Geldmenge als auch im Wert des Geldes das allgemeine Preisniveau beeinflussen. Der klassische Fall in der Geldtheorie waren die massiven Zuflüsse von Silber in der frühen Neuzeit aus den spanischen Kolonien. Herrschte zuvor trotz Ausdehnung von der Arbeitsproduktivität in Europa Geldknappheit und damit eine Tendenz zu fallenden Preisen, so führte die Ausdehnung der Geldmenge vor allem in Spanien zu einer massiven Inflation (samt Abfluss des Silbers in die produktiveren Sektoren Europas). War dies zunächst der erhöhten Nachfrage geschuldet, so wurde es noch verstärkt, indem die Silbermünzen immer mehr „gestreckt“ wurden (d. h. ihr nomineller und realer Wert auseinanderfielen).

Zusätzlich ist Geld nicht nur Zirkulationsmittel und Maßstab der Werte – es ist durch Kredit- und Wechselgeschäfte immer auch Zahlungsmittel für Tauschvorgänge, bei denen Kauf dem Verkauf vorgezogen wird (nachträgliche Zahlung mit entsprechender Verzinsung). Auch durch Schwankungen der Masse an Zahlungsmitteln und deren Werte (sowie der Zinsen) können Preiseffekte entstehen. Dies betrifft Phasen der Ausdehnung der „Liquidität“ (Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit einer wachsenden Zahl von GläubigerInnen) wie ihres Schrumpfens. Ein hohes Ausmaß an Zahlungsausfällen und Zurückhalten von kurzfristiger Vorfinanzierung – wie z. B. nach der Finanzkrise 2008 – führt zu Marktstockungen und damit kurzfristig zu raschem Preisverfall für plötzlich schwer verkäufliche Waren. Langfristig wirkt hingegen die Ausdehnung der Geldmenge als Zahlungsmittel auch inflationär – wenn der so zum Anwachsen gebrachten Nachfrage (Kauf) langfristig nicht auch die entsprechenden Gegenleistung entspricht (Verkauf). Moderne Inflationen entspringen zumeist Ungleichgewichten in diesen Kreditgeldsphären und weniger dem klassischen Geldumlaufbereich.

Weltmarktstellung, Finanzsystem und Inflation

Von Seite der Ware her gesehen ist das Phänomen der Inflation vor allem eines des Verhältnisses von Wert und Preis. Der Wert wird wesentlich bestimmt durch die gesellschaftliche Arbeitszeit, die für die Produktion der Ware unter den vorherrschenden durchschnittlichen Arbeitsbedingungen notwendig ist. D. h. längerfristige Veränderungen der Arbeitsproduktivität, vor allem sektoral oder regional, führen zu Ausgleichsbewegungen, die sich durch Veränderungen der Preise vermitteln. So hat die „billige Industrieware“ des britischen Kapitals im 19. Jahrhundert auf dem vom Britannien dominierten Weltmarkt zu einer Ära fallender Preise geführt. D. h. obwohl Britannien praktisch das ganze 19. Jahrhundert eine nachhaltig steigende Staatsverschuldung erlebte, führte dies nicht zu Inflation, da dies mehr als wettgemacht wurde durch den deflationären Effekt der Weltmarktstellung des britischen Kapitals. Ein Produktivitätsvorteil, der lange von KonkurrentInnen nicht eingeholt werden kann, kann durch Verkauf über Wert zu einem Werttransfer führen. Trotz Ausdehnung der Geldmenge (dargestellt noch in Gold bzw. damit gedeckten Äquivalenten) wurde dies durch den Zufluss an ausländischen Werten (Gold oder Anleihen) mehr als wettgemacht.

Der Zusammenbruch der Goldwährungssysteme (British Empire, Bretton Woods) hatte jeweils die Gefahr von inflationären Krisenphasen zur Folge gehabt. Um das Beispiel der 1970er Jahre heranzuziehen: Der lange Boom der Nachkriegsperiode endete in Profitabilitätsproblemen, Stockungen der Investitionstätigkeit und Stagnation der Arbeitsproduktivität. Gleichzeitig war der Welthandel stark von nationalstaatlichen Beschränkungen und Monopolpreisen bestimmt. Die Überschuldung der USA, die zur Aufkündigung der Währungsregulierung von Bretton Woods 1973 führte, überschwemmte den Weltfinanzmarkt mit Dollars, die per Schuldenfinanzierung zur Ankurbelung der stockenden Wirtschaften dienen sollten. Tatsächlich kamen letztere jedoch nicht vom Fleck, weshalb sich im Verlauf der späten 1970er Jahre auch in den reichen Industrieländern die Inflationsraten auf die 10 % zubewegten. Stagnation, Verschuldung und Inflation wurden zum Teufelskreis der „Stagflation“ – bis die US-Zentralbank 1982 mit massiven Zinserhöhungen („Volcker-Schock“), teilweise bis zu 20 %, den großen „Dollar-Staubsauger“ anwarf. Die danach einsetzende massive Schuldenkrise war einer der entscheidenden Hebel für die Durchsetzung der neoliberalen Angriffe und der Durchsetzung des „Washington Consensus“ während der 1980er Jahre.

Die darauffolgende Globalisierungsperiode führte zu zwei Jahrzehnten von globalem Wachstum, gestützt auf den Zusammenbruch der degenerierten ArbeiterInnenstaaten, massiver Deregulierung und Privatisierung, Abbau von Handelsschranken und nationalen Schutzbestimmungen – und damit der Ankurbelung von Arbeitsproduktivität und Investitionstätigkeit aufgrund entsprechender Profitraten. Die Deregulierung der globalen Finanzmärkte führte zu einer Ära der scheinbar unbegrenzt wachsenden Liquidität, der Zahlungsmittel für einen in neuer Qualität wachsenden Weltmarkt. Insbesondere die Verbilligung von Waren und Dienstleistungen durch globales Outsourcing, Steigerungen von Produktivität und Ausbeutungsraten zeitigte durch das Sinken der Herstellungspreise einen deflationären Effekt. Die scheinbar explodierenden Geldmengen führten unter diesen spezifischen Bedingungen nicht zur Inflation. Außerdem wuchs die Massenkaufkraft in Folge der neoliberalen Lohn- und Haushaltspolitik auch in den imperialistischen Ländern nicht in entsprechendem Ausmaß, so dass der Geldüberhang eher wiederum in neue Finanzmarktprodukte floss und das Kreditgeldsystem stabilisierte. In den imperialisierten Ländern dagegen wurden diejenigen, die den „Washington Consensus“ verließen, ganz automatisch durch Schrumpfen der Dollarreserven oder Abwertung ihrer Währung mit Inflation gestraft. Die Inflation war also nicht verschwunden – nur dass sie in den imperialistischen Ländern als solche der Finanzwerte, in den imperialisierten Ländern als Zwangsmittel zur Aufrechterhaltung neoliberaler Politik auftrat.

