Der aufhaltsame Aufstieg des Rechtspopulismus

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Spätestens seit den Europawahlen 2014 ist der Vormarsch „rechtspopulistischer“ Parteien in Europa zum politischen Alltag geworden. Die Tatsache, dass bei diesen Wahlen UKIP (United Kingdom Independence Party; Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs) in Großbritannien und der Front National (Nationale Front) FN in Frankreich jeweils stärkste Parteien wurden, symbolisierte den politischen „Rechtsruck“ in der EU. Seitdem ist der Populismus-Begriff zum Bestandteil der politischen Alltagssprache geworden. Gesellschaftswissenschaften und Medien verwenden ihn teilweise geradezu inflationär und ähnlich kursorisch wie den Extremismus-Begriff, bei dem auch „rechts“ und „links“ gleichgesetzt werden, also ohne differenzierte Behandlung der tatsächlichen Inhalte.

Die konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien, die das politische Spektrum für mehr als ein halbes Jahrhundert geprägt haben und mit dem bestehenden System der parlamentarischen Demokratie, Institutionen und realen Politik eng verbunden sind, befinden sich tatsächlich auf dem Rückzug. Zumeist drückt der Aufstieg von RechtspopulistInnen eine wachsende Polarisierung infolge der Krise, die Diskreditierung der bürgerlichen Demokratie und ihrer staatlichen wie suprastaatlichen Institutionen (EU) aus. Während nach dem Ausbruch der globalen Krise 2008/9 in vielen Ländern befürchtet wurde, dass die Linke – insbesondere Linksparteien – davon profitieren würden, so sind spätestens seit 2014 in der Regel rechte PopulistInnen im Vormarsch.

Diese rechtspopulistischen Parteien haben seit den Europawahlen die Nische der 5–10 % verlassen und steuern in Richtung von 20–30 %. 2018 konnte die Lega (ehemals: Lega Nord für die Unabhängigkeit Padaniens; dt.: Liga) in Italien 17,4 % erreichen und bildet mit der populistischen 5-Sterne-Bewegung (32,7 %) eine gemeinsame Regierung. Vor kurzem haben die Schwedendemokraten (SD) 17,6 % gewonnen und rücken den beiden stärksten Parteien in Schweden, den Sozialdemokraten und der konservativen Moderaten Sammlungspartei nahe. Die rassistische FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) konnte 2017 mit 26 % der Stimmen die Regierungsbeteiligung erreichen, nachdem sich die konservative ÖVP (Österreichische Volkspartei) unter Sebastian Kurz als Koalitionspartnerin selbst an den FPÖ-Populismus angeglichen hatte. Die niederländische „Partei für die Freiheit“ (PVV) gewann im selben Jahr13 %, wie auch die AfD mit 12,6 % in Deutschland ihr Wahlergebnis mehr als verdoppeln konnte. Bei Landtagswahlen konnte die AfD sogar 15–25 % einfahren.

Aufgrund des Mehrheitswahlrechts in Frankreich bei der Parlamentswahl konnte der (FN) seine Erfolge bei der Präsidentschaftswahl (35 % im 2. Wahlgang) nicht bestätigen und bekam „nur“ 8 Sitze mit 8,7 %.

Die Wahlerfolge der Dänischen Volkspartei (DF) mit 21,1 % (2015), der Schweizerischen Volkspartei (SVP) 29,4 % (2015), der Wahren Finnen (PeruS) mit 18 % (samt kurzzeitiger Regierungsbeteiligung 2015–2017), die Wahlerfolge der PiS (Recht und Gerechtigkeit) in Polen (37,6 % 2015), sowie die Wahlergebnisse aus Ungarn in diesem Jahr (Fidesz [Ungarischer Bürgerbund] 49,3 % und Jobbik [Bewegung für ein besseres Ungarn] 19 %) unterstreichen die parlamentarischen Erfolge der Rechten.

Auch außerhalb von Europa konnten populistische, nationalistische, autoritäre Parteien und KandidatInnen Erfolge feiern. Die mehrmaligen Wahlerfolge von Erdogan, die gewonnene US- Präsidentschaftswahl durch Trump, der philippinische Präsident Duterte sind weitere Beispiele für einen internationalen Rechtsruck.

In diesem Artikel werden wir einen Schwerpunkt auf die europäischen AkteurInnen und Verhältnisse legen und nur im Einzelfall auf außereuropäische Vergleichsphänomene eingehen.

Woher kommt der Populismus?

Populismus ist ein Phänomen der Krise der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. Die etablierten bürgerlichen Parteien wie auch ihre Bindungen zu bestimmten WählerInnengruppen sind geschwächt, wenn nicht sogar in Auflösung begriffen. Gleichzeitig herrschen unter verschiedenen Teilen der herrschenden Klasse angesichts von Krise und Weltmarktkonkurrenz starke Interessenkonflikte und Meinungsverschiedenheiten über den weiteren nationalen und internationalen Weg (z. B. selbst in Bezug auf sie Zukunft der EU).

Mit Hilfe des Populismus wird nun das Volk neu „entdeckt“: Teile dessen („das Volk“) können außerhalb der bestehenden Parteien mobilisiert werden, um für die „neuen“ Interessen und Zwänge der „neuen“ bürgerlichen Parteien eingesetzt zu werden. Speziell in der ökonomischen Krise werden populistische Bewegungen und AkteurInnen aktiv und fordern die etablierten Parteien der „Mitte“ heraus. In solchen Bewegungen entsteht ein klassenübergreifendes Bündnis von „Subalternen“ aus den abstiegsbedrohten Mittelschichten, Teilen der ArbeiterInnenklasse, Teilen des städtischen und ländlichen Kleinbürgertums. Dies wird von den PopulistInnen als „das Volk“ in Entgegensetzung zu den „Etablierten“ oder „Volksfremden“ als Basis politischer Organisierung genutzt.

Die etablierte sog. „Mitte“ hat vielerorts die Krise seit 2007/2008 zum Wohl des Großkapitals „gelöst“ auf Kosten des Lebensstandards der arbeitenden Klassen. Dieser „Krisen“-Imperialismus kann kaum noch etwas versprechen und noch weniger halten und stürzt damit auch das parlamentarische Vertretungssystem in die Krise. Althergebrachte Parteien verschwinden; neue steigen kometenhaft auf, verglühen aber auch wieder schnell; Regierungen, PräsidentInnen regieren per Notstandserklärung, manche Kabinette werden aufgelöst und durch TechnokratInnen ersetzt – kurz: dies ist eine absteigende Phase des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus.

In dieser Krisenperiode haben vor allem die sozialdemokratischen Parteien in Europa massiv verloren. Vielerorts waren sie in der „Globalisierungsperiode“ an der Regierung – wir erinnern uns kurz und schmerzhaft an „Agenda 2010“, die „Neue Mitte“ von Schröder und Blair – und setzten in der Regierung neoliberale Angriffe durch. Heute ist, mit Ausnahme der Labour Party (Corbyn-Faktor), keine der großen sozialdemokratischen Parteien in Europa mehr mehrheitsfähig. Und letzte ist es auch nur, weil sie – wenn auch auf Basis des Linksreformismus – einen öffentlichen Bruch mit dem Blairismus vollzog und so Hunderttausende für eine „echte“ Labour-Politik begeistern konnte. Dass die schwedischen SozialdemokratInnen bei Wahlen noch stärkste Kraft geworden sind, gilt eher als Ausnahme.

Aber auch die konservativen und liberalen Kräfte erlebten Auf- und Abschwünge. In vielen europäischen Staaten verloren sie Mitglieder und FunktionärInnen an die neuen und alten rechtspopulistischen und nationalistischen KonkurrentInnen.

Krisenhafter Parlamentarismus und Kapitalismus – eine Chance für PopulistInnen!

Gewählte Regierungen wie in Italien und Griechenland wurden durch die EU-Bürokratie abgesetzt und mit TechnokratInnen besetzt. Monti und Papadimos standen anschaulich dafür, um wessen „Demokratie“ es bei der Schuldenkrise ging und dass Brüssel, Berlin, Paris und die EZB am längeren Hebel saßen. Dies wurde nochmals mit der neuen SYRIZA/ANEL-Regierung (ANEL: Unabhängige GriechInnen) in Griechenland durchexerziert: weder Volksabstimmung (OXI!) noch national-kapitalistische Drohgebärden halfen – die Austeritätspolitik gemäß den Vorgaben des deutschen Imperialismus musste umgesetzt werden.

Schon in dieser Phase der „EU-Krise“ konnten wir sehen, wie schnell etablierte Parteien bedeutungslos werden (PASOK; Panhellenische Sozialistische Bewegung), aber auch wie neue Parteien entstehen oder aufsteigen können (Syriza [Koalition der Radikalen Linken] als linksreformistische Partei, die 5-Sterne-Bewegung als populistische 2009).

Während der „Schuldenkrise“ gab es bereits erste rechtspopulistische Wahlerfolge, vor allem auf Grundlage von rassistischen Kampagnen gegenüber Südeuropa.

Die parlamentarische Demokratie kann die kapitalistischen Widersprüche allenfalls schönreden, nicht jedoch beseitigen – schon gar nicht in ökonomischen Krisen. Ihr Klassencharakter, ihre sozioökonomische Beschränktheit wird gerade in der Krise immer deutlicher.

Im gigantischen Maßstab wurden mit Zustimmung der Parlamente die Banken und Großkonzerne nach der Krise 2007/2008 mit Billionen Euro, Dollar, Pfund gerettet, während Sozialleistungen, Löhne und Ansprüche auf Seiten des „Volkes“ gekürzt und gestrichen wurden.

Der Populismus „entdeckt“ diese Widersprüche, ohne die wirklichen Hintergründe und Ursachen zu benennen, spielt sich aber als Kämpfer gegen das „Establishment“ auf, als wahrer Verteidiger des Volkes. Hauptpunkt dabei ist das bürgerliche Konstrukt des Volkes als einer Gemeinschaft der „betrogenen, hart arbeitenden einheimischen Ehrlichen“ – natürlich quer zu den Klassenlinien. Das ist die wesentliche „Leistung“ des bürgerlichen, rechten Populismus: die Klassenwidersprüche auszublenden, vermeintlich „volksfremde“ ErsatzfeindInnen anstelle der wirklichen GegnerInnen zu präsentieren, die „Volksgemeinschaft“ in Pseudoopposition zu den Regierenden zu konstruieren. Mit solchen Mitteln kann sich ein Milliardär wie Trump zum „Anwalt“ der ArbeiterInnenklasse z. B. des „Rust Belt“ aufspielen oder Alice Weidel – eine ehemalige Goldman-Sachs-Bänkerin – zur Anwältin der armen deutschen RentnerInnen aufspielen. D. h. Teile der bürgerlichen Elite gehen auf Distanz zur bisherigen Regierung der eigenen Klasse und stellen sich selbst als VorkämpferInnen des rebellierenden Volkes dar.

Sicherlich hat die PolitikerInnenkaste weltweit eine soziale Sicherheit, von der die ArbeiterInnenklasse und selbst große Teile des Kleinbürgertums nur träumen können – im Vergleich zur Großbourgeoisie sind sie aber kleine Würstchen. Trotzdem: Da reichen ein, zwei Legislaturperioden im Parlament für eine großzügige Rente, während der „restlichen“ Bevölkerung erzählt wird, dass eine etwas oberhalb des Armutsrisikos doch eine famose Sache wäre. Um dies vor dem empörten Volk zu erzählen (natürlich ohne dabei die Großbourgeoisie zu erwähnen), müssen PopulistInnen nicht sonderlich „geschult“ oder „intelligent“ sein. Dies gehört zu den allgemein bekannten Ungerechtigkeiten dieser kapitalistischen Demokratie.

Zum Grundrepertoire von populistischen Parteien gehört es daher, die PolitikerInnen der etablierten Parteien an den Pranger zu stellen, wie auch die Eliten aus Medien, „Kultur“, Justiz, Verwaltungen, aber auch von ArbeiterInnenorganisationen, wie z. B. Gewerkschaften.

In einer simplen verschwörungstheoretischen Weltsicht wird dann konstruiert, dass die Bereicherung dieser Politik-Eliten (wohlgemerkt nicht der Bourgeoisie), ihre parasitäre Existenz auf Kosten des „arbeitenden Volkes“, der Grund für die zentralen Probleme und Krisen sei. Auch wenn die Empörung über Diätenerhöhungen, die gleichzeitig mit Sozialkürzungen beschlossen werden, berechtigt ist, so sind sie sicher nicht der Grund für staatliche Finanzprobleme.

Eine solche Sichtweise kann sogar recht leicht mit neoliberalen Ideen verbunden werden, wenn festgestellt wird, dass es zu viel Bürokratie, zu viel PolitikerInnen, zu viele Jobs in den öffentlichen Medien/Unternehmen gebe. So kann die Empörung über Bürokratie für Privatisierungen mit Unterstützung des „wütenden Volkes“ genutzt werden.

Ebenso kann dies für die nationalistische, rassistische Verschwörungstheorie genutzt werden, der zufolge dieser fehlgeleitete Staat auch Kultur und „Antifa“ finanziere, um geplant das Volk zu verdummen, während „linksversiffte Gutmenschen“ sich selbst bedienen würden – all das, während dieser Staat obendrein nichts gegen die angebliche „Überflutung“ durch Flüchtlinge unternähme, da ja damit so viele dieser „Eliten“ gut verdienen würden.

Diese Hetze gegen „Elite“ und Staat funktioniert erst recht in einer Krisenperiode. Der Rechtspopulismus will das Volk „aufwiegeln“, will die herrschende „Elite“ zu Feinden des Volkes erklären – und ist damit zumeist erfolgreicher als die Linke zuvor. Das „Volk“ ist auf jeden Fall dafür ansprechbar, wie die Wahlerfolge entsprechend diesem Muster zeigen. Sogar die US Präsidentschaftswahl wurde ja so gewonnen.

Bestimmte Sozialwissenschaften versuchen psycho-soziologisch zu erklären, dass „Wut, Frustration, Isolation“ sich im „Wutbürgertum“ oder an der Wahlurne im Rechtspopulismus ausdrücken, bestimmte Schichten in der „kosmopolitischen Realität“ nicht mehr integriert seien und mit dem Zurück zum Nationalen doch einfach nur wieder etwas mehr „Gemeinschaft“ erfahren wollten. Dieses Bedürfnis wird dann mit „Kommunitarismus“ umschrieben.

Für die „radikale Linke“ wäre es ein Problem, wenn sie in diesen Kategorien verbleibt, diese soziologische Spaltung mitträgt bzw. durch ihr Handeln noch vertieft. Schnell wird dann der Gegensatz zwischen der „Verteidigung des Sozialstaats“ und der Forderung nach „offenen Grenzen“ zum Scheideweg innerhalb der reformistisches Linken. Dass dies im Klassenkampf zusammen gedacht werden muss, bleibt dann notwendigerweise auf der Strecke. Und so geht ein Teil des Reformismus stramm Richtung Volksfront, um die bürgerliche Demokratie zu verteidigen, während der andere, „traditionelle“ Part dies per ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften tun will. Gemeinsam bleibt ihnen, dass sie die Verteidigung der bürgerlichen „Demokratie“ in ihrer jetzigen immer undemokratischer werdenden Form auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Bürgerliche Demokratie ist an sich von einem Widerspruch geprägt: Das Bürgertum muss durch den Staat gegen das vorgebliche „Staatsvolk“ regieren (also gegen den offiziellen „Souverän“). Hier wird der Volksbegriff zusammen mit der „repräsentativen Demokratie“ zur ideologischen Klammer, welche den Klassengehalt der bürgerlichen Herrschaft verschleiern soll.

Wenn dieser Widerspruch zwischen vorgeblicher Demokratie für alle und den eigentlich bestimmenden Kapitalinteressen in der Krise offen zu Tage tritt, hat meist die Stunde der PopulistInnen geschlagen. Populismus muss daher vor allem als ein Krisenphänomen der bürgerlichen Gesellschaft verstanden werden und nicht einfach als eine allzeit mögliche Methode, Politik zu betreiben.

Für die mobilisierbaren Teile der WählerInnen von PopulistInnen funktioniert die bürgerliche Demokratie nicht mehr, so wie sie ihnen bisher erschienen war. War die bürgerliche Demokratie meistens angetreten, um auch den Mittelschichten, den Selbstständigen, aber auch Teilen der ArbeiterInnenklasse gewisse soziale Vorteile zu gewähren oder zumindest glaubhaft zu versprechen, so funktioniert dies in der ökonomischen Krise nicht mehr. Stattdessen zeigt die „Demokratie“ dann deutlich, wessen Kind sie ist: Umverteilung auf Kosten der Mehrheit, Absicherung der großen Kapitale und soziale Angriffe oder Kürzungen gegen die Mehrheit, gewähren den PopulistInnen Raum für ihre Agitation und Stimmungsmache. Die Versprechungen des Großkapitals wie auch des Kapitalismus insgesamt („Geht es dem Kapital gut, geht es allen gut!“) werden in dieser Krisenperiode ad absurdum geführt.

Die PROKLA 190 (1), die sich als eine der wenigen Publikationen die „Mühe“ macht, eine marxistische Analyse des Populismus vorzulegen, sieht den Zusammenhang mit der Krise, verfehlt aber den Widerspruch innerhalb der bürgerlichen Demokratie:

„Die moralische Überlegenheit und Überzeugungskraft des neoliberal reorganisierten Kapitalismus wurde deutlich geschwächt. Selbst überzeugte Vertreter des Bürgertums beobachteten eine Legitimitätskrise und bekamen grundlegende Zweifel an der Fortexistenz des Kapitalismus. Nach einer globalen Welle von Protesten hat sich die Bourgeoisie reorganisiert. Doch anders als zu erwarten gewesen wäre, ist es nicht zu Bemühungen um eine neue Form von Hegemonie gekommen, sondern zu einer Rechtsverschiebung, in der der Zwang, das Regieren mit Dekreten, die Schwächung des Parlaments und der Öffentlichkeit sowie der Umbau des Rechtsstaats sowohl auf der Gesetzes- als auch auf der justiziellen Ebene (Angriffe auf Versammlungsrecht, Presse-, Meinungs-, Wissenschaftsfreiheit, Ausdehnung der Überwachung,….), die Erneuerung und der Ausbau der Polizeien eine erhebliche Rolle spielen; daneben kommt es aber auch zu einer Stärkung einer nationalkonservativen, rassistisch und faschistisch orientierten Öffentlichkeit und der Mobilisierung zivilgesellschaftlicher faschistischer Gewalt.“ (2)

Hier werden der Abbau demokratischer Rechte und der allgemeine gesellschaftliche Rechtsruck richtig beschrieben. Allerdings geschieht dies im Kontext einer Theorie, dass bürgerliche Herrschaft es „normalerweise“ schafft, eine breitgefächerte „Hegemonie“ aufzubauen, die es versteht, die Beherrschten ideologisch und durch untergeordnete Elemente von Beteiligung zu integrieren. Dass dies in einer Krisenperiode für das Kapital nicht im Vordergrund steht, sondern hier der Widerspruch von Kapitalherrschaft und „Demokratie“ offen zu Tage tritt, scheint für die Neo-GramscianerInnen doch überraschend zu sein. Eine konfrontative Gesamtsituation mitsamt allgemeinem Rechtsruck und Aufstieg der militanten Rechten ist halt einer Transformationsstrategie nicht sonderlich förderlich – eine Erfahrung, die historisch auch schon Gramsci selbst mit dem italienischen Faschismus machen musste.

Welcher Populismus?

In der „linken“ Gesellschaftswissenschaft wird oft der Begriff des „autoritären Populismus“ benutzt, um den Rechtsruck des Bürgertums in Krisensituationen zu erklären. Was die Regierungspraxis angeht, ist dieser Begriff durchaus hilfreich, allerdings wollen wir hier aus zwei Gründen beim Begriff „Rechtspopulismus“ bleiben. Zum einen, damit dabei klargemacht werden kann, was für (verschiedene) „Rechte“ sich hinter diesem rechten Populismus vereinigen. Andererseits, um klarer benennen zu können, welchen Rechtsruck dieser Populismus zu verwirklichen droht. Das schließt für uns mit ein, dass er auch immer autoritär sein muss. Die unterschiedlichen Begriffe sind für uns also kein Widerspruch, sondern für uns ist „Rechtspopulismus“ ein geeigneterer Kampfbegriff.

Zur historischen Genese des „autoritären Populismus“ meint Demirovic:

„Die Rechte wisse, so Hall (Stuart Hall; d. Red.), dass in einem Prozess der Restauration/Revolution das strategische Feld der Auseinandersetzung die Demokratie sei und verfolge eine Politik der populistischen Demokratie, die durch Elemente des schleichenden Autoritarismus und des passiven popularen Konsenses gekennzeichnet ist. Wesentliche Merkmale dieser populistischen Mobilisierung seien moralische Paniken, die mit einer Reihe von Themen geschürt würden. Dazu gehören Themen wie Sicherheit und Ordnung, Einwanderung, sexuelle Liberalisierung.“ (3)

Der Rechtspopulismus bedient bevorzugt rassistische und nationalistische Motive und Methoden, die wir uns in ihrer heutigen „Neuauflage“ noch genauer anschauen werden. Dabei findet die Konstruktion des Volkes bzw. die „Neukonstruktion“ seiner wahren Vertretung vor allem in Abgrenzung zu und Erniedrigung anderen/r Völker und Nationen statt. Allgemein ist für die meisten europäischen RechtspopulistInnen heute „der Islam“ die „Hauptbedrohung“ bzw. sind es alle Geflüchteten aus muslimisch geprägten Ländern und Regionen. In den USA wirkt aber auch die Hetze gegen EinwanderInnen aus Lateinamerika oder den „Betrug“, den angeblich Mexiko oder andere HandelspartnerInnen der USA z. B. nach Meinung Donald Trumps begingen.

Beim Rechtspopulismus werden wir auch unterscheiden müssen, welche die „rechten“ Kräfte sind, die in den jeweiligen Parteien wirken und in welchem Kräfteverhältnis diese Flügel zueinander stehen.

Unterschieden werden muss auch nach den Ursprüngen dieser Parteien, die im Wesentlichen sich aus zwei Quellen speisen: einerseits aus den bisherigen konservativen und liberalen Parteien, andererseits aus einem Kern von NationalistInnen bis hin zu FaschistInnen. Diese Unterschiede können z. B. bei der Regierungsfrage und/oder der Militanz dieser Parteien und Bewegungen eine Rolle spielen, uns Hinweise zur Taktik gegenüber diesen Formationen geben wie auch die „Grauzonen“ oder „Übergänge“ zwischen Rechtspopulismus und Faschismus beleuchten.

Wir werden zunächst den Rechtsruck innerhalb der bürgerlichen Klasse zu erklären versuchen, die Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise seit 2007/08 als Angelpunkt einer verschärften inner-imperialistischen Auseinandersetzung ins Zentrum rücken, um dann die verschiedenen Aspekte des Rechtsrucks, des Rechtspopulismus sortieren zu können.

Wichtig bleibt generell festzuhalten, dass der Rechtspopulismus und der aktuelle Rechtsruck ihren „Ursprung“ in der bürgerlichen Klasse haben, von dort ihren Ausgangspunkt nehmen. Ein Teil der bürgerlichen Klasse, der „Elite“ wendet sich ab vom bisherigen „demokratischen“ Konsens, sammelt autoritäre politische Kräfte und will in der eigenen bürgerlichen Klasse eine radikalere Linie zur Krisenbewältigung durchsetzen.

Ökonomische Krise und neue politische AkteurInnen

Wenn wir hier auf die generellen Auswirkungen der gegenwärtigen Krisenperiode auf die verschiedenen Klassen eingehen werden, so wollen wir zunächst festhalten, dass wir uns derzeit in einer speziellen Phase dieser Periode befinden. Diese Phase ist „Nachfolgerin“ einer Zeit der Defensive der Herrschenden im „Arabischen Frühling“, den Schuldenprotesten in Europa, etc. Gewissermaßen sehen wir jetzt die Antwort der Rechten auf die Phase von 2009–2012/15. Dies soll nicht bedeuten, dass diese Phase des Rechtspopulismus eine automatische, unvermeidliche Nachfolgerin der gescheiterten Proteste der „Linken“ darstellt.

Doch für die Entwicklung des Rechtspopulismus, des Aufstiegs verschiedener reaktionärer Parteien ist durchaus wesentlich, dass die Proteste/Bewegungen der Linken zuvor gescheitert waren. Das Kräfteverhältnis hatte sich geändert durch Niederlagen der globalen linken und „demokratischen“ Bewegungen. Die widerständige ArbeiterInnenklasse (im Bündnis mit der städtischen und ländlichen Armut, großer Teile der Bauernschaft) konnte eben keine Siege gegen die Krisenpolitik des Kapitals landen.

Krisen diesen Ausmaßes haben aber auch früher oder später „Antworten“ bürgerlicher Schichten/Klassen zur Folge. Symptomatisch stand dafür die Aussage des Großinvestors Warren Buffet, der meinte: „Es wird Klassenkrieg geben und meine Klasse wird gewinnen“. Dafür gab es zum einen die staatliche Krisenlösungspolitik, die sich vor allem um die „Nöte“ des Kapitals sorgte, diese durch Staatsschulden und eine massive Erhöhung der Geldmenge „regelte“, um die Kosten dann als Kürzungen und Angriffe auf die sozialen Errungenschaften der Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit zu bewältigen.

Rein ideologisch wurde von den Herrschenden des Kapitals zur Krisenlösung der bekannte Slogan „There is no Alternative!“ wiederaufbereitet, in den imperialistischen Staaten meist mit dem Verweis, dass bestimmte Kapitale „to big to fail“ wären – also gerettet werden müssten, da sonst die Apokalypse drohe. Dafür wurden ganze Länder wie Griechenland ins Elend gestürzt oder die mehr als 40 Hungerrevolten 2009 in Kauf genommen, nachdem die Krisenreaktion des Spekulationskapitals in den globalen Lebensmittelmärkten zu massiven Preiserhöhungen führte (und die billigen Weltmarktpreise zuvor die Eigenversorgung vieler Länder zerstört hatten).

In der darauf folgenden Krisenperiode sind ihre Ursachen bis heute weiterhin ungelöst bzw. bleiben weiterhin direkt aktiv. Die Krise, u. a. als Folge der jahrzehntelangen Überakkumulation und der daraus resultierenden massiven Flucht in die Spekulation, wirkt untergründig auch 10 Jahre danach weiter. Kapitalistische Krisen diesen Ausmaßes wurden geschichtlich bislang nur durch die direkte und massive Vernichtung von Kapitals, insbesondere durch die Außerwertstellung von Produktionsmitteln gelöst, unter anderem durch Kriege. So entschieden die imperialistischen Mächte zweimal im 20. Jahrhundert, welche nationale Bourgeoisien die Hauplast dieser Kapitalvernichtung zu tragen haben.

Der Ausbruch der Krise verschärft die globalen Konkurrenzbedingungen aller Klassen, erst recht die der führenden imperialistischen Bourgeoisien untereinander. Im bürgerlichen Jargon wird heute zumeist mit dem „Aufstieg Chinas“ umschrieben, welcher tatsächlich eine neue Konkurrenzsituation unter den herrschenden Blöcken einleitete. Die USA haben seit der „Globalisierung“, der massiven kapitalistischen Expansion der 1990er/Anfang 2000er Jahre, in denen sie immer mehr abhängig vom Import billiger „Chinaware“ wurden, und dem Aufbau von Schuldenblasen zur Finanzierung der Überakkumulation ökonomisch auf dem Weltmarkt an Boden verloren. Die EU, als Hauptherausforderin der USA, mit Euro-Raum und „Agenda von Lissabon“ gestartet, taumelte von der Finanz- zur „Schuldenkrise“, stellte sich als Binnenmarkt ohne geostrategische Perspektive heraus und steht heute vor der Gefahr des Zerfalls (à la Brexit). Dagegen ist Chinas Aufstieg als Ökonomie, als imperialistische, weltweit agierende Macht beachtenswert. Spätestens nach 2007/2008 konnte China seinen Einfluss massiv ausdehnen – auch wenn es in Asien noch einen zwar taumelnden, aber weiterhin starken Weltmarktkonkurrenten in Japan hat, das sich auch zur Wiederaufrüstung bereit macht.

Diese Hauptkonflikte unter den herrschenden Klassen auf Weltebene ziehen sich ebenfalls durch die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten. Auch dort entbrennt wieder der Kampf um den „Platz an der Sonne“.

Während das internationale Finanzkapital weltweit um Absatzmärkte, Produktionsketten und Profite in verschärfte Konkurrenz tritt, wird diese an die anderen Schichten der bürgerlichen Klasse weitergegeben. Das vom Weltmarkt abhängige „mittelständische“ Zulieferunternehmen bspw. wird vom Finanzkapital gezwungen, diesem günstigere Konditionen anzubieten. Diese Unternehmen geben das in den Produktionsketten an ihre VorlieferantInnen ebenso weiter. Diejenigen, die noch nicht abhängig sind von globalen InvestorInnen, werden entweder aufgekauft und/oder wegrationalisiert. Diese Tendenz zur Konzentration des Kapitals wird durch jede Krise im Imperialismus auf eine neue Stufe gehoben.

Kleinbürgerliche Schichten

Durch die Auswirkungen der imperialistischen Krise werden auch kleinbürgerliche Schichten wie „FreiberuflerInnen“, kleine Selbstständige, lohnabhängige Mittelschichten vom sozialen Abstieg bedroht und wird die Konkurrenz verschärft. Die Krise, welche Millionen ArbeiterInnen weltweit in Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse gejagt hat, führt eben auch bei den bürgerlichen „Mittelschichten“, dem Kleinbürgertum, zu sozialen Erschütterungen, zu einem Statusverfall. Als Reaktion darauf kann eben auch das Bedürfnis entstehen, die spezifisch bürgerlich/kleinbürgerlichen Interessen in der Krise in politischen Organisationen zum Ausdruck zu bringen. Was immer deren ideologische Form sein mag, materielles Hauptziel dieser neuen bürgerlichen Polit-AkteurInnen ist es, ihren sozialen Status zu verteidigen. Gewissermaßen suchen sie (national)staatlichen Schutz vor der verschärften (globalen) Konkurrenz, wollen „gerettet“ werden wie das globale Finanzkapital. Aus eben diesem Grund wenden sich aber auch bürgerliche wie Mittelschichten von den etablierten bürgerlichen Parteien ab. Unfähig, deren Interessen wahrzunehmen, können diese Parteien ihre traditionellen Milieus nicht mehr an sich so binden wie zuvor.

Dies kann natürlich auch zur Veränderung bestehender Parteien führen bzw. zu einem stetigen Anpassen der jeweiligen bürgerlichen Parteien an sich verändernde Kapitalinteressen und soziale Umschichtungen.

In diesem Kontext müssen auch die Entwicklungen von rechtspopulistischen, nationalistischen und faschistischen Organisationen weltweit verstanden werden. Sie sind Ausdruck einer aggressiven bürgerlichen Neuausrichtung, einer zugespitzten globalen Konkurrenz um die Neuaufteilung der Welt.

Die Kapitalfraktionen organisieren sich neu – Verhältnis Protektionismus und Neoliberalismus

Innerhalb des Großkapitals müssen wir von unterschiedlichen Interessenlagen und Strategien gerade in der Krisenperiode ausgehen. Das Kapital, welches größtenteils auf den Binnenmarkt orientiert ist, muss durch sie in eine verstärkte Konkurrenz zum global operierenden treten. Vor allem jedoch bemühten sich alle imperialistischen Staaten in der Krise, sowohl die Börsen und Banken wie auch die in Gefahr geratenen Großkonzerne (z. B. General Motors in den USA) zu „retten“, blieben die Rettungsmaßnahmen wie das „Quantative Easing“ vor allem für das Finanzkapital längerfristig wirksam bzw. für die eng mit diesem verbundenen Teile des Industrie- und Handelskapitals.

Innerhalb des Blocks der Bourgeoise treten daher unterschiedliche Interessen an die Oberfläche, vor allem auch in Bezug auf das staatliche Handeln. In unterschiedlicher Weise rücken nationale Interessen stärker in den Fokus. In Deutschland steht dafür bspw. „DIE FAMILIENUNTERNEHMER e. V.“ (ehemals: „Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer“, ASU; bestens in der CDU integriert), der meist äußerst skeptisch jegliche EU-„Rettungsmaßnahme“ beäugt, mantraartig vor einer „Transferunion“ warnt und von der Sorge umgetrieben wird, ausländische Unternehmungen könnten von deutschen Staatskrediten mehr profitieren als die „fleißigen deutschen Familienunternehmen“.

Hier sorgen die Krisenmechanismen für zunehmende Konkurrenz, aber als deren Folge auch für zunehmende Abschottung, Forderungen nach Protektionismus und eben mehr Nationalismus in der ideologischen Begründung der Forderungen an den Staat während der Wirtschaftskrise.

Auch Demirovic sieht diese Spaltung im „bürgerlichen Machtblock“ als Grundlage des Rechtspopulismus, stellt sie aber nicht in den Zusammenhang mit der Krisenpolitik, sondern einer allgemeinen „Krise der Repräsentation“. Passend ist allerdings die Konstatierung der „Selbstabspaltung im bürgerlichen Lager“:

„Der autoritäre Populismus kann als ein Versuch von der Seite des Bürgertums verstanden werden, das Gleichgewicht der Kräfte in einer Phase zu verändern, in der es zu einer Krise der Repräsentation kommt, in der also – anders als Gramsci dies erwartete – die bisherigen politischen Kräfte nicht in der Lage sind, eine Entscheidung in die eine oder in die andere Richtung durchzusetzen. Teile des Bürgertums sind mit der Regierungspolitik unzufrieden. Es kommt zu einer Selbstabspaltung aus dem bürgerlichen Lager. Um erfolgreich zu sein, kritisieren sie nicht nur dominante Politik innerhalb des Machtblocks, sondern stützen sich auf die Unzufriedenheit der Subalternen gegen ,die da oben’ und mobilisieren gegen die politische Klasse – obwohl sie selbst zur bürgerlichen Klasse gehören und an der Führung der politischen Geschäfte teilnehmen.“ (4)

Diese „Selbstabspaltung“ im bürgerlichen Lager zeigt auf, dass Fraktionen des herrschenden Kapitals „offensiver“ ihre Standpunkte vorbringen, dabei auch vor dem politisch-populistischen Angriff auf die politische Elite, die bisher dem Kapital im Großen und Ganzen diente, nicht zurückschrecken. Vorsichtig müssen wir sein, wenn diese „Abspaltung“ als eine reale, grundlegende Spaltung der bürgerlichen Klasse verkauft wird. Wir haben nicht zu entscheiden, ob die „Globalisierungsfraktion“ des Kapitals oder die nationalistische Fraktion reaktionärer ist – beide sind sich letztlich einig in ihrer Gegnerschaft gegen die arbeitenden Klassen.

Das Widersprüchliche und Gemeinsame finden wir bspw. in der Regierungspolitik mancher rechtspopulistischer AkteurInnen, aber auch im Verhältnis von Neoliberalismus zu Protektionismus. So wird Protektionismus gerne mit dem „Schutz“ nationaler Unternehmen gleichgesetzt. Doch die aktuelle US-Administration zeigt auf, dass es gerade auch bei den Binnenunternehmen durch diese Zollpolitik sowohl einige Nutznießer wie auch sehr viel mehr Verlierer gibt. Vor allem stellt die klassische Zollpolitik, mit der aktuell vor allem China konfrontiert wird, ein Mittel im zugespitzten Kampf dieser beiden Großmächte dar. Am Beispiel der Zolldrohungen gegenüber der EU konnten wir aber auch die zweite Ebene sehen: Nach den Drohungen kommt der neue Deal, neue Handelsabkommen, quasi mehr Handel zum Vorteil der USA. Ähnlich handeln auch die EU und China. Handelsabkommen mit und zwischen diesen Mächten sind vor allem andere Abkommen zu deren Nutzen, öffnen ihnen die Märkte der unterzeichnenden Staaten. Die Politik der USA ist in dieser Hinsicht Zeichen des aggressiven Kurses zum Erhalt ihrer Weltmachtstellung, gerade gegen die konkurrierenden Blöcke. So sind auch „bilaterale“ Abkommen weiterhin Teil der Globalisierung.

Die dritte Ebene dieses Verhältnis finden wir in Bezug auf den Binnenmarkt. Natürlich tritt das darauf orientierte Kapital für protektionistischen Schutz ein, auf der anderen Seite ist es aber auch daran interessiert, die Konkurrenz dort zu minimieren. Auf dem Binnenmarkt treten vor allem viele kommunale und öffentliche Unternehmen in Erscheinung, die seit der „ersten“ Welle der neoliberalen Globalisierung (1980er/90er Jahre) kaum noch als „Global Player“ agieren, aber als Energieversorger, Nah -und Fernverkehrsunternehmen, kommunale Dienstleister und Verwalter etc. weiterhin für viele Prozente des nationalen BIP verantwortlich sind.

Hier kann die Abschottung nach außen, so fragwürdig sie real auch immer ist, zur neoliberalen Offensive nach innen führen, einen neuen Privatisierungsschub auslösen. Die US-Administration zeigte dies beim Verkauf der staatlichen „Highway“-Infrastruktur: Angekündigt war ein milliardenschweres Investitionsprogramm, herausgekommen ist eine kreditfinanzierte Teilprivatisierung. Beim Bildungshaushalt gab es das klassische Beispiel von Privatisierung, gut 14 Mrd. US-Dollar wurden gekürzt, vor allem bei Hausaufgaben/Nachmittagsbetreuung von öffentlichen Schulen, mit dem Hinweis, dass dies dann private und kirchliche Dienstleister übernehmen werden.

Wir haben es mit keinem „festen“ Programm des Rechtspopulismus zu tun, gerade weil er Ausdruck der Interessen verschiedener Kapitalfraktionen ist, deren Gemeinsamkeit höchstens in ihrer Opposition zu dem bisher vorherrschenden Machtblock besteht. Festhalten können wir hier, dass der Rechtspopulismus eine Kampfansage an die aktuellen Klassenkompromisse (national und international) beinhaltet und eine möglichst aggressive Kapitalpolitik betreiben will. Dafür betreiben die rechtspopulistischen AkteurInnen eine Mobilisierung der von der Krise betroffenen Mittelschichten im Verbund mit demoralisierten Unterschichten.

Häufung rechtspopulistischer Dynamik in der EU

In der EU konnten wir beobachten, wie diese gesteigerte internationale Konkurrenz auch zu völlig irrationalen Erscheinungen führte. Die britische Bourgeoisie ist in sich so zerstritten, dass selbst die regierende konservative Partei zum Thema „Brexit“ tief gespalten ist und so Teile von ihr für eine Entscheidung mobilisiert haben, die im direkten Widerspruch zu den Hauptinteressen des britischen Imperialismus standen/stehen. Der britische Imperialismus ist eine der führenden Ökonomien Europas, der freie Zugang zum Binnenmarkt eine wichtige Stütze der imperialistischen Ambitionen Großbritanniens. Durch die starke militärische Position und die Rolle von London als Finanzzentrum konnte Großbritannien sogar ein Gegengewicht zur „Achse“ Berlin-Paris darstellen, in Opposition zu den Euroraum-Führungskräften.

Die gegenseitige Durchdringung im Binnenmarkt der EU hat zwar dem britischen Finanzkapital genützt, aber ein großer Teil der britischen Industrie wie auch des Dienstleistungs- und Handelssektors kam unter die Räder. So wurde z. B. die britische Autoindustrie durch die deutsche Konkurrenz überrollt und ausgeschlachtet. Die Krise 2007/08 hat speziell HauseigentümerInnen aus der ArbeiterInnenklasse und den unteren Mittelschichten massiv getroffen. Und aus diesem Spektrum (traditionell eher Labour-Klientel) stammte viel Unterstützung für den Brexit. Teile der britischen Bourgeoisie sehen für sich in der EU keine Zukunft bzw. als RepräsentantInnen derjenigen Schichten der britischen Gesellschaft, die durch den Binnenmarkt verloren haben, speziell gegenüber der deutschen Konkurrenz.

Und so muss die Hauptpartei des britischen Imperialismus, die Tory-Partei (Conservatives), einen EU-Austritt verhandeln, der zutiefst den objektiven Interessen und Anforderungen gerade des global aufgestellten britischen Finanzkapitals widerspricht. Die rechtspopulistische Partei UKIP wurde durch die Gegnerschaft zur EU bei den Europawahlen 2014 mit 27,5 % stärkste britische Partei. Nach dem Erfolg beim Brexit ging deren Stern allerdings schrittweise unter. Bei den Unterhauswahlen 2015 sorgte noch das undemokratische britische Mehrheitswahlrecht dafür, dass UKIP mit 12,6 % der Stimmen nur einen direkten Abgeordneten besaß. Weitere Mandate kamen erst durch „Überläufer“ von den Tories zustande. Bei den vorgezogenen Wahlen 2017 bekam UKIP dann nur noch 1,8 % und ist in der Folge in eine tiefen Krise geschlittert. Die kurzfristige Mobilisierung von Millionen WählerInnen gegen die EU sorgte für einen tiefen Riss im britischen Bürgertum, führte aber nicht dazu, dass UKIP sich als Alternative zu den etablierten bürgerlichen Parteien stabilisieren konnte. Ihre WählerInnen sahen ihre Zielsetzungen durch den Sieg beim Brexit-Referendum umgesetzt wie auch durch den Rauswurf des amtierenden „Pro EU“-Regierungschefs David Cameron. Seither sammelt sich die nationalistische Fraktion eher bei den „hard brexiteers“ innerhalb der Tories.

Die Krisenhaftigkeit der britischen Bourgeoisie ist nur ein Beispiel für die der EU. Haben wir vorhin die zugespitzte Lage der globalen imperialistischen Fraktionen erwähnt, so findet das Gleiche in verschärfter Form in der EU in kleinerem Maßstab statt. Nur ist dort die Frage entschieden, welcher „Block“ führt – es ist der deutsch-französische, der seit der Euro-Einführung den Kontinent ökonomisch und politisch bestimmt. Jeglicher Aufstieg nationaler Bourgeoisien wie auch jede mögliche Krise der nationalen Kapitalistenklassen wird vom Verhältnis zum führenden EU-Block bestimmt. Diese Abhängigkeit hat sich in 17 Jahren Binnenmarkt, Euro-Raum und EU-Bürokratie weiter verschärft und bringt die Widersprüche zu den Ansprüchen der EU immer deutlicher an die Oberfläche.

In den sog. „Krisenländern“, anfänglich auch als „PIIGS“ Staaten bezeichnet (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien), hat die Austeritätspolitik des herrschenden EU-Blocks zu Massenarbeitslosigkeit und einer breiten Verarmung von ArbeiterInnenklasse und kleinbürgerlichen Schichten geführt. Aber deren Folgen sind nicht allein auf diese begrenzt. So sind sie auch nicht die Hauptbetroffenen des allgemeinen Rechtsrucks. Sie sind allerdings Beispiele für die Krisenpolitik des deutschen Imperialismus und der EU-Kommission gegenüber den unterworfenen Ökonomien. Daher gerät das politische Gefüge der EU in der gegenwärtigen Krisenperiode besonders unter Beschuss. Die offen bürgerlichen Parteien wie auch die sozialdemokratisch geprägten bürgerlichen ArbeiterInnenparteien konnten als Regierungsparteien zwar das jeweilige Finanzkapital retten, dies aber nur auf Kosten des Lebensstandards und der sozialen Perspektive breiterer Massen.

Die Versprechungen der EU, ein Hort an Demokratie, Gerechtigkeit und sozialen Aufstiegs zu sein, sind offensichtlich in den letzten Jahren geplatzt. Die ArbeiterInnen des Kontinents werden in Standortkonkurrenz gegeneinander getrieben in einen Unterbietungswettbewerb, bei dem jegliche Mindeststandards untergraben werden. Die gesammelte junge Generation des Euroraums wird in Prekarität und Mindestlöhnen gehalten. Auch kleinbürgerliche Schichten, die sog. „Mittelschichten“, werden nicht mehr vor sozialem Abstieg und verschärfter Konkurrenz geschützt. Dies ist auch die Erklärung dafür, warum in der EU der Rechtsruck vermehrter auftritt bzw. hier die vormals wohl gefügte politische Ordnung immer mehr aus den „Fugen“ gerät. Die ökonomische Krise wirkte hier auf einen gemeinsamen Währungsraum und Binnenmarkt, der sehr unterschiedliche bürgerliche Fraktionen beinhaltet, die nun in der Krise vermehrt zur nationalen Politik zurückkehren wollen oder zumindest dies ihrem „Volk“ versprechen. Daher ist diese „Neuaufspaltung“ bürgerlicher Interessen auch besonders ausgeprägt in der EU: Diese rechten Formierungen stellen sich auf, um „ihr“ nationales Kapital vor der Beherrschung durch die EU, d. h. von Deutschland und Frankreich, deren herrschende Klassen selbst von tiefen inneren Gegensätzen geprägt sind, zu schützen – und befeuern damit den immer schärferen Widerspruch zur EU und bereiten so den Boden für deren mögliche Implosion.

Gleichzeitig wird die Austeritätspolitik vom Rechtspopulismus benutzt, um die mangelnde nationale Souveränität zu beklagen wie auch alle schlechten Auswirkungen der EU zuzuschreiben bzw. dies auch als Machenschaft der EU gegen den jeweiligen Nationalstaat darzustellen. Es ist zumeist keine Kritik an den Kürzungen an sich, sondern der Vorwurf, dass diese von „außen“ diktiert würden.

Die Festung Europa implodiert 2015

Mit den sog. „Dublin“-Abkommen hatte die EU bis 2015 die Frage von Flucht und Migration „geregelt“. Das hieß, dass die sog. „Aufnahmestaaten“ auch verantwortlich für Asylantrag und möglichen weiteren Aufenthalt sind. Damit konnten alle Staaten außerhalb des Mittelmeerraums diese Problematik an die „EU-Außengrenzen“ abschieben. Als hauptsächlich syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aus der Türkei über die sog. „Balkanroute“ in die EU kamen, zerbrach die rassistische EU-Politik an der Realität. Die Geflüchteten nahmen sich die „offenen Grenzen“, bis sie in Ungarn verhaftet und schikaniert wurden. Österreich und die BRD ließen sie dann größtenteils nach Deutschland einreisen. Wenn eben nicht allein das Kapital die offenen Grenzen nutzt, dann kann sogar die rassistische EU-Grenz -und Außenpolitik innerhalb von Wochen in sich zusammenbrechen.

Leider gab es keine internationalistische und solidarische Mobilisierung der europäischen ArbeiterInnenklasse, um die Geflüchteten als Teil ihrer Klasse und ihrer Kämpfe in Empfang zu nehmen. Dies wurde meist der „zivilgesellschaftlichen Willkommenskultur“ überlassen, wobei jedoch gerade dort, bei den Ehrenamtlichen, den Vereinen etc., viel proletarisches und linkes Engagement bis heute wirkt. Diese „Individualisierung“ der Solidarität führte andererseits zur Unterordnung unter die Migrationsagenturen des bürgerlichen Staates.

Auf der anderen Seite wurde dieses einmalige Ereignis der offenen Grenzen in der akuten Notsituation für die rechtspopulistischen AkteurInnen zur Vorlage für ihren Aufstieg. Vorwürfe des „Staatsversagens“, des „Kontrollverlusts“, der Unfähigkeit der Regierung beim Grenzschutz, paarten sich mit Rassismus verschiedenster Couleur gegenüber den Geflüchteten. Den vor dem real existierenden Dschihadismus geflohenen syrischen Flüchtlingen wurde eben diese Gesinnung unterstellt und als Motiv für ihre Einreise deren Plan, den Terror nach Europa bringen zu wollen, konstruiert. Rassismus, allgemeine Paranoia und historische Demenz führten bei der damaligen „Menschenrechtsbeauftragten“ Steinbach (CDU) zu der Aussage, dass „die Syrer, anstelle in Cafés in Berlin zu hocken, doch lieber ihre Heimat verteidigen sollten“. Ob sie das als ehemalige Vorsitzende der Vertriebenenverbände auch dort vorgeschlagen hätte, ist fraglich.

Beatrix von Storch forderte gar den Schießbefehl an der Grenze. Ministerpräsident Viktor Orbán sah die UngarInnen einer weltweiten Verschwörung ausgesetzt, die den „christlichen Charakter“ Ungarns mithilfe muslimischer Einwanderung vernichten wolle. Seit 2015 haben Rassismus, Populismus, Irrationalismus, Angst, Hetze die Gesellschaften Europas massiv verändert.

Die Zuspitzung der Fluchtbewegung nach Europa rund um den Syrienkrieg um 2015 wurde von den sowieso schon im Aufwind befindlichen rechtspopulistischen AkteurInnen sofort benutzt, um seither auf einer Welle von Legenden, Fake-News und Verdrehungen zu schwimmen. Die „Linke“ und die ArbeiterInnenbewegung waren entweder linkes Feigenblatt für Merkels scheinbare Willkommenskultur oder betätigten sich als „SupporterInnen“ der Geflüchteten. Eigenständig als Klasse gegen Rechtsruck und Regierung haben „wir“ jedoch nichts hinbekommen seit 2015. Dies ist ein Grund, warum rechtspopulistische Parteien gerade auch innerhalb der ArbeiterInnenklasse Wahlerfolge feiern und tief in diese WählerInnenmilieus eindringen konnten.

Spektren des Rechtsrucks

Wir können und wollen hier keinen vollständigen empirischen Überblick über die verschiedenen rechten Parteien und AkteurInnen geben, sondern versuchen zu sortieren. Nicht selten werden viele schnell als „Nazis“ oder „faschistisch“ bezeichnet, auch wenn es diese Parteien wie beispielsweise die AfD noch nicht sind. Die rechtspopulistischen Formationen so zu brandmarken, mag zwar von der Absicht getragen sein, die Gefahr zu unterstreichen, die von diesen ausgeht – eine falsche Charakterisierung verkennt aber die Besonderheit des Rechtspopulismus im Unterschied zum Faschismus und führt notwendigerweise zu strategischen wie taktischen Fehlern. Im folgenden wollen wir die einzelnen Spektren des Rechtspopulismus, ihre Funktion und Rolle betrachten.

Wir gehen im Wesentlichen von einer Dreiteilung aus. Ausgangspunkt der ersten Gruppe sind demnach konservative Parteien, welche sich in dieser Krise nach rechts entwickeln, damit auch den Bewegungsraum für weiter rechts stehende AkteurInnen öffnen, aber zunächst ihren Hintergrund in der Gruppe der konservativen „Volksparteien“ haben.

Die zweite Gruppierung sind die „etablierten“ Parteien des Rechtspopulismus, die aktuell im Aufwind sind.

Die dritte Gruppierung sind die offen faschistischen militanten Organisationen, auch wenn sie sich teilweise als faschistische Frontorganisationen (Gruppierungen mit eine Führungskern von organisierten Nazis, aber mit scheinbarer Offenheit für „gemäßigte“ MitstreiterInnen) tarnen. Diese unterscheiden sich deutlich von den beiden erstgenannten. Die Bezeichnung „Nazi“ ist für sie angemessen bzw. demgemäß muss auch die Taktik ihnen gegenüber ausgerichtet sein.

Abschließend werden wir anhand der neurechten Konzepte von „Reconquista“ und „Ethnopluralismus“ darstellen, wie sehr es ideologisch „fließende“ Grenzen zwischen diesen Gruppierungen gibt bzw. dort Übergänge von national-konservativ bis hin zum faschistischen Weltbild vorhanden sind.

Wie weit rechts geht konservativ?

Auch vor dem „Rechtsruck“ gab es verschiedene politische AkteurInnen die, „rechte“, d. h. rassistische, nationalistische und sexistische Politik verbreitet haben, die großteils aus den verschiedenen „normalen“ konservativen Parteien aus dem „bürgerlichen Spektrum“ kamen. In vielerlei Hinsicht sind diese konservativen „Volksparteien“ ein Spiegel der verschiedenen Interessen der herrschenden Klasse und des Kleinbürgertums und müssen daher auch in Krisenzeiten deren Rechtstendenzen aufnehmen können. Gegenüber der CDU-Vorsitzenden Merkel wurde aus der nationalistischen Presse („Junge Freiheit“) der Vorwurf erhoben, dass sie die „Sozialdemokratisierung“ der Union betreiben, die konservative Volkspartei gewissermaßen ins „linke“ Lager transformieren würde. Dies ist bis heute eine Begründung für Mitglieder der Union, diese zu verlassen und sich der AfD anzuschließen. Zuletzt etwa prominent zu sehen bei der ehemaligen Vorsitzenden des „Bundes der Vertriebenen“ Steinbach. Als „Sozialdemokratisierung“ gilt z. B. die Einführung des Mindestlohns, die Abschaffung der Wehrpflicht, das „Bekenntnis“, dass der „Islam zu Deutschland gehöre“, oder die Freigabe der Abstimmung zur gleichgeschlechtlichen Ehe.

Als Reaktion versuchen jetzt speziell die CSU oder auch potentielle Merkel-NachfolgerInnen wie Spahn, die Union wieder nach rechts zu schieben. CSU-Landesgruppenchef Dobrindt gab gar das Ziel einer „konservativen Revolution“ aus. Dass er sich mit diesem Kampfbegriff der Weimarer Republik etwas vergaloppiert hatte, wurde in verschiedenen Interviews deutlich. Zumindest war es ihm nicht möglich zu erklären, was denn in Deutschland einer konservativen Restauration bedürfe – für die Wiedereinführung der Monarchie hat Dobrindt jedenfalls keine Argumente gebracht.

Bei der Union wäre sicherlich der Mindestlohn das erste Opfer einer konservativen Rückbesinnung. Schließlich kämen dabei die Interessen der aktuell unter Druck stehenden kleinbürgerlichen Schichten am deutlichsten zum Ausdruck. Denn 2013 waren ja ganze Sektoren (FrisörInnen, TaxifahrerInnen, BäckerInnen usw.) der Meinung, dass sie nun knapp vor dem Bankrott stünden, weil der Mindestlohn zu hoch sei oder die Arbeitserfassungsbögen zu viel bürokratischen Aufwand erzeugen würden. Gerade von kleinen und mittleren Unternehmern/Selbstständigen ist dies ein wichtiges Anliegen, das sie von der Union einfordern.

Solche Themen können sogar Bewegungen außerhalb der konservativen Parteien mobilisieren, welche dann auch das Kräfteverhältnis innerhalb dieser Parteien nachhaltig ändern. Die „Tea Party“-Bewegung wurde hauptsächlich gegen die Krankenversicherung Obamas gegründet, wobei die Milliardärsbrüder Koch die Starthilfe gaben und gegen die staatliche „Bevormundung“ wetterten, die vor allem die gutverdienenden Mittelschichten zur Kasse bat, um eine Versicherung für alle zu ermöglichen. Als Teil davon (alles über 50.000 US-Dollar pro Jahr) waren diese US-AmerikanerInnen zumeist über ihre Firma krankenversichert. Je höher das Einkommen, desto besser meistens die Versicherungsleistung, war die Devise. Diese gutverdienenden Mittelschichten mussten eine Art „Solidarzuschlag“ für die schlechter verdienenden Einkommensgruppen leisten. Dies wurde von der Tea Party und ihrem frühen Unterstützer Trump als Schritt Richtung Sozialismus gewertet, als Bedrohung für die „Freiheit“ durch einen „überbordenden“ Staat.

Hinter dieser Strömung – die Koch-Brüder unterstützten 2012 auch den hyperliberalen republikanischen Präsidentschaftsbewerber Ron Paul – steht das Ziel eines „libertären“ Staates. Im US-amerikanischen Sprachgebrauch hat dies nichts mit Anarchismus zu tun, sondern mit der kompletten Zerschlagung der öffentlichen Unternehmen und Infrastruktur. Dies ist verwandt mit dem Ideal des „Nachtwächterstaates“, dem klassischen Leitbild der liberalen Schule, bei dem der Staat auf die Gewaltorgane (Polizei und Armee) beschränkt bleiben soll, während die restlichen Staatsfunktionen vom privaten Kapital besser erfüllt werden könnten. Zumindest rhetorisch richteten sich die britischen Tories unter Margaret Thatcher nach diesem Idealbild. Sie ist bis heute ein Vorbild für Privatisierung im großen Stil, rücksichtslose Bekämpfung von Gewerkschaften und drastischen Abbau des Sozialstaates.

Die „Tea Party“-Bewegung war ein Startpunkt für eine massive Veränderung der US–RepublikanerInnen, die bis heute andauert und den Charakter der Partei stark gewandelt hat. Steuersenkungen sind derzeit noch die verbindenden Ziele der Trump-Administration mit den traditionellen parlamentarischen RepublikanerInnen in Repräsentantenhaus und Senat. Im Gegensatz dazu steht der beginnende Handelskrieg, die aggressive unilaterale Ausrichtung und das Engagement von Tea Party und der „Alt-Right“-Bewegung in der Partei gegen die „liberalen“ Elemente. Hier findet ein Richtungskampf statt, der nun auch von oben – vom Präsidenten Trump – befeuert wird. Dies wird z. B. dadurch deutlich, dass viele Gesetze erst gar nicht den Weg in die Parlamente finden, sondern von ihm per Dekret durchgesetzt werden, was oft mit einer entsprechenden Massenmobilisierung und Unter-Druck-Setzen der ParlamentarierInnen verbunden wird.

Umbau der Demokratie – am Beispiel von Fidesz und PiS

In Ungarn und Polen sind die national-konservativen Kräfte in den Regierungsparteien die hauptsächlichen Trägerinnen eines gesellschaftlichen Rechtsrucks geworden. Die Fidesz von Ministerpräsident Orbán, die seit 2006 regiert, kann auch als „revanchistische“ Kraft bezeichnet werden. Sie will offen die Revision der Verträge von Trianon (von 1920, der dem Versailler Vertrag entsprechende Friedensvertrag des ungarischen Reichsteils des Habsburgerreiches) und hält damit die Ansprüche aus dem Ende der k. u. k. Doppelmonarchie aufrecht (d. h. Gebietsansprüche auf große Teile Rumäniens, der Ukraine, der Slowakei und Serbiens). Begriffe wie „Großungarn“ und offene Ansprüche, vor allem gegenüber Rumänien und Serbien, sind neben dem grundlegenden „Antikommunismus“ die dominierenden Kräfte dieser Mitgliedspartei der EVP (Europäische Volkspartei), der EU-Schwesterpartei von CDU/CSU und ÖVP.

Damit einher geht ein „autoritärer“ Staatsumbau, welcher vor allem gegen die konkurrierende sozialdemokratische MSZP (Ungarische Sozialistische Partei) durchgesetzt wurde. Von „antikommunistischen“ Gesetzen ausgehend, die z. B. den roten Stern als politisches Symbol verbieten, wurde der gesamte öffentliche Sektor politisch „gesäubert“. In den staatlichen Medien, in den Gerichten, in den verbleibenden öffentlichen Unternehmen wurde die „Gesinnungstreue“ zu Orbán zum Einstellungskriterium, wie auch unliebsame KritikerInnen aus den Medien strafrechtlich verfolgt wurden. Der Tatvorwurf bei zu deutlicher Kritik an der Regierung lautet: „anti-ungarisches“ Verhalten, Schädigung der nationalen Interessen – so wird die sog. „öffentliche Meinung“ auf Staatslinie gebracht.

Gleichzeitig zeigt das Orbán-Regime gewisse kleptokratische Züge: Von der Privatisierung öffentlicher Unternehmen profitieren Familienmitglieder der Fidesz-Führung und/oder dieser nahestehender Bourgeois-Clans. Dies führt auch zu Korruptionsfällen, deren Aufdeckung das Regime durch die gleichgeschaltete Presse nicht zu fürchten braucht. Die öffentlichen Leistungen wurden gekürzt, so wie auch die Arbeitslosenunterstützung fast nur noch auf dem Papier existent ist. Trotz dieser deutlich neoliberalen Politik fährt die Regierung einen „national-protektionistischen“ Kurs, z. B. was den Verkauf öffentlicher Unternehmen angeht. So gelten die EU wie das „Finanzkapital“ oder auch die Soros-Stiftung, die nun nicht mehr in Ungarn beheimatet ist, als „Hauptübel“ gegenüber den nationalen Interessen vor allem des Bürgertums, das hinter Orbán steht. Investitionen des keine politischen Fragen stellenden deutschen Industriekapitals sind dagegen gerne gesehen (und für die ungarische Ökonomie und das Orbán-Regime tatsächlich lebenswichtig).

Im Zusammenspiel mit der nationalistischen und rassistischen Jobbik-Partei sind in Ungarn Antisemitismus und krude Theorien der „Umvolkung“ jetzt gesellschaftlicher „Mainstream“. Laut diesen „Theorien“ steht Multimilliardär Soros hinter der „Flüchtlingswelle“ von 2015, mit dem Ziel, das Projekt „Groß-Ungarn“ zu vereiteln und eine „Umvolkung“, also Ersetzung des ungarischen Staatsvolkes, einzuleiten. Auch wenn die Jobbik heute nicht mehr die behördliche Kennzeichnung von in Ungarn lebenden JüdInnen fordert, so bleibt sie eine zutiefst rassistische, antisemitische und antiziganistische Bewegung, die wesentlicher Bestandteil des Rechtsrucks in Ungarn ist.

Ähnliches vollzieht die PiS-Regierung in Polen. Auch sie konnte sich als Vorkämpferin gegen Kommunismus und EU profilieren – eine „verhängnisvolle“ Mischung, die Kennzeichen aller osteuropäischen RechtspopulistInnen ist. Dabei wird rhetorisch oftmals die EU in Brüssel mit der „Fremdbestimmung“ durch Moskau im „Kalten Krieg“ gleichgesetzt. Diese konservativen Parteien stellen sich somit dar in der Rolle als „Vorkämpferinnen“ für die nationalen Interessen, ein äußerst widersprüchliches Verständnis angesichts der tatsächlich verteidigten Kapitalinteressen. Auf der einen Seite ist auch der polnische Kapitalismus abhängig von Investitionen und Marktzugang aus dem EU-Raum. Allerdings trifft dieser in der EU auf stärkere, imperialistische PartnerInnen, die ihre Position gegenüber den osteuropäischen Staaten ausnutzen und dort Extraprofite erzielen wollen. Dementsprechend gehen dortige bourgeoise Parteien „natürlicher“ in eine rechtsnationale Richtung, da dahinter letztlich deren ökonomische Interessen stehen. Diese Ökonomien fungieren derzeit als „verlängerte Werkbank“ des westeuropäischen Industriekapitals wie auch als Absatzmärkte – jegliche ökonomische Unabhängigkeit des polnischen Kapitals muss damit gegen die herrschenden imperialistischen Kapitalfraktionen durchgesetzt werden, für die symbolisch „Brüssel“ steht.

Die PiS spiegelt sehr anschaulich einen „Grenzfall“ zwischen national-konservativen und rechtspopulistischen Elementen wider. Zum einen war sie klassisch als „Law and Order“-Partei aus Versatzstücken verschiedener bürgerlich-konservativer Parteien gegründet worden, um unter dem Regime der Kaczynski-Zwillinge „neue“ eher rechtspopulistische Schwerpunkte zu entwickeln. Die PiS gehörte nie zur EVP, sondern orientierte sich stets auf die euroskeptischen Kräfte wie den Block um die britischen Tories und die tschechische ODS (Demokratische Bürgerpartei), die sog. „AKRE“ (Allianz der Konservativen und Reformer in Europa).

In „ihrer“ Volk-Elite-Einteilung sieht die PiS das polnische Volk von transnationalen Eliten in Brüssel, Berlin und Moskau bedroht, die den polnischen Staatsapparat übernommen gehabt haben sollen. Überall witterte die PiS ehemalige Mitarbeiter des stalinistischen Geheimdienstes SB (Sicherheitsdienst; sogar über Lech Walesa wird dies verbreitet).

Als Sinnbild spezielles Feindbild dieser „kosmopolitischen“ Eliten, welche allesamt die polnische Kultur verhökern wollen, sieht man bis heute den ehemaligen Ministerpräsidenten der Bürgerplattform und aktuellen EU-Repräsentanten Donald Tusk.

Seit ihrer 2. Regierung (seit 2015) wiederholt die PiS de facto die Politik Orbáns gegenüber den staatlichen Medien, der Justiz und in der Kooperation mit der „extremen“ Rechten. Während die öffentlichen Medien personell „gesäubert“ wurden, ist aktuell der Justizapparat dran. Jede/r, die/der im Verdacht steht, der Bürgerplattform nahezustehen, soll ihren/seinen Einfluss verlieren. In der Wirtschaftspolitik folgt man klassischer neoliberaler Doktrin, z. B. bei der Senkung der Körperschaftssteuer auf 15 % oder der speziellen Förderung der KleinunternehmerInnen.

Gegenüber der offen katholisch-faschistischen Szene, welche z. B. bei militanten nationalistischen Milizen und bei den Fußball-Hooligans sehr aktiv ist, pflegt die PiS einen offenen, tolerierenden Umgang. Beim jährlichen Unabhängigkeitstag am 11. November unterstützt die PiS de facto den Aufmarsch der faschistischen Rechten, die dann gegenüber Russland, der EU, Juden/Jüdinnen, Sinti und Roma, Geflüchteten und dem Islam ihrer Hetze freien Lauf lassen darf. Dies geht einher mit einer offen sexistischen, trans-feindlichen Politik, welche sich auf reaktionäre katholische Ideologien stützt und damit als „Brücke“ zur faschistischen Szene Polens dient.

Beginnender Bonapartismus

Der wesentliche Zweck dieser rechtsnationalistischen Kräfte an der Regierung ist es, Kapitalinteressen in einer immer autoritärer werdenden Form durchzusetzen und dies unter dem Anschein einer über den Klassen stehenden Politik unter einer/s großen Vertreter/in/s des „wirklichen Volkes“ – eine Form der Politik, für die der Marxismus den Begriff des „Bonapartismus“ verwendet (die historischen Hintergründe in der Gestalt des Louis Bonaparte werden wir später genauer ausführen).

Am Primat der kapitalistischen Politik ändert sich nichts, allerdings mit stärkerer „nationaler“ Ausrichtung. Häufig gilt das „transnationale“ Kapital als etwas nicht zu Kontrollierendes, was von „außen“ gegen die Interessen der Nation handeln will. Stattdessen wird das nationale Kapital massiv gefördert, natürlich auch mit dem Ziel, dass dies im Ausland erfolgreich ist, Marktanteile erobert etc. Dies ist letztlich auch Ausdruck einer „verspäteten“ kapitalistischen Entwicklung: Das nationale Kapital will/muss sich gegen die internationale, europäische Konkurrenz schützen, will selbst eine vergleichbare Position erreichen. Das geht an sich nur über Abschottung der Märkte – dieser Widerspruch ist Teil des „Rechtsrucks“ innerhalb der osteuropäischen EU-Staaten.

Nach innen werden Nationalismus, Rassismus, stellenweise Antisemitismus, anti-muslimischer Rassismus zur Staatsideologie. Was den Kampf für die nationalen Interessen angeht, werden aber große, tatsächlich lebenswichtige Investitionen des EU-Großkapitals in keinster Weise angegriffen oder behindert – im Gegenteil. So sind es zumeist einheimische bürgerliche KonkurrentInnen, die angeblich die Nation an das „transnationale“ Kapital verraten, als „Elite“ den „korrupten“ Staat für sich vereinnahmen, das Volk an und für sich verraten und nur ihren eigenen Nutzen zum Ziel haben. So stellt die PiS die Bürgerplattform von Tusk und mit ihr verbundene Kapitale oder auch Orbán die „sozialdemokratische“ MSZP stets als „SachwalterInnen“ des Kommunismus dar. Statt tatsächlich EU-Kapital zu bekämpfen, verwenden diese NationalistInnen ihre Hetze vor allem zur Bereicherung bestimmter Teile der jeweiligen Bourgeoisie auf Kosten von ArbeiterInnenklasse und anderen Teilen der eigenen Bourgeoisie.

Diese Formationen stützen sich auf militante rechtere oder gar faschistische Bewegungen, solange diese benötigt werden. Sie haben keinerlei Ambitionen, die Macht an sie zu verlieren: Werden diese zu stark, kann es ihnen ergehen wie dem „Rechten Sektor“ in der Ukraine, welcher im Kampf gegen das alte Regime zu „Ehre“ und Posten kam. Als aber sein Einfluss zu groß wurde, starben wichtige Führungspersonen (z. B. der Polizeichef von Kiew) und die Organisation wurde kriminalisiert. Die Unterstützung dieser „Fußtruppen“ ist aber elementar für den Kampf zur Machtsicherung, zumindest in einer ersten Phase. Für die Angriffe auf die Rechte der ArbeiterInnenbewegung, für die Zerschlagung ihrer Organisationen, Parteien etc., für den Straßenkampf gegen jegliche linke oder liberale Gegenwehr, für den Kampf gegen alle MigrantInnen – dafür gibt es das mittelfristige Zweckbündnis. Dafür beginnt auch der „Staatsumbau“, mit dem Zweck, den Staat um autoritäre und bonapartistische Elemente zu verstärken. Dies ist allerdings auch Bestandteil von neoliberalen PopulistInnen wie dem französischen Präsidenten Macron. Gewisse Kapitalgruppen sehen den gewöhnlichen bürgerlichen Staat nicht mehr in der Lage, solche „Reformen“ zu erzielen, wie es der „eisernen Lady“ einst noch möglich war. Dies wird häufig durch das Regieren per „Dekret“, also per präsidialer Verfügung gewährleistet. Die Legislative verliert dabei an Einfluss und Entscheidungsmacht, während die Exekutive weiter gestärkt wird.

Der Staat wandelt sich und bestimmt neu, was denn „rechtens“ ist, welche Meinung noch konform ist und welche nicht, was „unpatriotisch“ ist oder nicht, und auf welcher „Seite“ man zu stehen hat.

Für diesen Umbau sind national-konservative und rechtspopulistische Parteien bis hin zu offen nationalistisch-faschistischen Gruppierungen die „geeigneten“ AkteurInnen. Wenn man so will, kommt die „westliche“ Demokratie nach „ihrem Sieg“ Anfang der 1990er Jahre nun auch zu ihrem gerechten Ende – sie wird als Hülle der Kapitalherrschaft nicht mehr gebraucht.

Rechtspopulistische nationalistische Formationen

Ein zweiter starker Flügel des aktuellen Rechtspopulismus ist der nationalistische Flügel, der aus national-konservativen Strömungen in Bourgeoisie und Kleinbürgertum, oft als nationalistische „Alternative“ zu den etablierten konservativen Parteien, entstanden ist. Diese Formationen finden wir eher im „westlichen“ Europa.

Hierunter würden wir Parteien wie die FPÖ (Österreich), den FN (Frankreich) und die Lega (Italien) sortieren, wie auch die Entwicklung der AfD seit 2015 sie eher diesem Spektrum zuweist.

Bei diesen Parteien sind Nationalismus und Rassismus, bei der Lega auch Separatismus, Gründungsmomente gewesen, indem sie sich von Beginn an als „nationale Alternative“ präsentierten. Auch in dieser Kategorie sind Gemeinsamkeiten mit der offen faschistischen Szene vorhanden bzw. gibt es personelle Überschneidungen in der Mitgliedschaft zu faschistischen Organisationen.

Die FPÖ hat durch ihre Regierungsbeteiligung gleich mehrere Bespiele ihres widersprüchlichen Charakters geliefert. Einerseits hat sie, ohne mit der Wimper zu zucken, zum Zweck der Regierungsbeteiligung eines der Kernelemente rechtspopulistischer Mobilisierung, das sie auch verwendet hatte, aufgegeben. Als Juniorkoalitionspartnerin war keine Rede mehr davon, dass man ein Plebiszit für den Austritt aus der EU anstreben würde. Offenbar ist diese sonst so „völkische“ Partei doch mehr an den elementaren Interessen der österreichischen Bourgeoisie orientiert, als sie es in ihrer Propaganda darstellt. Ebenso waren die „Sozialreformen“ wie insbesondere die Erhöhung der Arbeitszeitobergrenzen wohl auch nicht so sehr am Interesse der „kleinen Leute“ orientiert. Dagegen hat man mit der Durchsuchung der Räumlichkeiten des Verfassungsschutzes, bei der „zufällig“ auch die Akten über die Verbindungen der Nazi-Szene mit der FPÖ mit verbracht wurden, gezeigt, was von solchen Parteien in Bezug auf „Rechts“-Staatlichkeit zu erwarten ist.

Sie stehen in Konkurrenz mit den traditionellen konservativen Volksparteien, welche zumeist auch das Kleinbürgertum repräsentieren und das Großkapital politisch vertreten. Entscheidender Punkt ist, inwieweit sie sich den strategischen Erfordernissen des Großkapitals unterordnen und dadurch auch gewisse „populistische“ Elemente und Forderungen aufgeben. Dieser entscheidet letztlich auch darüber, inwieweit die traditionellen konservativen Parteien für eine gemeinsame Regierung zur Verfügung stehen.

Innerhalb dieser nationalistischen rechtspopulistischen Parteien existiert ein Widerspruch zwischen dem Anspruch, die konservativen Parteien zu „überholen“, und sich gleichzeitig diesen als Koalitionspartnerin anzubieten. Dies kann auch immer eine Bruchstelle für diese Parteien sein. Bei der AfD äußerte sich etwa in den Aussagen von Weidel („2021 sitzen wir auf der Regierungsbank“) und Tillschneider aus Sachsen-Anhalt („Unser Ziel ist die Machtübernahme“), dass hier weiterhin verschiedene Kräfte wirken (der Begriff der „Machtübernahme“ lässt nicht allein auf Regierungskoalitionen schließen).

Italiens neue Regierung – Lega und 5-Sterne-Bewegung

Die italienische Lega war einige Legislaturperioden in einem Wahlbündnis mit Forza Italia (Vorwärts Italien), der Wahlplattform von Berlusconi, und hat es bei diesen Parlamentswahlen geschafft, diese zu überholen. Das lag sicherlich auch daran, dass die Lega den Separatismus aus dem Parteiprogramm vor Wahlantritt strich (Umbenennung von „Lega Nord“ in einfach nur noch „Lega“) und auch den „internen“ Rassismus gegenüber den SüditalienerInnen abschwächte. Jetzt sind die Geflüchteten, speziell die afrikanischen und die EU die angeblichen gemeinsamen GegnerInnen aller ItalienerInnen. Auch hier wieder wird mit dem Austritt aus der EU eher gedroht, vor allem für den Fall, dass die EU nicht auf die Forderungen der Lega eingeht.

Gemeinsam mit der Alleanza Nationale (AN; dt.: Nationale Allianz) und kleineren faschistischen Parteien wie der CasaPound (CPI) hat dieser „Flügel“ in Italien die traditionellen konservativen Parteien und Bündnisse hinter sich gelassen. Dies ist zwar eine Momentaufnahme, aber auch eine entscheidende für die aktuellen Kräfteverhältnisse in Italien. Sollte das politische und physische Ende von Berlusconi jemals kommen, wird ein „klassischer“ Vertreter des italienischen Großkapitals verschwinden und Lega und Co. als „ErbInnen“ bereit stehen.

Die Regierung von Lega und 5-Sterne-Bewegung hat schnell von sich reden gemacht. Die komplette Umsetzung der rassistischen Lega-Politik, die Abweisung von Rettungsschiffen und die Versuche, das EU-„Festungsregime“ weiter zu verschärfen, sind die bekannten Merkmale. Inzwischen haben rassistische AttentäterInnen Geflüchtete auf offener Straße hingerichtet und dabei den Namen ihres Helden, Lega-Chefs und Innenministers Salvini skandiert.

Als gemeinsames Handeln gab es zunächst eine neoliberale Steuerreform fürs Großkapital und Kleinbürgertum – da waren sich die PopulistInnen unterschiedlicher Couleur sofort einig. Die Rücknahme der „Rentenreform“ der Vorgängerregierung unter der PD (Demokratische Partei) wie auch ein kaum als solches wahrnehmbares „Bürgereinkommen“ stehen dagegen unter dem Vorbehalt, dass sie jederzeit in den Budgetauseinandersetzungen mit der EU wieder zurückgenommen werden könnten.

Was die gesamtkapitalistische Strategie angeht, versucht die Regierung, eine Umschuldung bei EU und EZB für die 250 Mrd. Euro Schulden zu erwirken, deren (zumindest teilweise) Durchsetzung zum entscheidenden Test für die Brauchbarkeit dieser Regierung für das italienische Kapital sein wird.

Fest steht, dass wir nun zwei weitere offen rassistische Regierungen in der EU haben, welche den Rechtsruck, den staatlichen wie „außerparlamentarischen“ Rassismus weiter befeuern werden.

Der Front National heißt jetzt Nationale Versammlung

Im Verhältnis zum konservativen, in Frankreich meist als „gaullistisch“ bezeichneten Parteienspektrum, hatte der „alte FN“ gewissermaßen den Status eines Parias (kastenlose InderIn, AusgestoßeneR) erreicht. Es war der Parteigründer Jean-Marie Le Pen, der den FN als rassistische, antisemitische Kraft etabliert hatte und mit der positiven Bezugnahme auf das mit den Nazis kooperierende Regime des Marschall Pétain gerade gegen den gaullistischen, republikanischen Konsens des Nachkriegs-Frankreich verstieß. Dies führte dazu, dass quasi alle anderen Parteien eine Front gegen den FN bildeten und mit dem französischen Mehrheitswahlrecht dafür sorgten, dass er trotz aller erfolgreichen Wahlen meist nur einstellig in der Nationalversammlung repräsentiert war, sich also die anderen Parteien auf KandidatInnen gegen den FN einigten (mindestens in zweiten Wahlgängen). Der FN hatte in den 1970/80er Jahren enge Beziehungen zu faschistischen Schlägertrupps, unterstützte meistens direkt deren Gewalt gegen Linke oder auch deren Einsatz als StreikbrecherInnen. Die für diese Periode gültige Kennzeichnung des FN als faschistische Frontorganisation hat sich aber in den letzten Jahren verändert.

Unter der Führung von Marine Le Pen hat der FN einen neuen Kurs eingeschlagen, der sich oberflächlich betrachtet schon an der Umbenennung der Partei und mit dem Ausschluss des Parteigründers zeigt.

Bei den letzten Wahlen wurden nun auch entscheidende „Zugeständnisse“ gegenüber dem französischen Imperialismus gemacht bzw. fand ein Kurswechsel des FN statt, der Ähnlichkeiten mit den Zugeständnissen der FPÖ an die Koalition hat. Keine Rede mehr von einem Austritt aus der EU, kein zurück zum Franc, stattdessen Schutz und Verteidigung vor deutscher Hegemonie in der EU – das sind auch wesentliche Interessen großer Teile der französischen Bourgeoisie. Die EU soll nicht weiter vertieft, die nationale „Souveränität“ verteidigt werden – so begradigte Marine Le Pen ihre „Regierungstauglichkeit“ vor den Präsidentschaftswahlen. In wirtschaftspolitischen Fragen vertritt der Ex-FN viele protektionistische Maßnahmen, bestärkt die Rolle des französischen Staats zur „Verteidigung“ des Monopolkapitals, wie auch Sozialleistungen durch Beschränkung auf „echte FranzösInnen“ eingespart werden sollen. In der WählerInnenschaft ist der FN quasi als „Volkspartei“ aufgestellt, also als Querschnitt aus der ArbeiterInnenklasse (speziell Elsass, Nordost), der lohnabhängigen Mittelschichten, wie auch dem klassischen Kleinbürgertum (HändlerInnen, Bauern/Bäuerinnen, Selbstständige).

Diese Entwicklung versuchte Le Pen zu nutzen, um dem FN einen neuen Anstrich zu geben, für den sie derzeit den Führungs-/Fraktionskampf gewonnen zu haben scheint. Der RN (Rassemblement National; dt.: Nationale Versammlung) tritt nun deutlich weniger rassistisch auf. Vom früheren geifernden Antisemitismus eines Jean-Marie Le Pen ist nicht mehr viel zu merken, der antisemtisch/nationalistisch/faschistische Flügel hat offenbar politisch die Oberhand verloren.

