Berliner Polizei löst Palästinakongress auf – Meinungsfreiheit wird zur Farce

Martin Suchanek, Infomail 1251, 13. April 2024

Einschränkungen demokratischer Rechte gehören mittlerweile zum Normalzustand der „Demokratie“. Die von Merkel und Scholz zur Staatsräson erklärte „bedingungslose Solidarität“ mit Israel verträgt sich offenkundig schlecht mit der Meinungsfreiheit.

Diese kam am 12. April unter die Räder wie selten zuvor in Berlin, einer Stadt, die durchaus auf eine lange Geschichte polizeilicher Gewalt und Willkür zurückblicken kann.

Doch während sich Repression „normalerweise“ auf Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden, Akte zivilen Ungehorsams oder das Aufbegehren prekär Beschäftigter konzentriert, galt der Anschlag auf die Meinungsfreiheit diesmal einer Saalveranstaltung, einer demokratisch organisierten Konferenz, dem Palästinakongress.

Staatsräson

Dieser richtet sich nämlich direkt gegen die zur Staatsräson er- und verklärte Solidarität mit Israel, auch wenn dieser Staat gerade rund 40.000 Menschen durch Bombardements und Bodentruppen getötet hat, weit über eine Million Menschen in Gaza vertrieben wurden und akut Hunderttausende vom Hunger bedroht sind. Mit tödlichem Ernst halten die deutsche Regierung wie die bürgerliche Opposition und die faktisch gleichgeschalteten Medien an der Fiktion fest, dass Israel keinen genozidalen Angriffskrieg führe, sondern sein „Recht auf Selbstverteidigung“ ausübe. Und damit nicht genug, Deutschland unterstützt den Krieg nicht nur politisch, diplomatisch, sondern auch militärisch. Allein im Jahr 2023 haben sich die Rüstungsexporte verzehnfacht.

Dieser Krieg wird folgerichtig auch im Inneren weitergeführt. Damit soll einerseits die Schuld des deutschen Imperialismus am Holocaust ideologisch entsorgt werden, andererseits verfolgt der deutsche Staat damit handfeste ökonomische und vor allem geostrategische Interessen.

So gerät schon die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit zur quasi kriminellen Betätigung. Seit Wochen wird in den Medien, von reaktionären wie „demokratischen“ Stimmungsmacher:innen, nach dem Verbot der Veranstaltung gerufen. Nachdem das rechtlich nicht ging, wurde tagelang gefordert und gedroht, was am 12. April von der Polizei durchgezogen wurde. Berlins rechtskonservativer Bürgermeister Wegner hatte schon lange ein „rigoroses Einschreiten“ beim „kleinsten Verdacht“ gesetzwidriger Aussagen angekündet. Im Klartext heißt das nichts anderes als die angedrohte Kriminalisierung jeder offenen Kritik am Staat Israel und seiner rassistischen Grundlagen, jeder Solidarisierung mit Palästina, jedes Antizionismus und jedes Eintretens für die demokratischen Rechte des palästinensischen Volkes, insbesondere dessen auf nationale Selbstbestimmung.

Provokation

Daher begann der Tag schon mit abstrusen und absurden Schikanen. Die Brandschutzverordnung und das Bauamt wurden bemüht, um einen Vorwand zu finden, nur 250 Personen in die für 600 Menschen ausgelegten Räumlichkeiten zu lassen. Hunderte Menschen konnten daher an der Veranstaltung erst gar nicht teilnehmen. Zudem zog die Polizei den gesamten Prozess des Einlassens der Teilnehmer:innen über Stunden hin. Während hunderten Menschen mit Eintrittskarten der Zutritt von der Obrigkeit verwehrt wurde, schleuste die Polizei – unter frecher Missachtung des Hausrechtes der Veranstalter:innen – prozionistische, hetzerische Journalist:innen von Welt und Co. ein. Darüber hinaus machten die Cops die massive Präsenz uniformierter und aller möglichen Polizist:innen in Zivil zur Bedingung, dass die Veranstaltung überhaupt beginnen konnte.

Trotz all dieser Schikanen, Provokationen und polizeistaatlicher Mittel, von denen Putin und Erdogan, Netanjahu und Biden, aber auch Meloni und Macron noch einiges lernen könnten, begann der Kongress.

Rede von Habh Jamal

In einer ergreifenden Rede entlarvte Hebh Jamal die Lügen, aber auch die Kooperation der Unterdrücker:innen weltweit, eine Kooperation, die keine Verschwörung ist, sondern die das gemeinsame Interesse der herrschenden Klassen an einer imperialistischen Ordnung deutlich macht, die auf Ausbeutung und Unterdrückung basiert. Vor allem machte sie deutlich, dass eine Konferenz, die die Verbrechen der Nakba, die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser:innen verdeutlicht und die Komplizenschaft des deutschen Imperialismus hervorhebt, auch einen Akt des Widerstandes darstellt.

Denn in der Anklage gegen diese Politik, die die Konferenz schon im Vorfeld erhob, liegt notwendig und untrennbar ein Durchbrechen des Schweigens, ein Moment der Solidarisierung, die zur Aktion, zum Handeln drängt, zur Vertiefung und besseren Koordinierung unserer Bewegung.

Das wollen die deutsche Regierung sowie das gesamte politische Establishment, ob nun Ampelkoalition oder Unionsparteien, ja selbst die AfD und Teile der Linkspartei verhindern. Die Berliner Polizei rückte mit gut 900 Einsatzkräften an, um diesen politischen Auftrag umzusetzen. Und sie tat es.

That’s what imperialist „democracy“ looks like

Die Videobotschaft von Salman Abu Sitta, über den der deutsche Staat wegen seines Engagements ein Einreiseverbot verhängt hatte, wurde schon nach wenigen Minuten und ohne ersichtlichen Grund von der Polizei gestoppt. Dafür wurden schließlich gegenüber der Anwältin der Veranstalter:innen mehrere, einander widersprechende, selbst nach bürgerlichem Recht überaus fragwürdige Gründe geliefert. So erklärte die Polizei einmal, dass die Rede Passagen enthalten könnte, die volksverhetzerisch sein könnten. Dies würde geprüft werden. Frei nach dem Motto „Viel hilft viel“ hieß es später, dass Salman Abu Sitta ein politisches Betätigungsverbot in Deutschland habe. Seit wann und woher, wussten die Polizeikräfte ebenso wenig zu erklären wie die Frage, ob das Abspielen einer Videobotschaft überhaupt darunter falle. Doch wer braucht schon Gründe, wenn er das Gewaltmonopol auf seiner Seite hat? Und um gleich alle Unklarheiten aus der Welt zu schaffen, dass hier das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wird, wurde der Kongress auch gleich für Samstag und Sonntag samt sämtlicher Nachfolgeveranstaltungen verboten.

Die Polizei konnte den Kongress sprengen und auflösen. Doch sie wird uns weder zum Schweigen bringen noch wird sie ihr Ziel erreichen, unsere Bewegung, die wächst und stärker wird, zu zerstören.

Im Gegenteil. Die willkürliche Auflösung des Kongresses und der Anschlag auf die Meinungsfreiheit offenbaren nicht nur den repressiven Charakter der Polizei. Sie verdeutlichen auch den antidemokratischen Charakter der deutschen Regierungspolitik. Und sie zeigen die enge Verbindung von imperialistische Politik und der monopolisierten öffentlichen Meinung. Denn neben der Repression stehen wir auch einer orchestrierten Hetze und Verleumdung samt einer massiven Welle antipalästinensischen, antimuslimischen und antiarabischen Rassismus’ entgegen.

Dass die deutschen Medien auch gegen Genoss:innen der Gruppe Arbeiter:innenmacht und von REVOLUTION hetzen, zeigt unserer Meinung nach nur, dass wir etwas richtig gemacht haben. Wir wollen aber nicht vergessen, dass das deutsche Establishment in den letzten Wochen auch seine antisemitische Seite zeigt, wenn sie antizionistische Juden und Jüdinnen, vor allem die Genoss:innen der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, öffentlich diffamiert und die Berliner Sparkasse ihr Vereinkonto sperrt. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, dass es vor allem unsere palästinensischen Genoss:innen sind, die auf das Brutalste angegriffen, deren Vereine und Organisationen bedroht und kriminalisiert werden und über denen das Damoklesschwert der Abschiebung hängt, während zugleich ihre Freund:innen und Angehörigen sterben oder vertrieben werden.

Heute, am 12. April 2024, haben die Wegners und Giffeys, die Scholz’ und Baerbocks unseren Kongress auflösen können. Sie verfügen über die Machtmittel, dies zu tun. Doch sie mögen sich ihres „Erfolges“, ihres „Sieges“ über unsere demokratischen Rechte nicht zu sicher sein – und gewiss werden sie sich nicht zu lange darüber erfreuen. Auch wenn sie vermochten, unseren Kongress aufzulösen, so wurde er – und dies ist ein Stück Ironie der Geschichte – weltweit bekannter. Vor allem hat die Repression weit mehr Menschen den  reaktionären, antidemokratischen Charakter des deutschen Kapitalismus vor Augen geführt, als es unsere Reden, Beiträge, Diskussionen, Beschlüsse allein vermocht hätten. Gerade der deutsche Imperialismus hat sich über Jahrzehnte das Image aufgebaut, vergleichsweise „demokratisch“ und „wertebasiert“ zu sein. Diese selbstgefällige Lüge entlarvt er gerade selbst.

Wir werden dafür sorgen, dass sie ihm im Halse steckenbleibt. Sie können einen Kongress verbieten, unseren Widerstand, Kampfeswillen, unsere Entschlossenheit werden sie nicht brechen. Denn wir kämpfen im Gegensatz zu ihnen für eine gerechte Sache, für Freiheit und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung.




Stoppt die Hetze gegen den Palästina Kongress!

Stefan Katzer, Neue Internationale 281, April 2024

„Albanese [UN-Sonderberichterstatterin für Palästina; Anm. d. Autors] fiel immer wieder mit wüster antisemitischer Hetze auf, erklärte etwa am Frauentag, ihre Gedanken seien bei den Frauen in Gaza.“ (BILD vom 18.03.2024)

Wer nach Wochen und Monaten der medialen Hetze gegen propalästinensische Aktivist:innen geglaubt hat, die bürgerliche Presse hätte ihr Pulver bereits verschossen, muss sich angesichts solcher Aussagen offenbar eines Besseren belehren lassen.

Während politische Aktivist:innen von der bürgerlichen Presse schon seit längerem als Antisemit:innen verunglimpft werden, weil sie die israelische Besatzung und den gegenwärtigen Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung kritisieren, ist die „Debatte“ mittlerweile offenbar an einem Punkt angelangt, wo bereits die bloße Erwähnung der Existenz palästinensischer Frauen als „wüste antisemitische Hetze“ gilt.

Mediale Schmutzkampagne

Anlass für diese Zuspitzung der medialen Hetzkampagne ist der für Mitte April in Berlin geplante Palästinakongress. Auf diesem wollen bekannte Redner:innen aus verschiedenen Ländern ihre Sicht auf den Krieg in Gaza darlegen, die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen und über politische Strategien im Kampf gegen Krieg, Unterdrückung und Besatzung diskutieren. Zugleich soll dieser Kongress auch der Vernetzung derjenigen Gruppen dienen, die seit Monaten gegen den Krieg in Gaza protestieren und ihre Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand erklärt haben.

Da die Sichtweise der organisierenden Gruppen sowie der bereits bekanntgegebenen Sprecher:innen auf den Krieg in Gaza derjenigen der herrschenden Klasse in Deutschland diametral entgegengesetzt ist, unternimmt diese nun alles, den geplanten Kongress und die politische Debatte über den Krieg gegen Gaza zu verhindern. Offenbar fürchtet sie die öffentlichkeitswirksame Aufdeckung ihre Komplizenschaft mit der israelischen Regierung, welche seit Monaten verheerende Angriffe auf Zivilist:innen und die Infrastruktur in Gaza durchführt, während sie die Grenzübergänge geschlossen hält und humanitäre Hilfslieferungen weiterhin blockiert. Die Tatsache, dass die deutsche Bundesregierung sich durch Waffenlieferungen an diesen Verbrechen beteiligt und so mitschuldig macht an einem Genozid gegen die palästinensische Bevölkerung, soll offenbar vertuscht werden.