Globale Krise

Mit dem Sinken der Profitraten in den frühen 2000er Jahren kehrte die Realwirtschaft zur Stagnation zurück, während der spekulative Boom durch das Aufblasen der Finanzmärkte weitergetrieben wurde – bis zur Finanzmarktkrise 2008. Die vorläufige Rettung des globalen Kapitals wurde paradoxerweise 2009/2010 mit der Politik des „Quantitative Easing“, also der extremen weiteren Ausdehnung der Zahlungsmittelmengen erzielt. Damit wurde die Liquidität wiederhergestellt und gleichzeitig ein großer Teil der imperialistischen Kapitale gerettet. Da die 2010er Jahre in den alten imperialistischen Ländern aber gleichzeitig weiterhin durch sehr geringe Wachstums- und Profitraten in der Realwirtschaft gekennzeichnet waren, stellt sich die Frage, warum sich das dort nicht als Inflation ausgewirkt hat. Hier wirkten folgende drei Faktoren: (1) Die Gewichte im Welthandel hatten sich stark zu Gunsten von China verschoben, das als Lokomotive der Weltwirtschaft mit seinen Produktionsketten den Weltmarkt weiterhin mit billigen Herstellerpreisen bedienen konnte; (2) die Antikrisenpolitik in den imperialistischen Ländern fußte weiterhin auf Stagnation der Löhne und Massenkaufkraft; (3) trotz der Politik des billigen Geldes vertraute das globale Kapital aus Angst vor schlimmeren Verlusten in sogar gesteigertem Maße ihr Geld den klassischen imperialistischen Anlagemärkten an. In Folge wurden viele der angeblich aufsteigenden Schwellenländer (z. B. Brasilien, Türkei) durch Kapitalmangel und schrumpfende Weltmarktchancen gebeutelt. In vielen dieser Länder breitete sich bereits Stagflation aus.

Die Corona-Krise traf dieses sowieso schon krisenhafte Weltsystem. Mit dem Wachstumseinbruch der ersten Corona-Welle und den folgenden Einschränkungen, was Welthandel, Transport und Zulieferindustrien betraf, kam es zu schweren Rezessionen in fast allen Ländern des Globus. Wiederum wurden in den imperialistischen Ländern massive Geldmittel zur „Überbrückung“ bis zum erneuten Anlaufen der Weltwirtschaft bereitgestellt. Dies betraf sowohl große staatliche Ausgabenprogramme wie auch weitere Ausweitung der Zahlungsmittelmengen (z. B. durch Übernahme gefährdeter Finanzierungen). Anders, als sich Regierungen und Zentralbanken es vorstellten, ging die Krise aber nicht so rasch vorbei. Insbesondere führten das Prinzip „so wenig Lockdown in den Betrieben wie möglich“ ebenso wie der Mangel an Unterstützung der Impfkampagnen in der imperialisierten Welt dazu, dass die Pandemie unvermindert weitergeht, von Mutationswelle zu Mutationswelle.

Außerdem wächst das Gewicht der schon seit der letzten Krise immer zahlreicher werdenden „Zombiekapitale“ (Betriebe, die abseits der bestehenden Geldpolitik längst zahlungsunfähig wären). Dies drückt die gesamtwirtschaftliche Produktivität, bindet Kapital für neue Investitionen und drückt die Durchschnittsprofitrate. Die Wachstumsraten, die sich bisher für das neue Jahrzehnt andeuten, sind daher ebenso stagnativ wie im letzten Jahrzehnt. Dazu kommt, dass diesmal auch China in einer real- und finanzwirtschaftlichen Krise steckt (Stichwort: Evergrande). Während es diesmal nicht die dynamische Rolle auf dem Weltmarkt spielen kann, kommt auch noch dazu, dass nicht erst seit Trumps US-Präsidentschaft der Welthandel wieder deutlich protektionistischer organisiert wird. In wachsender Weise werden auch Produktionsketten wieder in die imperialistischen Kernländer zurückverlegt (Schlagwort „Deglobalisierung“).

Inflation ist zurück

All dies bedeutet, dass derzeit die gewachsene Geldmenge durch sehr viel weniger deflationäre Gegengewichte gebremst wird. Die Stimuluspakete z. B. von Bundesregierung oder USA waren stärker als 2009 auf Belebung von Massenkonsum und Investitionen ausgerichtet (in der Annahme, dass dies der kurzfristigen Überbrückung dient). Doch trafen sie auf einen weiterhin stagnierenden bzw. sogar schrumpfenden Weltmarkt. Geringere Kapazitäten in der Öllieferung führten zu steigenden Preisen mit einem Anstieg der Gaspreise in Folge. Mit den CO2-Zertifikaten führt dies insbesondere bei den Energiepreisen zu einem enormen Anstieg. Ähnliche Preisauftriebe gibt es für Baumaterialien und -maschinerie. Der Rückbau von Produktionsketten ebenso wie pandemiebedingte Ausfälle bringen auch einen Nachfrageüberhang nach Arbeitskräften mit sich, was zu einer Lohnsteigerungstendenz führt. Letztlich mündet die Finanzmarktentwicklung auch weiterhin in hohen Investitionsraten in Immobilien und damit auch zu weiter steigenden Mieten.