Das heißt nicht, dass der FN/RN, einmal an die Macht gekommen, sich nicht zum Angriff auf die Errungenschaften der französischen ArbeiterInnenbewegung aufmachen würde. Die Frage wird nur sein, wie, und die ist im Vergleich zu einer faschistischen Machtübernahme schon entscheidend. Der FN der 1980/90er Jahre war verbunden mit paramilitärischen Trupps, hatte enge Kontakte zur faschistischen Szene und war quasi deren Deckmantel für das Ziel der Machtergreifung. Das jetzige Regime des RN rückt quasi in die „rechte Mitte“, versucht sich auch als „Alternative“ zu den RepublikanerInnen von Juppé und Sarkozy darzustellen, als „letzte“ nationale Partei. Letztlich hängt der Erfolg dieses Vorhabens davon ab, ob Marine Le Pen die Blockade der „GaullistInnen“ und Liberalen (Union pour un Mouvement Populair, UMP, heute: Les Républicains; dt.: Die RepublikanerInnen), welche relativ komplett bei Macron integriert ist, gegen ihre Partei brechen kann und dadurch eine reale, parlamentarische Machtoption (Mehrheitswahlrecht) bekommt. Dann könnte der RN, ähnlich der FPÖ oder auch der Lega, regierungstauglich für die konservativen Parteien werden. Geschieht dies nicht, ist davon auszugehen, dass die faschistischen und antisemitischen Kreise wieder an Macht in der Partei gewinnen werden.

Aufschwung von faschistischen Organisationen

Noch in den 1990er Jahren traten faschistische Organisationen, die zu größeren Massenorganisationen werden wollten, noch selten direkt und offen auf – sie erschienen vor allem als faschistische Frontorganisationen: Dort arbeitet ein Kern von faschistischen „Kadern“ und Gruppen in der Partei, mit dem Ziel andere rechte, nationale Strömungen zu gewinnen, um dadurch eine Massenbasis für diese faschistische Frontorganisation herzustellen. Auch in diesen Organisationen können Kämpfe um die politische Führung ausbrechen, speziell was die Regierungsbeteiligung angeht. Aber sie sind so aufgebaut, dass aus einer kleinen faschistischen Kernorganisation eine faschistische Massenpartei entstehen kann. Mitte der 1990er Jahre identifizierten wir vor allem den FN (Front National) und den MSI (Movimento Sociale Italiano; dt.: Italienische Sozialbewegung) als solche Frontorganisationen, in denen FaschistInnen die Führung haben und die Richtung bestimmen.

Aktuell können wir beim FN ein anderes Kräfteverhältnis feststellen, während der MSI sich nach der ersten gescheiterten Berlusconi-Regierung 1995 in der AN auflöste. Diese „Umgruppierung“ der NationalistInnen und FaschistInnen Italiens hat seitdem mehrere radikalere faschistische Gruppierungen hervorgebracht, während der alte MSI-Kern an Bedeutung verliert.

Auch wenn zur Zeit Jobbik vermehrt versucht, sich als eine Frontorganisation zu präsentieren und damit auch „respektablere“ Kräfte zu gewinnen, so besteht nicht nur ihr Kern eindeutig aus FaschistInnen, sondern auch ein großer und der aktivste Teil ihrer Mitgliedschaft. Die Goldene Morgenröte (Griechenland) und der Rechte Sektor (Ukraine) hingegen sind rein faschistische Organisationen.

Die von ihnen zur Schau getragene Militanz und der Aufbau zur Polizei paralleler Schlägertrupps bis hin zu paramilitärischen Einheiten ist ein wesentliches Kennzeichen des Faschismus. Dies wird gebraucht zum direkten physischen Kampf gegen den/die politische/n GegnerIn (die „Linke“, die „Roten“, die „Antifa“), aber auch als „Angebot“ gegenüber den anderen bürgerlichen Parteien. Bei diesen Organisationen sind diejenigen, die ernsthaft gegen die „rote Gefahr“ kämpfen, die in der Lage sind, die „Antifa“ zu vertreiben und letztlich sich anbieten, militant gegen die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung vorzugehen.

Diese Strukturen finden wir beispielsweise bei der Jobbik aus Ungarn und ihrer Magyar Gárda (Ungarische Garde), welche nicht zufällig bis 2007 noch die Symbole der faschistischen PfeilkreuzlerInnen trug, der KollaborateurInnen mit dem 3. Reich in Ungarn. Diese Garde beweist sich zum einen bei folkloristischen Paraden zur Darstellung von „Großungarn“-Träumen wie auch in gewalttätigen Aktionen gegen Roma und Sinti in Ungarn. Nach dem Verbot 2007 gründete sich diese Miliz als Neue Ungarngarde neu, ohne Zeichen der PfeilkreuzlerInnen, aber mit gleicher Ausrichtung und Gesinnung.

Jobbik selbst hat den Platz als größte Oppositionspartei gegenüber Orbáns Fidesz seit zwei Wahlen sicher und steht in einem Wettbewerb mit der Regierung von rechts. Jobbik beantragte beispielsweise die Kennzeichnung ungarischer Juden/Jüdinnen in ihren Personaldokumenten. Die Ablehnung dessen wird als „Dienst an Soros durch Orbán“ dargestellt, Wir sehen also einen Überbietungswettbewerb in Sachen Antisemitismus, Antiziganismus und kruden Verschwörungstheorien. Je mehr Jobbik die Regierung von rechts unter Druck setzte, desto stärker sie auch im Vergleich zur MSZP wurde, desto mehr versucht sich Jobbik neuerdings auch als „normale“ konservative Volkspartei darzustellen.

Jobbik selbst will die „erste“ nationale Volkspartei des Landes werden, also Fidesz ablösen. Im Zuge dieser „Selbstfindung“, die 2014 begann und vor den Parlamentswahlen 2018 für abgeschlossen erklärt wurde, gab es programmatische Korrekturen, vor allem Angleichungen an die Interessen des ungarischen Kapitalismus. So wird nicht mehr der Austritt aus der EU gefordert, selbst die Einführung des Euro ist jetzt akzeptabel. Schließlich hat der Vorsitzende Gábor Vona sich von der antisemitischen und antiziganistischen Vergangenheit Jobbiks distanziert. Im Zuge dessen wurde auch die gegenseitige Treueerklärung mit der Neuen Ungarngarde aufgekündigt. Dies war sicherlich eine Voraussetzung, um auch beim ungarischen Kapital und Establishment anzukommen bzw. auch ein ernsthafter Koalitionspartner für die Fidesz zu werden, sollten deren Stimmen einmal nicht für die Mehrheit ausreichen. Trotz dieser zuletzt genannten Differenzierungen der Jobbik ist diese im Kern weiterhin eine Partei, die von faschistischen Kadern geführt wird, also eine faschistische Frontorganisation.

Die Partei der Goldenen Morgenröte (Chrysi Avgi) in Griechenland konnte sich im Zuge der Schuldenkrise, der technokratischen Papadimos-Regierung (2011/2012), dem Zusammenbruch von PASOK und dem Verrat von Syriza als heute stärkste Kraft der militanten Rechten in Griechenland aufbauen. Zuvor waren die RechtspopulistInnen von LAOS (Volksorthodoxe Sammlungsbewegung) in diesem Segment führend, doch war ihre Unterstützung der Papadimos-Regierung zusammen mit ND (Nea Dimokratia; dt.: Neue Demokratie; konservativ-liberal) und PASOK ihr politisches Ende. Chrysi Avgi ist vor allem als militante, offen faschistische Partei bekannt, so auch als einzige, die sich positiv zur halbfaschistischen Metaxas-Diktatur bekennt. Rassismus gegenüber der Türkei, den AlbanerInnen, den MakedonierInnen und Geflüchteten ist ebenso prägend wie es auch gewaltsame Überfälle auf MigrantInnen und Linke sind. Diese Partei trat vor ihren Wahlerfolgen als „Mischung“ zwischen Schlägertrupp und krimineller Vereinigung auf, konnte sich aber durch die politischen Erfolge jetzt auf ein höheres „Niveau“ begeben. Ihre Straßentrupps vertreiben „nicht-griechische“ HändlerInnen von Wochenmärkten, Geflüchtete werden zusammengeschlagen und bekannte AntifaschistInnen wie Pavlos Fyssas 2013 ermordet. Ähnlich dem Rechten Sektor ist bei der Goldenen Morgenröte davon auszugehen, dass sie bereits gewisse paramilitärische Strukturen und vor allem Gewalt als Erkennungszeichen ihrer Politik etabliert hat.

Ebenfalls ist eine recht enge Verbindung zu Einheiten der Polizei bekannt. So waren ihre AnhängerInnen wohl regelmäßig unter „zivilen“ Einheiten der Polizei zu finden, auch dort mit übergroßer Bereitschaft, linke Demonstrationen anzugreifen.

In den aktuellen nationalistischen Mobilisierungen gegen die Republik Mazedonien, in der Streitfrage, was/wie Mazedonien/Makedonien heißen darf oder nicht, spielt die Chrysi Avgi eine sehr wichtige Rolle. Vor allem gelang es ihr aber, sich wieder der bürgerlichen „gemäßigten“ Rechten als Bündnispartnerin zu präsentieren. Aktuell läuft zwar noch ein Verbotsverfahren aufgrund verschiedener krimineller Handlungen (inkl. dem Mord an Fyssas). Für alle Fälle ist eine mögliche Nachfolgepartei jedoch schon eingetragen.

Gerade in der tiefen sozialen Krise Griechenlands ist es möglich, dass diese Partei für künftige konservative oder Technokratenregierungen eine wichtige Rolle spielen kann und zwar als militante Organisation im Einsatz gegen die Linke und die ArbeiterInnenbewegung. Dazu kann sie dem griechischen Kapital dienen bei der möglichen Abwahl der Syriza-Regierung 2019.

Die Goldene Morgenröte gilt auch international als Vorbild für kleinere faschistische Organisationen. So haben sich in Großbritannien und Deutschland Ableger dieser Partei gegründet, vor allem aus den Kräften, denen eine militante Organisierung wichtiger erscheint als die politische Gründung einer Partei.

Je nach weiterer Zuspitzung in Griechenland kann der Morgenröte auch ein „Schicksal“ ähnlich dem Rechten Sektor vergönnt sein. Diese faschistische Kraft aus der Ukraine zeigt, wie schnell aus einem Auf- auch ein Abstieg werden kann. Als de facto Miliz des Maidan war der Rechte Sektor, meistens zusammen mit der nationalistischen Allukrainischen Vereinigung „Swoboda“ (Freiheit), eine der führenden rechten Kräfte des Putsches in der Ukraine. Angetreten mit der Erinnerung an die ukrainischen faschistischen Kollaborateure im 2. Weltkrieg, entwickelte sich ihr Slogan „Ruhm und Ehre unseren Märtyrern, Ruhm und der Ehre der Ukraine“ zum Motto dieser Putschbewegung, für die die Einheiten des Rechten Sektors quasi die militante Spitze bildeten. Im neuen Putschregime sank ihr Stern aber zunehmend. Der US-Protege Jazenjuk gründete die nationalistische „Volksfront“, in der auch viele „Swoboda“-FunktionärInnen ihre neue Heimat fanden. Nachdem dieser die Regierung verließ und auch Präsident Poroschenko keine Miliz auf der Straße mehr brauchte, entledigten sich die führenden Kräfte des Putsches aus dem Bürgertum ihrer faschistischen „Knechte/Mägde“. Als Ausdruck dessen wurde der Polizeichef von Kiew, führendes Mitglied des Rechten Sektors, ermordet und die offiziellen Gewaltorgane der Ukraine wendeten sich gegen die Organisation. Diese hatte zur Finanzierung auch den Zigarettenschmuggel an der rumänisch-ukrainischen Grenze organisiert. Als die Polizei dort eingriff und es gewalttätige Auseinandersetzungen gab, war die Trennung von Regime und Rechtem Sektor ganz offiziell.

Diese Organisation hatte sich ideologisch als Vorkämpferin des „weißen“ und „christlichen“ Europas gegen Russland und den Orient stilisiert, zog damit auch in den Bürgerkrieg in der Ostukraine und rekrutierte wahrscheinlich mehrere tausend Freiwillige aus ganz Europa für ihre Bataillone. Diese ideologischen Versatzstücke einer „Reconquista“, eines gemeinsamen nationalistischen und rassistischen Projekts für Europa, werden wir auch bei den verschiedenen rechtspopulistischen Formationen finden. Es sind quasi die verbindenden Elemente zwischen den verschiedenen Strömungen des Rechtsrucks.

Rechtspopulismus und Faschismus

In den letzten Jahren sind Erscheinungsformen der „neuen Rechten“ auf die Bühne getreten, die zwischen den verschiedenen Strömungen „vermitteln“. Diese sind bei den politischen Gruppierungen unterschiedlich stark angebunden, können aber eine gemeinsame „Klammer“ bilden.

Eine solche Organisation und „Bewegung“ ist die Identitäre Bewegung (IB), die als „Jugendorganisation“ vor allem in Frankreich, Österreich und Deutschland aktiv ist und viele vormals „lose“ angebundene militante FaschistInnen organisiert. Sie geriert sich als Trägerin eines „europäischen“ Nationalismus und Rassismus. Als Organisation versucht sie ihren militanten Background in „Freien Netzwerken“ und „Kameradschaften“ oder bei den JN (Junge Nationalisten; bis zum 13. Januar 2018: Junge Nationaldemokraten, Jugendorganisation der NPD) zu vertuschen und modern aufgemotzt als nationalistische NGO oder, wie es der IfS-Vordenker Götz Kubitschek ausdrückte, als „braunes Greenpeace“ aufzutreten (IfS: Institut für Staatspolitik). Es gibt eine enge Kooperation mit der „Alt-Right“ in den USA, die ihrerseits die „Defend Europe“-Aktionen der Identitären finanziell unterstützt. Dieses Milieu der „Neu-Rechten“ ist international aufgestellt und vernetzt.

Mit den folgenden beiden Hauptschlagwörtern dieser Bewegung werden alte Konstrukte des Rassismus und Nationalismus wiederbelebt, wie auch der Boden für faschistische Militanz und Bewusstsein bereitet.

Reconquista und Ethnopluralismus

Die „Identitäre Bewegung“ versucht, einen „gemeinsamen“ Begriff von Europa zu entwickeln, eine kontinental vereinigende Ideologie. Zwar steht auch hier die „eigene“ Nation an erster Stelle, allerdings funktioniere die rassistische Abgrenzung nun kontinental und eben nicht mehr ausschließlich national.

Als wichtigstes Hilfsmittel einer ideologischen Vereinheitlichung nationalistischer Bewegungen auf dem europäischen Kontinent soll dabei der Begriff „Reconquista“ dienen. Ähnlich dem historischen Völkermord nach der Vertreibung von Muslimen und JüdInnen von der iberischen Halbinsel insbesondere zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert durch die „christlichen“ Eroberer (ideologisch als „Reconquista“ = „Wiedereroberung“ verbrämt) sehen heutige Rechte den Islam als hauptsächliche Bedrohung der europäischen „Völker“ und Kultur (vom Judentum sprechen sie derzeit noch nicht so offensiv). Dementsprechend sei Europa durch den Islam, durch die hier lebenden MuslimInnen, bedroht, welchen unterstellt wird, in Europa islamische Staaten, Kalifate aufbauen zu wollen. Dieser „Theorie“ zufolge, sollen die Geflüchteten aus dem Nahen und Mittleren Osten die „schleichende“ Übernahme des Kontinents und dessen „Umvolkung“ beschleunigen.

Ähnlich der historischen Mobilisierung verschiedener Feudalherrschaften zum Krieg gegen die Mauren in al-Andalus (muslimisches Spanien) sehen sich die „Identitären“ Europas als Verbündete berufen im Kampf gegen den Islam, der aus Europa zu vertreiben sei, damit die „christlich-abendländische“ Kultur gerettet werden könne.

Dies geschieht mal recht martialisch wie beim ukrainischen Rechten Sektor, der sich an der Frontlinie zu „den Barbaren“ im Osten, als Verteidiger Europas stilisierte. Man kann aber auch fast akademisch daherkommen wie z. B. bei der Identitären Bewegung, die zur Frage „Was ist Reconquista?“ folgendes von sich gibt:

„Als Identitäre Bewegung wollen wir uns die gesellschaftlichen Diskursräume zurückerobern, die zuvor von einer linksliberalen Hegemonie dominiert wurden. Wir sind die laute patriotische Stimme, die offen Gesicht zeigt und den Werten von Heimatliebe und Tradition wieder Gestalt und gesellschaftlichen Raum verleiht. Die Liebe zum Eigenen und das Bewusstsein für unsere ethnokulturelle Identität sind Selbstverständlichkeiten, für die wir uns nicht schämen müssen. Wir wollen, dass der Patriotismus zu einem gesellschaftlichen Leitwert wird und eine echte Meinungsfreiheit, die auch unseren inhaltlichen Positionen einen legitimen Artikulationsraum ermöglicht. Dies fordern wir ein und dafür gehen wir jeden Tag auf die Straße und bilden die Phalanx für die Reconquista.“ (5)

Sicherlich werden den LeserInnen die „gramscianisch“ anmutenden Formulierungen von „Hegemonie“ und „Diskurs“ auffallen. Diese – vor allem das Konzept des „Kampfes um Hegemonie“ – sind wichtige Bestandteile der neu-rechten Ideologie und jener, die sich auch in den rechtspopulistischen Parteien tummeln. Sie setzen sich das Ziel, ihre Themen, ihre Strategie in das 21. Jahrhundert zu „übersetzen“. Um für diese Ideen breitere Schichten zu gewinnen, müssen sie auch in die rechtspopulistische Parteien getragen werden.

Beim Zitat zur Reconquista müssen wir uns folgendes vor Augen führen: Neben viel „Volkstümelei“ und netten Heimatbejubelungen (Webauftritt vor deutscher Natur im Sonnenschein) wird letztendlich der militante Selbstzweck deutlich benannt, nämlich die Bildung der „Phalanx für die Reconquista“. Die zurückgewonnenen „Diskursräume“ wie auch die „Hegemonie“ sollen dazu dienen, die Speerspitze der Rückeroberung des Kontinents gegen die inneren und äußeren Bedrohungen herauszubilden. Diese Ideologie ist bei vielen der rechtspopulistischen Parteien vorhanden: Gerade diejenigen, die einen Schwerpunkt auf „modernen“ Rassismus legen (FPÖ, AfD, FN, Lega, DF, Freiheitspartei), geben sich nicht nur gerne als KritikerInnen der EU, sondern auch als VerteidigerInnen Europas gegen die äußeren FeindInnen. Dafür wird in verschiedenen Facetten die Ideologie der Reconquista benutzt, als „moderner“ anti-muslimischer Rassismus.

Auch der Nationalismus, die abartige Erhöhung des einen oder auch anderen Volksbestandes wird neu erdacht. Der klassische Nationalismus Europas, der sich noch deutlich während der „Schuldenkrise“ gezeigt hat (faule Südländer-/EuropäerInnen), wird ideologisch scheinbar ersetzt durch den „Ethnopluralismus“. Damit wollen die neu-rechten IdeologInnen gelungen den Blut-und-Boden-Nationalismus als etwas Pluralistisches verkaufen.

De facto akzeptiert der Ethnopluralismus den Nationalismus eines jeden Volkes (besonders, wenn es ein europäisches Volk ist), solange sich diese Völker nicht „vermischen“, also die Ethno-Identität erhalten bleibt, „Blut und Boden“ die Grundlage der Identität bilde. Die neu-rechte Konzeption richtet sich gegen die sogenannte „One World“-Propaganda, gegen die „Heimat“, „Kultur“ und Volk bedrohenden Auswirkungen der Globalisierung. In seiner weiterführenden Definition ist der Ethopluralismus die Verteidigung der „traditionellen“ Werte, der Heimat, der christlichen Familie, der dazu gehörigen Geschlechterrollen – ein Rollback auf verschiedenen Ebenen. Tatsächlich handelt es sich nur um eine Umdeutung des klassischen Rassismus. Immerhin hat Gobineau in seinem Klassiker des Rassismus („Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“) auch die Pluralität der „Rassen“ gewürdigt und die geschichtliche „Degeneration“ in der „Rassenmischung“ gesehen. Der Ethnopluralismus ist daher eine rein kulturalistische Umfirmierung, nachdem der biologistische Rassenbegriff diskreditiert ist.

Auf Grundlage dieser Neuauflage des Rassismus erfolgt auch die Kampfebene gegen den „Multikulturalismus“ und gegen jegliche Migrationspolitik. Er ist ebenfalls anschlussfähig an die faschistischen „Umvolkungstheorien“, welche der jeweiligen aktuellen bürgerlichen Elite einen „Plan“ zur Abschaffung des jeweiligen Staatsvolkes unterstellen. Deutsche FaschistInnen hatten z. B. den „Volkstod“ der Deutschen auf das Jahr 2040 prognostiziert und Merkel aufgrund der Öffnung der Grenzen 2015 der Einleitung der „Umvolkung“ beschuldigt. Diese Theorien fanden ihren Weg sogar in die CDU-Bundestagsfraktion, zumindest in Gestalt von Erika Steinbach, die das Ende des deutschen Volkes kommen sah.

Elemente davon sind bei allen rechtspopulistischen Parteien in verschiedener Stärke vorhanden. Da dieser Neorassismus auch eine Schnittmenge zur faschistischen Rechten Europas darstellt, werden diese Gruppierungen dann auch integrierbar bzw. Partner der etablierten rechtspopulistischen und nationalistischen Organisationen. Diese „Neuauflage“ von Nationalismus und Rassismus schafft somit eine europäische Klammer um diese neuen Rechten.

Allerdings werden die Brüche und Widersprüche der ideologischen Konstruktion in der Praxis schnell deutlich. So zählt die rechtspopulistische Regierung Österreichs zu den größten Scharfmacherinnen gegen die Finanzpolitik der rechtspopulistischen italienischen Regierung, mit der man natürlich auch wieder mal in der Südtirolfrage in Konflikt gerät. Ähnliches kann man natürlich zwischen ungarischen und ukrainischen NationalistInnen beobachten, usw. usf. Anders als es die neu-rechte Ideologie behauptet, ist der „Ethnopluralismus“ wie jeder Rassismus und Nationalismus unfähig, tatsächlich in irgendeiner Weise ein friedlich vereintes Europa „der Völker“ auch nur im Ansatz zu verwirklichen.

Unterschiede zwischen Rechtspopulismus und Faschismus

Die Scheidung zwischen Rechtspopulismus und Faschismus erfordert zunächst eine Bestimmung, was eigentlich den „Faschismus“ ausmacht, zumal die Vorstellungen darüber auch in der „Linken“ weit auseinander und am Wesen des Phänomens oft vorbeigehen Entweder sind sie noch immer durchdrungen von der stalinistischen Analyse Dimitroffs, der zufolge der Faschismus einfach politischer Ausdruck der Finanzkapitals wäre und die die zentrale Bedeutung des klein-bürgerlichen Charakters der faschistischen Massenbewegung verkennt. Oder das Verständnis ist von sozialdemokratischen und links-bürgerlichen Vorstellungen geprägt, die ihn als Zusammenfassung „antidemokratischer Extreme“ verstehen. Alle genannten Ideen treffen sich bei der Konzeption der „Volksfront“ aller DemokratInnen. Was vollständig fehlt, ist das „Binnenverhältnis“ der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, die sich als Opfer der kapitalistischen Entwicklung sehen und in bestimmten geschichtlichen Momenten für eine faschistische (Schein-)Lösung ihrer Probleme gewonnen werden können. Dieses Moment muss heute in der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 gesehen werden – seitdem kam Bewegung in das bürgerlich-kapitalistische Kartenhaus.

Dies wird bei den Erklärungsansätzen der „linken“ Politikwissenschaft oder beispielsweise der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) gerne außer Acht gelassen bzw. als „ökonomistischer“ Ansatz abgetan. Dabei wird die Ebene der globalen Konkurrenz innerhalb der herrschenden Klasse gleich überhaupt abgetan (und die Imperialismustheorie ausgeblendet). Die ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Krise auf die Kräfteverhältnisse und das politische Bewusstsein der Klassen und Schichten sind unserer Ansicht nach dagegen wichtige Bestandteile einer Analyse, die aber stets auch die Reaktion der bürgerlichen Klasse zum Angelpunkt nehmen muss, wenn der Aufstieg rechter Bewegungen erklärt werden soll. Ebenfalls als „ökonomistisch“ verkürzt gilt für die „modernen Linken“, wenn man eine bestimmte Funktion des Faschismus für das Großkapital aufzeigt. Bei der RLS beispielsweise werden die Erklärungsansätze der „alten“ kommunistischen Bewegung als nicht zeitgemäß dargestellt: schließlich bräuchte das Großkapital derzeit keine faschistische Massenkraft zur Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung, da diese derzeit keine Bedrohung darstelle.

Dabei handelt es sich um eine weitere ökonomistische Lesart des Problems, das die Autonomie politischer Phänomene unberücksichtigt lasst. Die WählerInnen können sehr wohl eine Partei unterstützen, auch wenn diese nicht den Rückhalt der Großbourgeoisie genießt.

Zudem wird hiermit außer Acht gelassen, dass sich das Großkapital ohne besondere Gewissensbisse mit allen möglichen politischen Regimes arrangieren kann.

Dies ist eine methodisch verkürzte Darstellung der Rolle, die der Faschismus im Verhältnis zum Großkapital einnimmt bzw. einnehmen kann. In der Faschismusanalyse Trotzkis wird der Faschismus als letzte Option für das Großkapital beschrieben, nicht als dessen erste und „beliebteste“. Es ist daher auch nicht die Hauptfrage, ob aktuell der Faschismus gebraucht wird, um eine aufstrebende ArbeiterInnenbewegung zu zerschlagen, sondern ob sich die politisch-ökonomische Krise aktuell soweit zuspitzt, dass wiederum der Faschismus für es zur letzten Option werden kann. Schließlich war für das Großkapital in den 1930er Jahren selbst die sicher gar nicht „bedrohliche“ Sozialdemokratie ein Hindernis für ihre Krisenpolitik.

Wir dürfen das Verhältnis dieser AkteurInnen untereinander nicht allein als ein instrumentelles bewerten, sondern müssen vielmehr die Dialektik zwischen Krise, bürgerlichen Parteien und kleinbürgerlichen Schichten als Ausgangspunkt des „Rechtsrucks“ nehmen. Das gesamte Kartenhaus der bürgerlichen Versprechungen ist durch die Wirtschafts- und Finanzkrise ins Wanken geraten und somit auch deren vereinender ideologischer Kitt. In vielen kleinbürgerlichen und sog. Mittelschichten sind soziale Abstiegsängste eingezogen, wie auch ganze Berufsgruppen einen sozialen Abstieg erlebt haben – dies ist der Wendepunkt der bürgerlichen Politik, die objektiv, ganz unabhängig vom ideologischen Schein, das Klassenkräfteverhältnis radikal zu ihren Gunsten verändern muss. Die Krise hat somit nicht allein die kapitalistische Stabilität erschüttert, sondern sowohl das Verhältnis zwischen Kleinbürgertum und Bourgeoisie ins Wanken gebracht wie auch nationale Bourgeoisien international neu in Konkurrenz gesetzt.

Zum Faschismus, speziell zum Faschismus an der Regierung, zitieren wir hier Trotzki, zum Verhältnis der Klassen:

„Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpreßten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums. Mussolini hat recht, die Mittelklassen sind nicht fähig zu selbständiger Politik. In Perioden großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden Hauptklassen bis zur Absurdität zu treiben. Dem Faschismus gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen. Solche Lösungen wie die Verstaatlichung der Trusts und die Abschaffung des »arbeits- und mühelosen Einkommens« waren nach Übernahme der Macht mit einem Mal über Bord geworfen. Der Partikularismus der deutschen Länder, der sich auf die Eigenarten des Kleinbürgertums stützte, hat dem polizeilichen Zentralismus Platz gemacht, den der moderne Kapitalismus braucht. Jeder Erfolg der nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik wird unvermeidlich Erdrückung des kleinen Kapitals durch das große bedeuten.

Das Programm der kleinbürgerlichen Illusionen wird dabei nicht abgeschafft, es wird einfach von der Wirklichkeit abgetrennt und in Ritualhandlungen aufgelöst. Die Vereinigung aller Klassen läuft hinaus auf die Halbsymbolik der Arbeitsdienstpflicht und die Beschlagnahme des Arbeiterfeiertags »zugunsten des Volkes«. Die Beibehaltung der gotischen Schrift im Gegensatz zur lateinischen ist eine symbolische Vergeltung für das Joch des Weltmarkts. Die Abhängigkeit von den internationalen – darunter auch jüdischen – Bankiers ist nicht um ein Jota gemildert, dafür ist es verboten, Tiere nach dem Talmudritual zu schlachten. Ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert, so sind die Straßen des Dritten Reiches mit Symbolen ausgelegt.“ (6)

Der Faschismus an der Macht ist also alles andere als „das wildgewordene Kleinbürgertum“ an der Macht. Sobald die radikalisierten kleinbürgerlichen faschistischen Massen ihren Dienst bei der Zerschlagung von Demokratie und ArbeiterInnenbewegung getan haben, ist der faschistische Führerstaat eine Form des Bonapartismus als Herrschaftsabsicherung im Interesse des Großkapitals. Die kleinbürgerlichen Lakaien werden abgefunden, oder, wenn sie sich nicht fügen, liquidiert (wie das Beispiel der Röhm-SA zeigt).

Während die faschistischen AkteurInnen die bürgerliche Demokratie abschaffen wollen, um auf deren Trümmern den Führerstaat zu errichten, sind die meisten rechtspopulistischen Parteien eher auf eine „Reform“ der bürgerlichen Demokratie ausgerichtet:

„Als Grenze zum Rechtsextremismus erscheint der Glaube an die Notwendigkeit, ,das System’ abschaffen oder wenigstens radikal ändern zu müssen. RechtsextremistInnen nehmen es meist nicht so genau mit den Verfassungsregeln, die von den meisten populistischen Bewegungen, wenn auch grollend, akzeptiert werden. Der geforderte Wandel bei populistischen Bewegungen ist meist begrenzt: Minimalforderungen sind die Volkswahl des Staatsoberhauptes und die Einführung von Referenden, sowie Änderungen des repräsentativen Wahlrechts (…)

Populistische Bewegungen treten in der nordatlantischen Welt selten revolutionär auf, im Gegensatz zur Dritten Welt. Sie üben Druck aus, um ,das Establishmen’ zurück auf den ,Pfad der demokratischen Tugend zu führen’.“ (7)

So müssen wir auch den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in der letzten Zeit verstehen. Sie sind Ausdruck der Krise des Bürgertums und seiner bisherigen hauptsächlichen VertreterInnen wie auch der der bürgerlichen Demokratie selbst. Diese neuen Formationen versuchen, ein neues bürgerlich-kapitalistisches Kräfteverhältnis herzustellen zwischen den bürgerlichen Schichten, aber vor allem auch Kleinbürgertum und ArbeiterInnenklasse. Der Faschismus ist dabei die „Endstufe“ eines radikalisierten, eines „wild gewordenen“ Kleinbürgertums, welches sich als „Rammbock“ gegenüber der ArbeiterInnenbewegung beweist.

Die rechtspopulistischen AkteurInnen hingegen wollen die bürgerliche Demokratie zu ihrem Nutzen umbauen – einschließlich einer massiven Stärkung ihrer repressiven, autoritären und bonapartistischen Elemente. Dabei kann ganz praktische neoliberale Gesetzgebung nach „innen“ herauskommen wie zur Zeit in den USA und Österreich oder auch ein autoritärer Staatsumbau wie in Polen und Ungarn das Ziel sein. Dies muss aber klar vom Faschismus unterschieden werden.

Das Hauptziel des Rechtspopulismus, so sehr es sich auch nicht verallgemeinern lässt, liegt darin, die Hand an den existierenden Staat zu bekommen, dort als „national-bürgerliche“ Fraktion endlich die Politik „vor sich herzutreiben“ und gewissermaßen selbst den vordersten Platz an den Trögen der „Marionettendemokratie“ einzunehmen. Dabei treten sie auch für mehr plebiszitäre Elemente ein, die sie zur Mobilisierung ihrer AnhängerInnen brauchen und quasi auch zum „Beweis“, dass ihre Politik mehrheitsfähig und auch regierungstauglich ist. Gegenüber den etablierten konservativen Parteien sehen die RechtspopulistInnen hier ihre Chance zum Durchbruch ins Politikgeschäft.

Neoliberalismus, Rassismus und Nationalismus

Ein größeres Segment der heutigen rechtspopulistischen Parteien hat seinen Ursprung in neoliberalen Parteien bzw. daraus hervorgegangenen Neugründungen. Dazu zählen z. B. die Dänische Volkspartei, die norwegische Fortschrittspartei, die niederländische Freiheitspartei aber auch die AfD. Dies kann sich in der Entwicklung der Parteien auch ändern oder zumindest in Frage gestellt werden. Die Parteigründer Lucke und Henkel wollten ursprünglich mit „ihrer“ AfD vor allem eine neue „Agenda 2010“ entwickeln, wollten EU und Euro auf die Verwertbarkeit für den deutschen Kapitalismus hin überprüfen – kurz, ihr Ursprung war eindeutig im neoliberalen Spektrum verortet.

Dieser Gründungszweck tritt heute in der öffentlichen Darstellung in den Hintergrund. Insgesamt entwickelten sich Rassismus und Nationalismus zu den alles bestimmenden „Kernthemen“ der Partei, der „Neoliberalismus“ tritt nur noch selten an die Oberfläche. Dann zeigt er sich wie z. B. bei bei Auseinandersetzungen zu Miet- oder Arbeitsrecht in überaus aggressiver Form der Verteidigung des Privateigentums gegen die „Eingriffe“ des Staats. Selbstredend bildet er auch weiter einen wichtigen Bestandteil der Programmatik.

Beim französischen FN und der italienischen Lega finden wir eine schärfere Rhetorik gegen die „Globalisierung“ oder auch den „Globalismus“, wie es bei Präsident Trump heißt. Der Neoliberalismus selbst wird jedoch keineswegs explizit kritisiert. Im Gegenteil: Die Forderungen nach weiteren Privatisierungen öffentlicher Unternehmen und Dienste sowie nach Steuererleichterungen für „die BürgerInnen“, also vor allem die Reichen, finden sich bei den meisten populistischen Parteien. Der bestehende Staat – insbesondere auch der sog. Sozialstaat – wird als Selbstbedienungsladen der Elite, der Regierenden, der NichtstuerInnen und – im rassistischen Diskurs – auch der Geflüchteten dargestellt. Die UnternehmerInnen hätten unter ihm, als wirtschaftlich angeblich aktivster Teil des Volkes, besonders zu leiden.

Der sog. „Neoliberalismus“ hatte zwei wesentliche Aufgaben: Steuererleichterungen und Förderung der Wirtschaft beziehungsweise der sogenannten „LeistungsträgerInnen“, selbstverständlich auf Kosten der Sozialleistungen und des Sozialsystems. Zweiter wichtiger Punkt ist der Angriff auf die öffentlichen Güter insgesamt, die angestrebte Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Leistungen.

Diese bürgerliche Wirtschaftspolitik war Triebfeder der Globalisierungsperiode. Die imperialistischen Märkte erzwangen Privatisierung und Marktöffnung im Inneren wie in anderen Ländern und schufen dadurch neue Anlagesphären für das private Kapital. Dadurch konnten die Auswirkungen der strukturellen Überakkumulation zeitweilig abgemildert werden, da die spekulativen Anlagen sowohl eine Ausweitung des fiktiven Kapitals ermöglichten wie auch in einigen Bereichen reale Produktion ankurbelten.

Diese Form der bürgerlichen Politik, die in Deutschland durch die FDP am entschiedensten vertreten wird, steht ebenfalls für einen gezielten Angriff auf die Errungenschaften und sozialen Rechte der ArbeiterInnenklasse.

Die Angriffe auf die Sozialsysteme wurden in allen europäischen Staaten mit einer massiven Hetze gegen Arbeitslose und SozialleistungsempfängerInnen durchgezogen, was auch die Spaltung innerhalb der ArbeiterInnenklasse vertieft hat. Neue Niedriglohnbereiche sind in vielen Staaten die Folge, befristete und entrechtete Beschäftigungsform ist als „Prekariat“ heute ein Massenphänomen. Allerdings konnte der Neoliberalismus, wie alle anderen bürgerlichen Heilslehren auch, seine Versprechen nicht einlösen, sondern musste letztlich zu einer Verschärfung der Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems führen. Erst recht wurde durch Privatisierung und Prekarisierung kein/e Beschäftigte/r „reicher“, geschweige denn gab es mehr zu verteilen.

Endvorstellung aller neoliberalen Ziele ist das, was US-amerikanische „Libertäre“ wie der ehemalige Präsidentschaftskandidat Ron Paul vertreten: Eine komplette Ausschlachtung und Aushöhlung aller staatlichen Leistungen, die in die Hand des privaten Kapitals übergehen sollen. Schule, Bildung, Gesundheit und Krankenhäuser, Verwaltung, sämtliche Infrastruktur wird als öffentlicher Besitz in Frage gestellt, nur zwei Institutionen bleiben erhalten: die Polizei und die Armee. Diese klassisch liberale Vorstellung des „Nachtwächterstaats“ ist in Zeiten der aktuellen imperialistischen Krise ein Modell zur „Krisenlösung“ der nationalen Kapitalinteressen – umgekehrt bringt diese aber auch Alternativen hervor, die von Aspekten des neoliberalen Modells abrücken, den Staat zu einem Instrument der Organisierung der nationalen Wirtschaft und deren Wettbewerbsfähigkeit machen wollen. Der Protektionismus wie auch die staatliche Begünstigung des nationalen Kapitals oder korporatistische Formen der Regulierung widersprechen zwar der neoliberalen Doktrin – können aber sehr wohl im Interesse des nationalen Gesamtkapitals liegen.

Der Populismus an sich vertritt kein gefestigtes Wirtschaftsprogramm, wie auch seine gesamte übrige Politik extrem „konjunkturabhängig“ ist. So will natürlich auch eine rechtspopulistische Regierung, die gegen die Auswirkungen der Globalisierung wettert, gleichzeitig gute bilaterale Außenhandelsverträge abschließen oder die Vorteile bestimmter Monopole auf dem Weltmarkt gesichert wissen. Die aktuelle US-Regierung ist hierfür ein Paradebeispiel. So können sich Freihandelspolitik und protektionistische Elemente durchaus abwechseln und pragmatisch kombiniert werden. Dies muss nicht immer in einem Widerspruch stehen, ist aber auch Merkmal der rechtspopulistischen Dynamik mit schwankenden und sich verändernden politischen Rahmenbedingungen.

Dass einige Parteien des Rechtspopulismus einen neoliberalen Hintergrund haben, verdeutlicht die vorangegangene Krise der etablierten bürgerlichen Parteien. Wenn sich Teile des Kleinbürgertums nicht mehr vertreten sehen bzw. hinter den Interessen des Großkapitals zurückstehen müssen, sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften fast nur noch Interessen der ArbeiterInnenaristokratie verteidigen (wenn überhaupt), dann öffnet der Neoliberalismus gewissermaßen einen Korridor nach „rechts“. Umverteilung zum Wohle der bislang Besitzenden. Spezielle Förderung der „Selbstständigen“, Steuererleichterungen auf Kosten der Sozialsysteme und der EmpfängerInnen staatlicher Transferleistungen – allein schon dies sind Elemente einer bürgerlichen Offensive gegen die ArbeiterInnenklasse. Daher ist es auch „einfach“ für RechtspopulistInnen, NationalistInnen bis hin zu FaschistInnen, auf solche Bewegungen und Parteien aufzuspringen, um die Absetzbewegung von den etablierten bürgerlichen Parteien in ihre Richtung zu lenken. Dies kann auch ein „Seismograph“ für die Lage des Kleinbürgertums sein: Je mehr dessen Vorstellungen vertreten werden, desto mehr ist diese Schicht insgesamt nach rechts gekippt – das haben die rechtspopulistischen Parteien in unterschiedlicher Weise gezeigt.

Rassismus und Nationalismus als Sozialprogramm?

Der Rechtspopulismus greift das Konzept des sozialen Angriffs auf, hier zuallererst auf die sozialen Rechte von MigrantInnen, Asylsuchenden, Geflüchteten. Er lanciert ihn zunächst also in rassistischer Manier.

Ähnliche Pläne sind zwar meist auch für die „heimische“ Bevölkerung vorhanden, diese werden vorerst aber verschwiegen oder gar bestritten. Praktisch führt das derzeit die österreichische Regierung vor. In „konzentrierten Räumen“ werden den Asylsuchenden sämtliche Geldmittel abgenommen, sie haben nur noch Zugang zu Lebensmitteln und „Sachleistungen“. Gleichzeitig wird medial gerechtfertigt, dass diese Maßnahmen zum „Schutz“ der leistungswilligen, hart arbeitenden Einheimischen notwendig wären, dass mit den „Vorteilen“ für Geflüchtete Schluss gemacht werden müsse – und dies auch im Interesse der Armen und Arbeitenden liegen würde.

Gerade jenen, die durch die Angriffe der letzten Jahrzehnte aus unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen gedrängt wurden, die arbeitslos, zu BilligjobberInnen wurden oder verarmt sind, soll rassistisch vermittelt werden, dass ihre Not gelindert würde, wenn weniger für „AusländerInnen“, Geflüchtete und MigrantInnen aufgewendet werden müsste – und damit „mehr“ für die Einheimischen übrig bliebe. Gemäß dieser reaktionären Logik, die die Lohnabhängigen entlang ihre nationalen und ethnischen Herkunft spaltet, werde die Lohnarbeit nicht vom Kapital ausgebeutet, sondern von den „Fremden“ beraubt. Der Rassismus präsentiert sich perfide als Anwalt der „kleinen Leute“, der „deutschen“ ArbeiterInnen.

Diese Demagogie, die im Interessen der großen wie kleinen UnternehmerInnen liegt, bringt die LohnarbeiterInnen gegeneinander in Stellung. Sie könnte freilich nicht verfangen ohne das vorhergehende Versagen der Parteien und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung. Gerade die Sozialdemokratie hat selbst mitgeholfen, europaweit Austeritätsprogramme durchzusetzen und unter Blair, Schröder und Co. auch im „eigenen“ Land die Ausbeutung der unteren Schichten, ja der Masse des Proletariats vorangetrieben. Kein Wunder also, dass sie keine glaubwürdige Alternative bieten kann, zumal wenn sie an Regierungen selbst die Angriffe auf die Lohnabhängigen mitträgt. Hinzu kommt, dass diese Politik der Sozialdemokratie, oft genug auch der Linksparteien, sowie die Klassenkollaboration der Gewerkschaften selbst mit der Ideologie begründet wurden, dass der Abbau sozialer Rechte, Flexibilisierung, Intensivierung der Arbeit und Erhöhung der Produktivität nötig wären, um den nationalen Standort zu retten und „unsere Wirtschaft“ wettbewerbsfähig zu halten. D. h. auch die Politik des Reformismus und der Gewerkschaften beinhaltet schon eine Beschwörung angeblich gemeinschaftlicher Interessen des „Volkes“, von Kapital und Arbeit – und hat damit dem Rechtspopulismus ideologisch vorgearbeitet.

Dieser radikalisiert gewissermaßen die „Wettbewerbspartnerschaft“. Wenn es recht ist, den konkurrierenden Betrieb im Ausland (samt dessen Beschäftigten) niederzuringen und dafür Opfer zu bringen, liegt es durchaus nahe, MigrantInnen und Geflüchtete als zusätzliche Konkurrenz um den „eigenen“ Arbeitsplatz im „eigenen“ Land zu betrachten.

Diese Logik der Konkurrenz wurde und wird von der bürokratisierten ArbeiterInnenbewegung nicht in Frage gestellt. Jetzt droht sie ihr um die eigenen Ohren zu fliegen. Der Rechtspopulismus greift auf sie zurück und spitzt sie demagogisch zu. Die Anerkennung dieser Konkurrenz als „naturgegeben“ immunisiert seine AnhängerInnen scheinbar auch gegen jedes rationale Argument – insbesondere eines, das selbst noch auf dem Boden des „wirtschaftlichen Gesamtinteresses“ steht.

So rechnen bürgerliche Institutionen seit Jahren vor, dass die migrantischen ArbeiterInnen „unsere“ Sozialkassen nicht plündern, sondern stützen, dass sie ebenso wie ihre inländischen KollegInnen zu immer neuen Spitzen des Exportes beitragen und die Steuereinnahmen und damit der „Umverteilungsspielraum“ ohne MigrantInnen sinken und nicht steigen würde. Diese Hinweise auf Fakten können die irrationalen Vorstellungen, die mit der Verknüpfung von Rassismus und Konkurrenz einhergehen, zwar erschüttern – gebrochen werden können sie allerdings nur, wenn das In-Konkurrenz-Setzen von einheimischen und ausländischen ArbeiterInnen insgesamt in Frage gestellt, wenn mit der Politik der „Standortsicherung“ und Klassenkollaboration gebrochen wird.

Imperialismus und Halbkolonien

Neben der oben angeführten rassistischen Argumentation wird vielerorts eine nationalistische Wirtschaftspolitik als Mittel gegen die Globalisierung angepriesen, hier und da auch mit protektionistischen Forderungen der Eindruck erweckt, dass die nationale Wirtschaft auf Basis dieser Abschottung zu neuen Höhenflügen ansetzen würde.

Zweifellos gibt es in der EU wie auf allen Kontinenten halbkoloniale oder schwächere imperialistische Staaten, die in der Konkurrenz mit den großen Monopolen der führenden kapitalistischen Staaten immer weniger bestehen können. Daher werden protektionistische Forderungen auch von kleineren oder größeren Teilen des nationalen Kapitals erhoben.

Aber es darf dabei nicht übersehen werden, dass die internationale Arbeitsteilung gerade populistischen Parteien und Regierungen der halbkolonialen Länder, allen voran Osteuropas, einen sehr engen Rahmen für ihre Wirtschaftspolitik aufzwingt. Für sie geht es im Grunde nicht darum, dass das nationale Kapital als eigenständiger Faktor auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wird. Dazu sind Länder wie Ungarn, die Slowakei, Polen, die Tschechische Republik oder die baltischen Staaten längst viel zu eng als Produktions- und Zulieferketten der Großkonzerne aus der EU, vorzugsweise aus Deutschland, und in die Dynamik der Akkumulation des imperialistischen Finanzkapitals eingebunden. So sehr diese Regierungen auf ihre „Unabhängigkeit“ drängen, so bildet die Sicherung möglichst günstiger und profitabler Investitionsbedingungen vor allem für deutsche Konzerne eine Konstante ihrer Wirtschaftspolitik. Die Steuersätze werden bis zur „Flat-Rate-Tax“ zum Wohle ausländischer InvestorInnen auf das größtmögliche Minimum heruntergefahren. Austeritätspolitik und die Erfüllung der Haushaltskriterien der EU stehen – aller nationalistischen Rhetorik zum Trotz – nicht in Frage. Im Gegenteil, auch die populistischen Regime Osteuropas erwiesen sich als treue UnterstützerInnen der Diktate gegenüber Griechenland.

Während der verarmte und entrechtete Flüchtling an der EU-Außengrenze oder am Grenzzaun Ungarn auf möglichst abschreckende und barbarische Weise krepieren soll, wird der westeuropäischen Autoindustrie, dem Agrobusiness oder dem Großhandel jeder Wunsch von den Lippen abgelesen. Schließlich sollen sich diese in Osteuropa „heimisch“ fühlen und nicht in andere halbkoloniale Standorte abwandern. Die Hetze gegen die Soros-Stiftung, deren „Kosmopolitismus“ und „bösartige Finanzpolitik“ bildet die demagogische, antisemitische Begleitmusik zur Unterwerfung des reaktionären Rechtspopulismus unter die wirklich dominierenden Fraktionen des globalen Finanzkapitals.

Anders verhält es sich im Fall eines etablierten imperialistischen Landes wie Italien. Die italienische Regierung hat – mit aller aufbringbaren populistischen Demagogie – auch die Interessen „ihres“ Finanzkapitals, ihres nationalen Gesamtinteresses durchzusetzen versucht. Zweifellos wettert Salvini im Namen der italienischen Regierung gegen die Vorgaben der EU-Kommission in erz-chauvinistischer Manier. Doch nicht minder verlogen sind die Behauptungen der EU-Kommission, der deutschen und französischen Finanzminister, dass es ihnen mit dem Einfordern von Sparmaßnahmen nur um das höhere Wohl der EU oder gar um die langfristige Genesung Italiens ginge. Ihr Ziel besteht vielmehr darin, dem italienischen Finanzkapital die eigenen Bedingungen im Namen Europas zu diktieren und ein imperialistisches Land in der EU-Hierarchie auf „seinen“, von Deutschland und Frankreich bestimmten Platz zu verweisen.

Die AnhängerInnen des freien Marktes und der kapitalistischen Vereinigung Europas präsentieren ihr Projekt als einen Segen für die Menschheit. Sie unterschlagen freilich, dass die kapitalistische Einigung nur auf Basis einer Vorherrschaft des stärksten nationalen Kapitals – des deutschen – und allenfalls in Rahmen einer engeren Kooperation mit Frankreich möglich ist. Andere, schwächere imperialistische Länder müssten sich diesen als JuniorpartnerInnen unterordnen. Für Italien (wie auch zuvor für Britannien) war das aber besonders schwierig, weil dieser Imperialismus selbst beansprucht, mit Deutschland und Frankreich auf gleicher Augenhöhe zu agieren – mag er diesen auch längst nicht einlösen können. Für Deutschland und Frankreich wiederum geht es nicht bloß um irgendwelche „Prinzipien“, sondern auch darum, dem italienischen Imperialismus seinen Platz zuzuweisen. In der Demokratischen Partei, dieser Allianz aus einem Teil der alten Christdemokratie und der ehemaligen KP, schien er ein Werkzeug für die schrittweise Herabstufung Italiens gefunden zu haben. Die Koalition der PopulistInnen in Italien spiegelt auch wider, dass sich ein Teil des Großkapitals des Landes damit nicht abfinden mag, dass sich die „Elite“ des Landes gezwungen sieht, zu anderen, populistischen und demagogischen Mitteln zu greifen.

Hierin liegt – allen rhetorischen Gemeinsamkeiten zum Trotz – ein längerfristiger Unterschied zwischen der populistischen Regierung in Rom einerseits und jenen in Wien oder Budapest andererseits. Mögen diese auch mit dem „Merkel-Regime“ hadern, so sind ihre Länder längst, wenn auch auf unterschiedliche Weise, an Gedeih und Verderb der deutschen Ökonomie gebunden.

Zweitens bringt das Wachstum des Populismus auch zum Ausdruck, dass die Bourgeoisien der großen Länder des Kontinents aufgrund ihrer historisch gewachsenen Gegensätze unfähig sind, den Kontinent wirtschaftlich und sozial zu vereinen. Die Krise der EU ist in letzter Instanz selbst Ausdruck eines grundlegenden Widerspruchs der imperialistischen Epoche. Einerseits bildet der Nationalstaat die Basis der Akkumulation, andererseits sind dem Kapital und den von ihm entwickelten Produktivkräften längst die nationalstaatlichen Grenzen zu eng geworden. Der Nationalstaat ist zu einer Schranke, zu einem Hindernis der Entwicklung geraten. Die „nationale“ wirtschaftliche Autonomie ist eine reaktionäre Utopie.

Zugleich vermag die imperialistische Bourgeoisie selbst in ihrem Kampf um die Neuaufteilung der Welt und im Interesse der Sicherung ihre jeweiligen Einflusssphären selbst auf den Nationalstaat nicht zu verzichten.

Heute ist die Weltwirtschaft zwar eng miteinander verzahnt, das Monopolkapital organisiert internationale Produktionsketten. Von den Rohstoffen bis zur Endverarbeitung haben wir es mit einer internationalen Arbeitsteilung zu tun – jeder Rückzug, jede versuchte Abschottung führt nicht zu mehr ökonomischer Leistung, sondern zu weniger.

Die nationalen Bourgeoisien sind freilich keine selbstlosen Vereinigungen. Die Expansion des Weltmarktes, von Handel und Kapitalverkehr stellt für keine nationale, zumal für keine imperialistische Bourgeoisie einen Wert an sich dar. Es geht für sie immer darum, in dieser Konkurrenz auch erfolgreich zu sein (oder zu bleiben). Das drohende Zurückbleiben in der Konkurrenz kann daher früher oder später dazu führen, die eigenen Rettung in der Abschottung, im Protektionismus zu suchen. Der Kampf um die Vorherrschaft treibt daher auch Freihandelsleute zur Errichtung von Schutzzöllen und zum Nationalismus.

Der Aufstieg des Populismus – ob an der Regierung oder als „alternative Option“ – ist auch ein Ausdruck dieses inneren Widerspruchs der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Periode.

Im Rechtspopulismus werden die Widersprüche des Kapitalismus freilich verklärt. „Unlauter“, „unfair“ seien die Kapitale und Regierungen anderer Länder, während das eigene Land, die eigene Wirtschaft, die eigenen Unternehmen, Banken wie Produktion um ihren „gerechten Anteil“ gebracht würden. Solcherart rechtfertigt Trump noch „America First“ als Ruf nach Gerechtigkeit, nach der Vorrangstellung, die den USA einfach zustünde und ihr unfaire WettbewerberInnen aus China, Deutschland oder Russland streitig machen wollten.

Diese Rhetorik, die sich auf die eine oder andere Weise bei allen Großmächten finden lässt, bildet einen notwendigen Bestandteil des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Der Rechtspopulismus spitzt sie nur zu – mit schwer kalkulierbaren destabilisierenden Folgen.

Während in der Phase der Globalisierung das eigene imperialistische Interesse von den meisten Großmächten und insbesondere von den USA in der Regel damit gerechtfertigt wurde, dass es im „höheren“ Interesse der „Weltgemeinschaft“ stünde, erleben wir heute eine Wende zum Unilateralismus. Diesem entspricht ein zunehmender Nationalismus. Der Rechtspopulismus greift diesen auf und richtet ihn auch gegen alle inneren Feinde, die einer aggressiveren Außenpolitik und konsequenteren Durchsetzung des eigenen Interesses im Wege stehen. So wie er die Unzufriedenheit des Volkes gegen „volksfeindliche“ Elemente, MigrantInnen, Flüchtlinge usw. zu richten versucht, mobilisiert er die Nation auch gegen den äußeren Feind. Dies geht Hand in Hand mit militärischer Aufrüstung, Drohungen, Interventionen und politischen Abenteuern.

Kernelemente des aktuellen Rechtsrucks und des Rechtspopulismus

Bevor wir die Regierungspolitik und die bonapartischen Tendenzen untersuchen, wollen wir einige ihrer Hauptmerkmale zusammenfassen.

Im Artikel „Rechtspopulismus in der ‚Berliner Republik’ und Europa – Ursachen und Hintergründe“ (8) tragen Bischoff/Müller folgende Ursachen seines Aufstieg zusammen:

  1. eine teils tief sitzende Verachtung gegenüber den bisherigen politischen Klassen oder der wirtschaftlich-politischen Eliten;
  2. die Ablehnung der Europäischen Union und der bisher verfolgten Austeritätspolitik;
  3. die Forderung, die nationalen Sozialsysteme gegenüber MigrantInnen, Flüchtlingen sowie „Arbeitsunwilligen“ abzuschotten.

Merkmal Systemopposition

Trotz aller bewiesenen Systemnähe bzw. Hörigkeit gegenüber der kapitalistischen Ordnung versuchen alle rechtspopulistischen Parteien, sich als größte Gegnerinnen der etablierten Politik darzustellen. Oftmals reicht es, dass sie zuvor eben nicht Teil der etablierten Politik waren, um sich nun als die wahren VerteidigerInnen und VersteherInnen des Staatsvolks zu verkaufen.

Dabei nehmen sie alle sozialen und politischen Verwerfungen der Regierung zur Vorlage, wettern gegen den Verrat am Volk. Reale Alternativen haben sie meist wenige bis keine zu bieten, aber in ihrer Feindschaft zur etablierten Politik sind sie kaum zu übertreffen. Es ist aber auch bezeichnend, dass sie hinsichtlich „Feindschaft“ und „Fundamentalkritik“ gegenüber dem bestehenden System die meisten linken und reformistischen Parteien locker übertreffen. Letztere verkaufen sich oftmals selbst als staatstragend und regierungstauglich, während sich der Rechtspopulismus als Vertreter der „Geächteten“ präsentiert. Das hat ihm bei jeder Wahl geholfen, vermag er sich doch aufgrund der biederen, angepassten und kapitaltreuen Politik des Gros der Sozialdemokratie, aber auch zahlreicher Linksparteien als „einzige Alternative“ zum System zu präsentieren.

Dieses Merkmal kann an der Regierung, insbesondere angesichts von krisenhaften Entwicklungen, verloren gehen, insbesondere wenn diese Parteien in Koalition mit etablierten konservativen Parteien den „Sachzwängen“ folgen müssen und somit notwendigerweise auch ihre kleinbürgerlichen, subproletarischen oder proletarischen WählerInnenschichten angreifen müssen.

Dem versuchen sie auch an der Regierung mit populistischer Dauerdemagogie und „Mobilisierung“ gegen die feindlich gesinnte internationale oder nationale „Elite“ zu begegnen. So ist es kein Wunder, dass sich Trump, Salvini, Strache, Orbán, Kaczynski oder auch Erdogan allesamt als „Opfer“ liberaler oder kosmopolitischer Seilschaften aufführen – ob nun des „demokratischen Pöbels“ oder der EU, ob nun der Soros-Stiftung oder der Gülen-Bewegung. Diese Spannung muss aufrechterhalten werden, um vom Klassencharakter des eigenen Regimes, der fortgesetzten oder verschärften Ausbeutung der „Volksmassen“, also vor allem der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen, abzulenken.

Abgesichert wird die fortgesetzte „Opposition“ zu den „alten Eliten“ durch den mehr oder minder gezielten Umbau des Staates, die Neubesetzung von Ämtern oder die Schaffung bonapartistischer oder autoritärer „Sonderbefugnisse“ an der Regierung. Die Ersetzung repräsentativ-demokratischer durch plebiszitäre Elemente und die Aushebelung demokratischer Rechte bilden den realen Gehalt des „Rufs nach mehr Rechten für das Volk“.

Merkmal Rassismus und antiislamischer Rassismus

Der europäische Rechtsruck baut auf Rassismus, speziell den anti-muslimischen. Diese Melange wurde nicht erst seit 2014/15 in die Welt gesetzt, sondern baut in der neueren Vergangenheit besonders auf dem „Krieg gegen den Terrorismus“ auf. Die Religion Islam, inklusive ihrer Gläubigen, wird als Bedrohung für die westliche Kultur dargestellt. „TerroristIn, SalafistIn oder DschihadistIn“ wechseln sich als Feindbilder und rassistisch motivierte Stigmata ab. Damit werden der staatliche „Antiterror-Kampf“ und die mediale Hetze seit gut 20 Jahren befeuert, insbesondere seit der Besetzung Afghanistans. Der Rechtspopulismus brauchte daran nur anzudocken. Viele seiner AnhängerInnen betrachten sich als die westlichen VorkämpferInnen im „Kampf der Kulturen“, die wahren VerteidigerInnen des christlichen Abendlandes.

Den etablierten politischen Kräften wird unterstellt, nicht nur den Kampf gegen Terrorismus und Islamisierung nicht richtig zu führen, sondern gar ihn bewusst zu hintertreiben. An dieser Stelle docken neo-faschistische und „neu rechte“ Ideologie und Propaganda an, die eine „Umvolkung“ und den „Großen Austausch“ als Projekt der kosmopolitisch und multikulturell verseuchten „Elite“ betrachten, gegen die eine „nationale/konservative“ Revolution organisiert werden müsse.

Gleichzeitig greift der Rechtspopulismus je nach bürgerlich-nationaler Prägung auch auf alle anderen rassistischen Diskriminierungen zurück. In Europa trifft dies besonders die Roma und Sinti, die wieder überall dort durch staatliche Diskriminierung, Massenabschiebungen wie in Frankreich und Deutschland oder direkt durch rassistische Gewalttaten wie in Ungarn, Bulgarien und der Slowakei bedroht werden. Diese gelten als Bedrohung des Sozialstaates in den „Einwanderungsländern“, ähnlich den afro-afrikanischen MigrantInnen, die neben der Armutseinwanderung auch speziell „gefährlich“ für die „weiße“ europäische Frau sein sollen. Dies alles paart sich in den unterschiedlichen Staaten mit regionalen und lokalen Ressentiments und einer Wiederbelebung aller rassistischer, in ihrer Konsequenz spalterischen Hetze, die bis zur physischen Vernichtung gehen kann.

Merkmal nationalistische Überhöhung

Dem Rassismus ähnlich, erfindet auch der Nationalismus der rechtspopulistischen AkteurInnen nichts neu. Der Präsident der „Führungsmacht“ USA symbolisiert dies bis heute mit „America first“. Ähnlich dem Merkmal der Systemopposition nehmen die neuen/alten Rechten den Standpunkt der „einzig wahren“ PatriotInnen ein, diejenigen, die eben nicht Nation und Volk an „fremde“ Mächte verraten hätten. Meistens haben auch nur sie erkannt, welche finsteren Mächte sich gegen die Nation verschworen hätten – und natürlich würden nur sie den Ausweg kennen.

Auch wenn der gegen die MigrantInnen und Geflüchteten gerichtete und ausgeübte Rassismus als „übernationales“ Bindeglied dient, das z. B. auch in Form des Ethnopluralismus ideologisiert wird, wenn ein gemeinsames „christliches Europa“ beschworen wird, so vermögen diese Ideologien nur gegenüber einem gemeinsamen Dritten, einem/r „unzivilisierten“, barbarischen FeindIn der „europäischen“ oder sonstiger Völker vereinheitlichend wirken. Eine Überwindung der nationalen Gegensätze kann grundsätzlich jeder, wie auch immer verbrämte Nationalismus nicht mit sich bringen. Allenfalls können diese Ideologien neben einer Vereinheitlichung gegen eine/n gemeinsame/n, rassistisch als minderwertig definierte/n FeindIn auch dazu dienen, die reale Dominanz der vorherrschenden „weißen Völker“ auch gegenüber ihren schwächeren VasallInnen zu legitimieren.

Bei allem „Europa der Völker“-Gedöns unterstellen z. B. die VertreterInnen des deutschen oder französischen Populismus (und auch des Rechtsextremismus und Faschismus) die Führungsrolle „ihres“ Volkes. Bei allem Beschwören des „Europas der Völker“ wollen weder AfD noch FN den kleineren Nationen etwas schenken. Sie würden vielmehr der angeblichen Freizügigkeit des „Euro-Regimes“ und der EZB, der angeblichen Bevorzugung der „faulen“ gegenüber den „tüchtigen“ Nationen ein Ende zu bereiten trachten.

Merkmal gute Führung

Ähnlich dem Faschismus versucht sich der Rechtspopulismus über „richtige“ Führung zu definieren. Diese Führung solle den „echten Volkswillen“ verstehen und die Nation in schwierigen Zeiten zu „alter“ Größe führen. Im Gegensatz zum Faschismus will der Rechtspopulismus zunächst keinen „Führerstaat“. Ihm reicht es, wenn die bisherige Staatsform getreu den Erwägungen der neuen Führenden umgebaut wird. Autoritäre und bonapartistische Elemente sollen gestärkt werden.

Dazu gehört der Ausbau der exekutiven Gewalt, der präsidialen Vollmachten, damit die Staatsführung sich nicht mit den lästigen parlamentarischen Hürden beschäftigen muss. Oft wird dann folgendes Bild gezeichnet: wenn die neue, rechte Führung doch tun könne, was sie wolle, dann würde alles schneller und besser für das Volk werden. Nur stehen dem das „abgehobene“ parlamentarische System, zu komplizierte rechtliche Regelungen oder die „Volksferne“ des Apparates entgegen. Daher werden im Extremfall Verfassungen wie beispielsweise in der Türkei geändert oder wird per Dekret und Ausnahmezustand regiert. Die erhaltenen Elemente der „Demokratie“ dienen zugleich der Organisierung plebiszitärer Zustimmung zur Staatsführung – beispielsweise über „Volksabstimmungen“, die der autoritären Herrschaft pseudo-demokratische Legitimation verleihen sollen und/oder parlamentarische Institutionen an den Rande drängen.

Da der Populismus immer eine klassenübergreifende AnhängerInnenschaft bei der Stange halten muss und zugleich die Interessen des Kapitals (resp. in Halbkolonien auch des Imperialismus) bedienen muss, tendiert er notwendigerweise zu autoritären, plebiszitären und bonapartistischen Formen der Herrschaft. In der „guten Führung“ sollen die gegensätzlichen Interessen der verschiedenen Klassen, die das Volk bilden, symbolisch „versöhnt“, während in der Realität jene des Kapitals bedient werden.

Bonapartismus, Autoritarismus und die Zukunft der kapitalistischen Demokratie

Der Rechtspopulismus beansprucht ideologisch, die „echte Demokratie“ als wahrer Sachwalter der Volksinteressen zu verwirklichen.

Die Staatselite der „etablierten“ Parteien wird als das eigentliche Problem der Gesellschaft angesehen, die Klassengesellschaft wird hierbei in den Hintergrund gerückt. Die Lösung aller Probleme wird in einer Übernahme der Exekutivgewalt durch die populistischen AkteurInnen gesehen. Dann ist die Möglichkeit da, „für“ das Volk zu regieren.

Spätestens dann tritt aber ein wesentliches, widersprüchliches Element der populistischen Bewegungen und Parteien offen hervor. Als einigender Startpunkt galt der Kampf gegen die bisherigen Eliten in Staat und Verwaltung, die vom Rechtspopulismus als „volksschädigend“ angesehen werden. Die Kritik an der Kaste der Berufspolitik wird rein subjektiv und moralisch vorgetragen. Hier befindet sich der Populismus in „seinem“ Element. Die persönliche Entgleisung gegenüber der Staatselite gilt als populistische Feuertaufe, nur um sich selbst als moralisch höherstehend darzustellen.

Sobald die „richtige“ Führung die Exekutivgewalt übernimmt, fallen anscheinend alle Mängel des bestehenden Staatswesens weg. Der Populismus versucht, die bürgerlich-kapitalistische Staatsmaschinerie für seine Zwecke in Besitz zu nehmen. Das mag Säuberungen, Umbau der Institutionen, mehr oder minder offen vorgetragen Begünstigung der eigenen AnhängerInnen einschließen.

In jedem Fall tendiert der Rechtspopulismus dazu, den Staat noch mehr gegenüber der Bevölkerung

zu verselbstständigen, besonders dessen Exekutivorgane. Hier kann auch der Übergang zu bonapartistischen Entwicklungen fließend sein. Den Zusammenhang zwischen ökonomischer, parlamentarischer Krise, Aufstieg des Rechtspopulismus bis hin zu bonapartistischen Regierungsmodellen herzustellen, heißt: Der Populismus (sowohl linker wie rechter) will den Staat weder abschaffen noch zerschlagen, sondern diesen nur inhaltlich und personell erneuern.

Da der Rechtspopulismus nicht den Kapitalismus als Ursache der staatlichen, exekutiven Politik und die „Entfremdung“ des politischen Personals von der Bevölkerung benennt, sondern verschleiert, legt er zugleich eine „ungehinderte“ Regierungs- und Entscheidungsfähigkeit des Staates als Lösung aller Probleme des Volkes nah. Die Aussöhnung des „Volkes“ mit dem Staat und seinen Exekutivorganen wird zwar als wesentliches Ziel proklamiert, in der Realität muss er sich aber von der Masse des Volkes, vor allem von der ArbeiterInnenklasse und den unteren Schichten des KleinbürgerInnentums entfernen.

Dieser Widerspruch wird vom Rechtspopulismus in seinen verschiedenen Facetten über plebiszitäre Formen und scheinbar über den gesellschaftlichen Interessen stehende „starke“ Führungsfiguren kaschiert, die subjektiv und moralisch aufgewertet werden und als dem „Gemeinwohl“ verpflichtet erscheinen.

Das Hervortreten populistischer, autoritärer und tendenziell anti-demokratischer Kräfte im Spektrum der bürgerlichen Politik ist in Zeiten der kapitalistischen Krise keine zufällige, sondern eine gesetzmäßige Erscheinung. Eine stabile bürgerlich-parlamentarische Herrschaftsform setzt immer auch eine relative Stabilität des ökonomischen Fundaments des Kapitalismus voraus. Daher wurde sie während des „langen Booms“ zur vorherrschenden Form. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten bürgerliche Wirtschafts- und GeisteswissenschaftlerInnen wie Fukuyama „Das Ende der Geschichte“ proklamiert und meinten damit einen langfristigen Siegeszug von freier Marktwirtschaft und liberaler Demokratie. Die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 verdeutlichte für Millionen und Abermillionen, dass der globale Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte bedeutet, sondern wir am Beginn einer Periode von Krisen, Zusammenbrüchen und Katastrophen stehen.

Mit der Krise wurden nicht nur die Heilsversprechen des Neoliberalismus, sondern auch der sog. „westlichen“ Demokratie erschüttert, unglaubwürdig. Sie entpuppten sich für Millionen nicht nur in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten als leeres Versprechen, als Herrschaftsform einer „Elite“, nämlich der des Kapitals. In den Halbkolonien war die bürgerliche Demokratie notwendigerweise immer schon fragiler. Dort musste immer wieder auf autoritäre, diktatorische Formen der Herrschaft zurückgegriffen werden, um die Interessen der nationalen Elite und des Imperialismus zu verteidigen. Spätestens seit der globalen Krise liefert „die Demokratie“ auch für die Massen in Europa oder den USA immer weniger.

Dies führt einerseits zum kleinbürgerlich-utopischen Ruf nach „echter“, also echter bürgerlicher Demokratie bei gleichzeitiger Beibehaltung des Kapitalismus. Andere wiederum macht es auch für einen „stärkeren“, lenkenden Staat empfänglich. Wenigstens einige zentralisierenden, autoritäre Elemente des chinesischen oder russischen Staates erscheinen im Populismus durchaus als vorbildlich – insbesondere seine gleichzeitige nationalistische Ausrichtung und scheinbare Begünstigung des „eigenen Volkes“.

Solcherart versucht der Populismus, einen autoritären Staatsumbau als notwendig für die nationale „Gesundung“ hinzustellen. Dabei müssen notwendigerweise erkämpfte demokratische Rechte auf der Strecke bleiben – was sowohl eine bonapartistische oder autoritäre Herrschaft offen bürgerlicher oder populistischer Parteien oder, im Falle ihres Scheiterns, auch den Faschismus vorbereiten kann.

Verschärfung der Repression

Rechte nationalistische Regierungen stärken die autoritären Züge des Staates. Das ist nicht neu und Bestandteil vieler etablierter konservativer Regierungen. In Ungarn und Polen sehen wir gewissermaßen eine Nachahmung des „russischen Demokratiemodells“. Der konkurrierende bürgerliche „Block“ wird marginalisiert, aus der Bürokratie, den Staatsunternehmen, den Medien und der Justiz entfernt, wie auch jegliche Kritik an der Regierung nicht mehr unter Meinungsfreiheit fällt, sondern eher unter die Kategorie „Landesverrat“. Diese vom Westen immer gern an Russland kritisierten Züge finden wir zum Teil auch bei der Trump-Administration, die auf Bundes -und Landesebene für ausschließlich politisch gefällige RichterInnen sorgt.

Überwachung, Polizeiaufgabengesetze, der Aufbau neuer innerer Dienste sind Folge einer neuen bürgerlichen „Staatsbildung“ von rechts – schließlich sollen alle potenziellen GegnerInnen schon eingeschüchtert, drangsaliert und am besten gleich kriminalisiert werden. Dies sollte die Linke nicht überraschen. Krisenperioden erfordern geradezu eine (präventive) Einschränkung der „Demokratie“ für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten.

Dies wird derzeit bei den Geflüchteten, den MigrantInnen auf die Spitze getrieben. Ihre ohnedies eng beschränkten Rechte werden weiter abgebaut. Das Recht auf Asyl ist in den meisten Ländern der Welt längst zur Farce geworden. MigrantInnen und Flüchtlinge werden an den Außengrenzen der EU und USA regelrecht militärisch und polizeilich bekämpft und als „Asyltourismus“ und „Kriminelle“ rassistisch diffamiert.

Das kann auch zur Übernahme von repressiven Aufgaben des Staates durch Rechtsextreme führen, wie die Wahren Finnen an der Regierungsverantwortung zeigten: „Beträchtlich Aufmerksamkeit erhielten Anfang 2016 als ‚Bürgerwehr’ auftretende neonazistische Gruppen wie die ‚Soldiers of Odin’. Der ebenfalls Perussuomalaiset (Wahre Finnen) angehörende Justizminister Jari Lindström hieß die Straßenpatrouillen zum Schutz ‚weißer Frauen vor Zugewanderten’ legal; man müsse die Ängste der Bevölkerung jetzt ernstnehmen.“ (9)

Diese Einbindung faschistischer Milizen in den bürgerlichen Staat macht diesen bzw. dessen Regierung zwar noch nicht zu einem faschistischen, sie stellt aber einen möglichen, extremen Weg der Integration dieser Kräfte in den „neuen“, autoritären Staat dar.

Eine andere Möglichkeit des „Staatsumbaus“ verkörpert die Regierung per Dekret oder Ausnahmegesetzen, wie sie von Erdogan, von Trump, aber auch von Macron eingesetzt wurden und werden. Dadurch lässt sich die Legislative ganz bewusst umgehen. In der Türkei und Frankreich gab es zum einen „lange“ Phasen des Ausnahmezustandes (in der Türkei bis Mitte 2018, Frankreich bis Ende 2017), in denen Gesetze nur vom Präsidenten verabschiedet werden mussten. Die Maßnahmen wurden als Mittel zur Abwehr des „Terrorismus“ und zum „Schutz der öffentlichen Ordnung“ gerechtfertigt.

Diese kleine Auswahl zeigt, dass in der Krise die kapitalistische Demokratie einem Wandlungsprozess unterzogen ist, die demokratischen Rechte nicht nur vom Populismus, sondern auch von anderen Fraktionen der Bourgeoisie in Frage gestellt und eingeschränkt werden.

Neuausrichtung des Staates und der Bonapartismus

Mit dem lesenswerten Buch „Die neuen Bonapartisten: Mit Marx den Aufstieg von Trump und Co. verstehen“ (10) versuchen die AutorInnen, den Aufstieg des Rechtspopulismus mit der Marx’schen Bonapartismus-Theorie zu erklären. Auch wenn die politischen Schlussfolgerungen recht kurz greifen, wird der Zusammenhang zwischen Kapitalismus in der Krise, den politischen Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung und der autoritären „Neujustierung“ des Staates durch diese politischen AkteurInnen beleuchtet.

Wie bei vielen historischen Vergleichen können wir kein abstraktes Schema über die Vorgänge in Frankreich zwischen 1848 und 1851 und die heutigen kapitalistischen Staaten legen. Wir können aber sehr wohl versuchen, die Zwänge und Konflikte für die Bourgeoisie nachzuvollziehen, um so ihren Umgang mit „ihrer“ Demokratie besser zu verstehen.

Nachdem die bürgerliche Revolution 1848 zunächst die Monarchie unter Louis Philippe beendete, die Rechte der Nationalversammlung wiederherstellte, die Gewaltenteilung und das allgemeine Wahlrecht für Männer verkündete, begrub der zwischenzeitlich gewählte Präsident Louis Bonaparte diese Republik im Dezember 1851, rief sich zum Kaiser Napoleon III. aus und Frankreich zum „zweiten Kaiserreich“. In der ersten Phase der Revolution wurde 1848 der „Juni-Aufstand“ des Pariser Proletariats niedergeschlagen, Tausende getötet, Zehntausende inhaftiert und deportiert. Marx spricht von einer strategischen Niederlage des Proletariats, das nunmehr im „Hintergrund“ verweilen musste, weil es seine Kampfkraft verbraucht hatte. Wie in vielen bürgerlichen Revolutionen versprach zunächst auch das französische Bürgertum den Lohnabhängigen vieles. Nach der Wahl der Nationalversammlung muss das Pariser Proletariat jedoch erkennen, dass davon nur Schall und Rauch übrig bleiben würden, und probt den Aufstand. Die „Einigkeit“ der verschiedenen bürgerlichen und monarchistischen Fraktionen und Parteien endet aber mit der Niederschlagung des „Juni-Aufstandes“, danach beginnt eine Phase, die sehr gut die Probleme des Bürgertums mit Staat und Demokratie aufzeigt.

„Der umfassende Widerspruch aber dieser Konstitution besteht darin: Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll, Proletariat, Bauern, Kleinbürger, setzte sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktionierte, der Bourgeoisie, entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, daß sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den anderen, daß sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.“ (11)

Diese Widersprüche erledigt das französische Bürgertum dann im Fortgang der Ereignisse selbst. Verschiedenste Parteien, Fraktionen und Klüngel der Bourgeoisie versuchen, sich des Staatsapparates zu bemächtigen, diesen für ihre Zwecke zu gebrauchen.

Dabei kommt es immer wieder zu neuen zeitweiligen Bündnissen: Die Finanzaristokratie, die industrielle Bourgeoisie, die Ordnungspartei „des“ Präsidenten (welche bis zuletzt mitwirken darf), die VertreterInnen der Bourbonen als nicht gestürztes Adelsgeschlecht, das Kleinbürgertum, die „aufrechten“ Republikaner – alle versuchen, Legislative und Exekutive für sich zu nutzen.

Währenddessen wird mit Louis Bonaparte ein „populärer“ Präsident gewählt, erhält 5 von 7 Millionen Stimmen – auch, da an den Händen seines Amtsvorgänger Cavaignac noch das Blut des „Juni-Aufstandes“ klebt, vor allem aber, weil Bonaparte dem gesamten Volk Wohlstand, Fortschritt und Freiheit verspricht und sich bewusst auch als Präsident der „kleinen Leute“ präsentiert.

Die „Verselbstständigung“ der Exekutivgewalt schreitet nun immer mehr voran. Diese geht aber nicht ausschließlich vom Präsidenten aus, sondern vor allem von den mit ihm verbündeten bürgerlichen Parteien. Diese hoffen so, ihre Bedürfnisse „schneller“ befriedigen zu können, indem die Legislative Schritt für Schritt entmachtet wird.

Die Stärkung der Exekutivgewalt, die schrittweise Entmachtung der Nationalversammlung führt dann zur „Verselbstständigung“ des Präsidenten, der im Bündnis mit der Armee, den sog. „Dezember-Milizen“, einer kleinbürgerlichen und lumpenproletarischen Ansammlung von Freischärlern, die Republik abberuft und sich zum Kaiser krönt.

In diesem bürgerlich-parlamentarischen Spektakel war die französische Bourgeoisie die Kraft, welche den Präsidenten, sein Amt und seine Verselbstständigung befeuerte, um am Ende selbst die direkte politische Macht zu verlieren. Ihre ökonomische Herrschaft blieb unangetastet. Marx beschrieb das Verhältnis der bürgerlichen Schichten zum Bonaparte wie folgt:

„Die Bourgeoisie hatte jetzt offenbar keine andere Wahl, als Bonaparte zu wählen. Als die Puritaner auf dem Konzile von Konstanz über das lasterhafte Leben der Päpste klagten und über die Notwendigkeit der Sittenreform jammerten, donnerte der Kardinal Pierre d’Ailly ihnen zu: ‚Nur noch der Teufel in eigner Person kann die katholische Kirche retten, und ihr verlangt Engel.’

So rief die französische Bourgeoisie nach dem coup d’état: Nur noch der Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember kann die bürgerliche Gesellschaft retten! Nur noch der Diebstahl das Eigentum, der Meineid die Religion, das Bastardtum die Familie, die Unordnung die Ordnung!

