Sowjetische Fahne in Berlin verboten – Justiz schlägt zu

Martin Suchanek, Infomail 1222, 9. Mai 2023

Vorweg: Wir verurteilen den reaktionären russischen Angriff auf die Ukraine – und zwar von Beginn an. Wir stehen auf der Seite der russischen Antikriegsbewegung und der ukrainischen Bevölkerung, die die Hauptlast dieses Kriegs trägt.

Wir schicken das vorweg, wohl wissend, dass uns in einem Land der demokratischen Kriegstreiberei und des deutschen NATO-Patriotismus schon allein deshalb der Vorwurf der „Putin-Versteherei“ entgegengehalten wird, weil wir auch die Kriegspolitik und Ziele des Westens bekämpfen.

Und dieser Kampf findet statt – nicht nur mit einem Sanktionsregime und Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch mittels Aufrüstung, Umstellung auf Kriegsproduktion, NATO-Erweiterung. Und er findet natürlich auch auf dem Feld von Ideologie und vor Gerichten statt.

Verbote durch Oberverwaltungsgericht

Die Berliner Justiz setzte am 8. Mai ihrerseits ein Zeichen, dass sie bei dieser Konfrontation nicht abseitsstehen will. Auf Antrag der Berliner Polizei erklärte das Oberverwaltungsgericht das Verbot russischer Fahnen, von St.-Georgs-Bändern und -Fahnen sowie das von Flaggen der Sowjetunion (!) am 8./9. Mai für rechtens.

Zuvor hatte das Verwaltungsgericht das Fahnenverbot noch für rechtswidrig erklärt. Doch die höchste Instanz hob diesen Entscheid auf Antrag der Polizei Berlin auf, weil die Flaggen als „Sympathiebekundung für die Kriegsführung (Russlands; Anm. d. Red.) verstanden werden“ könnten und „Gewaltbereitschaft“ vermitteln würden.

Dass russische Fahnen für einige Träger:innen auch eine Sympathie für Putin zum Ausdruck bringen, mag ja sein. Dass diese Sympathie politisch kritisiert werden darf und soll, ist sicher zutreffend.

Aber ebenso gut gilt die russische Fahne für andere als Symbol der Befreiung vom Faschismus, ganz so wie die US-amerikanische, britische oder französische – und bislang hat noch niemand deren Verbot anlässlich reaktionärer imperialistischer Interventionen gefordert.

Dass es sich bei dem Urteil um einen leicht durchschaubaren, aber nicht minder symbolträchtigen Akt politischer Justiz handelt, zeigt das Verbot der sowjetischen Fahnen. Russland ist anerkanntermaßen Kriegspartei in der Ukraine, das aus dem Zarismus stammende Georgs-Symbol ein imperiales Zeichen. Doch die Sowjetunion? Führt die etwa auch Krieg in der Ukraine? Allenfalls in der Einbildung von Reaktionär:innen, für die der Kalte Krieg nie zu Ende ging, für die es weder einen Bruch zwischen der frühen Sowjetunion Lenins und Trotzkis mit der bürokratischen Diktatur Stalins als auch der neuen imperialistischen Diktatur Putins gibt.

Es ist aber bezeichnend für das Geschichtsbild von Polizei und Justiz, dass sie diese Verknüpfung mit Verbotsantrag und -begründung ebenfalls vorgenommen haben. Russland sei gleich der Sowjetunion – damit entsorgt oder relativiert man symbolisch auch die für den deutschen Imperialismus lästige Tatsache, dass die Rote Armee maßgeblich die Niederlage der Wehrmacht und des Naziregimes herbeigeführt, die Sowjetunion die Hauptlast bei der Befreiung vom Faschismus getragen hat.

Das Verbot der sowjetischen Fahnen stellt nicht nur einen Akt politischer Justiz, sondern einen politischen Skandal, eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer des Faschismus dar.

Nein zu reaktionären Fahnenverboten!

Das aktuelle Verbot stellt leider keinen Einzelfall dar. Schon 2022 hatte die Berliner Polizei ein skandalöses Verbot russischer und ukrainischer Nationalsymbole für Demonstrationen und Kundgebungen am 8. und 9. Mai, zum Tag der Befreiung, durchgesetzt. In diesem Jahr hoben die Gerichte jedoch die Verbote in der ersten Instanz auf – und gegen jene von ukrainischen Fahnen wurde zum Glück nicht geklagt. Es stellte natürlich auch einen Skandal dar, dass ukrainische Geflüchtete 2022 ihre Fahnen ebenfalls nicht tragen durften – trotz aller medial zur Schau gestellten „Solidarität“ der Regierenden.

Doch wir kennen reaktionäre solche Verbote auch zur Genüge gegen Kräfte des antiimperialistischen Widerstandes, seien es PKK-Fahnen und -Symbole, seien es solche von palästinensischen Organisationen.

Es handelt sich dabei um gesetzliche, polizeiliche und gerichtliche Maßnahmen zur Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Und jeder weitere Fall führt zur „Normalisierung“ dieser repressiven Praxis. Jedes weitere Verbot liefert der Polizei einen Vorwand zur Kontrolle und Schikane von Demonstrierenden. Die Angriffe auf das Demonstrations- und Versammlungsrecht sind natürlich kein Zufall, sondern eine Ergänzung zur verschärften imperialistischen Konfrontation, zur Militarisierung, zum Rassismus, zu Preiserhöhungen und zunehmender Verarmung. Und es gehört zur ideologischen Begleitmusik der „demokratischen“ Öffentlichkeit, alle, die die Politik ihres Staates, ihres Imperialismus kritisieren, als „Agent:innen“ der Gegenseite, in diesem Fall als Putin-Versteher:innen zu diffamieren. Davon dürfen wir uns nicht einschüchtern lassen! Daher müssen die Fahnenverbote wie jeder Angriff auf demokratische Rechte kritisiert und bekämpft werden.




Bundesweite Razzia gegen „Letzte Generation“: Wer ist der Klimaterrorist?

Georg Ismael, Infomail 1206, 13. Dezember 2022

Seit diesem Jahr ist die Klimabewegung in Deutschland um eine neue Organisation und Aktionsform bereichert worden. Sie ist in aller Munde. Natürlich ist von der „Letzten Generation“ die Rede. Ihre Unterstützer:innen begannen sich auf Straßen und an Gemälden festzukleben. Ihre ursprünglichen zwei Forderungen: sofortige Durchsetzung eines Tempolimits von 100 km/h und allgemeine Durchsetzung eines 9-Euro-Tickets.

In den letzten Wochen begann eine Kampagne, insbesondere getragen von der rechten und konservativen Presse sowie von Politiker:innen der AfD und CDU, die die „Letzte Generation“ und ihre Aktionsformen als Klimaterrorismus denunzierten. NRWs Innenminister Reul und andere Gleichgesinnte in Politik und Staat stellten sie einer kriminellen Vereinigung gleich. Unter diesem Verdacht können mit den Paragraphen 129 a und b Organisationen und Vereinigungen in Deutschland mit massiver Repression und Überwachung überzogen werden. Effektiv heben sie den sogenannten Rechtsstaat in Bezug auf die Betroffenen auf.

Hausdurchsuchungen

Nun entschied sich die Staatsanwaltschaft in Neuruppin, Untersuchungen unter diesem Paragraphen aufzunehmen. Das dortige Amtsgericht billigte Hausdurchsuchungen und mit großer Sicherheit auch Überwachung, Abhörungen und die Aufhebung des Postgeheimnisses durch die Polizei gegenüber realen oder angenommenen Mitgliedern der „Letzten Generation“. Heute, am 13.12., durchsuchte die Polizei mit zum Teil dutzenden Beamt:innen die Wohnungen von mindestens 11 Personen. In einem der „Neue Internationale“ bekannten Fall aus Berlin wurde ein Aktivist in Stahlhandschellen abgeführt.

Wir lehnen diese Repression ab. Unsere volle Solidarität gilt den Festgenommenen und der „Letzten Generation“ insgesamt. Wir fordern die sofortige Freilassung aller Festgenommenen, die Einstellung aller Verfahren und Rücknahme aller mit dem Paragraphen 129 verbundenen Schritte. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen kommen tatsächlich einer Aushebelung demokratischer Rechte gleich.

Es gilt aber an dieser Stelle weiterzugehen in der Kritik und Analyse. Der immer wieder aufgebrachte Vorwurf oder die „Fragestellung“ angeblicher Expert:innen der vergangenen Wochen war, ob und inwiefern die „Letzte Generation“ eine neue „Klima-RAF“ sei. Diese Frage so zu stellen, stellt bereits eine Form des Geschichtsrevisionismus dar. Die „Letzte Generation“ war in keinerlei Aktivitäten verwickelt, die jener der RAF gleichkämen.

Reaktionäres Narrativ

Viel entscheidender ist aber, was diese Expert:innen und die bürgerliche Presse, die dieses Narrativ fördert, verschweigen. Ab den 1968ern gab es eine wachsende und für antikapitalistische Ideen offene Jugendbewegung in Deutschland. Diese fand sich allerdings zwischen Hammer und Amboss wieder. Der Hammer waren insbesondere Politiker:innen der CDU, der FDP, aber auch der SPD sowie der Staatsapparat. Der Amboss war im wahrsten Sinne eine unbewegliche Arbeiter:innenbewegung. Die Gewerkschaften unter Führung der SPD verweigerten sich weitestgehend der Solidarität mit der Studierendenbewegung und verschlossen ihre Türen gegenüber den aktiven und motivierten Jugendlichen, die gemeinsam mit den Arbeiter:innen gegen das Kapital kämpfen wollten.