All das bedeutet heute, dass sich die Politik des billigen Geldes derzeit auch tatsächlich in steigenden Preisen auswirkt. Sollte es nicht zu einem raschen und starken Wachstum, fußend vor allem auf steigenden Investitionen, kommen, droht tatsächlich auch in den imperialistischen Zentren die Rückkehr der Stagflation (Kombination von Stagnation und Inflation, die einander wechselseitig verstärken). Da ein realer, von Investitionen getragener anhaltender Aufschwung nicht zu erwarten ist, müssen wir uns auch wieder auf die Schockmaßnahmen vorbereiten, die das Kapital für so einen Fall parat hält.

Zunächst einmal muss uns als Lohnabhängigen klar sein, dass eine längerfristige Phase der Inflation eine starke Bedrohung für unsere Lebensverhältnisse darstellt. Schon jetzt sind gerade NiedrigverdienerInnen und Hartz-IV-EmpfängerInnen massiv von den Preiserhöhungen betroffen. Aber auch „Normalverdienende“ werden diese zu spüren bekommen, wenn die Inflation nicht vollumfänglich in die Lohnforderungen eingeht. Alle Behauptungen von einem „vorübergehenden Phänomen“ müssen entschieden zurückgewiesen werden.

Tatsächlich kann sich das Problem von Erhöhungen von Strom- und Wohnkosten in nächster Zeit sogar extrem zuspitzen. Dies muss insbesondere bei Fragen der Enteignung von Wohnungsgesellschaften und Energiekonzernen mit eingebracht werden. Insgesamt kann die ArbeiterInnenklasse den Auswirkungen einer Stagflationskrise nur durch einen konsequenten Kampf für eine gleitende Skala von Löhnen und Arbeitszeiten unter ArbeiterInnenkontrolle begegnen, also eine unmittelbare Anpassung der Einkommen an Preiserhöhungen. Da die offizielle Inflation die Preissteigerungen der Lohnabhängigen oft nur unzureichend widerspiegelt, muss diese Erhöhung von Löhnen, Arbeitslosengeld, Renten usw. die Preisentwicklung jener Waren widerspiegeln, die vor allem von den Lohnabhängigen konsumiert werden, um sich zu reproduzieren.

Doch die Auswirkungen einer Inflation und möglicher „Schocktherapien“ der Herrschenden wie eine Rückkehr zu einer Hochzinspolitik treffen nicht nur die Preise. Ein mögliche drohende „Schocktherapie“ muss ihrerseits zwangsläufig zu einer massiven Welle von Betriebsschließungen führen – was nur mit einer koordinierten Welle von Betriebsbesetzungen beantwortet werden kann.

Viel spricht dafür, dass die zu erwartende Stagflationskrise die der 1970er Jahre global um einiges übersteigen wird. Daher können die genannten Abwehrmaßnahmen der ArbeiterInnenklasse nur die Vorbereitung auf die notwendige Offensive für den Angriff auf die Wurzel des Problems sein: das Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine Neuaufteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter Kontrolle der Lohnabhängigen. Die ökonomische und ökologische Krise, auf die wir zusteuern, erfordert lebensnotwendig den Kampf um eine sozialistische Gesellschaft.




Weltlage: 4 Krisen – Klima, Pandemie, Wirtschaft und Krieg

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die 5. Internationale, 15.12.202, Infomail 1174, 31. Dezember 2021

In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Welt mit einer Reihe von miteinander verknüpften Krisen konfrontiert. An erster Stelle steht eine globale Gesundheitskrise. Covid-19 hat die Regierungen und Gesundheitssysteme überrascht, obwohl sie von EpidemiologInnen und der WHO vor einer wahrscheinlichen zweiten SARS-Epidemie gewarnt worden waren und die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals darauf hingewiesen hatten, dass ihre Krankenhäuser und Kliniken nicht in der Lage sind, eine solche zu bewältigen. Covid-19 hat weltweit mehr als fünf Millionen Todesopfer gefordert und wütet mit seinen Delta- und Omikronvarianten immer noch und bricht in Ländern wieder aus, die überzeugt waren, die Krankheit unter Kontrolle zu haben, und ihre Wirtschaft wieder in Gang brachten.

In den Schlagzeilen stehen auch die zunehmenden extremen Wetterereignisse, Überschwemmungen, Waldbrände und Dürren rund um den Globus, die die Aussicht auf einen katastrophalen Klimawandel unbestreitbar machen. Dennoch war die Klimakonferenz COP26 in Glasgow nur ein weiteres RednerInnenfest. Die Öl-, Gas- und Kohlekonzerne und die von ihren Produkten abhängigen Staaten USA, China, Indien, Brasilien und Saudi-Arabien blockierten jede feste Verpflichtung zur Reduzierung dieser Quellen von CO2-Emissionen. Wieder einmal wurden die halbkolonialen Länder, vor allem in den Tropen, die bereits schwer gelitten haben, um die Milliarden betrogen, die sie zur Bekämpfung der Auswirkungen benötigen, und stattdessen wurden ihnen weitere Kredite angeboten.

Drittens verursachte Covid die stärkste jährliche Schrumpfung der Weltwirtschaft seit den 1930er Jahren. Die Abriegelungen zwangen die großen imperialistischen Staaten, ihre neoliberalen Dogmen bezüglich der Staatsausgaben über Bord zu werfen. Die Zinssätze, die jahrelang bei Null lagen, um die zur Stagnation neigenden Volkswirtschaften anzukurbeln, erlaubten es den Staaten nun, Billionen zu leihen und in den imperialistischen Kernländern die Lohnabhängigen (bzw. die sie beschäftigenden Unternehmen) dafür zu bezahlen, dass sie ihre qualifizierten Arbeitskräfte behalten oder diese von zu Hause aus arbeiten. Die Unterbrechung der Versorgungsketten und der Weltmärkte sowie die wiederholten Aussperrungen haben zwar enorme Verluste verursacht, doch das volle Ausmaß der Kapitalvernichtung wird erst deutlich werden, wenn die Pandemie aufhört. Der Internationale Währungsfonds sagt voraus, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt bis 2024 immer noch 2,8 % unter dem Wert liegen wird, den es vor dem pandemiebedingten Einbruch gehabt hätte.