Bonaparte als die verselbständigte Macht der Exekutivgewalt fühlt seinen Beruf, die ‚bürgerliche Ordnung’ sicherzustellen. Aber die Stärke dieser bürgerlichen Ordnung ist die Mittelklasse. Er weiß sich daher als Repräsentant der Mittelklasse und erläßt Dekrete in diesem Sinne. Er ist jedoch nur dadurch etwas, daß er die politische Macht dieser Mittelschicht gebrochen hat und täglich von neuem bricht. Er weiß sich daher als Gegner der politischen und literarischen Macht der Mittelklasse. Aber indem er ihre materielle Macht beschützt, erzeugt er von neuem ihre politische Macht. Die Ursache muß daher am Leben erhalten, aber die Wirkung, wo sie sich zeigt, aus der Welt geschafft werden. Aber ohne kleine Verwechslungen von Ursache und Wirkung kann dies nicht abgehn, da beide in der Wechselwirkung ihre Unterscheidungsmerkmale verlieren.“ (12)

Hier haben wir ein sehr anschauliches Beispiel für die Perspektive der damals genannten „Mittelklassen“, des heutigen Kleinbürgertums, wenn es denn hofft, durch rechtspopulistische Parteien und deren Führung einen besseren kapitalistischen Deal zu bekommen. Bonaparte hielt diese Schichten durch Erlasse/Dekrete bei „Laune“, während aber gleichzeitig die Macht der Finanzaristokratie und/oder des industriellen Kapitals nicht angetastet wurde und im Gegenteil eine neue kriegerische Expansion der „Kaiserrepublik“ vonstattenging. Gewissermaßen zeigt dieser Umgang der Bourgeoisie und der Mittelklassen mit dem Populisten Bonaparte (aus heutiger Sicht sicher Populist, wenn auch kein „rechter“) die ganze schwierige Situation der aktuellen Lage.

Wenn die stabile bürgerliche Herrschaft Risse bekommt, international gar die aktuelle imperialistische Ordnung ins Wanken gerät, dann ist die Bourgeoisie auf jeden Fall die letzte Kraft, die eine „Demokratie“ oder „Republik“ garantieren kann. Sie hat gar kein „besonderes“ Interesse daran. Ihr besonderes Interesse ist ihre ökonomische Verfügungsmacht, nicht die politische Hülle, auch wenn eine Demokratie manches „einfacher“ und „friedlicher“ machen kann. Wenn die Frage der künftigen Weltordnung auf der Tagesordnung steht, wenn die ambitionierten Bourgeoisien der Welt ihre Stellung erhöhen wollen, dann geht es eben nicht um „friedlicher/demokratischer“, sondern darum, wie effizient dieser Weg beschritten werden kann. In diesem Interesse wird auch der Staat neu ausgerichtet, in seinen administrativen Möglichkeiten mit gleichzeitigen Abbau der legislativen „Einschränkungen“ – die Unabhängigkeit der Judikative war immer ein historischer Scherz – zum Wohle der aktuellen Interessen des Kapitals. Dabei kann es dann vorkommen, dass nicht ausschließlich die Interessen des „objektiven Gesamtkapitalisten“ führend sind, aber dann über den Bonaparte, den autoritären/faschistischen Führer Teil der Regierungspolitik werden.

In seiner Funktion kann der Bonaparte etwas „Unabhängiges“ vortäuschen, eine Rolle einnehmen, die über den Klassen steht, sich als „Vermittler“ generieren. Diese ist sehr hilfreich, um sich als den „wahren Volksanführer“ darzustellen. Real ist dieser Bonaparte nie „unabhängig“, er/sie muss sich immer auf Fraktionen der Bourgeoisie und/oder des bewaffneten Staatsapparates stützen – soviel „Abhängigkeit“ ist immer gegeben.

Insoweit kann die Bonapartismus-Theorie viel über die bürgerliche Demokratie erklären, auch wenn z. B. die AutorInnen des eingangs genannten Buches in ihrer Schlussfolgerung inkonsequent bleiben:

„Die bonapartistischen Tendenzen und die damit verbundenen Tendenzen zur Barbarei sind überall in der Welt mit demokratischen Gegenbewegungen – mit unterschiedlicher Reichweite und Macht – konfrontiert, die auch von relevanten Teilen der subalternen Klassen getragen werden. In der Abwehr der autoritären Tendenzen kann sich das Programm der Demokratie keineswegs auf rein politische Forderungen – z. B. Schutz der Grundrechte und internationaler Vereinbarungen – und die Verteidigung einer unabhängigen Justiz sowie der Freiheit der Wissenschaft beschränken. Demokratischer Kampf ist heute mehr denn je auf das Ziel der sozialen Gerechtigkeit, des Schutzes der Natur und der Umwelt sowie der Gleichheit (der Lebenschancen) ausgerichtet, worin auch die Erfahrungen der sozialistischen Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts aufgehoben sind. Eingriffe in die Eigentumsrechte, die Vermögensverteilung und in die Freiheit der Märkte sind zur Erreichung solcher Ziele unabdingbar. Gerade in der angelsächsischen Welt – in den USA und in Großbritannien – haben die Krisen des Kapitalismus, die Folgen der neoliberalen Politik und eine imperiale Außenpolitik schon Bewegungen für eine demokratische Alternative gestärkt, für die heute Namen wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn stehen.“ (13)

Im Grunde liefert Deppe hier eine Neuauflage des radikaleren Reformismus der Nachkriegsperiode. Die bürgerliche Demokratie soll schrittweise zur „sozialen“ ausgebaut, der bürgerliche Staat den „subalternen“ Klassen dienstbar gemacht werden. Statt den bürgerlichen Staatsapparat, wie Marx aus dem Scheitern der 1848er-Revolution schließt, zu zerbrechen, sollen die Unterdrückten und Ausgebeuteten darum kämpfen, ihn doch für ihre Zwecke dienstbar zu machen.

Corbyn und Sanders repräsentieren zwar Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus richten. Aber Sanders selbst bleibt sogar nur im Rahmen der Demokratischen Partei und weigert sich, die Subalternen überhaupt zum Bruch mit einer Partei des bürgerlichen Establishments zu führen. Corbyn stellt zweifellos eine linkere Variante dar, weil er eine Linksentwicklung in der ArbeiterInnenbewegung repräsentiert. Aber auch seine Politik ist auf den linken Reformismus, auf bürgerliche ArbeiterInnenpolitik beschränkt.

Wenn auch richtig erkannt wird, dass der autoritäre Staatsumbau die Tendenz zur Barbarei in sich trägt, so sollten wir uns daran erinnern, dass die von Rosa Luxemburg so trefflich benannte Alternative nicht „Demokratie oder Barbarei“, sondern „Sozialismus oder Barbarei“ heißt. Es muss darum gehen, den aktuellen Abwehrkampf zu einem antikapitalistischen, revolutionären weiterzutreiben, dann können die Gegenbewegungen auch ihre längerfristigen Ziele erreichen. Dieses strategische Ziel kann nicht die „Demokratie“ der 1970er Jahre sein oder der „Sozialismus“ wie in Skandinavien, sondern der Kampf gegen Rassismus, Sozialkürzungen, Umweltvernichtung und den Abbau demokratischer Rechte muss den für eine nicht-kapitalistische, sozialistische Gesellschaftsordnung beinhalten. Sonst bleiben wir in den leeren Hülsen der bürgerlichen „Demokratie“.

Wir müssen uns daher bewusst machen, wie schnell die bürgerliche Demokratie untergehen, wie schnell autoritäre und gar faschistische Politik im Kapitalismus wirksam werden können. Das zeigt eine nähere Betrachtung aller historischen Krisen- und Umbruchphasen des 20. Jahrhunderts. Der Bonaparte des 19. Jahrhunderts stellte jedoch nicht nur eine grundsätzliche Warnung für die ArbeiterInnenklasse und die unteren Schichten des Kleinbürgertums dar, sondern auch ein Beispiel für die Entwicklung von einer revolutionären Situation zu einer konterrevolutionären, bonapartistischen Herrschaft.

Die Verteidigung von demokratischen Rechten, die die ArbeiterInnenbewegung errungen hat, bildet daher auch heute eine entscheidende Aufgabe, gerade wenn wir die Angriffe rechtspopulistischer Bewegungen und Regierungen betrachten. Das Versammlungsrecht, die Presse- und Meinungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit oder „nur“ die „Freiheit“, nicht ohne Anklage eingesperrt zu werden, werden von den autoritären nationalistischen Regierungen in Frage gestellt. Aber auch die bestehenden bürgerlichen Regierungen, wie z. B. die Große Koalition, führen ähnliche Angriffe durch.

Die Verteidigung von demokratischen Rechten darf jedoch nicht mit der Verteidigung der kapitalistischen Demokratie an sich verwechselt werden. Der ArbeiterInnenklasse muss vielmehr im Zuge der Verteidigung ihrer Rechte die Notwendigkeit vermittelt werden, die bürgerliche Herrschaft und ihren Staat zu zerschlagen, zu zerbrechen und durch eine Räterepublik, eine ArbeiterInnendemokratie zu ersetzen.

Wie kann der Rechtspopulismus geschlagen werden?

Der Vormarsch des Populismus scheint in den letzten Jahren nahezu ungebrochen. Ob in den USA, in Europa oder einer Reihe von Halbkolonien – der Aufstieg rechter DemagogInnen ist beängstigend.

Grundsätzlich bilden in praktisch allen Ländern wichtige Teile des KleinbürgerInnentums und der lohnabhängigen Mittelschichten den Kern der Massenbasis des Rechtspopulismus. Diese Erschütterungen des Kapitalismus haben auch das Zutrauen dieser Schichten und Klassenfraktionen in die bürgerliche Demokratie, in den Parlamentarismus und die vorherrschenden Formen des „Klassenkompromisses“ unterhöhlt.

Die Niederlagen in Griechenland und anderen Kämpfen gegen die Austerität, das Scheitern der Arabischen Revolution, die bürgerliche Koalitionspolitik der Sozialdemokratie und der sozialpartnerschaftliche Kurs der Gewerkschaften bedeuten zugleich, dass die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten für die große Masse der „Zwischenschichten“ und „Zwischenklassen“ nicht als gesellschaftliche Alternative in Erscheinung treten.

Zugleich hat die Krise auch wirklich viele KleinbürgerInnen und Angehörige der lohnabhängigen Mittelschichten nach unten gedrückt, an den Rand des Abgrunds oder sogar in den Ruin getrieben – insbesondere in den Ländern Süd- und Osteuropas. In anderen fürchten sie, ob nun zu Recht oder zu Unrecht, abzusteigen, um die Früchte ihrer „harten Arbeit“ betrogen zu werden, in die ArbeiterInnenklasse oder gar ins Prekariat abzusinken. Selbst wenn diese Ängste bei ganzen Schichten übertrieben sein mögen, so fassen sich darin keineswegs nur die eigenen gefühlten Zukunftsängste zusammen, sondern auch die reale Erfahrung einer zunehmend krisengeschütteten Welt, in der die traditionellen liberalen, konservativen oder auch sozialdemokratischen Parteien wie hilflose SchönrednerInnen erscheinen.

Es sind die akkumulierten Niederlagen der letzten Jahre, die Krise der ArbeiterInnenbewegung und ihrer politischen Führung, die auch verschiedene Schichten der Lohnabhängigen für den Populismus empfänglich machen.

Bei praktisch allen Wahlerfolgen gelang es diesen Parteien, bedeutende Schichten der Lohnabhängigen für sich zu gewinnen, teilweise sogar in einem beängstigenden Ausmaß. So stimmten große Teil der weißen Lohnabhängigen in den „Rust Belts“ für Trump. Der FPÖ, der AfD, dem FN, aber auch der Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung gelangen massive Einbrüche in die ArbeiterInnenklasse.

Das kann sowohl die industriellen Kernschichten, Angestellte oder Beschäftige im öffentlichen Dienst, Sektoren der „ArbeiterInnenaristokratie wie auch prekär Beschäftigte oder Erwerbslose betreffen. Zahlreiche Untersuchungen und die Erfahrung vieler linker AktivistInnen zeigen auch, dass gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen keineswegs immun gegen Rechtsruck und Rechtspopulismus sind.

Bemerkenswert ist freilich, dass der Anteil von rechtspopulistischen Parteien unter Frauen geringer ist als unter Männern. Zweitens ist er in den städtischen Zentren in der Regel geringer als in kleineren Städten oder auf dem Land. Das reflektiert zweifellos die üblicherweise größere soziale Dominanz kleinbürgerlicher Schichten außerhalb der Großstädte. Hinzu kommt, dass dort in der Regel die politische Linke wie auch die gewerkschaftlichen und reformistischen Organisationen stärker vertreten sind. Ergänzend leben in den Ballungszentren oft mehr MigrantInnen – also ist auch ihr Anteil an der ArbeiterInnenklasse dort stärker – und die großstädtische Bevölkerung weist oft schwächere Bindungen an kulturelle und nationalen „Traditionen“ auf.

Auch wenn selbst das nur Trends sind, so reflektiert sich darin das Gewicht kleinbürgerlicher Vorstellungen in den populistischen Parteien und Bewegungen.

Doch es wäre zu kurz gegriffen, den Populismus als rein kleinbürgerliche Bewegung zu definieren. Vor dem Hintergrund der Krise bringt er nicht nur die Unzufriedenheit und den Pessimismus des KleinbürgerInnentums zum Ausdruck, sondern reflektiert auch die inneren Konflikte in der herrschenden Klasse. Populistische FührerInnen wie Trump, Salvini, Orbán, … artikulieren auch, ja vor allem diese bürgerlichen Klasseninteressen, selbst wenn sie sich noch so sehr als VertreterInnen der „einfachen Leute“ hinstellen.

Sie nutzen die Desillusionierung, die Unzufriedenheit, Frustration im KleinbürgerInnentum wie auch unter Teilen der Lohnabhängigen, um diese vor den Karren eines bestimmten, nach einer Veränderung des institutionellen Systems und einer anderen strategischen Ausrichtung drängenden Teils der herrschenden Klasse zu spannen.

Rassismus, Nationalismus, kulturalistischer Plunder, alle möglichen reaktionären, patriarchalen, sexistischen Ideen dienen im Populismus dazu, den KleinbürgerInnen, Mittelschichten, rückständigen ArbeiterInnen ein Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln. Sie müssen aber auch als Surrogat, als Ersatz für die Umsetzung realer Verbesserungen, vor allem für die lohnabhängigen und prekarisierten WählerInnen und AnhängerInnen herhalten. Für diese hält auch Trump eine Krankenversicherung vor. Diese müssen sich bei der FPÖ länger für weniger Geld abrackern und bei den Fünf-Sternen erhalten sie ein „Grundeinkommen“, das mit Arbeitszwang kombiniert wird.

Anders als der bürgerliche Journalismus mitunter suggeriert, stellt der Populismus nicht einfach eine Ideologie des „Volkes“ dar, sondern eine klassenübergreifenden Bewegung oder Partei, die die Interessen eines Teils der Bourgeoisie zum Ausdruck bringt, der sich der Unzufriedenheit der Massen auf reaktionäre Weise zu bedienen hofft.

Was die Linke nicht machen darf

Erst mal ist es wichtig, auf die Radikalisierung des Kleinbürgertums und die populistische Verhetzung von ArbeiterInnen nicht mit den „gleichen“ Mitteln zu reagieren, also mit Linkspopulismus. Diese Politik, dem „rechten Volk“ ein „linkes“ entgegenzustellen, kann nur zur Stärkung klassenübergreifender Ideen führen und zu einer Unterordnung der Klasseninteressen des Proletariats unter die imaginären „Volksinteressen“.

Sowohl bei Teilen des Linkspopulismus und der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung wird wiederum eine Neuauflage keynesianischer Politik gefordert, teilweise auch nur die Rückkehr zur sog. „sozialen Marktwirtschaft“ der Nachkriegsperiode. Dies wird meistens damit begründet, dass große Teile der ArbeiterInnenklasse und des Kleinbürgertums praktisch ohne „sozialen Schutz“ der Globalisierung, der EU und dem Neoliberalismus ausgesetzt wären.

„Darüber hinaus muss die Linke die Idee vermitteln, dass die Staaten Europas gemeinsam ihre Souveränität und Gestaltungskraft in einer globalisierten Welt wieder herstellen können. (…)

Notwendig wäre hierfür, eine europäische Wirtschaftspolitik zu definieren, die langfristig auf Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet ist. Eine solche Strategie fußt auf drei zentralen Elementen: auf einer Erhöhung der gemeinsamen Steuer und Finanzmittel, um große Investitionsprojekte zu finanzieren, auf einer Erweiterung des Lastenheftes der Europäischen Zentralbank mit dem Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und schließlich darauf, die europäische Wirtschaft durch eine Politik des fairen internationalen Handels noch besser zu schützen. Die soziale Frage muss wieder in das Zentrum der öffentlichen Debatte rücken. (…)

Gleichzeitig muss die Linke dafür sorgen, dass der Sozialstaat auch wieder besser für untere und mittlere Einkommen und Arbeitnehmer funktioniert, und nicht nur für die Menschen am alleruntersten Ende der sozialen Leiter.

Re-Regulierung der Wirtschaft, Umverteilung und soziale Gerechtigkeit sind die besten Mittel, um den Rechtspopulismus zu bekämpfen und die Wählermilieus der einfachen Leute für die Linke zurückzugewinnen.“ (14)

Baumel präsentiert hier, ähnlich Teilen der akademisch abgesicherten Institute des deutschen Reformismus (z. B. Friedrich-Ebert-Stiftung und Rosa-Luxemburg-Stiftung) eine Neuauflage des Keynesianismus als das „Lösungsmittel“. Die Logik scheint auf den ersten Blick naheliegend. Wenn der Aufstieg des Rechtspopulismus selbst aus der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft infolge der Krise, veränderter Kapitalzusammensetzung und damit immer größere sozialer Ungleichheit, Verarmung und Unsicherheit herrührt, so bräuchte es eine Politik des „vernünftigen“ Teils der Gesellschaft, der diese durch einen „besseren Sozialstaat“ gemeinsam umsetzt.

Und genau hier liegt das Problem dieser Gesamtstrategie. Die proklamierten Reformen werden selbst erst gar nicht als Kampfziele vorgetragen, die gegen die Interessen aller europäischen Kapitale im Klassenkampf errungen werden müssen.

Dabei verweist gerade dieses Beispiel darauf, dass in der aktuellen Periode die Kapitalerfordernisse einem Keynesianismus auf europäischer Ebene entgegenstehen. Deren Drängen auf „Deregulierung“, Ausweitung des Niedriglohnsektors, Privatisierungen usw. geht zwar damit einher, den europäischen Block vor internationaler Konkurrenz zu schützen – aber die fallenden Profitraten und die strukturelle Überakkumulation des Kapitals bilden die Grüned, warum sich die herrschende Klasse allenfalls auf jene Elemente keynesianischer Politik einzulassen bereit ist, die ihre Monopole retten („Rüstungskeynesianismus“, Politik des billigen Geldes).

Für Umverteilung zugunsten der Massen, für einen europäischen Sozialstaat sind sie so wenig aufgeschlossen, weil das der weiteren Unterordnung des halbkolonialen Europas und der schwächeren imperialistischen Fraktionen zuwiderlaufen muss. Genau auf diese Extraprofite will das Finanzkapital der großen und kleineren imperialistischen Staaten nicht verzichten. Gerade weil die EU kein Staat, sondern ein Staatenbündnis ist, bei dem die „armen“ Länder auch arm bleiben müssen, damit die „reichen“ Zentren reich(er) werden, kann ein europäischer Keynesianismus, ein „soziales Europa“ auf Basis der bestehenden Ordnung nicht funktionieren. Damit schafft eine EU unter der Vorherrschaft Deutschlands, Frankreichs und ihrer engeren JuniorpartnerInnen notwendigerweise den Nährboden für den Rechtspopulismus.

Das Finanzkapital dieser dominierenden Nationen hat kein Interesse an einem Keynesianismus zur Sicherung der Beschäftigung. Diese bekommen seit der sog. Schuldenkrise per EZB einen „Kredit-Keynesianismus“ offeriert. Wenn in dem Zusammenhang gefordert wird, die europäische Wirtschaft „durch fairen internationalen Handel zu schützen“, so fällt dies sogar hinter die Erkenntnisse mancher bürgerlichen Medien zurück. Dort ist inzwischen bekannt, dass eher die „ausländischen“ Märkte vor der europäischen Wirtschaft „geschützt“ werden sollten, wenn es beispielsweise wirklich ein Interesse an einer „funktionierenden“ afrikanischen Landwirtschaft geben sollte. Politisch kommt der Ruf nach einer „geschützten“ europäischen Wirtschaft dem verzweifelten Versuch gleich, eine keynesianische Ausrichtung auch dem Kapital und den KleinunternehmerInnen schmackhaft zu machen. Die Umverteilung im Rahmen der Union könnte dann durch den Schutz der für den Binnenmarkt produzierenden Unternehmen vor Konkurrenz aus anderen Kontinenten bezahlt werden, während die EU für die ExporteurInnen noch „fairere“, also profitablere Handelsabkommen herausschlagen soll.

Diese Politik scheitert notwendigerweise gerade an der verschärften internationalen Konkurrenz. Für das Finanzkapital, für die großen Banken, Industrie- und Handelskonzerne stellt die Ausbeutung der Arbeitskraft in der EU, ein billiger Markt in Ost- und Südeuropa, vielmehr eine Basis für die erfolgreiche internationale Konkurrenz und einen Raum dar, in dem sie gegenüber China und den USA Vorteile genießen. Darauf zu verzichten, würde vom Standpunkt ihrer Klasseninteressen überhaupt keinen Sinn ergeben. Daher rührt auch die Abgeschmacktheit des „europäischen“ Keynesianismus, der von Teilen der Sozialdemokratie und der Linksparteien vertreten wird. Er wird als Appell an alle Klassen, an die „europäischen BürgerInnen“ verkauft – nicht als Reform, die die Lohnabhängigen gemeinsam zu erkämpfen hätten.

Auf diese Krise nicht nur Europas, sondern auch des „sozialen Europas“ regiert ein wachsender Teil der europäischen Linken mit Ruf nach einem Rückzug auf nationalstaatliches Terrain. Erst wenn eine „andere Politik“ im nationalen Rahmen durchgesetzt wäre, könnte auch Europa transformiert werden.

Daher haben in den letzten Jahren Losungen wie die „Wiedererlangung der nationalen Souveränität“ auch bei Linken Gehör gefunden. Sie proklamieren dabei jedoch nicht bloß eine Rückkehr zu einem „nationalen Reformismus“, sondern zum Links-Populismus, zu einem Bündnis von „patriotischen“ UnternehmerInnen, KleinbürgerInnen und ArbeiterInnenklasse, die als „fortschrittliches“ oder demokratisches „Volk“ dem „ausgrenzenden“ des Rechtspopulismus entgegengestellt werden. Mélenchon, Lafontaine, Wagenknecht und Co. fordern daher, dass der Nationalstaat nun mehr „Geltung“ bekommen müsse, damit es wieder gerechter zugehen könnte.

Nur zur Erinnerung: die „Agenda 2010“ in Deutschland, die „El Khomri“-„Reform“ in Frankreich oder die Angriffe auf das Arbeitsrecht in Italien unter Renzi waren eben nicht von der EU verordnet, sondern sind Resultate nationaler Politik, die eben auf Geheiß des Kapitals diese Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse durchführte. Dass dies dann auch oftmals „sozialdemokratische“ Regierungen waren, macht die Argumentation nur noch hohler.

Die Antwort von Seiten der Sozialdemokratie, aber auch des Linkspopulismus ist einfach. Es soll wieder „alte“ sozialdemokratische oder auf sozialen Ausgleich bedachte Regierungspolitik gemacht werden. Der Linksreformismus einer Luxemburg-Stiftung garniert diese „Reformregierungsperspektive“ mit Druck aus Reihen der „Zivilgesellschaft“, welche die „Subalternen“ umfasst und reale soziale Bewegungen anführt. Diese sollen dann die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ändern, den Diskurs durch die „Reformalternative“ ergänzen und somit den Rechtspopulismus zurückdrängen.

Die Idee, einen keynesianischen Kapitalismus wiederzubeleben, wurde zum Standardrepertoire fast jeder reformistischer Wirtschaftspolitik, nur wird der Ruf danach immer verzweifelter. Nach Jahrzehnten der neoliberalen Offensive soll eine Umverteilung von oben nach unten nicht nur im Interesse der Armen und Ausgebeuteten liegen, sondern auch für das Kapital dauernd schmackhaft gemacht werden können. Bei höheren Einkommen der RentnerInnen, der ArbeiterInnen, der Erwerbslosen, der ganzen „Unterschichten“ hätten auch die UnternehmerInnen den Vorteil, dass sich Kaufkraft und Binnenmarkt ausweiten würden, sie mehr absetzen können, wenn auch bei geringeren Profitmargen. Letztlich unterstellt diese Politik, dass die Entwicklung der Profitrate für das Kapital eine Nebenfrage wäre, dieses im Sinne einer „geordneten“ Marktwirtschaft mit etwas Staatsintervention in eine harmonische, nationale Ordnung eingebunden werden könne.

Der Klassenkampf bleibt hierbei notwendigerweise auf der Strecke. Dabei verkennen die ReformistInnen und LinkspopulistInnen, dass praktisch alle Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung gegen das Kapital erkämpft wurden – sei es als direktes Resultat von Massenaktionen, Streiks usw. oder als Zugeständnisse, um Kämpfe zu verhindern oder zu begrenzen.

Wenn der Rechtspopulismus bekämpft und der gesellschaftliche Rechtsruck gestoppt werden sollen, muss daher zuerst deutlich werden, dass dies nur auf Basis des Klassenkampfes möglich ist, dass sich die ArbeiterInnenklasse als eigenes Subjekt – im nationalen, europaweiten wie internationalen Rahmen – konstituieren muss. Kämpfe, Ansätze gibt es auch heute genug. Das reicht von bedeutenden Streikkämpfen, Ansätzen der Organisierung der Unorganisierten bis zu anti-rassistischen, antifaschistischen, ökologischen Initiativen.

Aber diesen fehlt eine gemeinsame Klammer und erst recht eine europäische und internationale Strategie. Daher bleiben z. B. die Streiks bei Ryanair und die meisten gewerkschaftlichen und betrieblichen Kämpfe ökonomisch beschränkt. Auch andere Aktionen (Umweltbewegung, MieterInnen, Antirassismus) starteten oft nicht nur als sektorale Bewegungen, sondern blieben oft auch solcherart beschränkt. Die Dominanz reformistischer oder kleinbürgerlicher Organisationen verfestigt dies.

Es geht, um nicht falsch verstanden zu werden, nicht darum, jeden Kampf mit einer Fülle weiterer Forderungen zu überfrachten. Es ist aber nur zu deutlich, dass in einer Periode des Krise, des Aufstiegs der Rechten eine politische, strategische Antwort notwendig ist, um deren Politik wirksam entgegentreten zu können.

Bei aller reaktionären Idiotie, Inkonsistenz usw. haben die RechtspopulistInnen einen Vorzug, der sie attraktiv macht. Sie verknüpfen ihre reaktionären Ziele, ihre rassistische und nationalistische Politik mit der Machtfrage. Auf ihre lahmere Art versuchen dies sogar die ReformistInnen und LinkspopulistInnen. Die revolutionäre, antikapitalistische Linke – oder jedenfalls jene, die solche Ziele proklamieren – tut das kaum. Sie weicht Strategie- und Programmfragen aus, statt sie zu lösen. Genau diese ist jedoch unabdingbar, um eine proletarische Antwort nicht nur auf den Rechtspopulismus, sondern auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft zu formulieren. Eine solche Strategie, ein solches Programm können wir in dieser Stelle nicht präsentieren, wohl aber Eckpunkte für den Kampf gegen Rechtspopulismus und Rechtsruck – und wie diese mit dem europäischen Klassenkampf verbunden werden müssten.

Kampf gegen den Rechtspopulismus ist Teil des Klassenkampfes

Die wichtigste und erste These lautet dabei, dass der Kampf gegen den Rechtspopulismus Teil des Klassenkampfes ist, in eine Strategie und Programmatik im Kampf gegen die Krise, gegen die aktuellen Angriffe und für ein sozialistisches Europa eingebunden werden muss.

Die gegenwärtige Krise der EU bildet eigentlich ein günstiges Terrain für eine gemeinsame europäische Antwort der Klasse. Die reale Integration der europäischen Ökonomien bedeutet, dass die Forderung nach einer Rückkehr zur „nationalen Souveränität“ einen unmittelbar reaktionären Charakter erlangt hat – die Rückkehr zu „alten“ Währungen, die Errichtung neuer Grenzkontrollen, die weitere Zerstückelung eines Kontinents.

Diese Entwicklung ist keineswegs eine, die nur eine kleine privilegierte Minderheit betrifft. Die meisten Wirtschafts- und Arbeitsprozesse werden heute europaweit organisiert. Auf dieser Ebene stellen viele nationalstaatliche Sonderregelungen (z. B. verschiedene Verkehrssysteme …) selbst ein Hindernis dar.

Die Bourgeoisie hat sich als unfähig erwiesen, die Einigung Europas auf eine demokratische, fortschrittliche Weise zu erreichen – und dies ist auch auf kapitalistischer Basis unter der Kontrolle imperialistischer Bourgeoisien unmöglich. Es droht der Rückfall zu verstärkten nationalen Gegensätzen auf dem Kontinent.

Eine europäische und fortschrittliche ArbeiterInnenpolitik muss daher die gemeinsamen Interessen der ArbeiterInnenklasse des Kontinents, ja der Welt zum Ausgangspunkt nehmen.

Auch in den letzten Jahrzehnten haben verschiedene Sparten der organisierten ArbeiterInnen wie die Hafen- und TransportarbeiterInnen ihre Aktionen koordiniert und z. B. den Kampf gegen die „Bolkestein-Richtlinie“, also die Liberalisierung der Arbeit in den Häfen, lange Zeit erfolgreich führen können. Im Kampf gegen die Schuldendiktate und Austeritätspolitik zeigten sich anfänglich durchaus Elemente einer europäischen Bewegung, der „Griechenlandsolidarität“, der Begeisterung für die „Indignados“ (Empörte) und andere aufständische Bewegungen.

Aber die großen Apparate der Gewerkschaften, die Sozialdemokratie, also ein national zentrierte ArbeiterInnenbürokratien, blockierten diese Aktionen nicht nur – in den schlimmsten Fällen stellten sie sich hinter ihre „eigene“ Bourgeoisie und verweigerten den Lohnabhängigen in Südeuropa ihre Solidarität. Daher wurden die Kämpfe in Griechenland, Spanien, Italien vor allem national geführt. Auch wenn Syriza vor der EU und dem IWF schändlich kapituliert hat, so trifft die reformistische ArbeiterInnenbewegung Europas selbst ein nicht minder großer Teil der politischen Verantwortung für diese Niederlage.

Die letzte Massenbewegung, die europaweit massenhaft Solidarität mit den Unterdrückten und damit das Potential eines gemeinsamen Kampfes zum Ausdruck brachte, war die Bewegung der Geflüchteten. Während Hunderttausend die Refugees willkommen hießen, versagte die ArbeiterInnenbewegung darin, für eine Perspektive zu kämpfen und vor allem darin, den Kampf gegen die Festung Europa als Teil des Klassenkampfes zu begreifen. Die Forderung nach „offenen“ Grenzen wurde und wird nicht als demokratische Forderung gegen die Entrechtung eines Teils der ArbeiterInnenklasse, von national oder rassistisch Unterdrückten begriffen, sondern entweder als rein humanitäre Geste, als „Utopie“ oder gar „Kapitalinteresse“.

Diese Niederlagen in Griechenland und der Geflüchteten bilden den Nährboden für die Ausweitung des Rassismus, den Rechtsruck und den Aufstieg des Populismus.

Um diese Entwicklung zu stoppen, braucht es die bewusste landesweite und europaweite Verbindung solcher Kämpfe:

  • Für gleiche Rechte aller, die in Europa leben und arbeiten! Volle Bewegungsfreiheit aller, vor allem aller Lohnabhängigen! Recht auf Arbeit für alle MigrantInnen und Geflüchteten – und zwar zu den tariflichen Bedingungen der jeweiligen Branche und zum festgelegten Mindestlohn.
  • Gleiche StaatsbürgerInnenrechte, offene Grenzen, keine Unterscheidung von politischen und sog. „Wirtschaftsflüchtlingen“! Wiederherstellung des Ayslrechts! Auflösung von Frontex und des „Grenzschutzes“ der EU!
  • Für ein Wohnungsbauprogramm zur Lösung der Wohnungsnot! Entschädigungslose Enteignung von Grund und Boden, der Wohnungsspekulation, Rekommunalisierung privatisierten Wohnungsbestandes, Beschlagnahme von zu Spekulationszwecken leerstehenden Wohnraums! Programm zum Neubau nach Bedürfnissen der Masse der MieterInen! Kontrolle der kommunalen oder staatlichen Wohnungsbaugesellschaften durch Komitees der MieterInnen, Öffnung ihrer Bücher und Festlegung der Mietpreise durch diese!
  • Freier Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Kinderbetreuung für alle! Verallgemeinerungen der sozialen Leistungen auf das höchste Niveau in ganz Europa wie auch innerhalb der bestehenden Staaten!
  • Umwandlung aller prekären Beschäftigungsverhältnisse in tarifliche! Wiedereingliederung der zur Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit gezwungenen Lohnabhängigen in unbefristete Beschäftigung! Mindestlohn in allen Ländern, der die realen Lebenshaltungskosten deckt! Automatische Anpassung der Löhne, Renten, Sozialleistungen an steigende Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen – kontrolliert von den Gewerkschaften und Ausschüssen der ArbeiterInnenbewegung!
  • 30-Stunden-Woche in ganz Europa bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Nein zur Einschränkung aller demokratischen Rechte! Weg mit allen Behinderungen politischer und gewerkschaftlicher Betätigung! Weg mit den Antiterror-Listen, Freilassung der politischen Gefangenen! Abschaffung aller gewerkschaftsfeindlichen Gesetze und Einschränkungen des Streikrechts und des Organisationsrechts in den Betrieben!
  • Massenmobilisierungen gegen die populistischen Parteien und gegen die extreme Rechte! Verhinderung von faschistischen und rassistischen Aufmärschen
  • Gegen den rechten Backlash auf allen Ebenen: Verteidigung der Rechte der Frauen, LGBTIA-Menschen und des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung!

Alle diese Maßnahmen sind nur möglich durch einen gemeinsamen Kampf gegen die pro-kapitalistische Politik in den Nationalstaaten und der EU. Die Kommunen, die Staaten müssen entschuldet, der Ausbau von Sozialleistungen, von Bildung, Gesundheitswesen, Freizeiteinrichtungen und Kultur muss durch die progressive Besteuerung der Reichen, von Kapitalgewinnen und Vermögen finanziert werden.

Damit die EU oder irgendein Staat „sozial“ agieren und Ungleichheit abgebaut werden kann, damit Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen gemäß den Bedürfnissen der Masse und ökologischer Nachhaltigkeit umstrukturiert werden können, müssen die Kommandohöhen der Wirtschaft dem Kapital entrissen werden. Diese großen Banken, Industrien, Handelsketten und der Transportsektor müssen entschädigungslos enteignet und unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt werden. Nur so kann auch ein gesamtgesellschaftliches Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeit finanziert werden, das die Infrastruktur verbessert, Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen ausbaut, Schritte zur Vergesellschaftung der privaten Hausarbeit (Kantinen, kostenlose Kitas für alle, Kinderbetreuung Betreuung rund um die Uhr) usw. erlaubt. Nur so kann das Marktchaos durch eine planmäßige Reorganisation der Wirtschaft, des Verhältnisses von Stadt und Land herbeigeführt werden.

Auf dieser Basis könnten im Übrigen auch die kleinbürgerlichen Schichten in den einzelnen Ländern – seien es Bauern und Bäuerinnen, kleine HandwerkerInnen, FreiberuflerInnen usw. – in eine restrukturierte Ökonomie eingebunden werden. Eine unter ArbeiterInnenkontrolle stehende Zentralbank würde diesen Schichten (wie auch allen lohnabhängigen KundInnen) „faire“ Kredit- und Geschäftsbedingungen bieten und zugleich den freiwilligen genossenschaftlichen Zusammenschluss dieser Kleinbetriebe ermuntern.

Solche Ziele können aber nicht durch eine Reform des Kapitalismus, sondern nur durch Massenaktionen, durch Großdemonstrationen, Besetzungen und politische Massenstreiks erkämpft werden, die im Kampf um eine ArbeiterInnenregierung zusammengefasst werden müssen. Diese Forderung muss natürlich an die bestehenden Organisationen der Klasse gerichtet werden, im Zuge einer Umgruppierung und in den Massenaktionen mögen aber neue TrägerInnen eines solchen Kampfes entstehen.

In jedem Fall aber müsste eine solche Regierung auf Kampforganen der Klasse fußen (Räten oder räteähnlichen Strukturen sowie bewaffneten Milizen), die Konterrevolution, die Rechte entwaffnen und den bürgerlichen Repressionsapparat zerschlagen, das Großkapital enteignen und die Wirtschaft gemäß eines demokratischen gesellschaftlichen Plans unter ArbeiterInnenkontrolle reorganisieren. Damit wäre sie ein Schritt zu einer Umwandlung in eine sozialistische Richtung und zur Schaffung Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa.

Der gemeinsame Kampf, die Schaffung von Einheitsfronten, einer gemeinsamen Mobilisierung der Massenorganisationen gegen die Rechten, gegen Populismus, Faschismus, die Angriffe der nationalen Regierungen wie der EU-Behörden, sprich, der gemeinsame soziale, ökonomische und politische Kampf gegen das Kapital können so mit einer internationalen, europaweiten Perspektive verbunden werden.

Der „radikalen Linken“ kommt dabei insofern eine zentrale Aufgabe zu, als sie gemeinsam für den Aufbau eines koordinierten europaweiten Widerstandes kämpfen müsste – sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in den Betrieben und Gewerkschaften, an Schulen und Universitäten.

Dazu sollte sie aktiv landes- wie europaweite Aktionskonferenzen bzw. Delegiertenversammlungen initiieren, die nicht nur über die schlechte Lage sprechen und diese analysieren, sondern auch verbindliche Absprachen zu gemeinsamen europaweiten Kampagnen und Aktionen treffen. Die „sozialen Bewegungen“ hatten am Beginn dieses Jahrhunderts mit den Sozialforen schon eine Struktur zur Koordinierung dieser Aktionen geschaffen, die jedoch an deren eigener Weigerung scheiterte, zu realen Kampf- und Aktionsversammlungen zu werden. Dort wo Beschlüsse gefasst wurden, fanden diese – insbesondere die Demonstrationen gegen den Irak-Krieg – einen enormen Zuspruch und konnten sogar Millionen Menschen mobilisieren. In der gegenwärtigen Periode stehen wir nicht nur einem europäischen Rechtsruck und dem Wachstum des Populismus gegenüber – auch die EU-Krise und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt haben dramatisch an Schärfe gewonnen und werden sich weiter verschärfen. Umso dringender ist dieser internationale Zusammenschluss, umso dringlicher ist die gemeinsame koordinierte Aktion.

Diese könnten dazu führen, dass die ArbeiterInnenbewegung, die Unterdrückten, die Linke für Millionen als reale Kraft, als Gegenpol der Hoffnung und des Kampfes gegen den Rechtspopulismus in Erscheinung tritt. Sie würden zugleich auch politischen und gewerkschaftlichen Druck auf die konservativen, „sozialpartnerschaftlichen“, national, lokal oder betrieblich bornierten Strukturen der ArbeiterInnenbewegung ausüben.

Zweifellos würden selbst solche Bündnisse, Aktionseinheiten oder Einheitsfronten nicht die Fragen der Strategien und der Programms lösen – sie könnten aber den Raum schaffen, wo diese für bedeutende Teil der Lohnabhängigen und der Unterdrückten zu realen, weil auf ihre Mobilisierung bezogenen Fragen werden.

Der Aufbau einer Bewegung gegen den Rechtsruck und den Populismus darf daher der Schaffung einer revolutionären Partei und Internationale nicht schematisch entgegengestellt werden. Sie bildet vielmehr das Terrain, auf dem sich die konsequentesten, kämpferischsten, antikapitalistischen Teile bewähren und zugleich eine Diskussion um ein europäisches und internationales Aktionsprogramm gegen Krise, Imperialismus und Rechtsruck diskutieren müssen. Auf dieser Basis können dabei die Grundlagen für die Schaffung einer neuen Internationale und neuer revolutionärer Parteien gelegt werden.

 

Endnoten

(1) PROKLA 190 Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Autoritärer Populismus – Strategie und politische Ökonomie rechter Politik. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/W. 2018.

(2) Demirovic, Alex: Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie, in: a. a. O.; , S. 32.

(3) a. a. O., S. 29.

(4) Ebenda.

(5) https://www.identitaere-bewegung.de/faq/was-bedeutet-der-begriff-reconquista/

(6) Trotzki, Leo: Porträt des Nationalsozialismus (10. Juni1933), https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1933/06/natsoz.htm

(7) von Beyme, Klaus: Rechtspopulismus – ein Element der Neodemokratie? Springer VS, Wiesbaden 2018, S. 95/96.

(8) Bischoff, Joachim/Müller, Bernhard: Rechtspopulismus in der „Berliner Republik“ und Europa: Ursachen und Hintergründe, in: Häusler, Alexander/Virchow, Fabian (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen von rechts? VSA Verlag, Hamburg 2016.

(9) Virchow, Fabian: Protest und soziale Bewegungen von rechts, a. a. O., S. 14.

(10) Beck, Martin/Stützle, Ingo (Hrsg.): Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen. Dietz Verlag, Berlin 2018.

(11) Marx, Karl: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW Bd. 7. Dietz Verlag, Berlin/Ost 1960, S. 43.

(12) Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Band 8. Dietz Verlag, Berlin/Ost 1960, S. 204.

(13) Deppe, Frank: Bonapartismus reloaded? In: Beck/Stützle, Die neuen Bonapartisten…, a. a. O., S. 258/259.

(14) Baumel, Laurent: Populismus als politischer Hilferuf, in: Hillebrand, Ernst (Hrsg.): Rechtspopulismus in Europa. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH, Bonn 2017, S. 119/120.

 

 




Trump: Rechtspopulismus an der Spitze des mächtigsten Imperialismus

Mo Sedlak, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

0 Einleitung

Wer heute von Rechtspopulismus redet, wird von Donald Trump kaum schweigen. Der exzentrische Immobilienmillionär, der überraschend die Präsidentschaft der USA und damit die Schlüsselrolle in der weltweiten kapitalistischen Ordnung gewinnen konnte, steht beispielhaft für die politische Verschiebung in den meisten imperialistischen Ländern.

Von einem angeblichen Aufbäumen der weißen männlichen ArbeiterInnenklasse bis zum Abschreiben der Demokratie in ein „post-faktisches“ Zeitalter haben bürgerliche Analysen alles an „Erklärungen“ zu bieten, wenn es um Trump geht. Seine Politik gilt als unberechenbar und unerklärlich, und allzu oft scheinen persönliche Wutausbrüche in der Entscheidungsfindung die Interessen des US-amerikanischen Kapitals in den Hintergrund zu rücken.

Tatsächlich sind weder die Wahl noch die Politik des 45. amerikanischen Präsidenten unerklärlich oder besonders überraschend. Ein Blick auf die marxistische politisch-ökonomische Analyse des 19. und 20. Jahrhunderts und auf die Überschneidungen des angeblich neuen Populismus mit dem altbekannten Bonapartismus zeigt: Solche politischen Phänomene traten während der gesamten imperialistischen Epoche, vor allem in Krisenperioden, immer wieder in Erscheinung.

Trumps große Versprechen, das Infragestellen der etablierten bürgerlich-demokratischen Strukturen in den USA, Rassismus, Nationalismus und Frauenfeindlichkeit, radikale Deregulierungspolitik und außenpolitische Aggressionen erklären sich aus den zugespitzten Widersprüchen nach der historischen Krise ab 2007.

Seine reaktionäre Politik und der dauerhafte Misserfolg, wenn es um die Einlösung seiner weniger reaktionären Wahlversprechen geht, können wir vor dem Hintergrund der Klassenbasis seiner UnterstützerInnen und der Interessengegensätze in der US-amerikanischen herrschenden Klasse erklären. Wie der traditionelle Bonapartismus verspricht Trump, die bestehenden Widersprüche in seiner Person und über die traditionellen Strukturen hinweg auflösen zu können. Die Schwäche seiner „Bewegung“ und die Tatsache, dass er bedeutende Teile des Staatsapparats und der herrschenden Klasse gegen sich hat, setzt seinen bonapartistischen Ambitionen jedoch auch Grenzen.

Trotzdem steht Trump für ein besonders reaktionäres und aggressives Regime an der Spitze der USA. Sowohl weltweit als auch im Land selbst kann ein Kampf gegen seine Regierung nur gelingen, wenn der gegen Rassismus, LGBTQ-Hass und Frauenfeindlichkeit mit einer Kampagne für eine eigenständige ArbeiterInnenpartei in den USA verbunden wird.

1 Trumps Klassenbasis

Gegen Trumps Kandidatur gab es beträchtlichen und auch öffentlichen Widerstand aus der herrschenden Klasse in den USA, die sich nicht nur auf die Unterstützung seiner traditionell republikanischen KonkurrentInnen in den Vorwahlen beschränkte. Gleichzeitig behaupteten verschiedene Medien vor, während und nach der Wahl immer wieder, Trump sei ein Kandidat der ArbeiterInnenklasse gewesen und von ihr an die Macht gebracht worden.

Dass ein Multimillionär aus der Immobilienbranche mit besten Verbindungen zu anderen KapitalistInnen und den Spitzen der zwei großen bürgerlichen Parteien ein Kandidat unserer Klasse wäre, ist natürlich Unsinn. Trotzdem ist es wichtig, das Verhältnis von Trump zur ArbeiterInnenklasse zu untersuchen, vor allem wenn man den Rechtspopulismus verstehen möchte, für den er zum Symbol geworden ist. Und auch die Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse, die Teile des Kapitals fest an seine Seite und andere in eine scheinbar kompromisslose Opposition (die „never- Trump“-Fraktion in der republikanischen Partei) gebracht haben, sind ein Schlüssel zum Verständnis dieser 45. Präsidentschaft.

Eine Analyse der Klassenbasis beginnt also mit seiner WählerInnenbasis. Entgegen der Darstellung von bürgerlichen Zeitungen wie New York Times und The Atlantic hat die mit der ArbeiterInnenklasse nicht viel zu tun. Noch relevanter ist aber die Klassenbasis seiner Kampagne und seines direkten Umfelds, des Beratungs- und Regierungskabinetts. Außerdem ist der Klassencharakter seiner Politik, sowohl die der Rechtsradikalen, an die er sich im ersten Jahr im Amt angenähert hatte, als auch der ProfiteurInnen seiner Steuer- und Deregulierungspolitik, bedeutend.

1.1 Haben die ArbeiterInnen Trump an die Macht gebracht?

Schon während der Wahl hatte die „Politmaschine“ der demokratischen Partei, und insbesondere ihres rechten Flügels, den Hauptfeind von Hillary Clinton identifiziert: die ArbeiterInnenklasse, die geschlossen hinter Trump stehen würde. Wo diese Behauptung doch zu abwegig erschien, wurden zumindest weiße, männliche Arbeiter für die Wahl des Präsidenten verantwortlich gemacht. Nach der Wahl wurde diese Behauptung durch die bürgerlichen Medien gereicht, von liberaler Seite als Anklage gegen die Klasse, von rechter Seite als Legitimation für die Präsidentschaft (1, 2, 3).

Das hat mit den tatsächlichen Ergebnissen aber nichts zu tun. Umfragen während der Vorwahlkampagne 2016 zeigten, dass die UnterstützerInnen von Trump im Vergleich zu den anderen republikanischen KandidatInnen die zweithöchsten Haushaltseinkommen hatten. Und zwischen Vorwahlen und Präsidentschaftskampagne änderte sich daran nichts Großartiges. Die American National Election Study, die größte Studie zu demografischen und politischen Strukturen unter WählerInnen, belegt, dass ungefähr 65 % der Trump-WählerInnen zur reicheren Hälfte der Bevölkerung gehören. Sie waren im Schnitt um ein Sechstel reicher als die UnterstützerInnen von Hillary Clinton. Die Einkommensverteilung bleibt ungefähr gleich, wenn nur die weißen WählerInnen befragt werden. An der besonderen Rolle der weißen ArbeiterInnen ist statistisch also auch nichts dran. Unter schwarzen und hispanischen WählerInnen hatte Trump aber auch kaum UnterstützerInnen (4, 5).

Dazu kommt, dass die ArbeiterInnenklasse in den USA zum größten Teil auch rassistisch unterdrückt ist. Bürgerliche WissenschaftlerInnen und auch die Führung der demokratischen Partei zählen aber Schwarze und HispanierInnen oft nicht zur ArbeiterInnenklasse. Die Rede ist oft nur von den „weißen ArbeiterInnen“. Tatsächlich wird vor allem die schwarze Bevölkerung systematisch von den Wahlen ferngehalten, von den immigrierten und teilweise undokumentierten Teilen hispanischer ArbeiterInnen ganz zu schweigen.

Die Idee, dass es ArbeiterInnen waren, die Trump an die Macht brachten, ist also falsch, selbst wenn wir nur die Wahlurnen und nur diejenigen ArbeiterInnen, die wählen dürfen, betrachten. Natürlich ist die US-amerikanische ArbeiterInnenklasse nach der herrschenden rassistischen Ideologie geschichtet, und weiße WählerInnen haben viel öfter ihr Kreuz für den republikanischen Kandidaten gemacht als schwarze und hispanische (dasselbe Ungleichgewicht gilt für Männer verglichen mit Frauen). So etwas wie eine weiße ArbeiterInnenklasse, die von ihren nicht-weißen KlassengenossInnen getrennt existieren würde oder separate Klasseninteressen hat, gibt es aber nicht. Die zweifellos vorhandene rassistische Segmentierung des Arbeitsmarktes und der Gesellschaft wird in diesen Analysen nicht als eine systematische, durch eine rassistische institutionelle Politik befestigte und reproduzierte Spaltung der Klasse begriffen, sondern erscheint als System verschiedener Gesellschaftsklassen.

Andere Unterschiede spielten aber wohl eine statistisch signifikante Rolle. Es war nicht die ArbeiterInnenklasse, sondern die Unterstützung im ländlichen und vorstädtischen Raum, unter gut verdienenden BäuerInnen/Bauern und natürlich auch aus der herrschenden Klasse, die Trump die Mehrheit der „Wahlpersonen“ im Electoral College gebracht hat.

Was aber stimmt, ist dass Hillary Clinton, die Konkurrentin um die Präsidentschaft von der Demokratischen Partei, in einzelnen entscheidenden Bundesstaaten des „Rust Belt“ kaum Wahlkampf betrieben und diesen auch dort verloren hat. In diesen Regionen, die von der fortschreitenden Deindustrialisierung am meisten betroffen sind, wurden ehemals gut bezahlte FacharbeiterInnen mangels ernstzunehmender sozialer Absicherung in den USA in die niedrigsten Schichten der ArbeiterInnenklasse oder in die permanente Arbeitslosigkeit getrieben. Die isolationistischen Wahlversprechen Trumps, die im beginnenden Handelskrieg Mitte 2018 ihren bisherigen Höhepunkt fanden, richteten sich auch an sie.

Es ist bezeichnend, dass es die ehemaligen industriellen Kernschichten der ArbeiterInnenklasse, sind, an die sich die Trump-Kampagne wendet. Diese bildeten für eine ganze Entwicklungsphase des US-Kapitalismus einen Bestandteil der ArbeiterInnenaristokratie, also der „oberen“, privilegierten Schicht der Lohnabhängigen. Sie werden von Trump nicht als ArbeiterInnen, sondern als AmerikanerInnen und Weiße angesprochen, die sich gemeinsam mit den GroßkapitalistInnen gegen die Niedriglohnkonkurrenz wehren müssten. Dass in diesen entscheidenden Bundesstaaten Massen von ArbeiterInnen darauf angesprungen sind, zeigt die Unfähigkeit der offen bürgerlichen Demokratischen Partei, eine Antwort für die Klasse zu formulieren. Es ist am Ende des Tages eine Konsequenz des Fehlens einer ArbeiterInnenpartei in den USA.

1.2 Trumps „Cronies“

Noch wichtiger als die soziale Zusammensetzung der WählerInnenschaft ist die Ausrichtung und Klassenherkunft seines BeraterInnenzirkels. Wenig überraschend rekrutieren sich die vor allem am Anfang aus denselben Kreisen, in denen er selbst verkehrt. Seine Tochter Ivanka Trump und sein Schwiegersohn Jared Kushner besitzen und leiten große Unternehmen. Kushner ist wie Trump selber in sogar für amerikanische Verhältnisse zweifelhaften Immobiliengeschäften aktiv.

Während der Wahlkampagne benannte das Forbes-Magazin sein direktes Umfeld als „Trumps goldenen Kreis“. In seinem „Angelobungskomitee“ sind seine größten SpenderInnen vertreten: MilliardärInnen wie Sheldon Adelson, Großinvestor Andrew Beal, Marketingmilliardärin Betsy DeVos, sowie ein Pionier der besonders umweltschädlichen Gas- und Ölfördermethode Fracking, Harold Hamm, repräsentieren die Interessen verschiedener Sektoren der KapitalistInnenklasse an der Trump-Präsidentschaft. Das äußerte sich auch im 4,3 Milliarden Dollar-Regierungskabinett des Präsidenten. Wegen der offensichtlichen Überschneidungen politischer und unternehmerischer WeggefährtInnen Trumps nennt das amerikanische Onlinemagazin The Daily Beast die Regierung „Trump’s Crony Cabinet“. Als „Crony Capitalism“ bezeichnet man in den USA Vetternwirtschaft (6, 7, 8).

Außerdem scharte er BeraterInnen aus der rechtsradikalen Szene in den USA um sich. Sein Kampagnenmanager Steve Bannon produzierte verschwörungstheoretische Filme, übernahm die Chefredaktion der Rechtsaußeninternetseite Breitbart News Network, stellte die Berichterstattung vor allem auf Hass gegen Geflüchtete um und äußerte mehrfach seine „Faszination“ von Mussolini. Andere Berater wie Stephen Miller und Sebastian Gorka kommen ebenfalls aus dem rechtsradikalen Spektrum. Die Ideologien, die hier zusammenlaufen, haben ihre Wurzeln in der kleinbürgerlichen Ideologie des Faschismus und handeln, einmal an der Macht, im Interesse der größten KapitalistInnen (9, 10).

Die „Trump-Bewegung“ ist also weder in der ArbeiterInnenklasse noch in ihren Organisationen verankert. Vielmehr wurde sie finanziell von MultimilliardärInnen und ideologisch von Rechtsradikalen getragen.

1.3 Choreografie des Wahlkampfs

Vor seiner Kandidatur hatte Donald Trump sich noch nie für ein politisches Amt aufstellen lassen. Er war aber eine bekannte Figur des öffentlichen Lebens, als steinreicher Bauunternehmer, Society-Persönlichkeit und Fernsehstar. In seiner Serie „The Apprentice“ ging es vor allem darum, wie er KandidatInnen entlässt. „You’re Fired“ wurde zu seinem Standardsatz. Aber er war auch immer wieder politisch aktiv gewesen. Trump fiel durch öffentlichkeitswirksame Großspenden auf, wobei er mehr an die demokratische als an die republikanische Partei spendete.

Schon 2011 überlegte er laut, sich für die republikanische Partei als Gegenkandidat zu Obama aufstellen zu lassen und stellte seine Unterstützung für die DemokratInnen ein. Im gleichen Jahr stieg er auch zu einem der prominentesten Vertreter der rassistischen „Birther“-Verschwörungstheorie auf und vertrat die These, dass Präsident Barack Obama nicht in den USA, sondern in Kenia geboren sei und deshalb als Präsident abtreten müsse. Diese Kampagne kann auch als der Beginn seines öffentlichen Flirts mit Rechtsradikalen und Neonazis in den USA gesehen werden, der seinen Höhepunkt in seiner Weigerung fand, sich von einem Wahlaufruf des ehemaligen Ku-Klux-Klan-Oberhaupts zu distanzieren (11, 12).

Trump begann seine Wahlkampagne mit offenem Rassismus, als er mexikanischen MigrantInnen vorwarf, zu einem guten Teil Vergewaltiger und DrogendealerInnen zu sein. Die ersten Wochen waren auch von frauenfeindlichen Kommentaren gegen kritische Journalistinnen und einem behindertenfeindlichen Wutausbruch geprägt. Wenig später forderte Trump ein Einreiseverbot für MuslimInnen und StaatsbürgerInnen „muslimischer“ Länder. Die Forderung einer Mauer an der Südgrenze der USA war von Anfang an zentral für die Kampagne, die vor allem auf rassistischer und frauenfeindlicher Hetze aufbaute.

Im weiteren Verlauf der Vorwahlen kam der zweite Hauptaspekt der Trump-Kampagne zum Vorschein. Unter dem bald allgegenwärtigen Motto „Make America Great Again“ forderte Trump eine härtere und von den Institutionen des „regelbasierten Systems“ (WTO und multilaterale Verträge) unabhängige Handelspolitik ein. Er behauptete, die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA würde von anderen Ländern ausgenutzt werden, kündigte den Rückzug aus verschiedenen internationalen Verträgen und hohe Schutzzölle im industriellen Bereich an.

Zwar wurde das auch mit zu erhaltenden Arbeitsplätzen im industriellen Bereich argumentiert. Hauptsächlich ist die Abwendung vom freien Weltmarkt aber ein Werben um die Unterstützung mittelgroßer Unternehmen, die sich auf den amerikanischen Markt konzentrieren. Für viele multinationale Unternehmen ist die protektionistische Gangart aber bedrohlich. Um die Unterstützung großer Finanzunternehmen und des Energiesektors nicht zu verlieren, verspricht Trump außerdem weitgehende Deregulierung im Finanzwesen und bei Umweltstandards.

Ein dritter wichtiger Aspekt der Trump-Kampagne war die Leugnung des menschengemachten Klimawandels und die Ankündigung, sich aus internationalen Abkommen und bundesweiten Plänen zur Reduzierung von Abgasen zurückzuziehen. Auf Basis einer wissenschaftsfeindlichen und anti-akademischen Rhetorik präsentierte Trump ein Programm für Kohle-, Ergas- und Ölfirmen und andere von Umweltgesetzen betroffene Sektoren (13, 14).

Es ist außerdem bemerkenswert, dass Trump sich unter dem Motto „Drain the Swamp“ („Trocknet den Sumpf aus“) immer wieder gegen das „politische Establishment“ in Washington richtete. Gleichzeitig bezog er vor und nach der Wahl auch gegen staatliche Behörden inklusive der Bundespolizei FBI Stellung. Damit benutzt er zwar ein traditionelles Argument der republikanisch-libertären Rechten gegen die zentrale Bundesstaatlichkeit. Er brachte aber auch eine sehr mächtige Gruppe in der amerikanischen Politik, die bürokratischen Spitzen des Staatsapparats, gegen sich auf.

Politisch richtete sich die Kampagne Trumps also an die reaktionärsten Teile der Bevölkerung und bestimmte, in den USA politisch wichtige, Teile der herrschenden Klasse. Direkte Unterstützung erfuhr er vom rechtsradikalen Milliardär Robert Mercer, der auch hinter Trumps ideologischem Berater Steve Bannon, der immer wieder beim Neonazismus ideologische Anleihen nahm, stand wie auch hinter der Datenfirma Cambridge Analytica, der illegale Nutzung von Facebook-NutzerInnendaten in Trumps Wahlkampf vorgeworfen wurde (15).

1.4 Die Skandale

Der Wahlkampf von Trump hatte auch drei Skandale aufzuweisen, die seine tägliche reaktionäre Stimmungsmache noch überschatteten. Zum einen wurde eine Fernsehaufnahme veröffentlicht, in der Trump zugab, regelmäßig Frauen zu belästigen, die es nicht wagen würden, einem mächtigen Mann wie ihm Einhalt zu gebieten. Er sprach davon, sie gegen ihren Willen zu küssen und ihnen in den Schritt zu greifen.

Mit der Ernennung des Sexisten, Rassisten und Ultrareaktionärs Kavanaugh zu einem der Obersten Richter hat die Frauenfeindlichkeit der Trump-Administration einen weiteren Höhepunkt erreicht. Gerade dieses Beispiel verdeutlicht jedoch, dass es nicht nur um eine reaktionäre Mobilisierung der eigenen AnhängerInnen geht, sondern auch darum, die staatlichen Institutionen neu auszurichten.

Wenig später wurde ihm vorgeworfen, in der Kampagne von InternetspezialistInnen der russischen Regierung mit Botnetzwerken (Bot: automatisiertes Computerschadprogramm) und Werbekampagnen unterstützt zu werden. Die Ermittlungen dazu dauern noch an, die Anschuldigung, Trump sei eine „russische Marionette“, ist aber zu einem Lieblingsargument seiner demokratischen FeindInnen geworden.

Zuletzt wurde nach der Wahl bekannt, dass die Firma Cambridge Analytica in großem Stil Facebook-NutzerInnendaten illegal beschafft hatte, um gezielte und manipulative Werbung zu schalten. Cambridge Analytica gehört zum Teil dem rechtsradikalen Milliardär Rober Mercer, der Trumps Kampagne sehr großzügig unterstützte und wahrscheinlich für das Einsetzen des Faschisten Steve Bannon als Kampagnenmanager verantwortlich war.

Weder die offene Frauenfeindlichkeit noch die Möglichkeit manipulativer Wahlkampagnen sind etwas sehr Ungewöhnliches für die republikanische Partei. Im Ausmaß und in der Offenheit stellte die Kampagne aber einen Bruch dar, der wohl auch gezielt genutzt wurde, um Trump als Außenseiter zu verklären und eine außergewöhnliche Loyalität von seinen UnterstützerInnen einzufordern.

1.5 Wen repräsentiert Trump?

Trump steht für eine Zuspitzung der Widersprüche in der US-amerikanischen Politik nach der historischen Krise ab 2007. Den KapitalistInnen ist es zu einem großen Teil gelungen, deren Kosten auf die ArbeiterInnenklasse abzuwälzen: Das Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen haben sich massiv verschlechtert, der „Sozialstaat“ wurde trotz der von den DemokratInnen eingeführten gesetzlichen Krankenversicherung weiter abgebaut.

Aber die Krise und die Abhängigkeit von anderen Staaten haben in der Erholung auch zu einer Schwächung US-amerikanischer Firmen im internationalen Wettbewerb geführt. Andere Länder und imperialistische Blöcke konnten ihre Stellung in den vergangenen zehn Jahren ausbauen, vor allem China. Das bedroht Teile des US-Kapitals und wird zusammen mit angeblichen ArbeitsmigrantInnen aus Lateinamerika auch als Sündenbock für den gefallenen Lebensstandard der ArbeiterInnen verwendet.

Trump repräsentiert in erster Linie eine Schicht besonders reicher KapitalistInnen, die an einer (zeitweisen) Abschottung von der Konkurrenz auf dem Weltmarkt mehr profitieren, als sie durch fehlende neokoloniale Überausbeutung verlieren. Außerdem spricht er mit seinem radikalen Deregulierungsprogramm FinanzkapitalistInnen, den Energiesektor und Teile der chemischen Industrie an.

Demgegenüber steht Hillary Clinton, die vor allem die etablierten Gewerkschaftsführungen, international ausgerichtete KapitalistInnen und den Staatsapparat repräsentiert. Im Allgemeinen sind das Gruppen, die von der demokratischen Politik der letzten Jahre profitiert haben, oft auf Kosten rassistisch Unterdrückter und der Opfer der imperialistischen Politik von Obama. Die war aber in den letzten Jahren nicht mehr in der Lage, den Status quo zur Zufriedenheit der Herrschenden und ohne Widerstand der Unterdrückten aufrechtzuerhalten. Trump repräsentiert also auch die Notwendigkeit für die KapitalistInnenklasse, ihre Herrschaft neu zu gestalten. Das erfordert ebenfalls eine Neuausrichtung der bestehenden staatlichen Institutionen – sowohl in personeller als auch teilweise in struktureller Hinsicht. Daher auch die offenen Angriffe auf Teile des Staatsapparates (bis hin zu Geheimdiensten), die von politischen GegnerInnen „verseucht“ seien. Einzig die US-Armee wird von den Tiraden ausgespart. Dies ist kein Zufall. Bei aller populistischen Rhetorik und Angriffen gegen das Establishment geht es bei seinem „America First“ nicht um ein Infragestellen des US-Imperialismus und seiner Vorherrschaft, sondern um eine andere Strategie, diese gegen aufstrebende Konkurrenz zu verteidigen.

2 Die Ideologie des Trumpismus

Dieselben Medienberichte, die die ArbeiterInnenklasse für die Wahl von Trump verantwortlich machen, stellen den Präsidenten als weitgehend unpolitischen Mann ohne eigene Ideologie dar. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass sich Trump aus verschiedenen ideologischen Lagern bedienen würde, wie es ihm gerade passe. Dazu kommen Darstellungen als psychisch krank oder intellektuell unterdurchschnittlich begabt. Das ist gleichzeitig verharmlosend, eine reaktionäre Abwertung psychisch kranker Menschen und geht meilenweit am tatsächlichen Problem vorbei.

Die Schwierigkeiten bei der ideologischen Zuordnung des Trumpismus kommen daher, dass er mit den traditionellen Hauptlagern der RepublikanerInnen und DemokratInnen an den Spitzen der jeweiligen Parteien bricht. Sein inszeniert volksnahes Auftreten und seine radikale Politik im Interesse der KapitalistInnen sind aber auf keinen Fall neu.

Auf der einen Seite ist der Bezug auf den ehemaligen Gewerkschafter, Filmschauspieler und späteren Vorkämpfer des Neoliberalismus, Ronald Reagan, offensichtlich. Wie Reagan verwendet Trump eine Rhetorik, die die Probleme der ArbeiterInnenklasse im Verfall traditioneller Strukturen und die der US-amerikanischen Wirtschaft in der Zerrüttung harmonischer Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit ortet. Und wie bei Reagan sind die Lösungen Trumps radikale Angriffe auf Rechte und Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse. Zu den schon damals wichtigen Gewerkschaften als Angriffsziele gesellt sich heute die Bedrohung von ArbeiterInnen durch Illegalität und Abschiebung hinzu.

In der marxistischen Analyse kann das als bonapartistische Ideologie bezeichnet werden: In einer Zeit der Krise stellt sich ein/e PolitikerIn scheinbar über die Klassen und findet die gemeinsamen Interessen von ArbeiterInnen und KapitalistInnen hinter dem Zurückstellen von deren Differenzen. Die zeitweiligen Kosten für die KapitalistInnenklasse zahlen am Ende aber immer die ArbeiterInnen, und aus der angeblichen Interessengemeinschaft werden oft radikale Angriffe auf die Strukturen und Errungenschaften unserer Klasse.

2.1 Bonapartismus

Der Begriff des Bonapartismus kommt aus Karl Marx’ „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“, einer Analyse des Staatsstreichs 1851 des Präsidenten der Zweiten Französischen Republik, Louis Napoleon. Napoleon ließ sich zuerst zum Präsidenten wählen und später zum Kaiser krönen. Während er sich als der Vertreter der Werktätigen in Stadt und Land darstellte, lag seine Unterstützung vor allem bei den Bäuerinnen/Bauern und unter KleinbürgerInnen. Marx erklärt in diesem Buch nicht nur seine ökonomische Klassenanalyse, sondern auch die Rolle der Zustimmung der Massen als Bedingung für Herrschaft in der Klassengesellschaft (16).

Die Parallelen im Aufstieg von Trump zu Louis Napoleon sind recht offensichtlich. Napoleon stützte sich vor allem auf die Bäuerinnen und Bauern, Trump wurde mit den Stimmen der ländlichen und vorstädtischen und gegen die der städtischen Massen an die Regierung gebracht. Marx hielt im achtzehnten Brumaire fest, dass die Wahl von Napoleon einen „Sieg des Ländlichen über die Stadt“, genährt aus den bäuerlichen Ressentiments, verkörperte. Napoleon bezeichnete sich als die Rettung der BürgerInnen vor dem erstarkenden Sozialismus. Trump stellte sich ganz ähnlich als Bollwerk gegen Bewegungen wie „Black Lives Matter“, die „Bernie-SozialistInnen“ und das Schreckgespenst muslimischer und mexikanischer EinwanderInnen dar. Damit benannte er gleichzeitig tatsächliche politische Bewegungen, die das Establishment bedrohen, und fand einen populären Sündenbock (17, 18).

Aber der Begriff des Bonapartismus geht über historische Parallelen hinaus. In der trotzkistischen Tradition ist er zentral im Verständnis sowohl des Nationalsozialismus als auch dem der konterrevolutionären Degeneration der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion. Das hat nichts mit einer Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus zu tun, sondern benennt und erkennt die treibenden Kräfte hinter Herrschaftsformen, die sich im Interesse der Stabilität scheinbar über die Klassengegensätze stellen.

Trotzki verwendet den Begriff des Bonapartismus nicht nur um zu erklären, dass die Figur des „starken Mannes“ in Zeiten der Krise viele gesellschaftliche Kräfte hinter sich vereinen kann und sich so scheinbar über die Klassen stellt. Es geht auch darum, die historischen Bedingungen zu beschreiben, unter denen eine bonapartistische Herrschaft sinnvoll für die herrschende Klasse und gleichzeitig möglich wird. Denn die Position über den Klassen ist nicht nur Selbstdarstellung, sie hat reale Auswirkungen, die für die KapitalistInnen durchaus teuer sein kann. Es ist auch wichtig zu verstehen, dass der Bonapartismus nicht nur zur Stabilisierung der Herrschaft des Kapitals dienen muss, wie die Beispiele der herrschenden Bürokratie in der späteren UdSSR oder der Regierung Hugo Chávez’ zeigen.

In „Bonapartismus und Faschismus“ (1934) beschreibt Trotzki die präventiv-bonapartistischen Übergangsregime, die Regierungen Brüning, von Papen und Schleicher in Deutschland, die wenig später widerstandslos den Weg für das nationalsozialistische Regime frei machten. Er beschreibt die historische Voraussetzung für den Bonapartismus in Deutschland und wenig später in Frankreich als ein Gleichgewicht zwischen konterrevolutionären Angriffs- und revolutionären Verteidigungsbemühungen, die die „Achse der Macht“ über die Klassen und ihre parlamentarische Vertretung erheben.

Der Bonapartismus ist für ihn immer geprägt von einem mächtigen Staatsapparat. Die historischen Situationen, in denen er die Analyse zur Anwendung bringt, sind sehr unterschiedlich: die relative Schwäche des mexikanischen Kapitals im Vergleich zur ArbeiterInnenklasse in den 1930er Jahren, die französische Regierung Doumergue, die österreichische „Vaterländische Front“zur Unterdrückung der Linken und gleichzeitig als Verteidigung der österreichischen Unabhängigkeit, oder die Regierungen Brüning bis Schleicher in Deutschland und Pilsudski in Polen als Zwischenstationen zum Faschismus (19).

Der Staatsapparat hat aber kein eigenes politisches Programm außer der Aufrechterhaltung der Ordnung. Seine Aufgabe ist die Verteidigung des Bestehenden. Indem sich der Bonapartismus scheinbar über die Klassen erhebt, verteidigt er (im Kapitalismus) die Herrschaft der KapitalistInnen über die ArbeiterInnen und das oft abseits demokratischer Freiheiten und mit der vollen zur Verfügung stehenden Gewalt des Staatsapparats.

Wie Marx in „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ beschreibt, bedarf auch der Bonapartismus einer gesellschaftlichen Basis, die im 19. Jahrhundert vor allem die Bauernschaft stellte. Das bedeutet, dass sowohl KapitalistInnen und ArbeiterInnen bereit sein müssen, sich und ihre Klasseninteressen den BonapartistInnen unterzuordnen. Im Falle Frankreichs war dies möglich, weil sich die Kräfte der Revolution erschöpft hatten, die ArbeiterInnenklasse geschlagen war, während die Bourgeoisie ihre inneren Gegensätze nicht zu lösen vermochte und daher die politische Macht einem „Dritten“, also dem Bonaparte übertrug. Die Herrschaft Louis Napoleons war vergleichsweise stabil, weil er am Ende einer revolutionären Periode an die Macht kam, als konterrevolutionärer Schlusspunkt.

Historisch kommt der Bonapartismus aber oft auch dann an die Macht, wenn die inneren Klassenwidersprüche besonders zugespitzt sind oder die herrschende Klasse nicht in der Lage ist, die Gesellschaft gegen großen äußeren Druck zu organisieren. Der Bonapartismus ist also an sich eine besonders instabile Form der Herrschaft, die sich noch nicht auf ein neues Gleichgewicht zwischen den Klassen stützen kann. Er stellt in dieser Konstellation daher ein Übergangsregime dar und noch keine neue konterrevolutionäre Ordnung.

Der ideologische Kern des Bonapartismus ist also die Vereinigung der kleinbürgerlichen, verzweifelten Massen und die scheinbare Aufhebung der Klassengegensätze in einem Projekt der nationalen Einigung, für die eine Führungsfigur oder -kraft stellvertretend steht. Die historische Voraussetzung ist eine gegenseitige Lähmung der herrschenden und beherrschten Klassen, die die Achse der Macht über die Klassen und ihre Kämpfe erhebt. Solch eine Situation finden wir im Kapitalismus besonders oft in der wirtschaftlichen und politischen Krise vor, wenn die Herrschenden nicht mehr so weiter machen können wie bisher. Sie ist zugleich jedoch instabil, solange die ausgebeuteten, unterdrückten Klassen und Schichten noch nicht entscheidend geschlagen sind.

2.2 Bonapartismus und Populismus

Für ein modernes Verständnis des Rechtspopulismus, in den Donald Trumps Ideologie und Regierung eingeordnet werden kann, ist ein solches des historischen Bonapartismus dringend notwendig. Der Populismus als Herrschaft im Sinne der Massen oder des Volkes versucht, zum Bonapartismus zu werden. Das wird auch offensichtlich am oft geäußerten Anspruch, seine Macht nicht aus den Institutionen, sondern dem Willen des Volkes zu beziehen. Hier vollzieht sich die Ablösung von den (parlamentarischen) Institutionen des Klassenwiderspruchs, die Trotzki beschreibt, ganz augenscheinlich.

Wo der Rechtspopulismus nicht zur bonapartistischen Herrschaft wird, weil er die notwendige Strahlkraft zur Vereinigung der Massen nicht hat oder die notwendige Kraft zur Unterdrückung der Klassen und ihrer Organisationen nicht aufbringen kann, da trägt er zumindest den ideologischen Kern des Bonapartismus in sich. Auch der historische Inhalt, nämlich die politische Umwälzung der bestehenden Form der Klassenherrschaft, ist gleich.

Die Trump-Präsidentschaft schafft es noch nicht, sich über die traditionellen Herrschaftsinstrumente der Klassenherrschaft in den USA zu erheben. Fast wöchentlich werden Gesetzesvorschläge und „Exekutiverlässe“ von Gerichten kassiert oder scheitern in Senat und Kongress. Zugleich versucht die Regierung offenkundig, dieses Problem in ihrem Sinne zu lösen – sei es durch die zunehmende Dominanz über die Republikanische Partei oder die Besetzung und Neuausrichtung von Institutionen wie dem Obersten Gerichtshof.

Die amerikanische „International Socialist Organization“ ISO schreibt dazu: „Napoleon Bonaparte brauchte ein paar Jahre, bevor er die französische Republik überwinden und das Kaiserreich zu errichten vermochte. […] Ob es Trump gelingen wird, einen amerikanischen Bonapartismus einzuführen, können nur der Klassenkampf und die Zeit zeigen.“ Diese Einschätzung mag zwar alarmistisch übertrieben sein, aber sie legt den Finger in die Wunde: Die Grundlagen dazu sind im Programm des gewählten Präsidenten schon gelegt, und die ArbeiterInnenbewegung in den USA hat sich bisher als unfähig erwiesen, dem etwas entgegenzusetzen (20).

Um den populistischen Teil der Trump’schen Ideologie besser zu verstehen, ist es notwendig, die politischen Eckpunkte in einer genaueren Analyse zu betrachten: Rassismus, Frauenfeindlichkeit und die Leugnung des menschengemachten Klimawandels.

2.3 Rassismus

Die rassistischen Ausfälle von Donald Trump sind bestimmend für sein Bild in der Öffentlichkeit geworden, seit er die Ankündigung seiner Kandidatur mit Ausfällen gegen mexikanische MigrantInnen („Vergewaltiger und DrogendealerInnen“) kombinierte, die sogar in den berüchtigt rassistischen USA schockierten. Später behauptete er, dass alle MigrantInnen aus Haiti an AIDS erkrankt wären und alle nigerianischen MigrantInnen aus „Hütten“ kämen. Er bedient damit rassistische Klischees über schwarze Menschen, die Gruppe, deren rassistische Unterdrückung in den USA historisch am wichtigsten und schlimmsten ist. Seine Beteiligung an der rassistischen „Birther“-Bewegung, die die Verschwörungstheorie vertritt, Barack Obama sei in Kenia geboren und deshalb ein illegitimer Präsident, markierte den Beginn seiner öffentlichen politischen Karriere.

Mit dem antimuslimischen Rassismus, der seinen Höhepunkt im berüchtigten „muslim ban“ (einem Einreiseverbot für Menschen aus „muslimischen“ Ländern) fand, ordnet er sich nahtlos in den US-amerikanischen Mainstream seit 2001 ein. Die gesetzliche Diskriminierung und die damit einhergehende Verhaftung von StaatsbürgerInnen und „Residents“, die aus dem Iran oder dem Jemen stammen, sind trotzdem ein qualitativer Bruch mit der ebenfalls rassistischen Politik der Obama-Ära.

Die besondere Form des Rassismus, für die Trump öffentlich steht, wird in den USA „Jingoismus“ genannt. Dieser verbindet nationalistischen Rassismus mit einer Glorifizierung imperialistischer Kriegs- und Besatzungspolitik. Der imperialistischen Nation, die in den USA ohnehin und von Trump im Speziellen vor allem mit der weißen Bevölkerung identifiziert wird, wird nicht nur ein Missionierungsauftrag, sondern ein Recht auf Herrschaft zugesprochen. Durchaus passend für den weltweit mächtigsten Imperialismus und auch nicht überraschend, dass in einer Zeit, wo diese Rolle vor allem von Seiten des chinesischen Imperialismus bedroht wird, auch seine ideologische Unterfütterung schärfer wird.

Rassismus ist in den USA ohne die siedlerkoloniale und sklavenhalterische Vergangenheit sowie imperialistische Gegenwart nicht zu begreifen. Zu einer rassistischen Abwertung anderer Nationen und Kulturen kommt beim Jingoismus auch eine ideologische Überhöhung radikaler militärischer Taktiken dazu. Ein anschauliches Beispiel ist der Vorschlag von Trumps Vorwahlkonkurrenten Ted Cruz, „ISIS solange mit Bombenteppichen zu überziehen, bis der Sand im Dunkeln leuchtet“ (21). Gerade im Kontext sich verschärfender imperialistischer Konkurrenz, vor allem gegen China, wird offener Rassismus im Verbund mit der Forderung, militärische Stärke zu zeigen, zu einer immer wichtigeren Strategie der herrschenden Klasse in den USA.

Trump ist nebenbei erwähnt auch persönlich einfach ein Rassist: In den 1970er Jahren steckte er als Immobilien-Tycoon einigen Aufwand darin, nicht an Schwarze vermieten zu müssen, unterbezahlte seine schwarzen Angestellten, denen er „Faulheit“ vorwarf, und bediente immer wieder die rassistische Legende schwarzer Männer, die weiße Frauen jagen würden. Als treibende Kraft hinter der Präsidentschaft ist der Rassismus aber auf eine höhere Ebene gehoben worden, die von persönlicher Grauslichkeit eines alten weißen Mannes nochmal verschieden ist (22).