Begleitet wurde diese Entwicklung von einer massiven Hetzkampagne, insbesondere durch die Springerpresse. Diese war maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass sich Rechte ermutigt fühlten, den Studentenführer Rudi Dutschke anzuschießen und Polizisten ohne Konsequenzen den Studenten Benno Ohnesorg erschießen konnten. Etliche weitere wurden durch die Berichterstattung in den persönlichen Ruin getrieben.

Wer einen Blick in Zeitungen wie die Welt, BILD oder auch „seriöse“ Publikationen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung wirft, wird feststellen, dass diese eben nicht nur den oben beschriebenen Staatsterror gegenüber der „Letzten Generation“ befürworten und erbeten, sondern in ihren Kommentarspalten auch den diskursiven Nährboden für rechten Terror gegenüber der Klimabewegung legen.

Es war eine solche politische Atmosphäre, die in den 1970er Jahren einige verzweifelte Revolutionär:innen in den Linksterrorismus trieb. Unabhängig davon, dass dies nicht die Strategie von uns Kommunist:innen ist, muss dieser Umstand anerkannt werden, um die Möglichkeiten für die heutige Entwicklung zu bewerten.

Die Geschichte muss sich aber nicht immer und immer wieder gleich entwickeln. Sie kann es tatsächlich auch nicht, denn sie ist zum Besseren und Schlechteren von den Tätigkeiten der gesellschaftlich handelnden Menschen bestimmt, wird immer wieder von Zeitgenoss:innen neu geschaffen.

Neue Situation

Auch heute, im Jahr 2022, sind die zwei relevanten Hindernisse, mit denen sich bereits die demokratische und antikapitalistische Student:innenbewegung der 1968er konfrontiert sah, der metaphorische Hammer und Amboss, nach wie vor präsent. Gleichzeitig gibt es auch äußere Bedingungen, die sich maßgeblich unterscheiden. Es gibt eine tiefgreifende wirtschaftliche Krise. Es gibt eine zunehmende imperialistische Konkurrenz zwischen den USA, China, Russland und europäischen Industriestaaten wie Deutschland. Diese sind mittlerweile mit kriegerischen Auseinandersetzungen wie in der Ukraine verbunden. Und es gibt eine immer offensichtlicher werdende Klima- und Umweltkatastrophe.

Diese Faktoren werden nicht nur von Aktiven in der Klimabewegung zunehmend gesehen und diskutiert. Sie werden auch von der Arbeiter:innenklasse in Deutschland wahrgenommen. Es gibt eine wirkliche Möglichkeit, diese beiden Bewegungen zu einer Kraft zu verbinden, die echten Systemwechsel, also antikapitalistische Politik und Aktion ermöglicht. Dafür ist es aber unvermeidlich, die Politik der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie in Frage zu stellen, die die Arbeiter:innenbewegung im Dornröschenschlaf gegen ihre eigenen Ausbeuter:innen hält und eine wirkliche Verbindung wie den Einsatz des effektivsten Kampfmittels, nämlich des politischen Streiks, mit aller Kraft blockiert.

Das wissen und fürchten letztlich auch die bürgerlichen Politiker:innen und das Kapital. Das ist der eigentliche Grund für die massive Hetzkampagne. Hier arbeiten die Herrschenden erneut an einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Kleine, von der Masse isolierte Gruppen lassen sich viel leichter stigmatisieren, auch oder gerade, wenn sie zu Verzweiflungstaten im Stile des individuellen Terrorismus greifen sollten. Was sie wirklich fürchten und verhindern wollen, ist eine antisystemische Verbindung zwischen Jugend und Arbeiter:innen.

Wir hingegen stehen an der Seite der Aktivist:innen der „Letzten Generation“, um diese geschichtliche Entwicklungsmöglichkeit zu eröffnen.

Ein Postskriptum sei noch angebracht. Die Bezeichnung Klimaterrorist stellt den kümmerlichen Charakter der herrschenden deutschen Ideologie zum Besten, die die Dinge immer wieder aufs Neue von den Füßen auf den Kopf stellt. So wie jene, die in Deutschland ihre Arbeit zum Verkauf anbieten, im öffentlichen Diskurs Arbeitnehmer:innen genannt werden, werden nun jene, die das Klima schützen wollen, als Klimaterrorist:innen diffamiert.

Die Wahrheit ist aber: Es ist der deutsche Imperialismus, es sind deutsche Banken, deutsche Unternehmen und die deutsche kapitalistische Gesellschaft, die die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören drohen. Die arme, halbkoloniale Welt spürt dies bereits massiv. Wenn etwas Klimaterrorismus verkörpert, dann doch wohl, dass Länder wie Deutschland pro Kopf 15 Mal mehr zum globalen Ausstoß von Treibhausgasen beitragen als z. B. Pakistan. Gleichzeitig sind es letztere, die am stärksten betroffen sind. In Pakistan wurden 33 Millionen Menschen im Juni diesen Jahres aufgrund historischer Fluten zu Inlandsflüchtlingen. Währenddessen steigen die Nahrungsmittelpreise durch die Schuldendiktate u. a. des Internationalen Währungsfonds, in dem Deutschland drittgrößter Akteur ist, ins Unermessliche. Während nach wie vor Millionen Menschen allein in Pakistan obdachlos bei Wintereinbruch in Zelten ausharren, stieß Deutschland in diesem Jahr erneut eine Rekordmenge an Treibhausgasen aus. Wenn jemand sich des Klimaterrorismus schuldig macht, dann jene Politiker:innen, die von sich und ihren eigenen Schandtaten ablenken, indem sie jene Aktivist:innen denunzieren, die versuchen, sich dem Untergang der Zivilisation, wie wir sie kennen, entgegenzustemmen.




Solidarität mit den Klimaktivist:innen!

Redaktion, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

In den letzten Wochen ist die Bewegung mit dem Namen „Letzte Generation“ mit ihren Aktionen in aller Munde.

In Berlin laufen über 700 Ermittlungsverfahren gegen sie, über ein Dutzend sitzt im Gefängnis. Von Springer über AfD bis zum Staatsapparat hetzt alles, was Auto fährt und liebt gegen sie. Der Tod einer Radfahrerin wurde gegen die „Letzte Generation“ instrumentalisiert, obwohl nachweislich klar ist, dass dieser mit der Autobahnblockade nichts zu tun hatte. Während radikale Aktionen des zivilen Ungehorsams als Vorboten einer Klima-RAF diffamiert werden, wird dreist verschleiert, dass die Tausenden Verkehrstoten auf deutschen Straßen ein Massensterben sind, das Autoindustrie und Verkehrsministerium zu verantworten haben – nicht Klimaaktivist:innen.

Rechte und Konservative – allen voran AfD und CSU – rufen nach Gesetzesverschärfungen. Der Bayern macht den Vorreiter. Die Freiheit des Rasers wird zum letzte Refugium des Selbstbestimmung des kleinen Mannes verklärt, der ansonsten für die Profite in den Autobuden und an sonstigen Unternehmensstandorten schuftet. So wird einer Besetzerin der A9 nicht nur „Unverhältnismäßigkeit“ und „Störung des Mobilität“ vorgeworfen, sondern auch gleich ein Angriff auf „die Freiheit“ und ihre „Grundordnung“. Dem will die CSU durch die Verhängung von Präventivhaft von bis zu 30 Tagen für mögliche Störenfriede vorgreifen. Die AfD ruft nach der Überwachung der jungen „Verfassungsfeinde“.

Da hilft es den Aktivist:innen der „Letzen Generation“ nichts, dass sie auf Demokratie und Menschenrechte pochen. Längst haben sie bürgerliche Politiker:innen als Staatsfeinde ausgemacht. Für NRW-Innenminister Reul weist die Gruppe Züge einer „kriminellen Vereinigung“ auf, weil sie organisiert vorgeht – eine Begründung, die natürlich jederzeit gegen jede andere Besetzung z. B. sei es einer Braunkohlegrube, eine Straße oder eines Betriebes herangezogen werden kann.

Bei so viel konservativer und rechter Hetze gibt sich die Ampel-Koalition vergleichsweise nüchtern. Die Letzte Generation verdammen natürlich auch diese Parteien, die angesichts von Ukraine-Krieg und Profitinteressen den Klimaschutz auf die lange Bank schieben. Aber, so diese „Verteidiger:innen des Rechtsstaats: Man brauche keine Sondergesetze, die bestehenden würden schon ausreichen, um hunderter Aktivist:innen anzuklagen, zu verurteilen und finanziell auszubluten. Kriminalisierung light, also.

Gegen diese Angriffe braucht es die Solidarität der gesamten Linken und der Arbeiter:innenbewegung. Bei den Prozessen und Gesetzesverschärfungen geht es nicht darum, ob wir mit den Aktionsformen und der politischen der „Letzten Generation“ übereinstimmen, sondern um die Kriminalisierung von Protest und Widerstand der Umweltbewegung. Maßnahmen die heute gegen Klima-Aktivist:innen angewandt werden, können morgen ebenso gut Proteste gegen das Immobilienkapital oder „unverhältnismäßig“ hart geführte Arbeitskämpfe betreffen.

  • Freiheit für alle ihre Gefangenen, Niederschlagung aller Verfahren! Nein zu allen Gesetzesverschärfungen und Präventivhaft! Keine Repression gegen Klimaschützer:innen!



Soziale Proteste müssen internationalistisch sein!

Gemeinsame Stellungnahme zu dem Angriff auf palästinensische Genoss:innen, Infomail 1202, 22. Oktober 2022

Was ist passiert?