Gleichzeitig sind  diktatorische Regionalmächte wie Saudi-Arabien und der Iran in blutige Kriege in Äthiopien und im Jemen verwickelt. Am Horn von Afrika und in der gesamten Sahelzone schüren Militärputsche, islamistische Guerillabewegungen und kriminelle Banden das Chaos, während die Regierungstruppen ebenso frei Gräueltaten begehen wie die TerroristInnen. Das Wettrüsten zur See zwischen den USA und China in Ostasien, der neue AUKUS-Militärpakt zwischen USA, Australien und Großbritannien sowie Chinas Unterdrückung in Hongkong und der Provinz (Uigurisches Autonomes Gebiet) Xinjiang machen ebenfalls deutlich, dass die Welt in eine Phase verschärfter zwischenimperialistischer Rivalität eingetreten ist, die den Ausbruch von Stellvertreterkriegen zwischen den Regionalmächten verspricht.

Zusammengefasst haben diese Faktoren zu einer sich vertiefenden politischen Krise in den alteingesessenen bürgerlichen Demokratien geführt. Im Jahrzehnt nach der Großen Rezession stagnierten die Reallöhne in vielen imperialistischen Ländern und sanken in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Begleitet wurde dies von Kürzungen der Sozialleistungen, um die enormen Subventionen für Unternehmen zu finanzieren, die als „zu groß zum Scheitern“ eingestuft wurden.

Die bürgerliche Demokratie ohne Wohlstand ist ein instabiles Phänomen, und es hat eine weit verbreitete politische Polarisierung stattgefunden. Die Präsidentschaft von Donald Trump polarisierte und destabilisierte die US-Innenpolitik. Zwar wurde er 2020 abgewählt, aber dann erfolgte das beispiellose Spektakel, in dem er versuchte, sich an die Macht zu klammern, und die Invasion des US-Kapitols durch seine halbfaschistischen AnhängerInnen. Trotzdem sind die RepublikanerInnen in den Augen der Hälfte der WählerInnenschaft nicht diskreditiert, und ein Comeback eines/r anderen RechtspopulistIn im Jahr 2024 stellt eine reale Möglichkeit dar.

Nächstes Jahr könnte Jair Bolsonaro aufgrund seiner großen faschistischen AnhängerInnenschaft und seiner Unterstützung im Militär einen ernsthafteren Versuch als den von Trump unternehmen, sich mit einem Putsch gegen die Wahlniederlage zu wehren. Die Impf- und AbriegelungsgegnerInnen in Europa sind in der Regel mit bereits bestehenden rechten Parteien wie der Freiheitlichen Partei Österreichs und der Alternative für Deutschland verbunden. Die letztgenannte Entwicklung zeigt, wie groß die Unzufriedenheit in den Mittelschichten und auch in den weniger klassenbewussten Teilen der ArbeiterInnenklasse ist.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kam es in den letzten Jahren trotz der Beschränkungen für öffentliche Aktivitäten auch zu Massenmobilisierungen. In Indien zwang ein riesiger eintägiger Generalstreik im November 2020, gefolgt von einer einjährigen Blockade in Delhi durch Bauern und Bäuerinnen, die gegen neoliberale Landwirtschaftsgesetze protestierten, den „starken Mann“ Modi zu einem demütigenden Einlenken. Dann ereigneten sich noch die enormen Black-Lives-Matter-Mobilisierungen in den USA nach dem Mord an George Floyd.

Die großen „Schulstreiks für die Zukunft“ im Jahr 2019 haben die Frage des Klimawandels auf die politische Tagesordnung gesetzt. Die sudanesische Massenbewegung von 2018 – 2019, die den Diktator Umar (Omar) al-Baschir stürzte, kehrte im Oktober dieses Jahres zurück, nachdem der Interimspräsident Abdel Fattah Burhan die zivilen VertreterInnen aus dem Souveränen Rat verdrängt hatte. In Chile führten Massenproteste im Oktober 2019 zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und zur Abschaffung der Pinochet-Verfassung. In der 2. Runde der Präsidentschaftswahlen wurde der Reformist Boric im Dezember 2021 ins Amt gehievt.

Die Beunruhigung der Bevölkerungen angesichts von Armut, Inflation, Arbeitslosigkeit, extremen Wetterereignissen und Krieg ist also durchaus gerechtfertigt. Immer wieder haben sie ihre Bereitschaft gezeigt, auf der Straße zu protestieren. Was fehlt, ist eine politische Führung mit einem Programm, um die Kräfte zu lenken, die den korrupten MillionärInnen und den Militärregimen die Macht entreißen und sie in die Hände von Räten und Milizen der ArbeiterInnen in den Städten und auf dem Land und der Jugend legen können.

Angesichts dieser Herausforderungen haben sich die Organisationen der ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten jedoch als träge und durch verschiedene Arten von Reformismus stockkonservativ erwiesen. Diese Blockade zu durchbrechen, damit die neue Welt aus der Agonie der alten geboren werden kann, ist die Aufgabe der RevolutionärInnen weltweit, und die internationale Organisation ist dabei der Schlüssel zum Erfolg.

Die Pandemie hält an

Die Covid-19-Pandemie ist eindeutig noch nicht vorbei, wie die „vierte Welle“ in Deutschland, Österreich und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern sowie die rasche Ausbreitung der „Omikron“variante zeigen. Sie wird weiterhin starke wirtschaftliche Auswirkungen auf ein kapitalistisches System zeitigen, das sich 2019 bereits von einem Jahrzehnt der beinahe Stagnation auf eine weitere große Rezession zubewegte. Das Virus ist nicht nur zu ansteckenderen Varianten mutiert, sondern während alle imperialistischen Länder außer Russland einen Großteil ihrer Bevölkerung geimpft haben, waren nur einige Halbkolonien (vor allem in den Golfstaaten, in Ostasien und Lateinamerika) dazu in der Lage, und das mit erheblicher Verzögerung. Der tatsächliche wirtschaftliche Tribut, den die Krankheit in Afrika, Lateinamerika und weiten Teilen Asiens fordern wird, dürfte enorm sein, doch das Angebot an Impfstoffen wurde von den imperialistischen Ländern aufgekauft. Das wahre Ausmaß der Verwüstung für die Bevölkerungen in der halbkolonialen Welt kann man nur erahnen.