Verbotsdrohungen

Die Sicht der Herrschenden in Deutschland darf deshalb nicht grundsätzlich in Frage gestellt, ihre Lügen und Komplizenschaft in diesem verheerenden Krieg dürfen nicht entlarvt werden. Auch wenn sich die deutsche Bundesregierung und andere Verbündete der israelischen Regierung auf internationaler Bühne bereits als Kriegstreiber:innen enttarnt haben, da sie – trotz jeder Menge Krokodilstränen angesichts der katastrophalen humanitären Lage in Gaza – Israel auch weiterhin Waffen und Munition liefern, sind sie nach wie vor darum bemüht, zumindest an der „Heimatfront“ ihre ideologische Vorherrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen.

Wenn es ihnen dabei trotz ihrer Dominanz in den Medien nicht gelingt, die eigene Sichtweise als die allein zulässige zu verteidigen, sind diese bürgerlichen Kräfte offenbar bereit, mit falschen Anschuldigungen, Hetze und Repression nachzuhelfen, um andere Ansichten zu unterdrücken und politische Gegner:innen mundtot zu machen.

Dadurch sowie durch ein Verbot des Kongresses soll die politische Debatte über effektive Formen des Widerstands gegen Krieg, Unterdrückung und Besatzung verhindert werden. Die Repression richtet sich somit gegen die Unterdrückten und ihre Unterstützer:innen, die mit dem Staat Israel zugleich einen wichtigen Verbündeten des deutschen Imperialismus angreifen. Sie wollen deshalb um jeden Preis verhindern, dass sich die in der Palästinasolidarität aktiven Gruppierungen weiter vernetzen und den Widerstand gegen die israelische Politik koordinieren und vorantreiben. Dabei schrecken die Herrschenden in Deutschland wie in Israel nicht davor zurück, die Erinnerung an den Holocaust und den Kampf gegen Antisemitismus für ihre bornierten Zwecke zu missbrauchen.

So sprach etwa der Berliner Innenstaatssekretär Christian Hochgrebe (SPD) mit Blick auf den bevorstehenden Kongress von „israelfeindlichen und antisemitischen Gruppierungen“, die hinter der Planung steckten. Er befürchte, dass die Veranstaltung der weiteren strategischen Vernetzung israelfeindlicher und antisemitischer Personen und Gruppierungen“ dienen könnte und nicht Bühne für den „kritischen Diskurs über die israelische Politik“ sein werde. Vor diesem Hintergrund werde derzeit ein Verbot der Veranstaltung geprüft.

Bürgerliche Grenzen der Meinungsfreiheit

Das dahinter stehende Verständnis von Meinungsfreiheit reduziert sich letztlich darauf, die anderen nur das sagen zu lassen, was man selber gerne hören möchte. Das beinhaltet durchaus die Möglichkeit, Israel bzw. die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren – aber eben „in Maßen“, d. h. so, dass die zugrundeliegenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht grundsätzlich infrage gestellt werden.

Die Herrschenden behalten sich somit das Recht vor, selbst zu definieren, welche Aussagen als legitime Kritik gelten und ab wann die Linie in Richtung „Dämonisierung“ überschritten und Kritik damit unzulässig wird. Dabei berufen sie sich gerne auf eine Definitionen von Antisemitismus, welche Antizionismus als eine Form desselben mit einschließt. Demzufolge ist jede:r, der/die die Fortexistenz des israelischen Siedlerkolonialismus als Hindernis für ein friedliches Zusammenleben aller in der Region lebenden Menschen betrachtet und ihn durch einen multiethnischen, binationalen, säkularen Staat ersetzen möchte, per definitionem Feind:in aller Jüdinnen und Juden!

Widerstand gegen Krieg, Unterdrückung und Besatzung wird pauschal als reaktionär gebrandmarkt und die bestehenden politischen und programmatischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen des palästinensischen Widerstandes werden bewusst verwischt. Gleichzeitig verhindert ein von bürgerlicher Seite verhängtes Diskussionsverbot, dass die reaktionäre Ideologie und falsche Strategie der Hamas im Kampf gegen den zionistischen Siedlerkolonialismus von fortschrittlichen Kräften des palästinensischen Widerstandes entlarvt und durch ein progressives Programm der Revolution ersetzt werden kann. Damit stärken sie letztlich diejenigen Kräfte, die sie vorgeben, bekämpfen zu wollen.

Wir kennen diese herrschaftskonforme Verdrehung der Tatsachen aus anderen Zusammenhängen. Feminist:innen und Klimaaktivist:innen können davon ein Lied singen. Wer etwa für gleiche Rechte, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper eintritt, muss sich schon mal als „Männerhasser:in“ bezeichnen lassen. Wer sich hingegen für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen engagiert und durch Straßenblockaden gelegentlich den Verkehr behindert, sind in den Augen der Herrschenden eindeutig freiheitshassende Klimaterrorist:innen.

Und wer, wie die Organisator:innen des Palästinakongresses, auf Grundlage zahlreicher, gut belegter Tatsachen die Ansicht vertritt, dass es sich bei dem israelischen Staat und der Politik der israelischen Regierung um eine Form von Siedlerkolonialismus handelt, der auf die Enteignung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung abzielt und damit ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller dort lebenden Menschen verhindert, wird von den Herrschenden regelmäßig als israelhassende/r Antisemit:in verunglimpft.

Der Palästinakongress zwischen dem 12. und 14. April in Berlin hat sich zum Ziel gesetzt, diese Unwahrheiten und Verdrehungen aufzudecken und die wahren Verantwortlichen für Krieg, Leid und Unterdrückung vor einer breiten Öffentlichkeit anzuklagen. Wer die organisierenden Gruppen dabei unterstützen möchte, kann dies durch eine Spende tun: https://palaestinakongress.de/donate.




Forderung nach Zwangsexmatrikulationen an Berliner Unis: Warum gerade jetzt?

Oda Lux, Infomail 1246, 4. März 2024

2021 wurde Zwangsexmatrikulation als Maßnahme aus dem Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) gestrichen. Zuvor wurde sie kaum noch angewandt. Doch als Reaktion auf den Angriff auf einen jüdischen Studenten der FU Berlin in einer Bar in Berlin Mitte gibt es Bestrebungen des Berliner Senats, diese Klausel wiedereinzuführen – und das im Eilverfahren. Als kritische Begleiter:innen der Politik und Geschehnisse der letzten Jahre müssen wir uns fragen: Warum gerade jetzt?

Die letzten zehn Jahre können wir eine Zunahme antisemitischer Angriff, in erster Linie von rechts, aber auch Islamist:innen beobachten. Warum? Weil diese Ideologien auf dem Vormarsch sind und an Fahrwasser gewonnen haben. Natürlich macht dieses Klima nicht vor Universitäten halt.

Der Attentäter von Wien, der im Jahr 2020 4 Menschen erschoss und wahrscheinlich ein Sympathisant des sog. Islamischen Staates war, war Student.

Burschenschaften mit Verbindungen zur Jungen Alternativen für Deutschland und der Identitären Bewegung, die als rechtsextrem eingestuft wurden, wandeln mehr oder weniger weniger sichtbar auf Campus im gesamten Land umher. Und dass, obwohl alle eine konservativ, rechtsnational bis rechtsextremistische Ideologie verfolgen, in Teilen Ausländer nicht aufnehmen und Frauen keinen Platz bei ihnen haben. Sucht man bei ihnen nach Verbindungen zu Gewalttaten, wird man ebenfalls schnell fündig.

Das sind nur zwei Beispiele. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, daraus den Schluss zu ziehen, dass man die Repression an Universitäten, und dann auch noch nur für Studierende, insgesamt erhöhen müsste. Diskriminierende Fälle, nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische, haben in den letzten Monaten stark zugenommen. Werden diese künftig auch mehr beachtet?

Die bürgerliche Justiz vs. die „Gerechtigkeit des Mobs“

Der Ruf nach Zwangsexmatrikulationen wirft viele Fragen auf: Für welche Taten sollen diese Mittel gelten: nur für Antisemitismus oder auch andere Hassverbrechen wie Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Hass auf Frauen? Geht es nur um aktuelle oder auch vergangene Taten in Berlin, Deutschland und darüber hinaus? Ist das ein Aufruf zur gegenseitigen Bespitzelung? Muss der oder die Angreifer:in handgreiflich geworden sein und wer richtet über diese Fälle: etwa die Universitäten selbst?

Die, vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus naheliegendste Antwort wäre: Gerichte müssen entscheiden. Doch das wollen jene, die laut nach raschen, drakonischen Verurteilungen rufen, offenkundig nicht. Die Debatten um den antisemitischen Angriff und die Novellierung des BerlHG haben gezeigt, dass nicht einmal jetzt, wo Zwangsexmatrikulationen illegal sind, gewartet wurde, bis bspw. überhaupt die Umstände geklärt waren, geschweige denn ein Gericht über Schuld und Unschuld gerichtet hätte. Bereits hier muss man hellhörig werden. In Zeiten von Fake News und einer, auch ohne den Krieg gegen Gaza, angespannten politischen Lage sind falsche Vorwürfe an der Tagesordnung. Der populistische Mob hatte unlängst gerichtet. Doch am Ende nützt ein solches Vorgehen nicht den Betroffenen, sondern in erster Linie rechten und populistischen Kräften. Und es stärkt die autoritären Tendenzen zur Aushebelung bürgerlich demokratischer Rechte.

Zurück zu den Zwangsexmatrikulationen: Folgt man dennoch dieser Vorgehensweise, würde man in erster Linie Zwangsexmatrikulationen bei Vorfällen auf den Weg bringen können, die zur Anzeige oder gar Verurteilung kamen. Doch Betroffene, die tagtäglich mit Hass konfrontiert werden, bringen Taten viel seltener zur Anzeige, als man denkt. Denn Übergriffe und Beleidigungen geschehen zu oft und sich zusätzlich noch Befragungen oder Gerichtsverhandlungen auszusetzen, frisst noch zusätzlich emotionale Kapazitäten. In vielen Fällen wird ihnen nicht geglaubt oder es kommt noch zusätzlich zu Polizeigewalt. Noch schwieriger ist es bei Hass und sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen und Queers. Für viele ist es schwierig, auch noch nach Monaten und Jahren überhaupt darüber zu sprechen. Wie realistisch ist es daher, dass gerade im Universitätskontext, wenn auch vor Gericht die Beweislast bei den Betroffenen liegt und die meisten Taten nur schwer zu beweisen sind, Menschen sich dieser Tortur aussetzen? Und vor allem für welches Ergebnis? Weder einen Rechtsbeistand noch einen Therapieplatz bekommt man im Gegenzug.

Zusätzlich bleiben Gerichte ein Mittel des bürgerlichen Staates und seiner Verteidigung. Spätestens wenn man versucht, Polizist:innen für rassistische Polizeigewalt zu verurteilen, sollte das auch noch dem/r letzten reformistischen Linken klar werden. Betroffene „gewinnen“ dabei also erstmal nichts und werden im schlimmsten Fall noch durch Unglauben gestraft.

Betroffene schützen, aber wie?

Die FU Berlin hat dem vermeintlichen Täter ein Hausverbot erteilt. Sicherlich gibt es Kontexte, in denen das ein sinnvolles Mittel ist, um Menschen von Veranstaltungen auszuschließen. Bedenkt man allerdings die Größe der meisten Universitäten, ist es einfach nur unrealistisch, dass Menschen tatsächlich so am Betreten von Gebäude gehindert werden können. Dieses Problem in der Umsetzung darf nicht zu einem Einfallstor für Sicherheitsdienste an Unis genutzt werden. An manchen Fakultäten gibt es sie bereits. Auch die FU hat einen beauftragt. Studierende haben hier berichtet, dass dieser u. a. rassistisch und obdachlosenfeindlich aufgetreten ist. Wenn solche Strukturen zum „Kampf gegen Diskriminierung“ eingesetzt werden, dann ist es daher viel wahrscheinlicher, dass der gegenteilige Effekt einsetzt und noch mehr „bedauerliche“ Einzelfälle produziert werden.

Die Handlungsmacht muss zurück in unsere Hände, die der Studierenden und Beschäftigten!

Unsere Devise heißt: Organisiert euch! Wir brauchen Strukturen, die einschreiten. Nicht nur für die politische Arbeit an der Uni als Lern- und Arbeitsort ist das wichtig. In diesem Rahmen können auch Schutzkonzepte erarbeitet werden – eine Form der Bildungsarbeit, die derzeit nicht geleistet wird. Allein der Ausschluss von Menschen entzieht Hass und Menschenfeindlichkeit nicht die Grundlage. Es braucht daher ein Umdenken. Des Weiteren suggeriert es Betroffenen, dass, wenn sie bestimmte Orte nicht bzw. diese von anderen nicht betreten werden dürfen, sie sicher vor Diskriminierung wären. Das ist weit von der Realität entfernt.