2.4 Frauenfeindlichkeit

Die Politik Donald Trumps richtet sich auch offensiv gegen Frauen. Deren Rechte sind in den USA in republikanisch regierten Bundesstaaten in Bezug auf Abtreibung, Verhütung und Diskriminierung ohnehin regelmäßig Ziel staatlicher Angriffe (23). Trump selbst hat Gesetze zur Transparenz bezüglich gleicher Bezahlung und Pensionsvorsorge für Frauen aus der Obama-Ära zurücknehmen lassen, es Bundesstaaten (wieder) erlaubt, allen Einrichtungen Unterstützung zu entziehen, die Abtreibungen anbieten oder über sie informieren, und dieselbe Regel für internationale Hilfszahlungen (die sogenannte „gag rule“) eingeführt (24).

Daneben war offener Frauenhass auch Teil der Wahlkampagne. Symbolisch für den Widerstand gegen Trump war eine Fernsehaufnahme, in der er dem Moderator berichtete, dass er Frauen gegen ihren Willen küssen und zwischen den Beinen begrapschen würde. Schon vor seiner Wahlkampagne reduzierte er seine einzige weibliche Konkurrentin in den Vorwahlen, Carly Fiorina, auf ihr Aussehen und fragte „Wer würde so jemand Hässliche wählen wollen?“ Er forderte öffentlich, Frauen die Abtreibungen vornehmen lassen, zu bestrafen, und fragte kritische Journalistinnen, ob sie gerade menstruieren würden.

Abfällige Kommentare über Frauen gehören seit den 1970er Jahren zu Trumps Standardrepertoire. Wie beim Rassismus ist das Teil seiner persönlichen, reaktionären Ideologie. Aber auch wenn die Wahlkampagnen in den USA sehr persönlich auf den/die KandidatIn fokussiert sind, erreicht diese Ideologie eine andere Qualität, weil sie zur Leitlinie der Ideologie der Trump-Kampagne wurde.

2.5 Klimawandel

Wie auch in Bezug auf die rassistische „Birther“-Bewegung klingen Trumps Überlegungen zum Klimawandel zunächst wie wirre Verschwörungstheorien, die in der republikanischen Partei nicht unüblich sind. Im Kontext US-amerikanischer Politik wird die ideologische Bedeutung offensichtlich. Die Leugnung eines menschengemachten Klimawandels äußert sich bei Trump in der Abschaffung von Umweltschutzbedingungen auch für Ölförderung und -transport, Atomkraftwerke und Abgasbestimmungen für Kohleenergie. „Wir werden die Kohle zurückbringen“, hat er versprochen (25).

Trumps Meldungen zum Klimawandel haben sehr zur Erheiterung seiner KritikerInnen geführt, aber nicht unbedingt dazu, dass seine gefährlichen politischen Vorhaben ernst genommen werden. Er hat die umstrittene Keystone XL Pipeline durchgesetzt (die wenige Monate später bei einem Rohrbruch das Trinkwasser der Region vergiftete), den „Clean Power Act“ zurückgenommen und die USA aus dem Pariser Klimaabkommen herausgezogen. Das erklärt auch die enorme Unterstützung, die Trump von den GroßkapitalistInnen im Öl- und Energiesektor erfährt (26, 27).

2.6 Privatisierung des Staatsapparates

Vor allem in den ersten Monaten der Präsidentschaft hatte Trump seine Wahlversprechen vor allem durch „Executive Orders“, also Dekrete, die nur der/die PräsidentIn ausstellen kann, umzusetzen versucht. Das ergibt sich auch aus dem populistischen Anspruch, für den seine Kampagne steht, sich über die scheinbar lähmenden demokratischen Strukturen hinwegzusetzen, und Vorhaben stattdessen legitimiert durch die populäre Unterstützung durchzusetzen. Das hat angesichts der sich wiederholenden gerichtlichen Anweisungen, die Dekrete zurückzunehmen (denen Trump auch Folge geleistet hat), fast nie funktioniert.

Dahinter steht aber auch das libertäre Staatsverständnis, das von Rechtsradikalen und Ultra-Neoliberalen in den USA seit Jahrzehnten vertreten und mit viel Geld in die staatlichen Strukturen getragen wird. Lobbyorganisationen, versteckt bezahlte BürgerInneninitiativen (so genannte „Astroturfers“), MedienpartnerInnenschaften und Unterstützung für ultrarechte Wahlkampagnen prägen den rechten Rand der Republikanischen Partei. Symbolisch dafür steht das Stiftungsnetz der milliardenschweren Koch Brothers mit Heritage Foundation, American Enterprise Institute und „Americans for Prosperity“. Seit den 1980er Jahren haben sie und ihre GesinnungsgenossInnen den Schwenk von der radikaleren, aber bei Wahlen erfolglosen „Libertarian Party“ hin zu den RepublikanerInnen vollzogen. Laut der Website politico.com konnten die beiden Mehrheitseigentümer des zweitgrößen privaten Unternehmens in den USA zusammen mit anderen 900 Millionen Dollar im Zeitraum 2009 – 2016 aufbringen und sind damit eine Konkurrenzstruktur zum Führungsgremium der RepublikanerInnen geworden (28).

Die Kochs wandten sich jedoch öffentlich gegen Trump und verkündeten, die gesammelten 900 Millionen stattdessen KandidatInnen zu Senat und Kongress zukommen zu lassen. Aber sie, ihre KandidatInnen und ihre Politik haben in den letzten zehn Jahren den rechten Rand der RepublikanerInnen geprägt, auf den sich Trump stützt. Tatsächlich baut der 45. Präsident einen noch größeren und noch „stärkeren“ Staatsapparat auf als sein Vorgänger – die Erhöhung des Militärbudgets um fast 50 % und die immer weiterreichenden Befugnisse von Abschiebebehörden und Polizei machen das ganz klar. Trump steht nicht für einen kleineren oder schwachen Staat – aber für die Schwächung aller Strukturen, die seine populistischen Ansprüche behindern könnten. Für ihn bedeutet die Privatisierung der staatlichen Aufgaben die Übertragung in die private Hand des/der PräsidentIn. Dieser Widerspruch, auch zu einigen der größten SpenderInnen für die Republikanische Partei, wird noch zu Konflikten führen.

2.7 Trumps Ideologie zusammengefasst

Historisch muss die Ideologie des Trumpismus als Populismus im besonderen US-amerikanischen Kontext und seiner fehlenden Tradition einer ArbeiterInnenbewegung verstanden werden. Die Wurzeln im Bonapartismus reihen sich ein in die sehr zugespitzte politisch-ökonomische Lage nach der Krise 2007. Sie bietet hier eine scheinbare Lösung für gut gestellte Schichten der ArbeiterInnenklasse und national orientierte Sektoren der KapitalistInnen.

Die ideologische Klammer ist hier weniger als für den Rechtspopulismus üblich Nationalismus, der in den USA ohnehin kein Alleinstellungsmerkmal wäre. An dessen Stelle tritt der offene Flirt mit weißen Rechtsradikalen und Neonazis, scheinbar tabubrechender Rassismus, Frauenfeindlichkeit und eine extrem reaktionäre Umweltpolitik. Das bedient einerseits identitätsstiftende Merkmale der amerikanischen Rechten, ist aber auch ein offener Bruch mit der ideologischen Selbstdarstellung der Obama-Präsidentschaft und der DemokratInnen rechts von Bernie Sanders.

Dazu kommt die Verwurzelung des Rassismus in den USA in der Kolonial- und Sklavenhaltergeschichte und die imperialistische Gegenwart des Landes. Trumps rassistische Ideologie mündet in Forderungen nach einer aggressiven Wirtschafts- und Handelspolitik und militärischer Drohung. Das ist eine Annäherung an den militärisch-industriellen Komplex, die profitable und einflussreiche Waffenindustrie.

An den Eckpunkten der Trump-Ideologie werden auch die Widersprüche in der herrschenden Klasse offensichtlich, dieselben, die dazu geführt haben, dass sich ein Teil der KapitalistInnen hinter den politischen Außenseiter gestellt und so seinen Sieg möglich gemacht haben. Trump bricht mit der sozialliberalen Selbstdarstellung der DemokratInnen und dem Bekenntnis zur Gleichberechtigung von Frauen, rassistisch Unterdrückten und LGBTQ-Personen, das auch nur für einen Teil der Bevölkerung gegolten hatte. Diese Veränderungen und Verschlechterungen werden von den KapitalistInnen begrüßt, die eine härtere Gangart gegen die Bewegungen der ArbeiterInnen und Unterdrückten neben einem stärkeren Bezug auf die reaktionären Traditionen für notwendig halten. Abgestoßen werden mächtige Teile des Staatsapparats, die Trump als Feindbild ausgewählt hat, und diejenigen KapitalistInnen, die von der weiteren internationalen Öffnung und dem Diskriminierungsabbau der letzten Jahre profitieren konnten.

3 Erfolgreiche Regierung Trump

Die Regierung Trump und sein „4,3 Milliarden-Kabinett“ sind eineinhalb Jahre, seit Januar 2017, im Amt. Überlegungen über die Klassenbasis und Ideologie seiner Politik sind nicht mehr Ableitungen aus den Klassenkämpfen der letzten Jahre und Äußerungen im Wahlkampf, sondern eine Frage konkreter, gesetzgebender und militärisch entscheidender Regierungsarbeit. Und in manchen Bereichen war Trump in der Lage, weite Teile seines radikalen Programms schnell umzusetzen.

3.1 Steuerreform

Der erste große Sieg der RepublikanerInnen war die Steuerreform 2017, die nicht nur das Weiße Haus, sondern auch den Kongress passierte. Im Prinzip war das eine weit angelegte Steuerkürzung, vor allem für große Unternehmen, wobei kleine und untypische Einkommen (zum Beispiel aus erlassenen Studiengebühren, wie für akademische Hilfskräfte üblich) jetzt teilweise höher belastet werden. Vor allem werden aber die Staatsschulden massiv erhöht werden, um geschätzte 1,5 Billionen Dollar. Im Anschluss an die Steuerreform werden Kürzungen in „Sozialstaat“ und Gesundheitswesen anstehen, die aus taktischen Gründen von der Debatte getrennt wurden (29).

Die Diskussion in den USA war vom Gespenst der „trickle down economics“ geprägt, der wirtschaftspolitischen Illusion, dass Steuerkürzungen für die Reichsten sich über Arbeitsplätze und Produktivitätssteigerungen in Lohnerhöhungen für die ArbeiterInnenklasse verwandeln würden. Zusammen mit der Laffer-Kurve, der Idee, dass niedrigere Steuersätze über eine Ausweitung der Produktion zu einer Steigerung der Steuerzahlungen führen, sind sie die ideologische Unterfütterung jeder Steuerkürzung. Tatsächlich führt die Verschiebung der Steuerlast von den KapitalistInnen hin zu den ArbeiterInnen aber zu einer Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands in die andere Richtung. Auch die Ersparnisse aus der Steuerreform wurden vor allem in Aktienrückkäufe und Nettoinvestitionen angelegt, was ein ordentliches Ankurbeln der US-Konjunktur, aber keine Erhöhung des Lohnniveaus zur Folge hat.

Dazu kommen die geplanten Angriffe auf die staatliche Krankenversicherung Medicaid und die Sozialversicherung für Arbeitslose, mit denen die Bilanz ausgabenseitig ausgeglichen werden soll. Entsprechende Vorstöße von republikanischer Seite gibt es seit Jahren.

Die Steuerreform war ein zentrales Projekt der herrschenden Klasse, das Trump erfolgreich umsetzen konnte. Es bedeutet eine nachhaltige Machtverschiebung und massive Umverteilung von unten nach oben, vor allem wenn der notwendige Sozialabbau umgesetzt wird.

3.2 Deregulierung

Weniger spektakulär, aber dafür mit stetigen Fortschritten entwickelt sich die Deregulierung des Finanzsystems in den USA. Das Weiße Haus hat John Michael („Mick“) Mulvaney zum Chef der Consumer Financial Protection Agency, der wichtigsten Regulierungsbehörde für Geschäftsbanken ernannt. Er ist ein historischer Gegner von Regulierung im Allgemeinen und der Behörde, der er jetzt vorsteht, im Speziellen. Das Finanzministerium hat es derweil für Banken einfacher gemacht, ihre Geschäftsbücher nicht für die Bankenaufsicht öffnen zu müssen, und Regionalbüros viele Möglichkeiten verboten, Banken mit „subpoenas“ zur Aussage vor Gericht zu zwingen. Diese schleichenden Änderungen machen vor allem „predatory banking“, also Bankgeschäfte zum offensichtlichen Nachteil von KundInnen, und unsichere Kreditvergabe einfacher. Die Parallelen zur sehr blasenanfälligen, aber für Banken sehr profitablen Vor-Krisen-Zeit sind offensichtlich (30, 31, 32).

Auch in Bezug auf Umwelt- und Klimapolitik hat die Trump-Regierung ihre Wahlversprechen erfüllt. Sie könnten die Bereiche sein, in denen sie am erfolgreichsten war. Sowohl der Clean Power Act, der alternative Energien in den Fokus staatlicher Förderungen gerückt hatte, als auch die Zustimmung zum Pariser Klimaabkommen und der Senkung von Treibhausgasen wurden zurückgenommen. Die bundesstaatlich durchgesetzten Pipelines in North Dakota, die wegen des monatelangen Widerstands und der brutalen Räumung bekannt wurden, und die in Angriff genommene Legalisierung aller Ölförderplattformen in amerikanischen Gewässern sind ebenfalls Meilensteine für die Förderung der herkömmlichen EnergieherstellerInnen in den USA neben den neuen, aber sehr umweltschädlichen Fracking- und Teersandausbeutungsindstrien (33).

Auch die höchste Behörde, die sich mit Arbeitskämpfen beschäftigt, das National Labor Relations Board (NLRB), hat die neue Regierung weitgehend umbesetzt. Ihre Neubesetzungen, ein Anti-Gewerkschaftsanwalt und ein ehemaliger Mitarbeiter der RepublikanerInnen im Kongress, sind eifrig dabei, gewerkschaftsfreundliche Urteile der letzten Jahre neu aufzurollen. Ähnlich wie beim Obersten Gerichtshof ist das Kräfteverhältnis im NLRB entscheidend, und Trump hat es geschafft, mit den Neubesetzungen eine gewerkschaftsfeindliche Politik auf Raten in Gang zu setzen (34).

3.3 Staatsrassismus

Außerdem ist auch der staatliche Rassismus, den Trump im Wahlkampf in den Mittelpunkt seiner Forderungen gestellt hatte, massiv angewachsen. Zwar steht die versprochene (und vollkommen realitätsferne) Mauer an der Grenze zu Mexiko nicht und auch die Einreiseverbote für MigrantInnen aus „muslimischen“ Ländern sind nicht durchgekommen, aber seit der Angelobung verschärft die Abschiebebehörde ICE ihre Gangart und vervielfacht die Zahl der Verhaftungen und Abschiebungen. Rechtliche Schutzregelungen, vergleichbar mit dem „subsidiären Schutz“ für Verfolgte aus Honduras und Haiti, wurden zeitweise außer Kraft gesetzt. Die Legalisierung von in den USA geborenen Kindern undokumentierter EinwanderInnen, DACA, ist nur für kurze Zeit verlängert worden und soll abgeschafft werden (35, 36).

Dazu kommt der stetige Kampf um das Einreiseverbot aus muslimischen Ländern. Der Widerstand aus den Gerichten gegen die präsidentiellen „Executive Orders“, der diese rassistische Maßnahme immer wieder verhinderte, wurde zum Sommeranfang 2018 vom Obersten Gerichtshof gebrochen. Bis zu Weiterverhandlungen im Herbst sind zentrale Punkte des „travel ban“ in Kraft. Dieses Projekt der Trump-Regierung ist vor allem als ideologische Klammer für seinen populistischen Anspruch wichtig. Es steht neben dem grausamen Vorgehen gegen Geflüchtete aus Süd- und Mittelamerika zentral für den Rassismus des Präsidenten.

3.4 Handel

Dazu kommen die Verschiebungen in der US-amerikanischen Außenpolitik. Die Liste symbolisch schwerwiegender Veränderungen der letzten zwei Jahre ist lang: der Rückzug aus dem Pariser Klimaabkommen, der Abbruch der Verhandlungen um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, das Fallenlassen des transpazifischen Handelsabkommens TPP, die Rhetorik gegen die Vereinten Nationen und die NATO, das Platzenlassen des G7-Gipfels in Kanada (Trump verweigerte die Unterschrift unter der Abschlusserklärung) und die Einführung von hohen Zöllen auf Industrie- und Konsumprodukte aus China, Kanada und der EU.

Dieses Verhalten wird nicht von sprunghaften Stimmungsumschwüngen oder einem Unverständnis des Weltwirtschaftssystems verursacht, wie von bürgerlichen Medien und selbstbewussten WirtschaftswissenschaftlerInnen gerne behauptet. Vielmehr geht es um einen bewussten Kurswechsel eines Teils der US-amerikanischen herrschenden Klasse, der nach dem zunehmenden Machtverlust im weltweiten Wettbewerb auf einen härteren Kurs und offen imperialistische Machtausübung drängt.

Die USA haben jahrzehntelang vom „regelbasierten Handelssystem“ profitiert. Kurz zusammengefasst sind das multilaterale (also zwischen möglichst vielen Ländern) Abkommen um das Prinzip, dass jede teilnehmende Nation die beste Behandlung bekommen muss, die unter den Teilnehmenden besteht. Mit guter Behandlung sind niedrige Zölle, hohe oder keine Einfuhrquoten und wenige Qualitätsstandards (zusammengefasst: so wenige Hindernisse für Export wie möglich) gemeint. Konkret bedeutet das, wenn Deutschland, Österreich und Frankreich ein multilaterales Abkommen haben und Deutschland Einfuhrzölle auf französische Waren um 5 % senkt, dann kann Österreich dieselbe Zollsenkung für sich beanspruchen.

Die wichtigsten Institutionen dieses Systems waren die GATT/GATS-Abkommen, IWF, Weltbank und später die Welthandelsorganisation WTO. Das systematische Senken der Handelsbarrieren befriedigt drei zentrale Bedürfnisse der KapitalistInnen in den imperialistischen Staaten: Vorprodukte und Arbeitskräfte können im Ausland billiger gekauft werden, die Absatzmärkte für Exporte werden vergrößert und der Aufbau einer günstiger produzierenden Konkurrenz in sich entwickelnden kapitalistischen Ländern wird verhindert. Das Unterbinden protektionistischer Politik in neokolonialen und Schwellenländern ist zentral für den Machterhalt der imperialistischen Zentren.

Für die USA war das WTO-System zentral, um weltweite Wertschöpfungsketten (also über verschiedene Länder verteilte Produktionsprozesse) aufzubauen und so den Wettbewerbsnachteil der teureren inländischen Produktion auszugleichen. Die Ausweitung von Absatzmärkten und reibungsloser Kapitalexport waren ausschlaggebend, um Überakkumulationskrisen des US-Kapitals zu lindern beziehungsweise umzuleiten. All das führte aber zu einem Verlust von Wettbewerbsvorteilen und dem Aufbau konkurrenzfähiger Produktion außerhalb der USA, die vom freien Handel profitierte.

Auch wenn der Konkurrenzvorsprung in Produktion und Landwirtschaft schon lange zusammengeschrumpft ist, hatte der Freihandel weitere zentrale Bedeutung für die USA. Die Dominanz des US-amerikanischen Finanz- und Technologiesektors wurde vom Freihandel und der Bedeutung des Dollar als Weltwährung gestützt. Und der Import günstiger Konsumprodukte, vor allem aus Asien, erlaubte im Inland ein relativ niedriges Lohnniveau und damit einen Erhalt der verbliebenen Wettbewerbsfähigkeit.

Mit der Dotcom-Blase 2000, der globalen Finanzkrise 2008 und dem Aufbau eines eigenständigen Technologiesektors in China, Japan und Asien sind diese Vorteile aber gemindert. Das US-amerikanische Kapital kann nicht nur durch Bestimmung der politischen Rahmenbedingungen dominieren, sondern braucht die aktive politische Unterstützung des weltweit mächtigsten Imperialismus, um die eigene Vormachtstellung nicht zu verlieren. In diesem Licht ist auch der eskalierende Handelskonflikt mit China, der EU und Kanada zu verstehen, den Trump im Frühjahr 2018 ausgelöst hat. Dabei geht es nicht nur um Güter, sondern auch darum, dass die USA ihre KonkurrentInnen zu einer Unterordnung unter ihre Vormachtstellung auf den Finanzmärkten und den Dollar als zentraler Währung zwingen – eine weitere Unterminierung dieser Vorherrschaft durch China oder die EU wäre eine noch größere Bedrohung des US-Imperialismus als die Frage der industriellen Konkurrenzfähigkeit. Die Handels- und Außenpolitik zielt also weniger auf einen Abbruch der Handelsbeziehungen oder eine isolationistische Politik ab als auf eine Unterordnung der imperialistischen Konkurrenz.

3.5 Imperialistische Aggression

Bedeutender noch als die Handelkonflikte ist die neue Militärpolitik Trumps. Mit der Zuspitzung der imperialistischen Widersprüche seit der globalen Krise nach 2007 ist auch das Bedürfnis nach einer Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Blöcken gestiegen. Von einer unipolaren Dominanz der USA ist mit der bisherigen Einigung der europäischen ImperialistInnen in der EU und der Expansion des chinesischen Imperialismus nicht viel übrig geblieben.Vor allem China drängt in die amerikanischen Einflusszonen in Asien und in Afrika, hat sich einiges von der Beute europäischer und amerikanischer Politik (zum Beispiel Häfen in Griechenland und Ölfelder im Irak) gesichert. Auch bezüglich Russland scheiterten die USA damit, diese imperialistische Macht auf einen Regionalstatus zu reduzieren.

Auch hier repräsentiert Trump einen teilweisen Bruch mit der ebenso imperialistischen Politik der Obama-Präsidentschaft. Die größte Kontinuität gibt es wohl in Bezug auf die Interventionen im Irak, in Afghanistan und Syrien. In Bezug auf den Nahen Osten ist eine Abkehr von der VermittlerInnenrolle und der Hoffnung auf eine für die USA profitable Harmonisierung der Beziehungen offensichtlich. Stattdessen setzt Trump auf eine Eskalation der Konflikte und darauf, dass seine Verbündeten Israel und Saudi-Arabien die Region zum US-amerikanischen Vorteil neu ordnen. Die größere Unabhängigkeit der USA von Ölimporten dehnt hier auch den Spielraum für Aggressionen aus.

Dasselbe Muster beobachten wir in Bezug auf den pazifischen Raum. Trump setzt auf engere Beziehungen zu SchlüsselpartnerInnen der USA (Südkorea und, weniger öffentlichkeitswirksam, Japan) und eine Eskalation des Konflikts mit China. In Europa bezeichnet Trump die EU nicht nur rhetorisch als „feindliche Macht“ und übt massiven Druck auf das frisch ausgetretene Britannien aus, mit einem „harten Brexit“ gegen die EU vorzugehen.

Die Logik schneller, eher brutaler Angriffe (militärisch wie diplomatisch) und eines fehlenden Fokus’ auf längerfristige Beziehungen ist ein Kernpunkt der „Jingoismus“ genannten Mischung aus Rassismus und aggressiver Außenpolitik. Historisch bezieht sich der Begriff auf eine gewünschte Eskalation der britischen Außenpolitik im Türkisch-Russischen Krieg der 1880er Jahre. In der US-amerikanischen Debatte taucht er immer wieder auf, um Trumps Wendung zu beschreiben.

Die Neuaufteilung der Welt ist die zweite große Aufgabe nach der Steuerreform, vor die sich die herrschende Klasse in den USA gestellt sieht. Es geht um nicht weniger als Behalten oder Verlieren der internationalen Vormachtstellung, im industriellen und auch im Finanzsektor.

Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die innenpolitischen Versprechungen Trumps vor allem auf der Ebene des Staatsapparats funktioniert haben: Deregulierung, deutlich verschärfter Staatsrassismus und auch eine Aufwertung der militarisierten Abschiebungsbehörde ICE. Mit der Steuerreform ist ein politisches Hauptanliegen der republikanischen Partei durchgesetzt worden, das Verbesserungen nur für die reichsten KapitalistInnen bringt.

Die Trump’sche Außenpolitik steckt noch in den Anfängen, repräsentiert aber einen umfassenden Bruch des US-Kapitals weg vom multilateralen, regelbasierten System von Handels- und Einflusszonen und hin zu einem aggressiveren Auftreten als imperialistische Macht. Solch ein Prozess wird Jahre dauern und die imperialistischen Widersprüche stark zuspitzen. Die StellvertreterInnenkriege zwischen den USA und Russland in der Ukraine und in Syrien sind in der neuen Strategie (egal ob sie von Trump oder jemand anderem angeführt werden) als offene Eskalation denkbar. Gerade auf diesem Gebiet stützt sich seine Politik mehr und mehr auf die strategische Linie der Neo-Konservativen.

Die Auswirkungen für die ArbeiterInnenklasse sind in dreierlei Hinsicht problematisch: Der drohende Zollkrieg verteuert Konsumprodukte und kann, wenn er andauert, zu massivem Arbeitsplatzverlust in der Industrie führen. An möglichen Gewinnen aus der Eskalation werden sie aber nicht beteiligt werden. Außerdem bedeutet die Möglichkeit internationaler imperialistischer Konflikte Lebensgefahr für die ArbeiterInnen aller beteiligten Länder.

4 Gescheiterte Regierung Trump

Deutlich mehr Wahlversprechen, als er umsetzen konnte, musste Donald Trump aber aufgeben. Dabei scheiterte er oft nicht an der scheinbaren Unmöglichkeit seiner Forderungen. Die wird von linksliberalen Medien gerne hervorgehoben, die den Präsidenten nicht als gefährlichen Rechten, sondern als unbedarft-unfähigen Trottel darstellen wollen. Tatsächlich wären radikale Vorschläge wie die Mauer an der Südgrenze oder das Einreiseverbot für MigrantInnen aus den „muslimischen“ Ländern, die Trump ein besonderer Dorn im Auge sind, durchaus umsetzbar.

Tatsächlich ist er aber an den Widerständen des US-amerikanischen politischen Systems und oft genug seiner eigenen Partei gescheitert. Das zeigt auch, dass er sein populistisches Versprechen, sich mithilfe der Massen über die Institutionen des Klassenwiderspruchs erheben zu können, nicht einlösen kann. Für eine bonapartistische Herrschaft sind das Trump-Regime und dessen Verankerung in der herrschenden Klasse und dem Staatsapparat zu schwach. Und auch die Zustimmung der Massen, die ihn gewählt haben, schwindet: Die Washington Post nennt Trump sicher zutreffend einen „zunehmend unpopulären Populisten“ (37).

Die Gesundheitsreform inklusive der Abschaffung der staatlichen Pflichtversicherung Medicare ist im Juli 2017 endgültig gescheitert. Sie war auch eine wichtige Forderung der RepublikanerInnen an ihren Kandidaten gewesen. Trump selbst hatte sich wegen der massiven, teilweise tödlichen Verschlechterungen für die Millionen Verarmten gescheut, das Projekt anzugehen. Im Wahlkampf hatten die angeblich durch staatliche Einmischung explodierenden Gesundheitskosten aber eine zentrale Rolle gespielt.

Dass seine „Gesundheitsreform“ (inklusive massiver Verschlechterungen für Frauen) aber auch an Stimmen aus der eigenen Partei scheiterte, muss als demütigende Niederlage von Trump und Aufzeigen der Grenzen seiner Macht gewertet werden (38).

Ein anderes wichtiges und extrem reaktionäres Versprechen war das Einreiseverbot für Menschen aus „muslimischen“ Ländern. Damit waren natürlich nicht die reaktionär islamistischen Verbündeten der USA in Saudi-Arabien gemeint, sondern vor allem Ziele der US-amerikanischen Außen- und Kriegspolitik: Iran, Irak, Libyen, Somalia, Sudan, Syrien und Jemen. Hier mischte sich der thematisch absurde Bezug auf die Attentate vom 11. September und den traditionellen „antiterroristischen“ Rassismus gegen MuslimInnen mit der Distanzierung von den Folgen amerikanischer Kriegspolitik, die im Irak, in Somalia, Syrien und im Jemen Millionen zur Flucht gezwungen hat.

Drei verschiedene Versionen des „travel ban“ scheiterten schließlich vor US-amerikanischen Gerichten, die darin, nicht überraschend, eine Verletzung des Diskriminierungsverbots in der amerikanischen Verfassung sahen. Auch hier ist ein jingoistisch-rassistisches Versprechen, die Massen vor einem äußeren Feind und Sündenbock zu schützen, am Widerstand der bestehenden Strukturen gescheitert, die Trump zu überwinden versprochen hatte. Einige Passagen aus dem Gesetz traten zum Sommeranfang 2018 nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs doch vorläufig in Kraft, die gerichtlichen Auseinandersetzungen gehen jedoch weiter.

Die Liste erfolgreicher und gescheiterter Vorhaben der Regierung Trump ließe sich fortsetzen und mit fortschreitender Länge seiner Präsidentschaft bestimmt auch verfeinern. Die Struktur wird aber auch an den wenigen genannten Beispielen offensichtlich. Trump setzt ein Programm durch, das noch offener als das seiner demokratischen und republikanischen Vorgänger, Obama und Bush, auf Rassismus und imperialistischen Vormachtsansprüchen beruht.

Wo er erfolgreich ist, befindet er sich meistens auf Linie mit den größten Teilen der herrschenden Klasse: da, wo es um Deregulierung und Steuerentlastung für Unternehmen geht. Diese Vorhaben begünstigen die KapitalistInnen im Allgemeinen und bestimmte Sektoren im Energie-, Finanz-, Immobilien- und Rüstungsbereich im Besonderen, auf die er sich auch stützt. Erfolglos war er in der Umsetzung populistischer Forderungen, die die herrschende Klasse beim gegenwärtigen Kräfteverhältnis nicht einseitig durchsetzen kann. Massiver Sozialabbau, Kürzungen im Gesundheitsbereich und auch eine einschneidende Veränderung in der amerikanischen Einwanderungspolitik scheitern am Widerstand des Staatsapparats, aber auch an der eigenen Partei, die weiß, dass sie für diesen Weg nicht die Kraft hat.

Der Populist Trump scheitert also nicht nur an seiner fehlenden Popularität, sondern bisher auch an der fehlenden Macht seiner Massenbasis.

5 Zusammenfassung: Trump als Beispiel für den Rechtspopulismus im 21. Jahrhundert

5.1 Trump als Rechtspopulist

Die Wahl und die Politik Donald Trumps sind Beispiele für den Erfolg rechtspopulistischer Kräfte auf der ganzen Welt. Seine Kampagne, die Kräfte, deren politischer Ausdruck er ist, haben ihre Klassenbasis unter großen KapitalistInnen und suchen ideologisch die Nähe zum weißen, nationalistischen Rassismus, zu völkischen Verschwörungstheorien und sogar zum Neofaschismus.

Seine Wahlversprechen haben ihre Wurzeln im Bonapartismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er behauptet, die gegensätzlichen Klasseninteressen in seiner Person auflösen und sich über die bestehenden Institutionen des politischen Klassenkampfes hinwegsetzen zu können. Kennzeichnend dafür sind auch die ideologischen Klammern seiner Kampagne: Rassismus, Frauenfeindlichkeit und ein Bezug auf einen früher existierenden, reaktionäreren und erfolgreicheren Kapitalismus.

Der Unterschied zu den bekannten Beispielen des Bonapartismus besteht darin, dass nicht die Angst vor einer stärker werdenden ArbeiterInnenbewegung ihn an die Macht gebracht hat. Die ist in den USA schon die letzten 100 Jahre schwächer gewesen als in allen anderen imperialistischen Ländern und verliert zunehmend an Stärke. Vielmehr waren es die Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse nach der historischen Krise 2007, die entscheidende Teile von ihr wie des politischen Establishments hinter ihm versammelt haben.

Das ist anders als beispielsweise in Italien oder Österreich, wo neben den (oft schwächeren) Widersprüchen unter den KapitalistInnen vor allem die Unzufriedenheit unter ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen mit ihren traditionellen Parteien den Aufstieg der RechtspopulistInnen bedingt.

5.2 Die besondere Rolle der USA

Das liegt an der doppelt besonderen Rolle der USA. Einerseits existiert hier die ArbeiterInnenbewegung in viel geringerer Stärke (sowohl organisatorisch als auch in Zahlen) als in anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Viele Themen des Klassenkampfes werden deshalb von identitätspolitischen Gruppen vertreten, zum Beispiel der schwarzen BürgerInnenrechtsbewegung oder der bürgerlichen Frauenbewegung. Es ist deshalb nicht überraschend, dass das traditionelle Feindbild der BonapartistInnen, die ArbeiterInnenbewegung oder die KommunistInnen, durch diese eigentlich bürgerrechtlich-demokratischen Gruppen ersetzt werden.

Eine ähnliche Verschiebung hin zu Verschwörungstheorien gegen NGOs oder FeministInnen können wir ja auch in Europa beobachten, zum Beispiel bei Orbán in Ungarn, der AfD in Deutschland oder der FPÖ in Österreich. Die USA und Trump sind hier aber die SchrittmacherInnen für diese Dynamik.

Gleichzeitig spielen die USA als stärkster und wichtigster imperialistischer Staat der Welt weiter eine Sonderrolle. Besonders die drohende Ablösung an der Weltspitze durch den aufsteigenden chinesischen Imperialismus sorgt für ordentliche Spannungen in der herrschenden Klasse. Auch die Überprofite aus der imperialistischen Ausbeutung und der von den USA dominierten Weltordnung, mit denen der soziale Frieden gewahrt wurde, geraten so ins Wanken. Das erklärt zumindest teilweise die schnelle Gangart der Trump-Regierung.

5.3 Trump am Scheideweg

Die besondere Rolle dieser selbst in den USA umstrittenen Präsidentschaft ist es, einen Kurswechsel zugunsten der herrschenden Klasse durchzusetzen. Diese erwartet sich einen eindeutigen Sieg sowohl gegen die ArbeiterInnen- und BürgerInnenrechtsbewegung im Inland als auch über die teilweise wettbewerbsfähigere kapitalistische Konkurrenz im Ausland. An diesen zwei Aufgaben wird Donald Trump gemessen werden. Der Populismus und der Konflikt mit den staatlichen Strukturen sind nur (notwendiges) Mittel zum Zweck.

Mit der Steuerreform hat sich die Machtbalance zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen jedenfalls umfassend verschoben. Vor allem die als eigene juristische Person behandelten corporations (eine Eigenart des amerikanischen Wirtschaftsrechts) profitieren massiv, niedrige und mittlere Lohneinkommen verlieren stark. Dazu kommt die unweigerlich bevorstehende Gegenfinanzierung durch einen Abbau des bereits maroden, aber teuren Sozialsystems.

Auch die Durchsetzung amerikanischer Konzerninteressen gegen die internationale Konkurrenz wird mit dem beginnenden Handelskrieg und der schrittweisen Umstellung der militärischen Außenpolitik ernsthaft angegangen. Sowohl in der Auseinandersetzung mit China als auch der EU geht es weniger um konkrete, bezifferbare Ziele als darum, die Konkurrenz durch fehlende Absatzmärkte zu verdrängen und die Wiedereinbeziehung der USA in internationale Produktionsketten zu erzwingen.

Dieses Projekt ist aber deutlich schwieriger zu bewältigen als die neuerliche Erniedrigung der ArbeiterInnenklasse und ihrer progressiven angeblichen Verbündeten vom linken Rand der Demokratischen Partei. An ihm wird sich letztlich zeigen, ob die Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse auf dem Weltmarkt nicht noch eine radikalere, militärische Lösung verlangt – was im Stadium einer erneuten Neuaufteilung der Welt nicht überraschen würde.

Wichtiger noch ist die Frage, wohin sich nach einem Misserfolg der Trump-Regierung seine WählerInnenbasis bewegen würde. Wie oben festgestellt sind das zum größten Teil sehr gut verdienende ArbeiterInnen, klassisches KleinbürgerInnentum und Teile der herrschenden Klasse. Aber auch ArbeiterInnen aus den Gebieten, in denen die Klasse einen besonders scharfen Absturz erlebt hat (dem „Rust Belt“), haben sich hinter Trump gestellt.

Angesichts der Tatsache, dass radikale reformistische Forderungen wie eine kostenlose oder zumindest leistbare Krankenversicherung für alle („Medicare For All“), Begrenzung von Mieten und praktische Aktionen, um das Bleiberecht von MigrantInnen zu erzwingen („Occupy ICE“), Massenanhang finden, ist es durchaus möglich, dass sich ein Teil der ArbeiterInnenklasse nach links orientiert. Die sich im Aufbau befindlichen reformistischen, aber von den DemokratInnen abgegrenzten Strukturen können für sie einen politischen Ausdruck ihrer Klassenzugehörigkeit, aber auch ihres dezidiert nicht-revolutionären Bewusstseins darstellen. Eine linke Kandidatur an der Spitze der Demokratischen Partei kann für andere anziehend wirken und die Stimmen der ArbeiterInnen erneut an eine offen bürgerliche Partei binden.

Für den Teil der WählerInnenbasis, der quasi traditionell vom rechten Rand der RepublikanerInnen kommt, wird eine weitere Radikalisierung bei einem Misserfolg fast alternativlos sein. Schon jetzt organisieren sich faschistische Gruppen und bewaffnete Milizen (mit denen Trump einen fast freundlichen Umgang pflegt) in allen Bundesstaaten. Mit dem Massenzustrom der rassistischen, aber unorganisierten Trump-AnhängerInnenschaft kann das ein Erstarken des amerikanischen Faschismus auf seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehenes Niveau bedeuten. Das ist die konkrete Gefahr, wenn Trump nicht durch den Widerstand der ArbeiterInnen und Unterdrückten, sondern von einem bürgerlichen Staats- und Justizapparat entmachtet wird, der weder den ArbeiterInnen noch den Herrschenden eine Lösung ihrer Probleme anbieten kann.

5.4 Der Kampf gegen Trump ist der Kampf für eine ArbeiterInnenpartei

Trumps Amtszeit ist eine Präsidentschaft der unverfrorensten Teile des amerikanischen Großkapitals, und sein Programm ist eine Beschleunigung der Angriffe auf die Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung. Es fällt dem Präsidenten bisher schwer, seine populistischen Versprechen einzulösen. Erfolge erzielt er vor allem in einer Breitseite gegen die Gewerkschaftsbewegung durch eine langsame Neuordnung des Arbeitsrechts, gegen unterdrückte Schichten mit rassistischer und frauenfeindlicher Politik in Bezug auf Einwanderung, Zugang zu Abtreibungen und Verhütungsmitteln und gegen die breite Masse der ArbeiterInnen durch den Abbau von Umweltschutzbestimmungen.

Das ist der Charakter eines rechtspopulistischen Regimes, das bisher erfolglos versucht, zum Bonapartismus zu werden. Die politische Dynamik hin zur kapitalistischen Breitseite ist angesichts der Kräfteverhältnisse in den USA keine Überraschung.

Der Widerstand ist zum größten Teil sehr beeindruckend. Gegen das noch einmal brutaler gewordene Abschieberegime, für die Rechte von Frauen und Transgenderpersonen, gegen das offene Auftreten von Neonazis gehen Zehntausende auf die Straße. Aber er ist zersplittert, nicht nur in den Aktionen, sondern auch ideologisch. Statt auf eine gemeinsame Front der Angegriffenen und Unterdrückten zu orientieren, werden die verschiedenen Identitäten der Kämpfenden hervorgekehrt.

Das ist in erster Linie eine Folge der extrem schwachen ArbeiterInnenbewegung in den USA. Es fehlt ideologisch und praktisch ein Organ des Klassenkampfes, das diese Kämpfe vereinen, den grundlegenden Widerspruch benennen und angreifen kann. Die bestehende ArbeiterInnenbewegung in den USA ist teilweise eng mit den KapitalistInnen und dem Staatsapparat verbandelt. Sie ist unfähig oder unwillig, die ideologische Klammer der Trump-Präsidentschaft, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Klassenhass, zu bekämpfen.

Die zentrale Schwäche der US-amerikanischen ArbeiterInnenbewegung ist, dass sie sich nie eine eigene Partei geschaffen hat. Die bislang erfolgreichsten Versuche konnten nie die 100.000-Mitglieder-Marke überwinden und Masseneinfluss erlangen. Das macht es so einfach für die KapitalistInnen, verschiedene Schichten der Klasse gegeneinander auszuspielen und die Führung der Gewerkschaftsbewegungen zu sich herüberzuziehen.

Der Kampf gegen diesen Präsidenten (und gegen den vor ihm, und den oder die nach ihm) muss also einer für eine neue ArbeiterInnenpartei und gegen die (ideologische) Offensive des Kapitals sein. Der ideologische Klassenkampf und das Streiten um einen organisatorischen Ausdruck der ArbeiterInnen bilden die Schlüsselelemente im Widerstand.

 

Endnoten

(1) https://www.nytimes.com/2016/11/09/us/politics/hillary-clinton-donald-trump-president.html?_r=0

(2) https://www.nationalreview.com/nrd/articles/432569/father-f-hrer

(3) http://www.theamericanconservative.com/articles/how-the-gop-can-hang-on-to-the-working-class/

(4) https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2017/06/05/its-time-to-bust-the-myth-most-trump-voters-were-not-working-class/?noredirect=on&utm_term=.28ff98f77459

(5) https://fivethirtyeight.com/features/the-mythology-of-trumps-working-class-support/

(6) https://www.forbes.com/sites/chasewithorn/2016/12/09/all-the-presidents-billionaires-a-guide-to-trumps-gilded-inner-circle/#c2668ad4694c

(7) https://www.forbes.com/sites/chasewithorn/2017/07/05/the-4-3-billion-cabinet-see-what-each-top-trump-advisor-is-worth/#716b26515dfc

(8) https://www.thedailybeast.com/trumps-crony-cabinet-is-a-disaster-waiting-to-happen

(9) https://www.independent.co.uk/news/world/americas/us-politics/steve-bannon-mussolini-fascination-populist-facist-donald-trump-us-a8259621.html

(10) https://www.theguardian.com/us-news/2017/aug/14/donald-trump-steve-bannon-breitbart-news-alt-right-charlottesville

(11) http://www.politico.com/news/stories/0311/51473.html

(12) https://www.washingtonpost.com/news/fact-checker/wp/2016/03/01/donald-trump-and-david-duke-for-the-record/?utm_term=.6da76da6a294

(13) https://www.theguardian.com/us-news/2016/nov/07/us-election-2016-complete-timeline-clinton-trump-president

(14) http://www.politifact.com/trumpometer-year-one/deregulation-environmental-promises/

(15) https://www.independent.co.uk/news/world/americas/us-politics/mercer-funding-trump-anti-muslim-advert-group-claims-2016-election-documents-open-secrets-a8290986.html

(16) Marx, Karl (1852): „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, MEW, Band 8, Berlin/O. 1973, S. 111 – 207

(17) https://socialistworker.org/2016/12/05/the-18th-brumaire-of-trump

(18) http://www.leftvoice.org/Trump-A-Weak-Bonapartist-Government

(19) Trotsky, 1934: „Bonapartism and Fascism“, New International, Volume 1, No 2, August 1934, S. 37 – 38

(20) https://socialistworker.org/2016/12/05/the-18th-brumaire-of-trump

(21) https://www.washingtonpost.com%2Fnews%2Fmonkey-cage%2Fwp%2F2016%2F03%2F18%2Fted-cruz-wanted-to-carpet-bomb-the-islamic-state-does-he-understand-todays-military%2F&usg=AOvVaw2D9BMaK5gW8ztpLJJgAbZz

(22) https://www.nytimes.com/interactive/2018/01/15/opinion/leonhardt-trump-racist.html

(23) Ejigu, Mekdela (2018): „Defend women’s right to choose“, Workers Power [US], Volume 1, No 1, Spring/Summer 2018

(24) https://www.americanprogress.org/issues/women/reports/2017/04/25/430969/100-days-100-ways-trump-administration-harming-women-families/

(25) https://www.salon.com/2018/02/07/donald-trump-wants-to-bring-coal-back-even-though-its-killing-miners/

(26) https://www.reuters.com/article/us-transcanada-pipeline-leak/keystone-pipeline-leak-in-south-dakota-about-double-previous-estimate-paper-idUSKBN1HE0T7

(27) https://www.cfr.org/interactives/campaign2016/donald-trump/on-energy-and-climate

(28) https://www.politico.com/story/2016/10/koch-brothers-campaign-struggles-230325

(29) Otono, Marcus (2018): „Another Trickle-Down Tax Scam“, Workers Power [US], Volume 1, No 1, Spring/Summer 2018

(30) https://www.vox.com/policy-and-politics/2018/3/6/17081508/senate-banking-bill-crapo-regulation

(31) https://www.nytimes.com/2017/11/27/business/financial-regulation-rollback-trump.html

(32) https://www.theguardian.com/business/2017/aug/24/financial-deregulation-us-crisis-federal-reserve-trump

(33) https://lpeblog.org/2018/02/20/environmental-trumpism-at-bears-ears/

(34) https://www.bloomberg.com/news/articles/2018-02-14/trump-s-nlrb-scorned-by-grad-students

(35) https://www.nydailynews.com%2Fnew-york%2Fice-arrests-surge-65-new-york-trump-office-article-1.4006377&usg=AOvVaw122AWeh4XMYWkmHWr_6fD9

(36) https://www.washingtonpost.com/opinions/ice-has-become-trumps-personal-bullying-squad/2018/04/23/5197541e-472d-11e8-8b5a-3b1697adcc2a_story.html?utm_term=.0d725f56669b

(37) https://www.washingtonpost.com/blogs/right-turn/wp/2018/04/12/trumps-populism-is-very-unpopular/?utm_term=.60cc2387b447

(38) https://www.ft.com/content/60659e20-73b0-11e7-aca6-c6bd07df1a3c




Die Freiheitliche Partei Österreichs

Eine marxistische Betrachtung ihres reaktionären Charakters

Alex Zora, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Mit der Neuauflage der Koalition aus ÖVP (Österreichische Volkspartei) und FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) tritt Österreich in eine neue Phase des Klassenkampfes ein. Obwohl die FPÖ nach ihrer (für sie) desaströsen Regierungsbeteiligung von 2000–2005 bei den Wahlen 2006 nur noch auf 11 % kam, war das folgende Jahrzehnt für sie von einem nie dagewesenen Aufstieg und von einer Festigung geprägt.

Zwar schaffte es die FPÖ auch schon unter Jörg Haider innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt, die beiden traditionellen Großparteien ernsthaft in Bedrängnis zu bringen und 1999 sogar die ÖVP bei den Nationalratswahlen zu überholen, doch im Unterschied zur Ära Haider hat es die FPÖ unter Strache nicht nur geschafft, bei den Wahlen stark aufzusteigen und de facto mit ÖVP und SPÖ gleichzuziehen, sondern sich auch personell zu stärken, ihre Verankerung in Teilen der herrschenden Klasse auszubauen, eine beachtliche StammwählerInnenschaft (bestehend zu relevanten Teilen aus ArbeiterInnen) aufzubauen und den parteiinternen Zusammenhalt (unter Führung der Burschenschafter) zu stärken. Bedeutend ist aber auch die Tatsache, dass die Freiheitlichen vor dem Hintergrund der „Flüchtlingskrise“ und des internationalen Rechtsrucks über eineinhalb Jahre, von Mitte 2015 bis Anfang 2017, in den Umfragen deutlich die stärkste Partei waren. Die FPÖ scheint das Zwei-Parteien-System der II. Republik nachhaltig untergraben zu haben.

Die FPÖ zeigt in der neuen schwarz-blauen Koalition ihr Gesicht nicht mehr, wie im letzten Jahrzehnt, vorwiegend als Oppositionspartei, sondern als staatstragende Juniorpartnerin der ÖVP. Mit ihren geplanten Angriffen auf die gesamte ArbeiterInnenklasse und deren soziale Errungenschaften ist die FPÖ essentiell für die herrschende Klasse in Österreich geworden.

Hierbei hervorzuheben ist vor allem, dass sich die FPÖ vermutlich nicht so sehr wie unter Schwarz-Blau I in ihrer Rolle als Regierungspartei blamieren wird. Ihre tiefere Verankerung (eben auch in Teilen der herrschenden Klasse) und ihre ideologische Vereinheitlichung rund um die rechten Burschenschaften werden sie wohl nicht so schnell abstürzen lassen. In einer aktuellen Periode, die vom verschärften Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Großmächten und einer historischen Krise des Kapitalismus geprägt ist, können solche „Stabilitäten“ aber auch sehr kurzlebig sein. Eine schwere Rezession und/oder Finanz- bzw. Staatskrise kann in kurzer Frist ausbrechen und die EU auseinanderfallen. Das kann ebenso zur Wiederbelebung des ArbeiterInnenwiderstands führen wie zur Entstehung wirklicher faschistischer Massenparteien. Die Lähmung der österreichischen ArbeiterInnenbewegung durch den sozialpartnerschaftlichen Kurs von SPÖ und ÖGB ist nämlich bisher ein Hauptfaktor für den Aufstieg der FPÖ wie für Rassismus, autoritären Rechtsruck und Sozialabbau in Europa gewesen und damit auch für die einstweilige Stabilität dieser Partei.

Von der Kleinpartei zur Haider-FPÖ

Die FPÖ wurde erst 1956 gegründet, vor allem basierend auf ehemaligen NationalsozialistInnen. Die ersten beiden Bundesparteiobmänner waren wichtige Figuren im 3. Reich. Anton Reinthaller, FPÖ-Obmann von 1956–58, war Minister im Anschlusskabinett 1938, SS-Brigadeführer und Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer Friedrich Peter stand 20 Jahre (1958–78) an der Spitze der Partei. Jahrzehntelang kam die FPÖ nicht über 7 % bei Nationalratswahlen hinaus. Das änderte sich erst mit Jörg Haider, der die Partei 1986 übernahm und es mit Rassismus und sozialer Rhetorik innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt schaffte, die FPÖ mit 27 % in die Regierung zu führen.

Dort zerlegte sich die FPÖ aber größtenteils selbst. Gemeinsam mit der traditionellen, konservativen Partei der österreichischen Bourgeoisie, der ÖVP, setzte sie Sozialabbau und Privatisierungen durch, was letztlich dazu führte, dass sie bei den Neuwahlen 2002 fast zwei Drittel ihrer Stimmen verlor. 2005 kam es dann auch noch zur Spaltung mit dem von Haider geführten BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich), was die FPÖ zur Neuaufstellung zwang.

Nach den turbulenten Zeiten der schwarz-blauen Koalition und den desaströsen Abstürzen in diversen Wahlen kehrten nach der Abspaltung des BZÖ erstmals seit längerem wieder relative innerparteiliche Ruhe und Geschlossenheit nach außen in die FPÖ ein. Bei den Wahlen 2006 konnte die FPÖ – entgegen den meisten Umfragen – sogar leicht (auf 11,03 %) zulegen. Der Wahlkampf wurde von Seiten der FPÖ vor allem mit traditionell rassistischen Parolen („Daham [Österreichisch für zuhause] statt Islam“, „Sichere Pensionen statt Asyl-Millionen“) geführt. Unter Strache schaffte sie es, sich relativ erfolgreich von der Zeit der schwarz-blauen Koalition abzugrenzen, und behauptete, innerparteilich „aufgeräumt“ zu haben. Das war zumindest nicht vollkommen erlogen, gingen doch viele der wichtigsten FunktionsträgerInnen zum neugegründeten BZÖ.

Mit Strache stiegen auch neue Größen in der FPÖ auf. Herbert Kickl wurde im April 2005 Generalsekretär und ist heute wichtiger Stratege der FPÖ. Seit 2006 teilt er sich diesen Posten mit Harald Vilimsky. Vilimsky und Kickl sind einige der wenigen blauen Spitzenfunktionäre, die keiner Burschenschaft angehören. Die anderen waren fast ausschließlich Burschenschafter wie der Parteiideologe und lange Jahre führende Mann der FPÖ im EU-Parlament Andreas Mölzer (Corps Vandalia), der Wiener FPÖ-Vizebürgermeister und enge Strache-Vertraute Johann Gudenus (wie Strache in der Vandalia), der langjährige dritte Nationalratspräsident Martin Graf (Burschenschaft Olympia) oder dessen Nachfolger und späterer Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer (Burschenschaft Marko-Germania zu Pinkafeld), oder auch Strache selbst (Pennale Burschenschaft Vandalia).

Nach der Spaltung mit dem BZÖ orientierte sich die FPÖ wieder recht erfolgreich am alten Haider-Modell des Rassismus und der sozialen Demagogie. Erweitert wurde das vor allem um eine anti-muslimische Komponente, die bis dahin nicht so stark im Vordergrund stand. Alte Themen wie Hetze gegen Flüchtlinge und EU-Kritik sowie ein starker Bezug auf den österreichischen Nationalismus sind erhalten geblieben.

Es gelang der FPÖ wieder, in zentrale Teile der ArbeiterInnenklasse vorzudringen, insbesondere in einigen traditionellen Wiener ArbeiterInnenbezirken (Simmering hat seit 2015 eine FPÖ-Bezirksvertretung). Aber auch am Land konnte die FPÖ wichtige Zugewinne verbuchen.

Bei den Nationalratswahlen 2008 konnte sich die FPÖ schon deutlich steigern und erreichte 17,54 %. 2013 gab es erneut einen Zuwachs auf 20,51 % und 2017 auf 25,97 %. Damit gelangte sie in knappe Reichweite der beiden anderen „Großparteien“.

Die FPÖ hat sich über die Jahre stark verändert. Ursprünglich klares Auffangbecken für Alt- und Neonazis, musste sie sich den veränderten politischen Bedingungen des Wirtschaftsaufschwungs und der Nachkriegsordnung anpassen und integrierte sich am rechten Rand in das parlamentarische System in Österreich. Mit Haiders Erfolgsrezept gelang es der FPÖ, sich von einer eher elitären Partei im einstelligen Prozentbereich zu einer ernsthaften Bedrohung für die traditionellen Parteien der II. Republik zu entwickeln, und sie ist nach dem zwischenzeitlichen Absturz Mitte der 2000er Jahre heute wieder in der Bundesregierung. In der Regierungsverantwortung kann es aber wieder zu innerparteilichen Konflikten kommen, deren Ausgang nicht absehbar ist.

Soziale Demagogie im Interesse des Kapitals

Die FPÖ versuchte, sich nach der Übernahme Straches als FPÖ-Chef wieder in die Haider-Tradition der „Sozialen Heimatpartei“ für „die kleinen Leute“ zu stellen. Rhetorik gegen die EU-„Rettungspakete“ für Griechenland sowie gegen MigrantInnen, die angeblich das Sozialsystem ausnützen würden, stand im Mittelpunkt. Als die FPÖ recht bald nach den Wahlen 2013 in den Umfragen stetig dazugewann und ab 2015 längere Zeit sogar recht komfortabel auf dem ersten Umfrageplatz lag sowie die Regierungsverantwortungen in Oberösterreich (mit der ÖVP) und dem Burgenland (mit der SPÖ) übernahm, änderte sich ihr Kurs. Von da an war das Ziel nicht mehr, in erster Linie das Vertrauen von potenziellen WählerInnen aus der „breiten Masse“ zu gewinnen. Vielmehr wollte man sich als „seriöse Regierungspartei“ inszenieren und den Zuspruch der Bourgeoisie erhalten. Die Orientierung einer Mehrheit dieser auf eine schwarz-blaue Regierung hat diese Entwicklung nur noch mehr verstärkt. Konkreter Ausdruck dessen war vor allem das neue Wirtschaftsprogramm der FPÖ, das im August 2017, also kurz vor den Nationalratswahlen, veröffentlicht wurde.

Schon 2016 angekündigt, musste die Veröffentlichung von Anfang des Sommers 2017 auf Ende August verzögert werden. Das weist darauf hin, dass es auch unterschiedliche Herangehensweisen innerhalb der FPÖ gegeben hat. Letztlich präsentiert sich das Programm doch sehr nahe an dem der ÖVP. Teilweise gleichen sich die Forderungen sogar eins zu eins. So wollen sowohl Kurz als auch die FPÖ eine Senkung der Abgabenquote auf 40 %. Beide sprechen sich offen und klar gegen Erbschafts- und Vermögenssteuern aus. Im Sozialbereich soll stärker zwischen ÖsterreicherInnen und MigrantInnen unterschieden werden. Wir wollen beispielhaft zwei Positionen der FPÖ diskutieren, stellen aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung verweisen wir auf das Buch „Die FPÖ – Partei der Reichen“ (1) von Michael Bonvalot.

Bei der Umsetzung der 12-stündigen Tageshöchstarbeitszeit ist die FPÖ vorne dabei. Zwar sprachen sich Strache selbst sowie die „Freiheitlichen Arbeitnehmer“ 2013 noch gegen den 12-Stunden-Tag aus („12-Stunden-Arbeitstag ist Anschlag auf Arbeitnehmer!“), doch seither hat sich die Position deutlich geändert. Gemeinsam mit der ÖVP unter Kurz einigte man sich im Regierungsprogramm darauf, dass der 12-Stunden-Arbeitstag und die 60-Stunden-Woche eingeführt werden sollen. Wieder einmal bewies die FPÖ, dass sie ihre Politik ganz im Sinne der Unternehmen gestaltet.

Privatisierung von staatlichem Eigentum war eines der Hauptanliegen der schwarz-blauen Koalition 2000–06. Der Stahlkonzern VOEST, das Wohnungsunternehmen BUWOG, die Postsparkasse, Austria Tabak, die Telekom und andere wurden privatisiert. Die diese Privatisierungen umgebende Korruption (Telekom, BUWOG) beschäftigt heute noch die bürgerlichen Gerichte. Unter Strache sprach sich die FPÖ nun wieder vermehrt gegen einige diskutierte Privatisierungen aus (so zum Beispiel gegen unpopuläre Privatisierungen von Wasser oder Gemeindebauten). Aber so viel mit dem Schutz staatlichen Eigentums hat die FPÖ dann wieder doch nicht am Hut. Z. B. sprach sich die Tiroler FPÖ 2016 für die (Teil-)Privatisierung aller Landesunternehmen aus. Auch in diversen Programmen der FPÖ finden sich unterschiedlich klare und weniger klare Bekenntnisse zu Privatisierungen (Wirtschaftsprogramm 2010, Parteiprogramm 2005, Handbuch freiheitlicher Politik).

Die FPÖ ist in einem grundlegenden Dilemma befangen. Aus diesem Widerspruch erklärt sich unter anderem die Regierungskrise 2002 sowie bis zu einem gewissen Grad auch die Abspaltung des BZÖ 2005. Auf der einen Seite versuchte sie als Oppositionspartei, neben Teilen des KleinbürgerInnentums die vom Abstieg bedrohten oder schon abgestiegenen Teile der österreichischen ArbeiterInnenklasse sowie vermehrt auch ländliche, konservative Schichten anzusprechen. Auf der anderen Seite ist der Kern der Partei aber bildungsbürgerlich-akademisch und stammt aus klein-, mittel- und teilweise großbürgerlichem Milieu. Sogar Strache, der selbst „nur“ eine Ausbildung zum Zahntechniker gemacht hat, wird hier angeblich teilweise von oben herab belächelt.

Zusätzlich scheint es, als ob die Zustimmung in der Bevölkerung zur FPÖ bei Nationalratswahlen – „optimistisch“ geschätzt – in absehbarer Zukunft nicht über ein gutes Drittel hinausgehen könne. Die FPÖ ist deshalb auf eine Koalition angewiesen, um in die Regierungsverantwortung kommen zu können. Für eine Regierungsbeteiligung ist in erster Linie die direkte Unterstützung durch relevante Teile der österreichischen Bourgeoisie notwendig. Diese hat bekanntlich wenig Interesse an einer sozialen Politik, selbst nur für die „österreichischen“ Teile der ArbeiterInnenklasse auf Kosten von Geflüchteten und anderen.

Die FPÖ steckt somit zu einem gewissen Grad in der Klemme zwischen einer sozialen Demagogie inklusive Rassismus und leerer Versprechungen einerseits sowie der eigenen sozialen Basis im elitären Burschenschaftertum und einer Politik für relevante Teile der österreichischen Bourgeoisie andererseits. In Zeiten der Oppositionstätigkeit lässt sich dieser Widerspruch relativ einfach dadurch ausgleichen, dass man viel versprechen kann und wenig halten muss, doch in Zeiten der Regierungstätigkeit sieht die Sache anders aus.

Das Parteiprogramm stammt aus dem Jahr 2011 und ist eine unangenehme Mischung aus schwammigem Gerede, neoliberalen Einsparstrategien und von hier nach da ehrlichen Eingeständnissen der reaktionären Politik, die man zu durchzuführen gedenkt. Das Programm beruft sich hier abwechselnd auf die Antike, das „Kultur-Christentum“, die „deutsche Sprach-, Kultur- und Geschichtsgemeinschaft“ (die letzte geschichtliche Gemeinschaft des deutschsprachigen Raums scheint da noch recht wach in Erinnerung zu sein) und das Altösterreich deutscher Muttersprache. Die explizite Erwähnung des Deutschtums Österreichs ersetzt hier das „wahrhafte Christentum“, das Jörg Haider als ideologische Grundlage in das letzte Parteiprogramm festschreiben ließ.

Zwischen Deutschtümelei und Österreich-Patriotismus

Das Spannungsverhältnis zwischen dem traditionellen deutschnationalen Flügel der FPÖ und dem christlichen Österreich-Patriotismus Straches ist dennoch nicht zu übersehen. Diese innerparteilichen Widersprüche sind auf die Entstehungsgeschichte der Freiheitlichen selbst zurückzuführen. Die Nazi-Traditionen wurden in den Parteiprogrammen des FPÖ-Vorläufers, dem Verband der Unabhängigen (VdU), gepflegt. So forderte das Ausseer Programm „die Entfaltung des Einzelnen innerhalb der Volksgemeinschaft“ und Österreich wurde als „deutscher Staat“ deklariert, dessen Politik „nie gegen einen anderen deutschen Staat gerichtet sein“ darf. Kein Wunder, dass sich auch im 15-Punkte-Kurzprogramm der damals neu gegründeten FPÖ ein Bekenntnis zur „deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft“ findet. In den 1957 beschlossenen „Richtlinien freiheitlicher Politik“ wird darüber hinaus gemahnt: „Wir haben in den deutschen Österreichern das Bewusstsein wachzuhalten, ein Teil des deutschen Volkes mit allen sich aus dieser Zugehörigkeit ergebenden Rechten und Pflichten zu sein.“

Während die deutschnationale FPÖ bis 1986 nie die 10-%-Marke bei Wahlen überschreiten konnte, brachte Haiders verstärkt einsetzender Österreich-Patriotismus der Partei einen Wahlerfolg nach dem anderen, bis 1999 mit 26,9 Prozent der vorläufige Höhepunkt erreicht werden konnte. Wenngleich der österreichische Rechtsradikalismus und mit ihm die völkischen Burschenschaften vom FPÖ-Aufschwung profitierten, hagelte es trotzdem Kritik nach Haiders 1995 erfolgter (formeller) Absage an die „Deutschtümelei“. Die FPÖ vollzog einen Wandel: Von der ideologisch klar definierten deutschnational ausgerichteten Partei versuchte man nun den Übergang in den rechten Populismus mit Österreich-Patriotismus. Diese Politik verschaffte WählerInnenstimmen und Posten. Den „Schutz unserer Heimat Österreich“ zu fordern und sich gleichzeitig zur „deutschen Volks-, Sprach-, und Kulturgemeinschaft“ zu bekennen, bleibt deshalb im Rahmen des rechten und rechtsradikalen Lagers ein anscheinend miteinander verträglicher Widerspruch, solange der Einfluss in den staatlichen Strukturen gewahrt werden kann. Dieser einstweilen ausgehaltene Widerspruch kann sich z. B. bei einem Zerfall der EU und der möglichen Entstehung eines deutlicher von Deutschland aus geführten Staatenblocks wieder zugunsten eines gesamtdeutschen Nationalismus auflösen. Einstweilen folgt sie jedoch in der Koalition mit der ÖVP deren sich positiv, wenn auch kritisch, zur EU bekennenden Politik.

Zum Nationalsozialismus hat die FPÖ traditionell ein besonderes Verhältnis. Das ergibt sich schon aus ihrer Geschichte als Nachfolgepartei des VdU. Bis zum heutigen Tag hat sie Veränderungen nach links und nach rechts durchgemacht. Aber wie auch immer die Freiheitlichen ausgerichtet waren, in der Partei tummelten sich zu allen Zeiten alte und neue Nazis. Immer wieder kommen Straftaten der Wiederbetätigung von Parteimitgliedern und FunktionärInnen an die Öffentlichkeit oder Zweideutigkeiten, die eine Sympathie zum Nationalsozialismus vermuten lassen. Strache selbst hat Ende der 1980er an Wehrsportübungen der neonazistischen „Volkstreuen Außerparlamentarischen Opposition“ teilgenommen und pflegte Kontakte zu Norbert Burger, Gottfried Küssel (beides Größen im österreichischen Neonazismus) und der Wiking-Jugend. Das macht die FPÖ, wie wir später argumentieren werden, noch nicht zu einer faschistischen Partei, unterscheidet sie aber von „gewöhnlichen“ Parteien im bürgerlich-demokratischen Spektrum.

Eine wichtige Rolle für den Neonazismus spielen die Burschenschaften, die unter der Führung Straches in der Partei außerordentlich gestärkt wurden und de facto die Partei kontrollieren. Diese deutschnationalen Verbindungen haben nämlich historisch die nationalsozialistische Herrschaft begrüßt und sich selbst als Teil dieser Bewegung verstanden. Viele Nazis waren nach dem Untergang ihrer Herrschaft weiterhin in Burschenschaften aktiv und auch heutzutage ist das der Fall. Für Neonazis und radikale Rechte bieten die Verbindungen ein ideales Betätigungsfeld, weil sie nicht nur rechte Ideologien hochhalten, sondern auch sehr geschlossen sind. Deshalb üben sie auch eine „Scharnierfunktion“ zwischen FPÖ und der radikaleren Rechten aus. Am klarsten ist das im Verhältnis FPÖ – Burschenschaften – Identitäre zu sehen. Letztere sind zwar nicht klassisch neonazistisch, aber können als Keim einer faschistischen Bewegung betrachtet werden. Wichtige Führungskader der Identitären wie der Co-„Leiter“ Martin Sellner oder Alexander Markovics (Burschenschaft Olympia) stammen aus Burschenschaften bzw. deren Umfeld. Gleichzeitig gibt es trotz Distanzierungen Überschneidungen von FPÖ-Mitgliedern und Identitären und immer wieder Zusammenarbeit. Aber nicht nur über Burschenschaften existieren Verbindungen zu Neonazis. Die meisten Nazis unterstützen natürlich die FPÖ oder sind selbst Parteimitglieder.

Der dominierende Einfluss der Burschenschaften und deren Existenz innerhalb der bzw. rund um die Parteireihen (insbesondere bei Mobilisierungen wie Wahlkampfkundgebungen) machen die FPÖ zu einer Gefahr, die über die der bürgerlich-demokratischen Repression hinausgehen kann. Ein radikal-rechter bis neonazistischer Einfluss ist vorhanden und selbst die aktuell existierende Führungsriege kann die Ausrichtung der Partei vor dem Hintergrund einer sozialen Zuspitzung weit nach rechts verschieben.

Darüber hinaus erfüllen die Burschenschaften aktuell die Funktion, innerhalb der Regierungskoalition den aggressivsten, vorwärtstreibenden Keil bei der Durchsetzung neoliberaler Sparmaßnahmen, beim Schleifen der obsolet gewordenen sozialpartnerschaftlichen Institutionen und Rituale zu verkörpern. Sie sind das Bindeglied zu den radikalsten Elementen innerhalb der österreichischen Bourgeoisie. Sie versuchen sich auch als Elite, die in der Nachkriegsordnung von den Futtertrögen der Macht weitgehend ausgeschlossen war, in diversen staatlichen und halbstaatlichen Positionen wieder zu installieren.

ArbeiterInnenpartei?

Nichtsdestotrotz wird die FPÖ in den Medien oft als neue ArbeiterInnenpartei dargestellt. Wahr ist, dass sie einigen Umfragen zufolge bei verschiedenen Wahlen, z. B. bei den Nationalratswahlen 2013 und 2017 oder den Bundespräsidentschaftswahlen 2016, von mehr ArbeiterInnen gewählt wurde als die SPÖ. Dabei handelt es sich aber nicht um die ArbeiterInnenklasse im marxistischen Sinn des Wortes, sondern um eine Kategorie im österreichischen Arbeitsrecht. Bei Angestellten und Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die zu großen Teilen auch zur ArbeiterInnenklasse zu zählen sind, schnitt die FPÖ bei weitem schlechter ab. Auch der bedeutende Anteil der Lohnabhängigen, die entweder nicht zu den Wahlen gehen oder keine StaatsbürgerInnenschaft besitzen, ist schwer abzuschätzen und lässt zumindest die Frage offen, ob die FPÖ überhaupt bei der arbeitsrechtlichen Kategorie ArbeiterInnen die Nase vorne hat. Dass die Mehrheit der österreichischen ArbeiterInnenklasse die FPÖ nicht wählt, steht außer Frage.

Mit einer soziologischen Bestimmung der WählerInnenschaft ist natürlich die Frage, ob es sich bei einer Partei um eine ArbeiterInnenpartei handelt, noch lange nicht beantwortet. Jede Partei in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften muss ihre WählerInnen zu großen Teilen aus der ArbeiterInnenklasse rekrutieren. Eine ArbeiterInnenpartei kann deshalb nicht einfach nur eine Partei mit mehrheitlich ArbeiterInnen als WählerInnen, sondern sie muss ein Ausdruck der ArbeiterInnenbewegung sein. Das trifft zum Beispiel auf die SPÖ zu, die trotz ihrer bürgerlichen Politik eine spezielle Verbindung zu den Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse aufrechterhält und von uns deshalb als bürgerliche ArbeiterInnenpartei bezeichnet wird.

Die FPÖ wurde, wie wir weiter oben ausführlicher dargelegt haben, nicht als Partei aus der ArbeiterInnenbewegung gegründet und hatte auch nie den Anspruch, Teil dieser Bewegung zu sein. Vielmehr handelte es sich um eine Gründung aus elitären Teilen des KleinbürgerInnentums und der Bourgeoisie mit dem Anspruch, „das Volk“ zu vertreten. Auch heute noch ist die Mitgliedschaft der FPÖ sehr klein. Sie stützt sich sozial vor allem auf AkademikerInnen, Hoteliers, diverse kleine und mittlere UnternehmerInnen und einige FunktionärInnen bei den staatlichen Repressionsorganen. Mit einer Partei der ArbeiterInnenklasse hat das wenig zu tun. Auch in den gesetzlichen und gewerkschaftlichen Vertretungen der ArbeiterInnenklasse ist die FPÖ (vor allem in Relation zu ihren Wahlergebnissen) sehr schwach. Nur bei staatlichen Repressionsorganen (Polizei, Bundesheer, Justizwache) spielt sie eine größere Rolle.

Auch ihre Politik und ihr Klassenstandpunkt stehen klar auf Seiten der Verteidigung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, sind also eindeutig bürgerlich. Gerade die FPÖ in Oberösterreich, die durchaus der ÖVP dort den Rang bei der herrschenden Klasse abzulaufen versucht und dabei anscheinend sogar recht erfolgreich ist, offenbart schon seit einiger Zeit in der Landesregierung, dass sie Politik für die herrschende Klasse macht. Die Bundes-FPÖ wird denselben Weg in der jetzigen Regierung mit der ÖVP gehen. Teile der FPÖ geben die Tatsache, dass sie klar bürgerliche Politik betreiben (wenn auch vermutlich etwas anders gemeint), sogar offen zu. So betonte der Chef der Freiheitlichen Wirtschaft (FW) Matthias Krenn, dass nur eine „bürgerliche Koalition“ (aus ÖVP und FPÖ) „flexible Arbeitszeiten und Betriebsvereinbarungen“ durchsetzen kann.

Das Verhältnis der FPÖ zu den Gewerkschaften war schon immer anders als das der anderen etablierten Parteien der II. Republik. Gegründet wurde der ÖGB von Mitgliedern aus KPÖ, SPÖ und ÖVP. Die FPÖ gab es bei der Gründung auch noch überhaupt nicht. In den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz, als die FPÖ ohnehin kaum etwas in der ArbeiterInnenklasse zu sagen hatte, war natürlich ihr Einfluss in den Gewerkschaften verschwindend gering (der VdU war übrigens diesbezüglich bedeutend einflussreicher als die frühe FPÖ). Das hat sich aber auch nicht wirklich stark geändert, als es durch Haider und seine Politik geschafft wurde, erstmals die rückständigen Teile der ArbeiterInnenklasse für sich zu gewinnen (zumindest bei staatlichen Wahlen). Das drückte sich aber nie auch nur ansatzweise proportional in Wahlen bei der Arbeiterkammer oder Betriebsrats- bzw. Personalvertretungswahlen aus. Als Beispiel seien die Wahlen zur Wiener Arbeiterkammer 2014 angeführt, bei denen die „Freiheitlichen Arbeitnehmer“ 9,0 % erhielten. Nur ein Jahr später erhielt die FPÖ hingegen bei den Wiener Gemeinderatswahlen 30,8 %. Das zeigt deutlich, dass der Einfluss der FPÖ in der organisierten ArbeiterInnenbewegung klar hinter ihren Wahlergebnissen zurückliegt.

Das ist zwar paradox, aber auch wieder nicht enorm verwunderlich, tritt doch die FPÖ am stärksten gegen die Institutionen der ArbeiterInnenbewegung und klar gegen die den Gewerkschaften so heilige Sozialpartnerschaft auf. Das macht sie eben auch für die radikaleren Teile des Kapitals so interessant. Die FPÖ tritt eigentlich (auch wenn das für die Koalition mit der ÖVP zurückgestellt werden musste) für eine Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern ein. Immer wieder kritisiert sie die Gewerkschaften heftig und 1998 gründete sie sogar die „Freie Gewerkschaft Österreichs“ als Alternative zum ÖGB, was aber nicht von besonderem Erfolg gekrönt war. Sie ist damit erklärte Gegnerin der organisierten ArbeiterInnenbewegung. Für die österreichische herrschende Klasse ist die FPÖ deshalb besonders nützlich, um gegen die ArbeiterInnenbewegung vorzugehen, auch deshalb, weil es in ihr noch nicht einmal einen sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Flügel wie in der ÖVP gibt.

Die klare anti-gewerkschaftliche Haltung der FPÖ ist aber noch lange kein Grund, dass sich die rechtssozialdemokratische Gewerkschaftsführung dieser nicht anbiedert. Beispielhaft dafür ist z. B. der damalige sozialdemokratische ÖGB-Chef Erich Foglar, der mitten in der SPÖ-Diskussion um eine etwaige Koalition mit ihr meinte, dass man „nicht jede Regierungszusammenarbeit mit der FPÖ von vornherein ausschließen“ könne. Aber auch der sozialdemokratische Chef der Gewerkschaft Bau-Holz fordert schon seit langem eine Öffnung seiner Partei hin zu dieser. Argumentiert wird diese Position zumeist damit, dass soziale Politik zu oft an der Koalitionspartnerin ÖVP scheitern würde und man mit der FPÖ (zumindest für ÖsterreicherInnen) eine bessere betreiben könne. Dabei lässt sich dieser Flügel der Gewerkschaften wohl allzu sehr von der sozialen Rhetorik der FPÖ verwirren (ihre aktuelle Regierungspolitik zeigt klar das Gegenteil) und führt uns vor Augen, dass der sozialdemokratische Opportunismus offensichtlich nicht mal mehr vor einem Bündnis mit der FPÖ zurückschreckt.

Dabei repräsentiert die FPÖ einen radikalen Bruch mit der österreichischen Nachkriegsordnung. Deren zentrales Element war dabei die institutionalisierte Klassenkollaboration zwischen den Hauptorganisationen der ArbeiterInnenbewegung (SPÖ und Gewerkschaften, anfangs auch der KPÖ) und der österreichischen Bourgeoisie – die Sozialpartnerschaft. Die FPÖ bzw. der VdU waren von Anfang an davon ausgeschlossen. Die Sozialpartnerschaft war für die österreichische Bourgeoisie, die nach dem 2. Weltkrieg zunächst keinen eigenen Staatsapparat besaß und als herrschende Klasse ausgesprochen schwach war, während die ArbeiterInnenbewegung überaus stark war, notwendig, um den Kapitalismus in Österreich zu erhalten und auszubauen. Es war essentiell für die österreichische Bourgeoisie, einen strategischen Kompromiss mit der ArbeiterInnenbewegung zu schließen, deren sozialdemokratische Führung diesen bereitwillig annahm. Dies drückte sich unter anderem in den das Lohn- und Preisniveau regelnden Lohn- und Preisabkommen in den ersten Jahren nach 1945, der verstaatlichten Industrie, der gesetzlichen Kammervertretung oder der proporzmäßigen Vergabe von öffentlichen Ämtern aus.

In der heutigen äußerst unterschiedlichen Situation ist dieser strategische Klassenkompromiss nicht mehr notwendig und die Mehrheit der österreichischen Bourgeoisie wittert ihre Chance, ihn zentraler angreifen zu können als jemals zuvor. Zwar wurde die Sozialpartnerschaft über die Jahrzehnte deutlich geschwächt – insbesondere während Schwarz-Blau 2000–2006 wurden ihr harte Schläge zugefügt – doch noch immer sind wesentliche Mechanismen der Sozialpartnerschaft nicht abgeschafft. Dabei ist die FPÖ wesentliche Partnerin der Kurz-ÖVP. Beide wollen gemeinsam dieses Ziel in Angriff nehmen. Deshalb können wir auch von dieser Koalition durchaus den Versuch erwarten, das Projekt von Schwarz-Blau I und II abzuschließen und mit dem System der Sozialpartnerschaft – und dabei vor allem der immer noch starken Rolle der Gewerkschaften und des Kollektivvertragssystems – Schluss zu machen.

Einen anderen wesentlichen Angriffspunkt wird dabei neben den erwähnten Gewerkschaften und Kollektivverträgen vermutlich auch die sozialdemokratisch geführte Wiener Stadtregierung darstellen. Dabei ist nicht unwahrscheinlich, dass die schwarz-blaue Bundesregierung sie auf mehreren Ebenen angreifen wird. Auf der einen Seite wird vermutlich versucht werden, sie finanziell schlechterzustellen. Auf der anderen Seite wird es vermutlich auch vor den Gemeinderatswahlen 2020 eine gemeinsame Kampagne von FPÖ und ÖVP gegen die rot-grüne Wiener Stadtregierung geben mit dem Ziel, zusammen die rot-grüne Mehrheit in Wien zu brechen.

Die traditionelle Partei der herrschenden Klasse in Österreich ist die ÖVP. Seit mehr als einem Jahrhundert vertritt sie die Interessen des österreichischen Kapitals. Die Verquickung ist eng und über die Jahrzehnte gut gewachsen. In den diversen Regierungen der Ersten und Zweiten Republik (in denen die ÖVP aktuell seit über 30 Jahren durchgehend vertreten ist) war sie die klare Repräsentantin der Mehrheitsfraktion der österreichischen Bourgeoisie mit etwas Einfluss von großbäuerlichen Schichten. Die FPÖ war lange Zeit eine sehr kleine Minderheit sowohl im Parlament als auch in der Bourgeoisie. Nur ein sehr kleiner Teil der österreichischen KapitalistInnenklasse stand hinter der FPÖ. In der Hochphase der sozialpartnerschaftlichen Klassenkollaboration vertrat sie mit ihrem wirtschaftsliberalen Kurs klar eine Minderheitsposition innerhalb des österreichischen Kapitals.