Die Pandemie hat die Gesundheitsdienste der Welt an ihre Belastungsgrenze gebracht und die kapitalistischen Volkswirtschaften gestört, Lieferketten unterbrochen, Arbeitskräfte entlassen und zu Konkursen geführt. In den älteren imperialistischen Ländern konnten einige dieser Auswirkungen durch Kurzarbeit und massive Almosen an die Arbeit„geber“Innen aufgefangen werden, die durch historisch niedrige Zinssätze gestützt wurden.

Dennoch stiegen die Börsen und Anleihemärkte nach einem kurzzeitigen Absturz im zweiten Trimester 2020 bis zum Jahresende wieder auf neue Höchststände. Dies deutet nicht auf eine Erholung der Realwirtschaft hin (des Teils, der Mehrwert erzeugt und realisiert), sondern vielmehr auf eine weitere Aufblähung des fiktiven Kapitals, das keine ausreichend rentablen Ziele für Investitionen in produktive Industrien finden kann. ZentralbankerInnen und FinanzministerInnen  warnen nun vor einer Rückkehr zur Inflation und, wenn die so genannten realen Volkswirtschaften um die Stagnation herum schwanken, zu einer „Stagflation“, wie sie zuletzt in den 1970er Jahren zu beobachten war, einem Jahrzehnt explosiver Klassenkämpfe, Revolutionen und Konterrevolutionen.

Die Internationale Arbeitsorganisation hat errechnet, dass in den Jahren 2020 – 2021 umgerechnet 100 Millionen Vollzeitarbeitsplätze verlorengegangen sind, und befürchtet, dass die Zahl im Jahr 2022 weiter steigen wird, da staatliche Unterstützungsausgaben zurückgezogen werden und Unternehmen in Konkurs gehen, wobei junge und weibliche ArbeiterInnen am stärksten betroffen sind. Sobald der Aufschwung abgeschlossen ist, werden große Veränderungen in Handel und Industrie sichtbar werden.

Die kommende Klimakatastrophe

Während die Regierungen der Welt auf der Klimakonferenz in Glasgow das Ziel bekräftigten, den globalen Temperaturanstieg bis 2050 unter der vom Weltklimarat (IPCC) gesetzten Grenze von 1,5 °C zu halten, ließen sie den Konzernen freie Hand, um weiterhin Bergbau und Bohrungen durchzuführen. Die IPCC-ExpertInnen sagen voraus, dass die Welt in Wirklichkeit auf einen Anstieg von 2,4 °C zusteuert. Selbst der niedrigere Wert würde extreme Hitzewellen, einen Anstieg des Meeresspiegels mit Überflutung von Inseln und Küstenstädten sowie die Zerstörung der Artenvielfalt an Land und in den Ozeanen bedeuten.

Der Klimawandel wird auch enorme politische Auswirkungen mit sich führen. In ganz Afrika haben die Verknappung der Wasserressourcen und die Versteppung von Acker- und Weideland bereits zu verstärkter Migration und zu Konflikten zwischen ViehzüchterInnen und LandwirtInnen sowie zwischen Staaten um Wasserressourcen geführt, die alle dramatisch zunehmen werden.

Unterdessen breiten sich extreme Wetterereignisse aus: riesige Waldbrände in Australien, Griechenland und entlang der Westküste der USA und Kanadas, Überschwemmungen in Deutschland und China, zerstörerische Wirbelstürme auf den Fidschiinseln und in Indonesien. In vielen Regionen Afrikas und in Afghanistan herrschen aufgrund von Dürren Hungersnöte . Obwohl das Leid in diesen Gebieten zum Teil durch Kriege und pandemiebedingte Verwerfungen verursacht wird, können die meisten dieser Ereignisse direkt auf den Klimawandel zurückgeführt werden. Die Konferenz in Glasgow hat es jedoch völlig versäumt, Maßnahmen zu ergreifen, die die Ursachen des vom Menschen verursachten Klimawandels auch nur ansatzweise zu begrenzen beginnen könnten. Ihre „große Errungenschaft“ bestand lediglich in der Aufforderung an die Regierungen, ihre Subventionen für die Kohle-, Öl- und Gasförderung einzustellen, ohne dass ein wirklicher Zeitplan für die Beendigung der Förderung festgelegt wurde.

Der Klimawandel stellt ebenso wie Pandemien, Rezessionen und Kriege eine existenzielle Herausforderung für den Kapitalismus als Produktionsweise und Klassenherrschaft dar. Seine Unfähigkeit, die Produktivkräfte zu planen und entwickeln, ohne gewaltige zerstörerische Kräfte, Zusammenbrüche und zunehmende Ungleichheiten freizusetzen – was Marx den metabolischen Bruch mit der Natur nannte –, verurteilt ihn trotz all seiner technologischen und wissenschaftlichen Wunderwerke zu einem sozialen System im Verfall. Dies hat ein Schlaglicht auf die Untauglichkeit des Kapitalismus geworfen, auf die vorrangige Bedeutung des Profits gegenüber den Bedürfnissen der Menschen. Die Revolution des 21. Jahrhunderts wird sich nicht nur mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und den Kriegen befassen müssen, sondern auch mit der ganzen Reihe von Umweltkatastrophen und künftigen Pandemien, die zur Krise „Sozialismus oder Barbarei“ in unserer Welt beitragen.

Stagflation führt zum Einbruch

Der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts kommentiert, dass „die Prognosen für das durchschnittliche jährliche reale BIP-Wachstum in praktisch allen großen Volkswirtschaften für dieses Jahrzehnt einen geringeren Anstieg vorhersagen als für das der 2010er Jahre – das ich die Lange Depression genannt habe“. Gleichzeitig setzt sich die Inflation in den Volkswirtschaften weltweit durch und untergräbt Löhne, Renten und Ersparnisse, was die zur Ankurbelung des Aufschwungs gedachten Ausgaben stoppen könnte, ganz zu schweigen von der Ankündigung einer neuen Ära (neo-)keynesianischer Sozialausgaben, auf die linke sozialdemokratische und populistische ReformistInnen hoffen.