Warum darf man den Kampf gegen Antisemitismus nicht getrennt sehen?

Bei der Wiedereinführung von Zwangsexmatrikulationen geht es um viel mehr als einen antisemitischen Vorfall. Und auch bei denen, die immer wieder darauf rekurrieren, kann man sich die Frage stellen, inwiefern es je primär um Antisemitismus ging. Dieser ist tief in der Gesellschaft verankert. Das kann man nicht leugnen, ist allerdings nicht erst seit einer steigenden Anzahl Muslim:innen in Europa zu verzeichnen. Er war nie weg. Doch wo waren alle diese neuen Kämpfer:innen gegen Antisemitismus nach dem Anschlag in Halle? Was haben sie gegen den Anstieg der Vorfälle getan? Haben sie ihre Stimme erhoben? Haben sie sich organisiert? Demonstriert?

Erst mit dem Angriff der Hamas wurde dieser Kampf, den es ohne Frage zu gewinnen gilt, sodass Menschen ohne Angst in die Synagoge gehen oder sagen können, dass sie jüdisch sind, wieder populär. Und das ist nichts anderes als Heuchelei. Unter dem Label der Antisemitismusbekämpfung ist es derzeit einfach, Menschen zu diskreditieren, migrantischen Protest zu kriminalisieren oder Kritiker:innen, nicht nur im Kontext des Krieges in Gaza, zum Schweigen zu bringen. Es sind dieselben, die Bildungsarbeit zu Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus diskreditieren (hierzu empfehlen wir, die Anfragen im Abgeordnetenhaus von Berlin von FDP, CDU oder AfD zu studieren) oder gar Gelder dafür einstampfen wollen. Allein das zeigt, dass es sich um ein vorgeschobenes Argument handelt.

Viel wichtiger ist es allerdings, dass wir uns nicht nur der Heuchelei, sondern der materiellen Grundlage bewusst sind. Das bedeutet auch, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht losgelöst gesehen werden kann von dem gegen Rassismus oder Imperialismus. Klar hat es Diskriminierungsformen auch ohne Kapitalismus bereits gegeben. Dennoch ist der moderne Antisemitismus nicht deckungsgleich mit einem mittelalterlichen Antijudaismus. Rechte Hetze und faschistische Bewegungen spielen mit Abstiegs- und Existenzängsten. Die reaktionäre faschistische Bewegung nutzt Antisemitismus bewusst, um Klassengrenzen vermeintlich wegzuwischen. Ein vermeintliches deutsches, französischse usw. Volk wird einem Feind gegenübergestellt, den es zu bekämpfen gilt. In Europa und besonders in Deutschland, nicht zuletzt durch die NS-Zeit, führte das zur massenhaften Vernichtung von Juden und Jüdinnen. Doch als diese Verfolgungsmaschinerie erst einmal eingesetzt hatte, wurde die Gruppe der Verfolgten kontinuierlich größer.

Neuere Umvolkungsideen basieren auf ähnlichen Grundlagen, auch wenn sie sich vor allem auf Muslim:innen fokussieren. Allein diese Parallelen zeigen auf, dass wir nicht auf eine rassistische Front gegen Antisemitismus hereinfallen dürfen. Beide Ideologien haben dieselbe Grundlage. Ebenso wird auch in beiden Fällen vor allem das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum angesprochen. Schaut man sich die derzeitigen Proteste an, bestätigt sich diese These: Vorher nie was gegen Diskriminierung jeglicher Art gemacht, aber auf die Feindeserzählungen hereingefallen. Ja, nie wieder ist jetzt! Für uns bedeutet das, den Kern dieser Ideologien zu bekämpfen und eine politische Alternative dazustellen. Dabei stützen wir uns nicht auf die all zu schnell verführbaren Kleinbürger:innen.

Der Kampf gegen Repression ist jetzt!

Ein Ausschluss entzieht der ausgeschlossenen Person nicht nur ihr Recht auf Bildung und auf Verteidigung gegen den Vorwurf. Noch viel schlimmer ist, dass es überhaupt keinen Ansatz gibt, um nachhaltig Diskriminierung entgegenzuwirken. Nicht mal die Symptombekämpfung durch Bildungsarbeit spielt eine Rolle. Doch Rassismus und auch Antisemitismus sind nicht „eingeimpft“, sie sind Merkmale des kapitalistischen Systems. Gerade in Zeiten der Krise basiert der Kapitalismus darauf, sich nach und nach gewisser Gruppen zu entledigen. Wer vorher in den prekärsten Jobs schuften musste, wird durch die nächste Gruppe ersetzt, um letztlich doch wieder Profite zu erzielen. So ist es nicht verwunderlich, dass in Zeiten des Rechtsrucks nicht nur Antisemitismus oder Rassismus ansteigen, sondern auch der Hass auf Frauen.

Bei der Frage, ob Zwangsxmatrikulationen wieder eingeführt werden sollten, geht es eben nicht nur um einen vermeintlich antisemitischen Übergriff. Hier werden Weichen gestellt. Diese Debatte ist einerseits der Höhepunkt einer Repressionswelle und gleichzeitig der Anfang für ein neues Stadium der Kriminalisierung. Besonders Muslim:innen werden derzeit zu Sündenböcken gemacht, obwohl der Großteil antisemitischer Taten weiterhin von rechts kommt. Doch das will niemand aus dem „demokratischen“ Mainstream hören. Denn auch die Rhetorik in den Parlamenten besteht von Misstrauen bis zu offenen Deportationsplänen über Parteigrenzen hinweg gegen Ausländer:innen, Migrant:innen und Geflüchtete. Als Revolutionär:innen ist uns klar, dass die erste Phase der Repression vor allem Migrant:innen zum Ziel haben, es aber darüber hinaus auch insbesondere linke Gruppen treffen wird. Dieser Repressionsapparat darf gar nicht erst in Gang gesetzt werden. Wir müssen uns jetzt dagegen organisieren!

Unsere Staatsräson heißt: Sozialismus!

Wir sind Internationalist:innen. Natürlich sind uns Religion oder Herkunft einer Person egal, denn unsere Klasse kennt weder Ausländer:innen noch rassistische Trennung.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich halten wir von Sozialismus und Befreiung nur in einem Land nichts.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich interessiert uns die politische Situation und die Ausbeutung der Massen in einem Land nicht erst, wenn es in der deutschen Tagesschau Thema wird.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich ist unser Ziel eine weltweite Revolution der Arbeiter:innenklasse.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich sind wir uns der Diskriminierung auch innerhalb unserer eigenen Bewegung bewusst. Deswegen stehen wir nicht nur bei äußerer Bedrohung Seite an Seite, sondern geben unseren Mitgliedern Caucusse als Supportstrukturen.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich beginnt unser Kampf gegen Imperialismus im eigenen Land.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich müssen wir jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Unser Kampf dagegen steht jedoch nicht im Widerspruch zu unsere Palästinasolidarität. Für uns ist weder das eine noch das andere ein plötzliches Event. Unser Kampf gegen Diskriminierung, Ausbeutung und Imperialismus steht auf einer Klassenbasis, einer Analyse der materiellen Grundlage. Genau deswegen gehören der Kampf gegen antisemitische Parolen in- und außerhalb der eigenen Strukturen und der für ein freies Palästina zusammen.

Der Kampf in der Bewegung für ein revolutionäres und internationalistisches Programm und seine Anleitung durch es sind wichtiger denn je. Die derzeitige Dynamik zeigt uns, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt, wenn die AfD in Deutschland Erfolge erzielt, Antisemitismus und Rassismus seit Jahren zunehmen, Netanjahu in Israel den Krieg nicht nur gegen die Palästinenser:innen nutzt, sondern auch gegen die Opposition und jemand wie Erdogan als Bollwerk gegen Genozid eintritt, während er selbst Kurdistan bombardiert. Unsere Antwort auf die Krise heißt daher: Sozialismus jetzt!

Mehr zu unserer Position zu Palästina




Berliner Polizei attackiert LL-Demonstration 2024

Martin Suchanek, 16. Januar 2024

Mindestens 16 Personen mussten nach Angaben von Demo-Sanis infolge brutaler Angriffe der Polizei mit Knüppeln und Pfefferspray am 14. Januar mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Besonders schwer hatte es einen 65-jährigen Mann getroffen, der ohnmächtig, aus Mund und Nase blutend am Boden lag.

Ursache – oder genauer Vorwand – für den Einsatz mehrerer Hundertschaften war die Solidarisierung mit Palästina durch die Demonstration. Angeblich, so die Polizei-Erzählung wäre die verbotene Losung „From the river to the sea, Palestine will be free“ von einem Redner und Demonstrationsteilnehmer gerufen worden. Infolgedessen wurden eine Reihe Personen festgenommen.

Nachdem weiter vorne laufende Demonstrant:innen und ganze Blöcke zurückliefen, um sich zu solidarisieren, schlug die Polizei richtig los. Zweifellos wird die Polizeiführung, deren Einsatzkräfte nicht zum ersten Mal provokativ die Demonstration angriffen, einen Grund zurechtzimmern, warum auch dieser Einsatz „verhältnismäßig“ gewesen wäre und eigentlich die behelmten Knüppeleinheiten Opfer und nicht Täter:innen gewesen wären.

Klar wird auch das Abgeordnetenhaus über die Provokation, über den Angriff auf das Demonstrationsrecht beraten – mit vorhersehbarem Ausgang: Schuld sind die Demonstrant:innen. Schließlich wird die Solidarität mit Palästina, die immer schon öffentlich denunziert wurde, seit Monaten von Regierungen und Parlamenten kriminalisiert. Auch der „Zivilgesellschaft“, also der bürgerlichen Öffentlichkeit, kann es davon nicht genug geben. So setzt eben die Polizei den politischen Marschbefehl – natürlich nicht nur am 14. Januar – um.

Während antiimperialistische Solidarität kriminalisiert und verprügelt wird, sorgen sich Zehntausende nach den jüngsten Enthüllungen über die rassistischen Deportationspläne von Vertreter:innen der AfD, der Identitären und der Werteunion bei einem „privaten“ Treffen in Potsdam um die deutsche Demokratie. Zweifellos ist die Sorge und Angst um die Errichtung eines rassistischen Abschiebe- und Ausweisungsregimes berechtigt. Die AfD und diverse faschistische Gruppierungen bilden dabei die extreme Speerspitze einer Politik, die den stetigen Forderungen nach einer immer rigideren Migrations- und Flüchtlingspolitik und der geplanten faktischen Abschaffung des Asylrechts durch die EU Vorschub leistet. Vorschub leistet dem Rechtsruck dabei aber auch die Diffamierung der Palästina-Solidarität, von Palästinenser:innen, Araber:innen, Muslim:innen als undemokratisch und antisemitisch sowie die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antirassismus. Wer den immer stärker werdenden antimuslimischen Rassismus und die Kriminalisierung und Diffamierung der Palästina-Solidarität nicht bekämpft, der wird letztlich auch den Rechtsruck nicht stoppen können.

Die LL-Demonstration hat sich hier vollkommen richtig verhalten. Sie ließ sich nicht einschüchtern, sondern vielmehr haben sich ihre Teilnehmer:innen gegen die Polizeigewalt gestellt.




Erster Palästina-Strafprozess seit dem 7. Oktober: Lollo ist verurteilt, aber seine Integrität ist intakt

Martin Suchanek & Georg Ismael, Infomail 1237, 16. November 2023

Die Mühlen der Justiz mahlen zuweilen schnell, jedenfalls wenn es politisch erwünscht ist. Am 15. November fand der erste Palästina-Prozess im Zusammenhang mit der Kriminalisierungswelle ab Anfang Oktober gegen den Internationalisten und Antifaschisten Lollo am Amtsgericht Berlin Tiergarten statt.

Am 18. Oktober wurde der junge italienische Arbeiter Lollo in der Berliner Sonnenallee festgenommen. Seither befand er sich in Untersuchungshaft. Um zu einer raschen und harten Verurteilung zu gelangen, wurde der Fall im Schnellverfahren geführt. Der Prozess begann nach nur vier Wochen und endete am 15. November mit der Fällung des Urteils.

Lollo wurde zu einer Haftstrafe von 8 Monaten verurteilt, die auf Bewährung für drei Jahre ausgesetzt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte 10 Monate Haft, ausgesetzt auf 3,5 Jahre Bewährung, zuzüglich einer Geldstrafe von 1.000 Euro an das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e. V. gefordert.