Erst mit ihrem Aufstieg unter Haider und dem zunehmenden Austritt Österreichs aus der sozialpartnerschaftlichen Nachkriegsordnung schaffte es die FPÖ, relevantere Teile der herrschenden Klasse für sich zu gewinnen. Beispielhaft hierfür ist der Papierindustrielle Thomas Prinzhorn, der ab Ende der 1990er Jahre wichtige Ämter in der FPÖ bekleidete. Mit der Regierungsbeteiligung ab 2000 wurde aber auch recht schnell klar, dass die FPÖ noch immer eine klare Minderheitsposition innerhalb der österreichischen Bourgeoisie vertritt. Sie geriet gegenüber der ÖVP und derem Kurs deutlich unter die Räder. Es wurde auch offensichtlich, dass die FPÖ wenige fähige FunktionärInnen stellen konnte – ein weiteres Indiz dafür, dass die herrschende Klasse und ihr intellektueller Anhang nicht in Strömen zur FPÖ abwanderten, sondern der ÖVP treu blieben.

Nach dem Wiederaufbau der Partei unter Strache begann auch das Interesse von Teilen der herrschenden Klasse an der FPÖ wieder mehr zu erstarken. Der EU-kritische Kurs ist klarer Ausdruck der Interessen von etwas kleineren und international weniger wettbewerbsfähigen Teilen des österreichischen Kapitals, die sich hinter der FPÖ versammeln. Die international orientierten Teile des Kapitals (insbesondere die österreichischen Banken) bleiben aufs Engste mit der ÖVP verbunden. Nachdem die österreichische Bourgeoisie unzufrieden wurde mit der Politik der ÖVP in der Regierung und dem „Reformstau“ der Großen Koalition und Kurz noch nicht als neuer Heilsbringer installiert wurde, erfuhr die FPÖ sogar noch größeren Zuspruch, auch befördert durch die sogenannte „Flüchtlingskrise“. Doch recht bald wurde klar, dass sich die Mehrheitsfraktion der österreichischen Bourgeoisie doch sehr zufrieden gibt mit einer FPÖ als Juniorpartnerin in der Regierung anstatt im Kanzleramt selbst. Zu unsicher sind doch ihr EU-Kurs und der interne Einfluss von Deutschnationalen und FaschistInnen.

Zumindest in Oberösterreich hingegen ist die FPÖ teilweise durchaus fähig, eine reale Konkurrenz für die ÖVP als Hauptpartei der herrschenden Klasse darzustellen. Nicht zufällig kommen von dort zumeist die neoliberalen Forderungen und der unternehmensfreundliche Kurs. Beispielhaft hierfür ist der Geschäftsführer der Industriellenvereinigung (IV) Oberösterreichs, Joachim Haindl-Grutsch, der in FPÖ-Publikationen zu Wort kommt und eine gute Beziehung zum FPOÖ-Chef Haimbuchner unterhält. Die IV in Oberösterreich ist laut „Presse“ sogar „schon komplett [in Richtung FPÖ] gekippt“. Ob sich diese Wende der oberösterreichischen Bourgeoisie in der Zeit von Kurz weiter fortsetzt, der so deutlich wie selten in den letzten Jahren die österreichische Bourgeoisie vereinigen konnte, ist aber fraglich.

Trotz der Tatsache, dass Kurz die wichtigsten Teile der österreichischen KapitalistInnenklasse hinter sich und seinem Projekt der schwarz-blauen Koalition versammeln kann, ist die FPÖ nicht einfach nur ein Werkzeug der österreichischen herrschenden Klasse, sondern die Partei einer (deutlichen) Minderheit der österreichischen Bourgeoisie. Sie vertritt vor allem die international weniger wettbewerbsfähigen und national orientierten Teile des Kapitals und tendenziell mehr Industrie- als Bankkapital. Diese Tatsache scheint heute sogar noch etwas ausgeprägter als in der Ära Haider, weshalb ein ganz so schnelles Einbrechen der FPÖ durch ihre Regierungsbeteiligung (auch wenn es ihre Popularität vermutlich nicht steigern wird) wie nach 2000 wohl eher weniger vorstellbar ist. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die FPÖ sich schon eine gewisse KernwählerInnenschaft (zu nicht unwesentlichen Teilen auch im konservativeren ländlichen Bereich) aufgebaut hat.

Was ist die FPÖ und wie kann man sie bekämpfen?

Wenn man sich die Positionen der meisten bürgerlichen Institutionen ansieht, die sich mit der FPÖ kritisch auseinandersetzen (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, Stoppt die Rechten, …), sind sich diese einig, sie als rechtsextrem zu bezeichnen. Dabei beziehen sie sich in erster Linie auf die Rechtsextremismus-Definition von Willibald Holzer. Diese fußt auf fünf Grundelementen der rechtsextremen Ideologie: Antiindividualismus und Antiliberalismus, Antipluralismus und Ausgrenzung von Minderheiten und Fremden, Volk und Volksgemeinschaft, dem autoritären Führerstaat sowie Ethnopluralismus.

Auch die Sozialistische Jugend (SJ) hat eine sehr ähnliche Definition. Sie bezeichnet die FPÖ als „zentrales Netzwerk des österreichischen Rechtsextremismus“ und orientiert sich ebenfalls in ihrer Rechtsextremismus-Definition an der von Willibald Holzer. Ähnlich wie dessen Definition trägt die der SJ den Charakter einer Checkliste. Hier wird nicht versucht, das Bestimmende der gesellschaftlichen Erscheinung herauszuarbeiten, sondern stattdessen einige geeignete Merkmale zu finden, mithilfe derer die eine politische Form von der anderen abgegrenzt werden kann. Dass unter die Kategorie „rechtsextrem“ sowohl faschistische als auch rechtskonservative Parteien fallen, zeigt, wie unbefriedigend und ungenau dieser Zugang ist. Vor allem geht durch diese Methode aber eine Erklärung aus dem realen gesellschaftlichen Zusammenhang verloren. In der bürgerlichen Ideologie ist das nicht verwunderlich. Immerhin spart sie den Blick auf die Verhältnisse zwischen den Klassen aus, mittels dessen MarxistInnen die gesellschaftlichen Erscheinungen erklären. Dementsprechend sucht sie die Bestimmungsmerkmale selbst wieder auf der (die realen gesellschaftlichen Verhältnisse verschleiernden) ideologischen Ebene. Hier findet man dann in der Regel auch die vermeintliche Lösung des Problems in aufklärerischer Ideologie, so als ob die zerstörerischen Dynamiken des Kapitalismus, ohne die beispielsweise der Nationalsozialismus nie hätte groß werden können, damit beseitigt würden. Die SJ hingegen stellt einen marxistischen Eigenanspruch. Ihre Methode in der Charakterisierung von Parteien zeigt uns an dieser Stelle nur noch einmal, dass sie diesen Anspruch nicht sonderlich ernst nimmt.

Vom rechten Flügel der Sozialdemokratie ist man hingegen eher eine Verharmlosung der FPÖ gewohnt. Mit dem Argument, dass man eine gewählte Partei nicht ausschließen dürfe und man ohnehin angesichts der eigenen stetigen Rechtsentwicklung nun viele Schnittmengen mit der FPÖ aufweise, wurde z. B. im Burgenland eine Koalition mit der FPÖ auf Landesebene eingegangen. Große Teile der Sozialdemokratie strebten dann auch eine mögliche Koalition mit der FPÖ nach den Nationalratswahlen 2017 an. Ihre Wahlniederlage aber rettete sie vor den großen innerparteilichen Zerwürfnissen in Anbetracht dieser Entscheidung. Auch von gewissen Teilen der Zivilgesellschaft oder manchen Grünen hört man immer wieder das Argument, dass, wenn die FPÖ nur an der Regierung wäre, sie in den Augen der Menschen quasi von alleine abwirtschaften würde. Das ist aber aus weiter oben genannten Gründen, vor allem aber auch dem globalen und insbesondere europäischen Rechtsruck geschuldet, eher unwahrscheinlich und man lädt damit den offenen Rassismus zur Tafel ein.

Oft genug werden führende FPÖ-PolitikerInnen als FaschistInnen oder Nazis bezeichnet – weniger aus wissenschaftlicher Überzeugung, sondern mehr aus emotionaler Empörung. Es ist zwar korrekt, dass manche FPÖ-PolitikerInnen durchaus als FaschistInnen zu bezeichnen sind. Außerdem bestehen sehr gute Verbindungen zu verschiedenen faschistischen und neonazistischen Gruppierungen und Einzelpersonen. Gerade die Burschenschaften dienen hierzu als wichtiges Bindeglied. Aber daraus den faschistischen Charakter der FPÖ selbst abzuleiten, ist noch einmal etwas anderes.

Die einzige linke Organisation, die die FPÖ ernsthaft als faschistisch bezeichnet, ist die Linkswende. Dabei stützt sie sich vor allem auf die Geschichte und die Verbindungen der FPÖ zu diversen faschistischen Gruppen und deren Gedankengut sowie ihre Vergangenheit als Sammelbecken für ehemalige Neonazis nach dem Zweiten Weltkrieg:

„Wir nennen die FPÖ faschistisch, weil das eine politische Notwendigkeit in einer politischen Auseinandersetzung zwischen uns und der FPÖ ist. Es greift politisch zu kurz, sie nur rechtsextrem oder rechtspopulistisch zu nennen.“ (2)

Modernen faschistischen Parteien werden von Seiten der Linkswende einige wichtige Charakteristika zugeschrieben, aber: „Das hervorragende Merkmal von Faschismus – im Unterschied zu traditionellen diktatorischen Bewegungen – ist seine Fähigkeit, als Freund der Massen aufzutreten, während er gleichzeitig eine Politik verfolgt, die den Interessen der „kleinen Leute“ entgegengesetzt ist.“ (3) Das ist schlichtweg falsch. Ob eine diktatorische Bewegung als Freundin der Massen auftreten kann oder nicht, mag Einfluss auf ihren Erfolg haben, ist aber nicht das ausschlaggebende Merkmal des Faschismus. Weiters meint Linkswende: „Die Klassenbasis von Faschismus ist ebenfalls entscheidend. Sie versuchen, Verzweiflung und den Zorn der kleinbürgerlichen Klasse zu kanalisieren und den von Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich nicht innerhalb der Gewerkschaftsbewegung organisieren können.“ (4)

Hier wird klar, dass die Linkswende durchaus versucht, Anleihen bei der trotzkistischen Faschismusanalyse zu nehmen, aber doch eigentlich nichts davon verstanden hat. „Der Faschismus ist ein spezifisches Mittel, das Kleinbürgertum im sozialen Interesse des Finanzkapitals zu mobilisieren und zu organisieren.“ (5)

Lassen wir also Trotzki genauer zu Wort kommen, um den Charakter des Faschismus vom Standpunkt des Marxismus aus genau zu bestimmen: „Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die >>normalen<< militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Gleichgewichtserhaltung der Gesellschaft nicht mehr ausreichen. Durch die faschistische Agentur setzt das Kapital die Massen des verdummten Kleinbürgertums in Bewegung, die Banden deklassierter, demoralisierter Lumpenproletarier und all die zahllosen Menschenexistenzen, die das gleiche Finanzkapital in Verzweiflung und Elend gestürzt hat. […] Die Faschisierung des Staats bedeutet […] vor allem und hauptsächlich die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen, Zurückwerfung des Proletariats in amorphen Zustand, Schaffung eines Systems tief in die Massen dringender Organe, die eine selbständige Kristallisation des Proletariats unterbinden sollen. Darin besteht das Wesen des faschistischen Regimes.“ (6)

Für Trotzki ist das hervorragende Merkmal des Faschismus also die Zerschlagung der organisierten ArbeiterInnenbewegung durch die Mobilisierung des KleinbürgerInnentums sowie deklassierter und reaktionärer Bevölkerungsschichten. Das wird in einer zugespitzten Klassenkonfrontation zur Notwendigkeit, wenn die Stärke der ArbeiterInnenbewegung die herrschende Klasse an der Durchsetzung ihrer Klasseninteressen hindern kann, diese Herrschaft aber gleichzeitig nicht zu beseitigen wagt.

Mittlerweile dürfte der Linkswende allerdings aufgefallen sein, dass ihre eigene Definition des Faschismus auf die FPÖ gar nicht anwendbar ist, handelt es sich bei der FPÖ ja gar nicht um eine „diktatorische Bewegung“. Somit sah sie sich wohl gezwungen, ihre Position zu modifizieren und die FPÖ nun als „im Kern faschistische Partei“ zu charakterisieren, wenngleich ihr theoretischer „Fortschritt“ keinen Unterschied in ihrer Agitation gegen die FPÖ macht. Werfen wir also einen Blick auf die neue Argumentation:

„Die gängigen Definitionen, was Faschismus ausmacht, greifen in ‚Friedenszeiten‘ einfach nicht, da die bestimmenden Eigenschaften erst in Zeiten tiefer sozialer und politischer Krisen zutage drängen. Alle ernsthaften Faschismus-Definitionen beschreiben ein Phänomen, das sich in Zeiten einer scheinbar ausweglosen und sehr tiefen wirtschaftlichen Krise entwickelt hat. […] Wir haben viele gute Gründe kennengelernt, die FPÖ eine im Kern faschistische Partei zu nennen. Die deutschnationalen Burschenschaften, die sich von den ideologischen Denkmustern des Nationalsozialismus nie wirklich gelöst haben, bilden den Kern der Partei […].“ (7)

Die FPÖ ist demnach faschistisch, nicht weil sie der marxistischen Auffassung von Faschismus entspricht, sondern weil sich die deutschnationalen Burschenschaften nie wirklich von den „ideologischen Denkmustern“ (!) des Nationalsozialismus gelöst haben. Offenbar sind aber nicht einmal die Burschenschaften nationalsozialistisch, faschistisch.

Die FPÖ hat in der Tat gerade über die Burschenschaften Verbindungen zu rechtsradikalen und faschistischen Kräften, z. B. zu den (proto-)faschistischen Identitären, und solche Strömungen existieren sogar in der Partei selbst. Aber die FPÖ organisiert keine/n ihrer 1,3 Millionen WählerInnen in diese Richtung und nicht einmal ihre Mitgliedschaft. Die FPÖ ist noch dazu eine sehr elitäre Partei, die (im Vergleich zu den beiden anderen Großparteien) mit 60.000 Mitgliedern sehr klein ist und keine relevanten Basisorganisationen hat. Darüber hinaus greift sie abseits von Wahlkampfveranstaltungen fast nie zur Mobilisierung des KleinbürgerInnentums, der reaktionären Mittelschichten usw. und wenn, dann nicht gegen die organisierte ArbeiterInnenbewegung. Vielmehr versucht sich die FPÖ im Rahmen der bürgerlichen Demokratie zu bewegen und ihr einen autoritäreren Charakter zu geben, ähnlich wie die rechten Regierungen in Ungarn und Polen.

Einher mit der Analyse der Linkswende geht auch die Forderung, dass die anderen „antifaschistischen“ Parteien die FPÖ aus dem „normalen“ bürgerlichen Politikbetrieb ausschließen sollten (bspw. Boykott ihrer Reden in Landtagen und Nationalrat, Verweigerung der öffentlichen Diskussion mit der FPÖ, internationale diplomatische Ächtung der schwarz-blauen Regierung etc.):

„Sie [die FPÖ] darf bei Wahlen teilnehmen und Abgeordnete im Parlament und den anderen demokratischen Körperschaften stellen. Wir finden: das darf nicht so sein. Sie sollte weder eine legale Partei bilden dürfen noch als legitimer Gesprächs- oder Regierungspartner behandelt werden. […] Es ist zentral, die FPÖ nicht als eine demokratische Kraft zu akzeptieren, denn sie spuckt auf die Demokratie. Wir wollen, dass Strache nicht im Fernsehen auftreten kann und dort als ernstzunehmender Gesprächspartner in Diskussionsrunden behandelt wird. Es wäre phantastisch, wenn im Parlament und in den Landtagen jedes Mal, wenn ein FPÖ-Politiker ans Rednerpult geht, alle sozialdemokratischen und anderen antifaschistischen Abgeordneten den Raum verlassen würden. Noch besser wäre es, wenn der FPÖ der Fraktionsstatus entzögen würde.“ (8)

Die Linkswende appelliert also an bürgerlich-demokratische Kräfte, doch ihre Mauschelei mit der FPÖ zu beenden. Das ist nicht nur utopisch, sondern bestärkt auch Illusionen in diese, die in entscheidenden Momenten der Geschichte immer den Faschismus den demokratischen Rechten der ArbeiterInnenklasse vorgezogen haben, zumal die wenigsten bürgerlichen Parteien die FPÖ als faschistisch charakterisieren. Dennoch, mit dieser (teilweisen) Übertragung des vermeintlichen „Antifaschismus“ von der ArbeiterInnenklasse auf die Bourgeoisie wird zeitgleich eine unabhängige proletarische Politik untergraben. Im schlimmsten Fall wird sogar im Namen des Antifaschismus der bürgerliche Repressionsapparat gestärkt, der im nächsten Augenblick danach strebt, der ArbeiterInnenklasse das Genick zu brechen.

Bei der Linkswende sehen wir eine typische Kombination aus Sektierertum und Opportunismus. Sie negiert den besonderen, terroristischen Massencharakter der faschistischen Bürgerkriegspartei und zieht nebensächliche Details zur Bekräftigung ihres Urteils heran. So „radikal“, wie die KPD vor 1933 die SPD zum „Zwilling des Faschismus“ umtaufte, so „ultralinks“ zeichnet die Linkswende die faschistische Gefahr in Österreich heute: mit der FPÖ sitzt eine faschistische Partei an der Regierung! Wie so oft ist auch hier der Opportunismus die Kehrseite der „radikalen“ Medaille! War es bei der Komintern ab 1935 die Volksfrontpolitik, so das Möchtegernbündnis der Linkswende mit den Parteien der bürgerlichen Demokratie gegen die „faschistische“ FPÖ heute, das auch deren Koalitionspartnerin ÖVP umfassen soll.

Wir möchten die Gefahr der FPÖ keineswegs herunterspielen. Wir möchten aber auch nicht den Faschismus verharmlosen, der ein qualitativ anderes Phänomen darstellt. Es ist daher wichtig, die gegenwärtigen Gefahren richtig einzuschätzen, auch um klarer zu bestimmen, was sich zukünftig noch entwickeln kann. Was ist also die FPÖ für eine Partei? Wie soll man sie genau charakterisieren?

Wir haben schon an einer anderen Stelle und in der gleichnamigen Broschüre (9) argumentiert, dass die FPÖ eine bürgerliche Partei ist, weil sie die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse verteidigt. Diese allgemeine Charakterisierung ist aber keineswegs ausreichend, trifft sie doch auch auf die SPÖ zu (genau genommen bezeichnen wir letztere, wie schon weiter oben angeführt, als bürgerliche ArbeiterInnenpartei). Dennoch sind diese beiden Parteien sehr unterschiedlich. Wir haben gezeigt, dass sich die FPÖ in den letzten Jahrzehnten im bürgerlich-parlamentarischen Rahmen bewegt hat und aktuell nicht die Zerschlagung der organisierten ArbeiterInnenbewegung und keine kleinbürgerliche Massenbewegung zum Ziel hat, demnach auch keine (bürgerliche) faschistische Partei ist. Auch haben wir argumentiert, dass sich der Begriff „rechtsextrem“ allein nicht für eine marxistische Charakterisierung eignet. Was macht die FPÖ also besonders aus gegenüber anderen bürgerlich-demokratischen Parteien wie ÖVP oder NEOS?

Die FPÖ repräsentiert eine schwächere und national ausgerichtete Fraktion des österreichischen Kapitals, tendenziell weniger das Bank- als das Industriekapital. Sie ist nicht die Hauptpartei der österreichischen Bourgeoisie, aber vertritt eine relevante Minderheit. Sie ist rassistisch, frauenfeindlich, homo- und transphob und noch vieles mehr. Der Rassismus ist ein zentrales Element ihrer sozialen Demagogie, mit der sie auch in breite Schichten der ArbeiterInnenklasse einbrechen kann. In ihr und in ihrem Umfeld, gerade in den unzähligen deutschnationalen Burschenschaften und Verbindungen, tummeln sich diverse faschistische Personen und Gruppen oder solche mit faschistischen Überzeugungen, teilweise bis in die oberen Führungsriegen. Die FPÖ repräsentiert einen Bruch mit der österreichischen Nachkriegsordnung. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren bürgerlichen Kräfte wegen ihrer Schwäche gezwungen, sich auf einen historischen Kompromiss mit der Sozialdemokratie zu einigen, und diese stellte sich bereitwillig als Verwalterin des Kapitalismus zur Verfügung. Die Sozialpartnerschaft als institutionalisierte Klassenzusammenarbeit ist Sinnbild dieses Kompromisses. Die FPÖ stellt die klarste Alternative zu diesem System dar und das macht sie gerade für relevante Teile des Kapitals attraktiv. Im gegenwärtigen Stadium dient sie deshalb der politischen Hauptfraktion der Bourgeoisie als Stütze zur uneingeschränkten Umsetzung ihrer politischen Agenda.

Die FPÖ ist keineswegs eine gewöhnliche oder gar „harmlose“ bürgerliche Partei. Gerade ihr nationalistischer und rassistischer Einfluss auf relevante Teile der österreichischen ArbeiterInnenklasse machen sie zu einem ernsthaften Hindernis für die Herausbildung eines proletarischen Klassenbewusstseins und sogar zu einer bedeutenden Gefahr für die österreichische ArbeiterInnenbewegung selbst. Diese Gefahr wird noch einmal durch die Verbindungen in die radikale und faschistische Rechte hinein, insbesondere über die einflussreichen Burschenschaften, verschärft und kann sich gegenüber sozial unterdrückten Gruppen (z. B. Geflüchteten, Homosexuellen etc.) und Linken sogar physisch äußern. Noch dazu sind diese Verbindungen keineswegs Randerscheinungen, sondern ziehen sich bis in die oberen Parteikreise und werden bis zu einem gewissen Grad bewusst toleriert.

Wir gehen hingegen nicht davon aus, dass sich die FPÖ ohne turbulente gesellschaftliche Entwicklungen und parteiinterne Konflikte zu einer faschistischen Partei entwickeln kann. An der Regierungsmacht angekommen, kann sie sich nicht einfach die Maske vom Gesicht reißen und ihre bis dahin geheime, „wahre“ faschistische Gesinnung offenbaren, wie das von manchen Linken befürchtet wird. Wie Strache und Co. tatsächlich über den Nationalsozialismus denken, ist zwar nicht irrelevant, bestimmt aber keineswegs, was die FPÖ für eine Partei ist. Wir halten es aber für möglich und betonen die Gefahr, dass sich die FPÖ unter den Bedingungen einer scharfen gesellschaftlichen Krise mit einer Reihe von Umbrüchen und Umstrukturierungen zu einer starken faschistischen Partei entwickeln kann. Außerdem wird sich eine faschistische Kraft mit Masseneinfluss in Österreich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus oder in Überschneidung mit der FPÖ herausbilden.

Unabhängig davon ist in der FPÖ eine Tendenz zum Bonapartismus angelegt. Damit meinen wir konkret einen Hang zu einer autoritären, wenn auch formell „demokratischen“ Herrschaft (z. B. über von oben angesetzte Volksabstimmungen bei gleichzeitig starker Überwachung und Repression, eingeschränkte Versammlungsrechte, Ausweitung staatlicher Überwachung usw.), die im Namen der Nation die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit oder aber auch zwischen Faschismus und Demokratie zu konservieren sucht. Dabei hat die FPÖ keineswegs das Monopol auf den proto-bonapartistischen Umbau der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie gepachtet, wenn man sich Kurz’ Maßnahmen zur autoritären Umgestaltung seiner eigenen konservativen Partei anschaut.

Fassen wir unsere Analyse also in einer Charakterisierung zusammen: Die FPÖ ist eine rechtsnationalistische und rechtspopulistische bürgerliche Partei im Rahmen der bürgerlichen Demokratie mit ausgeprägten Verbindungen bis ins rechtsradikale und faschistische Spektrum hinein, die ihre soziale Basis im KleinbürgerInnentum und im national beschränkten, rückständigen Kapital hat und sich mittels rassistischer Demagogie der Unterstützung rückschrittlicher Teile der ArbeiterInnenklasse bedient.

Wie kann die FPÖ geschlagen werden?

Zuallererst muss der Kampf gegen die FPÖ selbst als Teil des allgemeinen Klassenkampfs verstanden werden. Ihr Aufstieg ist Ausdruck eines verschobenen politischen Verhältnisses zwischen den Klassen auf dem Boden der II. Republik. Der Kampf gegen die FPÖ ist aber mehr als einfach nur das: Er ist ein integraler Bestandteil im Kampf für die Einheit der ArbeiterInnenklasse gegen Sozialabbau, Faschismus und für die Verteidigung gewerkschaftlicher Organisierung sowie den Schutz demokratischer Rechte.

Oftmals wird betont, dass man den Rassismus nur bekämpfen könne, wenn man die soziale Frage aufgreife, d. h. einen Kampf für soziale Verbesserungen führt. Das ist zweifelsfrei richtig. Allerdings ist auch das Umgekehrte wahr, denn der Kampf für soziale Verbesserungen kann nur ernsthaft geführt werden, wenn die ArbeiterInnenklasse als Klasse im eigentlichen Sinn in Aktion tritt und ihre rassistische Spaltung dafür überwindet. Antirassismus und die soziale Frage sind eng miteinander verknüpft und wird der Kampf auf diesen Feldern nicht als allgemeiner Klassenkampf geführt, sondern werden diese voneinander getrennt, dann führt er unweigerlich in eine Sackgasse.

Eine Frage im Kampf gegen die FPÖ ist die der physischen Konfrontation. Die österreichische Linke hat eine lange Tradition, gegen Wahlkampfveranstaltungen der FPÖ oder gegen rassistische Demonstrationen mit FPÖ-Beteiligung aufzutreten. Wir befürworten es, die FPÖ politisch zu konfrontieren, wo sie auf die Straße mobilisiert. Zum einen geht es darum, gegen rassistische Hetze aufzutreten, dafür zu sorgen, dass diese nicht unwidersprochen und unkonfrontiert verbreitet werden kann. Zum anderen geht es um den Schutz von MigrantInnen und Linken gegen übergriffige RassistInnen und faschistische Banden, die sich gerne im Umfeld von FPÖ-Veranstaltungen herumtreiben. Im erweiterten Sinn geht es auch darum, eine entstehende faschistische Bewegung in Verbindung mit der FPÖ im Keim zu ersticken. Bei der FPÖ handelt es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht um eine faschistische Partei, weshalb der Kampf gegen sie auch keiner ist, der insbesondere auf der Straße geführt wird. Das gilt umso mehr, als sie nun Teil der Regierung ist und vor allem ihre Politik über den Staat auszuüben versucht.

Die Aufgaben des Kampfes gegen die FPÖ haben sich, seit sie an der Regierung ist, verschoben. Sie ist jetzt nicht mehr eine Gefahr aus der Opposition, die die große Koalition nach rechts treibt, sondern sie ist an den Schalthebeln der Macht angekommen. Die unmittelbaren und größten Gefahren, die derzeit von ihr ausgehen, sind die Angriffe, die sie in Form der Regierungspolitik verübt. Gemeinsam mit der Kurz-ÖVP will sie der österreichischen ArbeiterInnenklasse wesentliche Errungenschaften wegnehmen. Der Kampf gegen die FPÖ ist deshalb aktuell vor allem ein Kampf gegen die Regierung und ihre Politik des Rassismus und Sozialabbaus. Dabei sollten MarxistInnen in der Regierung aus FPÖ und ÖVP zuallererst einen gemeinsamen reaktionären Block sehen. Die ÖVP (die sich unter Kurz selbst politisch stark an die FPÖ angenähert hat) ist in dieser Konstellation nicht weniger schlimm als die FPÖ und Appelle an die ÖVP, doch die Koalition mit der FPÖ wegen deren Nazi-Verbindungen zu brechen, sind nichts anderes als bürgerlich-liberale Floskeln. Diese führen nicht nur in eine Sackgasse, sondern unterstellen der Kurz-ÖVP auch, dass sie als Verbündete gegen den Rechts-Populismus fungieren könne und gegenüber der FPÖ ein kleineres bürgerliches Übel darstellen würde. Die ÖVP weiß genau, mit welch einer Partei sie sich in der Regierung befindet, und hat nicht nur keinerlei Problem damit – sie ging diese Zusammenarbeit gezielt für ihre eigenen Zwecke ein! In der Regierung stehen sie zusammen gegen die ArbeiterInnenbewegung Österreichs und sind als gemeinsamer Feind zu behandeln. Die neue schwarz-blaue Regierung spiegelt eine veränderte politische Ausrichtung der herrschenden Klasse in Österreich wider und kann daher nur durch den Klassenkampf der ArbeiterInnen gestoppt werden. Das Schielen auf fruchtlose parlamentarische Manöver mit der ÖVP und Appelle, die FPÖ „auszugrenzen“, desorientieren nur. Eine solche Politik stellt eine fruchtlose und gefährliche Parodie auf die Sozialpartnerschaft dar. Nur allzu leicht kann der Appell an die ÖVP (und andere offen bürgerliche Parteien), gemeinsam mit allen „DemokratInnen“ die FPÖ zu „ächten“, zum Vorspiel für eine Neuauflage einer Koalition aus ÖVP und SPÖ, eine „Regierung aller DemokratInnen gegen die Rechten“, werden.

In Wirklichkeit ist der Bruch mit der jahrzehntelangen Koalitionspolitik der SPÖ mit offen bürgerlichen Parteien – zumeist in Form einer „Großen Koalition“, teilweise aber auch mit der FPÖ – und der Sozialpartnerschaft eine Schlüsselfrage, um die politische und ideelle Grundlage für einen erfolgreichen Widerstand gegen die Regierung zu legen.

In der ArbeiterInnenbewegung hat der schon seit Jahrzehnten andauernde Reformismus der Sozialdemokratie der FPÖ Tür und Tor geöffnet. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften vertraten immer eine gewisse Form des Chauvinismus und Rassismus gegenüber nicht-österreichischen ArbeiterInnen sowie einen ausgeprägten Österreich-Nationalismus (nicht zuletzt mit dem Opfermythos Österreichs im Zweiten Weltkrieg). Konkret bedeutete das z. B., dass im Gegensatz zu Deutschland MigrantInnen nicht von Anfang an zu Betriebsrats- und Gewerkschaftswahlen zugelassen waren. Das war die eine Seite der Medaille, die den Boden für die FPÖ bereitete.

Die andere wesentliche Seite stellt die Politik der SPÖ an der Regierung dar. Sie vertritt klar die Interessen der KapitalistInnen und verrät ihre eigene Basis in den Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse. Die durch diese Politik Enttäuschten sind – vor allem auch mangels einer linken Alternative – in einer Situation von Frustration und Perspektivlosigkeit besonders empfänglich für die soziale Demagogie der FPÖ. Der Kampf gegen den Rechtspopulismus muss daher auch mit einem politischen Kampf gegen den Einfluss des Reformismus und Sozialchauvinismus unter den Lohnabhängigen einhergehen. Das bedeutet eine klare Absage an die Sozialpartnerschaft und den Kampf für eine klassenkämpferische Gewerkschaftsbewegung.

Es sollte aber nicht der Fehler begangen werden, den Kampf gegen die FPÖ nur als einen für ökonomische und soziale Verbesserungen zu verstehen. Vielmehr muss ein solcher verbunden werden mit einem gegen Rassismus innerhalb der ArbeiterInnenklasse und auch der ArbeiterInnenbewegung, in die er mittlerweile tief vorgedrungen ist, und für Einheit und Solidarität der Klasse – egal ob mit oder ohne österreichischen Pass!

Der Schlüssel zur Bekämpfung der FPÖ liegt also im gemeinsamen Kampf der Lohnabhängigen selbst. Doch dem stehen enorme Hindernisse in der ArbeiterInnenklasse selbst entgegen. Die „radikale Linke“ ist extrem schwach, zersplittert und politisch konfus. All das erleichtert es der SPÖ, trotz ihres Niedergangs eine hegemoniale Stellung in der ArbeiterInnenklasse, vor allem unter den gewerkschaftlich Organisierten, unter den Betriebsräten oder bei den Wahlen zur Arbeiterkammer zu behaupten. Ein gemeinsamer Kampf mit einer Massenbasis – ganz zu schweigen von einem politischen Massenstreik – ist daher nur durch eine Einheitsfront aller fortschrittlichen Organisationen und aller Teile der organisierten ArbeiterInnenbewegung, also auch der Sozialdemokratie und der von ihr geführten Gewerkschaften, möglich.

Die nächste Aufgabe dabei besteht in der Herstellung einer ArbeiterInneneinheitsfront gegen die geplanten und bereits durchgeführten Attacken der schwarz-blauen Regierung. Gegenmobilisierung auf der Straße gegen FPÖ-Veranstaltungen sind zwar ein Bestandteil des Kampfes gegen die Rechten, doch letztlich tragen sie nur einen symbolischen Charakter. Wichtig ist auch die Auseinandersetzung mit den FPÖ-WählerInnen in Betrieb und Gewerkschaft. Das umfasst sowohl eine klare Haltung gegen Chauvinismus und Rassismus wie auch das Eintreten für soziale Forderungen, die die Einheit aller Lohnabhängigen herstellen können – einschließlich MigrantInnen und Lohnabhängigen, die die FPÖ aus „Protest“ gewählt haben!

Unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen bedeutet das aber vor allem, dass die sozialdemokratischen ArbeiterInnen für den Kampf gegen Schwarz-Blau gewonnen werden müssen. Die „radikale Linke“ in Österreich umfasst selbst bei Hinzuzählen der KPÖ nur wenige tausend Menschen. Diese Kraft wird nicht einmal dazu reichen, der Regierung größeren symbolischen Protest entgegenzusetzen. Es ist daher unverzichtbar, an die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie – ihre Mitglieder, WählerInnen wie auch ihre Führung – die Forderung nach einem Bruch mit der Koalitionspolitik und zur Mobilisierung gegen die Regierung zu stellen. Ansonsten sind allenfalls große Straßendemonstrationen möglich. Darüber hinausgehende betriebliche Massenaktionen und politische Streiks sind ohne Gewerkschaften (und das heißt konkret: ohne sozialdemokratische GewerkschafterInnen) praktisch unmöglich. Das heißt, ohne die Gewinnung diese Kräfte kann Schwarz-Blau nicht gestoppt werden. Zweifellos will die Führung des ÖGB und der SPÖ selbst die Konfrontation mit der Regierung vermeiden und ist selbst zwischen ihrem rechten Flügel, der teilweise sogar weiter mit der FPÖ liebäugelt, und verhaltenem Reformismus gespalten. Aber selbst einzelne Stimmen aus der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie, zur Zeit aus der Postgewerkschaft, machen deutlich, dass es auch Teilen der ArbeiterInnenklasse zu Bewusstsein kommt, dass es politischer Streiks bedarf und eines Bruchs mit der jahrzehntlangen „Partnerschaft“ mit Kabinett und Kapital – oder diese Regierung wird der ArbeiterInnenklasse ihr Programm aufzwingen.

Daher sollte die Propagierung der Einheitsfront auch mit praktischen Schritten zur Bildung von Aktionsbündnissen auf lokaler, regionaler oder betrieblicher Ebene verbunden werden. So kann die Losung auch für die Masse praktisch greifbarer und der Druck auf jene SozialdemokratInnen und GewerkschaftsführerInnen, die sich der gemeinsamen Aktion verweigern oder diese sogar sabotieren, erhöht werden.

Ohne ein korrektes Verständnis der Einheitsfronttaktik ist ein erfolgreicher Kampf gegen die Regierung in nächster Zukunft unmöglich. Ohne ein solches wird aber auch die Bildung einer politischen Alternative zur Sozialdemokratie nur ein frommer Wunsch bleiben. Eine revolutionäre Partei kann nur auf Grundlage eines korrekten Verständnisses von Reformismus, seiner sozialen Wurzeln und der Taktiken aufgebaut werden, die notwendig sind, um die ArbeiterInnen für eine kommunistische Politik zu gewinnen. Nur so wird es möglich sein, das Zirkeldasein der „radikalen Linken“ zu überwinden und die Grundlagen für eine schlagkräftige, auf einem revolutionären Programm vereinigte revolutionäre Partei zu legen, die zur Überwindung der Spaltung der Lohnabhängigen letztlich unverzichtbar ist. Nur eine ernsthafte Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse wird mit der Beseitigung der kapitalistischen Widersprüche ihren reaktionären politischen Ausdrücken, wie die FPÖ einer ist, ein Ende bereiten.

Endnoten

(1) Bonvalot, Michael: Die FPÖ – Partei der Reichen. Mandelbaum Verlag, Wien-Berlin 2017.

(s) Linkswende: Warum wir die FPÖ faschistisch nennen. Broschüre, 2012.

(3) ebenda

(4) ebenda

(5) Trotzki, Leo: Bonapartismus und Faschismus (15.7.1934), in: Dahmer, Helmut (Hrsg.): Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD), 2 Bände. Frankfurt am Main 1971, Band 1, S. 681.

(6) ders: Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats (27.1.1932), SüD, Band 1, a. a. O., S. 194.

(7) Linkswende: Das Braunbuch FPÖ. Broschüre, 2016.

(8) Linkswende: Warum wir die FPÖ faschistisch nennen, a. a. O.

(9) Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt: Die Freiheitliche Partei Österreichs – Eine marxistische Betrachtung. Broschüre, Wien 2018. http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?page_id=3299




Die AfD zwischen neoliberalem Nationalismus und radikaler Rechten

Wilhelm Schulz, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Der Aufstieg der AfD stellt wohl den sichtbarsten und auch erschreckendsten Ausdruck des Rechtsrucks in Deutschland dar, Ausdruck einer politischen Krise und Polarisierung im Land.

Obwohl erst vor fünf Jahren gegründet, hat sie sich zumindest für die nächste Zukunft als fixer Bestandteil des politischen Parteienspektrums etabliert. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg konnte sich eine rechtspopulistische Partei mit Verbindungen und Überlappungen ins faschistische Spektrum bundesweit konsolidieren. Vor dem Hintergrund der Politik der Großen Koalition und der Passivität der Gewerkschaften scheint ein weiteres Anwachsen der AfD unvermeidlich.

Im folgenden Artikel werden wir uns mit der Geschichte, den Ursachen des Aufstiegs der AfD, ihrem politischen Charakter beschäftigen und, davon abgeleitet, auch der Frage widmen, wie sie niedergerungen werden kann, welche Politik und welche Strategie dazu notwendig sind.

Entwicklung der AfD

Auch wenn die AfD erst wenige Jahre alt ist, so verlief ihre bisherige Entwicklung überaus turbulent. Keine andere im Parlament vertretene Partei hat in diesem Zeitraum so oft ihre Spitze gewechselt, interne Flügelkämpfe offen ausgetragen, Spaltungen erlebt. Und dabei ist dieser Prozess noch längst nicht ausgestanden.

Trotzdem hat sich die AfD als jene Partei etablieren können, die heute für sich reklamiert, den „Protest“, die „Wut“, die „Vernachlässigung der BürgerInnen durch die Politik“ wie keine andere zu artikulieren.

Dabei wurde die „Alternative für Deutschland“ im Frühjahr 2013 keineswegs als „Anti-Establishmentpartei“, sondern als „radikale“, national und neoliberal orientierte Partei von ProfossorInnen und WirtschaftsführerInnen gegründet. Für ihren damaligen Ziehvater Bernd Lucke war dies jedoch nicht der erste Anlauf zum Aufbau einer neoliberalen Formation rechts von der Union. Gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit trat er erstmals 2005 mit dem sogenannten „Hamburger Appell“ in Erscheinung, der von mehreren hundert WirtschaftswissenschaftlerInnen unterstützt wurde. Gemeinsam forderten sie eine Verschärfung der Agenda 2010. Durch massive Kürzungen für Arbeitslose und Streichung von Urlaubsansprüchen für GeringverdienerInnen sollte die „Leistungsbereitschaft“ für den Standort Deutschland weiter angekurbelt werden. Fortgesetzt wurde dies durch das „Plenum der Ökonomen“ im Jahre 2010. Aus diesem Kreis ging teilweise die „Wahlalternative 2013“ hervor. Dieser Name wurde bewusst in Abgrenzung zu Angela Merkels Aussage gewählt, dass die Euro-Rettungspolitik „alternativlos“ sei. Aus dieser Frühphase rührt die Kennzeichnung her, dass es sich bei der AfD um eine neoliberale ProfessorInnenpartei handle – eine Einschätzung, die durch die spätere Entwicklung offenkundig überholt wurde und heute sogar etwas seltsam anmutet.

Die Krise der EU und die Schuldenfrage sollten dieser Initiative zu einer Dynamik verhelfen. Das Wirtschaftsprogramm und die Griechenlandpolitik der CDU/FDP-Regierung als traditionelle Vertretung des deutschen Kapitals führten unmittelbar zur Frage der EU-Politik. Die „Alternative 2013“ lehnte die „Unterstützung“ der Länder Südeuropas kategorisch ab, forderte eine noch härtere Gangart und stellte offen den Euro in Frage. Die strategischen Differenzen zwischen der Regierung und der großen Mehrheit des deutschen Kapitals einerseits und der „Alternative“ andererseits traten offen hervor.

Eine besondere Bedeutung und zusätzliche Nahrung erhielt diese Auseinandersetzung, weil Griechenland selbst eine vorrevolutionäre Krisenperiode durchmachte und damit den Fokus des Klassenkampfes auf dem europäischen Kontinent bildete. Der Widerstand gegen die europäische Austeritätspolitik und die Frage des Kampfes der europäischen ArbeiterInnenbewegung gegen die Angriffe des Kapitals stellten damals auch die gesamte Politik der EU und der dominierenden imperialistischen Mächte in Frage und hätten den Ausgangspunkt für eine Zuspitzung des Kampfes auf internationaler Ebene bilden können. Doch die „radikale“ Linke war zu schwach, um die Dominanz des Reformismus und der Gewerkschaftsbürokratie zu brechen.

Das Ausbleiben der Solidarität auf europäischer Ebene und die Kapitulation der Syriza-Führung ermöglichten es schließlich, den Widerstand in Griechenland zu brechen und ein Exempel in Form der Diktate durch EU, EZB und IWF zu statuieren. Die Niederlage hatte demoralisierende Auswirkungen auf den ganzen Kontinent, und RevolutionärInnen müssen seither politisch gegen den Strom schwimmen.

In diesem Licht muss die Entstehung der „Alternative für Deutschland“ betrachtet werden. Natürlich gab es VorläuferInnen auf diesem Weg wie z. B. neurechte Kleinstparteien und öffentliche Debatten, z. B. um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ (1). Diese Vorläufer hatten insofern einen Einfluss, als sie Vorboten eines Stimmungswandels gewesen sind. Jedoch stellen wir als MarxistInnen beim Auftreten solcher Bewegungen die Frage, aus welchen gesellschaftlichen Verhältnissen heraus sie erklärt werden können, und bewerten sie nicht anhand einzelner Gedankensysteme. Deshalb betrachten wir hier näher die Genese der AfD und werden nur am Rande auf ihre VorläuferInnen eingehen.

Im April 2013 kam es zur praktischen Gründung der AfD. Zuerst ohne Programm, lediglich mit den beiden Kampagnenslogans: Anti-Euro und Anti-EU. Der erste gewählte Vorstand bestand aus Konrad Adam, Frauke Petry und Lucke selbst. Die beiden bekanntesten UnterstützerInnen dieser Zeit waren Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und Alexander Gauland, führende Figur des „Berliner Kreises“, einer Vereinigung am rechten Flügel der CDU. Rund 5.000 Personen traten in den ersten Wochen bei; bis zur Bundestagswahl 2013 waren es bereits 10.000. Bei der Wahl scheiterte die Partei mit 4,7 % knapp an der Fünfprozenthürde, doch schon bei der Europawahl 2014 errang sie 7,1 %und zog mit sieben Abgeordneten ins EU-Parlament ein.

Doch der innere Friede in der Partei sollte nicht lange halten. Die gesellschaftlichen Dynamiken spornten die Auseinanderentwicklung innerhalb der Partei an. Ein erster Einschnitt war hierbei die Frage der EU-Sanktionen gegen Russland im Zuge der Ukraine-Krise. Marcus Pretzell, damals EU-Parlamentsabgeordneter für die AfD, sprach sich dagegen aus und besuchte nach der russischen Übernahme demonstrativ die Krim.

Bei den Landtagswahlen im Jahr 2014 erreichte die AfD in Sachsen 9,7 %, in Brandenburg 12,2 % und in Thüringen 10,6 %. Petry, Gauland und Höcke – allesamt deutlich rechts von Lucke – traten als WahlsiegerInnen gestärkt in den Vordergrund. Im Oktober 2014 fanden die ersten Pegida-Demonstrationen statt, die sich zu dieser Zeit über weite Teile der Bundesrepublik ausbreiteten, und damals noch formulierte der Vorstand der AfD ihnen gegenüber einen Unvereinbarkeitsbeschluss.

Interessant ist hier der zeitweise Niedergang der AfD in den Wahlprognosen. Im September 2014 lag sie noch bei knapp 9 %. Im ersten Quartal 2015 fiel sie auf rund 6 %. Dies lässt sich einerseits durch die Differenzen zur deutlich rechteren Pegida-Bewegung erklären, andererseits auch durch die Lösung der Euro-Krise und das Austeritätsdiktat gegenüber Griechenland. Der deutsche Imperialismus hatte seine Interessen durchgesetzt und damit den Befürchtungen der rechten Euro-GegnerInnen vorerst den Wind aus den Segeln genommen, und in dieser Situation verschärften sich die Flügelkämpfe in der AfD.

Im März 2015 wurde im Rahmen des Thüringer Landesparteitags die „Erfurter Resolution“ vorgestellt. Demnach sollte die AfD zu einer „Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands“ werden. Als zentrale Punkte wurden genannt: gegen die Gleichmacherei von Frau und Mann, gegen Multikulturalismus, Kritik an der Distanz zur Pegida-Bewegung. Bekannte Erstunterzeichner waren Höcke, Poggenburg, Gauland. Mit dieser Resolution geht die formale Entstehung des völkischen Flügels einher, der sich seither „Der Flügel“ nennt und dessen VertreterInnen heute eine starke Stellung in der Partei einnehmen.

Ab 2015 treffen sich diese Gestalten jährlich auf dem Kyffhäuser, an der Gedenkstätte im thüringischen Mittelgebirge. Einem Mythos zufolge soll dort eines Tages Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, wieder zum Leben erwachen und Deutschland zu neuer Herrlichkeit führen. Kurzum: Die Kräfte, die sich auf die neu-rechten Massenbewegungen rund um Pegida stützten, wuchsen, stärkten ihre Strukturen, ihren Zuspruch unter den WählerInnenklientelen und profitierten vom Wachstum der Partei.

Im Juli 2015 kam es zur ersten Machtprobe. Auf dem Essener Parteitag gründeten Lucke und Henkel den „Weckruf 2015“, eine Formation die sich gegen die Stärkung des „Flügels“ stellen sollte. Die Kampfabstimmung um den Parteivorsitz zwischen Lucke (38 %) und Petry (60 %), die vom rechten Flügel unterstützt wurde, entschied schließlich das Schicksals des Parteigründers. Es kam zur Spaltung der Partei und zur Gründung von ALFA (Allianz für Fortschritt und Aufbruch). Nur rund 1.500 von mittlerweile 20.000 Mitgliedern verließen die Partei und folgten Lucke, darunter fünf von sieben EU-Abgeordneten und viele der „alten Profs“. Die neue Führung stellten Frauke Petry und Jörg Meuthen.

Von dort an scheint die stete Rechtsbewegung in der Partei vorprogrammiert. Hinzu kommt, dass die AfD ihr Hauptthema wechselte. Nicht der Euro, sondern die Geflüchteten wurden jetzt zum Hauptfeind der Partei. Waren ihr Populismus und Rassismus in der Gründungsphase vor allem gegen die „faulen GriechInnen“ gerichtet, so wurden sie nun zunehmend radikalisiert und völkisch konnotiert. Die AfD tritt von da an als ultra-rassistische Speerspitze gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel auf. Ende 2015/Anfang 2016 trug diese Politik bereits Früchte. Die Stimmung in der Bevölkerung kippte – nicht zuletzt aufgrund des Ausbleibens einer substanziellen Unterstützung der Flüchtlinge durch die Regierung.

Als es Silvester 2015/16 in Köln auf der Domplatte zu massiven und massenhaften sexuellen Übergriffen kam, inszenierten sich die Rechten, allen voran die AfD und Pegida, als BeschützerInnen der Frauen vor „von außen importierten“ Übergriffen. Sexismus wurde vor allem als „AusländerInnenproblem“ dargestellt – natürlich nicht nur von der AfD, sondern auch von der reaktionären Presse und „respektablen“ bürgerlichen PolitikerInnen. Kundgebungen von Betroffenen vor Ort, die sich gegen Sexismus und sexuelle Belästigungen, egal von welcher Nationalität aussprachen, fanden kaum mediales Gehör.

Kurz danach forderte von Storch den Schießbefehl an der deutschen Grenze. Später erklärte sie, dass sie dabei „auf der Maus ausgerutscht“ sei. Alle namhaften VertreterInnen der AfD wenden seither gezielt solche „Techniken“ an. Zuerst werden – ähnlich wie früher von der FPÖ und Haider – bewusst rassistische, völkische oder sonstige „Tabubrüche“ geäußert. Auf die absehbare Reaktion der liberalen, bürgerlichen Öffentlichkeit wird damit entgegnet, dass es sich um ein Missverständnis handele und nun die Person, die auf einen „echten Missstand“ hinweisen wolle, wegen einer rechten Formulierung oder eines „Ausrutschers“ in Misskredit gebracht werden solle. So inszeniert sich dann die betroffene Rechte auch noch als „Opfer“ eines intoleranten „Mainstreams“. Diese Taktik entfaltet im Klima des Jahres 2016 und vor dem Hintergrund des Rechtsrucks ihre Wirksamkeit. Die AfD ist in aller Munde und räumt in den nächsten Landtagswahlen 2016 bemerkbar ab: Baden-Württemberg 15,1 %, Berlin 14,2 %, Mecklenburg-Vorpommern 20,8 %.Rheinland-Pfalz 12,6 % und Sachsen-Anhalt 24,3 %.

Im Mai 2016 beschließt die Partei auf dem Stuttgarter Parteitag ihr erstes Bundesprogramm. Es ist bis heute gültig, und bislang fordert auch keine Fraktion eine Neufassung. Auf das Programm werden wir genauer in einem späteren Abschnitt eingehen. Trotz oder wegen der Erfolge gehen die inneren Konflikte weiter.

Kurz nach den Wahlen implodiert die baden-württembergische Landtagsfraktion nach medialen Angriffen auf das Buch „Der grüne Kommunismus und die Diktatur der Minderheiten“ des Abgeordneten Wolfgang Gedeon (2). Im Buch, das im Übrigen bereits 2012 veröffentlicht wurde, beschreibt Gedeon den Islam als äußeren und das Judentum als inneren Feind des Abendlandes. Als ihn Meuthen aus der Fraktion und der Partei werfen möchte, stellt sich Petry dagegen. Es kommt zum Bruch zwischen den beiden, auch wenn schlussendlich Gedeon die Fraktion verlassen wird, jedoch nicht sein Mandat abgeben muss. Meuthen nimmt seitdem an den Kundgebungen des Flügels am Kyffhäuser teil, und Petry geriet fortan zunehmend zwischen die Räder und scheiterte schließlich daran, eine Partei ähnlich der österreichischen FPÖ aufzubauen. Nach der Bundestagswahl 2017 erklärte sie auf der ersten Pressekonferenz der AfD öffentlich ihren Austritt aus Fraktion und Partei. Sie gründete die Parlamentsfraktion „Die blaue Partei“; diese verfügt durch Austritte aus der AfD über zwei Sitze im Bundestag, einen Abgeordneten im Europaparlament sowie neun Sitze in Landtagen, und es gibt etwa einhundert Mitglieder.

Zuvor kam es jedoch zu weiteren Eklats, wie beispielsweise bei Björn Höckes „Denkmal der Schande-Rede“, welche dem Ausbau seiner Position in der Partei jedoch nur kurzfristig schadete und letztlich lediglich zu einem gescheiterten und im Sande verlaufenen Parteiausschlussverfahren führte.

Die „gemäßigte“ Richtung war nach dem Austritt der mittlerweile fraktionslosen Frauke Petry ohnedies längst erledigt. Ihrem Beispiel war kaum jemand gefolgt. Den „Blauen“ blüht wohl dasselbe Schicksal wie der wirtschaftskonservativen Lucke-Gründung „ALFA“, von der inzwischen niemand mehr spricht. Der „gemäßigte“ Flügel ist derzeit isoliert. Zwar gründete Beatrix von Storch Anfang Oktober 2017 die „Moderaten“ mit knapp 160 Teilnehmenden, jedoch formieren sich diese aktuell weit unterhalb vergangener Größe. Die Bahn schien also frei gemacht für die rechtsnationalistischen ParteistrategInnen, die auf Mobilisierung von in der Grundrichtung reaktionär gesinnten Elementen der Gesellschaft setzen.

Inhaltlich hat sich nicht viel verändert. Die programmatischen Anträge der ostdeutschen Landesverbände, die mehr „soziales“ Profil der AfD einfordern, wurden vertagt und in eine Strategiekommission ausgelagert. Aber das darf nicht über die Verschiebung der Kräfte in der AfD hinwegtäuschen.

Die personellen Entscheidungen auf dem Parteitag am 2. Dezember verdeutlichen, dass ohne den rechtsnationalistischen Flügel keine Position mehr durchsetzbar ist. Bei der Wahl der zweiten Spitze neben Jörg Meuthen ergab sich in zwei Wahlgängen keine Entscheidung zwischen dem Hannoveraner, dem als „nur konservativ“ geltenden, früheren Bundesgeschäftsführer Georg Pazderski einerseits und seiner von der völkisch geprägten Seite stärker favorisierten schleswig-holsteinischen Landessprecherin Doris Fürstin von Sayn-Wittgenstein andererseits.

Alexander Gauland, der selbst stark auf rechtspopulistische Mob-Mobilisierungen setzt, „rettete“ schließlich die Situation und ließ sich zum zweiten Bundessprecher wählen. Zweifellos stellt er nun den eigentlichen Parteivorsitzenden dar. Sein Co-Vorsitzender Meuthen ist wohl nur wegen seiner politischen Biegsamkeit weiter im Amt.

Auch wenn die Wahl zu den stellvertretenden Vorsitzenden und zu den BeisitzerInnen relativ ruhig über die Bühne ging, so ist eindeutig, dass gegen den rechts-nationalistischen Flügel, eine Allianz aus extrem nationalistischen, völkischen und faschistischen Kräften, in der AfD nichts geht. Natürlich will die Mehrheit der AfD längerfristig an die Regierung, aber, wie es Gauland formulierte, nur auf „gleicher Augenhöhe“, ähnlich der FPÖ in Österreich. Als JuniorpartnerInnen fürchten die Rechten, verschlissen zu werden, so wie vor einigen Jahren die FDP.

Die GegnerInnen einer raschen Regierungsoption umfassen jedoch zwei Lager. Gauland und seine AnhängerInnen orientieren sich am FPÖ-Vorbild (Regierungsbereitschaft). Das Rechtsaußen-Lager um Leute wie Tillschneider will die Regierung erst übernehmen, sobald die AfD die Mehrheit stellt – ob per Wahl oder Putsch, lässt es dabei offen.

Daher wird die AfD in den nächsten Monaten und Jahren weiter nach rechts gehen, noch mehr auf Rassismus, auf „Heimat“, Volk und Boden setzen. Sie wird sich weiter Bewegungen wie Pediga „öffnen“, denen die Tore der Partei ohnedies nie verschlossen waren. Zugleich wird sie aber auch an ihrer eigenen „Normalisierung“ arbeiten – sei es in den Kommunen, wo erste Bündnisse mit „respektablen“ bürgerlichen Kräften nur eine Frage der Zeit sind, oder in einzelnen Landtagen, wo sie eine Zusammenarbeit mit der CDU gerade in Fragen der „klassischen“ rechts-konservativen Themen suchen wird, von Abschiebungen, „Kriminalitätsbekämpfung“ bis hin zum Feindbild „Linksextremismus“. Die Landtagswahlen in Sachsen könnten diese Entwicklungen in jeder Hinsicht beschleunigen.

Innere Gegensätze und Flügelbildung

Die aktuelle Konsolidierung der AfD unter Gauland soll daher den Blick für die inneren Gegensätze nicht verstellen. Im Folgenden wollen wir die verschiedenen Flügel der Partei kurz skizzieren.

Der Wirtschaftsflügel

Der Wirtschaftsflügel hat im Gegensatz zu den völkischen Teilen bislang keine großen Foren, Flügel, offene Fraktionen oder ähnliches gegründet. Dies hat mehrere Ursachen, die nicht allesamt einen Ausdruck der Schwäche darstellen. Die wichtigste ist vielleicht, dass ein geschlossenes Auftreten dem öffentlichen Bild bei Teilen der eigenen Basis direkten Schaden anrichten würde. Es ist schwer, zugleich als Anti-Establishment-Partei und als Rammbock gegen bestehende soziale Errungenschaften und Rechte aufzutreten. Die NGO Correctiv-Verlag veröffentlicht zu Beginn ihres „Schwarzbuchs AfD“ eine E-Mail von Beatrix von Storch, Anhängerin des Wirtschaftsflügels und der christlichen FundamentalistInnen in der Partei, an den damaligen Bundestagsvizepräsidentschaftskandidaten Albrecht Glaser. In dieser schreibt von Storch: „[…] Die Presse wird sich auf unsere Ablehnung des politischen Islam stürzen wie auf kein zweites Thema des Programms (Asyl und Euro sind verbraucht, bringen nichts Neues, das Wirtschaftsliberale wird uns als Thema verweigert, weil es dem Medienwunsch, uns als Rechtspopulisten darzustellen, entgegenläuft)[…]“ (3).

Hier lässt sich ein taktischer Umgang herauslesen. Ein weiterer Punkt ist der geplante Austragungsort ihrer Politik. Die Neoliberalen sind auf keine Bewegung auf der Straße angewiesen. Vielmehr ist diese ein notwendiges Übel, um ihren Einfluss auf die Parteienlandschaft und Wirtschaftsverbände auszubauen. Teilweise offen erklärtes Ziel ist hierbei die Regierungsbeteiligung. So erklärt Alice Weidel in einem Interview mit der Bild am Sonntag vom 28.10.2017 folgendes: „Mittelfristig ist es unser Ziel, zu gestalten, und dafür wollen wir in die Regierung. Ab 2021 wollen wir so weit sein“. Die AfD war bereits stärkste Kraft in Sachsen bei der Bundestagswahl 2017. Hier stellt sich die Frage der Regierungsbeteiligung schon konkret, sie wurde beispielsweise vom Freiberger CDU-Stadtrat offen diskutiert. Auch die Dresdener CDU äußerte nach der Bundestagswahl ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf Stadtratsebene.

Der sächsische AfD-Fraktionschef Jörg Urban äußerte sich in seinem Jahresabschiedsvideo von 2017 folgendermaßen: „Und wir werden auch diese CDU-Regierung weiter unterstützen, wenn es darum geht, Beschlüsse zu fassen, die unserem Land dienen.“ Das Programm des Wirtschaftsflügels spiegelt sich in weiten Teilen des AfD-Programms wider. In einer vor dem Parteitag nach außen gelangten Version war dies sogar in stärkerer Form der Fall (siehe hierzu das Kapitel „Das Programm der AfD“). Andererseits muss klar unterstrichen werden, dass die bisherigen Aufbauversuche wie Luckes ALFA oder auch „Die Moderaten“ von Beatrix von Storch entweder gnadenlos scheiterten oder von Gleichgesinnten als verfrüht angesehen wurden. Dies verdeutlicht auch, dass die Partei nicht automatisch einen Ritt nach rechts in Richtung faschistoider Formation vor sich hat, sondern dass sie nach wie vor entweder zu einem rechtspopulistischen, konservativen und neoliberalen „Korrektiv“ der Unionsparteien geraten oder aber auch sich weiter nach rechts zu einer faschistischen Organisation entwickeln kann. Bruchlos wird keines der beiden erfolgen können. Ob die AfD zur führenden Kraft eines reaktionären Mobs auf der Straße wird oder zur Unionsjuniorpartnerin – beide Optionen sind möglich. Zur Zeit weichen die führenden Köpfe der Partei einer Entscheidung aus, sehen zur Zeit mehr Vorteile im gemeinsamen Aufbau der AfD als in einer „verfrühten“ Konfrontation.

Auch wenn der „Wirtschaftsflügel“ keine gut organisierte innerparteiliche Struktur hat, so sind Mitglieder dieser Strömung in über die Partei hinausgehenden Verbänden organisiert. Am bekanntesten ist dabei vermutlich die „Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft e.V.“. Hierbei handelt es sich um einen neoliberalen Thinktank, der Mitte 2018 316 Mitglieder zählte und sich vor allem die weitgehende Zurückdrängung des Staates aus der Wirtschaft auf die Fahne geschrieben hat. Die Gesellschaft selbst agiert vor allem als ein Forum des Austauschs von marktradikalen Eliten der Bundesrepublik. Mitglieder sind unter anderem die AfD-BundestagsabgeordnetInnen Alice Weidel, Beatrix von Storch und Peter Boehringer, daneben beispielsweise noch Henryk M. Broder. Im Juli 2015 traten aufgrund der in ihr zahlreich vertretenen AfD-Mitglieder Hans-Olaf Henkel und Christian Lindner aus der „ von Hayek-Gesellschaft“ aus.

Christliche FundamentalistInnen

Die AfD hat den Kampf gegen „Gender-Mainstreaming“ in ihr Programm aufgenommen. Die Partei präsentiert sich trotz ihres neoliberalen Programms nicht nur als eine Formierung der von wirtschaftlichem Abstieg Bedrohten, sondern auch als eine Ansammlung von angeblich zunehmend sozial „ausgegrenzten“ Menschen, allen voran von weißen, heterosexuellen ChristInnen. So kamen in den letzten Jahren unterschiedliche Bewegungen zu Tage, bei denen sich die AfD zunehmend an die Spitze stellen konnte, beispielsweise die „Demonstration für Alle“, die sich gegen die geplante Bildungsreform in Baden-Württemberg richtete, in der nicht-heteronormative Familienmodelle gleichberechtigt im Unterricht erwähnt werden sollten. Dagegen wurden wöchentlich Demonstrationen organisiert und eine Online-Petition von 194.886 UnterstützerInnen unterzeichnet.

Auch der sogenannte „Marsch für das Leben“, bei dem alljährlich die sogenannten LebensschützerInnen, zumeist christliche FundamentalistInnen vom rechten Rand der Kirche, für ein vollständiges Abtreibungsverbot und gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau über den eigenen Körper auf die Straße gehen. Diese Bewegungen haben sich in den letzten Jahren zunehmend von der CDU wegentwickelt, die sich ihrerseits gezwungen sah, sich schlussendlich von beiden Kampagnen zu distanzieren. Gestalten wie Beatrix von Storch oder Markus Frohnmaier, ehemaliger Vorsitzender der Jungen Alternative, lassen sich diesem Lager zurechnen. Auch Wolfgang Gedeon schrieb „Der grüne Kommunismus und die Diktatur der Minderheiten“ angeblich zur Verteidigung des „christlichen Abendlandes“. Die christlichen FundamentalistInnen an sich stellen keinen eigenen Pol in der Partei dar, sie finden sich in allen Lagern, doch bilden sie eine relevante Gruppierung. Auf dem Stuttgarter Parteitag der AfD, dem Programmparteitag, stimmten knapp 30 % der Delegierten für ein volles Verbot von Abtreibungen. An sich eröffnen die breit über die Partei verteilten FundamentalistInnen den Zugang zu einem Milieu, welches sich immer weniger der zentralen Formation des Kapitals, der CDU, unterordnen kann.

Erfurter Resolution (Poggenburg, Höcke, Gauland)

Hinter der Erfurter Resolution stehen die Vorsitzenden der Landesverbände Sachsen-Anhalt (auch wenn Poggenburg vor kurzem von diesem Posten zurücktrat), Thüringen und Brandenburg, der Parteivorstand und Fraktionsvorsitz.

Der „Flügel“ selbst ist politisch heterogen. Eine Richtung vertritt Alexander Gauland, der bis 1991 Leiter der hessischen Staatskanzlei der CDU und bis 2013 Mitglied im konservativen „Berliner Kreis“ (in der Union) war. Charakterisiert werden kann er als national-konservativ. Er pflegt den Kontakt zu Zeitungen wie „COMPACT (Magazin)“ und „JUNGE FREIHEIT“, Blätter, die eine etabliert bürgerliche Kraft rechts von der CDU schaffen möchten und die mit dem rechtsradikalen Milieu zur Kooperation bereit sind. Im Zuge der Parteiarbeit scheint er zusammen mit der Stärkung des rechten Flügels ebenfalls zunehmend nach rechts zu rücken und übernimmt teilweise nationalistische pseudo-soziale Slogans, beispielsweise im Kampf gegen TTIP oder bei der Unterstützung der Pegida-Bewegung.

Björn Höcke, von manchen auch Bernd genannt, ist in den letzten Jahren zur bekanntesten Figur des rechtsextremen Flügels der Partei geworden. Hetzerische Reden, Führungsfigur der Parteirechten, geschult von dem neu-rechten Chefideologen Götz Kubitschek, die Mobilisierungen des Erfurter Ablegers der Pegida-Bewegung – für all das und vieles mehr ist er bekannt und in nahezu allen Medien präsent. Unter den führenden Köpfen stellt er jedoch eine relative Besonderheit auch darüber hinaus dar. Im Gegensatz zum kulturellen und sozialen Rassismus, der den Rest der Partei ausmacht, vertritt er zusätzlich einen biologischen. Einen Beweis hierfür stellt seine Rede vom „afrikanischen Ausbreitungstyp“ im Institut für Staatspolitik dar. Aber nicht nur das ist eine Stelle, an der er bewusst die rechte Flanke offen lässt für faschistische Kräfte. Auch äußert er klare Expansions- und Kriegsgelüste und kündigt an, dass, einmal an der Macht, der Islam sogar in islamischen Ländern zu bekämpfen sei.

So sagte er bei einer Rede im sächsisch-anhaltinischen Eisleben im Januar 2018: „Das, was wir jetzt noch nicht durchsetzen können, weil wir nicht die Macht haben – aber wir werden die Macht bekommen – und dann werden wir das durchsetzen, was notwendig ist, damit wir unser freies Leben leben können. Dann werden wir die Direktive ausgeben, dass am Bosporus mit den drei großen M, Mohammed, Muezzin und Minarett, Schluss ist, liebe Freunde!“ (4) Doch bei dieser Drohung bleibt er nicht stehen. So spricht er punktuell auch davon, dass die AfD der letzte Versuch der friedlichen Machtergreifung sei.

Wir gehen an dieser Stelle ausführlicher auf Höcke ein, da wir es in der AfD aktuell eigentlich mit zwei Programmen zu tun haben, die jeweils inner- und außerhalb der Partei mobilmachen: zum einen das Stuttgarter Parteiprogramm, zum anderen die öffentlichen Auftritte der völkischen Elemente des Flügels. Diese reiben sich stetig aneinander und stellen eine innere Sprengkraft dar, die die Partei jederzeit zu zerreißen droht. Wirtschaftspolitisch vertritt er dabei die klassische Schizophrenie faschistoider pro-kapitalistischer Ideologien in der Unterscheidung vom „schaffenden“ und „raffenden“ Kapital, somit zwischen dem „guten industriellen“ und dem „bösen zinstragenden“ Kapital. Konkret hetzt er gegen den „zinsbasierten Globalisierungstotalitarismus“.

Unterm Strich ist der „Flügel“ jedoch noch nicht die faschistische Keimzelle innerhalb der AfD, da er zum einen eine plurale Tendenz ist, in deren Fahrwasser sich zwar faschistisches Gedankengut herumtreibt, jedoch bildet sich aus dem Kreis des „Flügels“ oder initiiert durch seine Mitglieder bislang kein offener SchlägerInnentrupp, der dazu in der Lage wäre, als Rammbock gegen die Organe der ArbeiterInnenbewegung zu agieren. Nichtsdestotrotz ist es er, der sich zu einer solchen Organisation am ehesten entwickeln kann.

Dass der „Flügel“ eindeutig stärker geworden ist, zeigen auch die beiden Parteiausschlussanträge gegen Höcke, die entweder abgelehnt wurden oder im Sande verliefen. Eines war angestrengt worden, nachdem er in einem Interview sagte, dass ein Teil der NPD-Mitglieder nicht rechtsextrem und gewinnbar sei. Der andere Ausschlussversuch fand aufgrund seiner „Denkmal der Schande“-Rede statt. Als er im „Institut für Staatspolitik“ (IfS) in Schnellroda in einer Rede von einem besonders gefährlichen „afrikanischen Ausbreitungstyp“ sprach oder in seiner Social Media-Präsenz den Multikulturalismus mit einem Genozid verglich, folgte nicht einmal der Hauch parteiinterner Zwistigkeiten.

Götz Kubitschek und sein Institut für Staatspolitik

Eine Reihe weiterer Kräfte entwickelt sich im Schatten der AfD. Eine davon ist das (IfS) im sächsisch-anhaltinischen Schnellroda. Dahinter steckt ein Verlags- und Schulungszentrum der sogenannten neu-rechten Bewegung. Ihr ideologischer Führer ist Götz Kubitschek, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung „Junge Freiheit“. Hier finden unter anderem Seminare führender AktivistInnen der aktuellen rassistischen Bewegung statt wie beispielsweise von Martin Sellner, Co-„Leiter“ der Identitären Bewegung Österreich (IBÖ), oder Björn Höcke, Vorsitzender der thüringischen AfD. Dieser sagte, er beziehe auf dem Anwesen Kubitscheks sein „geistiges Manna“ (Himmelsbrot), und hier hielt er auch seine Rede über den „afrikanischen Ausbreitungstypus“.

Kubitschek selbst ist als Ethnopluralist zu begreifen, der eine „verdecktere“ rassistische Ideologie und dabei „geschlossene ethnische Gemeinschaften“ propagiert, die nur durch strikte Trennung friedlich miteinander leben könnten. Dabei hat sein Programm weite Aspekte faschistischer Methodik. So wurden in seiner Zeitschrift „Sezession“ Artikel veröffentlicht, welche zu direkten Aktionen gegen Unterkünfte von Geflüchteten aufriefen. Jedoch setzt sein unmittelbares Kampfprogramm auf eine „Eroberung“ des Diskurses und ist von Gramscis Hegemoniemodell inspiriert. Demnach sei es die aktuelle Aufgabe, Stellungen innerhalb des Staates und der Öffentlichkeit zu erkämpfen und zu halten, um das eigene politische Programm umzusetzen bzw. den Boden dafür zu bereiten. Ob es einen kritischen Punkt der gewaltsamen Machtergreifung gibt, wird hierbei offen gelassen. Bezeichnend für die Verbindungen ist auch, dass der Geschäftsführer des IfS, Dr. Erik Lehnert, wissenschaftlicher Mitarbeiter eines AfD-Mitglieds im Bundestag (Harald Weyel) ist.

Patriotische Plattform (Tillschneider)

Die patriotische Plattform um den im sächsisch-anhaltinischen Landtag sitzenden Abgeordneten Hans-Thomas Tillschneider stellt wohl die rechteste Gliederung innerhalb der AfD dar. Sie hat starke Überschneidungen mit der Mitgliedschaft der „Jungen Alternative“ und bildet eine Art Netzwerk für Mitglieder und Nicht-Mitglieder der AfD. Hierbei umgeht die Patriotische Plattform bewusst den Unvereinbarkeitsbeschluss in Bezug auf die Identitäre Bewegung. So schreibt sie auf ihrer Homepage folgendes: „Wir wünschen uns eine engere Zusammenarbeit zwischen Identitärer Bewegung und AfD, denn auch die AfD ist eine identitäre Bewegung und auch die Identitäre Bewegung ist eine Alternative für Deutschland.“ Tillschneider ist dabei der eindeutige Kopf der Plattform. Im Haus seines Abgeordnetenbüros in Halle befindet sich auch ein Hausprojekt der Identitären Bewegung. Er schreibt punktuell für die „Sezession“, das theoretische Journal des „Instituts für Staatspolitik“.

Auch wenn, Vermutungen zufolge, die patriotische Plattform und der „Flügel“ gemeinsam rund ein Drittel der Parteimitglieder ausmachen, so scheinen beide wenig organisatorische Strukturen aufzuweisen, die einen aktiv einbindenden Ansatz für deren Mitglieder bedeuten könnten. Sie sind eher Sammlungen von parteiinternen UnterstützerInnen. So wird der Löwenanteil veröffentlichter Artikel der Plattform von Tillschneider selbst verfasst, und der „Flügel“ beschränkt seine Aktivitäten zumeist auf seine jährlichen Versammlungen am Kyffhäuser. Sollte es zu einem möglichen Bruch innerhalb der Partei kommen, könnte sich dies jedoch schnell ändern. Beim Rücktritt Poggenburgs war allerdings vom „Flügel“ noch keine kollektiv abgestimmte Reaktion erkennbar.

Zwischen den Stühlen

Unter den führenden Personen der AfD wird oftmals Jörg Meuthen als jener genannt, der nur schwer einem der verschiedenen Parteilager zugeordnet werden kann. Er ist einer der wenigen verbliebenen ProfessorInnen innerhalb der Partei, stand allerdings im Lager gegen Lucke. Er grenzt sich ebenfalls direkt von offenen FaschistInnen und AntisemitInnen (siehe Fall Wolfgang Gedeon) ab, paktiert aber parallel mit dem sogenannten Flügel. Zusammen mit Gauland stellt er die Parteispitze. Seit der Bundestagswahl übernahm er den Sitz von von Storch im EU-Parlament, in der Parteiarbeit der AfD sitzt er jedoch momentan eher auf der Ersatzbank. Das fasst die politische Rolle von Meuthen derzeit gut zusammen.

So stellen Gauland und, in etwas geringerer Form, auch Meuthen zwei schleichend nach rechts gehende Opportunisten dar, die in der Partei eine Art vermittelnde Rolle spielen. Sie versuchen, die Gegensätzlichkeit in der Partei zu ihren Gunsten auszubalancieren, stehen für eine gesellschaftliche Veränderung auf parlamentarischem Wege und streben zugleich an, ihre Position in der Partei durch die Flankendeckung des Rechtsaußen-Flügels zu bewahren. Dabei gerät zumindest Meuthen jedoch im Zuge der weiteren Zuspitzung zunehmend in den Hintergrund, während Gauland zur Zeit als der unangefochtene Anführer erscheint.

Im Grunde entspricht diese scheinbar über den gegensätzlichen Flügeln stehende Position der Vorsitzenden dem gegenwärtigen Zustand der AfD. Solange sich die Verhältnisse nicht weiter zuspitzen (und den Boden für eine offen faschistische Bewegung mit Massenanhang schaffen) oder ihr eine unmittelbare Regierungsperspektive eröffnen, fahren alle gut damit, gemeinsam gegen den „Mainstream“ vorzugehen. Doch früher oder später werden die Verhältnisse zu einer offenen und entscheidenden Konfrontation führen.

Das Programm der AfD

Diese verschiedenen Flügel stehen in einem stetigen Konflikt miteinander. Zum einen ist die AfD eine Partei, deren VertreterInnen regelmäßig für rechtspopulistische „Ausrutscher“ sorgten, die einem organisierten „Tabubruch“ gleichen. Hierfür wollen wir nur zwei Beispiele anführen. Eines ist der Landtagsabgeordnete Holger Arppe aus Mecklenburg-Vorpommern. Dieser schrieb in einem Forum über die strategische Ausrichtung der AfD, man solle „bis zur Machtergreifung nett sein, danach alle an die Wand stellen“. Ein anderes ist André Poggenburg. Der musste nach seiner politischen Aschermittwochsrede von seinen beiden Ämtern als Fraktions- und Parteichef in Sachsen-Anhalt zurücktreten. Die Fraktion hatte ihm das Misstrauen ausgesprochen, als er die hier lebenden Deutsch-TürkInnen als „Kümmelhändler“ und „Kameltreiber“ bezeichnet hatte.

Die AfD ist auch eine Partei, die eine Verschiebung in der Parteienlandschaft nach rechts in Angriff nimmt, sie zumindest am deutlichsten verkörpert. In einigen Bundesländern, allen voran Sachsen, stellt sich hierbei immer offener die Frage nach Eintritt in die Regierung. Das würde aber auch heißen, dass sie sich Konservativen und

UnternehmerInnen als „koalitionsfähig“ präsentieren müsste. Dieser Flügel der AfD mag daher zwar bereit sein, sich des rechten Flügels zu bedienen, er will aber zugleich die Partei im Rahmen bestehender bürgerlicher „Normalität“ halten.

Über die Jahre sind weite Strecken der Unvereinbarkeitsbeschlüsse innerhalb der Partei aufgeweicht und relevante Teile der ehemaligen CDU- und FDP-Mitgliedschaft aus der Partei gedrängt worden. Doch nach wie vor spielen einige von ihnen eine tragende Rolle. Neben den Konflikten zwischen Lucke und Petry oder Petry und Gauland/Meuthen kommt es auch regelmäßig zu Fraktionierungen der moderaten oder marktradikaleren Parteielemente. In Nordrhein-Westfalen entzündete sich ein erster Konflikt zwischen Kräften, die aus der FDP stammten, und AnhängerInnen eines Bündnisses mit FPÖ und UKIP. Erstere verfassten schon 2013 einen „Düsseldorfer Appell“ und sprachen sich gegen die Aufnahme ehemaliger Mitglieder von NPD, DVU, Republikanern, Pro Köln, Pro NRW und Freien Wählern Düsseldorf aus. Um den Konflikt zu befrieden, wurde eine „vermittelnde“ Führung gewählt, die jedoch nach kurzer Zeit durch Marcus Pretzell ersetzt wurde, der offener mit ehemaligen Mitgliedern der Pro-Parteien und der „Freiheit“ zusammenarbeitete. Auch mit Nigel Farage, dem ehemaligen Vorsitzenden von UKIP, fand ein Treffen statt. Der Landesverband ist mittlerweile vor allem durch eine völkisch-nationalistische Politik geprägt und forciert die „Gewerkschaft“ „Offensive für deutsche Arbeiter“.

Natürlich existiert Rassismus in unterschiedlichster Ausprägung bei allen Flügeln der Partei: Das Parteiprogramm spricht von der tödlichen Bedrohung des Fortbestands von Nation und kultureller Einheit durch die „Ideologie des Multikulturalismus“ und bezieht sich dabei positiv auf die australischen und kanadischen Einwanderungsgesetze. Deren Regelungen stellen nämlich die wirtschaftliche Verwertbarkeit nach Ausbildung und Anerkennung ohne Wenn und Aber ins Zentrum ihrer „Migrationspolitik“. Kräfte wie Höcke schwadronieren von „Obergrenzen von Minus 200.000“ und von einer massiven Ausweitung der Abschiebungen.

Die Auseinandersetzungen zwischen diesen Polen und ihren unterschiedlichen strategischen Ausrichtungen finden auch rund um das Programm der Partei statt, etwas, das in den Medien deutlich weniger Schlagzeilen macht. Im Folgenden beziehen wir uns auf das Stuttgarter Parteiprogramm (5), das das weitreichendste programmatische Dokument der Gesamtpartei ist.

Mindestlohn

Zu dieser Frage gibt es innerhalb der Partei die unterschiedlichsten Positionen. Beispielsweise sprach sich der Berliner Landesverband bei der Abgeordnetenhauswahl 2016 gegen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns mit zwei Argumenten aus. Erstens lehnte die Berliner AfD jedweden staatlichen Eingriff in den Wettbewerb – und somit auch den Mindestlohn – kategorisch ab. Zweitens würde darüber hinaus eine solche Regelung dazu führen, dass Geflüchtete an der unteren Lohngrenze die Konkurrenz zu den „einheimischen Arbeitnehmern“ zuspitzen würden.