Am 15.10.22 organisierte das Bündnis „Jetzt reicht’s!“ eine Demonstration gegen die Teuerungen. Gemeinsam als Internationale Jugend, Solidaritätsnetzwerk, ZORA, Revolution, GAM und der palästinensischen Gruppe Handala organisierten wir hierfür einen klassenkämpferischen Block. Dem Aufruf folgten einige Palästinenser:innen, die die Krisenpolitik in Deutschland mit Antikriegspositionen, internationaler Solidarität und dem eigenen Kampf gegen die Unterdrückung durch den Staat Israel verbanden. Auf einem Pappschild wurde das Ende der Besatzung palästinensischer Gebiete gefordert und die Landkarte in den Farben Palästinas gezeigt.

Daraufhin wurde der klassenkämpferische Block umzingelt, bedrängt und mit der Parole: „Kannibalismus gehört zu unsern Riten – esst mehr Antisemiten!“ beschallt, was mit palästinasolidarischen Parolen beantwortet wurde. Aufgrund der zunehmend aggressiver werdenden Stimmung, stellte sich der Block schützend um „Handala“ auf. Anschließend erschienen auch mehrere Polizist:innen, wohl von den Ordner:innen gerufen.  Nach kurzer Zeit und einigen Diskussionen schnitt Handala die Landkarte aus der Pappe heraus und hielt das angepasste Schild nach oben, inzwischen konform mit dem „Demokonsens“. Juliane Nagel (Die Linke) reichte das allerdings nicht aus. „Verpisst euch!“, „Ich hol die Polizei!“, „Ihr nutzt meine Strukturen aus!“ waren nur einige der von ihr getroffenen Aussagen. Unsere Kommunikationspersonen verhielten sich jederzeit deeskalierend und gingen nicht weiter auf die Aussagen ein.

Dabei blieb es jedoch nicht. Juliane Nagel drang in den Block ein, schubste Genoss:innen zur Seite und entriss dem palästinensischen Genossen gewaltsam die Pappe, mit dem Ziel diese zu zerstören. Teilnehmer:innen des Blocks wurde außerdem aggressiv und aus nächster Nähe eine Handykamera vors Gesicht gehalten. Auf die Bitte, das zu unterlassen, argumentierte einer der filmenden Personen, Marco Dos Santos, lediglich mit der „Pressefreiheit“, die dieses Verhalten rechtfertigen würde. Letztlich konnten wir durchsetzen, alle gemeinsam, auch mit unseren palästinensischen Freund:innen, einen sichtbaren und lautstarken Block auf der Demo zu bilden und gemeinsam gegen Krieg und Krise zu kämpfen.

Das Argument mit dem Demokonsens

Auf der Demonstration gab es den Demokonsens, dass keine Nationalfahnen gezeigt werden dürfen. Palästina ist jedoch, genauso wie Rojava, kein Staat, was einen qualitativen Unterschied bedeutet. Es ist ein Unterschied, ob man die Fahne kapitalistischer Unterdrückerstaaten zeigt oder die Fahnen von nationalen Freiheitsbewegungen wie in Rojava oder Palästina. Außerdem ist es nicht verhältnismäßig, einen Demokonsens wegen einer kleinen Pappe mit solchen aggressiven Maßnahmen durchzusetzen. Trotzdem wurden die palästinensischen Farben von unseren Genoss:innen zur Deeskalation aus der Pappe herausgeschnitten. Und siehe da: es wurde weiter aggressiv und gewaltsam gegen uns vorgegangen. Der Demokonsens war also nur ein vorgeschobenes Argument. Es ging ganz offensichtlich um etwas anderes: Migrantische, israelkritische Stimmen sollten zum Schweigen gebracht und sozialer Protest von internationalen Kämpfen künstlich getrennt werden.

„Das Thema hat hier nichts zu suchen!“

Wer internationale Kämpfe, Antikriegskämpfe, antirassistische Kämpfe und antikoloniale Kämpfe von sozialen Protesten „im eigenen Land“ trennt, hat es offensichtlich nicht geschafft, die Wirtschaftskrise in einen globalen Kontext zu setzen. Krise und Krieg hängen unweigerlich miteinander zusammen und gehören zum kleinen Einmaleins einer linken Analyse, die über die eigenen Staatsgrenzen hinaus reicht. Das ist genau das, was uns von reaktionären Kräften unterscheidet, die mit ihrem Nationalismus die Arbeiter:innenbewegung spalten möchten.

„Internationalismus“ bedeutet das Kontextualisieren und Verbinden von verschiedenen globalen Kämpfen der Ausgebeuteten und Unterdrückten!

Gerade linke Gruppen sind es doch, die Mantra mäßig fordern, die Kämpfe gegen den Kapitalismus zu verbinden und vor allem auch marginalisierte Gruppen miteinzubeziehen! Die Geschehnisse von Samstag beweisen allerdings: Manche Organisationen und Personen haben wohl keinerlei Interesse an bestimmten internationalistischen und migrantischen Perspektiven in ihrem Aktivismus. Der palästinensische Befreiungskampf wird kategorisch ausgeschlossen und zusätzlich als „Antisemitismus“ diffamiert. Dadurch werden zum einen migrantische Stimmen unterdrückt und zum anderen die Bewegung gespalten und geschwächt. Das nützt alleine der Rechten und dem Kapital!

Anstatt sich also darüber zu freuen, dass Palästinenser:innen Teil der Bewegung gegen die Krise in Deutschland sein möchten, wird unterstellt, dass das Thema „Palästina/Israel“ keinen Bezug zu dem Motto der Demonstration gehabt hätte. Dabei sind es gerade die Länder des globalen Südens, die durch die Ausbeutung und Unterdrückung durch imperialistische Staaten, wie z.B. Deutschland, von der aktuellen Krise in viel schlimmerem Ausmaß getroffen werden. Sie haben jedes Recht dagegen aufzubegehren, auch und gerade in Deutschland. Die Gruppe „Handala“ hat auf ihrer Instagramseite eine genauere Ausführung dazu, was ihr Kampf mit den sozialen Protesten auch in Deutschland zu tun hat.

Der Kampf der Palästinenser:innen und die fehlende Solidarität deutscher Linker

Dass deutsche Linke von palästinensischen Symboliken bis hin zur äussersten Aggressivität getriggert werden, ist ein bekanntes Muster und überrascht uns nicht. Dennoch müssen wir die Heuchelei offenlegen, die die Ereignisse von vergangenem Samstag zeigen. Die Heuchelei einer deutschen Linken, die am laufenden Band die internationale Solidarität mit Befreiungskämpfen verrät und diffamiert, wenn sie nicht in die eigenen Vorstellungen passen. Denn die internationalen Kämpfe im Iran, in Rojava und in Palästina hängen zusammen und lassen sich nicht von den sozialen Kämpfen in Deutschland isolieren. Während erstere Kämpfe von diesen Gruppen ohne Vorbehalt unterstützt werden, ignorieren sie bewusst die Besetzung und Unterdrückung Palästinas.

Wir stehen zum palästinensischen Befreiungskampf!

Für uns internationalistische und antikapitalistische Gruppen in Leipzig ist dieser Angriff auf unsere palästinensischen Freund:innen nicht akzeptabel!  Wir werden auch in Zukunft solidarisch mit der palästinensischen Befreiungsbewegung bleiben und dafür sorgen, dass deren Kampf in Leipzig weiterhin präsent ist und mit dem Kampf gegen die Krise des Kapitalismus verbunden wird.  Alle Kräfte, die den ernsthaften Anspruch haben internationalistische Politik zu praktizieren, rufen wir dazu auf, sich mit den angegriffenen Menschen zu solidarisieren und Stellung zu dem Vorfall zu beziehen!

Die gemeinsame Stellungnahme wurde unterzeichnet von: Internationale Jugend, Gruppe Arbeiter:innenmacht, REVOLUTION, Zora, SDAJ, DKP, MLPD, Gruppe Handale




Palästina-Solidarität: Berlin trotzt der Repression!

Erklärung linker und internationalistischer Organisationen gegen das Verbot von Demonstrationen in Solidarität mit Palästina in Berlin, Infomail 1188, 17. Mai 2022

Gestern, am 15. Mai, dem Tag der Nakba, wurde aus den Straßen und Plätzen Berlins ein starkes Zeichen entsendet. Zahlreiche organisierte Gruppen setzten den Einschüchterungsversuchen der Behörden ihre lautstarken Rufe nach Freiheit für Palästina und internationaler Solidarität entgegen. Trotz der Repression, trotz der Demonstrationsverbote im Vorfeld, trotz der Zensur und trotz des Rassismus der deutschen Behörden, allen voran der deutschen Polizei: Unsere Rufe verstummen nicht. Wir lassen uns unser Gedenken nicht nehmen, wir lassen uns den Widerstand nicht nehmen!

Bereits in den vergangenen Wochen wurden von den Straßen Berlins Zeichen der Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf gesendet. Und bereits Ende April wurden Palästina-Demonstrationen für mehrere Tage pauschal verboten. Der deutsche Staat schreckt in seiner grenzenlosen Unterstützung des zionistischen Kolonialstaates Israel vor keiner noch so drastischen Maßnahme zurück. Unter dem fadenscheinigen Argument, dass alle pro-palästinensischen Demonstrationen pauschal antisemitisch seien und die öffentliche Sicherheit gefährden würden, verbot die Polizei auch mehrere Demonstrationen und Kundgebungen verschiedener Organisationen am Wochenende rund um den Nakba-Tag.