Sowohl die Prozessführung, die Anklageschrift wie das abschließende Plädoyer der Staatsanwaltschaft zeigten, dass es hier nicht in erster Linie um einen Steinwurf auf gut ausgerüstete und geschützte Polizeikräfte ging. Es drehte sich darum, ein möglichst hohes Strafmaß gegen einen Internationalisten zu erzwingen. Dieser sollte als Antisemit  diffamiert und dadurch die Polizeigewalt des vergangenen Monats nachträglich gerechtfertigt werden. So sollte ein Präzedenzfall für die harte Verurteilung weiterer Kriminalisierter geschaffen werden, um die ideologische Grundlage für anstehende repressive Gesetzesverschärfungen zu legen.

Die Verhandlung

Verhandelt wurden schwerer Landfriedensbruch, schwere Körperverletzung und tätlicher Angriff auf Polizeibeamt:innen in Tateinheit sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt im zweiten Anklagepunkt. Von Seiten der Staatsanwaltschaft wurde dem Angeklagten zur Last gelegt, im Rahmen von verbotenen – wenn auch ursprünglich friedlichen – Protesten auf der Sonnenallee einen Stein auf einen Polizisten geworfen zu haben.

Zu Beginn der Verhandlung räumte der Angeklagte den Steinwurf ein. Ein Polizist, der getroffen oder verletzt wurde, konnte aber in den vier Wochen seit dem 18. Oktober nicht namhaft gemacht werden. Die als Zeug:innen geladenen Zivilpolizist:innen mussten denn auch eingestehen, dass der getroffene und gut geschützte Polizist der 35. Einheit keine Reaktion auf den Treffer zeigte.

Insbesondere wurde im Verlauf des Prozesses die Frage des Widerstandes gegen die Festnahme verhandelt. Sicher belegt wurde allerdings im Prozess durch ein Video vor allem, wie drei Polizisten mit enormer Brutalität bei der Festnahme vorgingen, die den jungen Mann, dessen Kopf scheinbar vor Sauerstoffmangel rot wurde, am Boden unter Anwendung von Schmerzgriffen fixierten und im weiteren Verlauf schlugen.

Da der Angeklagte kein Deutsch sprach, konnte er auch nicht verstehen, was die Polizei ihm sagte. Eine Person, die sich als Übersetzerin anbot, wurde physisch bedroht. Über seine Festnahme, den Grund dieser und seine Rechte setzte ihn die Polizei allerdings auch auf Deutsch zu diesem Zeitpunkt nicht in Kenntnis. Dafür setzte sie offenkundig auf „handfeste“ Argumente. Die Verhandlung zeichnete sich auch durch eine Reihe von Suggestionen von Staatsanwaltschaft und Richter aus, die den Polizist:innen bereits die Antworten in den Mund legten.

Insbesondere legte sich bei dem Gerichtstermin allerdings die Staatsanwaltschaft ins Zeug. Falls bei irgendjemandem Zweifel bestanden haben sollten, so machte sie gleich zu Beginn deutlich, dass es sich für sie um keinen normalen, sondern einen politischen Prozess handelte. In ihren Augen hätte sich der Angeklagte an antiisraelischen und antisemitischen  Protesten beteiligt. In diesen Zusammenhang müssten die ihm vorgeworfenen Taten eingeordnet und daher auch das Strafmaß, ganz im Sinne der deutschen Staatsraison, erhärtet werden.

Sowohl der Angeklagte wie auch sein Anwalt widersprachen zu Beginn und während des Prozesses dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft, dass der Angeklagte an antisemitischen Aktionen beteiligt gewesen wäre. Lollo wies deutlich und entschieden die Anschuldigung von sich, Antisemit zu sein. Er äußerte seine tiefe Verbundenheit mit antirassistischen und antimilitaristischen Ansichten. Vor allem, so betonte er, ging er gegen den Krieg und für Frieden auf die Straße. Er äußerte seine Betroffenheit darüber, das kriminelle Schweigen bezüglich der Angriffe auf Gaza mithilfe polizeilicher Gewalt durchzusetzen.

Selbst die Polizist:innen mussten feststellen, dass die einprägsamen Slogans in dieser Nacht und in diesen Tagen „Free Palestine“ oder „Free Gaza“ neben dem scheinbar sehr beliebten Spruch „Ganz Berlin hasst die Polizei“ waren. Selbst sie erklärten, auch ohne eine ursprüngliche Gefährdungslage den Protest am 18. Oktober aufgelöst und bereits zu Beginn der Ansammlungen Festnahmen ohne weitere Grundlage getätigt zu haben. Insofern stand Lollos eigene Gewalt der der Polizei nach, die bereits über eine Woche vor dem 18. Oktober und in ebendieser Nacht unter dem Motto „Dienst nach Vorschrift“ wütete. Die Polizeibeamt:innen äußerten, es sei nicht ihre Entscheidung, diese durchzusetzen. Sie würden es aber tun, wenn sie dafür die Befehle erhielten.

Der Verteidiger des Angeklagten betonte daher in seinem abschließenden Plädoyer, dass es bei diesem Prozess um den Zusammenhang ginge, in dem die dem Angeklagten vorgeworfenen Punkte verhandelt wurden: die drastischen Einschränkungen des Versammlungsrechts und grundlegender in der Verfassung verankerter demokratischer Rechte durch die deutsche und Berliner Regierung.

Er berichtete von Palästinenser:innen, die ihn in den vergangenen Wochen verzweifelt anriefen, weil sie Familienmitglieder verloren hatten und aufgrund des wochenlangen Verbots aller propalästinensischen Versammlungen keine Möglichkeit der öffentlichen Trauer zeigen konnten. Er sprach über Iris Hefets, ein Mitglied der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden“, die am 18. Oktober alleine mit dem Schild „Stoppt den Massenmord in Gaza!“ auf dem Hermannplatz protestieren musste, weil jede weitere Person zu einem Verstoß gegen das Versammlungsverbot geführt hätte.

Diese Erläuterungen verdeutlichten, wie ernst und massiv die Angriffe ausarteten, die auf politisch motivierten und rassistischen Verleumdungen seitens der Regierenden beruhten. Indirekt musste dem selbst der Richter stattgeben. Die von der Staatsanwaltschaft zynisch geforderte Geldstrafe, die einem Verein gegen Antisemitismus zugutekommen sollte, fand ihren Weg nicht in die Verurteilung. Hierüber, so können wir zum Zeitpunkt des Berichtes sagen, schwiegen oder hetzten gar die meisten bürgerlichen Journalist:innen, die den Prozess in großer Zahl begleiteten.

Die Stimmen der Anderen

Lollo stand heute als Erster, aber nicht Letzter stellvertretend für hunderte weitere Menschen, die festgenommen wurden und kriminalisiert werden sollen. Mehr als 27 Anzeigen sind bereits bei der Staatsanwaltschaft Berlin anhängig (Stand 14. November). Weitere 1.254 Fälle werden aktuell bei der Polizei vorbereitet (Stand 13. November). Auch hier drohen Urteile und politisch motivierte, erhöhte Strafmaße. Während die Verurteilung Lollos hart ist, so ist es der Staatsanwaltschaft nicht gelungen, ihn als Antisemiten zu diskreditieren und verurteilen.

Dies ist ein Ausdruck der ungebrochenen Solidarität zwischen jüdischen, palästinensischen und anderen in Deutschland lebenden Menschen, die in den vergangenen Wochen Seite an Seite auf die Straße gingen für gleiche soziale und demokratische Rechte und ein Leben in Frieden. Der Richter trug dem insofern Rechnung, als er die politische Einordnung der Staatsanwaltschaft nicht übernahm, sondern „neutral“ blieb. Viel wichtiger ist jedoch, dass Lollos politische Integrität in den Augen ehrlicher Prozessbeobachter:innen intakt blieb.

Was bleibt, ist die notwendige Aussicht auf gemeinsame Kampagnen gegen die Kriminalisierung unserer Bewegung. In den letzten Wochen wurden palästinensische Organisationen wie die Gefangenenhilfsorganisation „Samidoun“ verboten. Gegen weitere werden Verbote auf den Weg gebracht. Ferner werden Gesetze verschärft, die die Solidaritätsbewegung kriminalisieren und Migrant:innen mit zunehmender Aggressivität rassistisch stigmatisieren. Abschiebungen und Ausbürgerungen werden von etlichen Medien gefordert, von Politiker:innen befürwortet. Politische Abschiebungen wurden bereits in mehreren Fällen durchgeführt.

Gegen diese grundlegenden Angriffe auf demokratische Rechte, Verbote und Gesetzesverschärfungen müssen wir uns zur Wehr setzen, indem wir eine Solidaritätsbewegung aufbauen, die zuerst die Motive der Angeklagten sichtbar und ihre Stimmen hörbar macht.




Freiheit für Boris Kagarlitsky!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1229, 29. Juli 2023

Am 25. Juli wurde der russische Marxist, Soziologe und linke Kritiker des Putin-Regimes, Boris Kagarlitsky, vom russischen Geheimdienst FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation; Inlandsgeheimdienst) festgenommen und inhaftiert. Das Gericht in Syktywkar (Hauptstadt der Republik Komi; Nordwestrussland) ordnete eine Untersuchungshaft bis zum 24. September an. Nach Berichten des linken Internetportals Rabkor (Arbeiter:innen-Korrespondenz) wird ihm die Rechtfertigung des Terrorismus und Propaganda für diesen vorgeworfen, wofür ihm bis zu fünf Jahre Haft drohen.

Die Anklage ist an den Haaren herbeigezogen. Sie wirft auch ein grelles Licht auf die Methoden des russischen Regimes, die an die Fabrikationen des Zarismus und Stalinismus erinnern. Als Vorwand für seine Verhaftung dient ein Telegram-Post, das Kagarlitsky am 8. Oktober 2022 nach dem Anschlag auf die Krimbrücke veröffentlicht hatte und wo er das Objekt als strategisch und symbolisch bezeichnet, das die Größe und Macht des Putin-Regimes manifestieren sollte – ein Prestigeprojekt, das die Fähigkeit des russischen Staates zeigen sollte, trotz Ineffektivität, Korruption und Plünderung der Massen „Großes“ zu leisten.

Der Anschlag auf eines der bestbewachten Bauwerke der Welt war daher, so Kagarlitsky, auch ein Schlag, der die Schwächen und Verwundbarkeit des russischen Despotismus offenbarte.

Das reichte als Vorwand für die Festnahme und Anklageerhebung. Es ist kein Zufall, dass einer der wenigen im Land verbliebenen offenen Kritiker:innen des Putin-Regimes und des reaktionären imperialistischen Angriffskriegs jetzt festgenommen wurde. Seit dem Wagner-Putsch verschärft der Staatsapparat die Verfolgung von Oppositionellen aller Richtungen, darunter rechten, monarchistischen, aber auch linken Kräften.

Zweifellos handelt es sich dabei um einen politischen Akt, der nicht nur Boris Kagarlitsky zum Schweigen bringen, sondern die gesamte linke und sozialistische Opposition weiter einschüchtern soll. Kagarlitsky selbst ist nicht nur ein marxistischer Soziologe und Analyst, sondern war auch einer der wenigen bekannten linken Oppositionellen, der sich von Beginn an eindeutig gegen den russischen Angriff auf die Ukraine aussprach und die sog. Spezialoperation Krieg nannte. Er verwies von Beginn an besonders stark auf die

inneren Widersprüche des russischen Kapitalismus, die zum Krieg geführt hätten. Dabei legte er unserer Meinung nach zu wenig Augenmerk auf andere Kriegsursachen, insbesondere auf den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen alten und neuen Großmächten, der sich gerade in der Ukraine manifestierte. Doch das war und ist für das Putin-Regime zweifellos nebensächlich. Ihm gelten alle Kriegsgegner:innen als Vaterlandsverräter:innen.

Anders als viele eher liberal eingestellte russische Linke kritisierte Kagarlitsky 2014 das prowestliche, aus dem Maidan hervorgegangene reaktionäre Regime in Kiew, das sich auf rechte und faschistische Kräfte stützte, scharf. Er solidarisierte sich zu Recht mit den Gewerkschafter:innen, die in Odessa ermordet wurden, wie auch mit dem Widerstand in Donezk und Luhansk. Das macht ihn jedoch nicht blind gegenüber dem reaktionären imperialistischen Angriff Russlands, den er von Beginn an scharf verurteilte.