Der Einbruch von 2020 beendete ein Jahrzehnt, in dem die Weltwirtschaft trotz Aufschwungs zur Stagnation tendierte. Die Ursache hierfür liegt in der Überakkumulation von Kapital, die ihrerseits darauf zurückzuführen ist, dass innerhalb der Produktion keine ausreichend rentablen Investitionsbereiche gefunden wurden und das Kapital folglich in unproduktive, ja parasitäre umgeleitet wurde. Nur eine wirklich umfassende Kapitalvernichtung, bei der alte Industrien mit niedrigen Profitraten stillgelegt werden, könnte dieses Problem in Angriff nehmen. Ein großer Einbruch, gefolgt von einer langen Depression, würde jedoch nicht nur die Profitraten langfristig erhöhen, sondern auch die anderen Hauptmerkmale unserer „Epoche der Kriege und Revolutionen“ (und Gegenrevolutionen) hervorbringen. Die Großmächte, die davon besessen sind, ihre wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft in der Welt zu verteidigen oder zu erlangen, sind noch weniger geneigt, multilaterale Institutionen, Verträge oder Vereinbarungen wieder in Kraft zu setzen. Die USA sind führend bei der Verhängung von Sanktionen gegen alle, die ihre Interessen verletzen. Kalte und Handelskriege können sich in heiße Kriege verwandeln, wenn lebenswichtige strategische Interessen auf dem Spiel stehen.

Rivalität zwischen Großmächten

Nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan strömt eine neue Welle verzweifelter Flüchtlinge in die Nachbarstaaten wie Iran und Pakistan, angetrieben von den vielen Menschen, die in diesem Land vorm Verhungern stehen. Tausende erreichen die Grenzen der Europäischen Union, was zum Teil auf das zynische Vorgehen des weißrussischen Diktators Alexander Lukaschenko zurückzuführen ist, der von seinem großen Bruder, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, unterstützt wird.

Putin führt einen Kampf mit der EU, seit die Nato ihre Mitgliedschaft bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt und „farbige Revolutionen“ im „nahen Ausland“, einschließlich der Ukraine, angezettelt hat. Sein Gegenangriff umfasste die Einnahme der Krim, die Unterstützung der ostukrainischen SeparatistInnen und des Assad-Regimes, eines langjährigen Verbündeten und Protegés der UdSSR und später der Russischen Föderation. Die USA und Russland sind mitverantwortlich für den Beginn eines neuen Kalten Krieges in Europa, der sich durchaus parallel zu dem zwischen den USA und China in Asien entwickeln könnte.

In China hat Xi Jinping seine Führungsrolle auf unbestimmte Zeit verlängert. Die „historische Resolution“ des sechsten Plenums des Zentralkomitees der KPCh hat seine bonapartistische Rolle noch verstärkt, indem sie ihn als „Kern“ bezeichnet und ihn auf den gleichen Status wie Mao Zedong (Mao Tse-tung) hebt. Diese Rolle des Schiedsrichters spiegelt eindeutig tiefe Spannungen innerhalb der beiden herrschenden Kräfte in China wider, der parteigebundenen militärisch-staatlichen kapitalistischen Bürokratie und der wachsenden Großbourgeoisie im Privatsektor. Xis Antikorruptionskampagne richtet sich sowohl gegen (unbekannte) bürokratische KonkurrentInnen als auch gegen superreiche KapitalistInnen wie den Alibaba-Gründer Jack Ma, die aus Angst, sie könnten Verbindungen zur chinesischen Bourgeoisie im Ausland, vor allem in Taiwan, knüpfen, in die Schranken gewiesen wurden.

Ein weiterer Aspekt ist die Verstärkung des chinesischen (Han-)Chauvinismus durch die KPCh mit der Verfolgung der UigurInnen und der Bedrohung Taiwans, den Marineanlagen im Südchinesischen Meer und den gemeinsamen Manövern mit Russland in der Nähe von Japan. Das Programm „Gemeinsamer Wohlstand“ wird als Mittel zur Überwindung der Kluft zwischen den Superreichen und den Massen sowie der Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen des riesigen Landes, einschließlich der Kluft zwischen Stadt und Land, angepriesen, und das, obwohl alle „aus der absoluten Armut herausgeholt“ wurden. Eine Reihe chinesischer Unternehmen und GeschäftsführerInnen hat sich jedoch beeilt, Geld in den herumgereichten Hut zu stecken.

Xis starkes Auftreten im Ausland, seine Nichtteilnahme an der Klimakonferenz, aber ein persönliches Treffen mit Biden, sollen zeigen, dass auch China zu einer „unverzichtbaren Nation“ geworden ist. Darüber hinaus mehren sich Hinweise aus den Staaten Südasiens und Afrikas, dass es sich bei der Neue-Seidenstraße-Initiative um ein imperialistisches Investitionsprojekt handelt, das für autoritäre und geradezu diktatorische Regime (Myanmar und vielleicht Afghanistan) attraktiv ist, weil die chinesische Hilfe nicht an die Einhaltung von Menschenrechten geknüpft ist. Wenn China, ebenso wie Russland, mit solchen Regimen assoziiert wird, könnte dies dem Land in den ideologischen Kämpfen des Kalten Krieges mit den USA nicht gut bekommen.

Aber auch die alten „demokratischen“ Imperialismen untergraben den Ruf ihres „weichen Drucks“ , indem sie sich weigern, Flüchtlinge aus Kriegen und Invasionen aufzunehmen, die sie selbst verursacht haben. Sie sind ebenso, ja mehr noch, daran schuld, dass sie sie durch hohe, mit Stacheldraht besetzte Zäune und den Einsatz von Streitkräften am Überschreiten der weißrussisch-polnischen Grenze hindern, obwohl die EU-Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, alle Asylanträge zu prüfen.

Die Europäische Union sieht sich mit einer weiteren großen Einwanderungskrise konfrontiert, nicht wegen einer unerträglichen Zahl von Flüchtlingen und WirtschaftsmigrantInnen, sondern wegen des rassistischen Drucks populistischer Parteien, die sich dagegen wehren, dass die Regierungen ihren vertraglichen Verpflichtungen zur Bearbeitung von Asylanträgen nachkommen. Das gilt an der Kanalküste ebenso wie in den Wäldern von Belarus.