Diese Verbote wurden nicht hingenommen. Stattdessen regte sich überall in Berlin die gemeinsame Solidarität gegen die Repression. Eine Demonstration durch den Berliner Stadtteil Neukölln gegen Umweltzerstörung im Globalen Süden forderte nicht nur Klimagerechtigkeit und das Ende der imperialistischen Ambitionen des deutschen Staates auf der ganzen Welt. Immer wieder wurden lautstark und gemeinsam Rufe für die Freiheit des palästinensischen Volkes angestimmt. Auf der Sonnenallee, also auf der Straße, die immer wieder im Visier der deutschen Repression steht, wurde die Demonstration daraufhin von aggressiven Polizeitrupps ausgebremst, in eine Seitenstraße gelenkt und dort zum Stehen gebracht. Zahlreiche Anwohner*innen und Passant*innen zeigten sich spontan solidarisch mit der Demonstration und stimmten in die Rufe ein. Die Polizei drang gewaltsam in die Demonstration ein und nahm einige Personen fest. Von ausnahmslos allen Demonstrierenden wurden die Personalien festgestellt, es wurden Bußgelder und Gewahrsamnahmen angedroht sowie weiträumige Platzverweise ausgesprochen.

Nur wenige Hundert Meter entfernt kam es fast zeitgleich bei einer spontanen pro-palästinensischen Kundgebung ebenfalls zu massiven Repressionen.

Überall auf den Straßen Neuköllns zeigten die Menschen deutlich, auf welcher Seite sie stehen: Sie traten mit Kufiya und Fahnen auf die Straßen und bekundeten von Balkonen und Fenstern aus ihre Solidarität!

Als Bündnis zahlreicher Gruppen gegen die Repressionen und für Freiheit und Gerechtigkeit stehen wir an der Seite von allen, die von den Angriffen auf die palästinensiche und palästinasolidarische Bewegung betroffen sind.

Für uns steht auch fest: Es geht bei diesen Angriffen nicht nur um den Tag der Nakba und nicht nur um den Kampf des palästinensischen Volkes. Der deutsche Staat fürchtet eine breite anti-imperialistische Bewegung, die über die Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf hinaus die Mittäterschaft Deutschlands und seine imperialistischen Interessen in den Mittelpunkt rückt. Die Angriffe gelten deshalb allen denjenigen Kräften, die sich gegen diese Interessen stellen.

Die gestrigen Aktionen rissen dem deutschen Staat die Maske vom Gesicht und entblößten seinen wahren Charakter. Und mehr noch: Es zeigte sich deutlich, dass der Tag der Nakba nicht nur ein Tag des palästinensischen Kampfes und des palästinensischen Gedenkens an den über 100-jährigen Kolonialismus ist. Der Tag der Nakba ist ein Tag des Kampfes gegen jede Unterdrückung, ein Tag des Kampfes für die Freiheit aller Völker und ein Tag des Kampfes für Gerechtigkeit.

Unser Bündnis wird diese Kämpfe weiterführen! Gemeinsam gegen Repression und gemeinsam für Freiheit und Gerechtigkeit! An jedem Tag!

Unterzeichnende

Samidoun Palestinian Prisoners Solidarity Network

F.O.R. PALESTINE

Kommunistischer Aufbau

Young Struggle

Zora Berlin

Anti-imperialist struggle committee

Internationalistisches Bündnis Nordberlin [IBN] Internationale Jugend Berlin

Migrantifa Berlin

SDAJ Berlin

Gruppe Arbeiter:innenmacht

REVOLUTION

linksjugend solid Nord-Berlin

Acciones

Klasse gegen Klasse

Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen Berlin

Offenes Treffen

Hast du am Nakba-Tag demonstriert? Wurdest du von der Polizei eingeschüchtert, angegriffen, festgenommen? Droht dir eine Strafe? Hast du Probleme, weil du dich offen für die Freiheit des palästinensischen Volkes einsetzt?

Wir, das Bündnis mehrerer Organisationen gegen Repression, stehen fest an der Seite von allen, die am Wochenende rund um den Nakba-Tag von Repression, Polizeigewalt und Einschüchterung betroffen waren.

Kommt zu unserem offenen Treffen!

Freitag, 20.05., 18 Uhr, Kommtreff, Jonasstraße 29, (U8 Leinestraße/S-Hermannstraße)

Wir werden uns austauschen, versuchen uns gegenseitig zu unterstützen und bieten eine Beratung zum weiteren Vorgehen an.




Viva, viva Palästina! – Protestaktionen trotz Demoverboten in Berlin

Martin Suchanek, Infomail 1188, 16. Mai 2022

Trotz massiver Polizeipräsenz auf Berlins Straßen und besonders im Bezirk Neukölln, trotz massiver Repression und zahlreicher Festnahmen durchbrachen mehrmals Menschen das Verbot sämtlicher öffentlicher pro-palästinensischer Kundgebungen in der Hauptstadt.

Aktionen

So zog am 15. Mai, dem Nakba-Tag, eine Demonstration gegen Umweltzerstörung im globalen Süden von der Hasenheide durch Neukölln und prangerte nicht nur die kapitalistische Umweltzerstörung und imperialistische Ausbeutung an. Sie solidarisierte sich auch lautstark mit dem palästinensischen Volk und seinem Kampf gegen Unterdrückung. Auf der Sonnenallee stoppte die Polizei den Aufzug und kesselte ihn in einer Seitenstraße ein, nahm Personen fest, nahm die Personalien der Demonstrierenden auf und drohte allen mit Bußgeldern.

Einige hundert Meter entfernt wurden weitere spontane Kundgebungen angegriffen und unterdrückt. Der Hermannplatz glich zeitweise einer besetzten Zone.

Nicht nur organisierte linke, anti-imperialistische und internationalistische Organisationen und Gruppierungen durchbrachen zeitweilig das undemokratische, selbst der bürgerlichen Demokratie hohnspottende Demonstrations- und Versammlungsverbot.

Auch die Neuköllner Bevölkerung zeigte offen ihre Solidarität mit Palästina. Viele stimmten in internationalistische Sprechchöre ein, andere zeigten Palästina-Fahnen in ihren Fenstern, wiederum andere gingen mit Fahne und Kufiya auf die Straße. Schon dafür mussten sie polizeiliche Schikanen, Kontrollen und rassistische Anmache in Kauf nehmen.

Hand in Hand

Nicht nur die Polizei, auch die von Regierungs- und Senatsseite gern beschworene „Weltoffenheit“ und „Toleranz“ der Hauptstadt offenbarten ihren wirklichen, repressiven Charakter. Die Berliner „Demokratie“ entlarvte sich als das, was sie ist: eine Schönwetterveranstaltung des deutschen Imperialismus, seine politische Fassade.

Demokratische Rechte gelten offenkundig nicht, wenn es um Palästina-Solidarität und Gedenkkundgebungen und Veranstaltungen zur Nakba geht. Wie schon Ende April, verhängten die Berliner Polizeibehörden ein Verbot sämtlicher pro-palästinensischer Demonstrationen und Kundgebungen. Und wie schon im November wurden diese durch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigt.

Exekutive und Judikative arbeiten also Hand in Hand, wenn es um die Aushebelung demokratischer Rechte geht. Begründet wird diese durch eine pauschale, verleumderische Unterstellung, dass diese Kundgebungen und Demonstrationen antisemitisch seien und dass von ihnen Gewalt ausginge. Es bedarf also erst gar keiner konkreten Gewalttätigkeit, keines konkreten, nachweisbaren Anlasses – der pauschale Verdacht reicht. Vom Demonstrationsrecht bleibt so wenig übrig.

In dem Beitrag „Das Verbot der Palästina-Demos pervertiert Versammlungsfreiheit“ verweist der Jurist Ralf Michels auch auf die Begründung des Verbots durch die Versammlungsbehörde. Die „Gefahreneinschätzung“ ergebe sich demzufolge auch aus der nationalen Zugehörigkeit und Herkunft der zu erwartenden Teilnehmenden. Dem behördlichen Schreiben zufolge erwarte die Polizei „Personen aus der arabischen Diaspora, insbesondere mit palästinensischem Hintergrund“ und weitere „muslimisch geprägte Personenkreise, vorzugsweise voraussichtlich aus der libanesischen, türkischen sowie syrischen Diaspora“. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/staatsrechtler-das-verbot-der-palaestinademos-pervertiert-versammlungsfreiheit-li.227922)

Viel klarer kann eine rassistische Zuschreibung im Beamtendeutsch nicht formuliert werden.

Und die Politik?

Zitate wie das obige verdeutlichen einmal mehr, wie die Polizei tickt und auf wessen Seite sie und die Gerichte stehen. Doch auch wenn die Vorbote von ihnen erlassen bzw. bestätigt wurden, so wären sie nicht möglich, würden sie nicht gesamtstaatliche Interessen widerspiegeln und von Bundes- und Landesregierung selbst befürwortet werden.

Bedingungslose Solidarität mit Israel – und damit mehr oder minder offene Unterstützung der Unterdrückung der Palästineser:innen – gehören seit Jahrzehnten zur deutschen Staatsräson. Daher auch die Unterdrückung und Kriminalisierung palästinensischer Organisationen und vor allem linker Befreiungsbewegungen, deshalb die Angriffe auf die BDS-Kampagne, deshalb selbst die Diffamierung linker antizionistischer Juden und Jüdinnen.

Die Berliner Polizei und Gerichte exekutierten diese Linie und verschärfen sie seit Wochen. Aber sie würden diese nicht tun ohne die politische Unterstützung des Senats. Es gehört dabei zu den Spezialitäten der Berliner Politik, dass mit einem dreitägigen Pauschalverbot für die CDU längst noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Sie fordert, dass „stadtbekannte Störer“ leichter in Gewahrsam genommen und ggf. abgeschoben werden können.