Genau diese Haltung machte ihn zu einem Ziel des Putin-Regimes – und zwar schon lange vor dem Krieg. 2018 wurde das von ihm geleitete Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen als ausländische Agentur eingestuft. Im April 2022 wurde er persönlich auch vom russischen Staat als „ausländischer Agent“ kategorisiert – und damit seine Arbeit drastisch eingeschränkt.

Auch wenn sich Kagarlitsky nach anfänglichen Sympathien für den Trotzkismus in den 1980er und 1990er Jahren vom revolutionären Marxismus entfernte und die marxistische Staats- und Revolutionstheorie, insbesondere die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, ablehnte, so blieb er immer ein lesens- und überdenkenswerter Analytiker und Kämpfer. Schon unter dem Stalinismus betätigte er sich oppositionell, was noch unter Breschnew zu Festnahmen und Haft führte. Ähnlich erging es ihm unter der Jelzin-Ära. 2021 saß er wegen Protesten gegen die Dumawahl 10 Tage im Gefängnis. Offenkundig schloss er auch mit dem Putin-Regime keinen Frieden.

Die Festnahme und Anklage gegen Boris Kagarlitsky hat zu einer breiten internationalen Solidarisierung geführt, der sich alle linken, kommunistischen, sozialistischen und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung anschließen sollten. Doch nicht nur Boris, die gesamte russische Antikriegsbewegung und insbesondere alle linken Kräfte, die sich gegen die Diktatur Putins, gegen Terror und Repression im Inneren und den Krieg gegen die Ukraine wenden, brauchen unsere Unterstützung!

  • Freiheit für Boris Kagarlitsky! Solidarität mit der russischen Antikriegsbewegung! Freilassung für alle festgenommen Kriegsgegner:innen!

  • Rücknahme aller sog. Antiterrorgesetze und Einschränkungen des Demonstrations- und Versammlungsrechts!



Letzte Generation und Antifa Ost: Demokratische Grundrechte verteidigen!

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Was haben Antifa Ost und die Letzte Generation gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Die einen haben sich auf der Straße festgeklebt, um den Verkehr aufzuhalten – gegen den Klimawandel, für das 9-Euro-Ticket. Antifa Ost hat Nazis angegriffen. Klimaschutz und Antifaschismus: zwei Themen, die links besetzt sind, aber sehr gerne auch von Bürgerlichen aufgegriffen werden, wenn sie sich fortschrittlich und cool fühlen wollen, anstatt rechte Stammtischparolen nachzuäffen. Das ist aber nicht ihre Gemeinsamkeit. Es ist die staatliche Repression, die beide Bewegungen erfahren (haben).

Woher kommt das?

Die Liste kann noch verlängert werden. Lina und die Letzte Generation sind nur die populärsten Beispiele. Ob die Verbote der Palästinasolidarität in Berlin, die Räumung von Lützerath oder Angriffe auf das Streikrecht: Sie alle finden statt unter zugespitzten gesellschaftlichen Verhältnissen. Denn von der progressiven „Fortschrittskoalition“ von Grünen, SPD und FDP bleibt aktuell nicht viel übrig.

Stattdessen hat sich der Rechtsruck erneut verschärft. Die Ursache dabei ist zweierlei. Zum einen übt das weltpolitische Geschehen natürlich Einfluss auf das Geschehen in Deutschland aus. Seit Beginn des Ukrainekrieges, der eine Verschärfung des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt markiert, weht ein anderer Wind. Während im Wahlkampf die Grünen noch Werbung mit der Friedenstaube in U-Bahnhöfen plakatierten, gibt es fast keine/n aus ihrer Führung, die/der nicht ein Bild in Militäruniform in der Ukraine von sich in den Weiten des Internets verbreitet.

Dabei geht es nicht nur um Waffenlieferungen und das Versprechen, die westliche Demokratie in der Ukraine zu verteidigen. Im Rahmen dessen steigt auch die Erfordernis, das Geschehen innerhalb des eigenen Nationalstaates unter Kontrolle zu halten. Somit werden innerhalb der letzten Monate immer neue Maßnahmen zur Steigerung der „Sicherheit“ ergriffen, wird immer mehr Repression forciert als Teil der Militarisierung nach innen. Eine „wehrhafte“ bürgerliche Demokratie, die klar aufzeigt, dass demokratische Rechte in erster Linie nur für jene gelten, die den Status quo beibehalten oder ihn weiter nach rechts verschieben wollen.

Eingeläutet wurde dies mit den Sondervermögen für die Bundeswehr, die ohne große Proteste hingenommen wurden, und dies gilt es aufrechtzuerhalten. Zum anderen befeuert der Kriegskurs zusammen mit der existierenden Krise den Rechtsruck, den wir seit 2015 erleben. Die Pandemie hat nicht nur Nerven gekostet, sondern auch finanziell viele Haushalte der Arbeiter:innenklasse getroffen durch Kurzarbeit sowie Entlassungen. Kombiniert mit steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen sowie lauen gewerkschaftlichen Kämpfen nährt das den Boden für den aktuellen Erfolg der AfD, aber auch populistische Ausfälle der CDU, die sich unter Führung von Friedrich Merz zu rhetorisch rechten Glanzleistungen aufschwingt.

Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit

Klar ist: Die Letzte Generation, Antifa Ost und vor allem Lina E. gehören verteidigt und es ist unsere Aufgabe zu zeigen, dass die Angriffe auf sie nicht nur solche auf uns alle bedeuten, sondern auch klare Formen von Klassenjustiz. Denn wer verurteilt jene, die nichts tun, während Menschen weltweit schon jetzt an den Folgen des Klimawandels sterben? Hitzewellen, Waldbrände oder die Folgen der Flut im Ahrtal betreffen Massen an Menschen und sie hätten verhindert werden können. Wer verurteilt die Polizist:innen, die offenkundig rechtes Gedankengut in Chatgruppen umherschicken? Wer die Reichsbürger:innen, die ganze Waffenlager zu Hause anlegen, oder jene, die dafür verantwortlich sind, dass Tausende Menschen an den Außengrenzen der Festung Europa sterben und noch mehr in menschenunwürdigen Zuständen leben müssen?

Statt tatsächlicher Veränderung gibt es seitens der bürgerlichen Politik höchstens halbe Aktionen und schale Worte. Die Letzte Generation und Antifa Ost haben auf die Missstände unserer Gesellschaft reagiert. Dabei haben sie Grenzen übertreten, die den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit alarmieren. Um ein Exempel zu statuieren, dass besser nicht viele diesem Weg folgen sollten, erleben wir Schauprozesse und Repression.

In diesem Sinne kann man sagen, dass beide Taktiken, ziviler Ungehorsam und antifaschistische Selbstjustiz, erfolgreich gewesen sind. Denn Aufmerksamkeit hat es auf jeden Fall gegeben. Doch der Erfolg hört da auf, wenn es darum geht, mehr Menschen in Aktion zu bringen und eine gesamtgesellschaftliche Handlungsperspektive aufzuzeigen. Das ist teilweise gar nicht das Ziel gewesen – und schon das ist ein politisches Problem. Noch mehr aber ist ziel- und massenorientiertes Handeln dringend notwendig, wenn man sich erfolgreich gegen Repression wehren und das Problem an der Wurzel packen will.

Deswegen müssen wir die Aktivist:innen vor dem bürgerlichen Staat verteidigen, aber gleichzeitig auch darüber diskutieren, welche Strategie, welche Taktiken wir brauchen, um dabei erfolgreich zu sein. Denn einfach nur den Widerstand zu unterstützen und uns für die Taten zu feiern, bringt uns nicht weiter. Im schlimmsten Fall verbrennt es Aktivist:innen und sorgt dafür, dass Potenziale, um das Ruder gesellschaftlicher Dynamik herumzureißen, verlorengehen und man das erst viel zu spät merkt.

Zwei Seiten einer falschen Medaille

Hinter beiden Taktiken steckt die Idee, dass die unmittelbare Tat mehr Menschen dazu motiviert, sich durch die direkte Aktion zu radikalisieren bzw. sich ihr bestenfalls anschließen. Das ist vielleicht eine schöne Idee. Aber es ist auch eine falsche, denn sie klammert mehrere Probleme aus:

a) Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Wie viel Aufmerksamkeit die eigenen Aktionen generieren sowie wie viele neue Aktivist:innen gewonnen werden können, hängt nicht nur von der direkten Aktion ab, sondern von den aktuellen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. So könnten wir im derzeit versuchen, so viele Abschiebungen wie möglich zu blockieren – es würde nicht unmittelbar etwas ändern können. Proteste und Dynamiken können selten beeinflusst werden, wenn Einzelaktivist:innen einfach nur „ein bisschen mehr machen“ und mehr Kraft, Energie und Zeit in die Aktion hineinstecken. Das ist Voluntarismus und ignoriert, dass es nicht nur eine Frage der graduell zunehmenden Überzeugung von Individuen ist. Ebenso fallen Kräfte aus der Betrachtung, die aktiv gegen einen arbeiten und ihre Meinung nicht ändern werden, weil sie vom Status quo profitieren.

b) Hemmschwellen und Passivität. Auch wenn der Protest als gewaltfrei und niedrigschwellig bezeichnet wird, so ist es letzten Endes seine Form, die zum einen für breite Teile der Bevölkerung praktisch schwer umsetzbar ist (bspw. wenn man Kinder zu betreuen hat). Zum anderen kreiert es eine Lücke: Auf der einen Seite die Aktivist:innen, die die Aktionsform vorgeben, auf der anderen der „Rest“ bzw. die Arbeiter:innenklasse. Somit werden diese dazu verdammt, entweder sich der Aktionsform zu beugen oder Solidaritätsbekundungen zu äußern, und damit in der Passivität zu verweilen. Zentrales Element einer jeden Bewegung muss es aber sein, nicht nur Aufmerksamkeit zu schaffen, sondern die Aktiven zu integrieren, politische Entscheidungen treffen zu lassen, sich selbsttätig zu politisieren, um so den Protest und die politische Bewusstseinsbildung der Klasse zu stärken. Kommt es nicht dazu, geht die Bewegung schneller ein und bringt dem kollektiven Gedächtnis recht wenig.

Vom zivilen Ungehorsam …

Darüber hinaus muss man aber zwischen den Formaten von Selbstjustiz und zivilem Ungehorsam differenzieren. Letzterer wird ideengeschichtlich dem libertären Unternehmer und Selbstverwirklicher Henry David Thoreau zugeordnet, der im 19. Jahrhundert eine (!) Nacht im Gefängnis verbrachte, da er sich weigerte, Steuern zu bezahlen, und daraufhin seinen Akt des „zivilen Ungehorsams“ zum politischen Prinzip erklärte. Er verfasste den Essay „Civil Disobedience“ (auf Deutsch: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“). Später wurde das Konzept noch von anderen Theoretiker:innen wie Hannah Arendt und Jürgen Habermas aufgegriffen.

In der Theorie handelt es sich beim zivilen Ungehorsam um einen angekündigten Regelübertritt, mit dem man auf einen gesellschaftlichen Missstand aufmerksam machen will. Sobald diese Aufmerksamkeit erzeugt ist, kümmern sich „die gesellschaftlichen Mechanismen“ dann darum, das Übel anzugehen. Das heißt: Ziviler Ungehorsam hat gar nicht das Ziel, den bürgerlichen Staat anzugreifen, sondern impliziert oftmals die Zusammenarbeit mit diesem. Das kann nicht nur gefährlich werden, sondern trägt ein Missverständnis in sich, was das aktuelle Problem ist. Denn es ist keines der mangelnden Aufmerksamkeit, sondern eines gegensätzlicher Interessen.

Im Kapitalismus erscheint der Staat als über den Klassen stehende Instanz, quasi als unabhängiger Vermittler zwischen Besitzenden und der Arbeiter:innenklasse. Letztendlich vertritt er aber das Interesse, das Privateigentum aufrechtzuerhalten.  Enteignung der Energiebetriebe und deren Unterstellung unter Arbeiter:innenkontrolle oder die Neustrukturierung der Produktion nach den Bedürfnissen der Erde und Arbeiter:innenklasse sind nicht einfach so möglich. So ist auch die Nutzung fossiler Energieträger keine Frage mangelnder Aufmerksamkeit, sondern sie wird beibehalten, weil konkrete Profitinteressen dahinterstecken. Und dass der Staat bereit ist, sich regenden Widerstand mit Kraft zu zerbrechen, hat er oft genug bewiesen. Lützerath, Danni und Hambi dienen hier als traurige Beweise. Es ist dabei auch nicht ausschlaggebend, wie „friedlich“ oder „gewalttätig“ der Protest selbst agiert.