Brüssel wird seine rassistische Einwanderungspolitik fortsetzen und die „Festung Europa“ für die meisten Flüchtlinge abschotten, während es einige Fach- und hochqualifizierte Arbeitskräfte zulässt, um die rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien zu beschwichtigen. Ihr Rassismus gegen Flüchtlinge und gegen MuslimInnen wird weiterhin ein wichtiges Mittel sein, um reaktionäre Bewegungen zu mobilisieren, aber in der aktuellen Situation orientieren sich die meisten jetzt an den reaktionären Bewegungen gegen die Impfung und präsentieren sich als VerteidigerInnen der „Freiheit“.

Wäre die EU eine echte gemeinsame Volkswirtschaft, wäre sie nach den USA der zweitgrößte Wirtschaftsraum, eine wirtschaftliche Riesin, aber eine politische Zwergin. Ihr Zusammenhalt liegt Lichtjahre hinter den USA und China zurück, und der Brexit hat ihr finanzielles und militärisches Gewicht verringert. Frankreich hat sich unter Emmanuel Macron für wirtschaftlichen und politischen Föderalismus und eine von den USA unabhängige militärische Stärke eingesetzt. Deutschland hingegen hat sich mit wirklich entscheidenden Maßnahmen in diese Richtung zurückgehalten. Das Erfordernis der Einstimmigkeit bei wichtigen Reformen bedeutet, dass die osteuropäischen Staaten ein Veto gegen wichtige Initiativen wie eine einheitliche, von den USA unabhängige europäische Armee einlegen können.

Progressive Massenbewegungen

In der Zwischenzeit haben die Bewegungen zur Rettung des Planeten, wie Fridays for Future und der Global Climate Strike, internationale Ausmaße angenommen. Es gab Proteste auf der ganzen Welt, einschließlich der Mobilisierung von Bauern, BäuerInnen und indigenen Gemeinschaften im globalen Süden. Aber wie Glasgow (und die Konferenz von Paris davor) gezeigt haben, waren sie nicht in der Lage, das Verhalten der Regierungen und der naturzerstörenden Konzerne zu ändern, nicht einmal die Subventionen für die Kohleproduktion „auslaufen“ zu lassen, geschweige denn den Kohlebergbau oder die Öl- und Gasförderung zu stoppen.

Demokratische Revolutionen gegen repressive Regime, die von der Jugend der Welt angeführt wurden, verbreiteten sich am Ende der Großen Rezession im Jahr 2011 in den arabischen Ländern, in Südostasien (Myanmar und Thailand) und in Lateinamerika. Da es ihnen jedoch nicht gelang, den militärischen Unterdrückungsapparat zu zerschlagen, die korrupten herrschenden Klassen zu stürzen und neue Machtorgane der ArbeiterInnen, der Jugend und der Unterdrückten zu installieren, haben sich die „demokratischen Frühlinge“ fast alle in „konterrevolutionäre Winter“ verwandelt, wofür das brutale Regime von as-Sisi in Ägypten der beste Beweis ist. Die anhaltende Mobilisierung im Sudan nach dem Putsch vom 25. Oktober 2021 unter der Führung von General Abdel Fattah Burhan zeigt jedoch die Dynamik der Volkskräfte und, dass die Eliten immer wieder vor der Herausforderung stehen, in Zeiten der Wirtschaftskrise stabile, dauerhafte repressive Regime zu schaffen.

Dennoch gibt es eine regelrechte Pandemie von „starken Männern“, darunter Duterte auf den Philippinen, die Juntas in Myanmar und im Sudan, Bolsonaro in Brasilien, Erdogan in der Türkei, Modi in Indien, Xi in China, bin Salman in Saudi-Arabien – die Liste ist endlos. Das Problem, mit dem fortschrittliche Kräfte auf der ganzen Welt konfrontiert sind, ist die begrenzte Wirksamkeit von friedlichem Protest. Selbst massenhafte und langanhaltende Proteste werden scheitern, solange der Staat die Moral und Disziplin seiner Repressionskräfte aufrechterhalten kann.

Führungskrise

Ein weiteres Merkmal der weltweiten Situation liegt in der Schwäche der „Mitte-Links“-Regierungen, die in einer Reihe von Ländern an die Macht gekommen sind und in anderen in den Startlöchern stehen, wenn es den reaktionären populistischen FührerInnen nicht gelingt, sich an der Macht zu halten. In Brasilien würde Bolsonaro wahrscheinlich durch den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva ersetzt, dessen gewählte Nachfolgerin Dilma Rousseff durch einen Putsch von Justiz und Parlament abgesetzt wurde. Es war Lulas „Volksfront“ mit den verräterischen bürgerlichen Parteien, die den Weg für Bolsonaro freigemacht hat. Selbst wenn Lula gewinnen und sich erneut im Amt etablieren sollte, würde sich der Zyklus mit ziemlicher Sicherheit wiederholen, dieses Mal mit der Hinzufügung einer mächtigen faschistischen Bewegung, einem Erbe von Bolsonaros Präsidentschaft.

Größere parlamentarische Reformen sind nur in zwei Szenarien möglich: ein florierender expansiver Kapitalismus, der sich „Brosamen von seinem Tisch“ leisten kann, oder ein Massenaufstand, der mit einer Revolution droht und ernsthafte Reformen zu einer realistischen Option für eine bedrohte herrschende Klasse macht. Da weder das eine noch das andere existiert, Letzteres aufgrund der erdrückenden Wirkung der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bürokratie, sind anhaltende politische Krisen in den kommenden Jahren fast garantiert.

Die Rückkehr der Taliban an die Macht nach der schmachvollen Niederlage der USA und dem chaotischen Abzug aus Kabul hat zur Destabilisierung ganz Südasiens, einschließlich Afghanistan, Pakistan, Indien, Bangladesch, Sri Lanka und Myanmar, beigetragen. Dahinter steht die Rivalität zwischen den USA und China und der verzweifelte Versuch Indiens, beide herauszufordern. Xi Jinpings „Neue Seidenstraße“-Initiative, die die regionale Vorherrschaft sichern soll, wird für künftige Konflikte rund um den Indischen Ozean sorgen.