Im Berliner Abgeordnetenhaus herrscht eine fraktionsübergreifende Einheit, wenn es darum geht, demokratische Rechte und die Solidarität mit anti-imperialistischen Kämpfen und Bewegungen weiter zu unterdrücken. Immerhin haben die LINKE Neukölln und der Linkspartei-Abgeordneten Ferat Kocak klar gegen Repression und Demo-Verbote Stellung bezogen und auch die Lügenmärchen zurückgewiesen, dass die Organisator:innen der Palästina-Demos Antisemitismus tolerieren würden.

Allerdings gleichen er, die Linkspartei Neukölln und die Jugendorganisation Solid eher Rufern in der Wüste. Die Parteispitze, die Senator:innen der Partei und die große Mehrheit ihrer Abgeordneten geht bei diesem Anschlag auf demokratische Rechte auf Tauchstation und marschiert faktisch auf Senats-Linie mit.

Wir lassen uns nicht einschüchtern!

„Berlin trotzt der Repression“ heißt es in einer Stellungnahme linker Gruppierungen, die auch von Arbeiter:innenmacht und REVOLUTION unterzeichnet wurde. Darin solidarisieren sich die Unterzeichnenden mit den spontanen Demonstrationen, Kundgebungen und anderen Aktionen. Nicht nur organisierte linke, internationalistische, antikapitalistische, kommunistische und antiimperialistische Organisationen setzten am 15. Mai ein starkes Zeichen, sich nicht von der Straße vertreiben zu lassen – auch die Bevölkerung, vor allem migrantische Menschen, verteidigten in der Praxis ihre demokratischen Rechte gegen die Repression des deutschen Imperialismus, seiner Bullen, Gerichte und staatstragenden Parteien.

„Der Tag der Nakba,“ so heißt es in der Stellungnahme, „ist ein Tag des Kampfes gegen jede Unterdrückung, ein Tag des Kampfes für die Freiheit der Völker und ein Tag des Kampfes für Gerechtigkeit!“

Lasst uns diesen Kampf gemeinsam weiter führen, lasst uns gemeinsam eine Bewegung der Solidarität gegen die Repression, gegen den Imperialismus und für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen aufbauen!




Gemeinsam gegen die Repression – Gemeinsam für Freiheit und Gerechtigkeit

Erklärung linker und internationalistischer Organisationen gegen das Verbot von Demonstrationen in Solidarität mit Palästina in Berlin, Infomail 1188, 14. Mai 2022

Der 15. Mai ist der Tag der Nakba – ein Tag der Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenser*innen, ein Tag des Kampfes gegen den anhaltenden zionistischen Siedlungskolonialismus, ein Tag des ungebrochenen palästinensischen Widerstandes und ein Tag der internationalen Solidarität.

In Berlin kommt es derzeit, wie schon im vergangenen Jahr, zu massiver Repression gegen palästinensische Gruppen und Demonstrationen. Die Behörden wollen mit allen Mitteln verhindern, dass in der Hauptstadt und dem Ort der größten palästinensischen Gemeinde in Europa, Tausende auf die Straßen strömen. Deshalb wurden zahlreiche Demonstrationen verschiedener Gruppen, die für den Tag der Nakba an diesem Sonntag geplant waren, verboten!

Dieser ungeheuerliche Angriff auf das palästinensische Gedenken und das palästinensische Leben ist ein rassistischer Akt der Diskriminierung. In den Begründungen der Demonstrationsverbote erklärt die Berliner Polizei wiederholt, dass die Palästinenser aufgrund der Ermordung ihres Volkes und der Beschlagnahmung ihres Landes „emotional“ seien. Die Bezeichnung der legitimen palästinensischen Wut und des Strebens nach Gerechtigkeit im Angesicht von über 100 Jahren Kolonialismus als „Bedrohung der öffentlichen Sicherheit“ ist ein abscheulicher Akt der Zensur.

Als fadenscheinigen Grund für die Verbote unterstellen die Behörden außerdem den gesamten Demonstrationszügen, gar der gesamten Palästina-Bewegung pauschal Antisemitismus. Deutlich zeigt sich in diesen Maßnahmen das Gesicht des deutschen Repressionsapparates: Mit allen Mitteln soll verhindert werden, dass sich die Solidarität Bahn bricht. Denn der Staat fürchtet eine breite anti-imperialistische Bewegung, die über die Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf hinaus die Mittätersschaft Deutschlands und seine imperialistischen Interessen in den Mittelpunkt rückt.

Wir nehmen diese Verbote nicht hin! Der Nakba-Tag ist unser Tag des Kampfes und wir treten der Repression entschlossen entgegen. Während der deutsche Staat und Medien versuchen, uns zu verunglimpfen und zu spalten, vereinen wir unsere Kräfte und verteidigen unser gemeinsames Recht, von den Straßen Berlins aus ein starkes Zeichen zu unseren Geschwistern in Palästina und auf der ganzen Welt zu senden: Unser Kampf um die Freiheit ist ein gerechter Kampf! Unser Kampf gegen den Imperialismus ist ein gerechter Kampf! Wir rufen alle mit Palästina solidarischen Gruppen und alle, die gegen den Imperialismus auf der ganzen Welt kämpfen auf, sich uns anzuschließen und der Repression die Stirn zu bieten.

Hoch die internationale Solidarität!

Unterzeichnende Gruppen

Samidoun Netzwerk

F.O.R. Palestine

Kommunistischer Aufbau

Young Struggle

Revolutionärer Jugendbund

Migrantifa – Berlin

Linksjugend Solid Nord-Berlin

SDAJ – Berlin

Rot feministische Jugend

Palästina Antikolonial

Free Palestine FFM

Palästina Spricht

Klasse gegen Klasse

Gruppe Arbeiter:innenmacht

Acciones Berlin

Revolution

Kommunistische Organisation

Solidaritätsnetzwerk

Internationale Jugend Berlin

FACQ

Palästinakomitee Stuttgart

Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen Berlin

Rise up 4 Rojava

International Supporters

Europe

• Alkarama (Movimiento de mujeres palestinas)

• Collectif Palestine Vaincra

• Secours Rouge Toulouse

• International Jewish Antizionist Network IJAN

• Jewish Voice for Labour (UK)

• Jewish Network for Palestine

• Jeunes pour la Palestine – Nantes

• CAPJPO-Europalestine

• Classe Contre Classe

• Secours Rouge

• Palestinian Youth Movement Sweden

• Europe Network for Justice and Peace in the Philippines

• April 28 Coalition for Migrants and Refugees Rights and Welfare

Brazil

• Juventude palestina – Sanaúd

• CSP-Conlutas

• Frente Palestina Livre

• Centro cultural palestino Aljaniah

• Partido Comunista Brasileiro – PCB

• Partido Socialista dos Trabalhadores Unificado – PSTU

• Partido Socialismo e Liberdade / Movimento Esquerda Socialista

• União da Juventude Comunista – UJC

• Liga de Parlamentarios por Al-Quds

• Unidade Popular pelo Socialismo – UP

• Monitor do Oriente

• Amigos de Palestina

• Fórum Latino Palestino

• Articulação Internacional Julho Negro

• Iniciativa Direito à Memória e Justiça Racial

• Comitês Islâmicos de Solidariedade

• Instituto de Estudos e Solidariedade para Palestina – Razan Al Najjar

Lebanon

• Palestinian Chess Forum – Shatila camp

• Palestinian Cultural Club – Beirut

• Palestinian Arab Cultural Club

• The Negev Center for Youth Activities – Burj Al-Barajneh Camp

North America

• Socialist Action / Ligue pour l’Action socialiste

• Within Our Lifetime — United for Palestine

• Just Peace Advocates

• GPM – GTA Palestine Movement

• Freedom Road Socialist Organization

• Canada Palestine Association

• Al-Awda, the Palestine Right to Return Coalition

• Committee of Anti-Imperialists in Solidarity with Iran

• International League of Peoples‘ Struggle

• Friends of the Filipino People in Struggle – Coast Salish Territories

• Oakville Palestinian Rights Association

• Palestinian Youth Movement

• Jews for Palestinian Right of Return

• April 28 Coalition for Migrants and Refugees Rights and Welfare

• Canadian BDS Coalition

• National Lawyers Guild International

• Association of Palestinian Arab Canadians

• Canada Philippines Solidarity for Human Rights

• Gabriela BC

• Sulong UBC

• Human Rights 4 All Saskatchewan

• Palestine Solidarity Network Edmonton

• Edmonton Small Press Association

• Friends of Sabeel North America

• Migrante BC

• Palestinian and Jewish Unity – Montreal

• Peace Alliance Winnipeg

• Justice for Palestinians, Calgary

• Coalition Against Israeli Apartheid

• Victoria Canada

• Niagara Coalition for Justice




Mannheim: Tödliche Polizeigewalt

Leo Drais, Infomail 1187, 7. Mai 2022

Am 2. Mai wird ein 47-jähriger Mann von der Polizei am Mannheimer Marktplatz kontrolliert. Er ist in einem psychisch labilen Zustand, seit zwanzig Jahren ist er wegen Angstzuständen in psychiatrischer Behandlung, hat migrantische Wurzeln. Mitarbeiter:innen einer psychiatrischen Klinik hatten die Polizei alarmiert und angegeben, dass der Patient womöglich Hilfe brauche. Die Polizei findet ihn und wendet Gewalt gegen den Mann an, schlägt ihm auf den Kopf. Er bricht zusammen und stirbt im Krankenhaus. An der Leiche des Verstorbenen wurden Spuren stumpfer Gewalt festgestellt.