Dagegen steht im Stuttgarter Parteiprogramm vom Mai 2016 etwas deutlich anderes. Demnach solle der Lohndruck durch Geflüchtete durch einen gesetzlichen Mindestlohn bekämpft werden. Diese Position wurde vor allem vom Landesverband Nordrhein-Westfalen unter Pretzell vertreten, eine Position, die auch nach seinem Ausscheiden weiter für richtig befunden wird. Dem liegt auch die Orientierung am Bild des „nationalen Arbeiters“ zugrunde, die unter anderem von Guido Thorsten Reil aus Essen und anderen ehemaligen SPDlerInnen vertreten wird. Bei der Haltung zum Mindestlohn macht sich der Gegensatz zwischen dem neoliberalen Flügel und dem nationalistisch-chauvinistischen Flügel bemerkbar, der die Rechte der „deutschen Arbeit“ bis zu einem gewissen Grad gewahrt und vor Konkurrenz geschützt sehen will.

Zerschlagung sozialer Errungenschaften

Viel unverhüllter neoliberal geht es im Bereich der Sozialpolitik zu. Die AfD fordert in ihrem Programm die Zerschlagung der Bundesagentur für Arbeit. Deren „übrig gebliebenen“ Aufgaben sollten dann auf kommunale Ämter, die Krankenkassen und privatwirtschaftliche Versicherungen übertragen werden.

Der Bezug von Arbeitslosengeld I solle für Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, weiterhin gewährleistet, für andere jedoch eingeschränkt werden. Vor allem aber will die AfD das sogenannte Arbeitslosengeld II (Hartz IV) durch eine „aktivierende Grundsicherung“ ersetzen, sprich: Sanktionen bis zum Entzug einerseits, andererseits „Beschäftigungsanreize“, sprich: die Nichtverrechnung von Teilen des Einkommens von Hartz IV-BezieherInnen, die einen Teilzeitjob haben, einer prekären Beschäftigung nachgehen usw. Im Klartext: Hartz-IV wird somit zu einer Lohnsubvention für den Billiglohnbereich.

Das AfD-Programm stellt also einen weiteren radikalen Angriff auf alle Lohnabhängigen dar, einen weiteren massiven Schritt zur Massenverarmung. Als „Ersatz“ für ALG I schlägt es eine private Arbeitslosenversicherung vor. Dies hilft zweifellos privaten Versicherungskonzernen, für die Lohnabhängigen dagegen stellt sie nur eine andere Form der Abzocke dar. Außerdem möchte die Partei das Rentenalter „parallel zum Anstieg der Lebenserwartung“ erhöhen, also eine Art automatische Verschlechterung einführen, wenn das Durchschnittsalter der Bevölkerung weiter steigt. Auch die Forderung der AfD, dass die Pflege im Rahmen der familiären Umgebung stattfinden solle, lässt Übles erwarten – für RenterInnen, Kranke und deren Familienangehörige, vor allem für Frauen.

Steuern

Das AfD-Programm liest sich wie das Maximalprogramm des Neoliberalismus zur Bereicherung: vollkommene Abschaffung der Vermögens- und Erbschaftssteuer (die jährliche Transaktionssumme durch Vererbung schwankt zwischen 200 und 300 Milliarden Euro in der BRD), ein Familiensplitting in der Besteuerung, das eine Aufteilung der Einkommenssumme auf alle Familienmitglieder ermöglicht. Auch die Gewerbesteuer soll massiv gekürzt werden. Schließlich fordert die Partei auch eine „Steuerbremse“, d. h., das Steueraufkommen soll einen festgelegten Prozentsatz des BIP nicht übersteigen dürfen. Gleichzeitig setzt sie sich dafür ein, dass öffentliche Einrichtungen in die Insolvenz gehen können, sodass öffentliche Infrastruktur weiter an private NutznießerInnen verscherbelt werden kann. Und schließlich soll auch das Bankgeheimnis „wiederhergestellt“ werden.

Deregulierung

In ihrem Programm setzt sich die AfD für eine Abschwächung des staatlichen Einflusses ein. Der Staat solle sich auf seine vier Grundpfeiler zurückbesinnen, konkret auf „innere und äußere Sicherheit, Justiz, auswärtige Beziehungen und Finanzverwaltung“. Ansonsten gilt das wirtschaftsliberale Credo: je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle. Denn Wettbewerb schaffe die „Freiheit“. Daher sollen öffentliche Einrichtungen auf den „Prüfstand“ hinsichtlich ihrer Privatisierbarkeit gestellt werden. Das Schlagwort, das überall ertönt, heißt „Bürokratieabbau statt Überregulierung“. Natürlich soll dieser Kahlschlag nicht ohne „Transparenz“ und „Volksentscheide“ vonstatten gehen, den volksnahen Kitt eines durchweg radikalen marktwirtschaftlichen Programms.

Der Euro und die EU

Die Partei steht für den Austritt aus dem Euro. Dies würde laut AfD Binnenhandel und Investitionen aufgrund einer schwankungsfähigeren, weniger weichen Währung geradezu begünstigen. Mit diesem Thema, eigentlich Gründungsthema der Partei, können wir in klarer Form die Frage nach der sozialen Basis der Partei aufwerfen. Welche Fraktionen des deutschen Kapitals profitieren potenziell von einer Wiedereinführung der Deutschen Mark? Vor allem kleine bis mittelständische Unternehmen, die für ihren den inneren Markt produzieren und auf diese Weise hoffen, der stetigen Bedrohung durch ausländische Konzerne entgehen zu können.

Dabei steht der Euro-Austritt sinnbildlich für ihre Politik, entgegen den Interessen des deutschen Monopolkapitals, jedoch lösen sie diesen Widerspruch in rückschrittlicher Form auf, indem sie die wirtschaftliche und politische Devise der „notwendigen“ Rückkehr zu „unabhängigen Nationalstaaten“ ausgeben. Dabei stellt die AfD in ihrer Propaganda die Realität auf den Kopf: nicht der deutsche Kapitalismus würde von der Ausbeutung der halbkolonialen Länder profitieren, sondern er müsse die anderen gewissermaßen aushalten. Der „arbeitende Deutsche“ habe „den Griechen“ und andere „DrückebergerInnen“ in der Euro-Zone auch noch zu „subventionieren“. Mag die AfD auch keinen Cent für die „Transferunion“ zahlen, so verspricht sie dem/r deutschen MittelständlerIn nicht nur den Schutz seines/ihres Betriebes vor unlauterer ausländischer Konkurrenz, sondern auch Vorteile bei Investitionen in anderen Ländern (z. B. beim Aufkauf von Unternehmen, die dort infolge der Abwertung ihrer Währungen billiger geworden sind) und günstige Bedingungen am eigenen Standort durch Kürzungen von Sozialleistungen, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Reduktion der Steuern und Ausweitung des Niedriglohnsektors. Deshalb will die AfD auch eine Rückkehr zur EWG, in der es Nationalstaaten mit eigenen Währungen gab.

Ähnlich argumentiert die AfD auch in Bezug auf Investitionsprogramme in Halbkolonien. Diese werden in rassistischer Manier auch noch als selbstloses Opfer deutscher AnlegerInnen dargestellt, die solcherart einen Beitrag zur „Bekämpfung der Fluchtursachen“ leisten würden. In jedem Fall, so rechnet die AfD vor, wäre das billiger, als Geflüchteten das Land zu öffnen. Die „Europapolitik“ als das viel beschworene „Europa der Völker“ schließt direkt an den rassistischen Gesamtdiskurs an. Ein „Vielvölkerstaat“ kann laut AfD nicht funktionieren, daher dürfe es auch keine Überwindung nationalstaatlicher Grenzen geben. All das würde nämlich nicht nur zur Aufgabe der eigenen Kultur führen – auch die „Demokratie“ könne nur für „Völker“ bzw. „Volksgemeinschaften“ existieren. Sollte der EU-Austritt nicht mithilfe des Bundestages möglich sein, soll es einen bundesweiten Volksentscheid geben.

Diese Kernposition der Partei hat sich seit ihrer Gründung nicht verändert. Vielmehr hat sich rund um diesen Punkt das Programm weiterentwickelt und dabei Neoliberalismus, Sozialabbau und Rassismus samt allerlei sonstiger Schrullen aus dem politischen Marschgepäck des KleinbürgerInnentums aufgenommen.

NATO

Gegenüber dem größten Militärbündnis der NATO bleibt die AfD freundlicher als gegenüber der „volksfeindlichen“ EU. Sie ist zwar für den vollen Abzug von US-Truppen aus der BRD, jedoch für einen Ausbau der Bundeswehr mit dem Ziel der Stärkung der deutschen Interessen innerhalb des Bündnisses. Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund, was die Notwendigkeit des Ausbaus der Bundeswehr zur Interventionsarmee betrifft. Die „Junge Alternative“ stellte zwar einen ultra-reaktionär motivierten Antrag, die Forderung zum Austritt aus der NATO ins Programm aufzunehmen, dieser wurde jedoch mit klarer Mehrheit abgelehnt.

Familie und Homophobie

Die bürgerliche Familie gilt als Keimzelle der bestehenden Gesellschaft – und diese sieht die AfD in Gefahr. Die Familie muss ihrer Meinung nach gestärkt werden. Dabei strebt sie eine Rückkehr zu ihr als traditionellem gesellschaftlichen Leitbild an. Damit einher geht eine Stärkung der tradierten Geschlechterrollen. Der Vater soll als „Ernährer“ das Einkommen nach Hause bringen, während die Mutter sich um Kinder, Küche, Herd kümmert. Kinder- und Altenpflege, die Reproduktions- und Fürsorgearbeit sollen wieder in den privaten Familienverbund zurückgedrängt werden, weil das traditionelle Familienbild laut AfD-Programm durch zunehmende Übernahme erzieherischer Aufgaben durch staatliche Institutionen gefährdet sei, woraus unmittelbar eine rückläufige Geburtenrate in Deutschland folge.

Somit befördere die „familienfeindliche Politik“ der Regierung zusätzlich die gefährliche Tendenz der „Überfremdung“ durch Migrationsbewegungen. Die Lösungen der AfD hierzu sind eindeutig: Familienbesteuerung, Erhöhung des Kindergeldes, Herdprämie, Erschwerung von Scheidungen, Einschränkung des Rechts auf Abtreibung. Auf dem Stuttgarter Parteitag 2016 stellte die Junge Alternative den Antrag, dass Abtreibungen aus sozialen Gründen verboten werden sollten. Hierfür stimmten 30 % der Delegierten. In keiner anderen Parlamentspartei findet sich eine so große Minderheit für diese Position. In der AfD wird diese von einem informellen Bündnis der völkischen Teile, der Jungen Alternative und der christlichen FundamentalistInnen („LebensschützerInnen“) getragen. Mit der sogenannten „Demo für Alle“, die seit 2014 vor allem in Süddeutschland in verschiedenen Städten organisiert wird, entwickelte dieser Teil der AfD eine enge Bindung zu christlich-fundamentalistischen Kräften, von denen sich schlussendlich, wie bereits oben gesagt, selbst Teile der Kirche und die CDU distanzierten. Die Demonstrationen wandten sich unter anderem gegen die Gleichbehandlung nichtheterosexueller Partnerschaften. Die AfD als solche richtet sich gezielt gegen den angeblichen „Gender-Wahn“ und stempelt jedwede Abkehr vom bürgerlichen Familienbild als „unwissenschaftlich“ ab.

Ihre Familienpolitik selbst hat sozialdarwinistische Tendenzen. So fordern sie die Erstattung von Bafög-Schulden, sollten Akademikerinnen (!!) direkt nach dem Studium ein Kind bekommen, und gleichzeitig Rentenkürzungen, sollte eine Familie zu wenig Kinder geboren haben.

Klimawandel

Unter den Parteien, die 2017 den Einzug in den Bundestag schafften, ist die AfD die einzige, welche die Realität des Klimawandels anzweifelt, ja, diesen als Vorwand zur Einschränkung wirtschaftlicher und privater Freiheiten hinstellt. Die AfD mischt auch aktiv in entsprechenden „Bewegungen“ mit. So beteiligt sie sich an BürgerInnenprotesten gegen Windkraft, die einen der Ausgangspunkte für den Aufstieg der Brandenburger AfD und Alexander Gaulands darstellten. Während andere Parteien de facto den Klimaschutz unterlaufen und den Ausstieg z. B. aus der Kohleverstromung verschleppen, stellt die AfD das Ziel an sich in Frage. Schließlich fördere eine Zunahme des Kohlenstoffausstoßes auch pflanzliches Wachstums, führt sie pseudowissenschaftlich ins Feld, und sie setzt sich folgerichtig für die Kernenergie und den Ausbau von Kohlekraftwerken ein. Schmackhaft gemacht wird diese Melange zweifellos auch dadurch, dass die AfD die Abwälzung der Kosten der „Energiewende“ auf die Massen kritisiert – freilich nicht, indem sie sich gegen die aktuellen und zukünftigen ProfiteurInnen bürgerlicher „Umweltpolitik“ wendet.

Rassismus und Populismus

Der AfD zufolge würde Deutschland mehr und mehr von einer politischen Kaste beherrscht werden, die keinerlei soziale Basis habe, sich allenfalls auf linke, liberale, kosmopolitische Störenfriede und vaterlandslose GesellInnen stützen könne. Parallelen zur SED werden gezogen, denn diese habe ja schließlich auch ohne jede echte Legitimation geherrscht. Das „Volk“ der AfD umfasst alle – solange sie „echte Deutsche sind“. Im Gegensatz zu allen anderen Parteien, die mehr oder weniger zur „politischen Kaste“ gehören, abgehoben agieren würden oder ihre „Wurzeln“ verloren hätten, könne deshalb auch nur die AfD den genuinen Volkswillen erkennen und vertreten.

Vor dem Hintergrund dieser Konstruktion werden auch jede Kritik an der AfD, jede Entlarvung ihrer inneren Widersprüche, ihrer rassistischen und völkischen Demagogie, jede Enthüllung von Skandalen in der Partei zu

weiteren „Beweisen“ für den volksfremden Charakter ihrer GegnerInnen. Das erklärt freilich nur zum Teil, warum die Partei so viele Skandale, Flügelkämpfe, Neugründungen nicht nur überleben konnte, sondern warum sie weiter wächst.

Der zentrale Aspekt dabei ist, dass der Rassismus das einigende Band um die Partei, ihre durchaus gegensätzlichen Flügel, aber auch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen, die sie anzusprechen versucht, darstellt. Rassismus ist für die AfD unverzichtbar. Er verspricht einerseits den Euro-GegnerInnen unter den KapitalistInnen und im KleinbürgerInnentum größere Konkurrenzfähigkeit oder Schutz vor unliebsamer Konkurrenz. Die Exportstärke des deutschen Imperialismus will nämlich auch die AfD erhalten – allerdings vorzugsweise ohne die „Extrakosten“ der EU. Den Lohnabhängigen und den am Binnenmarkt orientierten UnternehmerInnen wird hingegen Abschottung versprochen. Wenn die ArbeiterInnen schon für das Großkapital schuften sollen, dann eben gemeinschaftlich als „Deutsche“ und nicht auch noch unter dem Konkurrenzdruck von Geflüchteten und MigrantInnen. Abschiebung, Abschottung verspricht natürlich auch dem/r Erwerbslosen oder prekär Beschäftigten einen Wegfall des Konkurrenzdrucks und damit eine Verbesserung, so dass man auch gleich ohne Sozialversicherung auskommen könne.

Der Rassismus bildet also die Quintessenz ihres „sozialen Programms“, das solcherart mit Gewerkschaftsfeindlichkeit, Neoliberalismus, extremem Konservativismus und Nationalismus kombiniert wird.

Wieso gerade jetzt?

Die rasante Entwicklung der AfD kommt nicht von ungefähr. Schließlich ist sie nicht der erste Versuch, eine nationalkonservative oder rechtsextreme Partei rechts von der Union aufzubauen. Zu Zeiten von Franz Josef Strauß lauteten die berühmten Worte der CSU zu dieser Frage noch: „Rechts von uns ist nur noch die Wand“.

Dies war auch lange Jahre die Realität. Am Ende der Ära Strauß im Jahre 1983 formierte sich zwar die CSU-Abspaltung „Republikaner (REP)“, die im Juni 1989 bei der Europawahl sieben Prozent der Stimmen erhielt, danach jedoch einen stetigen Gang in die Bedeutungslosigkeit durchmachte. Seit 2001 ist diese Partei in keinem Landtag mehr vertreten und hat seit 2016 auch keinerlei Anspruch mehr auf staatliche Parteienfinanzierung. Offiziell orientierten sich die „Republikaner“ damals am Aufstieg des „Front National“.

Zwischen 1994 und 2000 existierte der „Bund freier Bürger“ als nationalliberale Abspaltung der FDP, die sich vor allem gegen den Vertrag von Maastricht richtete. Dieser versuchte, sich als deutscher Ableger von Jörg Haiders FPÖ zu präsentieren, und erhielt auch dessen Unterstützung beim Europawahl-Antritt im Jahre 1994. Mit 1,1 % floppte die Partei jedoch und verschwand schließlich. Die sogenannte Schill-Partei, offiziell „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ (PRO, Offensive D), bestand zwischen 2000 bis 2007. Relevant war sie jedoch nur in Zeiten ihrer Hamburger Regierungsbeteiligung mit der CDU von Oktober 2001 bis März 2004, als Ronald Schill die Regierung sprengte und schlussendlich aus seiner Partei ausgeschlossen wurde. Der Innensenator und selbsternannte „Saubermann“ war über einen Skandal gestolpert, als öffentlich wurde, dass er neben seinem Senatorenamt auch als Aufsichtsratsmitglied eines Krankenhauses fungierte. Als er zum Rücktritt gezwungen wurde, versuchte er dies zu vertuschen, indem er die Homosexualität von Ole von Beust, Erster Bürgermeister (CDU), „aufdecken“ wollte. Daraufhin zerlegte sich die Koalition und die folgenden vorgezogenen Neuwahlen erledigten die Schill-Partei.

Deutlich weniger relevant war der Aufbauversuch von „Pro Deutschland“, das sich aus ehemaligen führenden Mitgliedern der NPD und DVU zusammensetzte. Die Partei bestand von 2005 bis 2017, wurde von offen faschistischen Kräften kontrolliert und als Aufbauversuch einer faschistischen Frontorganisation verstanden, die nach außen ein rechtskonservatives, bürgerlich-demokratisches Image pflegen sollte, um größere Kräfte anzuziehen.

Die Partei „Die Freiheit“ war im selben Zeitraum Ausdruck einer Rechtsentwicklung von Teilen bürgerlicher Parteien. So finden sich unter deren GründerInnen René Stadtkewitz, der von 2001 bis 2011 für die CDU im Berliner Abgeordnetenhaus saß, Aaron Koenig, ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Piratenpartei, und Edgar Glatzel, der ehemalige Bezirksvorsitzende der FDP/Berlin-Kreuzberg. Die Partei erreichte in der Phase ihrer Existenz von 2010 bis 2016 ebenfalls keinerlei Relevanz und löste sich in der AfD auf.

Doch was macht die AfD anders?

Die Partei entstand vor dem Hintergrund einer Krisenperiode des Kapitalismus und eines heftiger werdenden Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Ihr Aufstieg war dabei nicht Ursache eines Rechtsrucks, sondern Ausdruck von Niederlagen der ArbeiterInnenklasse (insbesondere in Griechenland), die dafür den Boden bereiteten. Die gescheiterten VorläuferInnen der AfD zeigen, dass es schon zuvor Tendenzen im KleinbürgerInnentum und in unzufriedenen Teilen konservativer und liberaler Parteien gab, rechte oder rechtsextreme Neugründungen zu schaffen.

Die Niederlagen des Arabischen Frühlings, die relative Isolation der anwachsenden sozialen Kämpfe im Süden Europas und die Kapitulation der Syriza-Regierung hatten eine demoralisierende Wirkung auf die internationale ArbeiterInnenbewegung. Zugleich schränkte die Krise den Spielraum für Kompromisse, nicht nur im Interesse des Burgfriedens mit Schichten der ArbeiterInnenaristokratie, sondern auch innerhalb des bürgerlichen Lagers selbst ein. Bedeutete die Agenda 2010 noch allgemeine Wettbewerbsvorteile für alle großen und kleinen Schichten des Kapitals, so macht eine Politik der Aufrechterhaltung des Europäischen Binnenmarktes deutlicher die Interessen des exportorientierten deutschen Kapitals und des Finanzkapitals deutlich, ähnlich, wie z. B. die Abwrackprämie oder eine EEG-Umlage nur spezifischen Teilen des Monopolkapitals dienen. Diese Tendenz brachte in ihrem Inneren die Gegenentwicklung einer zunehmenden Fragmentierung des bürgerlichen Lagers hervor. Der Schulterschluss mit dem von Abstiegsangst geplagten Kleinbürgertum und die zunehmende Verarmung weiter Schichten der ArbeiterInnenklasse entwickelten nun den Bodensatz für eine soziale Bewegung, die diesem Flügel des Kapitals den nötigen Nachdruck verleiht.

Wer wählt die AfD?

Mit dieser Frage befasst man sich vermehrt in den letzten Jahren. So ergab beispielsweise eine Untersuchung der Pegida-Demonstrationen in Dresden, dass die Teilnehmer mehrheitlich knapp über dem Durchschnitt verdienten, einen verhältnismäßig guten Bildungsabschluss hatten, männlich und mittleren Alters waren. Diese Skizze unterscheidet sich nicht wesentlich vom durchschnittlichen AfD-WählerInnenprofil. Hierzu muss gesagt werden, dass die Zahlen Ergebnisse der Auswertungen der Landtagswahlen von 2016 sind und nur an wenigen Stellen eine Auswertung der Bundestagswahl unter diesem Aspekt erfolgte.

Das Altersprofil: Bei den Landtagswahlen 2016 in Sachsen-Anhalt erzielte die Partei ihr bestes Ergebnis bei den 25- bis 35-jährigen. Dort lag sie bei 28,5 Prozent der Stimmen, insgesamt erzielte sie 24,3 Prozent. In Baden-Württemberg gaben 18 Prozent der 35- bis 45-jährigen ihre Stimme der AfD. Insgesamt waren es 15 Prozent. Es handelt sich hier also um ein verhältnismäßig junges bis „mittelaltes“ Publikum.

WählerInnenwanderungen: Insgesamt lässt sich die AfD als Wahlgewinnerin der letzten Jahre bezeichnen. Sie gewann bei den Bundestagswahlen einen Großteil ihrer Stimmen von den regierenden Parteien SPD (470.000; Quelle: dpa) und CDU/CSU (980.000; dpa). Auch mobilisierte sie den größten Teil der vorherigen NichtwählerInnen (1.200.000). Die Partei „Die Linke“ verlor rund 400.000 Stimmen an die AfD (dpa), und unter den rechteren Parteien konnte sie ohnehin auf Stimmfang gehen (690.000 von anderen Parteien, jene unter der 5-%-Hürde; dpa). So hat die NPD seit dem Einzug der AfD in unterschiedliche Landtage keinen einzigen Wahlerfolg mehr feiern können. Die Initiativen „Die Freiheit“ und „Pro Deutschland“ existieren nicht mehr; weite Teile von deren Mitgliedschaft sind in die AfD eingetreten. Nur die faschistischen Formationen „Die Rechte“ und der „Dritte Weg“ können sich relativ halten, da diese Kerne einer offen faschistischen Partei darstellen und somit im aktuellen Stadium parlamentarische Arbeit ablehnen.

Soziale Zusammensetzung: Leider müssen wir uns an dieser Stelle vor allem auf die bürgerlichen Erhebungen beziehen, deren Kategorisierungen (ArbeiterInnen, Angestellte, RentnerInnen, …) quer zu einem marxistischen Klassenbegriff liegen. Andererseits sind diese Erhebungen die einzigen, die uns zur Verfügung stehen und Aufschluss über die Zusammensetzung der AfD-WählerInnen geben. So schreibt zum Beispiel das „Schwarzbuch AfD“, dass knapp zwei Drittel der WählerInnen der Partei RentnerInnen und Angestellte seien. Vor allem in den industriellen Zentren sei die AfD unter den ArbeiterInnen stark. Unter den Arbeitslosen bekomme sie bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern zwischen 36 Prozent und 29 Prozent. Umgekehrt liege die Quote in Baden-Württemberg bei knapp 3,9 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern bei rund 9 Prozent.

Dies spiegelt wider, dass die AfD größere Einbrüche unter Erwerbslosen und prekär Beschäftigten erst in der jüngeren Vergangenheit erzielen konnte, während sie ursprünglich von Arbeitslosen weit unterdurchschnittlich gewählt wurde. Dafür gibt es zwei wesentliche Ursachen: einerseits die Wandlung von einer „Euro-kritischen Professorentruppe“ zu einer aggressiven rassistischen Anti-Establishment-Partei, andererseits die Unglaubwürdigkeit und der Zerfall der Sozialdemokratie und ebenso, wenn auch in einem geringeren Maße, der Linkspartei (v. a. im Osten).

Die WählerInnenschaft ist hauptsächlich männlich. In Berlin wählten 18 Prozent der Männer und nur 11 Prozent der Frauen die Partei. In Sachsen-Anhalt umfasste die Differenz zwischen Männern und Frauen knapp 10 Prozentpunkte. Einen überproportional großen Stimmenanteil hat die AfD in ländlichen Gebieten. Knapp 44 Prozent stammen aus Orten mit weniger als 20.000 EinwohnerInnen, knapp 29 Prozent aus Städten mit mehr als 100.000.

In Fragen der Bildungsabschlüsse bleibt die Wählerschaft leicht unterdurchschnittlich. Rund 25 Prozent haben Abitur oder einen Hochschulabschluss, gesamtgesellschaftlich sind das knapp 30 Prozent. Was das Einkommen der AfD-WählerInnen betrifft, so liegen sie mit einem Nettohaushaltseinkommen von 3.100 Euro leicht über dem bundesweiten Durchschnitt von 3.060 Euro. Auf Platz eins und zwei liegen dabei FDP und Grüne mit 3.550 Euro bzw. 3.350 Euro. Auf dem letzten Platz befindet sich „Die Linke“, gefolgt von der SPD mit 2.780 Euro respektive 2.980 Euro.

Diese Zahlen widerlegen den oft vorgebrachten Mythos, dass die AfD eine Partei der Einkommensschwachen oder der „bildungsfernen“ Schichten sei. Sie ist, wie ein Blick auf die soziale Zusammensetzung ihrer Mitglieder und FunktionärInnen zeigt, vor allem eine Partei von KleinbürgerInnen und Mittelschichten, von selbsternannten „LeistungsträgerInnen“ der Gesellschaft, die ihre Klasse/Schicht unter dem „Merkel-Regime“ bedroht sehen.

Mitglieder und FörderInnen

Da die AfD mittlerweile in den unterschiedlichen Landtagen, im Europäischen Parlament und im Deutschen Bundestag vertreten ist, lohnt ein Blick auf die soziale Herkunft der FunktionärInnen. Unter den Abgeordneten in Ostdeutschland dominieren zumeist handwerkliche Berufe und kleinständische UnternehmerInnen, in Westdeutschland AkademikerInnen, UnternehmerInnen und ArbeiteraristokratInnen.

Ein großer Teil der Mitglieder der AfD war vormals Mitglied der CDU/CSU und FDP. Gerade unter den ersten Mitgliedern finden sich auch viele WirtschaftswissenschaftlerInnen und Intellektuelle, die vor allem über die Frage der EU-Politik in die Partei kamen.

Die ParteispenderInnen wollen, wie es der „Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlicher Freiheiten“ zeigt, bei Großspenden lieber anonym bleiben, jedoch versuchen wir hier dennoch, die bislang an die Öffentlichkeit gelangten Zahlungen darzulegen. So gab es den Schätzungen von Lobbycontrol zufolge zwischen Januar 2016 und der Bundestagswahl im September 2017 Spenden in Höhe von mindestens 6 Millionen Euro.

Neben ihrer informellen Wahlkampfzeitung „Extrablatt“ existierte die ebenso ominöse Wahlzeitung „Deutschland-Kurier“. Von dieser wurden bislang neun Ausgaben mit einer Auflage von jeweils 300.000 Exemplaren veröffentlicht. Zumindest hinter der Zeitung „Extrablatt“ soll die Schweizer PR-Agentur „Goal AG“ stecken. Diese ist vor allem für ihre Unterstützung der rechtspopulistischen SVP bekannt. Zusätzlich soll die PR-Agentur noch an Jörg Meuthen, Markus Pretzell und Guido Reil finanzielle Zuwendungen und Dienstleistungen wie für Plakate, Internetauftritte und Kostenübernahmen für Veranstaltungen getätigt haben. Die angeblichen 20.000 SpenderInnen des Vereins sind jedoch, formell betrachtet, lediglich UnterstützerInnen von dessen „Manifest“, wofür keinerlei Zahlungen nötig sind. Somit handelt es sich vermutlich um verschleierte Großspenden.

Im Jahre 2013 veröffentlichte die Konrad-Adenauer-Stiftung einen Bericht, in dem sie den in der Schweiz lebenden Besitzer des Mövenpick-Konzerns, der im Hotel- und Gaststättengewerbe aktiv ist, Baron August von Finck Jr., als Finanzier ausweist. Finck hatte zuvor die CSU und später die FDP finanziert. Unter Schwarz-Gelb zahlte sich dessen Einfluss durch die Einführung einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Hotelübernachtungen für die Branche aus. Fincks Vermögen wird auf 7,7 Milliarden US-Dollar geschätzt. Er selbst äußerte sich zu den Spenden für die AfD nicht, die Partei dementierte sie. Finck erwarb jedoch ab 2011 die umstrittene Goldhandelsfirma „Degussa“. Diese ist dafür bekannt, in der Zeit des deutschen Faschismus Zyklon-B für die Gaskammern der Nazis geliefert zu haben, und belieferte den ebenfalls umstrittenen „Goldshop“ der AfD. Interessant ist, dass Finck bereits früher den Rechtsausleger der FDP, den „Bund Freier Bürger“, von dem einige Mitglieder mittlerweile in der AfD organisiert sind, mit Zuwendungen von 4,3 Millionen Euro unterstützte.

Finck ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Er steht für einen europapolitischen Kurs des Kapitals gegen die Aufrechterhaltung der Euro-Zone und in Opposition zur Politik des „Europäischen Rettungsschirms“. Dieses Lager wird inhaltlich repräsentiert durch die „Stiftung Familienunternehmen“ und den Verband „DIE FAMILIENUNTERNEHMER e.V“. Diese versuchen eine Gegenoffensive zur Politik des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.), der Merkels Europa-Politik mitträgt. Der ehemalige Berliner AfD-Vorsitzende Matthias Lefarth leitet mittlerweile die Vertretung der Stiftung am Pariser Platz. Ein Beweis für diese Spendenverstrickung liegt jedoch bis zum heutigen Tag nicht eindeutig vor.

Die AfD auf der Straße

Die AfD erscheint für viele als eine Partei der Mobilisierung. Jedoch haben alle Flügel ein äußerst ambivalentes Verhältnis zu Demonstrationen. Sie dienen ihnen nämlich mehr als Aspekt der Inszenierung von Medienkampagnen oder als Wahlkampfmoment und nicht als demokratische Ausdrucksform. Was die Partei eint, ist ein gutes Verständnis medialer Inszenierung, um regelmäßig in der Presse thematisiert zu werden, somit zu polarisieren und sogenannte „Provokationsgewinne“ zu verbuchen. Die Debatte über betriebliche Verankerungen (siehe unten) stand nie in Verbindung mit Mobilisierungen. Selbst die fünf Kundgebungen, die Björn Höcke in Erfurt zu Beginn der Pegida-Bewegung mitorganisierte, dienten in erster Linie zur Stärkung seiner Rolle in der Partei und in der Öffentlichkeit. Die AfD versuchte damit nicht, reale Basisstrukturen der Partei aufzubauen.

Dass die Partei selbst keine Organisation „der Straße“ darstellt, zeigte sich auch in ihrem Bundestagswahlkampf. Die größte Bekanntheit erlangte sie nicht auf ihren Wahlkampfversammlungen, wo ihre AnhängerInnen allenfalls gelegentlich bei CDU-Auftritten „Merkel muss weg!“ skandierten. Es gab auch kaum Wahlkampfstände, und Plakate wurden oftmals von Werbeagenturen verklebt. D. h., die Partei war auf einen aktiven Straßenwahlkampf nicht angewiesen, weil ihr die Debatte in den Medien reichte. Natürlich ist die AfD auch auf der Straße anzutreffen, z. B. bei Mobilisierungen, welche manchmal Einzelmitglieder der Partei anmelden oder auf Pegida-Demonstrationen oder ähnlichem. Die offiziellen AfD-Demonstrationen sind jedoch äußerst rar. Und als sie am 27. Mai 2018 mit 5.000 AnhängerInnen durch Berlin marschierte, „begleiteten“ sie Zehntausende GegendemonstrantInnen.

All das verdeutlicht, dass wir es bei der AfD, unabhängig von allen Flügelkämpfen, mit einer auf Wahlen ausgerichteten bürgerlichen, rechtspopulistischen und rassistischen Partei zu tun haben und nicht mit einer faschistischen Partei, deren strategisches Ziel die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung ist. Gleichwohl versuchen Teile der Partei, Lohnabhängige nicht nur als WählerInnen anzusprechen, sondern auch, sich betrieblich zu verankern.

AfD und die Gewerkschaften

Bei der Bundestagswahl 2017 bekam die Partei 12,6 Prozent der Stimmen, während Umfragen zufolge immerhin knapp 15 Prozent der gewerkschaftlich organisierten KollegInnen für die AfD stimmten. Sie kündigte deshalb im Schulterschluss mit der sogenannten „Einprozent-Bewegung“ und dem „COMPACT“-Magazin eine Offensive bei den Betriebsratswahlen 2018 an. Es ging hier bei weitem nicht nur um eine „Offensive“ in Baden-Württemberg.

  • Bei Siemens in Görlitz wurden aus dem Stand 16,4 Prozent erzielt, und zwei rechte Betriebsräte konnten einziehen. Bei Görlitz handelt es sich um einen der Standorte, die von der Schließung bedroht sind.
  • Bei BMW in Leipzig zogen vier Betriebsräte ein.
  • Beim Automobilkonzern Daimler agiert das angebliche Herz des „Zentrum Automobil e.V.“, der neuen rechten Betriebsgruppe.
  • In Untertürkheim wuchs sie von vier auf sechs der 45 Betriebsratssitze an (13,2 Prozent).
  • In Rastatt erhielt sie drei Sitze.
  • In der Zentrale Stuttgart gingen die Rechten leer aus.

Die Führung des DGB scheint dies bislang weitgehend zu ignorieren. Laut einer dpa-Meldung vom 11.03.2018 möchte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann in der Angelegenheit nach wie vor „Gelassenheit demonstrieren“, da es sich maximal um eine „Handvoll Betriebe“ handele.

Anders klingen die Beschreibungen der Rechten. In der Zeitung „Alternative Gewerkschaft“, die zusammen von „Einprozent“, „COMPACT“, dem „Zentrum Automobil e.V.“ und „Die patriotische Gewerkschaft“ in einer Auflage von 60.000 Stück veröffentlicht wurde, wird gesagt, dass die Offensive mit „weit über 300 Kandidaten in fast 40 Betrieben aller denkbaren Branchen“ ablaufe. Hinter dem Projekt „Patriotische Gewerkschaft“ verbirgt sich der Aufbauplan einer Scheingewerkschaft, die den offenen Kampf gegen die betriebliche Dominanz des DGB anstrebt. Rückenwind gibt es für die AfD dabei durch die sogenannte „AidA (Arbeitnehmer in der AfD)“, deren Vorsitzender Christian Waldheim ist. Diese Gruppe verfolgt zwar aktuell ein formal anderes Aufbauprojekt namens „ALARM! (Alternativer Arbeitnehmerverband Mitteldeutschlands)“, das am 1. Mai 2017 gegründet wurde und versucht, den „dankbaren Dienst am Vaterland“ von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen in den Vordergrund zu stellen und gegen die korrupten Gewerkschaftsbonzen zu hetzen. Dass diese Initiative zeitgleich erfolgt, steht wohl viel eher für ein gemeinsames Kampfziel als für zwei miteinander konkurrierende Aufbauprojekte.

Auch wenn diese bislang nur geringen Erfolg hatten, müssen wir Folgendes bedenken: Es handelt sich hierbei um rund 300 KandidatInnen, die offen auf dem Ticket der neu-rechten Bewegung antraten. Es ist zu vermuten, dass die Dunkelziffer rechter BetriebsratskandidatInnen deutlich höher ist (inklusive solcher, die auf Listen der DGB-Gewerkschaften antreten). Zugleich erkennt man den Versuch, sich unter den „bio-deutschen“ ArbeiterInnen zu verankern, was für das Ziel der AfD steht, sich hin zu einer völkisch-nationalistischen Partei entwickeln zu wollen.

Natürlich muss diese Tendenz kritisch gesehen und bekämpft werden, jedoch ist anzumerken, dass rückschrittliche und gelbe (mit der Unternehmensleitung verbundene) Betriebslisten an sich keine Neuheit sind. Auch wenn die Gewerkschaften mit antirassistischen Seminaren und Aufklärung gegenzusteuern versuchen, so konterkariert die Politik der Sozialpartnerschaft, der Klassenzusammenarbeit und des Standortnationalismus diese und bildet selbst einen Nährboden für Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus, an den die AfD anknüpfen kann.

Zwei Richtungen

Grundsätzlich können wir zwei grundlegende strategische Orientierungen feststellen. Ein Flügel – und zur Zeit sicher die Mehrheit der Partei – will letztlich die CDU/CSU und FDP, also das „bürgerliche Lager“, nach rechts rücken, ein „Korrektiv“ zu deren vermeintlich falscher Entwicklung bilden. Das bedeutet, dass die AfD als rechtspopulistische Partei die aktuellen Institutionen der Bundesrepublik zwar nach rechts verschieben, deren autoritären Charakter stärken, einen gesellschaftlichen Rechtsruck durchsetzen will, aber derzeit letztlich im Rahmen der bürgerlich-parlamentarischen Ordnung verbleiben will. Sie steht deshalb auch als mögliche Koalitionspartnerin für die Union zur Verfügung.

Eine solche Politik würde selbstverständlich viele der populistischen Versprechungen der Partei, ihren Anspruch, für die „kleinen Leute“, für die BürgerInnen einzutreten, zur Makulatur machen. Allenfalls die „kleinen UnternehmerInnen“ würden davon profitieren, sodass auch dieser Flügel sicher weiter auf Rassismus setzen würde, ja müsste, und zwar als Surrogat für jede reale soziale Verbesserung.

Er würde jedoch auch in einen weitaus schärferen Konflikt mit den Teilen des völkisch-nationalistischen Flügels kommen, und zwar weniger wegen dessen ultra-nationalistischer oder völkischer Ideologie, sondern vor allem, weil Teile dieses Flügels die AfD als Zwischenschritt hin zu einer radikaleren, kleinbürgerlich-nationalistischen Partei verstehen, die das System nicht bloß nach rechts verschieben, sondern radikaler umgestalten will. Aus diesem Teil kann sich im Zuge einer weiteren gesellschaftlichen Polarisierung und einer erneuten wirtschaftlichen Krise ein offen faschistischer Flügel herausbilden. Elemente einer solchen Formierung gibt es schon heute genug, ebenso wie Verbindungen zu faschistischen Kräften außerhalb der AfD.

Zur Zeit, in der vor allem der weitere Aufbau und die Festigung der AfD zum radikalen, öffentlich-parlamentarischen Arm des zum „Volk“ stilisierten KleinbürgerInnentums angesagt sind, wird es zwar immer wieder Konflikte geben, aber beide Pole hoffen, von der gemeinsamen Partei zu profitieren. Früher oder später wird jedoch eine entscheidende Polarisierung in der Partei unvermeidlich.

Wie bekämpfen?

Die AfD stellt heute eine rechtspopulistische Partei dar, die wie viele ähnliche Formationen auch extrem völkische, halbfaschistische oder gar faschistische Elemente beinhaltet. Daher enthält der Kampf gegen die AfD notwendigerweise auch Aspekte des antifaschistischen Kampfes bis hin zum militanten Verhindern des Aufmarsches rassistischer oder faschistischer Kräfte. Wie die Erfahrung bei größeren Demonstrationen der AfD zeigt, muss das auch die Organisierung von Selbstverteidigung beinhalten, da die Partei bei ihren Veranstaltungen durchaus auf rechte Schläger, Hooligans oder andere gewalttätige, organisierte Gruppierungen zurückgreift.

Allerdings wäre es für den Kampf gegen die AfD fatal, sie heute so zu bekämpfen, als wäre sie bereits eine faschistische Partei. Eine solche Taktik mag zwar besonders militant erscheinen, hat aber unvermeidlich die Kehrseite, dass sie den Unterschied und die spezifische Gefahr, die von einer organisierten faschistischen Kraft (insbesondere von deren organisierten Kampfgruppen) ausgeht, herunterspielen würde und damit auch das Besondere einer faschistischen Gruppierung oder Partei. Dabei sollten gerade die Angriffe von offenen Nazi-Gruppierungen in Chemnitz auf Flüchtlinge, Linke und ein jüdisches Restaurant den Unterschied zwischen einer populistischen und rassistischen Wahlpartei und einem kleinbürgerlichen Kampfverband deutlich gemacht haben.

Dabei darf die Tatsache, dass die AfD keine Nazi-Partei, sondern „nur“ rassistisch und rechtspopulistisch ist, nicht als „Entwarnung“ verstanden werden. Für die Umgruppierung der politischen Kräfte stellt eine rechtspopulistische Massenpartei, die ähnlich wie die FPÖ in Österreich mit den Konservativen an die Regierung kommen kann, eine naheliegende Option dar, wenn die EU auseinanderbrechen sollte. Eine derartige Partei würde Nationalismus, Rassismus, neoliberale Angriffe und eine aggressive imperialistische Außenpolitik kombinieren. Schon heute rührt die unmittelbar Hauptgefahr, die von der AfD ausgeht, daher, dass versucht wird, über Nationalismus, Rassismus und Populismus die rückständigeren ArbeiterInnenschichten in einen reaktionären Block einzubinden und gegen die eigene Klasse zu richten. Und diese Klassenspaltung gelingt ihr z. T. schon heute: Vor allem die MigrantInnen und Flüchtlinge sind deren Opfer. Aber, wie ihre Einbindung in den „Marsch des Lebens“ zeigt, bedeutet die AfD-Politik populistische Reaktion auf allen Ebenen. Im Zuge einer sich verschärfenden Krise wird sich ein aggressiveres nationalistisches Projekt, zumal wenn es über die Machtmittel des Staates verfügt, gegen alle richten, die ihm politisch oder gewerkschaftlich in die Quere kommen.

Wer den Aufstieg der AfD stoppen will, muss daher zuerst die klassenpolitische Funktion des Rechtspopulismus verstehen, was ganz sicher nicht durch gemeinsame Erklärungen „der DemokratInnen“ geschieht. Im Gegenteil: Solche leeren Appelle sind Wasser auf die Mühlen der AfD! Sie verleihen nämlich ihrem Populismus und ihrer Behauptung, „allein“ gegen das Establishment zu stehen, einen Schein von Wahrheit.

Das heißt nicht, dass keine Absprachen mit bürgerlichen Kräften zur Verhinderung von Nazi-Demos möglich wären (sofern sie dazu bereit sind). Entscheidend ist jedoch, dass der AfD und dem Rechtspopulismus eine aktive Politik des Klassenkampfes entgegengestellt werden muss, und zwar nicht nur dieser, sondern vor allem dem Kapital und der Regierung. Es geht darum, Klasseneinheit in der Aktion herzustellen, um so überhaupt erst wieder die ArbeiterInnenklasse als soziale Kraft, als Alternative zu Populismus und Volkstümelei in Erscheinung treten zu lassen. Die „Einheit der DemokratInnen“, also der Parteien und Angehörigen aller Klassen, ist letztlich selbst eine nationalistische Antwort auf AfD und Co. – freilich durch „respektable“, anerkannte VertreterInnen der Nation.

Um die lohnabhängigen WählerInnen der AfD von dieser zu lösen, reicht es also nicht, sie aufzufordern, sich den Nationalismus oder „das Volk“ aus dem Kopf zu schlagen. Es muss praktisch gezeigt werden, dass die „Einheit des

Volkes“ oder „der Deutschen“ nur eine imaginäre Einheit darstellt, die die Klasseninteressen vernebelt.

Das heißt, es braucht eine proletarische antirassistische Bewegung, die den Kampf gegen die AfD mit dem gegen die Politik der Regierung verbindet. Um erfolgreich zu sein, muss letztlich die ArbeiterInnenklasse, und das heißt auch, jene Millionen Gewerkschaftsmitglieder, die nach wie vor Hoffnungen in reformistische Parteien wie Linkspartei und SPD hegen, gewonnen werden. Daher müssen nicht „nur“ radikale Linke, antikapitalistische Kräfte, MigrantInnen und Flüchtlinge für eine gemeinsame Aktion, für ein Bündnis zur Verfügung stehen, sondern der Kampf muss auch in die Massenorganisationen getragen werden.

Politisch müssen wir zugleich Forderungen in den Mittelpunkt stellen, die den Kampf gegen Rassismus, rechte Angriffe, für offene Grenzen und volle StaatsbürgerInnenrechte von MigrantInnen und Geflüchteten mit dem gemeinsamen Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Billiglohn, Kürzungen von sozialen Maßnahmen und Wohnungsnot verbinden. Nur wenn die ArbeiterInnenbewegung und die Linke eine sichtbare Antwort auf die Krise des Kapitalismus zu liefern fähig sind, kann der Demagogie und dem Rechtspopulismus der AfD der Boden entzogen werden.

Endnoten

(1) Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München 20101, [20122].

(2) Gedeon, Wolfgang: Der grüne Kommunismus und die Diktatur der Minderheiten. Frankfurt am Main 2012.

(3) Bensmann, Marcus u. a.: Schwarzbuch AfD – Fakten, Figuren, Hintergründe. Correctiv Verlag, Essen 2017, S. 10.

(4) <deutschland/rede-vor-afd-mitgliedern-wenn-wir-an-der-macht-sind-bjoern-hoecke-will-mit-islam-am-bosporus-schluss-machen_id_8376739.html>.

(5) AfD-Parteiprogramm vom Stuttgarter Parteitag Mai 2016, S. 67.

Literatur/Quellen

Hollasky, Steve/ Ludwig, Claus/ Stanicic, Sascha (2017): Brandstifter. AfD. Pegida. Islamhass. Analysen & Gegenstrategien. Manifest Verlag, Berlin 2017.

Rechtspopulismus in Europa: https://mobit.org/Material/Rechtspopulismus_08_2014.pdf

Finanzströme: https://www.heise.de/tp/features/AfD-Die-Masken-fallen-3830717.html

AfD im Betrieb: http://www.labournet.de/politik/gw/mitbestimmung/betriebsrat/afd-co-nach-den-koepfen-nun-auch-betriebe-und-betriebsraete/

Programmatik: https://alternativefuer.de/wp-content/uploads/sites/7/2016/05/2016-06-27_afd-grundsatzprogramm_web-version.pdf]

Verbindungen mit Rechtsextremen: http://www.fr.de/politik/rechtsextreme-afd-und-identitaere-ganz-nah-dran-a-1343349,0#artpager-1343349-0

Zur Betriebsratswahl: https://www.marx21.de/wenn-nazis-in-den-betriebsrat-wollen/




Zum Verständnis des Populismus bei Lenin und Trotzki

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Einleitung

Fast überall sind herkömmliche ArbeiterInnenparteien auf dem Rückzug. Sozialdemokratische und zum Parlamentarismus übergegangene stalinistische Parteien verlieren, mit einzelnen Ausnahmen, bei jeder Wahl Stimmen oder sind bereits in die Bedeutungslosigkeit geschrumpft.

Gleichzeitig ist besonders in den letzten Jahre nach der kapitalistischen Krise ab 2007 ein Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Kräfte eingetreten, deren Erfolge bei Wahlen und Volksabstimmungen die Machtausübung traditioneller Koalitionen aus konservativen, liberalen und reformistischen Parteien bedrohen. Auf der anderen Seite gibt es Beispiele von Wachstums- und Wahlerfolgen linker Kräfte, die den Klassengegensatz über Bord geworfen haben und, meistens von außen, teilweise selbst als populistisch bezeichnet werden.

Bürgerlichen PolitikerInnen gelingt es zumindest, die Bedrohung, die von populistischen Bewegungen und Parteien für ihre eigenen Formationen ausgeht, zu identifizieren. Sie sind aber entweder nicht in der Lage, das mit einer zutreffenden Analyse des Wesens und der Herkunft des Populismus zu verbinden. Dort wo linksbürgerliche Intellektuelle darüber hinausgehen, kommt es, zum Beispiel bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, zu einem unkritischen Bejubeln der Wahlerfolge und dem Hochstilisieren der neuen Formationen als Alternative zum gescheiterten „Klassenkampf-Marxismus“. Das zugrundeliegende Verständnis mag besser sein, eine marxistische Analyse bieten sie aber nicht.

Die Auseinandersetzung mit populistischen Bewegungen, aber auch Phänomenen, die dem Populismus in Erscheinung und historischen Umständen sehr ähnlich sind, hat eine Tradition in der marxistischen Theorie und Praxis. Weder der Populismus noch eine marxistische Kritik daran sind etwas Neues. Um eine marxistische Analyse des Populismus zu entwickeln, ist es deshalb notwendig, diese historischen Auseinandersetzungen aufzuarbeiten und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Weder Lenin noch Trotzki entwickeln in ihren Schriften eine umfassende Theorie des „Populismus“. Das ist insofern nicht verwunderlich, als der Terminus zu den Lebzeiten der beiden Revolutionäre noch wenig gebräuchlich war. Als „populistisch“ bezeichnete Bewegungen oder Parteien treten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland mit den VolksfreundInnen (Narodniki) sowie in den USA mit der Farmerbewegung und der „People’s Party“ auf.

Gerade für die russische ArbeiterInnenbewegung stellte jedoch der politische und theoretische Kampf gegen die PopulistInnen einen wesentlichen Aspekt in der programmatischen, taktischen und organisatorischen Herausbildung des Sozialismus dar. Wenn Lenin, Trotzki und andere marxistische RevolutionärInnen vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges den Begriff „Populismus“ verwenden, dann beziehen sie sich in der Regel auf die VolksfreundInnen (Narodniki), die SozialrevolutionärInnen, die 1901 aus der Vereinigung verschiedener Gruppierungen der VolkstümlerInnen hervorgingen, oder die Trudowiki (Parteigruppe der Arbeit), die 1906 gebildete Fraktion der Bauerndeputierten in der zaristischen Duma.

Die Haltung zum imperialistischen Krieg, der Übergang der Mehrheit der VolkstümlerInnen zur Vaterlandsverteidigung, die Politik der Regierung Kerenski wie auch die Spaltung der SozialrevolutionärInnen in der russischen Revolution offenbaren praktisch das Wesen dieser Strömung. Um aber die ideologischen Wurzeln dieses Versagens und Verrats – nicht zuletzt an der Bauernschaft – zu verstehen, ist eine Kritik der theoretischen und politischen Grundannahmen dieser Strömung unerlässlich.

Die Kritiken, Schriften und Analysen bezüglich des Klassencharakters der SozialrevolutionärInnen sind auch ein wichtiger Ansatzpunkt für ein marxistisches Verständnis des Populismus. Das trifft ebenfalls auf die Diskussionen der Kommunistischen Internationale wie der trotzkistischen Bewegung bezüglich der rechten und linken „populistischen“ Formierungen nach dem Ersten Weltkrieg zu. Darunter fallen so unterschiedliche Phänomene und Personen wie der „linke“ Republikanismus eines La Follette in den USA, der kroatische „Bauernführer“ Radic, Pilsudski in Polen, der Faschismus und andere reaktionären Bewegungen des KleinbürgerInnentums. Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch die Haltung zu den „national-revolutionären“ und „anti-imperialistischen“ Parteien und Bewegungen in den Kolonien und Halbkolonien betrachtet werden.

Ein Beispiel: Im Text „Clarity or Confusion“ aus dem Jahr 1939 stellt Trotzki, Bezug nehmend auf die Diskussionen um die peruanische APRA (Alianca Popular Revolucionaria Americana; dt.: Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), eine Beziehung zwischen unterschiedlichen Parteien, Bewegungen und ideologischen Strömungen her:

„Die APRA ist in den Augen der Marxisten keine sozialistische Organisation, denn sie ist keine Klassenorganisation des revolutionären Proletariats. Die APRA ist eine Organisation der bürgerlichen Demokratie in einem rückständigen, halb-kolonialen Land. Aufgrund ihres sozialen Typus, der historischen Aufgaben und, bis zu einem bestimmten Grad, ihrer Ideologie, gehört sie derselben Klassifikation (class) an wie die russischen Populisten (Sozialrevolutionäre) und die chinesische Guomindang.

Die russischen Populisten waren viel reichhaltiger hinsichtlich ihrer Doktrin und ‚sozialistischen’ Phraseologie als die APRA. Aber das hinderte sie nicht, die Rolle kleinbürgerlicher Demokraten, ja schlimmer, von rückständigen kleinbürgerlichen Demokraten zu spielen, die nicht über die Kraft verfügten, rein demokratische Aufgaben zu erfüllen – trotz des Opfermutes und der Hingabe ihrer besten Kämpfer.“ (1)

In diesen wenigen Sätzen verweist Trotzki auf das Phänomen „radikaler“, nicht-proletarischer Parteien der „kleinbürgerlichen Demokratie“ sowohl in imperialistischen wie halbkolonialen Ländern.

Die weitere Struktur dieses Artikels ist wie folgt: Zuerst werden die grundlegenden Auseinandersetzungen um die Frage „populistischer“ Parteien dargelegt und Kritik sowie Taktiken ihnen gegenüber diskutiert. Anschließend wird die von Trotzki skizzierte gemeinsame Klammer angewendet, um Schlussfolgerungen für ein marxistisches Verständnis von Populismus zu ziehen.

SozialrevolutionärInnen und VolkstümlerInnen

Ohne die offensive Auseinandersetzung mit der populistischen, volkstümlichen Tradition der revolutionären Intelligenz in Russland wäre die Entwicklung der ArbeiterInnenbewegung, insbesondere des Bolschewismus, unmöglich gewesen. Ein bedeutender Teil der frühen Schriften Lenins und anderer RevolutionärInnen dient der polemischen Abgrenzung und ideologischen Demarkierung von den „VolksfreundInnen“ und anderen „volkstümlichen“ Gruppierungen.

Die Auseinandersetzung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzentriert sich dabei auf zwei, miteinander verbundene Fragestellungen: Muss Russland zwangsläufig eine kapitalistische Entwicklung durchlaufen? Ist die ArbeiterInnenklasse oder „das Volk“ die treibende, revolutionäre Kraft des Kampfes gegen den Zarismus?

Lenins „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ (2) bietet eine umfassende Antwort auf die erste Frage. Lenin weist darin nach, dass die Fragestellung der VolkstümlerInnen von der Wirklichkeit beantwortet wurde. Der Kapitalismus hat sich durchgesetzt. Er prägt die Entwicklungsdynamik des Landes, wenn auch eine, die von enormer Ungleichzeitigkeit geprägt ist, wo die Ausdehnung der Industrie, des kapitalistischen Marktes, der Lohnarbeit in Stadt und Land mit einer enormen Rückständigkeit und Beibehaltung zahlreicher, die Entwicklung des Kapitalismus hemmender Institutionen einhergeht.

Er wirft den VolkstümlerInnen nicht nur vor, hinter der Realität zurückzubleiben, sondern kritisiert auch ihr grundlegend falsches Verständnis von Entwicklung des Kapitalismus, der Kleinproduktion und des Handwerks, die sie der kapitalistischen Großproduktion schematisch gegenüberstellen. So führt Lenin gegen die VolkstümlerInnen aus:

„Die Anerkennung der Fortschrittlichkeit dieser Rolle (des Kapitalismus; d. Verf.) ist (wie wir in jedem Stadium unserer auf Tatsachen gestützten Darlegung eingehend zu zeigen bemüht waren) durchaus vereinbar mit der vollen Anerkennung der negativen und düsteren Seiten des Kapitalismus, mit der vollen Anerkennung der dem Kapitalismus unvermeidlich eigenen tiefen und allseitigen gesellschaftlichen Widersprüche, die den historisch vergänglichen Charakter dieses ökonomischen Regimes offenbaren.“ (3)

Die Entwicklung des Kapitalismus bedeutet für Lenin unweigerlich die Entwicklung seiner inneren Widersprüche – und damit die Entwicklung der Bedingungen für eine erfolgreiche Revolution.

Die VolksfreundInnen würden nicht nur den widersprüchlichen Charakter der Entwicklung negieren, sondern auch einen starren Gegensatz zwischen der russischen „Volksökonomie“ (der Bäuerinnen und Bauern) und „Volksindustrie“ einerseits sowie der kapitalistischen Industrie andererseits konstruieren.

„Er (Kriwenko; ein Theoretiker der VolksfreundInnen; Anm. d. Red.) konstruiert einen direkten Gegensatz zwischen ‚unserer Volksindustrie’, d. h. der Kustarindustrie (Hausindustrie; d. Red.), und der kapitalistischen Industrie… ‚Die Volksproduktion‘ (sic!), sagt er, ‚entsteht in den meisten Fällen auf natürliche Weise’, die kapitalistische Industrie dagegen ‚wird durchweg künstlich geschaffen’. An einer anderen Stelle konstruiert er einen Gegensatz zwischen der ‚kleinen Volksindustrie’ und der ‚großen kapitalistischen Industrie’.“ (4)

Und weiter:

„Die natürliche Schlussfolgerung besteht darin, dass aus Unverständnis für den Zusammenhang die Kustarindustrie als ‚Volksindustrie’ der kapitalistischen Industrie als ‚künstliche Industrie’ gegenübergestellt wird. So kommt die Idee auf, der Kapitalismus widerspreche unserer ‚Volksordnung’, (…) den Kapitalismus der Fabrikanten und Werke stellt man sich vor, wie er wirklich ist, die Kustarindustrie aber so, wie sie ‚sein könnte’, den ersten auf Grund einer Analyse der Produktionsverhältnisse, die zweite, indem man, ohne auch nur versucht zu haben, die Produktionsverhältnisse gesondert zu betrachten, die Sache vielmehr ohne große Umschweife in das Gebiet der Politik verlegt. Man braucht sich nur der Analyse dieser Produktionsverhältnisse zuzuwenden, und man sieht, dass die ‚Volksordnung’ dasselbe darstellt wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, wenn auch in unentwickeltem, keimhaftem Zustand.“ (5)

Diese Zitate illustrieren nicht nur die grundsätzlich unterschiedlichen Positionen zu ökonomischen Einzelfragen, sondern dass Marxismus und Populismus gänzlich verschiedene Vorstellungen vom zentralen Antagonismus der russischen Gesellschaft haben mussten, warum sich Marxismus und Populismus nicht ergänzen konnten, sondern einander politisch ausschließen mussten.

Da die Volksindustrie als „natürlicher“ Teil einer „Volksordnung“ galt, musste diese gegen die „künstliche“ kapitalistische Entwicklung verteidigt und ideologisch beschönigt werden. Ihre „Auswüchse“ wie die Ausbeutung in der Kustarindustrie wurden von den SozialrevolutionärInnen nicht als unreife, unterentwickelte, teilweise besonders brutale Formen der entstehenden und sich durchsetzenden kapitalistischen Verhältnisse betrachtet. Die negativen Erscheinungen in der sog. Volksindustrie wurden als dieser eigentlich „fremd“ eingeschätzt.

Die Schlussfolgerung der „VolksfreundInnen“ bestand daher einerseits in der Idealisierung der „Volksindustrie“, die zur Vorstufe einer harmonischen „Volksordnung“ verklärt wurde und nur von ihren kapitalistischen Auswüchsen gereinigt werden musste, und andererseits dem Ruf nach Staatsintervention, um diese angebliche Harmonie (wieder) herzustellen.

Lenin verweist in seiner Polemik darauf, dass die „revolutionären Narodniki“ der 1870er Jahre noch hofften, ihre utopischen Ziele mit revolutionären Mitteln gegen den Zarismus durchzusetzen, während die VolkstümlerInnen um die Jahrhundertwende mehr und mehr zur systematischen Kompromisslerei mit dem Staat übergingen. Mit der „Volksindustrie“ wurde unwillkürlich und trotz politischer Opposition zum Zarismus auch der russische Staat verklärt.

Ihr Populismus basiert aber nicht nur auf einem Unverständnis des grundlegenden Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital und damit einer Ersetzung der ArbeiterInnenklasse durch das „Volk“. Dieses geht vielmehr mit einer Fehleinschätzung der Bauernschaft selbst einher, die zur revolutionären Klasse, gewissermaßen zum Kern des „Volkes“, stilisiert wird. Dabei zeigt die historische Erfahrung nicht nur, dass die Bauernschaft selbst zu keiner eigenständigen, von den Hauptklassen unabhängigen Politik fähig ist. Die VolkstümlerInnen mussten, um ihre utopische Zielsetzung der Wiedererrichtung einer „natürlichen“ Volksökonomie zu stützen, auch die Widersprüche innerhalb der Bauernschaft negieren.

Die Konkurrenz im Kapitalismus führt nicht nur zur fortschreitenden Vernichtung und Zersetzung des KleinbürgerInnentums, sondern notwendigerweise auch zur fortschreitenden Klassendifferenzierung innerhalb der Bauernschaft. Ein Teil wird zu LohnarbeiterInnen und Halb-ProletarierInnen, andere zwingt sie zu einer Existenz als kaum überlebensfähige Kleinbauernschaft oder Landlose. Schließlich steigen Teile auf, werden zu Großbauern und beginnen sogar, selbst TagelöhnerInnen und LohnarbeiterInnen auszubeuten.

Gegenüber dieser Entwicklungstendenz vertraten die SozialrevolutionärInnen (wie viele andere späte Ausprägungen des Populismus) ein reaktionäres, gesellschaftlich rückwärtsgewandtes Programm. Der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die moderne industrielle Warenproduktion stellten sie die Rückkehr zu einer idealisierten Form der kleinen Warenproduktion, der zerstörten Dorfgemeinschaft oder der „Volksindustrie“ entgegen.

Diese reaktionäre Zielsetzung impliziert unwillkürlich auch, dass die Widersprüche unter den kleinbürgerlichen Schichten, im konkreten Fall in der Bauernschaft, als künstliche, von „außen“ ins Volk getragene interpretiert werden. Daher zielt das Programm der PopulistInnen, wie Lenin in „Was sind die Volksfreunde…?“ ausführlich darlegt, auf eine Abmilderung und Verschleierung der Widersprüche in der Bauernschaft. Diese wird entgegen ihrer realen Entwicklung als Einheit betrachtet, die es zu bewahren oder über staatliche Reformen wiederherzustellen gelte. Nicht Klassenkampf gegen die UnterdrückerInnen auf dem Land – und das heißt auch gegen die ausbeutenden Schichten der Bauernschaft – sondern Versöhnung mit den Verhältnissen durch mehr oder minder kosmetische Reformen wird zum Ziel.

Das Programm der SozialrevolutionärInnen beinhaltet zwar auch berechtigte demokratische Forderungen, sein grundlegender Gehalt ist jedoch reaktionär. Es versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Akzeptiert man die Grundannahmen der SozialrevolutionärInnen über den (russischen) Kapitalismus, so ist es nur folgerichtig, die wachsenden Gegensätzen unter der Bauernschaft, im „Volk“, zu leugnen. Ansonsten würde den PopulistInnen ihr Subjekt der Veränderung unwillkürlich zerbrechen.

Im Gegensatz zum Marxismus begreifen sie nämlich „das Volk“ – und das heißt eben auch das gesamte KleinbürgerInnentum – als einheitliches Ganzes, das nicht „gespalten“, sondern miteinander versöhnt werden soll. Was für die Bauernschaft gilt, soll letztlich für die Gesellschaft zutreffen. Daher ist der Ruf nach staatlicher Intervention (und zwar durch den zaristischen Staat) schon bei den VolksfreundInnen kein Zufall, sondern notwendige Ergänzung zu einem utopischen Programm.

In der Haltung zur Bauernschaft zeigt sich aber deutlich der politische Kern der Differenz zwischen Marxismus und Populismus (selbst in einer vergleichsweise linken, „sozialistischen“ Form wie der frühen SozialrevolutionärInnen in Russlands). Während die MarxistInnen die Widersprüche zwischen den Klassen und damit auch unter den verschiedenen Schichten des KleinbürgerInnentums zuspitzen, also auch auf dem Land den Klassenkampf vorantreiben wollen, versuchen die SozialrevolutionärInnen, die Entwicklung des Klassenantagonismus auf dem Land verzweifelt aufzuhalten. Sie wollen nicht die Zuspitzung, sondern die Befriedung des Gegensatzes.

Ideologisch leistet dabei der Volksbegriff den wertvollen Dienst, eine imaginäre Einheit im (russischen) Volk zu schaffen. Alles, was die „Einheit“ stört, kommt von außen, gehört eigentlich nicht zum Volk oder widerspricht in der volkstümlerischen Ideologie dem imaginierten „Volkscharakter“. Die „natürliche Volksordnung“ scheint dabei im Gegensatz zum Kapitalismus zu stehen, der selbst als dem eigentlichen Russland äußerliches Verhältnis begriffen wird. Folgerichtig gehören die GroßkapitalistInnen nicht wirklich „zum Volk“, aber auch die ArbeiterInnenklasse – selbst Produkt einer „volksfremden“ Produktionsweise – kann nicht zentrales Subjekt der Befreiung sein, da das „befreite Russland“ als harmonische Welt kleiner WarenproduzentInnen, von Bauern, HandwerkerInnen, allenfalls Genossenschaften vorgestellt wird, die ein sorgender Staat schützen und fördern soll.

Das taktische Arsenal der revolutionären Sozialdemokratie und später des Bolschewismus gegenüber den VolksfreundInnen und den Sozialrevolutionärinnen beschränkte sich nicht auf Kritik. Lenin betont bei aller polemischen Schärfe die Möglichkeit und Notwendigkeit der taktischen Zusammenarbeit im Kampf um demokratische Forderungen und die Rechte der Bauern. Er betont auch, dass die Sozialdemokratie dazu ein eigenes Agrarprogramm braucht.

Um überhaupt eine Taktik gegenüber den kleinbürgerlichen Massen und deren Parteien anwenden zu können, darf die ArbeiterInnenklasse aber in keinem Fall auf ihre politische, programmatische und organisatorische Unabhängigkeit verzichten. Ansonsten droht sie unweigerlich, selbst in eine kleinbürgerliche Richtung abzugleiten.

Die jahrelange, umfassende Kritik an den SozialrevolutionärInnen und anderen „radikalen“ kleinbürgerlichen Strömungen war eine unterlässliche Voraussetzung zur Formierung und Festigung des Marxismus und der Schaffung einer revolutionären Partei in Russland. Ohne ideologische Abgrenzung und Siege über den Populismus wäre der Aufbau einer proletarischen Partei, die die Massen führen kann, unmöglich gewesen.

Russische Revolution 1917

Mit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution wurden Programm und Doktrin der SozialrevolutionärInnen dem Lackmustest der Geschichte unterworfen. Die „Bauernpartei“ verriet die Bauern. Die Verteidiger der „Volksordnung“ wurden VaterlandsverteidigerInnen und teilweise glühende ChauvinistInnen.

Auf den ersten Blick schien die Februarrevolution jedoch die marxistische Kritik zu widerlegen, das Programm und die Politik der SozialrevolutionärInnen zu bestätigen. Die russische Revolution nahm zwar in den städtischen Zentren ihren Ausgang, aber von Beginn an spielte die Stimmung in der Armee, einem Millionenheer von Bauern, die sich nach Land und Frieden sehnten und zu einer kompakten Masse verbunden worden waren, eine viele größere Rolle als in der Revolution 1905.

Die Vorherrschaft des SozialrevolutionärInnen und der mit ihnen verbündeten Menschewiki drückte jedoch vor allem die Unreife der Revolution und selbst der ArbeiterInnenklasse aus.

„Zu Beginn der Revolution war die Partei der Sozialisten-Revolutionäre auf dem ganzen Gebiete des politischen Lebens dominierend. Bauern, Soldaten, sogar Arbeiter stimmten unter den Volksmassen für die Sozialisten-Revolutionäre. (…) Nach Abzug der rein kapitalistischen und Großgrundbesitzer-Gruppen und der Zensus-Elemente der Gebildeten stimmten Alle und Alles für die revolutionären ‚Nardoniki’. Das entsprach ganz dem anfänglichen Stadium der Revolution, da die Klassengrenzen noch nicht scharf geschieden waren, und der Drang nach einer sogenannten einheitlichen revolutionären Front seinen Ausdruck in dem verschwommenen Programm derjenigen Partei fand, die sowohl den Arbeiter, der sich vom Bauernstand loszutrennen fürchtete, wie den Bauer, der Land und Freiheit suchte, wie auch den Intellektuellen, der diese beiden zu lenken trachtete, und den Beamten, der sich an das neue Regime anzupassen suchte, unter ihre Fittiche nahm.“ (6)

Die Revolution selbst musste jedoch die Basis der SozialrevolutionärInnen untergraben, die letztlich im Zurückbleiben des Bewusstseins der Masse der ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern hinter den Erfordernissen der Revolution ihre Ursache hatte. Die SozialrevolutionärInnen (und die Menschewiki) hätten die Macht erobern können – sie hofften aber, diese mit der liberalen Bourgeoisie zu teilen. Wo sie den Massen Substantielles versprechen (Landreform, Konstituierende Versammlung) verschoben sie die Erfüllung in die Zukunft und setzten in der Gegenwart das Programm der Bourgeoisie und des russischen Imperialismus um. Statt „Frieden“ zu schließen, wurde der Krieg fortgesetzt, statt auf ihr Land zurückzukehren, mussten die Bauern nun für den „demokratischen“ Krieg krepieren.

Die IdeologInnen, WortführerInnen und, für eine bestimmte Zeit, selbsternannten „RevolutionsführerInnen“ unter den SozialrevolutionärInnen stellten nicht die Bauern, sondern die VertreterInnen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Intelligenz – vor allem Anwälte, Beamte, Offiziere, LehrerInnen und JournalistInnen. Das selbst ist kein Zufall. Die bürgerliche Intelligenz bildet im Kapitalismus einen bedeutenden Teil des KleinbürgerInnentums beziehungsweise heute der lohnabhängigen Mittelschichten.

Als solche ist sie unter normalen bürgerlichen Bedingungen immer an vorderster Front des Parlamentarismus, der kleinbürgerlichen Demokratie zu finden. Es entspricht auch ihrer Klassenlage, sich zu den WortführerInnen verschiedener Spielarten des Populismus zu machen. Eine Ideologie, die gegensätzliche Klasseninteressen zu versöhnen trachtet, entspricht der gesellschaftlichen Zwischenstellung dieser „gebildeten“ Schichten.

Doch eine krisenhafte Entwicklung und erst recht eine Revolution enthüllen die Phrasenhaftigkeit des Populismus. Die „allmächtige“ Sozialrevolutionäre Partei – bis zur Oktoberrevolution noch immer eine Partei mit Massenanhang – erweist sich als politisch ohnmächtig. Sie zerbricht in der Revolution und spaltet sich, je mehr sich die Klassengensätze in der russischen Revolution entfalten. Der rechte Flügel geht ins Lager der offenen Reaktion über und versucht sich selbst in der Errichtung einer bonapartistischen Herrschaft, um die Revolution zu zerschlagen. Die Regierung Kerenski bereitet neue „Offensiven“ an der Front vor, paktiert mit putschistischen Militärs, versucht, die Bolschewiki und Räte zu zerschlagen sowie die Aufstandsbewegung der eigenen bäuerlichen Basis zu vernichten. Sie unterstützt die Armeeführung, die GroßkapitalistInnen und GrundbesitzerInnen. Die „Mitte“ der Partei wird immer mehr marginalisiert, geht aber in allen entscheidenden Fragen mit den Rechten.

Die Zuspitzung des Klassenkampfes entfremdet aber zugleich die linken SozialrevolutionärInnen mehr und mehr von ihrer Partei. Der Druck der Massen schiebt sie nach links. Aber ohne die Politik der bolschewistischen Partei wäre diese Bewegung wahrscheinlich nur eine radikale Episode geblieben. Sie sind es, die die linken SozialrevolutionärInnen in der Revolution, im Aufstand führen.

Die Politik der Bolschewiki gegenüber den SozialrevolutionärInnen und vor allem die Taktik gegenüber ihrem linken Flügel stellt bis heute ein zentrales Beispiel für prinzipienfeste revolutionäre Politik gegenüber populistischen Parteien und deren kleinbürgerlicher Massenbasis dar.

Hier gilt es zuerst, deren Unversöhnlichkeit gegenüber der Theorie, dem Programm und der konkreten Taktik dieser Parteien hervorzuheben. Das so genannte „Sektierertum“ der Bolschewiki gegenüber der vorherrschenden versöhnlerischen Stimmung zu Beginn der Russischen Revolution, deren Ausdruck die Stärke der SozialrevolutionärInnen war, schuf die Vorbedingung für den späteren Aufstieg der Partei Lenins. Der Kampf gegen die rechten Bolschewiki, der Bruch mit der Etappentheorie und der Übergang zur Theorie der permanenten Revolution waren die andere Seite dieser charakteristischen Unversöhnlichkeit.

Zum anderen wandten die Bolschewiki systematisch die Taktik der Einheitsfront gegenüber den SozialrevolutionärInnen an. Das betraf keineswegs nur den linken Flügel, sondern die gesamte Partei (und die Menschewiki), trotz ihres kleinbürgerlichen, sozial-chauvinistischen Charakters. So stellten die Bolschewiki an entscheidenden Punkten der Entwicklung der Revolution immer wieder die Forderung an die SozialrevolutionärInnen und Menschewiki, mit der Bourgeoisie zu brechen – wohl wissend, dass die Spitzen der Partei und erste recht deren Minister um jeden Preis diesen Bruch vermeiden wollten.

Gerade diese Politik führte aber dazu, dass der Bolschewismus die Hegemonie der SozialrevolutionärInnen unter den Soldaten und auf dem Land untergraben konnte. Neben einer Stärkung des Kommunismus in Teilen der Armee und auf dem Land trug sie vor allem zur Differenzierung und letztlich zur Spaltung der SozialrevolutionärInnen selbst bei.

Dabei kam den russischen MarxistInnen zugute, dass sich ihre Einschätzung der Bauernschaft als weitaus realistischer erwies als die harmonische Vorstellung der Narodniki. Der Krieg verschärfte die Klassengegensätze in der Bauernschaft sowohl in der Armee als auch auf dem Land, wo ein regelrechter BürgerInnenkrieg entbrannte. Die Bolschewiki verteidigten als einzige Partei konsequent die „illegalen“ Landnahmen der Bauernschaft im Sommer 1917, während die sozial-revolutionär geführte Regierung die GroßgrundbesitzerInnen unterstützte. All das trieb die linken SozialrevolutionärInnen nach links und schuf damit die Basis für ein (schwankendes) Bündnis mit den Bolschewiki.

„Populistische“ Parteien und die Kommunistische Internationale

Die SozialrevolutionärInnen bilden für die Betrachtung des „Populismus“ einen wichtigen Ausgangspunkt. Dass sie sich in Russland bildeten, hängt zweifellos eng mit der verspäteten bürgerlichen Revolution und dem gesellschaftlichen Gewicht der Bauernschaft zusammen. Daher könnten die SozialrevolutionärInnen auch als Ausdruck einer für überwiegend agrarische Länder typischen Rückständigkeit interpretiert werden, die im Lauf der kapitalistischen Entwicklung an Bedeutung verliert, zumal in den fortgeschritteneren Ländern, wo die Bauernschaft nur noch einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausmacht.

In seiner Imperialismustheorie weist Lenin jedoch auch auf eine andere Quelle der Bildung von möglichen „populistischen Formationen“ hin, die mit der Entstehung des Imperialismus und der dominierenden Rolle des Finanzkapitals untrennbar verbunden ist.

„Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, daß Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.“ (7)

Lenin stellt damit eine Verbindung zwischen Imperialismus und neu entstehenden politischen Bewegungen her, die eine reaktionäre, rückwärtsgewandte Kritik des Kapitalismus vertreten. Er hat dabei Kampagnen wie die Anti-Trust-Bewegung in den USA im Auge, gewissermaßen Vorläuferinnen des kleinbürgerlichen Flügels der Anti-Globalisierungsbewegung. Schon 1916 geht es Lenin dabei vor allem darum, dass diese „Anti-MonopolistInnen“ (ähnlich wie die PazifistInnen) im Krieg in der Regel zu VaterlandsverteidigerInnen werden, den „Imperialismus“ vor allem beim Kriegsgegner erblicken.

Die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg führt aber auch zur Bildung von „populistischen“ Bewegungen in einer Vielzahl von Ländern. Im Folgenden werden wir uns hier mit zwei verschiedenen Phänomen beschäftigen. Erstens mit der Entstehung von populistischen Strömungen in Europa und den USA. In diesem Zusammenhang werden wir auch auf die Diskussion um den Faschismus kurz eingehen. Zweitens mit national-revolutionären und bürgerlich-nationalistischen Parteien und Bewegungen in den Kolonien und Halbkolonien.

Diskussion um die „Arbeiter- und Bauernparteien“

Nachdem die herrschenden Klassen Europas den ersten revolutionären Ansturm nach dem Weltkrieg mithilfe der Sozialdemokratie und aufgrund der Unreife der kommunistischen Parteien abwehren konnten, bilden sich in vielen Ländern unterschiedlich geartete „populistische“ Formationen. In der Kommunistischen Internationale werden diese Fragen durchaus kontrovers diskutiert, wobei die Degeneration nach dem Vierten Weltkongress unter Führung Sinowjews und später Stalins zu einer Reihe opportunistischer Fehler und prinzipienloser politischer Anpassung führt.

Nach der Niederlage der Revolution in Deutschland und der Ausschaltung der linken Opposition setzte die Führung der Kommunistischen Internationale unter Sinowjew auf eine Mischung aus Ultra-Linkstum (kategorische Ablehnung der zeitweiligen Stabilisierung des Kapitalismus nach der strategischen Niederlage in Deutschland, frühe Formen der Sozialfaschismustheorie) und Opportunismus. So schreibt Trotzki über die Entwicklung nach der Niederlage 1923 und die Perspektiven des Fünften Weltkongresses der Kommunistischen Internationale:

„In demselben Maße, in dem innerhalb des Proletariats eine offenbare, wachsende Rechtsschwenkung vor sich ging, begann die Kommunistische Internationale die Linie der Idealisierung des Bauerntums, eine ganz unkritische Übertreibung aller Symptome des ‚Bruchs’ desselben mit der bürgerlichen Gesellschaft, eine Schönfärberei aller möglichen bäuerlichen Scheinorganisationen und eine direkte Hochpäppelung von ‚bäuerlichen’ Demagogen.“ (8)

So wurde neben der Kommunistischen Internationale auch der Aufbau einer eigenen „Bauerninternationale“ forciert. Deren Vertreter entpuppten sich jedoch rasch als unsichere Verbündete. So wurde Stjepan Radic, der Führer der kroatischen „Bauernpartei“, 1924 noch von Sinowjew in höchsten Tönen gelobt:

„Innerhalb der Bauernschaft findet augenblicklich ein wichtiger Umschwung statt. Ihr habt sicher alle bereits gehört von der kroatischen Bauernpartei Radics. Radic befindet sich augenblicklich in Moskau. Das ist ein richtiger Volksführer … Hinter Radic steht einheitlich die gesamte arme und mittlere Bauernschaft Kroatiens … Radic hat jetzt im Namen seiner Partei beschlossen, sich an die Bauerninternationale anzuschließen. Wir halten dieses Ereignis für sehr wichtig …

Die Bildung der Bauerninternationale ist ein außerordentlich großes Ereignis. Einige Genossen haben nicht geglaubt, dass daraus eine große Organisation heraus wachsen wird … Jetzt bekommen wir eine große Hilfsmaschine – das Bauerntum …“ (9)

Kurz nachdem der „Volksführer“ solche politischen Höhen erklommen hatte, kehrte er nach Kroatien zurück, sagte sich schon ein Jahr später, 1925, von der „Bauerninternationale“ los, söhnte sich mit der Monarchie aus und trat der jugoslawischen Regierung bei.