Heute wird die Region jedoch von legitimen demokratischen Kämpfen um nationale Rechte erschüttert. Die UigurInnen, die Rohingya, die TamilInnen, die Kaschmiris, die BelutschInnen und eine Vielzahl ethnisch-linguistischer Gemeinschaften in Afghanistan haben alle unter Pogromen und ethnischen Säuberungen durch Militärregime und fundamentalistische Gruppen gelitten, seien sie nun hinduistisch, muslimisch, buddhistisch oder, wie im Fall der UigurInnen, angeblich kommunistisch.

Die Kräfte in Europa und Nordamerika, die sich für palästinensische Belange einsetzen, sahen sich einem bösartigen Gegenangriff des israelischen Staates und seiner UnterstützerInnen in den imperialistischen Regierungen und den rechtsgerichteten Medien gegenüber. Der anfängliche Erfolg der Kampagnen zur Entlarvung des Apartheidcharakters des israelischen SiedlerInnenstaates führte zu einer Flut von falschen Anschuldigungen wegen rassistischer Judenfeindlichkeit. Ihr größter Schlag lag in ihrem Beitrag zum Sturz von Jeremy Corbyn aus der Führung der Labour-Partei. UnterstützerInnen der palästinensischen Sache, darunter auch mutige fortschrittliche Juden und Jüdinnen, wurden in Großbritannien ins Visier genommen, und jede ernsthafte Kritik an Israel wird nun in den Medien als Antisemitismus gebrandmarkt.

Nie war die Notwendigkeit einer neuen Internationale deutlicher, wenn die ArbeiterInnenklasse der Welt und ihre natürlichen Verbündeten unter den sozial und rassisch Unterdrückten und der armen Bauern-/Bäuerinnenschaft sich vereinen und ihren Widerstand gegen die Angriffe des heimischen Kapitalismus und Imperialismus stärken sollen. Doch die Parteien, die sich selbst als sozialistisch oder kommunistisch bezeichnen, und die trotzkistischen zentristischen Kräfte auf weltweiter Ebene haben sich größtenteils in die nationale Isolation zurückgezogen, selbst im Vergleich zu den antikapitalistischen, antineoliberalen, globalisierungskritischen oder Antikriegsmobilisierungen des Zeitraums 1998 – 2006.

In jenen Jahren versammelten sich auf weltweiten und kontinentalen Sozialforen KlimaaktivistInnen, indigene Gruppen, FeministInnen, progressive GewerkschafterInnen und linke sozialistische Gruppen verschiedener Art. Aber die reformistischen Parteien wie die brasilianische Arbeiterpartei (PT) und kämpferische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (wie Attac) lähmten diese Treffen mit einer Zwangsjacke aus „keine Abstimmungen“ über Maßnahmen, keine politischen Parteien, keine Debatten, die zur Annahme von politischen Konzepten führten. Die teilweisen Ausnahmen bildeten das Europäische Sozialforum in Florenz (2002) und das Weltsozialforum in Porto Alegre (2003), die eine weltweite Antikriegsbewegung mit mehreren zehn Millionen TeilnehmerInnen ins Leben riefen.

Was sollen wir tun?

Nach der Großen Rezession, den Occupy-Bewegungen und dem Arabischen Frühling folgten internationale Bewegungen von Frauen und farbigen Menschen. ReformistInnen und RevolutionärInnen in diesen fortschrittlichen Bewegungen reichten sich in gemeinsamen Aktionen gegen Kriege und die Misshandlung von MigrantInnen erneut die Hand.

Organisatorisch basierte diese Zusammenarbeit eher auf Netzwerken als auf demokratischen repräsentativen Strukturen. Obwohl viele diese „Führungslosigkeit“ gelobt haben, überließ das die Entscheidungen über Politik und Taktik selbsternannten AkademikerInnen, radikalen JournalistInnen und „GemeindeführerInnen“. Während die meisten ihre Solidarität untereinander verkünden, erkennen sie nicht, dass all die verschiedenen Bewegungen eine viel stärkere Einheit für den Sieg benötigen. Schritte in diese Richtung könnten durch Einheitsfronten unternommen, in denen Ziele demokratisch vereinbart und dann gemeinsam umgesetzt werden.

Identitätspolitik, bei der die subjektive Erfahrung der Unterdrückung die vorrangige Determinante für Ziele und Taktiken ist, spaltet die Unterdrückten eher, als dass sie sie vereint. Obwohl viele in diesen Bewegungen tatsächlich die Notwendigkeit anerkennen, die Kräfte der ArbeiterInnenklasse zu gewinnen, und sich selbst als antikapitalistisch und sogar marxistisch bezeichnen, akzeptieren sie nicht, dass der Sturz des Kapitalismus ein gemeinsames Programm und die Integration in den Klassenkampf mittels einer revolutionären Partei erfordert. Dies ist zum Teil das Ergebnis der Versäumnisse und Verbrechen der Sozialdemokratie, des Stalinismus und der zentristischen Spielarten des Trotzkismus.

Ohne ein neues Weltprogramm für die Revolution werden die Lösungen für die brennenden Fragen der Umwelt, der Rassen- und Geschlechterungleichheit und der Armut nicht gefunden werden können. Nur eine wiedergeborene und international organisierte ArbeiterInnenbewegung, die die jungen AktivistInnen einbezieht, die sich bereits in all diesen Kämpfen engagieren, kann eine Avantgarde schaffen, die in der Lage ist, den Kapitalismus an jeder dieser Fronten herauszufordern. Die von uns skizzierten Krisen werden dazu beitragen, vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen zu schaffen, die noch größer sind als die, die 2010 – 2011 nach der Großen Rezession auftraten.

Aus diesem Grund ruft die Liga für die Fünfte Internationale alle kämpferischen und fortschrittlichen Kräfte, die den Kapitalismus und den Imperialismus als Feind anerkennen, dazu auf, sich erneut zu versammeln, um über die Strategie zu diskutieren und gemeinsame Aktionen zu organisieren. Ihr Ziel sollte die Entwicklung eines gemeinsamen Aktionsprogramms ausmachen, das den ArbeiterInnen und Unterdrückten der Welt einen Weg von den heutigen Kämpfen hin zu einer Weltrevolution aufzeigt.