Hunderte demonstrieren spontan in Solidarität mit dem Opfer. „Mord durch Polizei“ schreiben Demonstrant:innen mit Keide auf den Gehweg, wo der Mann tödlich verletzt wurde.

Während Politik und Polizei nun meinen, sie seien geschockt, weigern sie sich, von Mord oder Todschlag zu sprechen. Körperverletzung im Amt mit Todesfolge, heißt es – reine Verharmlosung! Baden-Württembergs Innenminister Strobl warnt gar vor „pauschler“ Kritik und „Hetze“ gegenüber den Tätern.

Nur die Eisbergspitze

Polizeigewalt ist kein Einzelfall und sie erfolgt täglich. Es ist eher Glück, dass durch sie nicht viel mehr Menschen in Deutschland sterben. Opfer werden besonders oft die sowieso am meisten Erniedrigten: wohnungslose Menschen, von Rassismus Betroffene wie Geflüchtete, sexistisch Unterdrückte, Arme, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke – wie, als würde ihre gesellschaftliche Schwäche ein extra hartes Zuschlagen provozieren. Die Uniform sorgt dann schon dafür, straffrei davonzukommen.

In Baden-Württemberg gab es in den letzten beiden Jahren laut SWR 1.039 Anzeigen wegen Polizeigewalt, ganze 6 führten zu Verurteilungen oder Disziplinarmaßnahmen. Womöglich wird es aufgrund des öffentlichen Drucks auch in Mannheim dazu kommen. Die Demos in Antwort auf den Mord und gegen Polizeigewalt waren zumindest ein guter Anfang, um auf den Staat Druck auszuüben.

Aber selbst wenn die Gewalttäter:innen verurteilt werden, ändert das gar nicht an der allgemeinen Polizeigewalt. Denn die hat System und ist politisch gewollt. Es gibt keinen bürgerlichen Staat, keinen Kapitalismus ohne den Knüppel, der beide verteidigt. Dass er sich dabei oft gegen die Schwächsten richtet, liegt nicht nur daran, dass sie sich meistens juristisch nicht zu wehren wissen, sondern passiert auch deshalb, weil sie die Ersten sind, die vom Kapitalismus ausgespuckt werden und in Konflikt mit ihm und seinen Gesetzen geraten.

Und schließlich zieht die Polizei auch einfach überdurchschnittlich stark Charaktere an, die gerne knüppeln, die sich unter Gehorsam wohlfühlen, Gehorsam verlangen und darin ihre eigene Größe suchen. Auch das ist eigentlich der Auswuchs einer Gesellschaft, die die tägliche, im Grunde mörderische Konkurrenz zelebriert.

Abolish the Police!

Dass die Polizei nun gegen sich selbst ermittelt, ist wie bei allen anderen Fällen von Polizeigewalt ein Joke. Wir sollten darin kein Vertrauen haben, sondern eine unabhängige Ermittlung und Verurteilung der Täter:innen fordern, nicht durch den Staat, sondern durch gewählte Vertreter:innen der Unterdrückten und der Arbeiter:innenbewegung. Nur so kann den Betroffenen und Opfern wirklich Gerechtigkeit zuteil werden.

Ihnen zu gedenken, heißt, die Ursachen von Polizeigewalt zu bekämpfen, zu zerschlagen, abzuschaffen: den kapitalistischen Staat und die Polizei, die ihn schützt.




Palästinakomitee Stuttgart gewinnt vor dem Verwaltungsgericht: Unterstützung von BDS legal, Kontokündigung unwirksam

Paul Neumann, Infomail 1187, 5. Mai 2022

Einem besonders aufmerksamen Journalisten der „Jerusalem Post“ ist 2018 aufgefallen, dass israelfeindliche Organisationen, die die BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions) gegen Israel unterstützen, wie das Palästinakomitee Stuttgart (Pako), auf der von der örtlichen Kommune, hier der Landeshauptstadt Stuttgart (LHS) betriebenen Website ihre Veranstaltungen kundtun dürfen. Die Stadt betreibe damit indirekt Werbung für die BDS-Kampagne. Das fand der Redakteur aus Jerusalem unerträglich und mobilisierte seine israelfreundlichen Unterstützer:innen wie die DIG (Deutsch-Israelische-Gesellschaft e. V.) und die Stuttgarter AfD, um bei den lokalen Oberen Protest einzulegen mit dem Ziel, das PaKo von dieser Website zu entfernen. Die christdemokratischen Stadtoberen zuckten sogleich zusammen. Schließlich wollten sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, „antisemitisch“ zu sein, und strichen das Pako Stuttgart kurzerhand von der Website als unterstützungswürdige Organisation.

Folgen und Klage

Das hatte weitreichende Folgen für die Arbeit des Stuttgarter Pako. Räume für Veranstaltungen wurden kaum noch zur Verfügung gestellt (Ausnahme AWO Stuttgart) und die Bankkonten des Pako bei der BW-Bank wurde ebenfalls gekündigt. Zudem wurde es unter dem Druck der Israelfreund:innen massiv verleumdet und in die antisemitische Ecke gedrückt.

Nachdem das Pako vergeblich eine Begründung und einen rechtsmittelfähigen Bescheid von der Stadt eingefordert hatte, klagte es nach fast zwei Jahren des Wartens gegen die Stadt wegen Untätigkeit in der Sache. Nach Eingang der Klage bemüßigte sich die Stadt schließlich, einen rechtsmittelfähigen Bescheid zu senden, in dem die Streichung von der Website mit der Unterstützung der BDS-Bewegung durch das Pako begründet wurde.

Die LHS berief sich auf ihre „Antidiskriminierungserklärung“ von 2019. Danach lehne die Stadt jede Form von „Menschenfeindlichkeit, Diskriminierung, Antisemitismus, Ausgrenzung und Rassismus“ ab. Außerdem bezog sie sich auf eine Resolution des Deutschen Bundestags von 2019. Darin werden alle Kommunen aufgefordert, keine Räume und Ressourcen an Gruppen zu vergeben, die die BDS-Kampagne unterstützen. Die Israelboykottkampagne sei antisemitisch, weil sie teilweise das Existenzrecht Israels infrage stelle.

Verhandlung

Am 21.04.2022 fand nun vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart die Verhandlung in der Sache statt (Az.: 7 K 3169/21). Die einbestellte bewaffnete Justizsicherungsgruppe, die vom Gericht in der Erwartung massiverer Proteste im Gerichtsgebäude angefordert war, wurde in Anbetracht von ca. 20 Zuschauer:innen älteren Semesters im Saal von der Vorsitzenden Richterin gleich zu Beginn der Verhandlung wieder entlassen.

Ein beisitzender Richter erläuterte trocken die Rechtslage: Die Klage des Pako ist zulässig. Der Weg über das Widerspruchsverfahren gegen den verspätet erlassenen Bescheid braucht der Kläger nicht zu gehen, da er die rechtlich angemessene Frist überschritten hat.

Der Kläger begehrt die Wiederaufnahme in die E-Mail-Liste der LHS. Diese ist eine „öffentliche Einrichtung“. Nach einem neueren Urteil des BGH darf keine „Inhaltsprüfung“ als Vorbedingung zur Aufnahme in eine „öffentliche Einrichtung“. stattfinden. Es gilt hier die Meinungsfreiheit des Grundgesetz. Ausgenommen von der Meinungsfreiheit sind lediglich durch Gesetz festgelegte Inhalte wie z. B. die Leugnung des Holocaust.

Den von der LHS angeführten Begründungen mangelt es an einer Rechtsgrundlage. Die Beschlüsse des Landtags Baden-Württemberg wie des Bundestages zu der BDS-Kampagne sind lediglich Meinungsäußerungen. „Dabei ist es nach der Auffassung der Kammer irrelevant, ob die BDS-Kampagne, die der Kläger unterstütze, antiisraelisch oder antisemitisch sei. Denn die Meinungsfreiheit, auf die sich der Kläger berufen könne, schütze auch antiisraelische und antisemitische Auffassungen. Ein Gesetz, das es der Beklagten erlauben würde, die Aufnahme der Kontaktdaten des Klägers auf ihre Webseite abzulehnen, weil der Kläger die BDS-Kampagne unterstütze, gebe es nicht. Ein derartiges Gesetz wäre wegen eines Verstoßes gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit voraussichtlich zudem verfassungswidrig.“ (Presseerklärung VG Stgt. v. 22.04.22)

Doch das kann sich schnell ändern. „Die Grenze für einen Eingriff in das Grundrecht der Meinungsfreiheit wäre erst dann erreicht, wenn die betreffenden Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-Richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen würden. Dies sei insbesondere dann anzunehmen, wenn sie den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren würden.“ (ebd.)

Wer also nicht nur eine folgenlose „Meinung“ in seinem Hirn ventiliert, sondern diese politisch umsetzen, also die „ geistige Sphäre“ des „Für-Richtig-Haltens“ verlassen will, etwa indem er/sie den Boykott organisiert, läuft schnell Gefahr, sich den Vorwurf einzuhandeln, das heilige „Rechtsgut“ Privateigentum zu verletzen. „Gefährdungslagen“ und andere Störungen des „öffentlichen Friedens“ sind bei Bedarf und Interesse leicht anzunehmen. Aber noch sieht das Gericht „diese hohe Schwelle für eine Ermächtigung zu Eingriffen in das Grundrecht der Meinungsfreiheit (…) durch die Unterstützung des Klägers für die BDS-Kampagne ersichtlich nicht erreicht.“ (ebd.)

Der Rechtsstaat kennt seine Pappenheimer:innen und erhebt vorsorglich den Zeigefinger. Aber mehr war vorerst auch nicht zu erwarten. Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Berufung beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zu.