Wir haben in den letzten Monaten gesehen, wie Sitzblockaden mit Schmerzgriffen abtransportiert werden und immer mehr Polizeigewalt gegen Aktivist:innen stattgefunden hat. Aktuell sind wir an dem Punkt, an dem versucht wird, selbst diese Form des gewaltfreien Protesten schon vorab zu verhindern. Wir müssen uns also politisch und organisiert verteidigen, selbst wenn wir nur grundlegende Rechte wie unsere Versammlungsfreiheit wahrnehmen wollen.

… und Selbstjustiz

Das Konzept der Selbstjustiz birgt weniger das Problem, dass es auf den bürgerlichen Staat vertraut. Vielmehr steckt hier die Annahme dahinter, dass dieser unfähig ist oder kein Interesse hegt, bestimmte Probleme anzugehen, und man somit selber aktiv werden muss. Als Revolutionär:innen lehnen wir Gewalt nicht prinzipiell ab. Wir wissen vielmehr, dass sie notwendig ist, wenn es darum geht, Strukturen zu schützen wie beispielsweise eigene Versammlungsräume oder – flächendeckender – wie Asylunterkünfte. Wir wissen, dass Streiks letztlich Streikposten erfordern. Und wir wissen, dass die herrschende Kapitalist:innenklasse revolutionär gestürzt werden muss.

Gleichzeitig dürfen wir uns nicht von moralischen Argumenten leiten lassen. Denn klar, nach Hanau scheint es besser, Rechten einfach vorsorglich aufs Maul zu hauen. Doch damit werden auch folgende Fragen aufgeworfen: Wenn wir uns das Recht herausnehmen zu richten, wenn man selber das macht, warum sollten es dann nicht andere Gruppen auch tun? Warum nur die radikale Linke? Und wer legt die Grundlage fest, auf der solche Entscheidungen gefällt werden? Macht es Sinn, einfach Nazis anzugreifen oder wäre es nicht sinnvoller, sich gezielt auf Kader zu stürzen oder bereits für Gewalt Bekannte?

Solange es keine Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse gibt, sondern nur Kleingruppen, tendieren solche Entscheidungen immer auch zu einer gewissen Willkür. Gerechtigkeit ist also nicht nur eine moralische Frage, sondern auch eine der gesellschaftlichen Verhältnisse. In der aktuellen bürgerlichen Rechtsprechung profitieren bei sexueller Gewalt gegenüber Frauen von deren Vorteilen (Unschuldsvermutung, Beweislast beim Staat) oft auch Täter, genauso wie Rechte und Faschist:innen. Doch das heißt nicht, dass die Prinzipien wie Unschuldsvermutung an sich falsch sind, sondern es stellt sich vielmehr die Frage, wie diese umgesetzt und kontrolliert werden. Steht dahinter kein Plan, sondern nur individuelle Entscheidung, kommt es zu einer Verrohung der Gesellschaft, und auch das kann nicht unser Ziel sein. Zusätzlich kann es passieren, dass die Gewalt, die man ausübt, einen von breiteren Schichten der Bevölkerung isoliert, da diese die eigenen Entscheidungen nicht nachvollziehen können. Somit wären diese dann zwar subjektiv richtig, bringen uns aber als kollektive Bewegung nicht weiter.

Und was jetzt?

Beide Taktiken setzen also nicht wirklich an der Wurzel an, sondern versuchen, im bestehenden System Lösungsansätze zu finden. Das ist nicht an sich schlecht, aber das Problem ist, dass man so im Hamsterrad der gesellschaftlichen Probleme immer weiterläuft sowie sich zeitgleich der Willkür und des Ermessens des bürgerlichen Staates aussetzt. Spitzt sich die Situation weiter zu – und das kann ganz schnell beispielsweise unter einer von Merz geführten CDU an der Regierung passieren –, können Präventivhaft & Co so schnell ausgeweitet werden, dass man nicht mal mehr einen kleinen Schritt im Hamsterrad machen kann.

Das Nervige ist: Eine einfache Kampagne für demokratische Rechte ist mehr als dringend nötig. Allein, diese ist unzureichend. Das wäre so, wie bspw. Pfadfinder:innen in schlechten US-Komödien zu versuchen, an einer Tür Kekse zu verkaufen und nach 10 Minuten nochmal zu klingeln, es erneut zu probieren und sich dann zu wundern, warum man weggeschickt wird. Was braucht es dann also noch?

Neben einer Kampagne, die sich für die Rücknahme aller Repressionen und Verurteilungen der Letzten Generation und der im Leipziger Kessel Festgehaltenen einsetzt sowie für die Abschaffung des Paragraphen §129, müssen wir anfangen, eine Bewegung aufzubauen, die eine Basisverankerung an Schulen, Unis und in Betrieben aufweist.

Das heißt: Große, bundesweite Mobilisierungen, damit dann diese Basisarbeit vor Ort stattfinden kann. Also: Infoveranstaltung, aktive Diskussion mit Kolleg:innen und Vollversammlungen, bei denen eine Verbindung zwischen dem gesellschaftlichen Problem mit denen vor Ort gesucht wird sowie Forderungen formuliert und gemeinsam beschlossen werden. Das ist wichtig, um

a) mehr Leute zu erreichen und in Diskussion zu bringen als nur jene, die sich ohnedies für das Thema interessieren. Schule, Unis und Betriebe sind in der Regel Orte, die wir nicht meiden können, und die politische Diskussion an diese Orte zu tragen, sorgt dafür, diese auch zu beleben, damit man sich ihr weniger entziehen kann.

b) Aktionskomitees vor Ort aufzubauen, die solche Dinge organisieren und mehr Leute befähigen, aktiv eigene politische Entscheidungen zu treffen. Das hört sich theoretisch nach ’nem Plan an, aber praktisch bleibt die Frage offen, wie man dazu kommt, dass das nicht nur an wenigen Orten passiert, sondern flächendeckend.

Hier liegt die Aufgabe darin, Organisationen der Arbeiter:innenklasse in Bewegung zu setzen und aktiv Druck auszuüben, damit diese nicht nur verbal einem Protest zusagen, sondern auch die eigene Mitgliedschaft aufrufen, ihn vor Ort zu organisieren –, wie beispielsweise die Gewerkschaften oder die Linkspartei. Wenn auch nur ein Viertel von deren Mitgliedschaft eine aktive Rolle einnähme, brächte das einen signifikanten Unterschied an Mobilisierungskraft.

Bleibt zuletzt die Frage des Themas. Wie bereits geschrieben, wird eine Bewegung allein um demokratische Rechte in der aktuellen Situation wenig Erfolg erzielen. Deswegen muss das Ziel darin bestehen, dies mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu verbinden. Dabei ist es zentral, nicht nur aus der Defensive zu agieren, das heißt drohende Verschlechterungen abzuwehren, sondern auch klare Verbesserungen zu erkämpfen. Ein praktisches Beispiel, was man nutzen könnte, sind die kommenden Streiks bei der Bahn und in der Tarifrunde Nahverkehr. Schon jetzt gibt es mit der Kampagne #wirfahrenzusammen Bestrebungen, dass Klimaaktivist:innen in die Betriebe gehen, um die gemeinsamen Kämpfe miteinander zu verbinden, und es ist sind auch gemeinsame Streiktage zwischen Beschäftigten und Umweltbewegung in Planung. Die Aufgabe von Organisationen wie Ende Gelände, Fridays for Future, marx21, dem SDS und generell der Linken in den Gewerkschaften läge darin, einen offenen Aufruf zu erstellen, der a) gemeinsame Forderungen vorgibt und b) die obig beschriebene Basisorganisation vorschlägt und deutlich sagt, dass die Gewerkschaften und DIE LINKE dies flächendeckend umsetzen sollten, um gemeinsam im Kampf gegen die Umweltzerstörung ein klares Zeichen zu setzen.

Im Rahmen dessen gilt es dann klar aufzuzeigen, dass wir unseren Protest nicht spalten lassen und für die Umsetzung demokratischer Rechte einstehen, drehen sie sich um unsere Proteste oder Streiks. Denn wir können uns schon denken, was passiert, wenn man bereits jetzt einzelne Aktivist:innen, die sich auf der Straße festkleben, als „organisierte Terrorist:innen“ bezeichnet, sollten Eisenbahner:innen und Busfahrer:innen streiken und die Infrastruktur lahmlegen. Dabei ist die Frage des kostenlosen öffentlichen Personenverkehrs, verbunden mit massiven Investitionen und höherem Personalschlüssel, die zentrale Forderung, um gemeinsam voranzukommen, einen Erfolg praktisch zu erkämpfen. Das geht aber nur, wenn wir die Angriffe auf demokratische Rechte aktiv mit den zu erwartenden Protesten verbinden.




Französische unterdrückte Jugendliche fordern Gerechtigkeit für Nahel!

Marc Lassalle, Paris, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

27. Juni, Nanterre (Banlieue von Paris): Zwei Polizisten halten ein Auto an, einer von ihnen richtet eine Pistole aus nächster Nähe auf den Fahrer und schreit: „Mach auf oder ich schieße dir eine Kugel in den Kopf!“. Ein Schuss und Sekunden später: Der 17-jährige Nahel Merzouk ist tot. Im offiziellen Bericht heißt es, die Polizei habe in Notwehr gehandelt. Ein Video zeigt, dass dies eine Lüge ist, beweist das Gegenteil und geht viral. Zehntausende von Jugendlichen gehen daraufhin in Nanterre auf die Straße.

In den folgenden Nächten strömen sie in ganz Frankreich auf die Straßen. In Paris, Lyon, Marseille, Strasbourg fordern sie Wahrheit und Gerechtigkeit, greifen die Polizei und öffentliche Gebäude an. Auch außerhalb Frankreichs, in Brüssel, aber auch in den französischen Kolonien bis hin nach La Réunion und Französisch-Guayana haben Jugenddemonstrationen stattgefunden.

Systematische rassistische Gewalt

Der Grund für die Wut ist, dass dieser Mord und die Lügen der Polizei darüber kein Einzelfall sind: Im Jahr 2022 wurden 12 Menschen von der Polizei unter ähnlichen Umständen getötet und in den meisten Fällen gab es keine ernsthaften Ermittlungen, geschweige denn Anklagen. Ein 2017 verabschiedetes Gesetz ermächtigte die Polizei, bei „Gehorsamsverweigerung“ zu schießen, was von dieser schnell als das Recht interpretiert wurde, ungestraft zu töten. In den meisten Fällen dienen die offiziellen Berichte, Ermittlungen und Disziplinarorgane nur dazu, die Wahrheit zu vertuschen.

Die Haltung der Polizei gegenüber jungen Menschen nordafrikanischer Abstammung wie Nahel ist unverhohlen rassistisch. Im gemeinsamen Kommuniqué der Polizeiverbände heißt es: „Angesichts dieser wilden Horden reicht es nicht mehr aus, um Ruhe zu bitten, wir müssen sie erzwingen […] Es ist nicht Zeit für gewerkschaftliche Aktionen, sondern für den Kampf gegen dieses Ungeziefer.“

Obwohl Präsident Emmanuel Macron den Mord zunächst als „unentschuldbar“ bezeichnete, wandte er sich schnell gegen die „Randalier:innen“. In der Tat sind er und seine Vorgänger als Präsident, François Hollande, Nicolas Sarkozy und Jacques Chirac, maßgeblich für diese Vorfälle verantwortlich. Sie alle griffen auf eine immer stärker bewaffnete Polizei zurück, als „Lösung“ für die drängenden sozialen Probleme der Banlieues – Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse, Drogen – und wiesen die Polizei an, eine rassistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Während ein weiteres Einwanderungsgesetz in Vorbereitung ist – eine weitere Gelegenheit, Migrant:innen zu stigmatisieren –, übt der Minister für Inneres und die Überseegebiete, Gérald Darmanin, auf der Insel Mayotte, einem „französischen Überseegebiet“ vor dem südlichen Afrika, eine massive rassistische Repression aus, bei der Blechhütten zerstört werden und Tausende ohne Dach dastehen oder von Abschiebung bedroht sind.