Auf ähnlich tönernen Füßen stand die Anbiederung an La Follette, einen „linken“ Populisten in den USA, der auch zum „Farmerführer“ hochstilisiert wurde. La Follette war bis 1925 Senator für Wisconsin und Mitglied der Republikanischen Partei, trat aber 1924 für die „Progressive Partei“ als dritter Kandidat zu den Präsidentschaftswahlen an. Er war zweifellos ein bürgerlicher Politiker, wenn auch mit Anhang unter Farmern und den Gewerkschaften, und erhielt immerhin 17 Prozent der Stimmen.

Teile der Führung der Kommunistischen Partei der USA betrachteten die Bewegung La Follettes jedoch als Ausgangspunkt für die Schaffung einer „Arbeiter- und Bauernpartei“, die sich immer weiter radikalisieren würde. Millionen Farmer, so die Prawda im Juli 1924, würden durch die Agrarkrise in den USA „freiwillig oder unfreiwillig auf einmal (!) zu der Arbeiterklasse hingestoßen.“ (10)

Die Kommunistische Partei und die Kommunistische Internationale erwogen nicht nur eine Unterstützung der Wahl LaFollettes, sondern sahen auch die Stunde zur Bildung einer „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ in den USA gekommen.

„Die Presse sprach andauernd über die nahe bevorstehende Bildung einer Arbeiter- und Farmerpartei in Amerika zum Sturze des Kapitals, auf einer nicht rein proletarischen, ,aber klassenmäßigen’ Grundlage. Was der ‚nicht proletarische, aber klassenmäßige’ Charakter bedeuten sollte, konnte kein Weiser weder diesseits noch jenseits des Ozeans deuten. Letzten Endes war das ja nur eine pepperisierte Ausgabe des Gedankens einer ‚gemeinsamen Arbeiter- und Bauernpartei’, auf die wir noch in Verbindung mit den Lehren der chinesischen Revolution ausführlicher zu sprechen kommen. Hier genügt es nur festzustellen, dass diese reaktionäre Idee von nichtproletarischen, aber klassenmäßigen Parteien voll und ganz der pseudolinken Politik des Jahres 1924 entsprungen ist, welche sich, da sie den Boden unter den Füßen verlor, an Radic, La Follette und an die aufgebauschten Zahlen der Bauerninternationale klammerte.“ (11)

Das opportunistische Abenteuer in den USA endete abrupt, nachdem sich die FührerInnen der „Progressiven Partei“ als Anti-KommunistInnenen erwiesen hatten und jede Unterstützung durch die KommunistInnen ablehnten. Damit verschwand auch das Projekt der ArbeiterInnen- und Bauernpartei in den USA stillschweigend von der Bildfläche, die von der Kommunistischen Partei vorsorglich schon gegründet worden war.

Die Politik des Jahres 1924 ist so wichtig, weil diese opportunistischen Fehler später in der chinesischen Revolution und bei der Charakterisierung der Guomindang (Kuomintang) in einem weit größeren, tragischen Maße wiederholt werden sollten.

Die Idee der ArbeiterInnen- und Bauernpartei selbst stellt keine „kluge Taktik“, sondern einen fundamentalen Bruch mit dem Marxismus dar. Es geht dabei nicht darum, ob KommunistInnen in eine solche Formation intervenieren sollen oder nicht. In den Diskussionen in den USA ging es darum, eine solche „Zwei-Klassen-Partei“ selbst zu schaffen. Das bedeutet jedoch, dass die KommunistInnen ihr Ziel, ja den Kampf um eine Partei, die auf einem revolutionären, sozialistischen Programm fußt, aufgeben müssen. Schließlich kann eine Partei, die sich einerseits auf das Proletariat, andererseits auf eine Klasse von KleineigentümerInnen und kleinen WarenproduzentInnen stützt, nicht konsequent kommunistisch, also für die Abschaffung der Warenproduktion, sein.

Eine solche Partei würde allenfalls eine linke Neuauflage der russischen SozialrevolutionärInnen darstellen – samt all ihrer inneren Widersprüche.

Die Kommunistische Internationale wandte sich nach dem Fiasko in den USA Ende 1924 von der Ausrichtung auf die Bauernschaft und der Schaffung von ArbeiterInnen- und Bauernparteien ab. Sie vollzog diesen Schritt aber aus rein empirischen Gründen, aufgrund des offenkundigen und peinlichen Scheiterns des opportunistischen Abenteuers. Eine gründliche Bilanz und Selbstkritik blieben aus. Kein Wunder also, dass sich die Tragödie wiederholen sollte.

Pilsudski in Polen

Ein weiteres, dramatischeres Beispiel für eine solche Fehleinschätzung ist die Anbiederung an die Militärregierung Pilsudski 1926. Die Kommunistische Internationale vollzog schon 1925 politisch eine Rechtswende, die sich in der Kodifizierung der Ideologie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land und der rechten Politik in der Sowjetunion (inklusive der dafür notwendigen programmatischen Verrenkungen) selbst äußerte; sie forcierte die Bereicherung der mittleren und größeren Bauern auf dem Land und wandte sich gegen eine rasche Industrialisierung der Sowjetunion.

Außenpolitisch sind die wichtigsten Beispiele für diese Wende das „anglo-russische Gewerkschaftskomitee“ und die rechte, opportunistische Politik in China. Die strategische Ausrichtung auf die „demokratische Diktatur der ArbeiterInnen- und Bauern“, die Lenin und die Bolschewiki in der russischen Revolution hinter sich gelassen hatten, wurde wiederbelebt – nicht nur in kolonialen und halb-kolonialen Ländern wie China, Indien oder der Türkei, sondern auch in Polen.

Anschließend an die oben beschriebenen ersten Vorstöße sind die politischen Entwicklungen 1926 für die Diskussion gegenüber kleinbürgerlichen, „radikalen“ wie reaktionären Kräften entscheidend. In diesem Jahr putschte der polnische Marschall Pilsudsiki und errichtete eine bonapartistische Diktatur.

Bei seinem Staatsstreich im Mai 1926 stützte er sich nicht nur auf ganze Regimenter der polnischen Armee, sondern auch auf die Bauernschaft sowie unzufriedene Teile des städtischen Kleinbürgertums und der ArbeiterInnenklasse. Das korrupte, politisch instabile und wenig handlungsfähige Parteiensystem war den Massen verhasst. Die verschiedenen Fraktionen des polnischen „Liberalismus“ stritten im Parlament vor allem um ihre Pfründe und ihren Anteil an den Profiten in einem krisengeschüttelten kapitalistischen System.

Pilsudski, der schon im Krieg gegen die Rote Armee Staatschef und Oberkommandierender der Armee war, präsentierte sich als „Retter der Nation“ vor einem korrupten Parteiensystem – heute würde man „Establishment“ sagen. Der glühende Anti-Kommunist gab sich zugleich als „sozial“ und „volksnah“, wobei ihm seine Wurzeln im nationalistischen Flügel des polnischen Sozialismus (der PPS) zugutekamen. Die PPS selbst stand der Machtergreifung positiv gegenüber, auch wenn sie sich nach 1926 formell als Oppositionspartei präsentierte.

Die Polnische Kommunistische Partei, deren Führung sich dem Kurs der Sowjetbürokratie unter Stalin anzupassen suchte, interpretierte den Putsch Pilsudskis im Sinne der rechten Politik der Kommunistischen Internationale als einen Schritt zur „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern“ und rief die ArbeiterInnenklasse zur Unterstützung der Machtergreifung auf.

Die Realität der Diktatur Pilsudiskis zwang die polnische Partei nicht nur zu einer raschen Korrektur, sondern sogar zu einer kritischen Bilanz ihres verheerenden Fehlers, ohne jedoch dessen Ursachen zu erfassen. Im Juli 1926 trat das Exekutivkomitee der KI zusammen und Warski legte im Namen der Partei eine Selbstkritik vor. In der Diskussion konnte auch Trotzki das Wort ergreifen. Sein Beitrag ist von Interesse, weil er die politischen Ursachen des Aufstiegs Pilsudiskis untersucht. Zweifellos enthält Trotzkis eigene Einschätzung die Schwäche, die Diktatur Pilsudskis (im Gegensatz zu Isaac Deutscher und der späteren polnischen Linksopposition) als Form des „Faschismus“ zu bezeichnen. Nichtsdestotrotz liefert Trotzki eine kurze, treffende Analyse des Zusammenwirkens von Krise, Radikalisierung im KleinbürgerInnentum und einer „präventiven Konterrevolution“. Zusammenfassend charakterisierte Trotzki den Putsch folgendermaßen:

„Das ist eine antiparlamentarische und vor allem antiproletarische Konterrevolution, mit deren Hilfe die niedergehende Bourgeoisie – und zumindest für einige Zeit nicht ohne Erfolg – versucht, ihre grundlegenden Positionen zu verteidigen und zu halten.“ (12)

Der Pilsduski-Putsch versuchte, so Trotzki, ähnlich wie der Faschismus in Italien (und am linken Flügel der bürgerlichen Revolution in Frankreich der Jakobinismus) die bürgerliche Ordnung mit den Mitteln einer kleinbürgerlichen Bewegung zu retten, die sich selbst gegen die traditionellen bürgerlichen parlamentarischen Herrschaftsformen wandte, die der Bourgeoisie nicht mehr die reibungslose Herrschaft sichern können. Aber die Bourgeoisie fürchtet zugleich die Turbulenzen, Erschütterungen, Verwerfungen, die eine solche Mobilisierung mit sich bringt. Das erklärt auch den Konflikt zwischen der rechten Reaktion vom rechten Populismus bis hin zum Faschismus einerseits und den traditionellen Parteien der Bourgeoisie andererseits, da die Errichtung einer autoritären oder bonapartistischen Herrschaft sowie eine Reorganisation der Herrschaftsform und Institutionen immer eine Periode der Instabilität einschließt (bis hin zur Institutionalisierung eines präventiven Bürgerkrieges).

In seinem Beitrag nimmt Trotzki dabei Bezug auf einen Einwand Warskis. Dieser weist darauf hin, dass die parlamentarische Demokratie doch die eigentliche politische Domäne des KleinbürgerInnentums wäre. Trotzki entgegnet darauf folgendermaßen:

„Jedoch nicht immer und nicht unter allen Bedingungen. Sie kann ihre Leuchtkraft auch verlieren, dahindämmern und mehr und mehr ihre Schwächen zeigen. Und da sich die Großbourgeoisie auch in einer Sackgasse befindet, wird die parlamentarische Demokratie zu einem Spiegel einer ausweglosen Situation und des Niedergangs der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Das Kleinbürgertum, das dem Parlamentarismus eine so große Bedeutung zugemessen hat, beginnt selbst, dessen Last zu fühlen und nach außerparlamentarischen Auswegen zu suchen. Der Pisludskismus ist ein Versuch, auf die Probleme des Kleinbürgertums eine außerparlamentarische Antwort zu geben. Aber darin liegt auch schon die Ursache für die unvermeidliche Kapitulation vor der Großbourgeoisie. (…) Auf den ersten Blick erscheint es, als würde sich das Kleinbürgertum mit dem Schwert in der Hand gegen das bürgerliche Regime wenden, aber seine Revolte endet mit der Übergabe der Macht an die große Bourgeoisie durch ihre eigenen Führer, jener Macht, die sie auf dem Weg des Blutbades ergriffen hat.“ (13)

Entscheidend ist die Betrachtung des Kleinbürgertum und der Mittelschichten in Krisenperioden, auch wenn Trotzki 1926 eine Tendenz an den Tag legt, diese Reaktionen unisono als mehr oder weniger entwickelte Formen des Faschismus zu charakterisieren. Ohne Probleme lässt sich die Analyse aber auch auf andere, nicht-faschistische Formen „populistischer“ Kräfte anwenden. KleinbürgerInnen und Mittelschichten (bis hin zu Teilen der ArbeiterInnenklasse) verlieren in der Krise ihr Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und suchen nach „außerparlamentarischen“ Alternativen, die gegen die etablierten Formen demokratischer Herrschaft und die diese tragenden Parteien gerichtet sind.

Der Fehler der KP lag aber darin, dies als Ausdruck der wirklichen Bedürfnisse des KleinbürgerInnentums zu interpretieren und damit zu ignorieren, dass es vielmehr eine reaktionäre kleinbürgerliche Bewegung war, die nur zu einer Errichtung der Herrschaft der Großbourgeoisie, wenn auch in anderer Form (autoritäre Diktatur) führen konnte. Damit verweist er schon darauf, dass jede solche Bewegung, wo sie an die politische Macht kommt, dazu tendiert, autoritäre oder bonapartistische Herrschaftsformen zu etablieren, die politische Macht in „einer Hand“ zu konzentrieren und damit die Machtmittel gegen die ArbeiterInnenklasse weiter zu zentralisieren und zu festigen.

Der Grundfehler in der Analyse besteht dabei darin, das KleinbürgerInnentum oder die Mittelschichten als eine selbstständige politische Kraft zu betrachten, die unabhängig von den Hauptklassen ein eigenes Regime, im Falle der stalinisierten Kommunistischen Internationale, eine „demokratische Diktatur“ errichten könne.

Deutschland: „Volksrevolution“ oder proletarische Revolution?

Auch die KPD vertrat in den 1920er Jahren und insbesondere auch ihrer ultra-linken Periode einige Abweichungen Richtung Populismus und Nationalismus, die verdeutlichen, welche Fehler eine falsche Klassenanalyse mit sich bringt.

Dabei wurden zwei miteinander verbundene Fragestellungen diskutiert. Erstens warfen die Bedingungen des Versailler Friedens die Frage auf, ob Deutschland noch eine imperialistische Macht oder vielleicht schon eine Halbkolonie geworden wäre und somit der Kampf gegen das „Diktat von Versaille“ eine ungewöhnliche Form des Antiimperialismus darstellen würde. Aus dieser (falschen) Analyse speiste sich nicht nur die reaktionäre Strömung des „National-Bolschewismus“, sondern auch die Position Thalheimers, der der deutschen Bourgeoisie im Kampf gegen die Ruhr-Besetzung eine „objektiv revolutionäre Außenpolitik“ attestierte. Die sogenannte „Schlageter-Rede“ Radeks vor dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale stellte eine extrem opportunistische Spielart der Anpassung an die nationalistischen Stimmungen des Kleinbürgertums dar.

Schlageter war ein Angehöriger der Freikorps und der „Großdeutschen Arbeiterpartei“, einer NSDAP-Tarnorganisation. Im Widerstand gegen die Ruhrbesetzung durch Frankreich im Jahr 1923 wurde er festgenommen, von einem französischen Militärgericht wegen Sabotage und mehrerer Sprengstoffanschläge verurteilt und exekutiert.

In seiner Rede vom Juni 1923 ehrt Radek den „mutigen Soldaten der Konterrevolution“, der es verdiene, „von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden.“ Und weiter: „Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden. (…) Die Sache des Volkes zur Sache der Nation gemacht, macht die Sache der Nation zur Sache des Volkes.“ (14)

Radek und für einige Zeit auch die KPD-Führung hofften, durch eine extreme Anpassung an die rechten ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen diese für „die Sache der Revolution“ zu gewinnen. In Wirklichkeit hat dieser Kurs wie alle anderen nationalistischen Anpassungen nur die eigenen Reihen verwirrt und den Internationalismus geschwächt. Zugute kam diese Linie den Rechten, die sie als Bestätigung ihrer nationalistischen Ideologie ausschlachteten, und der Sozialdemokratie, die jedes dieser reaktionären Abenteuer ausnutzte, um die reformistischen ArbeiterInnen gegen die Agitation und Propaganda der KPD zu immunisieren. Oft genug stellten die nationalistischen Anpassungen die Grundlage für die andere Seite der Sozialfaschismustheorie dar.

Besonders dramatisch zeigte sich diese Anbiederung beim sog. „Roten Volksentscheid“ und der „Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des Deutschen Volkes“ (15) aus dem Jahr 1930. Die Revolution wurde zur „Volksrevolution“. Diese nationalistische Propaganda war die Kehrseite der ultralinken Weigerung, die Sozialdemokratie zur Bildung einer Einheitsfront gegen den Faschismus aufzufordern. Die Ersetzung des Begriffs der proletarischen Revolution durch die „Volksrevolution“ kritisierte Trotzki scharf und klar:

„Natürlich ist jede große Revolution eine Volksrevolution oder nationale Revolution in dem Sinne, daß sie alle lebensfähigen und schöpferischen Kräfte der Nation um die revolutionäre Klasse schart, die Nation um einen neuen Kern herum organisiert. Aber das ist keine Kampfparole, sondern eine soziologische Beschreibung der Revolution, die ihrerseits genaue und konkrete Begriffe erfordert. ‚Volksrevolution’ als Slogan ist eine Leerformel, Scharlatanerie; macht man den Faschisten auf diese Art Konkurrenz, so ist der Preis, daß man die Köpfe der Arbeiter mit Verwirrung erfüllt.“ (16)

Und weiter:

„Nun die neue Wendung: Volksrevolution anstelle der proletarischen Revolution. Der Faschist Strasser sagt: 95 Prozent der Bevölkerung haben Interesse an der Revolution, folglich ist das keine Klassen-, sondern eine Volksrevolution. Thälmann stimmt in den Chor ein. Die Arbeiter-Kommunisten müßten dem faschistischen Arbeiter sagen: Natürlich werden 95, wenn nicht 98 Prozent der Bevölkerung vom Finanzkapital ausgebeutet. Aber diese Ausbeutung ist hierarchisch organisiert: es gibt Ausbeuter, Nebenausbeuter, Hilfsausbeuter usw. Nur dank dieser Hierarchie herrschen die Oberausbeuter über die Mehrheit der Bevölkerung. Damit sich die Nation tatsächlich um einen neuen Klassenkern reorganisieren kann, muß sie ideologisch reorganisiert werden, und das ist nur möglich, wenn sich das Proletariat selbst nicht im ‚Volk’ oder in der ‚Nation’ auflöst sondern im Gegenteil ein Programm seiner proletarischen Revolution entwickelt und das Kleinbürgertum zwingt, zwischen zwei Regimen zu wählen. Die Losung der Volksrevolution lullt das Kleinbürgertum ebenso wie die breiten Massen der Arbeiter ein, versöhnt sie mit der bürgerlich-hierarchischen Struktur des ‚Volkes’ und verzögert ihre Befreiung. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Deutschland vermischt die Losung einer ‚Volksrevolution’ die ideologische Demarkation zwischen Marxismus und Faschismus und versöhnt Teile der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums mit der faschistischen Ideologie, da sie ihnen gestattet, zu glauben, daß sie keine Wahl treffen müssen, wenn es doch in beiden Lagern um eine Volksrevolution geht.“ (17)

Die Methode, die der Politik der KPD unter Thälmann (und teilweise schon davor) zugrunde lag, stellt nicht nur eine politische Anbiederung, sondern auch einen Bruch mit dem marxistischen Verständnis von der Klassenlage des KleinbürgerInnentums dar. Im vorrevolutionären Russland war es für die Fähigkeit des Bolschewismus, das KleinbürgerInnentum in einer proletarischen Revolution zu führen, also die Bauernschaft zu gewinnen, entscheidend, eine unabhängige, eigenständige proletarische Politik zu vertreten und eine dementsprechende Klassenpartei aufzubauen. Das bedeutete nicht, die Nöte und Forderungen kleinbürgerlicher Schichten zu ignorieren; aber die ArbeiterInnenklasse kann diese nur führen, wenn sie konsequent ihr eigenes Klassenprogramm und ihre eigene Klassenpolitik verficht. In Trotzkis Worten: sie muss die Mittelschichten vor eine Wahl stellen zwischen bürgerlichem oder proletarischem Regime.

Der theoretische Vordenker des Linkspopulismus, Ernesto Laclau, greift genau diese Position des revolutionären Marxismus in seinem Buch „Politik und Ideologie des Marxismus“ an. So unterschiedlichen TheoretikerInnen und Linken wie Trotzki, Luxemburg, Poulantzas, Bordiga und Grossmann, ja selbst dem Austro-Marxismus wirft er „Klassenreduktionismus“ vor. Daher verteidigt er auch den Kurs der Schlageter-Rede und Thälmanns National-Kommunismus gegen seine KritikerInnen. Laclau gesteht zwar opportunistische Fehler bei deren Umsetzung zu, sein Hauptkritikpunkt an Radek oder Thälmann besteht aber darin, dass sie sich vom „Klassenreduktionismus“ nicht wirklich frei gemacht und die Anpassung an kleinbürgerliche Schichten nur als taktische Zugeständnisse verstanden hätten. Darauf aufbauend formuliert er seine Alternative:

„Die Arbeiterklasse hätte sich als jene Kraft präsentieren müssen, die die historischen Kämpfe des deutschen Volkes zu ihrem Abschluß führt, und zum Sozialismus als deren Vollendung: Sie hätte auf die Grenzen des Preußentums hinweisen müssen, dessen Zweideutigkeiten und Kompromisse mit den alten herrschenden Klassen zur nationalen Katastrophe geführt hatten, und sie hätte an alle popularen Schichten appellieren müssen, für eine Renaissance zu kämpfen, die sich in gemeinsamen ideologischen Symbolen verdichten ließe: Nationalismus, Sozialismus und Demokratie.“ (18)

Zustimmend zitiert Laclau Dimitrows Rede auf dem 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und begrüßt die Volksfrontpolitik als einen, wenn auch unvollständigen Bruch mit dem „Klassenreduktionismus“.

In der Tat ist die Frage des Verständnisses des KleinbürgerInnentums und seiner lohnabhängigen Schichten eine entscheidende zum Verständnis populistischer Bewegungen. Das unterschiedliche Verständnis markiert auch einen ausschlagebenden Bruchpunkt zwischen Marxismus und Populismus.

Für den Populismus besteht die Antwort auf die Radikalisierung des KleinbürgerInnentums darin, einen strategischen Block des „Volkes“ – von ArbeiterInnenklasse, KleinbürgerInnentum und sogar Teilen der Bourgeoisie – gegen die „Elite“, gegen den bestehenden reaktionären Machtblock zu bilden. Die Politik der KPD in den 1920er Jahren wies – wenn auch auf Grundlage eines formalen Bekenntnisses zur ArbeiterInnenklasse als einzig konsequent revolutionärer Kraft – immer wieder Abgleitflächen zu reaktionären Strömungen des KleinbürgerInnentums und auch zum Faschismus auf.

Die Auswirkungen sind dabei schon verheerend genug: politisch-ideologische Anpassung und die Verwirrung der ArbeiterInnenklasse. Mit der Volksfrontpolitik nimmt das systematische Züge an. An die Stelle eines Zick-Zack-Kurses und eines Abenteurertums, das oft nur episodischen Charakter trug, tritt eine grundlegende Strategie, die zur Unterordnung der proletarischen Revolution unter ein Bündnis mit dem „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie führen muss.

Die Volksfronten in Frankreich und Spanien in den 1930er Jahren führten zur Unterordnung der ArbeiterInnenparteien unter jene des KleinbürgerInnentums und der Bourgeoisie und zu politischen Katastrophen. Die Herrschaft der Volksfront nimmt dabei selbst bonapartistische Züge an, weil die widerstreitenden Klassenkräfte, die sie formieren, nicht nur durch ideologische Verkleisterung gebändigt werden können, sondern die „gemeinsamen“, das heißt bürgerlichen Interessen, im Notfall durch den Staat und seine „Autorität“ gegen die lohnabhängigen und unterdrückten Massen verteidigt werden müssen.

Chinesische Revolution und Guomindang

Die systematische Klassenkollaboration, die in den 1930er Jahren in Frankreich und Spanien als „Volksfront“ ihren konterrevolutionären Charakter offenbarte, wurde von der stalinistischen Kommunistischen Internationale in den kolonialen und halb-kolonialen Ländern schon in den 1920er Jahren ausprobiert. Ihre ersten dramatischen Auswirkungen hatte sie in China im Bündnis mit der Guomindang.

Die Guomindang war 1912 unter Sun Yatsen gegründet worden. Sie war die erste bürgerliche Partei des Landes und umfasste ein breites Spektrum, das von offenen AnhängerInnen der Kapitalistenklasse über Warlords bis zu linkeren intellektuellen Strömungen reichte. Das ideologische Band der Guomindang bildeten die „drei Prinzipien des Volkes“ (Nationalismus, Demokratie und Volkswohlfahrt), die letztlich die Interessen einer ökonomisch schwachen Bourgeoisie zum Ausdruck brachten, die als „gleichberechtige Partnerin“ von den imperialistischen Mächten anerkannt werden wollte.

Unter „Nationalismus“ verstand Sun Yatsen, der Schöpfer der „drei Prinzipien“, von Beginn an nicht nur das Recht auf „Gleichheit“ mit den imperialistischen Mächten, sondern auch auf Vorherrschaft der Han-ChinesInnen in einem Groß-China. Unter „Demokratie“ schwebte ihm keine „Volksherrschaft“, sondern die politische Erziehung der Masse durch aufgeklärte FührerInnen seines Schlages vor. Die „Volkswohlfahrt“ schließlich sollte die Klassengegensätze mildern. Den Klassenkampf lehnte die Sun-Yatsen-Ideologie kategorisch ab. Stattdessen wurde der „Ausgleich“ zwischen allen gesellschaftlichen Kräften versprochen. So sollte zum Beispiel eine Landreform den Armen ihre Rechte sichern, zugleich aber auch denen, die Eigentum besaßen, keine Nachteile bringen.

Der chinesische Kommunismus entwickelte sich ursprünglich aus einer Kritik an und Abgrenzung von der Ideologie der Guomindang. Die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas charakterisierte sie korrekt als bürgerliche Partei, mit der jedoch die Zusammenarbeit gegen den Imperialismus angestrebt wurde.

„Die Zusammenarbeit mit nationalistischen Bewegungen war unter der äußerst wichtigen Bedingung erstrebenswert und notwendig, dass die Unabhängigkeit der proletarischen Organisation erhalten blieb, ‚sei es auch in ihrer Keimform’.“ (19)

Schon bald sollte die KP Chinas unter dem Druck der Kommunistischen Internationale und ihrer BeraterInnen einen Schwenk zum Eintritt in die Guomindang vollziehen. 1922 traten die Kader einzeln ein, 1923 wurde der Beitritt formell beschlossen. Doch nicht nur das. Während das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale im Januar 1923 noch davon sprach, dass die KommunistInnen, auch wenn sie in der Guomindang arbeiten, ihr eigenes Banner keinesfalls einrollen sollten, änderte sich auch diese Position im Laufes des Jahres. Der dritte Kongress der KP Chinas erklärte, dass „die Guomindang die zentrale Kraft der nationalen Revolution sein und eine führende Position einnehmen sollte.“ (20)

Damit war nicht nur der Eintritt vollzogen. Gleichzeitig änderten die KP Chinas und die Kommunistische Internationale auch ihre Einschätzung der Klassendynamik der Revolution. Da die chinesische Revolution bürgerlich sein werde, müsse die Bourgeoisie auch deren führende Kraft sein. Die Argumentationslinie der Menschewiki aus den Jahren 1905 und 1917 wurde zur jenigen der von Stalin geführten Kommunistischen Internationale. Damit blieb der KP nur die Rolle der loyalen Unterstützerin.

Doch nicht nur die menschewistische Etappentheorie der Revolution wurde wiederbelebt, die KP Chinas und die Kommunistische Internationale definierten auch den Klassencharakter der Goumindang neu. Sie galt nun nicht mehr als bürgerliche Partei.

„Die Komintern tat dasselbe und rationalisierte dieses Verwischen der Klassengrenzen, indem sie die Theorie entwickelte, die Guomindang sei nicht die Partei der Bourgeoisie, sondern eine Partei, in der alle Klassen sich vereinigen, um gemeinsame Sache gegen den ausländischen Eindringling zu machen. Diese Auffassung, die zunächst in der Praxis etabliert wurde, fand bald Eingang in die offiziellen Dokumente der Komintern und bestimmte die gesamte zukünftige Richtung ihrer Strategie.“ (21)

Die Kommunistische Internationale stellte ab 1924 die Guomindang als Vorbild für weitere Länder Asiens hin, indem sie diese als Modell zur Schaffung von „ArbeiterInnen- und Bauernparteien“ propagierte. Stalin selbst brachte die Position folgendermaßen auf den Punkt:

„Von der Politik der nationalen Einheitsfront müssen die (…) Kommunisten zur Politik eines revolutionären Blocks zwischen den Arbeitern und der Kleinbourgeoisie übergehen. Dieser Block kann in solchen Ländern die Form einer Einheitspartei, einer Arbeiter-und-Bauernpartei annehmen, etwa nach Art der Kuo-min-tang.“ (22)

Galt die Guomindang noch am Beginn des Eintritts als bürgerliche Partei, so war wenige Jahre später nicht nur ihr Klassencharakter vollkommen auf den Kopf gestellt, die bürgerliche Klasse schien überhaupt aus der Partei verschwunden zu sein. Dumm nur, dass sie in der chinesischen Revolution als Schlächterin der ArbeiterInnenklasse umso sichtbarer auftrat. Trotzki kritisiert diesen Bruch mit dem Marxismus scharf und verweist zugleich die Guomindang als „maskierte Partei“:

„Die berüchtigte Idee der ‚Arbeiter-und-Bauern’-Parteien scheint speziell zur Maskierung der bürgerlichen Parteien geschaffen zu sein, die gezwungen sind, Rückhalt bei den Bauern zu suchen, aber auch bereit sind, Arbeiter in ihre Reihen aufzunehmen. Als nunmehr klassischer Typ einer solchen Partei ist die Guomindang für alle Zeiten in die Geschichte eingegangen.“ (23)

Der Uminterpretation der Guomindang zu einer „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ oder einer „Partei aller Klassen“ liegt auch eine falsche Vereinfachung der politischen Gegensätze im Land zugrunde. In der Kommunistischen Internationale wurde die Lage in China oft als eine Konfrontation zweier Lager interpretiert, die sich unversöhnlich gegenüberstünden. Einerseits das Lager der ImperialistInnen und MilitaristInnen sowie einiger Schichten der chinesischen Bourgeoisie, andererseits das Lager der ArbeiterInnen, HandwerkerInnen, KleinbürgerInnen, StudentInnen, der Intelligenz und einiger Gruppen der national gesinnten Bourgeoisie, gewissermaßen die Urform des „Blocks der vier Klassen“. Trotzki stellt dieser vereinfachten Sicht seine Position gegenüber:

„In der Tat gibt es in China drei Lager: die Reaktion, die liberale Bourgeoisie und das Proletariat, das um Einfluß auf die unteren Schichten des Kleinbürgertums und der Bauernschaft kämpft.“ (24)

Trotzki betrachtet hier den Kampf um die chinesische Revolution als Kampf der gesellschaftlichen Hauptklassen, die um den Einfluss in den kleinbürgerlichen Massen ringen. Die Vorstellung zweier klassenübergreifender Lager hingegen bedeutet, die selbstständige Politik der ArbeiterInnenklasse im „Block“ aufzulösen und hintanzustellen. Parteien wie die Guomindang tragen im Übrigen dazu bei, eine solche falsche Einheit und den Schein zweier Lager selbst zu erzeugen:

„Die Guomindang in ihrer jetzigen Gestalt schafft die Illusion zweier Lager, indem sie an der nationalrevolutionären Maskierung der Bourgeoisie mitwirkt und folglich deren Verrat erleichtert.“ (25)

Nur wenn die Revolution als eine begriffen wird, in der die ArbeiterInnenklasse um die politische Führung über die Volksmassen (also die Bauernschaft) mit den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie (Liberale und Reaktion) ringt, kann auch die Frage der Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse, gestützt auf die Bauernschaft, als Aufgabe verstanden werden. Genau diese Sicht auf die eigentliche Dynamik der chinesischen Revolution wird verschleiert, wenn sie als Kampf zweier bürgerlicher „Lager“, eines „fortschrittlichen“ und eines „reaktionären“, begriffen wird. Dann kann die Revolution praktisch nur mit Sieg der Reaktion oder der zum „Volk“ verklärten bürgerlich-demokratischen Bourgeoisie enden. Damit ist die Unterordnung des Proletariats folgerichtig – einschließlich all seiner tragischen Opfer.

Der reaktionäre Gehalt der „klassenübergreifenden“ oder der „ArbeiterInnen- und Bauernpartei“ wird hier ebenso offenbar wie jener der Vorstellung, dass sich in einem Land nicht antagonistische Klasse gegenüberstünden, sondern „Lager“, die ihrerseits heterogene Klassenkräfte als scheinbar gleiche PartnerInnen umfassen. In Wirklichkeit kann das nur bedeuten, dass die ArbeiterInnenklasse ihre unmittelbaren wie historischen Interessen den anderen Klassen im Lager, also deren bürgerlicher Führung, unterordnet.

Die Kommunistische Internationale hat den chinesischen Fehler in zahlreichen Kolonien und Halbkolonien wiederholt. Aber auch in der Volksfrontpolitik findet sich das falsche Konzept verschiedener „Lager“ wieder. So wird z. B. der Kampf gegen den Faschismus nicht als einer zwischen der Bourgeoisie, einer reaktionären Massenbewegung (die letztlich auch zu einer neuen bürgerlichen Ordnung führt) und der ArbeiterInnenklasse begriffen, die um die politische Führung und klassenmäßige Neuorganisation des Landes ringen, sondern auf einen zwischen „Faschismus“ und „Demokratie“ verkürzt. In der spanischen Revolution wurden ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft mit äußerster Brutalität und dem ganzen repressiven Apparat des Stalinismus in die Volksfront gezwungen (oder liquidiert) – mit dem Resultat einer vernichtenden Niederlage, die in ihrer historischen Bedeutung jener der chinesischen Revolution gleichkommt.

Volksfrontparteien in Lateinamerika

Ende der 1930er Jahre zwangen die Entwicklungen in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern die revolutionäre Linke zu einer Beschäftigung mit links-bürgerlichen Bewegungen und Regimen, die sich auch auf bedeutende Teile der Bauernschaft und der ArbeiterInnenklasse stützten.

Bedeutendes Beispiel für diese Entwicklung waren die 1924 unter Führung des Peruaners Haya de la Torre gegründete APRA, die auf ihrem Höhepunkt in Peru, Chile, Kuba, Argentinien, Mexiko, Costa Rica und Haiti aktiv war. Ursprünglich war sie eine populistische, anti-imperialistische Bewegung auf der Basis eines Fünf-Punkte-Programms: Aktionen gegen den Yankee-Imperialismus; für Industrialisierung und Landreform; lateinamerikanische Einheit; Internationalisierung des Panama-Kanals und Solidarität aller unterdrückten Völker und Klassen. Präsentierte sich die APRA in den 1930er Jahren noch als revolutionär-demokratisch, so vollzog de la Torre nach dem Zweiten Weltkrieg einen scharfen Schwenk nach rechts, um die Legalisierung seiner Partei zu erreichen.

Das andere wichtige Beispiel der Entwicklung linker populistischer Parteien in Lateinamerika der Zwischenkriegszeit stellt die mexikanische PRM dar (Partido de la Revolución Mexicana; dt: Partei der mexikanischen Revolution). Gegründet wurde die Partei 1929 vom damaligen Präsidenten Mexikos, Plutarco Elías Calles. Unter Cárdenas, der von 1934–1940 Präsident war, wurde die Partei nicht nur umbenannt, sondern auch von oben vereinheitlicht und straff reorganisiert. 1946 hieß sie schließlich „Partido Revolucionario Institucional (PRI; dt: Partei der Institutionalisierten Revolution).

Trotzki konnte zwischen der APRA, der PRM, der Guomindang und den SozialrevolutionärInnen leicht Parallelen ziehen.

Gegen allzu euphorische Illusionen in den „linken“ Populisten de la Torre unterzogen Trotzki und Diego Rivera sein Programm einer scharfen Kritik. Dabei begnügten sie sich nicht damit, de la Torre nachzuweisen, dass er kein Sozialist war. Vielmehr zeigten sie, dass er auch kein „konsequenter“ Demokrat war und sein bürgerlicher „Antiimperialismus“ auf tönernen Füßen stand.

Ähnlich wie kleinbürgerliche oder bürgerliche NationalistInnen heute kritisierte de la Torre nicht nur den Chauvinismus und die Anpassung der ArbeiterInnenklassen der imperialistischen Länder an „ihre Bourgeoisie“ scharf. Er folgerte daraus, dass die Lohnabhängigen in den westlichen Ländern überhaupt nicht zur gemeinsamen Aktion und zum solidarischen Kampf gegen den Imperialismus fähig wären, also nicht zu einer revolutionären Klasse werden könnten.

Die Massen Lateinamerikas sollten daher ihre Hoffnungen auf einen gemeinsamen Kampf mit dem internationalen Proletariat fallen lassen und stattdessen auf die klassenübergreifende Einheit des „Volkes“ – der ArbeiterInnen, der Bauern und der „nationalen Bourgeoisie“ – setzen. Daher war die APRA auch von Beginn an als eine klassenübergreifende Partei konzipiert, in der ähnlich wie in der Guomindang nicht die Masse der bäuerlichen, kleinbürgerlichen oder proletarischen AnhängerInnen, die sich als KämpferInnen und AktivistInnen bewähren sollten, sondern eine kleine Schicht bürgerlicher Intellektueller das Sagen hatte.

Hier offenbart sich eine reaktionäre Facette des linken Populismus und des kleinbürgerlichen Nationalismus, die auch heute noch weit verbreitet ist. Während scheinbar radikal der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern jede Möglichkeit zur revolutionären Entwicklung abgesprochen wird, wird gleichzeitig auch die Notwendigkeit der Klassenunabhängigkeit in den halb-kolonialen und kolonialen Ländern beiseitegeschoben. Die ArbeiterInnenklasse geht in der „Volkspartei“, im „Volk“ auf. In Analogie zur französischen Volksfront charakterisiert Trotzki daher auch Parteien wie die APRA als eine „Volksfront in Parteiform“.

„Die Goumindang in China, die PRM in Mexiko und die APRA in Peru sind sehr ähnliche Organisationen. Sie sind die Volksfront in der Form einer Partei.“ (26)

Das zweite mit dieser scheinbar „radikalen“ Haltung gegenüber der westlichen ArbeiterInnenklasse verbundene Problem besteht darin, dass sich auch PopulistInnen vom Schlage de la Torres in der Stunde der Not, als zum Beispiel die Gefahr des Vormarsches des Faschismus in Lateinamerika drohte, nach internationalen Verbündeten umsehen müssen. Da es die globale oder die US-amerikanische ArbeiterInnenklasse nicht sein kann, findet der „Anti-Imperialist“ de la Torre die Retterin der Völker Lateinamerikas bei einer anderen Klasse, der imperialistischen Bourgeoisie der USA unter Roosevelt. Darauf verweisen Trotzki und Rivera, wenn sie de la Torre als „schlechten Demokraten“ bezeichnen. An diesem Beispiel zeigt sich nämlich einmal mehr, dass die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen zu einem konsequenten Anti-Imperialismus, zu einem konsequenten Kampf für die bürgerliche Revolution nicht fähig ist, dass sie im Zweifelsfall den Beistand der herrschenden Klasse der imperialistischen Länder sucht.

Dies hängt unmittelbar mit den Klassenzielen der halb-kolonialen Bourgeoisie selbst zusammen. Sie richtet sich gegen den Imperialismus nur insofern, als sie selbst zu einer mächtigeren Kraft – im Idealfall zu einer imperialistischen Bourgeoisie – aufsteigen will. Dies ist, so weit bleibt die bürgerliche Klasse der unterdrückten Länder „realistisch“, nur in Ausnahmefällen und mit viel Risiko möglich, da die globalen Machtbeziehungen selbst grundlegend verändert werden müssten. Daher sucht die Bourgeoisie der halb-kolonialen Länder, selbst wenn sie Maßnahmen gegen das Auslandskapital oder einzelne imperialistische Länder ergreift, immer auch nach einem Kompromiss, letztlich nur einen etwas sonnigeren Platz in der imperialistischen Arbeitsteilung.

Die „Parteien in Form der Volksfront“ müssen dieser Zielsetzung entsprechen. Das betrifft einerseits ihre klassenversöhnlerische, populistische Ideologie. Andererseits muss auch in der inneren Organisation die Vorherrschaft der bürgerlichen Kräfte gesichert sein. Die interne Parteidemokratie, sofern vorhanden, wird daher immer eingeschränkt und trägt notwendigerweise einen plebiszitären Charakter. Fraktionen und politische Strömungen stehen dem entgegen.

Die „Demokratie“ wird stattdessen auf einzelne charismatische FührerInnen zugeschnitten, die sich durch ständige Zustimmung bestätigen lassen. Caudillismus und politischer Machismus sind keine zufälligen Erscheinungen, sondern folgerichtige Ausdrücke des inneren Verhältnisses zwischen den widerstreitenden Kräften einer solchen Partei. So wie im bonapartistischen Regime der „starke Mann“ scheinbar über den Klassen steht, so verlangt die volksfrontartige Partei nach einer Führungsfigur, die scheinbar über ihren Fraktionen, also über den Klassen in der Partei, steht – und auf diese Art die Hegemonie bürgerlicher Interessen sichert.

Anders als den imperialistischen Ländern, wo die Volksfront eines der letzten Mittel gegen die proletarische Revolution darstellt, muss die Volksfront in Lateinamerika wie generell in der halb-kolonialen Welt differenzierter betrachtet werden:

„Natürlich hat die Volksfront in Lateinamerika nicht denselben reaktionären Charakter wie in Frankreich oder Spanien. Sie ist zweiseitig. Sie kann eine reaktionäre Eigenschaft aufweisen, insofern sie gegen die ArbeiterInnen gerichtet ist; sie besitzt ein aggressives Merkmal, insofern sie gegen den Imperialismus gerichtet ist.“ (27)

Das liefert nicht nur die Grundlage, sondern auch die Notwendigkeit der gemeinsamen Aktion, der anti-imperialistischen Einheitsfront im Kampf gegen nationale Unterdrückung, gegen innere und äußere Reaktion – bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen politischen Unabhängigkeit. Ziel muss jedoch trotzdem immer das Zerbrechen der illusorischen „Einheit“ der Klassen, die Errichtung einer eigenständigen, revolutionären ArbeiterInnenpartei sein.

Im Zusammenhang mit der mexikanischen PRM analysiert Trotzki jedoch nicht nur ein populistische Partei in Opposition (wie die APRA), sondern an der Regierung. Die Besonderheiten dieser Rolle hängen dabei selbst mit dem Klassencharakter der Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern zusammen.

„In den industriell rückständigen Ländern spielt das Auslandskapital eine entscheidende Rolle. Daher auch die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Verhältnis zur nationalen ArbeiterInnenklasse… Die Regierung schwankt zwischen ausländischem und heimischem Kapital, zwischen einer schwachen nationalen Bourgeoisie und einem relativ machtvollen Proletariat. Dies verleiht der Regierung einen bonapartistischen Charakter eigener Art (sui generis). Sie erhebt sich sozusagen über die Klassen. Tatsächlich kann sie entweder regieren, indem sie sich zum Instrument des ausländischen Kapitalismus macht und das Proletariat an die Ketten eine Polizeidiktatur fesselt, oder indem sie gegenüber dem Proletariat manövriert und sogar so weit geht, diesem Zugeständnisse zu machen, und sich daher die Möglichkeit gewisser Freiheiten gegenüber den ausländischen KapitalistInnen verschafft.“ (28)

Wo eine solche bonapartische Regierung gegen das imperialistische Kapital vorgeht, in Konflikt mit der Reaktion gerät oder fortschrittliche Reformen (Verstaatlichung, Landreform, …) durchführt, eröffnet sich die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, gemeinsam gegen die Reaktion zu kämpfen, müssen Forderungen an die populistische Partei und Regierung gestellt werden, um den Kampf voranzutreiben. Dabei müssen auch demokratische Spielräume wie die zugestandenen Mitbestimmungsrechte auf revolutionäre Art genutzt werden, wie Trotzki betont. Aber all das muss immer mit dem Kampf um die Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse verbunden werden, um die Partei aus der Umklammerung in der Volksfront zu lösen.

Mehr noch als die oppositionelle populistische Partei tendiert nämlich die Volksfrontpartei an der Regierung dazu, die ArbeiterInnenklasse an den Rand zu drängen, selbst wenn sie sich anti-imperialistisch oder fortschrittlich gibt und progressive Reformen durchführt.

Ein Mechanismus besteht darin, dass die „Volksfrontpartei“ und erst recht ein bonapartistisches Regime der besonderen Art die Bauernschaft als gesellschaftliche Kraft zur Disziplinierung und Unterordnung der ArbeiterInnenklasse nutzt:

„Selbst unter diesen halbbonapartistisch-demokratischen Regierungen benötigt der Staat die Unterstützung der Bauernschaft und diszipliniert durch das Gewicht der Bauern die ArbeiterInnen.“ (29)

Hinzu kommt, dass die populistische Partei an der Macht über ganz andere Mittel zur Integration der ArbeiterInnenklasse und zur Ausschaltung oppositioneller Strömungen verfügt als eine Oppositionspartei. Die links-bonapartistischen Regime drängen auf die Verschmelzung von bürgerlichem Staat und ArbeiterInnenorganisationen, auf die systematischen Inkorporation nicht nur der zur „Einheitspartei“ werdenden populistischen Partei, sondern auch der Gewerkschaften.

Die historische Erfahrung mit links-nationalistischen und populistischen Regimen zeigt weitere, für die Politik der ArbeiterInnenklasse wesentliche Phänomene. Erstens dürfen „Demokratie“ und „Halbbonapartismus“ bzw. Bonapartismus sui generis nicht starr als einander ausschließende Gegensätze gefasst werden. Vielmehr kombiniert der linke Bonapartismus oft beide und schafft somit auch eine Quelle für demokratische Illusionen in sein Regime.

Zweitens können, wie nicht zuletzt die Geschichte Mexikos zeigt, linke bonapartistische Regime zu rechten, pro-imperialistischen Parteien mutieren – und die Unterordnung der ArbeiterInnenklasse unter die „Volksmasse“, die Verstaatlichung der Gewerkschaften können zu einer totalitären Herrschaftsform beitragen.

Trotzkis Analyse der chinesischen Revolution und der Lage in Lateinamerika hilft, die gesellschaftlichen Wurzeln des Populismus, die Entstehung rechter wie linker kleinbürgerlicher Bewegungen oder volksfrontartiger Parteien zu verstehen. Gerade indem er sie in Verbindung zu den Klassenverhältnissen setzt, vermag er herauszuarbeiten, dass die scheinbar klassenübergreifende Partei und Formation im Endeffekt immer eine ist, die die ArbeiterInnenklasse an einen Flügel der Bourgeoisie – entweder direkt über die bürgerlichen Kräfte in einer „Volksfront in Parteiform“ oder über das Kleinbürgertum – bindet und dieser unterordnet.

Dass sich diese Parteien in Klassenkämpfen, revolutionären Zuspitzungen oder an der Regierung an einem bestimmen Punkt offen gegen die ArbeiterInnenklasse wenden, ist daher kein Zufall, sondern entspringt der inneren Notwendigkeit jeder populistischen Partei. Sie ist in letzter Instanz eine bürgerliche Partei und damit auch Vertreterin der Interessen der herrschenden Klasse. Bündnisse der ArbeiterInnenklasse – so notwendig sie auch sein mögen – können immer nur begrenzter und zeitweiliger Art sein und sind nur auf der Basis der politischen Unabhängigkeit der Klasse zulässig.

Populismus

Auch wenn Lenin und Trotzki selbst nur selten den Begriff des Populismus verwenden, können wir doch einige Schlussfolgerungen aus ihrem Verständnis dieses politischen Phänomens ziehen.

Die historische Grundlage einer marxistischen Analyse des Populismus setzt sich aus drei Teilen zusammen. Zum ersten der Auseinandersetzung mit Kräften, die im Widerstand gegen kapitalistische Umwälzungen ein gemeinsames Interesse des Volkes an einem idealisierten, harmonischen und natürlichen Zustand der Gesellschaft vortäuschen. Das wichtigste Beispiel, auch für die Taktiken der KommunistInnen gegen solche Kräfte, sind die VolksfreundInnen im vorrevolutionären Russland, aber auch jene Strömumgen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus herausgebildet haben. Die Auseinandersetzungen tragen den Kern der politischen Kritik, aber auch Beispiele für eine prinzipienfeste Herangehensweise an diese Kräfte in sich.

Zweitens ist der marxistische Begriff des Bonapartismus, der schon bei Marx vorkommt, aber von Trotzki systematisch angewandt wird, entscheidend. In einem Moment, in dem sich die Hauptklassen gegenseitig an der effektiven Machtausübung hindern, wird das Versprechen gemacht, sich über den Klassengegensatz und seine (oft bürgerlich-demokratischen) Institutionen hinwegzusetzen. Die Autorität des bonapartistischen Regimes ergibt sich aus der Zustimmung der Massen. Ihre Programme beinhalten oft großmundige Versprechen an die ArbeiterInnen, aber setzen notwendigerweise das Programm der KapitalistInnen um. Der Populismus verspricht (den Herrschenden), dasselbe zugrunde liegende Problem zu beheben, und weist ähnliche Bewegungsgesetze auf. Auch der Bezug auf einen starken bürgerlichen Staat zur Absicherung der Herrschaft, sobald die massenhafte Zustimmung abklingt, ist vergleichbar.

Drittens sind die Lehren aus dem Opportunismus der Kommunistischen Internationale ab 1924 in der Anbiederung an nicht-proletarische, populistische Parteien und besonders aus dem versuchten Aufbau von klassenübergreifenden Parteien (ArbeiterInnen- und Bauernparteien und gemeinsamen Formationen mit dem KleinbürgerInnentum) zu ziehen. Dort wird das Aufgeben eines eigenständigen Klassenstandpunkts der ArbeiterInnen zur Bedingung und der Kampf für den Sozialismus als programmatische Ausrichtung unmöglich. Dasselbe gilt für das wiederholte und blutige Scheitern von Versuchen, gemeinsame Parteien mit den KapitalistInnen in der Volksfronttaktik aufzubauen. Das bedeutet eine Unterordnung unter die KapitalistInnen und ihren Staat, der nur als kriminell gegenüber der ArbeiterInnenklasse bezeichnet werden kann. Beide müssen als Warnung vor der Illusion, als RevolutionärInnen mit Populismus erfolgreich sein zu können, ernst genommen werden.

Dazu kommt die Notwendigkeit, die Gemeinsamkeiten der beschriebenen historischen Situationen und politischen Entwicklungen zu erkennen und daraus das Wesen des Populismus herauszuarbeiten.

Populistische Formationen entstehen in gesellschaftlichen Krisensituationen, ja sind selbst Ausdruck ungelöster, großer gesellschaftliche Probleme (Landfrage, nationale Unterdrückung, …). Das KleinbürgerInnentum und die Mittelschichten finden keinen Platz (mehr) in der bürgerlichen Gesellschaft und befürchten den Ruin.

Der Parlamentarismus erfüllt seine Funktion nicht mehr (oder existiert nicht). Auch für die herrschende Klasse selbst erweisen sich die parlamentarische Demokratie und tradierte Formen des Klassenausgleichs als immer weniger tauglich, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Jene Klassen bzw. Klassenschichten, die in relativ stabilen Phasen die Basis für die bürgerliche Demokratie bilden, werden unter solchen Bedingungen (teilweise) zur sozialen Basis des Populismus.

In den Halb-Kolonien erhält der Populismus zusätzlichen Nährboden, weil der bürgerlichen Klasse und dem KleinbürgerInnentum innerhalb der imperialistisch dominierten Weltarbeitsteilung selbst eine schwache gesellschaftliche Position zugewiesen wird. Hier kann der Populismus – anders als in den imperialistischen Ländern – noch Ausdruck progressiver Bewegungen sein, wenn auch unter einer bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Führung.

Der Populismus selbst kann alle Schattierungen im Parteienspektrum, von extrem rechten bis zu „linken“ kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Parteien, durchlaufen.

In jedem Fall muss aber eine „Volkspartei“, eine populistische oder kleinbürgerliche Partei vorgeben, einen gesellschaftlichen Missstand zu beheben, und sich zum Anwalt der „kleinen Leute“, des „Volkes“, der „Massen“ machen – einschließlich einer Dosis „anti-kapitalistischer“ Ideologie (und sei es in einer reaktionären Spielart). Dies ist notwendig, um eine soziale Basis nicht nur in der Elite, sondern auch unter kleinbürgerlichen Massen, den Mittelschichten und selbst Teilen der ArbeiterInnenschaft zu erlangen. Nur so können sie auch zu Mitteln der Dominanz über die ArbeiterInnenklasse werden. Nur so sind sie auch in der Lage, außerparlamentarisch, in Bewegungsform zu mobilisieren.

Das Programm des Populismus selbst gleicht einem Gemischtwarenladen. Dass es in sich widersprüchlich und inkonsistent ist, folgt aus dem Charakter der populistischen Partei selbst, die unversöhnliche gesellschaftliche Interessen zu vereinen vorgibt. Daher muss das Programm immer einen reaktionären, illusorischen und demagogischen Charakter tragen, verspricht es doch die Wiederherstellung besserer Zustände für eine zum Untergang verurteilte Klasse (das KleinbürgerInnentum, die Opfer der Konkurrenz, …) und die Wiederherstellung einer angeblich zerstörten gesellschaftlichen Harmonie, wo alle Klassen gleich gewesen wären.

So sehr der Populismus gegen die (vermeintliche oder wirkliche) Elite hetzen mag, so laufen alle seine politischen Bewegungen letztlich darauf hinaus, den bürgerlichen Staat, den Staat der Elite, selbst in die Hände zu bekommen und als Instrument zur Umsetzung seiner Versprechen zu nutzen. Immer zielt seine Politik auf einen „starken“ bürgerlichen Staatsapparat, auf die Stärkung der repressiven, unterdrückerischen Formationen des bürgerlichen Regimes.

An der Macht muss eine solche Partei zu einem Herrschaftsinstrument des Kapitals werden – auch wenn die Wirtschaftspolitik sehr unterschiedlich ausfallen mag, von einer staatkapitalistischen bis hin zu einer neo-liberalen Ausrichtung.

Die marxistische Untersuchung der Klassentriebkräfte ergab: Die Grundlage des Populismus, und das gilt besonders für die Volksfront als seine linke Spielart, ist es, den Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital (und damit die Frage des Verhältnisses von ArbeiterInnenklasse zu KapitalistInnen und KleinbürgerInnentum) durch einen einfacheren Gegensatz zu ersetzen, der quasi quer zum Klassengegensatz liegt: zum Beispiel das Volk gegen die Elite, die Demokratie gegen den Faschismus oder sogar die DemokratInnen gegen den Populismus.

Für die Ideologie des Populismus ist der Volksbegriff immer zentral, entweder ausgesprochen oder implizit. Gleichzeitig ist es dieser Begriff, den zu kritisieren es für RevolutionärInnen unerlässlich ist.

Der zugrundeliegende Nationalismus war in der bürgerlichen Revolution ein Mittel der Bourgeoisie, die Massen hinter sich zu sammeln, indem sie sich als Vertreterin der Nation oder des Volkes proklamierte und das eigene Klasseninteresse als allgemeines Interesse zu verkaufen versuchte. Ein solches Allgemeininteresse, in dem der Klassengegensatz verschwindet, gibt es aber nicht – und kann es nicht geben!

In den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts wie in anti-imperialistischen Kämpfen fungierte der Nationalismus, der Appell an das gemeinsame Interesse „des Volkes“ zumindest als Mittel zur Mobilisierung für ein fortschrittliches gesellschaftliches Ziel. Ideologisch und analytisch bleibt der Volksbegriff für RevolutionärInnen aber wertlos und die Kritik daran zentral. Das gilt erst recht in imperialistischen Ländern, wo der Bezug auf Nation und Volk nur reaktionär sein kann.

Mit der Kritik des Volksbegriffes geht auch eine Kritik der „Volksrevolution“ einher, wie sie nicht nur von PopulistInnen, sondern auch vom Stalinismus und Maoismus verwendet wird. Natürlich bringt auch die proletarische Revolution das ganze Volk, alle Schichten und Klassen in Bewegung. In dem Sinne sprechen auch Marx und Engels, Lenin und Trotzki von einer „Volksrevolution“. Sie verstehen aber die Aufgabe der RevolutionärInnen darin, ihr einen bewusst proletarischen, sozialistischen Charakter zu verleihen. Nur so ist es möglich, die Kleinbauern und Teile des städtischen KleinbürgerInnentums und der Armut in Stadt und Land zu führen. Wer das leugnet, vernebelt das Bewusstsein der Klasse, spielt Bourgeoisie und PopulistInnen in die Hände.

Daher lehnen MarxistInnen die Schaffung einer klassenübergreifenden Partei ab. Unser Ziel besteht vielmehr darin, die falsche Einheit der Massen auch in linken populistischen Parteien zu zerbrechen und die ArbeiterInnenklasse aus der ideologischen und organisatorischen Unterordnung unter andere Klassen zu lösen. Das erfordert zwar Taktiken oder auch die Intervention in eine solche populistische Partei in Formierung (gerade wenn die revolutionäre Organisation selbst nur in Keimform vorhanden ist). Das Ziel der KommunistInnen kann aber immer nur in der Schaffung einer Klassenpartei, einer ArbeiterInnenpartei liegen.

 

Endnoten

(1) Trotzki, Leo: „Clarity or Confusion“, 1939: https://www.marxists.org/archive/trotsky/1939/02/clarity.htm

(2) Lenin, W. I.: „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“, in: Werke, Bd. 3, Berlin/O. 1956, S. 7–629

(3) a. a. O., S. 616–617

(4) Lenin, W.I.:, „Was sind die ,Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“, in: Werke, Bd. 1, Berlin/O. 1977, S. 202

(5) a. a. O., S. 210

(6) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, isp-Verlag, Frankfurt/Main 1983, S. 56

(7) Lenin, W.I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: Werke Bd. 22, Berlin/O. 1972, S. 292

(8) Trotzki, Leo: „Die Dritte Internationale nach Lenin“, Dortmund 1977, S. 165

(9) Prawda vom 28. Juli 1924, zitiert nach: a. a. O., S. 165

(10) Prawda vom 22. Juli 1924, zitiert nach: a. a. O., S. 167

(11) a. a. O., S. 167

(12) Trotzki, Leo: „Pilsudskism, Fascism, and the Character of Our Epoch“, in: ders., Writings 1932, New York 1973, S. 161; eigene Übersetzung

(13) a. a. O., S. 160; eigene Übersetzung

(14) Zitiert nach Flechtheim, Ossip K.: „Die KPD in der Weimarer Republik“, Junius, Hamburg 1986, S. 141

(15) Thälmann, Ernst (24. August 1930): „Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des Deutschen Volkes“ (Proklamation des ZK der KPD), https://www.marxists.org/deutsch/referenz/thaelmann/1930/08/natsozbef.htm 

(16) Trotzki, Leo: „Thälmann und die ‚Volksrevolution’“, in: „Schriften über Deutschland“, Band I, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 1971, S. 102

(17) a. a. O., S. 102 f.

(18) Laclau, Ernesto: „Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus“, Argumente Verlag Berlin, 1981, S. 111/112

(19) Isaacs, Harold R.: „Die Tragödie der chinesischen Revolution“, Mehring Verlag, Essen 2016, S. 96

(20) a. a. O., S. 102

(21) ebd.

(22) Zitiert nach Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution“, in: Trotzki, Schriften 2.1., Rasch und Röhring, Hamburg 1990, S. 375 f.

(23) a. a. O., S. 377

(24) Ders.: „Brief an Alski (29. März 1927)“, a. a. O., S. 131

(25) ebd.

(26) Trotzki, Leo: „Latin American Problems“, in: Trotsky, Writings, Supplement 1934–40, New York 2004, S. 903; eigene Übersetzung

(27) ebd.; eigene Übersetzung

(28) Trotzki, Leo: „Nationalized industry and workers management“, in: Trotsky, Writings 1938–39, New York 1974, S. 326; eigene Übersetzung

(29) Trotzki, Leo: „Latin American Problems“, a. a. O., S. 903; eigene Übersetzung




Sackgasse Linkspopulismus

Eine Kritik der Theorien von Laclau und Mouffe

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 50. November 2018

Historische Krisenperioden gehen notwendigerweise auch mit einer raschen Umwälzung der politischen Bewegungen, Parteien und Ideologien einher. Der Niedergang der Sozialdemokratie, die Krise der Gewerkschaften und die Unfähigkeit des Linksreformismus, dieses politische Vakuum dauerhaft zu füllen, bilden auch den Nährboden für das Wachstum populistischer Parteien und Bewegungen.

Bis vor wenigen Jahren galten diese in den imperialistischen Zentren praktisch ausschließlich als rechte Phänomene. Nur in den halbkolonialen Ländern nahmen sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder linksnationalistische, antiimperialistische und „sozialistische“ Züge an – z.B. in Form des Peronismus oder des Bolivarismus. Doch in den letzten Jahren wurden wir Zeugen des raschen Aufstiegs eines linken Populismus, auch in Europa oder in den USA. Organisationen wie Podemos, France insoumise oder die Sanders-Bewegung mobilisieren Massen und erscheinen einem bedeutenden Teil der Linken als Modell zur Neuformierung. All diese Kräfte erblicken jedoch nicht im Klassenwiderspruch den zentralen, die Gesellschaft prägenden Antagonismus, sondern im Gegensatz von „Volk“ und „Elite“ (der „Oligarchie“ oder der „Kaste“ ).

Während der Linkspopulismus selbst die politische Krise der ArbeiterInnenbewegung zum Ausdruck bringt, ist er jedoch weit davon entfernt, eine Lösung dieser Krise darzustellen. Im Gegenteil, er verschärft sie. Auf den Niedergang der Klassenorganisationen, die Anpassung und das Schrumpfen der Gewerkschaften, die Wende der Sozialdemokratie zum sog. „Dritten Weg“ oder zur „neuen Mitte“ und den Rückgang des Klassenbewusstseins antwortet der Linkspopulismus nicht mit dem Kampf um eine revolutionäre oder zumindest kämpferische Neuformierung des Proletariats, sondern mit dem Abschied von der Klassenpolitik.

Die Spitzen von Podemos oder France insoumise versuchen gemeinsam mit ihren Verbündeten in anderen europäischen Ländern (z.B. „aufstehen“ in Deutschland), diese Politik praktisch voranzutreiben. Doch der Linkspopulismus hat nicht nur „PraktikerInnen“ hervorgebracht, er wird auch theoretisch und ideologisch gerechtfertigt. Seine TheoretikerInnen kritisieren nicht nur die „konsensorientierte“, ins System integrierte Sozialdemokratie oder den „Kosmopolitizismus“ der radikalen, postautonomen Linken, sondern attackieren vor allem den Marxismus und dessen angeblichen „Klassenessentialismus“.

Dabei geht es nicht nur um einen Bruch mit revolutionärer oder klassenorientierter Politik. Anstelle des Reformismus soll der Populismus treten. Zwar sind beide Formen bürgerlicher Politik. Aber der Reformismus stützt sich historisch und organisch – z.B. über eine Verankerung in den Gewerkschaften, Massenorganisationen, Mitgliedschaft und WählerInnen – auf die Lohnabhängigen. Er wurzelt in der ArbeiterInnenbewegung, auch wenn diese Verankerung – nicht zuletzt aufgrund der Politik der Sozialdemokratie – in den meisten Ländern immer schwächer wird, zerbricht oder diese Parteien sogar implodieren. Der Linkspopulismus versucht dieses Problem zu lösen, indem er nach einer anderen sozialen Basis sucht – dem Volk, also einer Allianz und imaginären Einheit verschiedener sozialer Klassen. Anstelle einer reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik soll eine „Volksbewegung“ treten.

Mélenchon in Frankreich, Iglesias und Errejón in Spanien, Wagenknecht und Lafontaine in Deutschland wollen reformistische, in der ArbeiterInnenklasse organisch verankerte bürgerliche ArbeiterInnenpartei durch eine populistische Bewegung ersetzen, da nur so die Rechte geschlagen werden könne. Ihre theoretischen Weihen erfahren sie durch IdeologInnen wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe.

In ihrem jüngsten Buch „Für einen linken Populismus“ (1), das Mouffe als eine „politische Intervention“, also eine Art Streitschrift, versteht, wird die Intention folgendermaßen zusammengefasst:

„Die zentrale These dieses Buches lautet, dass eine erfolgreiche Intervention in diese Krise der hegemonialen Ordnung den Aufbau einer klaren politischen Formation voraussetzt und dass ein linker Populismus – verstanden als diskursive Strategie, die auf die Errichtung einer politischen Frontlinie zwischen ‚dem Volk’ und ‚der Oligarchie’ abzielt – in der derzeitigen Lage genau die Art von Politik darstellt, die zur Wiederherstellung und Vertiefung der Demokratie vonnöten ist.“ (2)

Im einführenden Kapitel macht Mouffe auch gleich das Haupthindernis in der Linken aus, das einer solchen Politik entgegensteht, den „Klassenessentialismus“:

„Schnell wurde uns klar, dass die Hindernisse, die es zu überwinden gilt, in erster Linie der essentialistischen Sichtweise entspringen, die das linke Denken beherrschte. Nach dieser Sichtweise, die wir als ‚Klassenessentialismus’ bezeichnet haben, waren politische Identitäten Ausdruck der Stellung gesellschaftlicher Akteure innerhalb der Produktionsverhältnisse, und ihre Interessen durch diese Stellung definiert.“ (3)

Zweifellos bedürften die verschiedenen populistischen Projekte einer scharfen Kritik. Die Beschwörung des „Volkes“ muss sich notwendigerweise in einem positiven Bezug auf den bürgerlichen Nationalismus äußern. Wie jede Politik, die vorgibt, sich über die Klassengegensätze zu erheben, bedarf der Populismus des Rückgriffs auf Ideologien, die durch ebendiese Widersprüche hervorgebracht werden – freilich nicht ohne diese ideologisch zu verklären. Genau des macht einen zentralen Aspekt seines reaktionären Kerns aus.

Im diesem Artikel werden wir uns daher zuerst mit Laclaus und Mouffes Kritik des Marxismus auseinandersetzen. Ohne den Bruch mit dem historischen Materialismus lassen sich die Notwendigkeit und Alternativlosigkeit des Linkspopulismus schlecht begründen. Wie wir sehen werden, fußt diese Kritik auf Entstellungen, Halbwahrheiten und einer idealistischen Methode. In unserer Antwort stellen wir daher auch immer wieder die marxistische Konzeption dem Populismus gegenüber.

Im zweiten Teil des Artikels beschäftigen wir uns mit den idealistischen Grundlagen und reaktionären Konsequenzen des Linkspopulismus. Dieser stellt nicht nur einen theoretischen Angriff auf den Materialismus dar, sondern einen fundamentalen Bruch mit Internationalismus, Klassenpolitik und jedem konsequenten Kampf gegen Unterdrückung.

Schließlich werden wir die politische Dürftigkeit und Beliebigkeit des Linkspopulismus aufzeigen. Diese stellen keine zufälligen Begleitumstände dar, sondern eine logische Folge seiner theoretischen Grundlagen.

Warum Kritik am Marxismus?

Die Kritik am Marxismus bildet den Ausgangspunkt der beiden VerfechterInnen des Linkspopulismus. Diese wird von Ernesto Laclau zuerst in „Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus“ (4) entwickelt und später gemeinsam mit Chantal Mouffe in „Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus“ (5) weitergetrieben und radikalisiert.

Auch wenn diese Arbeiten vor allem eine theoretische Kritik an Marxismus beinhalten, so entspringt das Motiv für die Beschäftigung mit dem Populismus durchaus praktischen Zwecken. Die Linke sei nämlich immer wieder daran gescheitert, eine Antwort auf die politischen Herausforderungen an den Wendepunkten des 20. Jahrhundert zu geben.

Dazu gehörten das Versagen im Kampf gegen den Faschismus, die Unfähigkeit, den Peronismus und andere Formen des Populismus in Lateinamerika zu verstehen ebenso, wie den Erfolg des Thatcherismus zu begreifen. So habe die ArbeiterInnenbewegung vor allem deshalb gegen die neoliberale Offensive verloren, weil die Linke die Fähigkeit Thatchers (und Reagans) nicht begriffen habe, die neoliberale Offensive mithilfe einer populistischen Verknüpfung durchzusetzen. Damit meinen sie, dass es Thatcher gelungen sei, die neoliberale Politik mithilfe der Schaffung eines neuen hegemonialen Blocks durch Artikulation von Partikularinteressen des KleinbürgerInnentums und der „Mittelschichten“ durchzusetzen. Sie hätte dazu den Wunsch nach „Freiheit“ mit dem nach Wirtschaftsliberalismus und Antietatismus verbunden und gegen eine „Elite“ aus staatlichem Filz, KorporatistInnen, Gewerkschaften und Labourismus gewendet. Thatcher sei dadurch in der Lage gewesen, die Mittelschichten und das KleinbürgerInnentum sowie rückständige ArbeiterInnenschichten gegen die Gewerkschaften und die ArbeiterInnenbewegung mit dem Großkapital zu vereinen. So wurde eine „populäre“, wenn auch reaktionäre Verbindung zwischen heterogenen Elementen geschaffen und die Mehrheit der Gesellschaften gegen die ArbeiterInnenbewegung mobilisiert, die als Feind von Markt und Freiheit denunziert wurde.

Die Linke habe dieser demagogischen Verknüpfung nichts entgegenzusetzen gewusst, weil sie ihr nur den Bezug auf ein Klasseninteresse entgegengestellt habe und daher unfähig gewesen sei, „das Volk“ um sich zu gruppieren. Deshalb sei der Sieg des Thatcherismus unvermeidlich gewesen. Dabei stellen Laclau und Mouffe die reale Politik der Labour Party, die in Wirklichkeit leider nicht zu viel, sondern viel zu wenig Klassenpolitik betrieben hatte, und der Gewerkschaften auf den Kopf, die dem Entscheidungskampf auszuweichen versuchten und die BergarbeiterInnen im Stich ließen. Die britischen BergarbeiterInnen, bzw. die britische ArbeiterInnenklasse, haben den Klassenkrieg verloren, weil sie an entscheidenden Punkten vor der Konfrontation zurückgewichen sind. Zuerst beim Malvinas-Krieg, den die Regierung Thatcher 1982 gegen Argentinien um einen Rest des britischen Kolonialgebietes, die Malvinas (Falkland)-Inseln, führte. Die Labour-FührerInnen traten dem nicht entgegen, sondern unterstützen einmal mehr „ihr Land“ als gute PatriotInnen. Zweitens, indem sie sich weigerten, den BergarbeiterInnen durch einen Generalstreik zu Hilfe zu kommen, also die Schlacht zum Kampf um die Macht zuzuspitzen. Im Gegensatz dazu vertrat Thatcher entschlossen ihre Klasseninteressen, und darin lag das „Geheimnis“ ihres Erfolg. Die Bourgeoisie hatte einen Führungsstab, der den Krieg gegen die ArbeiterInnenklasse und deren Avantgarde zu Ende führen wollte – der ArbeiterInnenklasse fehlte dieser jedoch. Die Führung der Labour-Party und die Gewerkschaftsbürokratie des TUC waren nicht in der Lage, die Mittelschichten an ihre Seite zu ziehen oder zu neutralisieren, weil sie nicht mit allen Mitteln um den Sieg kämpfen wollten, sondern der Konfrontation auswichen. Diesen Klassenverrat, der der britischen ArbeiterInnenklasse eine strategische Niederlage bescherte und der neoliberalen Offensive international einen enormen Auftrieb verlieh, entschuldigen Laclau und Mouffe ganz nebenbei.

Wie wir später zeigen werden, sind solche Entstellungen der realen geschichtlichen Kämpfe keine Zufälligkeiten, sondern folgen aus der Politikkonzeption und dem Populismusbegriff von Laclau und Mouffe, der notwendigerweise inhaltlich derartig unbestimmt ist, dass fast jede offensive und konfrontative bürgerliche Klassenpolitik auch als „populistisch“ charakterisiert werden kann.

Neben dem Scheitern der ArbeiterInnenbewegung im Kampf gegen bürgerliche Offensiven in historischen Umbruch- und Krisenperioden führen Laclau und Mouffe ein zweites politisches Phänomen als Beleg für die Unbrauchbarkeit des „Klassenessientialismus“ an, nämlich das Entstehen der neuen sozialen Bewegungen. Die Frauenbewegung, die Umweltbewegung oder antirassistische Kämpfe hätten nicht in das angeblich immer schon vorherrschende Primat der „Klassenpolitik“ der Linken gepasst und wären daher von ihnen als Nebenfragen abgetan worden.

Bemerkenswert an Laclaus und Mouffes Kritik ist auch hier, dass die konkrete Politik der verschiedenen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung oder der radikalen Linken nicht weiter untersucht wird. Wir finden daher auch keine nähere Beschäftigung mit den unterschiedlichen Antworten und politischen Konsequenzen dieser Gruppierungen. Allen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung wird vielmehr eine gemeinsame „Essenz“ unterstellt, die alle Differenzen als sekundär erscheinen lässt und die zugleich einen unüberbrückbaren Bruch der linkspopulistischen TheoretikerInnen mit dem Marxismus notwendig macht.

Wir werden daher im Folgenden wesentliche Momente ihrer Argumentation nachzeichnen und unserseits einer Kritik unterziehen.

Falsche Perspektiven des Marxismus

In ihrer Arbeit „Hegemonie und radikale Demokratie“ versuchen Laclau und Mouffe die Wurzeln des Problems in ihrer historischen Genese wie auch auf theoretischer Ebene nachzuzeichnen.

Im Revisionismusstreit der Zweiten Internationale sei die Problematik erstmals, wenn auch unzureichend, artikuliert worden. Die lange Expansionsphase des Kapitalismus Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe die marxistische Vorstellung einer Zuspitzung der gesellschaftlichen Gegensätze infrage gestellt. Die Mittelschichten und das KleinbürgerInnentum seien nicht verschwunden, sondern vielmehr weiter angewachsen. Kurz gesagt, der Revisionismus habe in der Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung recht gehabt. In ihren Worten:

„Es ist wichtig zu erkennen, dass Bernstein die Veränderungen, die den Kapitalismus ergriffen, als er in die monopolistische Ära eintrat, klarer verstand als jeder Vertreter der Orthodoxie. (…) Bernstein erfasste ebenfalls die politischen Konsequenzen der kapitalistischen Reorganisation. Die drei hauptsächlichen Veränderungen – Asymmetrie zwischen der Unternehmens- und Vermögenskonzentration; die Existenz und Zunahme der Mittelschichten; die Rolle der ökonomischen Planung in der Verhütung von Krisen – konnten nur eine totale Veränderung in den Voraussetzungen, auf denen die Sozialdemokratie basieren sollte, beinhalten. Weder wurden die Mittelklassen und die Bauernschaft durch die ökonomische Entwicklung proletarisiert und die Proletarisierung der Gesellschaft vergrößert, noch konnte erwartet werden, dass der Übergang zum Sozialismus aus einem revolutionären Ausbruch als Folge einer ernsten ökonomischen Krise resultieren würde. Unter solchen Bedingungen musste der Sozialismus sein Terrain und seine Strategie wechseln; das theoretische Schlüsselmoment war der Bruch mit der rigiden Trennung von Basis und Überbau, die jedwede Konzeptualisierung der Autonomie des Politischen verhindert hatte.“ (Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 64)

Bernstein habe gewissermaßen am Beginn eines Bruchs mit den Fehlern der „Orthodoxie“ gestanden. So wird ihm hoch angerechnet, dass er die Vorstellung Kautskys, aber auch die von Marx und Engels verwarf, dass grundlegende Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise entschlüsselt werden könnten und dass der Sozialismus eine geschichtliche Notwendigkeit darstelle. Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte – diese gelten Laclau und Mouffe als eine der „Todsünden“ des Marxismus.

Bernstein habe jedoch den Fehler begangen, in einem Fortschrittsschema der Geschichte verhaftet zu bleiben, die marxistische Orthodoxie durch die Vorstellung zu ersetzen, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung einen immer größeren Spielraum für die relative Unabhängigkeit von Kultur, Ethik, Moral und damit für einen schrittweisen demokratischen und sozialen Fortschritt erlaube. An die Stelle der marxistischen Geschichtsauffassung trete bei ihm der kategorische Imperativ.

Für Mouffe und Laclau stellt Bernstein daher zwar einen Schritt vorwärts dar, aber er bleibe in der ihrer Auffassung nach irrigen Vorstellung gefangen, dass eine Gesellschaft vernünftig organisiert werden könne. Noch weiter in die richtige Richtung seien jedoch die Auffassungen Sorels, eines Syndikalisten der Zweiten Internationale, gegangen. Er habe nicht nur Bernsteins Revisionismus und Croces Kritik am Marxismus akzeptiert, sondern auch die Vorstellung fallengelassen, dass das Klassenbewusstsein, ja letztlich die Existenz der Klassen auf einer „sozialen Struktur“, also Produktionsverhältnissen fußen würde. Die ArbeiterInnenklasse, das revolutionäre Subjekt, würde vielmehr nur im Kampf gegen den Gegner konstituiert, das Verhältnis von „Klasse an sich“ zu „Klasse für sich“ existiere nicht mehr, weil es die Klasse nur im gesellschaftlichen und ideologischen Kampf gebe. Damit habe Sorel einen wirklichen Schritt vorwärts gemacht, weil das Subjekt nicht mehr gesellschaftlich determiniert, sondern „diskursiv“ konstitutiert sei. Gleichwohl bleibt für Laclau und Mouffe eine Haar in der Suppe, nämlich Sorels Vorstellung, dass das politisch und „mythisch“ konstituierte Subjekt ein Klassensubjekt sein müsse.

Die „Orthodoxie“

Weitaus kritischer betrachten Laclau und Mouffe das marxistische Zentrum und die Linken der Zweiten Internationale, denn für sie machen sich beide Strömungen des Festhaltens am „Klassenessentialismus“ schuldig. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hätten sich, so Mouffe und Laclau, die gesellschaftlichen Verhältnisse so verkompliziert, dass die ArbeiterInnenklasse nicht mehr als eine sich entwickelnde Einheit in Erscheinung getreten sei. Der Marxismus sei nun vor das Problem gestellt worden, dass die ArbeiterInnenklasse fragmentiert oder ihr Bewusstsein nicht spontan sozialistisch gewesen sei. Dabei unterziehen sie die Arbeiten so unterschiedlicher AutorInnen wie Rosa Luxemburg, Karl Kausky, Plechanow, Lenin und Trotzki einer „Kritik“, die vor allem darin besteht, ihnen allen „Klassenessentialismus“ nachzuweisen.

Kautsky wird vorgeworfen, dass er zu den allgemeinen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus Zuflucht nehme, wenn er mit diesen widersprechenden Erscheinungsformen konfrontiert wird. Die Einheit der Klasse sei zwar auch für ihn nicht spontan gegeben, sondern könne nur durch die Konstituierung der ArbeiterInnenklasse zur Partei und durch das Hineintragen von Klassenbewusstsein in das Proletariat erfolgen. Damit diese Tätigkeit auf einen fruchtbaren Boden fallen könne, müsse sie sich jedoch auf eine zukünftige objektive Entwicklung stützen, die zu einer Verschärfung des Klassengegensatzes führt. Und genau darin liege der Kardinalfehler Kauskys und Plechanows, nämlich auf historische Gesetzmäßigkeiten zu rekurieren.

Auch Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki wären in dieser Denkweise gefangen gewesen, auch wenn sie flexibler und dynamischer auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert hätten. Um sowohl ihre These von der Einheit als auch ihr Urteil über den gleichen Grundfehler all diese TheoretikerInnen zu belegen, müssen Mouffe und Laclau auf eine einseitige Lesart, Entstellungen und argumentative Tricks zurückgreifen.