Kündigungen der Konten

In der zweiten Angelegenheit, der Kündigung der Konten durch die BW-Bank, wurde am 26.04.2022 vor dem Landgericht Stuttgart im Eilverfahren (AZ.: 46 O 237/22 ) entschieden, dass die Kontokündigung gegen das Palästinakomitee Stuttgart unwirksam ist. Die BW-Bank sei eine Einrichtung des öffentlichen Rechts und solle die Grundversorgung der Bevölkerung in der Geldversorgung sicherstellen. Ein befürchteter Reputationsschaden sei kein sachlicher Kündigungsgrund.

Aussichten

Insgesamt ist mit den (vorläufigen) Urteilen die Arbeitsfähigkeit des Pako (vorerst) wieder hergestellt. Dem aggressiven Vorgehen der zionistischen Israelfreund:innen dürfte es in Zukunft deutschlandweit schwerer fallen, die BDS-Kampagne juristisch zu bekämpfen. Der juristische Teilerfolg vor den Gerichten darf zugleich nicht überschätzt werden.

Seit Jahren versuchen Parlamente, Behörden und Sicherheitskräfte, die demokratischen Rechte nicht nur der BDS-Kampagne, sondern jeder Form von Palästinasolidarität zu bescheiden. Die Unterstützung des israelischen Staates und seiner Funktion als Vorposten des Imperialismus im Nahen Osten gehört schließlich zur Staatsräson, die auf allen seinen Ebenen und auch von Banken wie der BWB umgesetzt wird, selbst wenn die Rechtsgrundlage dafür (noch) fehlt.

Wie das Verbot aller Demonstrationen in Solidarität mit Palästina in Berlin vor dem Ersten Mai gezeigt hat, müssen wir mit weiteren Anschlägen auf die Versammlungsfreiheit rechnen.

So richtig und wichtig es ist, gegen solche auch juristisch vorzugehen, so sollten wir keine Illusionen darin hegen, dass diese Spielräume nicht weiter eingeschränkt werden können. Dagegen helfen letztlich nur die Unterstützung der Palästinasolidarität und der politische Kampf gegen die Unterdrückung und deren Unterstützung durch den deutschen Imperialismus.




Wahldebakel der Linkspartei: Verdiente Katastrophe mit Ansage

Martin Suchanek, Infomail 1164, 27. September 2021

Dass die Linkspartei bei diesen Wahlen Stimmen und Mandate verlieren würde, stand im Grunde schon vor dem 26. September fest. Seit Monaten dümpelte sie in den Umfragen um die 6 % – mit sinkender Tendenz. Am Ende kam es schlimmer.

Magere 4,9 % waren es da, 2.269.797 WählerInnen kreuzten DIE LINKE an, über 2 Millionen weniger als 2017, als die Partei 4.297.492 Stimmen erhielt. Der Verlust gegenüber den letzten Bundestagswahlen betrug 47,2 %, also fast die Hälfe der WählerInnen (bei einer etwa gleich großen Wahlbeteiligung).

Früh gingen am Wahlabend bei der Linkspartei die Lichter aus. Nur drei Direktmandate sicherten den erneuten Einzug in den Bundestag. Auf den Traum von einem rot-grün-roten Politikwechsel folgte das Erwachen wie nach einer durchzechten Nacht.

So manche StrategInnen aus den Führungsetagen der Linkspartei, von Vorstand und Fraktion mögen den Verlust von über vier Prozentpunkten bei den Bundestagswahlen mit Hochprozentigem zu verdrängen versucht haben. Umso ernüchternder weckt die Realität. Die Vorsitzenden von Linkspartei und der verkleinerten Fraktion versprechen, aus dem größten Wahldebakel seit Bestehen von PDS und DIE LINKE die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Schließlich stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Politik.

Das Ergebnis

Eine Wahlanalyse von Horst Kahrs für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt, dass DIE LINKE im Vergleich zu den letzten Bundestagswahlen praktisch in allen Wahlbezirken, vor allem aber in den fünf ostdeutschen Flächenländern (zwischen 5,4 % in Thüringen und 8,7 % in Brandenburg) und in den Stadtstaaten (zwischen 5,5 % in Hamburg und 7,3 % in Berlin verlor). Mit Ausnahme des Saarlands (5,7 %) verlor sie in den westlichen Flächenländern „nur“ zwischen 3,0 und 3,8 %).

Natürlich hängt das auch damit zusammen, dass sie in ersteren auch mehr zu verlieren hatte. Jedenfalls erhielt sie in ihren ehemaligen Hochburgen im Osten im Durchschnitt nur noch 9,8 &, in den Stadtstaaten 9,6 % und in den Westländern 3,5 %.

Auch wenn DIE LINKE im Westen besser abschnitt als die PDS vor 2005, stellt das Ergebnis in diesen Bundesländern das schlechteste in der Geschichte der Partei dar.

Betrachten wir die 4,9 % nach Alter und sozialer Herkunft, so fällt auf, dass sich DIE LINKE unter jüngeren WählerInnen noch einigermaßen behaupten konnte (8 % bei den 18 – 24-Jährigen, 7 % bei den 25 –34-Jährigen), bei den über 45-Jährigen aber bei nur 4 % liegt.

Katastrophal ist jedoch auch das Ergebnis unter ArbeiterInnen, Angestellen mit jeweils 5 % und bei RentnerInnen (4 %). Unter den Arbeitslosen gaben zwar 11 % an, die Linkspartei gewählt zu haben, aber auch das liegt weit unter früheren Ergebnissen.

Unter GewerkschafterInnen schnitt sie zwar besser als im Durchschnitt ab, aber ein Anteil von 6,6 % stellt auch hier ein katastrophales Ergebnis dar und entspricht einem Verlust von 5,2 % gegenüber 2017.

Betrachten wir die WählerInnenwanderung seit der letzten Bundestagswahl, so ergibt sich ein sehr deutliches Bild, an wen DIE LINKE vor allem verlor: an die SPD (590.000) und die Grünen (470.000). Darauf folgen die NichtwählerInnen (370.000), verschiedene kleinere Parteien (250.000) sowie jeweils rund 100.000 an AfD und FDP. Selbst an die CDU gab sie 40.000 Stimmen ab.

Ursachen der Niederlage

Für das katastrophale Ergebnis ist natürlich die Linkspartei zuerst selbst politisch verantwortlich.

Dies liegt erstens darin, dass DIE LINKE selbst seit Jahren einen politischen Schlingerkurs fährt und sich faktisch drei Fraktionen in der Partei gegenseitig paralysieren. Die sog. RegierungssozialistInnen bilden jenen Teil des Apparates und der Spitze, der fast um jeden Preis mitregieren will. Die LinkspopulistInnen um Wagenknecht setzen auf eine angebliche Rückkehr zur Politik der „kleinen Leute“, beklagen den Vormarsch der Identitätspolitik, passen sich selbst aber an rassistische und nationalistische Stimmungen an. Die Bewegungslinke schließlich will eine transformatorische Regierungspolitik mit Engagement in Bewegungen verknüpfen.

In den realen politischen Auseinandersetzungen stehen diese Flügel – damit auch die Linkspartei – immer wieder auf verschiedenen Seiten. Während sich die Bewegungslinke betont antirassistisch gibt und an wichtigen Mobilisierungen in Solidarität mit Geflüchteten teilnimmt, erklärt Sahra Wagenknecht, dass nicht allen ein „Gastrecht“ gewährt werden könnte, und die Landesregierungen in Thüringen, Berlin oder Bremen schieben derweil ab.

Besonders deutlich trat das bei der Abstimmung um den letzten Afghanistaneinsatz zutage. Nachdem die Partei jahrelang den Rückzug der Bundeswehr gefordert hatte, wollt der rechte Flügel der sog. Rettungsmission doch zustimmen. Linke Abgeordnete lehnten das ab. Der Parteivorstand versuchte in der Not, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen – und sprach sich für eine Enthaltung bei der Abstimmung aus. Im Bundestag selbst folgte  eine Mehrheit der Abgeordneten der Empfehlung, fünf stimmen jedoch für den Einsatz, sieben dagegen. Mit dieser Politik machte sich DIE LINKE nicht nur unglaubwürdig, sie geriet auch in die Defensive.

Diese Schwankungen lassen sich faktisch auf allen wichtigen Politikfeldern verfolgen. So tritt die Partei für einen rascheren Ausstieg aus der Braunkohleverstromung ein – nicht jedoch in Brandenburg. In Berlin unterstützt sie die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen und die Krankenhausbewegung. Im SPD/PDS-Senat hatte sie freilich maßgeblich Anfang des Jahrtausends zur Privatisierung des Wohnraums und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und zum Outscourcing beigetragen.

Mit anderen Worten: Was die Linkspartei an Prestige und Anerkennung in einzelnen Kämpfen und Bewegungen erringt, konterkariert sie durch Opportunismus und Regierungspolitik auf der anderen.

Das ist natürlich für eine reformistische, bürgerliche ArbeiterInnenpartei nichts Ungewöhnliches, sondern ein recht typischer, immer wiederkehrender Widerspruch. Nachdem die Partei eine revolutionäre Umgestaltung kategorisch ablehnt, muss sie logischerweise auf eine Regierungsbeteiligung abzielen, um ihre Ziele überhaupt umsetzen zu können. So weit besteht zwischen verschiedenen Fraktionen in der Partei und auch unter ihren Mitgliedern durchaus weitgehende Übereinstimmung. Differenzen gibt es, von Teilen der AKL abgesehen, freilich dazu, wann und zu welchem Preis sich die Partei dafür hergeben soll oder darf.