In den Banlieues führt die Polizei regelmäßig Kontrollen und Durchsuchungen durch und geht auch gegen junge Menschen vor, insbesondere gegen Angehörige „rassischer“ Minderheiten, und Morde wie der an Nahel haben schon früher zu Massenaufständen geführt. Im Jahr 2005 starben auf tragische Weise Ziad und Bouna, zwei Jugendliche, die auf der Flucht vor der Polizei durch Stromschlag getötet wurden. Dies löste Unruhen aus, die mehrere Wochen andauerten. In jüngster Zeit fand die BLM-Bewegung ein starkes Echo in Frankreich: Die Situation dort ähnelt den Ghettos in den US-amerikanischen Städten.

Extreme Armut

Extreme Armut konzentriert sich in heruntergekommenen Wohnsiedlungen mit hoher Arbeitslosigkeit oder schlecht bezahlten, unsicheren Jobs. Nahel war kein Krimineller, sondern ein Fast-Food-Kurier und versuchte gleichzeitig, eine Ausbildung als Elektriker zu absolvieren. In diesen Wohnvierteln mangelt es an grundlegenden Dienstleistungen, einschließlich öffentlicher Verkehrsmittel. Und obwohl „Égalité“ (Gleichheit) in leuchtenden Buchstaben auf allen öffentlichen Gebäuden steht, ist das ein schlechter Scherz.

Die republikanische Gleichheit wird in der Regel zitiert, wenn es darum geht, „positive Maßnahmen“ abzulehnen oder gar das Ausmaß der Ungleichheit zu beklagen, unter der die Kinder und Enkelkinder derjenigen leiden, die ursprünglich aus dem französischen Kolonialreich stammen. Man fragt sich, warum auch Schulen Ziel der Unruhen sind. Das liegt daran, dass auch sie oft als Teil des rassistischen Systems angesehen werden: Die jüngsten Kampagnen in den Schulen, die von der Regierung initiiert, aber von einigen Lehrer:innen unterstützt werden, setzen die Stigmatisierung und Unterdrückung religiöser Minderheiten, vor allem der Muslim:innen, aufgrund ihrer Kleidung fort und berufen sich dabei auf den „republikanischen Laizismus“.

Reaktion der rassistischen Polizei

Macron reagierte darauf mit der Mobilisierung von immer mehr Polizist:innen: mehr als 40.000 jede Nacht, darunter auch Spezialeinheiten mit gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern. Doch die ultrareaktionären Polizeigewerkschaften fordern noch mehr Waffen, noch mehr Sondergesetze. Sie behaupten, dass sie sich im Krieg mit „wilden Horden“ befinden würden. Sollten sie keine weiteren mörderischen Mittel erhalten, drohen sie als nächsten Schritt unverhohlen mit „Widerstand“, d. h. rassistischer Meuterei.

Sie schließen sich den Positionen der reaktionäreren Kräfte wie der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen an und fordern Ausgangssperren und die Verhängung des Ausnahmezustands. Laut RN sind die Unruhen das Ergebnis von „vierzig Jahren verrückter Einwanderungspolitik“ – und das, obwohl die meisten der Jugendlichen auf der Straße sowie ihre Eltern französische Staatsbürger:innen sind. Der erzreaktionäre, rassistische Journalist Éric Zemmour, ein Präsidentschaftskandidat für 2022, bezeichnet die Unruhen als Beginn eines Bürgerkriegs, der von einem ethnischen und rassistischen Krieg begleitet wird, und fordert eine „brutale Repression“ durch den Staat.

Linke

Auf der populistischen Linken fordert Jean-Luc Mélenchon, Anführer von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) , „eine tiefgreifende Reform der nationalen Polizei, die eine besser ausgebildete republikanische Polizei ohne Rassismus sein muss“. Dies ist natürlich eine Utopie ebenso wie sein gesamtes Projekt eines starken republikanischen Staates, der soziale Reformen durchführen soll. Nie wird der Klassencharakter des bürgerlichen, ja imperialistischen Staates deutlicher, als wenn seine Repressionskräfte Recht und Ordnung gegen alle verteidigen, die sich ihm widersetzen, seien es streikende Arbeiter:innen, die Gilets Jaunes (Gelbwestenbewegung), Umweltaktivist:innen oder die Jugend der Banlieues.

Die linke Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) hingegen verteidigte in ihrem Communiqué vom 27. Juni die Demonstrant:innen grundsätzlich und zeigte ein korrektes Verständnis der Rolle der Polizei.

„Die Polizei ist nicht dazu da, uns zu schützen. Diese Institution, die nur dazu dient, die Macht der Reichen und der Bosse zu erhalten, ist von Natur aus feindlich gegenüber unserer Klasse und wird niemals unseren Interessen dienen. Diese Polizei ist rassistisch, sie verfolgt eine gegenüber Migrant:innen feindliche Politik und wendet regelmäßig Gewalt gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund an! Diese Institution, die in Arbeiter:innenvierteln mordet und den staatlichen Rassismus anführt, ist dieselbe, die Demonstrant:innen unterdrückt, die sich gegen die Politik der Regierung stellen.

Diese Polizei existiert nur, um die Ordnung für Darmanin, Macron und die Unternehmer:innen, die sie sponsern, aufrechtzuerhalten. Es ist dringend notwendig, sie zu entwaffnen und die Wahrheit über ihre Verbrechen einzufordern, aber mehr noch, es ist höchste Zeit, diese Institution und diese kapitalistische Gesellschaft abzuschaffen, die nichts als Gewalt und Elend für die große Mehrheit der Bevölkerung bringt.“

Es ist höchste Zeit, dass die Arbeiter:innenbewegung, von der Basis bis zu den Gewerkschaftsverbänden und linken Parteien, sich mit den Jugendlichen solidarisiert und sie gegen die Massenverhaftungen und Brutalitäten verteidigt. Sie sollte die Polizeigewalt anprangern und ein sofortiges Ende der allgemeinen Repression, die Freilassung der weit über Tausend Verhafteten und die Aufhebung aller repressiven und rassistischen Gesetze fordern. Auch wenn Macron vorerst seine Rentenreform durchsetzen konnte, sind der Präsident und seine Regierung immer noch Gegenstand eines berechtigten Zorns. Wenn wir uns mit der Jugend zusammenschließen, können wir auch die schändlichen Lügen der extremen Rechten und ihre rassistische Propaganda anprangern.

  • Gerechtigkeit für Nahel! Organisierte Selbstverteidigung in den Banlieues gegen Polizeiübergriffe!

  • Schluss mit allen rassistischen und diskriminierenden Gesetzen – an den Schulen, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben!

  • Arbeiter:innen und Jugendliche sollten Hand in Hand marschieren, um die rassistische Repression zu stoppen, sich den Ausgangssperren zu widersetzen und der Straflosigkeit der Polizei ein Ende zu setzen.



Wir sind alle linx: Rechte und staatliche Gewalt gemeinsam stoppen!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1224, 5. Juni 2023

Am Mittwoch, dem 31. Mai, wurde die Antifaschistin Lina E. zu mehr als 5 Jahren Haft verurteilt. Weitere Angeklagte erhielten mehrjährige Haftstrafen. Das Urteil ist ein Hohn, der Prozess ein politischer Schauprozess. Er soll mahnen und zeigen, wer hier die Oberhand hat und was passiert, wenn man sich gegen die politische Rechte in Deutschland wehrt. Ähnlich rabiat wurde mit den Solidaritätsprotesten verfahren: Die Versammlungsfreiheit wurde einfach mal so eingeschränkt. Hunderte wurden gekesselt und werden nun des schweren Landfriedensbruchs beschuldigt. Handys wurden eingesackt und obendrauf gab’s noch Polizeigewalt und Repression, die nicht für alle kostenlos sein wird.

Die Frage der Selbstjustiz

Unter dem Hashtag #LinaE wurde tausendfach getwittert. Ganz vorne mit dabei: Liberale und Bürgerliche wie Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP, die uns erklären wollen, dass rechte Gewalt ja schlimm ist, die „Selbstjustiz“ von Lina aber gar nicht gehe. Und da sind dann eben solche Urteile gerecht. Dass die Verurteilung wesentlich auf der sog. „Kronzeugenregelung“ basiert, die weniger der „Wahrheitsfindung“ dient, wohl aber Denunziation durch Interessen geleitete und zweifelhafte Aussagen fördert, findet keine Erwähnung. Dass bei der Indizienlage das Prinzip „Im Zweifel für die Angeklagte“ keine große Rolle gespielt hat, wird halt unter den Tisch gekehrt. Im Verfahren reicht es mitunter, eine „weibliche“ Stimme zu haben, um als Täterin identifiziert zu werden.

Doch darüber hinaus stößt etwas auf. Man möchte in die unendlichen Weiten des Internets schreien, dass es alle Buchstaben durcheinanderwirbelt: Wer von Selbstjustiz gegen Faschist:innen redet, aber von rechter Gewalt sowie dem Unwillen des deutschen Staates, diese zu verurteilen, schweigt, sollte einfach mal die Fresse halten.

Was geschah, als der NSU mehr als 10 Menschen ermordet hat? Was war, als vor 2 Jahren der Faschist einen Journalisten angegriffen hat? Was passierte in Hanau? Das war rechte Selbstjustiz und der Spruch im Kopf hallt: „Wo, wo, wo wart ihr in Rostock? Wo, wo, wo wart ihr in Hanau?“

Wer also über Linas Selbstjustiz redet, aber sonst über rechte Gewalt schweigt, der macht klar, dass migrantische Leben weniger wert sind. Macht klar, dass die Wohnungslosen, die angezündet wurden, halt einfach Kollateralschäden sind. Wer glaubt, dass „linke“ Gewalt schlimmer ist als rechte, legitimiert Gewalt und Tod von uns, die wir nicht ins Weltbild der Faschist:innen passen. Und es ist auch irgendwo klar, warum gegen Lina E. gehetzt wird. Denn wer sich gegen rassistische Gewalt wehrt, wehrt sich irgendwann auch gegen die, die der bürgerliche Staat tagtäglich in Form von Abschiebungen, Arbeitsverboten, Racial Profiling und Armut ausübt. Und wo würden wir da nur hinkommen, wenn man aufhören würde, in Hufeisenform zu denken? Man würde sehr schnell zur Erkenntnis gelangen, dass der bürgerliche Staat schlichtweg wenig Interesse hat, rassistische Morde und rechte Gewalt zu bekämpfen – weil er selber Rassismus reproduziert.

Antifa ist Handarbeit: Was braucht es?

Nein, die Perspektive sollte nicht sein, dass wir alle in den Baumarkt rennen und Hämmer kaufen. Sie kann auch nicht darin bestehen, dass für jede weitere Haftstrafe, die im Zusammenhang mit den Tag-X-Protesten verhängt wird, noch mehr Sachschäden verursacht werden. Das hilft nicht gegen die rechte Gewalt und auch nicht gegenüber der Ohnmacht, die viele von uns erleben. Die Wut in Bahnen lenken, heißt, sich aktiv Gedanken zu machen, wie wir eine gesamtgesellschaftliche, eine Klassenperspektive aufwerfen können gegenüber Faschist:innen und staatlicher Gewalt.

Wenn wir schlagkräftig auftreten wollen, dann reicht es nicht nur, wenn diejenigen stellvertretend handeln, die sportlich, kräftig und mutig genug sind, Rechte in ihre Schranken zu weisen. Unsere Aufgabe muss es sein, demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees aufzubauen, die flächendeckend agieren können. Das ist nur möglich, wenn es mit Rückhalt von breiteren Teilen der Bevölkerung – und das heißt vor allem der Lohnarbeiter:innen – passiert. Denn Einzelaktivist:innen, die machen natürlich einen Unterschied, können aber auf Dauer kein gesellschaftliches Kräftemessen gewinnen. Denn man muss ja nicht nur gegen Rechte, sondern auch gegen den bürgerlichen Staat kämpfen. Und vor allem heißt Antifaschismus und -rassismus, die Ursachen zu bekämpfen, die sie immer wieder hervorbringen.

Deswegen müssen wir uns fragen: Wie kommen wir aus der Situation der Schwäche, wo rechte Positionen spätestens seit 2015 salonfähig sind, heraus? Wie können wir die Debatte umdrehen und aus der Defensive kommen?

Perspektive: 2 Kampagnen, ein Weg

Die Kunst liegt darin, Forderungen aufzustellen, die eine/n aus der Defensive bringen und gleichzeitig unterschiedliche Kämpfe miteinander verbinden. Das bedeutet leider auch, dass man sich anschauen muss, was die aktuelle politische Lage prägt. Ich hätte gerne eine Kampagne für offene Grenzen, Staatsbürger:innenrechte für alle und Selbstverteidigungskomitees, weil dies schon mehr als notwendig ist, als es 2014/2015 war, als die Proteste gegen die Festung Europa und gegen die AfD noch Zehntausende auf die Straße gebracht haben, aber in Chemnitz Menschen von Faschist:innen gejagt wurden. Ich hätte sie gerne, denn ich bin mit den Schulstreiks gegen Rassismus politisiert worden, die in Solidarität mit den Geflüchteten des Oranienplatzes in Berlin oder der Gerhart-Hauptmann-Schule stattfanden. Doch die politische Lage ist vom Rechtsruck geprägt, aber nicht nur durch die zunehmende rechte Gewalt oder innere Militarisierung, sondern die Inflation und den Krieg. Aber was heißt das in der Praxis?

1. Kampf gegen Krise ist ein Kampf für uns alle

Entgegen manch populistischer Ansichten muss, ja darf man Antirassismus nicht aussparen oder gar explizit chauvinistische Hetze betreiben, um Leute für eine Bewegung zu begeistern. Für höhere Löhne, gegen Aufrüstung und Waffenlieferungen – all das geht, ohne bei der AfD fischen gehen zu müssen. Auf der anderen Seite darf man aber auch keine Angst haben und erst gar nicht zu Aktionen gehen, weil ja Rechte da sein könnten. Rechtspopulist:innen und Faschist:innen kann man aus Demos schmeißen und damit klar Stellung beziehen.

Darüber hinaus müssen wir beim Aufbau einer Antikriegs- und -krisenbewegung klar Stellung beziehen: Offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte sollten nicht nur für ukrainische Geflüchtete gelten, sondern für alle, die fliehen müssen. Sei es, weil Kriege Länder verwüsten oder die Inflation die Preise so hoch schießen lässt, dass man sich nichts mehr zu essen kaufen kann, oder seien es andere Gründe zu fliehen. Wir ziehen keine Trennlinie. Auch nicht im Kampf dafür, dass Löhne an die Inflation angepasst werden sollten. Bei Streiks oder sonstigen Protesten gegen die Inflation müssen wir dafür eintreten, dass Geflüchtete in die Gewerkschaft eintreten können, von unseren Kämpfen profitieren – und auch als Aktivist:innen eingebunden werden können. Nur wenn wir so gemeinsame Kämpfe schaffen mit den Beschäftigten, Aktivist:innen und Geflüchteten können wir existierende Vorurteile abbauen. Dabei machen es Klimaaktivist:innen vor, die zu den Beschäftigten in Betriebe gehen und das Gespräch suchen. Denn im Rahmen von solchen Bewegungen können Vollversammlungen an Schulen, Unis und in Betrieben stattfinden, wo wir in Debatten gemeinsam Verbindungen eingehen können.

Darüber hinaus muss die Linke in Deutschland sich einer weiteren Frage annehmen:

2. Gemeinsamer Kampf für demokratische Rechte

Was haben die Letzte Generation, Lina E. und die Palästinaproteste gemeinsam? Sie alle sind einer medialen Hetzkampagne sowie staatlicher Repression ausgesetzt worden. Die sonst so hochgelobten demokratischen Grundrechte wurden eingeschränkt. Man möchte fragen: Und das ist die angebliche Freiheit des Westens, die in Kiew verteidigt wird? Die Freiheit, die Klimaaktivist:innen in Präventivhaft schickt und in der Münchner Innenstadt das Mitführen von Sekundenklebern verbietet? Die Freiheit, die Antifaschist:innen zu 5 Jahren verurteilt, während Mithelfer:innen beim NSU, die mehrere Menschen ermordet haben, weniger bekommen haben? Die Freiheit, die einfach mal Tausend Menschen für rund 11 Stunden kesselt und versucht, politische Äußerungen zu unterbinden?

Da wird klar: Tolle Freiheit, aber definitiv nicht unsere. Denn ob beim Kampf gegen Umweltzerstörung, Faschismus oder die Interessen des deutschen Imperialismus: Sobald die eigene Ansicht nicht mehr deckungsgleich mit der des bürgerlichen Staats ist, kann es für Aktvist:innen unbequem werden. Das bedeutet für die Praxis: Die Verteidigung demokratischer Grundrechte wie das Demonstrations- und Versammlungsrecht – oder im Falle der EVG das zu streiken – wird in Zukunft eine größere und bedeutendere Rolle einnehmen. Und das heißt eben auch, dass man zwar auf Gerichtsurteile warten kann – aber viel Hoffnung sollte nicht reingesteckt werden, sondern vielmehr in den Willen, dass es auch Momente gibt, in denen sich Organisationen zusammenschließen und absprechen müssen, um gewisse Grundrechte praktisch durchzusetzen.

Organisation statt Einzelkampf

Antifaschismus, Antirassismus und Antikapitalismus können nur erfolgreich sein, wenn sie Hand in Hand gehen. Das heißt: Einzelkampagnen sind sinnvoll, um zu versuchen mehr Menschen zu erreichen und die Kräfte für ein Ziel zu bündeln, aber letzten Endes braucht es eine Organisation, die nicht nur unterschiedliche Kampagnen organisiert und dadurch miteinander verbindet, dass man Kampagne X bei Kampagne Y vorstellt und sich dann dafür feiert. Doof in Zeiten der Krise der Linkspartei und der radikalen Linken. Viele, die in den letzten Jahren aktiv gewesen sind, haben eher das Gefühl bekommen, dass alles wegbricht (weil auch alles ein bisschen eingebrochen ist). Statt also zu sagen, dass es weitergehen muss wie bisher (vielleicht mit ein bisschen mehr Methoden wie Mapping oder mit weniger Inhalt, um sich nicht noch mehr zu streiten), braucht es innerhalb der Linken eine politische und inhaltliche Diskussion darüber, was revolutionäre Klassenpolitik, revolutionäres Programm, revolutionäre Organisation heute bedeuten und wie wir sie konzipieren und aufbauen können. Es braucht, Mut neue Wege auszuprobieren, anstatt alte Fehler zu wiederholen. Ansonsten fehlt die Kraft, obige Bewegungen zu schaffen und mehr Teile der Bevölkerung anzusprechen.  Denn sowas fällt nicht vom Himmel oder passiert zur „richtigen Zeit“ von alleine, sondern wird auch durch Organisationen vorangetrieben und aufgebaut. Passiert das nicht, bleiben Wut und Ohnmacht zurück – und ein Staat, der voranschreitet, seine Meinung durchzusetzen, sowie eine Rechte, die immer aggressiver wird. Also lasst uns gemeinsam vorwärtsgehen!




Razzien gegen Letzte Generation: Mut soll kriminalisiert werden

Georg Ismael, Infomail 1223, 24. Mai 2023

Der Klimawandel und die Umweltzerstörung sind bekanntermaßen eine, wenn nicht die zentrale Herausforderung für die Menschheit des 21. Jahrhunderts. Insbesondere die deutsche Regierung ist sich ihrer Verantwortung bewusst wie keine andere. Die Aufgabe ist klar, bei aller Zustimmung zur Rettung der Menschheit müssen natürlich vor allem die Profite und Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals und die Unantastbarkeit seines bürgerlichen Staates selbst geschützt werden.

Sagen darf in Deutschland freilich jede/r, dass der Kapitalismus die Umwelt und das Mensch-Natur-Verhältnis grundlegend zerstört. Handeln – darüber hinaus mit friedlichen Mitteln und zugunsten rational vollkommen nachvollziehbarer Forderungen –, hier hört die Freiheit auf. Das gilt für den effektiven Streik scheinbar genauso wie für die direkte Aktion.

Umso mehr muss dies natürlich der Fall sein, wenn jenes Handeln die Passivität nicht nur der unmittelbaren Akteur:innen selbst durchbricht, sondern auch den Raum der öffentlichen Debatte zu bestimmen, zumindest aber zu verändern beginnt. Immerhin sind gerade in bürgerlichen Demokratien nebst dem Gewaltmonopol des Staates die Vorherrschaft von Gedanken, die die Interessen des Kapitals stärken oder schützen, ein hohes Gut.

In diesem Sinne muss man jenes feststellen: Eine der erfolgreichsten Bewegungen der vergangenen Jahre in Deutschland, die die Hegemonie der herrschenden Diskurse unter Druck setzte und klimapolitische Forderungen anhand ihrer allgemeinen Sinnhaftigkeit und nicht ihrer Verträglichkeit mit aktuellen Kapitalinteressen in die Debatte trug, ist fraglos die Letzte Generation.

Ihren Aktionen schlossen sich zahlreiche junge und alte Menschen an, die sich seit 2019 über drei Jahre restlos hatten überzeugen können, dass die Fakten gepaart mit letztlich symbolischen Massendemonstrationen wie von Fridays for Future keine oder deutlich unzureichende Maßnahmen durch Staat, Kapital und Regierung zur Folge hatten.

Es ist eben nicht eine vermeintlich kriminelle Energie, die die Aktiven der Letzten Generation antreibt. Ihren Mut ziehen sie aus der faktisch absehbaren Überschreitung der Kipppunke in den Umweltsystemen. Dieser Prozess ist bereits im vollem Gange, mit Folgen, die einen dystopischen und bisher kaum absehbaren Charakter annehmen werden.

Nachdem anderthalb Jahre vergangen sind und eine energische Kampagne der bürgerlichen Medien gegen die Letzte Generation zwar die Spaltung der öffentlichen Meinung, keinesfalls aber eine Minderung der Popularität der Bewegung herbeiführte, nachdem Inhaftierungen und eine erste Inszenierung der Letzten Generation als krimineller Vereinigung scheiterten, konnte die Bewegung einen, wenn auch kleinen Erfolg vorweisen. Die Zustimmungswerte zu Tempolimits auf deutschen Autobahnen steigen in der deutschen Bevölkerung.

Damit kommt genau der richtige Zeitpunkt für Staatsanwaltschaft und Polizei, eine großangelegte Razzia gegen die Bewegung durchzuführen. Fünfzehn Wohnungen wurden am Mittwochmorgen des 24. Mai im Bundesgebiet durchsucht. Die Internetseite der Letzten Generation wurde abgeschaltet.

Besonderes Interesse galt auch ihren Spendengeldern. Immerhin kann es in einem Rechtsstaat nicht angehen, dass Arbeiter:innen wie auch Angehörige der Mittelschichten, aus denen sich ihre Aktiven zusammensetzen, auf kollektiven Beistand hoffen dürfen, wenn sie sich der individuellen Kriminalisierung durch den bürgerlichen Staat ausgesetzt sehen.

Ziel der Razzia ist es, die Letzte Generation organisatorisch zu schwächen und über die Kriminalisierung der Bewegung vielleicht nicht unmittelbar ihre bisher Aktiven an weiteren Aktionen zu hindern, sicherlich aber den Zustrom weiterer Aktiver zu hemmen und mögliche Spender:innen zu verunsichern.

Den Inhalt der Bewegung selbst nicht vergessen wollend, etwas, dessen sich viele Medien und Politiker:innen regelmäßig schuldig machen: aus rationaler, ökologischer, sozialer und volkswirtschaftlicher Sicht sind ihre Forderungen nach einem 9-Euro-Ticket und einem Tempolimit von 100 km/h vollkommen berechtigt. Die Forderung, einen Gesellschaftsrat technokratisch einzusetzen, hat einen utopischen Charakter, der auch die politischen Schranken dieser Gruppierung deutlich macht.

Dass die sogenannte „Fortschrittskoalition“ insbesondere auch diesen zwei Forderungen nicht nachgeben möchte, weil dann womöglich ein Teil der oberen Mittelschichten sich von dieser abwenden könnte, vermutlich noch wichtiger, weil man einer sozialen und ökologischen Bewegung zu ihren Bedingungen entgegenkäme, das lässt tief blicken.

Es mag in der Debatte über die Strategie der Letzten Generation selbst viele unterschiedliche Meinungen geben. Wir haben etliche unserer Gedanken und auch Kritik an anderer Stelle geäußert. Ganz sicher entblößt sie aber durch ihr Handeln die innere Dynamik sowohl des bürgerlichen Diskurses als auch Staates.

Wir fordern daher ein sofortiges Ende der Kriminalisierung der Letzten Generation und rufen zu Solidaritätsaktionen auf. Ebenfalls denken wir, dass sich die ökologischen und sozialen Bewegungen in Deutschland eines ganz gewiss von der Letzten Generation abschauen können: mutig und selbstgewiss im Angesicht von öffentlicher Diffamierung als auch Gewalt durch Staat und Wutbürger:innen ihren berechtigten Anliegen nachzugehen.