Veränderung der Mitgliedschaft

Verschärft wird der innere Konflikt in der Linkspartei durch eine Veränderung ihrer Mitgliedschaft und WählerInnenbasis. Die Zahl der AnhängerInnen im Osten schwindet seit Jahren. Das hat natürlich auch demographische Gründe. Jahrelang konnten PDS und später Linkspartei auf eine breite Unterstützung ehemaliger DDR-BürgerInnen zählen. Deren Klassenzusammensetzung war heterogen, schloss also auch Teile des alten Staatsapparates und der Eliten der DDR ein, die es schafften, in der BRD zu UnternehmerInnen, Selbstständigen oder höhergestellten Lohnabhängigen zu werden.

Diese soziale Struktur lässt sich für eine linke Oppositionspartei nicht dauerhaft reproduzieren und das ist auch gut so.

Aber DIE LINKE vermochte es im Osten nicht, stattdessen Erwerbslose und prekär Beschäftigte dauerhaft zu halten und neue Schichten der Lohnabhängigen für sich zu gewinnen. Dafür trägt sie selbst maßgeblich Verantwortung, weil sie nicht als entschlossene Opposition zu den herrschenden Verhältnissen agierte und agieren wollte, sondern als bessere sozialdemokratische Mitgestalterin ebendieser fungierte.

Wer den Kapitalismus nicht bekämpfen, sondern zähmen will, wird dabei letztlich nur selbst gezähmt und unterminiert seine eigene Basis.

DIE LINKE hat zwar auch neue Mitglieder gewonnen, vor allem im Westen und auch unter Jugendlichen und Lohnabhängigen, einschließlich betrieblich und gewerkschaftlich Aktiver. Aber sie gewann weniger, als sie anderer Stelle verlor.

Politisches Luftschloss Rot-Grün-Rot

Darüber hinaus gewann die DIE LINKE nach den Hartz- und Agendagesetzen jahrelang vor allem enttäuschte SPD-AnhängerInnen. Diese WählerInnenbewegung kam jedoch in den letzten Jahren immer mehr zum Erliegen.

Im Gegenteil. Sobald die SPD sich verbal etwas nach links bewegte und als eine machtpolitische Option erschien, gelang es ihr, WählerInnen von der Linkspartei zurückzugewinnen. Ein ähnlicher Prozess lässt sich auch gegenüber den Grünen beobachten und im Osten gegenüber der AfD. Letztere dürften aber in der Regel dauerhaft an ein neues rechtspopulistisches Milieu verloren sein.

Die Verluste an die SPD (und auch die Grünen) machen aber ein grundlegendes Problem der Linkspartei deutlich. Sie gewann von der SPD vor allem dadurch, dass sie sich ihren AnhängerInnen als die bessere, „echte“ sozialdemokratische Partei präsentierte. Die Agendapolitik unter Schröder und Steinbrück trieb ihr gewissermaßen automatisch Leute zu. Die Aussicht auf eine SPD-geführte Regierung und einige soziale Versprechen reichten aus, um die Sozialdemokratie unter diesen WählerInnen attraktiver zu machen. Sobald sich abzeichnete, dass diese die Wahlen gewinnen könnte, überlegten Hunderttausende, die zwischen SPD, Grünen und Linkspartei schwankten, ob sie nicht lieber die Sozialdemokratie wählen sollten, um eine CDU-geführte Regierung zu verhindern.

Diese Sogwirkung kostete der Linkspartei wahrscheinlich 1 – 2 Prozent, also über eine Million WählerInnen.

Ironischer Weise verstärkte die Linkspartei selbst diese Sogwirkung. Einigen Umfragen zufolge schien eine rot-grün-rote Regierung arithmetisch möglich. SPD und Grüne machten zwar deutlich genug, dass sie eine solche Koalition zu keinem Zeitpunkt anstrebten und allenfalls als Drohkulisse gegenüber der FPD verwenden würden, aber die SpitzenkandidatInnen, die Parteivorsitzenden und die Fraktionsführung beschworen dieses politische Luftschloss umso eifriger. Sie zogen faktisch das eigene linksreformistische Wahl-zugunsten eines vagen Sofortprogramms zurück, in dem alle wesentlichen Unterschiede zu SPD und Grünen entweder weggelassen oder auf ein Minimum reduziert wurden. Damit stellte die Linkspartei faktisch den eigenen Wahlkampf zugunsten einer Werbetour für eine Koalition ein, die außer ihr niemand wollte.

Den umkämpften WählerInnenschichten signalisierte sie damit, dass es eigentlich egal war, ob sie die Linkspartei wählten oder nicht. Schließlich sollte doch alles in einer gemeinsamen Regierung enden. Und diese zogen den Schluss, dass sie doch lieber gleich für das sozialdemokratische (oder grüne) Original stimmen sollten statt für die linke Möchtegern-Steigbügelhalterin.

Diese Katastrophe hat ausnahmsweise einmal nicht Sahra Wagenknecht zu verantworten, sondern vor allem jene, die das „Sofortprogramm“ auf den Weg gebracht haben: Susanne Hennig-Wellsow, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch und die Parteilinke Janine Wissler.

Deren „Taktik“ offenbart nicht nur den tief sitzenden Opportunismus, sich faktisch um jeden Preis einer rot-grün-roten Koalition anzubiedern. Nicht minder dramatisch ist die Realitätsferne der Führung der Linkspartei.

Für sie stellte sich der Wahlkampf als eine Konfrontation zwischen einem neoliberalen und einem „Reformlager“ dar. SPD und Grünen fehlte es demzufolge nur an Mut für eine soziale, ökologische Koalition für echte Verbesserungen.

Diese oberflächliche Sichtweise verkennt völlig, dass Grüne und SPD seit Jahrzehnten eng mit dem bestehenden politischen Herrschaftssystem verbunden sind. Über diese Kanäle vermitteln sich auch die Interessen des deutschen Kapitals oder bestimmter Kapitalfraktionen in diese Parteien hinein.

Das Problem der Linkspartei besteht darin, dass sie als unsichere Kantonistin gilt, wenn wichtige strategische Interessen des Gesamtkapitals auf dem Spiel stehen, selbst wenn sich deren Spitzen noch so sehr bemühen, als  zuverlässig, also harmlos zu erscheinen. Die herrschende Klasse sieht keinen Grund, dieses zusätzlich Risiko angesichts einer schier unendlichen Fülle außen- und europapolitischer Probleme, angesichts von Pandemie und wirtschaftlichen Krisenprozessen einzugehen.

Die Auflösung des traditionellen Parteiensystems verursacht schon genug Kopfzerbrechen, es bedarf keiner weiteren Ungewissheiten. Die Spitzen von SPD und Grüne wissen, dass von ihnen in dieser Lage erwartet wird, dass sie eine möglichst stabile Regierung herbeiführen – und das heißt, mit FPD und/oder CDU/CSU koalieren.

Diese realen Klassenbeziehungen spielen in den Kalkulationen der Führung der Linkspartei ebenso wenig eine Rolle wie der Klassencharakter des Programms von SPD und Grünen. Wäre dem anders, hätten sie wissen müssen, dass Rot-Grün-Rot immer nur ein politisches Hirngespinst war, was immer man sonst davon halten möchte.

Die Führung der Linkspartei sitzt stattdessen den Oberflächenerscheinungen des bürgerlich-parlamentarischen Betriebs auf und nimmt sie für bare Münze. Obwohl sich Grüne und SPD im Wahlkampf als Parteien der sozial und ökologisch abgefederten Modernisierung des deutschen Kapitalismus und Imperialismus präsentierten, tat sie so, als wollten SPD, Grüne und DIE LINKE im Grunde dasselbe.

In dem sie die realen Verhältnisse verschleierte, statt sie deutlich zu machen, schuf sich die Linksparteiführung ein Wolkenkuckucksheim. Sie täuschte damit vor allem sich selbst – und machte die Partei im Wahlkampf überflüssig. Am 26. September erhielt sie dafür die Quittung.

Bestellt, aber nicht abgeholt, spielte die Parteiführung Koalitionsspielchen, zu denen sie nie eingeladen wurde und auch nie eingeladen worden wäre. Für die Linken in der Linkspartei ist es höchste Zeit, gegen diese Mischung aus Opportunismus, Kapitulation und politischer Fehleinschätzung aufzustehen.

Klarheit

Dies bedeutet aber nicht nur, sich innerparteilich zu positionieren. Es erfordert auch, sich selbst über den reformistischen Charakter der Linkspartei selbst klar zu werden. Die Orientierung auf Regierungsbeteiligungen ist keine Warze am Gesicht einer Partei, die selbst fest auf dem Boden der bürgerlich-demokratischen Ordnung steht. Vielmehr liegt es in der Logik einer Politik, die den Kapitalismus nicht stürzen will, dass sie zur Umsetzung ihrer Ziele eine Regierungsbeteiligung anstreben muss.

Solange die Kritik an der Anbiederung an Rot-Grün-Rot nur auf der Ebene verbleibt, dass sie heute zu viele Zugeständnisse beinhalte, ist sie letztlich oberflächlich und moralisch. Sie kritisiert nur die Resultate, nicht die Grundlagen des Reformismus.

Genau diese Kritik muss die Linke in wie außerhalb der Linkspartei leisten, um eine politische Alternative zu entwickeln, die über deren Rahmen programmatisch, strategisch wie taktisch hinausgehen kann. Diese grundlegende Debatte um ein revolutionäres Programm ist jedoch unerlässlich, damit die Katastrophe vom 26. September nicht zur nächsten führt.