Erstens unterstellen sie dem „Klassenessentialismus“ eine Passivität bei allen Fragen, die nicht den Klassenkampf von Bourgeoisie und Proletariat betreffen, und zwar einfach, indem sie dies behaupten. Zwar findet sich in der Konzeption Kautskys und Plechanows eine Form des passiven Abwartens, doch selbst Kautsky wird dieser Position, wenn wir nur z.B. an seine Schriften zur nationalen Frage, seine Intervention um das Erfurter Programm denken, nicht gerecht. Doch Mouffe und Laclau meinen mit ihrem Vorwurf des „Essentialismus“ eigentlich etwas anderes, wie das folgende Zitat belegt:

„Zweitens wurden die Differenzen, die innerhalb dieser reduktionistischen Problematik nicht an ihre eigenen Kategorien angeglichen werden konnten, mit zwei Argumentationsweisen angegangen, die wir das Argument von der Erscheinung sowie das Argument von der Kontingenz nennen wollen. Das Argument von der Erscheinung: alles, was sich als verschieden darstellt, kann auf eine Identität reduziert werden. Dies kann zwei Formen annehmen: entweder ist die Erscheinung eine bloße List der Verbergung oder es ist eine notwendige Manifestation des Wesens. (Ein Beispiel für die erste Form: ‚Nationalismus ist eine Maske, die die Interessen der Bourgeoisie verbirgt.; ein Beispiel für die zweite: ‚der liberale Staat ist eine notwendige politische Form des Kapitalismus.’) Das Argument von der Kontingenz: eine gesellschaftliche Kategorie beziehungsweise eine soziale Schicht mag nicht reduzierbar auf die zentralen Identitäten einer bestimmten Gesellschaftsformation sein, in diesem Fall jedoch erlaubt uns ihre völlige Marginalität sie als irrelevant abzutun. (Zum Beispiel: ‚Weil der Kapitalismus zur Proletarisierung der Mittelklassen und der Bauernschaft führt, können wir sie ignorieren und unsere Strategie auf die Auseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat konzentrieren.’)“ (7)

Natürlich immunisiert auch der Marxismus nicht gegen falsche Verallgemeinerungen. Doch das müsste konkret am Gegenstand gezeigt werden. Mouffe und Laclau verzichten jedoch darauf, sich mit den unter „Argument der Erscheinung“ genannten Beispielen inhaltlich zu beschäftigten oder diese zu widerlegen. Dabei hat der Marxismus nicht erst seit der „Orthodoxie“ gezeigt, dass der Nationalismus eine bürgerliche Ideologie darstellt, die sich im Kampf gegen den Feudalismus herausbildete und der Bourgeoisie erlaubte, sich selbst zur führenden Kraft der Nation zu erheben, die plebejischen Klassen hinter sich zu bringen und unter ihrer Führung zu vereinen. Mit der Festigung der bürgerlichen Herrschaft bleibt der Nationalismus eine Ideologie, die die besonderen Interessen der herrschenden Klasse als jene der Gesellschaft ausgibt, den Klassencharakter ihrer Herrschaft verschleiert und erlaubt, die Massen für ihre Ziele zu mobilisieren. Ebenso wenig neu ist die Erkenntnis, dass jeder Gesellschaftsformation auch bestimmte Staatsformen entsprechen, dass also der „liberale Staat“ eine Form der Klassenherrschaft des Kapitals darstellt.

Mouffe und Laclau machen sich an dieser Stelle erst gar nicht die Mühe, den Inhalt dieser Aussagen zu widerlegen. Sie lehnen den „Klassenessentialismus“ vielmehr ab, weil er Wesen und Erscheinung als ein zu analysierendes Verhältnis betrachtet, weil er zwischen Basis und Überbau unterscheidet. Mouffe und Laclau kritisieren auch an Kautsky oder Plechanow nicht deren Schwächen, sondern ihre Stärken.

Dabei scheuen sie beim „Argument von der Kontingenz“ auch vor einer demagogischen Entstellung nicht zurück. Weder Kautsky, Plechanow noch irgendein/e andere „KlassenessentialistIn“ hat jemals den falschen Schluss gezogen, dass die Bauernschaft und das KleinbürgerInnentum wegen der Proletarisierungstendenzen der Gesellschaft „ignoriert“ werden sollten. Aber es macht sich natürlich weitaus einfacher, eine offenkundig falsche Position zu unterstellen, auch wenn sie niemand vertritt. Wie absurd die ganze Unterstellung der Beschränktheit des sog. Klassenessentialismus ist, der allen MarxistInnen unterschoben wird, zeigt allein ein Zitat aus Lenins „Was Tun“:

„Das Bewußtsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewußtsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden.“ (8)

Zweitens verzichten Laclau und Mouffe auf jede konkrete Untersuchung der politischen Taktik, der Theorie, des Programms, die durch so unterschiedliche „KlassenessentialistInnen“ wie Luxemburg, Lenin, Trotzki, Kautsky oder Plechanow vertreten wurden. Die Kontroversen und scharfen Debatten interessieren allenfalls am Rande oder werden selbst noch als Form der „Auflösung des Konkreten im Abstrakten“ denunziert – natürlich ohne jegliche inhaltliche Beschäftigung mit dem Gegenstand. So werden die grundlegenden Differenzen über den Charakter der Revolution in der russischen Sozialdemokratie oder auch in der Zweiten Internationale als „essentialistische“ Versuche abgetan, lediglich den Ablauf der geschichtlichen Entwicklung in einer zeitlichen Abfolge „gesetzmäßig“ zu fixieren.

Untersuchen wir jedoch den Inhalt dieser Debatte, so zeigt sich, wie grundlegend falsch die Darstellung der beiden populistischen TheoretikerInnen ist. Der Menschewismus betrachtete die Russische Revolution im Rahmen eines „tradierten“, mechanischen Schemas, als Wiederholung der bürgerlichen Revolutionen in Westeuropa. Dieser Vorstellung zufolge musste auch in Russland die Bourgeoisie die Erhebung gegen den Zarismus anführen, dann an die Macht kommen, und die ArbeiterInnenklasse müsste sich mit der Rolle einer Opposition begnügen, die das Bürgertum „vorantreibt“. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution verstand die Besonderheiten der russischen Entwicklung hingegen vor dem Hintergrund der Entwicklung des Kapitalismus als globale Gesellschaftsordnung im Rahmen der Theorie der permanenten Revolution und sah damit die geschichtliche Möglichkeit und Notwendigkeit, dass die ArbeiterInnenklasse im Bündnis mit der Bauernschaft in Russland an die Macht kommen könne, ja müsse, um die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu vollenden und zugleich eine sozialistische Transformation zu beginnen.

Auch die Verteidigung der Gesellschaftsanalyse des Revisionismus gegenüber jener ihrer orthodoxen und linken KritikerInnen erweist sich angesichts der realen Entwicklung – zwei imperialistische Weltkriege, Zusammenbruch des Weltmarktes und Weltwirtschaftskrise, Revolutionen und Konterrevolutionen bis hin zum Faschismus – als überaus fragwürdig. Im Gegensatz zur Unterstellung von Laclau und Mouffe entsprachen die theoretischen Analysen und die politischen Perspektiven des linken Flügels der Sozialdemokratie der realen Entwicklung – und nicht jene des Revisionismus. Doch wo die wirkliche geschichtliche Entwicklung dem Narrativ von Laclau und Mouffe widerspricht, herrscht Schweigen, wird diese einfach umgangen.

Die Methode der linkspopulistischen TheoretikerInnen, die uns immer wieder begegnen wird, funktioniert wie folgt: Menschewiki, Bolschewik und Trotzki/Parvus stritten heftig um den Charakter der Russischen Revolution, aber letztlich stimmten alle darin überein, dass die Sozialdemokratie die Interessen der ArbeiterInnenklasse vertreten müsse, womit bewiesen wäre, dass alle VertreterInnen des „Klassenessentialismus“ gewesen wären.

Die grundlegenden politischen Differenzen in der ArbeiterInnenbewegung der Zweiten Internationale, ja, selbst während des Ersten Weltkrieges und danach, werden als letztlich nebensächlich betrachtet. Zwar müssen sie anerkennen, dass die „Essentialisten“ Lenin und Trotzkis in der Lage waren, die ArbeiterInnenklasse in Russland zum Sieg zu führen. Aber auch hier richtet sich ihre Kritik vor allem an die starre Vorstellung des revolutionären Subjekts. Der Fehler des Leninismus und des Trotzkismus bestünde nämlich darin, dass sie auf der führenden Rolle der ArbeiterInnenklasse beharrten. So heißt es bei ihnen:

„Nicht einmal im Ansatz finden wir bei Trotzkis die Vorstellung, dass die demokratische und anti-absolutistische Identität der Massen eine spezifische Subjektposition konstitutiert, die verschiedene Klassen artikulieren können, und dass, indem sie dies tun, ihre eigene Natur modifizieren. Die unerfüllten demokratischen Aufgaben sind nur ein Sprungbrett für die Arbeiterklasse, um sie zu ihren eigenen Klassenzielen vorwärtszubringen.“ (9)

Laclau und Mouffe verkennen an dieser Stelle, dass gerade das Verfolgen der eigenen Klassenziele, also der historischen Interessen des Proletariats (nicht bloß seiner unmittelbar ökonomischen Interessen) die Voraussetzung dafür bildete, nichtproletarische Klassen zum Sieg über den Zarismus zu führen. Daher können sie auch nur mit Unverständnis darauf blicken, dass das Überleben der Russischen Revolution auf Gedeih und Verderb mit dem der internationalen Revolution verknüpft war. In ihren Worten: „Es gibt weder für Trotzki noch für Lenin eine Spezifik, die das Überleben eines Sowjetstaats sichert, wenn nicht in Europa eine Revolution ausbricht und die siegreichen Arbeiterklassen der entwickelten Industrieländer den russischen Revolutionären zu Hilfe kommen. Hier verknüpft sich die ‚Anomalie’ der Verwerfung der Entwicklungsstufen in Russland mit der ‚normalen’ Entwicklung des Westens; was wir eine ‚zweite Erzählung’ genannt haben, ist in die ‚erste Erzählung’ reintegriert.“ (10)

Die Revolutionskonzeption von Lenin und Trotzki interessiert beide nur insofern, als sie mit einem „Narrativ“, also der Etappentheorie der Revolution bricht. Die Frage, wie sie in die internationale Revolution eingebettet ist, interessiert nicht, ja, Mouffe und Laclau begegnen ihr mit Unverständnis. Der internationale Charakter der sozialistischen Umwälzung ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln.

Die Isoliertheit der Sowjetunion und der utopische Versuch, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, werden nicht als die entscheidenden Ursachen für die bürokratische, stalinistische Degeneration betrachtet, sondern die dem Bolschewismus zugrundeliegende „essentialistische“ und „autoritäre“ Klassenpolitik. Lenin und Trotzki hätten zwar erkannt, dass das Proletariat Verbündete und daher eine Bündnispolitik mit anderen Klassen benötige. Diese müsse jedoch autoritär sein, weil sie die ArbeiterInnenklasse als führende Kraft betrachte, während sie dem kleinbürgerlichen Bündnispartner die Fähigkeit abspricht, eine eigenständige Politik zu betreiben. Dass dieses „Absprechen“ aus der Analyse der gesellschaftlichen Stellung des Kleinbürgertums oder generell der Mittelschichten folgt, ficht Laclau und Mouffe nicht an. Für sie stellt nämlich die Herleitung des Charakters einer Ideologie aus der gesellschaftlichen Stellung einer bestimmten sozialen Gruppe/Klasse bloß eine „Konstruktion“ dar.

Verhältnis von Basis und Überbau

Laclau und Mouffe greifen hier direkt die Marx´sche Theorie an. Im „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“ legt Marx das Verhältnis von Basis und Überbau, von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein, folgendermaßen dar:

„Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein bestimmt, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (11)

Der „Klassenessentialismus“ findet sich also schon bei Marx. Es folgt sodann eine kurze Darlegung der Entwicklungsdynamik des inneren Widerspruchs einer Gesellschaftsformation und damit der Bedingungen für deren revolutionäre Umwälzung:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der gesamte ungeheuere Überbau langsamer oder rascher um.“ (12)

Die Kritik am „Klassenessentialismus“ erfordert von Laclau (und Mouffe) eine Zurückweisung aller wichtigen Aspekte dieses „allgemeinen Resultats“ der Marx´schen Theorie.

Gegen die Dialektik

In „Politik und Ideologie des Marxismus“ unternimmt Laclau erste entscheidende Schritte auf diesem Weg, auch wenn ihm dies nach seinen späteren Aussagen noch zu sehr in der Marx´schen Klassentheorie verhaftet erscheint.

In seiner ersten Kritik oder genauer in seinem Unverständnis von Marx stützt sich Laclau selbst noch stark auf den Strukturalismus von Althusser, Poulantzas oder Balibar. Für diese Schule geht es grundsätzlich darum, Marx von seinen hegelianischen Restbeständen zu reinigen. Erst so könne er auf eine wahrhaft wissenschaftliche Basis gestellt werden. Dies bedeutet notwendigerweise auch, dass die dialektische Sicht der Entwicklung der Gesellschaft selbst als ein Makel, eine Form der Unwissenschaftlichkeit betrachtet wird.

Ein zentrales Moment dabei ist, dass sich der Strukturalismus davon verabschiedet, die Gesellschaft als eine in sich widersprüchliche Totalität zu begreifen. Damit ist er jedoch notwendigerweise nicht in der Lage, den Marx´schen Begriff der „Gesellschaftsformation“, also der Gesamtstruktur der Gesellschaft, die die ökonomische Basis mit dem Überbau dialektisch verbindet, zu verstehen. Anstatt von der kapitalistischen oder bürgerlichen Gesellschaftsformation als einer Totalität auszugehen, begreift der Strukturalismus diese vielmehr als ein System verschiedener gesellschaftlicher Subsysteme oder Strukturen. Wenn Althusser oder Poulantzas von Totalität sprechen, so verstehen sie darunter etwas anderes als Hegel oder Marx.

Die Ablehnung des Hegel´schen Totalitätsbegriffs geht im Strukturalismus untrennbar mit der Ablehnung der Dialektik einher. Dabei ermöglicht gerade diese Marx, Engels, Lenin oder Trotzki, die Bestimmtheit der politischen, ideologischen, geistigen Kämpfe und Theorien durch die ökonomische Basis der Gesellschaft so zu fassen, dass dadurch auch deren relative Eigendynamik erfasst werden kann. „Bestimmtheit“ bedeutet in einem dialektischen Verhältnis keineswegs eine starre, mechanische Ableitung, wie sie sich im Verständnis der Zweiten Internationale und deren passivem Geschichtsdeterminismus mehr und mehr durchsetzte.

Dies war jedoch keineswegs bloß die Folge einer innertheoretischen Bewegung. Vielmehr spiegelte dieses Geschichtsverständnis, das mehr und mehr in Kautskys und Plechanows Version des „orthodoxen Marxismus“ kodifiziert wurde, die Expansion des Kapitalismus am Beginn seiner monopolistischen Ära und ein stetiges Anwachsen der ArbeiterInnenbewegung wider. Revisionismus, Gradualismus und Kautskyanismus entsprachen den ideologischen Bedürfnissen des rechten, revisionistischen Flügels der ArbeiterInnenbewegung und des Zentrums und gingen eigentlich mit einer Abkehr von der Dialektik einher. Zweifellos war auch der linke Flügel der Sozialdemokratie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von diesen Entwicklungen beeinflusst, aber der Kampf um eine revolutionäre Alternative führte auf Seiten der Linken auch dazu, den Kautskyanismus und das „Zentrum“ in Frage zu stellen und mit diesem zu brechen.

Für uns von Bedeutung ist dabei, dass die dialektische Auffassung der Geschichte, die Anerkennung der inneren Widersprüchlichkeit der Gesellschaft selbst in der bürgerlichen Gesellschaft und in der sozialistischen Umwälzung, dem „subjektiven Faktor“, der Organisiertheit und der Bewusstheit der revolutionären Klasse, einen zentralen Stellenwert beimisst.

Erstens bedeutet das, dass gesellschaftliche Krisen keineswegs nur am grundlegenden Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital hervortreten müssen, sondern dass sie sich oft in politischen Krisen, in Kämpfen um die Neuaufteilung der Welt oder in anderen mit dem System der Ausbeutung der Lohnarbeit verwobenen Unterdrückungsverhältnissen entzünden. So prägt heute in einer Vielzahl der Länder der Rassismus die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Für den Marxismus handelt es sich dabei um keine vom „eigentlichen“ Klassenkampf getrennte Auseinandersetzung, sondern um eine Form des Klassenkampfes.

Mouffe und Laclau identifizieren jedoch den Marxismus mit dem Strukturalismus der Althusser-Schule und halten diese sogar für seine theoretisch entwickeltste Form. In Wirklichkeit stellt sie in vielfacher Hinsicht einen Bruch mit dem Marxismus dar. An Stelle eines Marx´schen Verständnisses von „Basis und Überbau“ tritt eine Beziehung von Subsystemen. Zwischen diesen besteht zwar ein Verhältnis der „Determiniertheit“, bei dem in letzter Instanz die Ökonomie bestimmt, aber wir haben es nicht mit einem in sich widersprüchlichen Gesamtsystem zu tun. Der Widerspruch muss gewissermaßen aus der Realität verbannt werden. Daran knüpft Laclau an:

„Wenn Hegel die Struktur der Wirklichkeit in Begriffen des dialektischen Widerspruchs analysieren konnte, dann nur, weil er – wie alle idealistischen Denker – die Wirklichkeit auf den Begriff reduzierte. Aber die unüberwindliche Schwierigkeit für jeden Materialismus, der sich dialektisch nennt, rührt daher, daß man, um von einer Dialektik der Dinge selbst sprechen zu können, die Negation zur letzten Realität der Dinge machen muss, was mit dem Begriff eines wirklichen Gegenstandes, der außerhalb des Geistes existiert, unvereinbar ist.“ (13)

Dialektik könne also allenfalls nur als idealistisches Unterfangen verstanden werden, als hegelianischer Restbestand im Marxismus, der vom „eigentlichen“ wissenschaftlichen Marxismus zu trennen wäre. Allerdings bleibt dann von Marx wenig übrig. An verschiedenen Stellen im Kapital verweist er explizit auf die reale dialektische Bewegung der kapitalistischen Produktionsweise. So nimmt Marx im berühmten Abschnitt über die „Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“ am Ende des 1. Bandes des „Kapitals“ direkt auf die Dialektik Bezug:

„Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgegangene kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“ (14)

Dieser Verweis auf die dialektische Bewegung der Realität und die innere Dynamik des realen Widerspruchs stellt keine bloße Behauptung dar, wie Anti-MarxistInnen seit Dühring unterstellen, sondern den Endpunkt einer umfassenden Analyse des Produktionsprozesses des Kapitals. Wie z.B. Rosdolsky in seiner „Entstehungsgeschichte des Kapitals“ (15) überzeugend darlegt, steht der endgültige Aufbau des „Kapitals“ in engem Zusammenhang mit der nochmaligen Beschäftigung mit Hegel.

Die Althusser-Schule musste bei ihrer „Verbesserung“ des Marxismus unweigerlich mit dem realen, dialektischen Marx in Widerspruch geraten. Auf diesen Bruch mit dem revolutionären Marxismus stützt sich Laclau.

Das erklärt nebenbei auch, warum ihm das Verhältnis von Notwendigkeit und Zufall als unmögliches Verhältnis erscheinen muss. Die von Hegel herrührende Vorstellung, dass sich geschichtliche Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeiten vermittelt durch zufällige Bewegungen und Entwicklungen durchsetzen, ist Laclau vollkommen fremd, ja erscheint im einfach widersinnig. Für ihn ist eine Sache entweder notwendig – und damit letztlich im Sinne einfach vorbestimmt – ,oder sie ist nicht notwendig. Nur im Nicht-Notwendigen, im Kontingenten, eröffne sich ein Möglichkeitsspielraum, ein Raum für Handeln und damit für Alternativen in der Geschichte.

Für Hegel, Marx oder Engels setzt sich die gesellschaftliche Notwendigkeit, also die Lösung der inneren Widersprüche einer bestimmten Gesellschaftsformation, jedoch immer vermittelt über den Zufall durch, dringt so zur Wirklichkeit. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass der Zufall nicht bloß unentdeckte, noch nicht bewusste Notwendigkeit darstellt, sondern in der Tat etwas Neues in die Geschichte bringt. In einer in sich widersprüchlichen Gesellschaftsformation bedeutet dies, dass dem Handeln der gesellschaftlichen Subjekte, also der gesellschaftlichen Klassen, eine entscheidende Bedeutung zukommt für den Verlauf der Geschichte. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (16)

Für den Befreiungskampf des Proletariats nimmt daher die Frage des Bewusstseins eine zentrale Rolle ein. Die Konstituierung der ArbeiterInnenklasse von einer „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ ist erforderlich, die inneren Widersprüche der Gesellschaft revolutionär aufzulösen, das gesellschaftlich Notwendige Wirklichkeit werden zu lassen. Das ist nur über eine Reihe von Kämpfen, Klassenkämpfen möglich, in denen sich die bewusstesten Teile des Proletariats zu einer revolutionären Partei formieren, die das Bewusstsein des historisch Notwendigen, der Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft, die Erfahrungen bisheriger Klassenkämpfe mit dem Eingreifen in die ökonomischen, politischen und ideologischen Auseinandersetzungen verbindet, und dabei nicht nur das Proletariat, sondern alle unterdrückten Schichten der Gesellschaft zur Revolution führt.

Der revolutionäre Marxismus hat also längst eine Lösung für ein Problem gefunden, das Laclau und Mouffe umtreibt. Der sog. „Klassenessentialismus“ ist kein ökonomistisch verflachter Marxismus, sondern, richtig verstanden, eine umfassende revolutionäre Strategie zur Befreiung der gesamten Gesellschaft, zur Aufhebung sämtlicher Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse.

Mouffe und Laclau müssen diese Lösung schon alleine deshalb verwerfen, weil sie den Marxismus durch die strukturalistische Brille betrachten. In der Althusser-Schule ist mit dem Verwerfen der Dialektik notwendigerweise auch die zentrale Rolle, die der Marxismus dem subjektiven Faktor beimisst, verworfen worden.

Populistische Kritik am Strukturalismus und Widerspruch „Volk – Machtblock“

Übernimmt Laclau von der Althusser-Schule u.a. die Ablehnung der geschichtlichen Dialektik und die Verwerfung des Marxschen Basis-Überbau-Modells, so knüpft Laclau an die strukturalistische Sicht der Gesellschaft an. In ihrer Analyse der kapitalistischen Produktionsweise unterscheiden Poulantzas und Balibar zwischen drei wesentlichen Subsystemen: dem ökonomischen, dem politischen und dem ideologischen, wobei das ökonomische in letzter Instanz die beiden anderen bestimme.

Nachdem der Strukturalismus selbst den Hegel´schen Totalitätsbegriff und ein dialektisches Verständnis der Gesellschaft verworfen hat, wirft Laclau die Frage auf, warum eigentlich die ökonomische Ebene die anderen bestimme. Hinter der ständigen Betonung der „relativen Autonomie“ der Subsysteme, wie sie in Schriften strukturalistischer Theoretiker zu finden ist, finde sich eine Scheu, die „Autonomie“ des politischen Subsystems wirklich anzuerkennen.

Dies würde nämlich den letzten verbliebenen Bestandteil der Bindung an den „Klassenessentialismus“ zerstören. Bevor wir auf diese Kritik am Strukturalismus und namentlich an Poulantzas eingehen, müssen wir uns aber kurz damit beschäftigen, wie Laclau in „Politik und Ideologie des Marxismus“ die ArbeiterInnenklasse bestimmt.

Nachdem er die innere Unstimmigkeiten der Begriffs der Produktionsweise und der Ökonomie, wie sie Balibar und Poulantzas und angeblich auch Marx verwenden, herausarbeitet, schlägt Laclau vor, zwischen dem Begriff der „Ökonomie“ und der „Produktion“ zu unterschieden. Unter letzterer versteht er die Produktion des materiellen Lebens, die alle Gesellschaftsformationen auf die eine oder andere Weise zu gewährleisten haben. Den Begriff der „Ökonomie“ will er nur auf eine Waren produzierende Gesellschaft angewendet wissen, dort aber auch nur auf die Sphäre der Produktion. Für Laclau, und das ist für seine ersten Schritte zu einer Theorie des Populismus von grundlegender Bedeutung, konstituieren sich Klassen in der Sphäre der Ökonomie, im „ökonomischen Subsystem“. Klassenspezifische Forderungen, Politik, Formierungen sind daher für ihn wesentlich die Verlängerung ökonomischer Lagen und Interessen.

Er schiebt hier selbst einen verkürzten Begriff der ArbeiterInnenklasse ein, doch für ihn ist dieser notwendig, um die Frage aufzuwerfen, wie und ob die Klassen aus der Sphäre der Ökonomie in der politischen und ideologischen Auseinandersetzung auftreten. Der „Essentialismus“ hätte darauf natürlich schon eine „reduktionistische“ Antwort:

„Das stellt für eine traditionelle marxistische Konzeption kein Problem dar: jeglicher ideologischer Inhalt hat eine eindeutige Klassen-Konnotation und jeder Widerspruch kann – über ein mehr oder weniger kompliziertes System von Vermittlungen – auf einen Klassenwiderspruch reduziert werden.“ (17).

Laclau stellt dem seine Konzeption gegenüber:

„Diesem reduktionistischen Ansatz stellen wir die folgenden Thesen entgegen: 1. Klassenkampf ist nur das, was Klassen als solche konstituiert. 2. daher ist nicht jeder Widerspruch ein Klassenwiderspruch, doch jeder Widerspruch ist durch den Klassenkampf überdeterminiert.“ (18)

Mit dem zweiten Halbsatz – dem noch verbliebenen Rest des strukturalistischen Marxismus – werden Laclau und Mouffe bald brechen.

Wichtig für uns ist jedoch, dass, nachdem die Konstitution der ArbeiterInnenklasse ausschließlich auf der Ebene der Ökonomie verortet wird, nicht nur der Klassenbegriff, sondern notwendigerweise auch der Klassenkampf auf die ökonomische Ebene reduziert wird. Für ihn erstreckt sich nämlich der Klassenantagonismus auf die ökonomische Sphäre, während sich außerhalb der Produktionsweise eigentlich keine Klassen mehr gegenübertreten. Er kommt daher zu folgendem Schluss:

„In diesem Antagonismus würden die Beherrschten sich nicht als Klasse verstehen, sondern als ‚die Anderen’, als ‚Gegenmacht’ zum herrschenden Machtblock, als ‚Unterdrückte’. Während der erste Widerspruch – auf der Ebene der Produktionsweise – sich ideologisch in der Anrufung der Handelnden als Klasse ausdrückt, wird dieser zweite Widerspruch ausgedrückt in der Anrufung der Handelnden als Volk. Der erste Widerspruch ist Sphäre des Klassenkampfes, der zweite die Sphäre des popular-demokratischen Kampfes. Das ‚Volk’ oder die ‚popularen Schichten’ sind nicht, wie einige Konzeptionen unterstellen oder in den marxistischen politischen Diskurs geschmuggelte liberale oder idealistische Begriffe. Das ‚Volk’ ist eine objektive Determinante des Systems und von der Klassendetermination zu unterscheiden: Das Volk ist einer der Pole des in einer Gesellschaftsformation dominierenden Widerspruchs, der nur unter Berücksichtigung der politischen und ideologischen Herrschaftsverhältnisse (und nicht bloß der Produktionsverhältnisse) zu begreifen ist. Während der Klassenwiderspruch der dominierende Widerspruch auf der abstrakten Ebene der Produktionsweise ist, dominiert auf der Ebene der Gesellschaftsformation der Widerspruch zwischen dem Volk und dem Machtblock.“ (19)

Nachdem Laclau mit dem Marx`schen Verständnis einer Gesellschaftsformation und dessen Klassenbegriff gebrochen hat, stellt er nun dem Marx`schen Konzept ein Modell zweier gesellschaftlicher Sphären gegenüber, die von verschiedenen Widerspruchsverhältnissen geprägt seien.

Als Subjekt der Veränderung, als Teil eines Pols gesellschaftlicher Widersprüche tritt nun das „Volk“ in Erscheinung. Anders als in seinen späteren Schriften bleibt Laclau hier aber noch bestimmten marxistischen Momenten, darunter auch dem Ziel, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, verhaftet.

Er führt jedoch schon in „Politik und Ideologie des Marxismus“ eine zentrale Vorstellung ein, die sich seither in den Arbeiten von Laclau und Mouffe immer wieder findet:

„Die popular-demokratische Anrufung hat nicht nur keinen präzisen Klasseninhalt, sie ist vielmehr das zentrale Feld des ideologischen Klassenkampfes. Jede Klasse kämpft auf ideologischem Gebiet gleichzeitig als Klasse und Volk oder, genauer, sucht ihren ideologischen Diskurs kohärent zu machen, indem sie ihre Klassenziele als Erfüllung populistischer Ziele hinstellt.“ (20)

Und noch deutlicher:

„Wenn Klassen auf der ideologischen und politischen Ebene auftreten – da die Produktionsverhältnisse die letztlich bestimmende Instanz bleiben – und wenn die Inhalte der Ideologie und der politischen Praxis nicht mehr die notwendigen Existenzformen von Klassen auf diesen Ebenen sind, so kann dieses Auftreten nur erklärt werden, wenn man davon ausgeht, daß der Klassencharakter einer Ideologie durch ihre Form und nicht durch ihren Inhalt gegeben ist. Worin besteht die Form einer Ideologie? Wir haben an anderer Stelle gesehen, daß die Antwort im Artikulationsprinzip ihrer konstituierenden Anrufungen liegt. Der Klassencharakter eines ideologischen Diskurses zeigt sich in seinem, wie wir es nennen, spezifischen Artikulationsprinzip.“ (21)

Der Autor verdeutlicht das selbst am Beispiel des Nationalismus. Dieser hätte „für sich selbst betrachtete (…) keine Klassenkonnotation.“ (22) Er könnte von feudalen, bürgerlichen und „sozialistischen“ Kräften gleichermaßen gebraucht werden.

Als Beispiel für den „feudalen Nationalismus“ führt er die Politik Bismarcks an. Hier hätte der Nationalismus zur Aufrechterhaltung eines hierarchisch-autoritären Systems traditionellen Typus geführt. Er verkennt dabei vollkommen, dass auch der Nationalismus Bismarcks einem bürgerlichen Zweck, nämlich der Herstellung der deutschen Einheit, diente, dass das Bürgertum dabei jedoch politisch das Zepter einer besonderen Form des preußischen Bonapartismus übergeben musste, um seine Ziele umsetzen zu können.

Auf der anderen Seite habe jedoch Mao den chinesischen Nationalismus erfolgreich mit kommunistischer Politik verbunden. Laclau unterscheidet hier nicht zwischen der Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes und der Übernahme nationalistischer Ideologie. Die vermeintliche Stärke des Maoismus, sein positiver Bezug zum Nationalismus und dessen Übernahme, stellte in Wirklichkeit eine grundlegende politische Schwäche dar. Damit sollte ursprünglich die Anpassung an die nationale Bourgeoisie und damit eine strategische Unterordnung unter die „demokratische“ Revolution gerechtfertig werden, später diente der Nationalismus als Rechtfertigungsideologie für die Herrschaft einer bürokratischen Kaste in Maos China und ist vergleichbar mit der Wiederbelebung des russischen Nationalismus unter Stalin.

Am Beispiel des Nationalismus zeige sich Laclau zufolge, welche „Elemente“ des ideologischen Diskurses „keine Klassenkonnotation“ hätten. Der Nationalismus oder der Volksbegriff sind aber schließlich nicht irgendwelche Ideologien, sondern zentrale Elemente der Ideologien der herrschenden Klassen im Kapitalismus selbst. Sie sind unverzichtbar zu Rechtfertigung bürgerlicher Herrschaft, weil in der Nation oder im Volk notwendigerweise der Klassenantagonismus verschwindet und im Rahmen einer imaginären Einheit aufgelöst wird.

Mit Laclaus Vorstellung jedoch, dass „Elemente“ von Ideologien keinen Klasseninhalt hätten, sondern situativ im Interesse dieser oder jener Klasse zusammengesetzt, also durch eine „Artikulationskette“ miteinander verbunden würden, entfällt nicht nur die Notwendigkeit, eine revolutionäre Theorie und Programmatik gemäß den Klasseninteressen des Proletariats auszuarbeiten, sondern auch die herrschende Klasse hat eigentlich keine eigene Ideologie. Die vorherrschenden Ideen sind bei Laclau nicht, wie bei Marx, die Ideen der Herrschenden, sondern eigentlich ein Patchwork, das in einer bestimmten Situation hegemonial geworden sei.

In „Politik und Ideologie des Marxismus“ schwingt bei Laclau noch immer ein Moment von Marxismus mit. So geht er bei allem revisionistischen Eifer davon aus, dass seine Theorie der sozialistischen Bewegung ein weites politisches Feld eröffne, weil sie so viel besser – und ohne allzu viel Rücksicht auf „traditionelle“ Vorbehalte gegen Volk und Nation – ein weites Feld der Politik, der „antagonistischen Artikulation“ finden könne. Laclau unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem Populismus der „Eliten“ (z.B. im Faschismus) und einem Populismus der Linken, dessen höchste Form der Sozialismus wäre.

Doch wie wir gesehen haben, stehen diese Vorstellungen letztlich in einem theoretischen Spannungsverhältnis. Laclau merkt schon 1981 an, dass seine „Studien zu Faschismus und Populismus zu buchstäblich den traditionellen marxistischen Klassenbegriff akzeptiert und unterstellt habe, daß nur die Klassen sich als hegemoniale Kräfte konstituieren können.“ (23)

Unabhängig davon bricht schon „Hegemonie und Politik im Marxismus“ mit grundlegenden Positionen des Marxismus. Laut Laclau hätten Ideologien, politische Theorien, Programme keinen notwendigen Klassencharakter oder -inhalt, ebenso wenig wie der Staat. Diese seien vielmehr Felder, auf denen der Kampf um Hegemonie ausgetragen werde.

Die Überreste an „Klassenpolitik“ sind daher schon damals nicht mehr als „Überreste“. Und damit sollte auch bald Schluss sein. Der Untertitel des Buches „Hegemoniale und radikale Demokratie“, das 1983 erstmals erschien, lautet nicht von ungefähr: „Zur Dekonstruktion des Marxismus.“

Angriff auf den Klassenbegriff

Wenn wir Laclaus erste Schriften noch als Versuche verstehen können, den Marxismus „zu bereichern“, in dem durch die Wende zum Populismus ein „hegemonialer Block“ um die ArbeiterInnenklasse geschaffen würde, so geht es in Mouffes und Laclaus Werk „Hegemoniale und radikale Demokratie“ darum, zu beweisen, dass marxistische Politik selbst außer Stande sei, gesellschaftlich hegemonial zu werden, weil sie Klassenpolitik sei. Für Mouffe und Laclau haben alle politischen und theoretischen Kämpfe in der ArbeiterInnenbewegung und im Marxismus der letzten 150 Jahre letztlich einen sekundären Charakter:

„Selbst jene marxistischen Strömungen, die am härtesten für die Überwindung des Ökonomismus und Reduktionismus gekämpft haben, haben auf die eine oder andere Weise jene essentialistische Konzeption der Strukturierung des ökonomischen Raums beibehalten, die wir gerade beschrieben haben. Demgemäß war die Debatte zwischen ökonomistischen und anti-ökonomistischen Strömungen innerhalb des Marxismus notwendigerweise auf das sekundäre Problem reduziert, welches Gewicht den Überbauten bei der Bestimmung von historischen Prozessen beigemessen werden sollte.“ (24)

Daher müssten auch die Grundsätze der ökonomischen Theorie einer Kritik unterzogen werden:

„Unsere drei Bedingungen für die grundlegende Konstitution hegemonialer Subjekte durch die ökonomische Ebene entsprechen drei Grundthesen der klassischen marxistischen Theorie: die Bedingung bezüglich des endogenen Charakters der Bewegungsgesetze der Ökonomie korrespondiert mit der These der Neutralität der Produktivkräfte; die Bedingung der Einheit der sozialen Agenten auf der ökonomischen Ebene mit der These der wachsenden Hegemonisierung und Verelendung der Arbeiterklasse; und die Bedingung, dass die Produktionsverhältnisse der Ort der ‚historischen Interessen’ sein sollten, die den ökonomischen Bereich transzendieren, mit der These, dass die Arbeiterklasse ein fundamentales Interesse am Sozialismus hat. Wir werden nun zeigen, dass diese drei Thesen falsch sind.“ (25)

Wir wollen im Folgenden die „Beweisführung“ von Laclau und Mouffe selbst einer Prüfung unterziehen.

1.

Laclau und Mouffe beginnen damit, dass der Marxismus zur Begründung seiner Theorie selbst auf eine „Fiktion“ habe zurückgreifen müssen: „er stellte sich die Arbeitskraft als Ware vor.“ (26). Wie begründen sie diese recht eigenwillige These? Durch eine Kritik an der Bestimmung des Begriffs der Ware Arbeitskraft, ihres Wertes usw.? Mitnichten.

Statt dessen wird, nicht zum ersten Mal in ihren Ausführungen, unterstellt, dass es sich Marx und nach ihm alle MarxistInnen zu einfach gemacht hätten. Sie hätten nämlich über hundert Jahre lang „übersehen“, dass der Kapitalist die Arbeitskraft nicht nur kaufen, sondern auch dazu bringen müsse zu arbeiten.

„Dieser wesentliche Aspekt entgeht jedoch der Auffassung von Arbeitskraft als einer Ware, deren Gebrauchswert Arbeit ist. Wenn sie lediglich eine Ware wie andere wäre, könnte der Gebrauchswert offensichtlich vom Augenblick des Kaufs an automatisch effektiv gemacht werden.“ (27)

Wenn diese „Argumentation“ etwas beweist, so nur, dass sich Mouffe und Laclau nicht einmal die Mühe gemacht haben, Marx zu lesen.

Dieser verweist selbst darauf, dass die Arbeitskraft insofern eine besondere Ware darstelle, als sie sich selbst zum Markte trage. Gerade weil der Produktionsprozess des Kapitals Arbeitsprozess und Verwertungsprozess zugleich sei, tobe ein Klassenkampf um die Länge des Arbeitstages, die Intensität der Arbeit, kurzum die Ausbeutungsrate, der beständig die Form eines veritablen Kleinkrieges zwischen Lohnarbeit und Kapital annehme und z.B. im Kampf um den 10-Stunden-Tag zum offenen politischen Klassenkampf werden könne. Marx widmet diesem Thema ganze Abschnitte des Ersten Bandes des Kapitals, darunter das berühmte über den Arbeitstag:

„Von ganz elastischen Schranken abgesehn, ergibt sich aus der Natur des Warenaustausches selbst keine Grenze des Arbeitstags, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke des Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch die Gesetze des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstages als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“ (28)

Mehr noch. Marx beschäftigt sich im Kapital unter anderem mit der Notwendigkeit des Kapitals, eine ganze Schicht unproduktiver Unteroffiziere des Kapitals (lieutenants of Labour) anzuheuern, ein System der Produktion als Verwertungsprozess zu installieren, das immer auch die Kontrolle der Arbeitskraft inkludiert, sicherstellen soll, dass nicht gebummelt wird usw. So verweist er selbst im Abschnitt über die „Kooperation“ darauf, dass der Kapitalist Aufsicht und Kontrolle der ArbeiterInnen ab einer gewissen Größe des Betriebs auf spezialisierte Gruppen von Lohnabhängigen übertrage: „Wie eine Armee militärischer, bedarf eine unter dem Kommando desselben Kapitals zusammenwirkende Arbeitermasse industrieller Oberoffiziere (Dirigenten, managers) und Unteroffiziere (Arbeitsaufseher, foremen, overlookers, contre-maîtres), die während des Arbeitsprozesses im Namen des Kapitals kommandieren.“ (29)

Hinzu kommt, dass Marx selbst im Kapitel über den Arbeitstag darauf hinweist, dass sich die kapitalistische Produktionsweise von vorhergehenden Systemen der Ausbeutung dadurch unterscheide, dass ihr Bedürfnis nach Mehrarbeit schrankenlos sei.

„Indes ist klar, daß, wenn in einer ökonomischen Gesellschaftsformation nicht der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert des Produkts vorwiegt, die Mehrarbeit durch einen engern oder weitern Kreis von Bedürfnissen beschränkt ist, aber kein schrankenloses Bedürfnis nach Mehrarbeit aus dem Charakter der Produktion selbst entspringt.“ (30)

Diese Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise bedeutet keineswegs, dass dem Gebrauchswert oder dem konkreten Gebrauch der Ware Arbeitskraft keine Bedeutung zukommen. Es verdeutlicht vielmehr, warum der Produktionsprozess als Kontrollprozess der Ware Arbeitskraft organisiert sein muss, warum die Produktionsweise selbst zu einer ständigen Umwälzung nicht nur der Technik, sondern auch der Kontrollformen der lebenden Arbeit führt und führen muss. Marx analysiert und illustriert dies u.a. in den Kapiteln über den relativen und absoluten Mehrwert. In diesen Kapiteln beschäftigt sich Marx außerdem mit einem weiteren Phänomen, das er lt. Laclau/Mouffe „vergessen“ habe, nämlich dass sich das Kapital die produktiven Potenzen der Arbeitenden aneigne. So werfen sie, Bowles/Gintis zitierend, der Werttheorie vor:

„Die Bestimmung der Arbeit als Gebrauchswert der Arbeitskraft für das Kapital verdunkelt die absolut fundamentale Unterscheidung von produktiven Impulsen, die in zu sozialen Praxen fähigen Menschen verkörpert sind und all jenen übrigen Inputs, für die der Besitz durch das Kapital hinreichend ist, den ‚Konsum’ ihrer produktiven Dienste zu erreichen.“ (31).

Wenn wir unter dem „fundamentalen Unterschied“ verstehen, dass bestimmte Interessen, Fähigkeiten … der Arbeitskraft, die für eine bestimmte Tätigkeit nicht gebraucht werden (z.B. die Fähigkeit, bei der Fleißbandarbeit mehrere Sprachen zu sprechen), so sind des einfach Fähigkeiten, die das Kapital nicht nutzt, die daher auch nicht verausgabt werden und auch nicht in die Produktion eingehen. Es zeichnet letztlich jede Tätigkeit im kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozess aus, dass die LohnarbeiterInnen auf bestimmte, einseitige Verausgabung ihrer menschlichen Fähigkeiten reduziert werden.

Wenn damit gemeint ist, dass sich das Kapital auch weniger normierte Kenntnisse aneignet, die nicht im „automatischen“ Prozess des Fabriksystems absorbiert werden, so handelt es sich hier um Tätigkeiten und Fähigkeiten, die bislang nur formell und nicht reell unter das Kapital subsumiert sind. Der Gang der kapitalistischen Entwicklung zeigt jedoch, dass auch diese Tätigkeiten mehr und mehr dem Kapital vollständig unterworfen, reell subsumiert werden. IngenieurInnen oder IT-SpezialistInnen können davon ein Lied singen.

Schließlich könnte mit der Formulierung gemeint sein, dass die Produktivkraft der ArbeiterInnen nicht nur als individuelle, sondern als kooperative, als Massenkraft, fungiert. Im Kapitalismus erscheint auch diese Fähigkeit des Gesamtarbeiters nicht als Produktivkraft der Arbeit, sondern als eine des Kapitals – nicht etwa, weil das Kapital selbst „produktiv“ wäre, sondern weil die Kooperation die Zentralisation der Produktivkraft voraussetzt und daher Anleitung und Kommando durch den Eigentümer der Produktionsmittel oder seiner StellvertreterInnen im Produktionsprozess.

„(…) unter allen Umständen ist die spezifische Produktivkraft des kombinierten Arbeitstags gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit oder Produktivkraft gesellschaftlicher Arbeit. Sie entspringt aus der Kooperation selbst. Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ (32)

Da jedoch die Produktionsmittel in den Händen der KapitalistInnenklasse monopolisiert sind, können die ArbeiterInnen ihre Fähigkeiten nur in entfremdeter Form entfalten, unter dem Kommando des Kapitals. Daher erscheint ihnen die gesellschaftliche Produktivkraft als Produktivkraft des Kapitals. „Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen daher ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft.“ (33)

2.

Wir müssen an dieser Stelle kurz zu Marx’ Bestimmung der ArbeiterInnenklasse als Klasse doppelt freier LohnarbeiterInnen zurückkommen, also als eine Gruppe von Menschen, die einerseits von tradierten feudalen Banden befreit ist, sich frei bewegen und frei Verträge abschließen kann, andererseits frei von Produktionsmitteln ist, also gezwungen ist, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen. Diese Bestimmung ist – anders als es sich Laclau in „Politik und Ideologie im Marxismus“ vorstellt – keine, die sich nur auf die Sphäre der Produktion oder der Ökonomie bezieht. Es ist von vornherein die Bestimmung einer gesellschaftlichen Klasse (nicht nur eines Produktionsagenten). Die Laclau`sche Verengung des Klassenbegriffs, die sich ihm aus den System-konstruktionen des Strukturalismus aufdrängt, verengt diesen Begriff nicht nur, sie schafft auch Probleme, die der Marx’sche Klassenbegriff nicht kennt. Oder anders herum, Laclau selbst sitzt einer bestimmten notwendigen Erscheinungsform der ArbeiterInnenklasse im Kapitalismus auf. Sie erscheint nämlich nicht „spontan“ als Klasse, sondern nur als EinkommensbezieherIn, als WarenbesitzerIn unter anderen.

Dass sie im Kern eine gesellschaftliche Klasse ist, wird im Kapitalismus notwendigerweise selbst ideologisch verschleiert, ganz so, wie der Mehrwert und die Ausbeutung im Arbeitslohn verschwinden und z.B. die illusorische Vorstellung eines „gerechten Lohns“ entsteht. An der gesellschaftlichen Oberfläche erscheint die ArbeiterInnenklasse (wie auch die anderen Klassen) nur durch ihre Einkommensquellen verschieden. Der von Laclau dem Marxismus unterschobene Klassenbegriff ist eigentlich selbst nur ein verkürzter Begriff der Klasse. Diese erscheint bei ihm nur im Kaufakt. Ihre gesellschaftlichen und politischen Dimensionen, aber auch der Kampf um den Mehrwert im Produktionsprozess erscheinen daher als vom Marxismus „übersehen“. In Wirklichkeit „übersehen“ bzw. missverstehen Laclau und Mouffe nur den Marxismus.

Im Kapitel „Verwandlung von Geld in Kapital“ wirft Marx selbst ein Licht auf das Verständnis des Kapitalverhältnisses als gesellschaftliches Verhältnis (und eben nicht nur der Produktion). Bevor er Kauf und Verkauf der Arbeitskraft analysiert, formuliert er selbst das Problem, wie sich der Wert verwerten, wie Ware und Geld in Kapital verwandelt werden können:

„Es ist also unmöglich, daß der Warenproduzent außerhalb der Zirkulationssphäre, ohne mit andren Warenbesitzern in Berührung zu treten, Wert verwerte und daher Geld oder Ware in Kapital verwandle.

Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebenso wenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.

Ein doppeltes Resultat hat sich also ergeben.

Die Verwandlung des Geldes in Kapital ist auf Grundlage dem Warenaustausch immanenter Gesetze zu entwickeln, so daß der Austausch von Äquivalenten als Ausgangspunkt gilt… Unser nur noch als Kapitalistenraupe vorhandener Geldbesitzer muß die Waren zu ihrem Wert kaufen, zu ihrem Wert verkaufen und dennoch am Endes des Prozesses mehr Wert herausziehn, als er hineinwarf. Seine Schmetterlingsentfaltung muß in der Zirkulationssphäre und muß nicht in der Zirkulationssphäre vorgehn.“ (34)

Diese Ware findet der Kapitalist in der Ware Arbeitskraft, einer Klasse von doppelt freien LohnarbeiterInnen vor. Das zeigt jedoch, dass der Begriff der ArbeiterInnenklasse – wie der des Kapitals – nicht nur einer der Produktion ist, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt.

3.

Die oben angeführte Behauptung, die die Marx`sche Theorie selbst missversteht und zugleich der Arbeit zahlreicher MarxistInnen widerspricht, zeigt einen „verflachten Begriff“ der ArbeiterInnenklasse und verweist darauf, dass Laclau und Mouffe gegen ein von ihnen selbst konstruiertes Zerrbild des Marxismus anschreiben. In Wirklichkeit geht es ihnen vor allem darum, dem Marxismus einen Begriff von ArbeiterInnenklasse zu unterschieben, den er nie hatte. Das verdeutlicht auch folgende Passage.

„Ein großer Teil der kapitalistischen Organisation der Arbeit kann nur verstanden werden als ein Ergebnis der Notwendigkeit, Arbeit aus der vom Kapitalisten gekauften Arbeitskraft herauszupressen. Die Entwicklung der Produktivkraft wird unverständlich, wenn diese Notwendigkeit für den Kapitalisten, seine Herrschaft mitten im Herzen des Arbeitsprozesses auszuüben, nicht begriffen wird. Diese stellt allerdings die gesamte Idee der Produktivkraftentwicklung als einem natürlichen, spontan progressiven Phänomen in Frage. Wir können daher sehen, dass sich beide Faktoren – Arbeitskraft als Ware und Produktivkraftentwicklung als neutraler Prozess – wechselseitig verstärken.“ (35)

Wir haben schon oben gesehen, was es mit dem „Nichtbegreifen“ der „Herrschaft im Herzen des Arbeitsprozesses“ auf sich hat. So wie die marxistische Analyse und ein guter Teil der Literatur zum Thema ignoriert oder z.B. die Analysen von Braverman (36) und Edwards (37) entstellt werden, so entpuppt sich auch die gesamte Vorstellung der Produktivkraftentwicklung als eines „natürlichen, spontanen, progressiven Phänomens“ nicht als marxistische Idee, sondern als dem Marxismus untergeschobene Vorstellung, hinter der das Unvermögen steht, die dialektische, widersprüchliche Bewegung der Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus zu begreifen.

Schon die oben zitierten Passagen aus dem Kapital, die auf den Klassenkampf im Produktionsprozess verweisen, verdeutlichen, dass Marx weit von der Vorstellung einer „Produktivkraftentwicklung als neutralem Prozess“ entfernt ist. In Wirklichkeit trifft das Gegenteil zu. Der grundlegende Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen, auf den Marx u.a. im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie verweist, kann überhaupt nur verstanden werden, wenn wir den konflikthaften Verlauf dieses Prozesses im Auge haben. Ansonsten bliebe es vollkommen unverständlich, wie dieser Widerspruch sich zuspitzt, zu Krisen und zu seiner revolutionären Überwindung treiben muss.

Hinzu kommt, dass Marx im Kapital selbst wieder einmal ziemlich das Gegenteil von dem herleitet, was ihm Laclau und Mouffe unterstellen. So heißt es im Abschnitt über „Große Industrie und Agrikultur“ zusammenfassend:

„Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (38)

Für Marx stellen die gesellschaftliche Arbeit und die Erde selbst entscheidende Produktivkräfte dar. Dazu bedarf es keiner großen Kenntnis seines Werkes. Gerade daraus, dass die Produktivkraftentwicklung kein „neutraler“ Prozess ist, sondern in der kapitalistischen Form zu einer Zuspitzung führen muss, leitet sich auch die Notwendigkeit der Zuspitzung des Klassenkampfes und des revolutionären Sturzes durch das Proletariat ab. Das Fortschrittliche für Marx (und alle anderen revolutionären KommunistInnen) an der Produktivkraftentwicklung besteht nicht darin, dass die Produktivkraftentwicklung ein „neutraler“ Prozess wäre, sondern dass sie die Bedingungen für den revolutionären Sturz der Verhältnisse schafft.

4.

Auch die Vorstellung, dass die ArbeiterInnenklasse selbst qua Logik der Akkumulation immer homogener würde, entspringt einem Zerrbild des Marxismus.

Die Marx`sche Analyse selbst verweist darauf, dass es nicht nur „den Proletarisierungsprozess“ gibt, sondern dass die ArbeiterInnenklasse zugleich auch immer durch die Entwicklung der Akkumulation neu zusammengesetzt wird. Das schließt die Freisetzung bestimmter ArbeiterInnen ein, die Bildung einer „industriellen Reservearmee“ und verschiedener Schichten des Subproletariats (nicht zu verwechseln mit dem „Lumpenproletariat“). Auch Marx kennt den Unterschied von gelernten und ungelernten ArbeiterInnen, von produktiver und unproduktiver Arbeit. Auch wenn er keine Klassentheorie der Beschäftigten im staatlichen Sektor herleitet, so kennt er sehr wohl Berufsgruppen, die aufgrund ihrer verlängerten Kapital/Kontrollfunktion im Produktionsprozesse (z.B. die VorarbeiterInnen im 19. Jahrhundert) oder aufgrund ihre Repressionsfunktion (PolizistInnen) nicht zur ArbeiterInnenklasse zählen, obwohl sie ihr Einkommen in Lohnform beziehen. Er kennt selbstredend auch die Spaltung der Klasse entlang von Geschlecht, Alter, Nationalität und rassistischer Unterdrückung.

Die Auseinandersetzungen in der Ersten Internationale um die Frage der Migration, des Kampfes gegen nationale Unterdrückung, um die Frauenarbeit usw. zeigen deutlich, dass Marx weit davon entfernt war, einen automatischen Prozess der „Homogenisierung“ zu unterstellen. Im Gegenteil: Sein Kampf in der Ersten Internationale zeigt, dass er sich der Notwendigkeit bewusst war, dass diese Einheit politisch erstritten werden muss. So verdeutlicht er, warum die Anerkennung und Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts des irischen Volkes eine Voraussetzung für den gemeinsamen Klassenkampf der englischen und irischen ArbeiterInnen und für die Unabhängigkeit des englischen Proletariats von der britischen Bourgeoisie darstellt. Besonders deutlich wird dies aus seinen Schlussfolgerungen aus dem Scheitern der Pariser Kommune, in denen er die Notwendigkeit der Schaffung von ArbeiterInnenparteien in allen Ländern erkannte, um von einer nächsten revolutionären Gelegenheit nicht überrascht zu werden, sondern diese bewusst nutzen zu können.

Engels analysiert Ende des 19. Jahrhunderts die Bildung einer ArbeiterInnenaristokratie in Britannien, deren ökonomische Basis das Weltmarktmonopol des Landes darstellt. Lenin knüpft in seiner Imperialismustheorie an Engels an und arbeitet heraus, dass der Imperialismus die Grundlage für die Bildung einer ArbeiterInnenaristokratie in allen imperialistischen Ländern (und heute sicher auch in vielen Halbkolonien) gelegt hat. Darüber hinaus zeigt der Marxismus aber auch, dass eine globale Homogenisierung der ArbeiterInnenklasse in der imperialistischen Epoche unmöglich ist, da die vom Imperialismus unterdrückten und ausgebeuteten Ländern notwendigerweise nicht dieselbe Sozialstruktur wie die herrschenden Nationen entwickeln können, da die Kapitalakkumulation in ihrem Inneren durch das Finanzkapital der herrschenden Nationen, die von ihnen bestimmten Kapitalströme, bestimmt wird. Politisch und militärisch wird diese Ordnung von den selbst miteinander in Konkurrenz stehenden Großmächten bestimmt und gesichert.

Ein weiteres, mit der imperialistischen Epoche eng verbundenes Phänomen, das für die Bildung der ArbeiterInnenklasse von größter Bedeutung ist, liegt in der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, die generell die Entwicklung prägt. So sind – ähnlich wie Russland um die Jahrhundertwende – heute viele, insbesondere halbkoloniale Länder, von extremen Gegensätzen gekennzeichnet. Eine moderne industrielle Produktion und eine dementsprechend konzentrierte ArbeiterInnenklassse gehen einher mit extremen Formen der Rückständigkeit. Für den revolutionären Marxismus stellt das in der aktuellen Entwicklung keine vorübergehende Erscheinung dar, sondern bildet vielmehr ein allgemeines Merkmal des Kapitalismus in der Niedergangsepoche und in einer sich verschärfenden Krisenperiode.

Schließlich bedeutet auch jede Krisenperiode, dass die ArbeiterInnenklasse selbst weiter nach unten gedrückt wird und ihre Heterogenität auf ökonomischer Ebene größer wird, in akuten Krisen größere Teile sogar ins Lumpenproletariat absinken können. Die gesamte Vorstellung einer stetigen Homogenisierung der Klasse (und bereits oben widerlegte „Neutralität“ der Produktivkräfte“) wird dem Marxismus unterschoben.

Nicht minder oberflächlich ist in diesem Zusammenhang die Zurückweisung der Verelendungstheorie. Auch hier gehen Laclau und Mouffe auf die Theorie der „relativen Verelendung“ der ArbeiterInnenklasse erst gar nicht ein. Dieser begegnen wir nämlich auch in Phasen der Expansion und der Erhöhung des Arbeitslohns, denn auch dann wird der neu geschaffene Reichtum in Form des Mehrwerts beständig auf Seiten des Kapitals angehäuft. So schreibt Marx: „Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß.“ (39) Es wachsen also auch in der Periode der kapitalistischen Expansion die ökonomische Abhängigkeit der ArbeiterInnenklasse und die Dominanz des Kapitals.

Die LinkspopulistInnen sind für die Theorie der „relativen Verelendung“ blind, weil sie die immer stärkere Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit aus den Augen lassen, die immer umfassendere Unterordnung, Vereinseitigung und Entfremdung. Im sozialdemokratischen Modell des Sozialstaats, aber auch im Stalinismus verkommt die „Befreiung“ der Klasse zu einer staatlichen Wohlfahrtsleistung, die die Entfremdung nicht aufheben kann, sondern nur schöner ausgestalten will. Für Marx hingegen bleibt auch die etwas besser bezahlte Lohnarbeit Lohnsklaverei.

Heute leben wir in einer Periode, in der immer größere Teile der Klasse mit sinkenden Einkommen zu kämpfen haben, in der selbst in den tradierten imperialistischen Zentren wie Deutschland Millionen zu prekär Beschäftigten wurden und werden, zu einem Heer von „working poor“, samt Kindern und RentnerInnen in Armut. Ebenso wächst in Ländern wie China und Indien z.B., wo sich die industrielle Produktion fieberhaft ausdehnt, auch die Zahl der überausgebeuteten Armen.

5.

Bleiben wir beim letzten „Einwand“ von Laclau und Mouffe gegen den Marxismus: Es gebe weder ein „historisches Interesse“ der ArbeiterInnenklasse noch ein grundlegendes Interesse am Sozialismus, das aus einer Position im ökonomischen Prozess deduziert werden könne. Dabei führen sie gegen den Marxismus an, dass sich die Klasse nicht spontan aus der ökonomischen Bewegung Richtung Sozialismus entwickeln würde.

Letztere Erkenntnis ist für MarxistInnen freilich nicht neu. Sie erklärt sich vielmehr logisch, wenn wir, anders als Mouffe und Laclau, davon ausgehen, dass die herrschenden Ideen einer Gesellschaftsformation die Ideen der Herrschenden sind, dass diese als bürgerliche Ideologie auch die ArbeiterInnenklasse prägen und dominieren. Das Lohnarbeitsverhältnis selbst erzeugt, wie Marx in der Analyse der Lohnform zeigt, notwendigerweise ein ideologisches, verkehrtes Bewusstsein der realen gesellschaftlichen Verhältnisse:

„Im Ausdruck: ‚Wert der Arbeit’ ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöscht, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck, wie etwa Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse.“ (40)

Marx formuliert dazu: „Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (41)

Es sind aber eben die gesellschaftlichen Verhältnisse, die aufgrund ihrer inneren Widersprüchlichkeit immer wieder auch diese Verhältnisse in Frage stellen, die immer wieder und unvermeidlich Kämpfe, Klassenkämpfe, und Krisen hervorbringen.

Der Klassenkampf selbst ist in dem Zusammenhang sowohl ein notwendiges Resultat als auch treibende Kraft, die dieser Widerspruch hervorbringt und die ihn umgekehrt auf die Spitze treibt.

Jeder Kampf – auch der ökonomische, ganz zu schweigen vom politischen Klassenkampf – inkludiert ein Moment der Konfrontation mit dem Gegner, wodurch selbst auf der Ebene des ökonomischen Klassenkampfes die normale Reproduktion der Verhältnisse unterbrochen wird. So legt jeder Streik die Mehrwertproduktion für begrenzte Zeit lahm. Die Menschen werden gezwungen, sich nicht nur zum Kapitalisten als Gegner zu verhalten, sie sind auch gezwungen, ihr eigenes traditiertes Bewusstsein in Frage zu stellen, wenn der Kampf eine gewisse Intensität erreicht. So stellen bei Arbeitskämpfen das Eingreifen des Werkschutzes, der Polizei und der Justiz auf Seiten der KapitalistInnen unwillkürlich auch Illusionen in Repressionskräfte oder den Staatsapparat in Frage. Dasselbe trifft zu, wenn die Polizei Nazis und RechtsextremistInnen schützen.

All das führt natürlich noch lange nicht dazu, dass die Kämpfenden schon ein sozialistisches Bewusstsein erlangen würden. Dieses entsteht nicht aus den Kämpfen, sondern muss vielmehr in diese hineingetragen werden. Aber die Klassenkämpfe schaffen überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass die revolutionäre Theorie, das Programm, Strategie und Taktik auf fruchtbaren Boden fallen können.

Gerade aber weil die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten immer wieder aufs neue angriffen werden, weil alle erkämpften Positionen, aller Errungenschaften im Kapitalismus nur zeitweilige sein können, erwächst aus dem Kampf auch ein Bedürfnis nach einer klassenpolitischen Antwort, nach einem Weg, die aktuelle Auseinandersetzung zu gewinnen, aber auch danach, die Wurzeln des Problems anzugehen.

Es sind gesellschaftliche Krisen, Umbruchmomente, die dies natürlich in weitaus größerer Dimension aufwerfen als begrenzte ökonomische oder soziale Kämpfe. Zur Zeit verdichten sich die allgemein krisenhaften Tendenzen der Kapitalakkumulation und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu einer historischen Krisenperiode.

Dies kann freilich auch nur richtig verstanden werden, wenn der Kapitalismus als eine von Beginn an auf den Weltmarkt bezogene, internationale Produktionsweise und Gesellschaftsformation begriffen wird, weshalb der Klassenkampf international ist. Die ArbeiterInnenklasse selbst ist eine von Beginn an internationale Klasse, wenn auch eine, die sich selbst ihrer eigenen Stellung, ihrer „historischen Aufgabe“ nie spontan bewusst ist. Dazu bedarf es vielmehr einer revolutionären Partei und Internationale.

Die ArbeiterInnenklasse selbst ist die einzige konsequent revolutionäre Klasse im Kapitalismus, weil sie eine Klasse darstellt, die (neben den natürlichen Ressourcen) den Reichtum dieser Gesellschaft hervorbringt, und zwar in zunehmendem Maße. Heute stellt sie auch die Mehrheit der Weltbevölkerung.

Da der Mehrwert von der KapitalistInnenklasse angeeignet wird, muss sich die ArbeiterInnenklasse von der Ausbeutung befreien; sie muss als Klasse von Eigentumslosen, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können, die Enteigner enteignen, die Produktionsmittel in ihren Händen konzentrieren und planmäßig für die Befriedigung der Bedürfnisse der ProduzentInnen und die Herstellung eines nachhaltigen Mensch-Natur-Verhältnisses sorgen. Das ist ihr möglich, weil sie schon Trägerin eines gesellschaftlichen Produktionsprozesse ist, weil sie schon im Kapitalismus und unter der Kontrolle des Kapitals zu einem gesellschaftlichen, kollektiven Gesamtarbeiter geworden ist. Doch um ihre eigenen Potenzen zu entfalten, muss sie aufhören, eine von sich selbst entfremdete Klasse zu sein. Dies kann sie nur, wenn sie die Ausbeutung selbst aufhebt, und das heißt als ersten Schritt, die politische Macht zu ergreifen, die herrschende Klasse zu enteignen und deren staatliche Machtmittel zu zerschlagen. Nur sie kann auf diese Weise die Grundlagen für die Abschaffung jeder Form der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen legen. Und das heißt auch, die Grundlage für die Aufhebung ihrer eigenen Existenz als Klasse, die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft zu legen.

Für alle anderen gesellschaftlichen Klassen trifft das nicht zu. Die KapitalistInnenklasse wird natürlich nicht sich selbst abschaffen, indem sie ihre Produktionsmittel freiwillig abgibt. Sie wird, im Gegenteil, mit allen Mittel kämpfen, ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten und zu festigen.

Doch auch das KleinbürgerInnentum wird nie zu einer eigenständigen, antikapitalistischen Politik fähig sein. Als Klasse von KleinbesitzerInnen an Produktionsmitteln droht sie einerseits von der überlegenen Konkurrenz an den Rand gedrückt zu werden, andererseits fürchtet sie aber den Abstieg in die ArbeiterInnenklasse, also den Verlust ihres Privateigentums an den Produktionsmitteln. Daher nimmt ihre Politik notwendigerweise einen buntscheckigen, inkonsistenten Charakter an, auch deshalb, weil, streng genommen, das KleinbürgerInnentum selbst in unterschiedliche Schichten zerfällt, von denen die oberen eng mit der herrschenden Klasse, die unteren mögliche Verbündete der ArbeiterInnenklasse sind.

In jedem Fall ist es unmöglich, dass das KleinbürgerInnentum eine eigene, neue gesellschaftliche Ordnung schaffen könnte, denn es ist unmöglich, eine neue Gesellschaft auf Basis einer kleinbürgerlichen Produktionsweise (also einer allgemeinen kleinen Warenproduktion) zu schaffen. Ein solches Unterfangen, würde es denn gestartet, wäre notwendigerweise reaktionär, weil es die schon vorhandene gesellschaftliche Produktion und die Verkehrsmittel der Gesellschaft (Infrastruktur etc.) notwendigerweise zerteilen und in Kleinproduktion aufteilen müsste, die Gesellschaft also zwanghaft zurückentwickeln müsste. Das wäre zugleich auch utopisch, woraus sich auch erklärt, dass sich das KleinbürgerInnentum unabhängig von seinem eigenen Willen einer der beiden Hauptklassen der Gesellschaft anschließen muss. Die lohnabhängigen Mittelschichten ähneln dem KleinbürgerInnentum in vieler Hinsicht.

So wie das Proletariat versuchen muss, die unteren Schichten des KleinbürgerInnentum (z.B. auch arme und landlose Bauern) für sich zu gewinnen, so muss es auch versuchen, die lohnabhängigen Mittelschichten – und hier vor allem jenen, die sich ohnedies schon in einem Prozess des Übergangs in die ArbeiterInnenklasse befinden – für sich zu gewinnen. Es ist aber auch klar, dass die oberen Schichten des KleinbürgerInnentum (z.B. Großbauern, bildungsbürgerliche Schichten) und der lohnabhängigen Mittelschichten aufgrund ihre eigenen engen Bindung an die Bourgeoisie bzw. ihre staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen in der Regel nicht gewonnen werden können.

Die Politik der ArbeiterInnenklasse muss also hier darauf abzielen, „untere“ nichtproletarische Schichten oder Klassen um sich als Pol zu gruppieren – und zwar nicht, indem sie auf ihr Klassenprogramm verzichtet, sondern indem sie ein Programm von Übergangsforderungen vertritt, die darauf zielen, die Macht zu erobern und die Gesellschaft auf einer sozialistischen Basis zu organisieren.

Aus all dem wird aber auch noch eines deutlich. In der sozialistischen Revolution spielt das Bewusstein eine ungleich größere Rolle als in der bürgerlichen Revolution. Eine neue, auf eine bewusste Gestaltung menschlicher Beziehungen und eines nachhaltigen Mensch-Natur-Verhältnisses orientierte Gesellschaftsordnung kann nicht „unbewusst“ aufgebaut werden, und schon der Sturz der herrschenden Klasse erfordert eine bewusste Führung, eine klare Strategie und Programmatik.

Da die ArbeiterInnenklasse selbst nicht spontan revolutionäres Klassenbewusstsein entwickelt und auch nicht entwickeln kann, braucht es eine besondere politische Kraft, eine revolutionäre Partei und Internationale, die den Pol der Bewusstheit der Klasse verkörpert, der unerlässlich ist, damit die Klasse überhaupt von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden kann.

Der Kapitalismus ist die höchste Stufe der Klassengesellschaft. Mit ihm endet die menschliche Vorgeschichte. Seine Anatomie liefert den Schlüssel zu der aller vorhergegangenen Gesellschaften. Er schafft die materiellen Voraussetzungen für die Abschaffung aller Klassen, indem er die Elementarbestandteile des Arbeitsprozesses, das subjektive Arbeitsvermögen (Proletariat) und objektive Produktionsbedingungen (Kapital) zwei verschiedenen Gesellschaftsklassen zuweist und somit vollständig voneinander trennt. Somit liefert er auch erstmals in der geschriebenen Geschichte die reale Möglichkeit der Einsicht in ihre Triebfeder, nämlich den Klassenkampf, weil der Kapitalismus ihn auf die Spitze treibt, zuspitzt in den Gegensatz zweier Klassenlager statt in verschiedene Kasten oder Stände. Wie er den Klassenbegriff in Reinform schafft, so auch die real-abstrakten Vorlagen für Vorstellungen wie abstrakte Arbeit, rein ökonomischen Zwang, objektive ideologische Gedankenformen, freies Individuum, wie sie vorkapitalistische Gesellschaften nicht kennen konnten. Unabhängig davon, was die ArbeiterInnenklasse selbst über ihre historische Aufgabe einstweilen denkt, ist sie darum die erste und einzige ausgebeutete Klasse in der Geschichte, die das System der Ausbeutung überhaupt aufheben kann. Keine andere Klasse kann ihr diese Aufgabe abnehmen.

Die postmoderne Wende

Mouffe und Laclau scheitern mit ihrer Widerlegung des Marxismus kläglich. Selbst die Kritik, die sie an den eigenen Pappkameraden aufbauen, ist zum Teil wenig überzeugend und oberflächlich. Den Marxismus selbst müssen sie, wie oben ausgeführt, entstellen, ihm teilweise das Gegenteil von dem unterstellen, was er eigentlich aussagt.

Dieser Fundamentalangriff auf den historischen Materialismus ist jedoch notwendig, um die angebliche Alternativlosigkeit einer Wendung hin zu linkem Populismus zu begründen. Wie wir gesehen haben, unterschieben Mouffe und Laclau dem Marxismus einen ökonomistisch, auf die Sphäre der Produktion verengten Klassenbegriff, um so ihre Behauptung zu „stützen“, dass der Marxismus alle wichtigen gesellschaftlichen Kämpfe auf die Ökonomie „reduziere“. Zugleich bestreiten sie den Klassencharakter politischer Ideen und Ideologien und auch den des staatlichen und sonstigen Überbaus der Gesellschaft.

Es erhebt sich damit jedoch die Frage, woran Mouffe und Laclau selbst den Charakter einer politischen Ideologie festmachen, wie sie selbst zwischen linken und rechten Positionen, zwischen fortschrittlichen und reaktionären unterscheiden, nachdem sich eine Herleitung aus den Klassengegensätzen, die diese Gesellschaft prägen, ihrer Ansicht nach verbiete.

Während eine materialistische Konzeption Ideologien, staatliche und andere Institutionen immer als Ausdruck der ökonomischen Basis der Gesellschaft versteht, konstituieren sich für Mouffe und Laclau gesellschaftliche Akteure, soziale Gruppierungen (inkl. Klassen), der Charakter politischer Ideen usw. im Diskurs selbst.

„Der zweite wichtige Grundsatz des antiessentialistischen Ansatzes lautet, dass gesellschaftliche Akteure von einer Reihe ‚diskursiver Positionen’ konstituiert werden, die innerhalb eines geschlossenen Unterscheidungssystems niemals festgemacht werden können. Sie werden von einer Vielzahl von Diskursen konstituiert, zwischen denen nicht zwangsläufig ein Bezug besteht, sondern eine ständige Überdeterminierungs- und Verdrängungsbewegung. Die ‚Identität’ solcher multipler und widersprüchlicher Subjekte ist somit stets kontingent, prekär, temporär am Schnittpunkt dieser Diskurse festgemacht und unabhängig von spezifischen Identitätsformen.“ (42)

Diese keineswegs neue Vorstellung riecht förmlich nach subjektivem Idealismus. Entlehnt ist sie der neueren postmodernen Philosophie, und ähnlich wie diese versucht sie sich des Vorwurfs des Idealismus durch einen Trick zu erwehren, nämlich, indem sie den „Diskurs“ als eine Form der Überwindung des Gegensatzes von Materialismus und Idealismus hinzustellen versucht.

„Die Tatsache, dass jedes Objekt als Objekt des Diskurses konstituiert ist, hat überhaupt nichts zu tun mit dem Gegensatz von Realismus und Idealismus oder damit, ob es eine Welt außerhalb unseres Denkens gibt. Ein Erdbeben oder der Fall eines Ziegelsteins sind Ereignisse, die zweifelsohne in dem Sinne existieren, dass sie hier und jetzt unabhängig von meinem Willen stattfinden. Ob aber ihre gegenständliche Spezifik in der Form von ‚natürlichen Phänomenen’, oder als ‚Zornesäußerung Gottes’ konstituiert wird, hängt von der Strukturierung des diskursiven Feldes ab. Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, dass sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens von Gegenständigen konstituieren könnten.“ (43)

Diese Position versuchen sie zu untermauern, indem sie behaupten, dass jede diskursive Struktur auch einen materiellen Charakter habe. Dabei greifen sie auf Wittgensteins Theorie der Sprechakte zurück, wonach in der Sprache und mit der Sprache verbundene Handlungen zu einem „Sprechakt“ verbunden werden. Somit inkludiere der „Diskurs“ nicht nur Sprache, Texte, sondern auch Handeln oder auch ein Set von Institutionen des Überbaus (Religion, Kirche Gesetze, staatliche Institutionen. ….).

Diese Ausweitung des Begriffes des Diskurses geht nicht nur mit einer Unschärfe einher, sie erleichtert auch, von einer Frage abzulenken, die obiges Zitat aufwirft. Wenn, wie Laclau/Mouffe behaupten, die Konstituierung der „gegenständlichen Form“ eines Ereignisses von der Strukturierung des diskursiven Feldes abhängig sei, so wird damit die Möglichkeit der Erkennbarkeit der „gegenständlichen“ Form außerhalb des Diskurses im Grunde dementiert oder als unwesentlich beiseite geschoben. Allenfalls wird – wie in verschiedenen anderen Formen des Idealismus – für den „praktischen“, technischen Bereich eine solche Erkennbarkeit anerkannt, alle gesellschaftlichen Phänomene würden jedoch erst im Denken, im Bewusstsein konstituiert – in unserem Fall in einem Diskurs, der sich als „Überwindung“ von Materialismus und Idealismus präsentiert.

Wenn Mouffe und Laclau jedoch behaupten, dass die Konstitution eines Ereignisses „von der Strukturierung des diskursiven Feldes abhängt“, so erhebt sich die Frage, wodurch eigentlich das diskursive Feld strukturiert wird. Dass Mouffe und Laclau den Begriff des Diskurses „materiell“ ausweiten, dient dabei letztlich nur der Verwirrung. Wir werden weiter unten die direkt reaktionären Konsequenzen dieser Theorie betrachten. Davor wollen wir uns jedoch mit einem weiteren Beispiel beschäftigen, das die beiden als Beleg für ihre Theorie anwenden.

Marx verweist im „Kapital“ auf den Unterschied zwischen menschlicher Arbeit und der Tätigkeit von Tieren (Bienen): Der schlechteste Baumeister hätte den Plan für eine Gebäude schon fertig im Kopf, bevor der Grundstein gelegt ist, während die Biene den schönsten Bau nur instinktiv errichtet. Marx verdeutlicht damit, dass es sich bei der menschlichen Arbeit um eine zweckbestimmte Tätigkeit handelt, die notwendigerweise auch ein bewusstes Element einschließt.

Doch wie verhält sich dieses bewusste Element, also die vorher schon existierende Zweckbestimmung, zur materiellen Arbeit selbst. In der „Deutschen Ideologie“ betrachten Marx und Engels die „vier Seiten des ursprünglichen geschichtlichen Verhältnisses“ (Erzeugung der Mittel zur Befriedung des Bedürfnisses; Entdeckung des Bedürfnisses; Konstituierung als Verhältnis unter Menschen, von Mann-Frau, Eltern/Mutter-Kind; Zusammenwirken der Arbeit als kombinierte, gemeinschaftliche Produktivkraft), um sie auf die Entstehung und Entwicklung von Bewusstsein zu beziehen:

„Jetzt erst, nachdem wir bereits vier Momente, vier Seiten der ursprünglichen, geschichtlichen Verhältnisse betrachtet haben, finden wir, daß der Mensch auch ‚Bewußtsein’ hat… Aber auch dies nicht von vornherein, als ‚reines’ Bewusstsein. Der ‚Geist’ hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie ‚behaftet’ zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein – die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen… Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es für mich, das Tier ‚verhält’ sich zu Nichts und überhaupt nicht. (…) Das Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.“ (44)

Dass der Baumeister einen Plan im Kopf hat, folgt daraus, dass die Arbeit selbst ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt, nicht daraus, dass sie erst im Diskurs konstituiert würde.

Daraus lässt sich aber auch erklären, warum das Ereignis „Erdbeben“ z.B. als „natürliches Phänomen“ oder „Zorn Gottes“ begriffen wird, und das hängt nicht von der „Strukturierung des diskursiven Feldes“, sondern von der Entwicklungsstufe der menschlichen Arbeit ab.

Reaktionäre Konsequenzen

Mouffes und Laclaus Angriff auf den dialektischen und historischen Materialismus muss man als einen Angriff auf die theoretische Fundierung der revolutionären ArbeiterInnenbewegung begreifen, der letztlich nicht nur dem Bedürfniss zur Begründung eines „linken Populismus“ entspricht, sondern auch einem Bedürfnis der imperialistischen Bourgeoisie. Der Versuch, eine Form der Überwindung des Gegensatzes von Materialismus und Idealismus zu präsentieren, kehrt in der Philosophie, Soziologie und anderen Sozialwissenschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder und zeigt sich natürlich auch im gesamten Postmodernismus. In „Die Zerstörung der Vernunft“ weist Georg Lukács im Zusammenhang mit der sog. „Lebensphilosophie“ nach, wie die philosophische Konstruktion mit den ideologischen Bedürfnissen der herrschenden Klasse verbunden ist.

„Diese Tendenz, sich über das angeblich falsche Dilemma von Idealismus und Materialismus zu erheben, ist eine allgemeine philosophische Bewegung der imperialistischen Zeit. Beide Richtungen erscheinen dem bürgerlichen Bewußtsein vielfach als kompromittiert: der Idealismus wegen des unfruchtbaren Akademismus seiner Verfasser (mit dem Zusammenbruch der großen idealistischen Systeme im Hintergrund), der Materialismus vor allem wegen seiner Verbundenheit mit der Arbeiterbewegung, wobei erwähnenswert ist, daß der neue, der dialektische Materialismus, in diesen Diskussionen selten auftaucht; der Materialismus der Marxschen Lehre wird einfach mit dem alten Materialismus identifiziert, (…)“ (45)

Nachdem er darauf verweist, dass sich diese Tendenz auf dem Gebiet der Naturwissenschaften rasch und recht unverhüllt als subjektiver Idealismus entpuppt hat, verweist er darauf, dass diese Frage in den Humanwissenschaften anders erscheint:

„Erst wenn die Philosophie über das rein Erkenntnistheoretische hinausgeht, entsteht das eigentliche Problem der Pseudoobjektivität. Das Weltanschauungsbedürfnis der Zeit verlangt nämlich ein konkretes Weltbild, ein Bild von der Natur der Geschichte, des Menschen. Die Gegenstände, die hier gesetzt werden, können zwar laut der herrschenden Erkenntnistheorie nur vom Subjekt geschaffen werden, sie müssen aber zugleich, soll das Weltanschauungsbedürfnis befriedigt werden, als Gegenstände von objektivem Sein vor uns stehen. Eine zentrale Stellung, die in der Methode dieser Philosophie das ‚Leben’ einnimmt, insbesondere in jener spezifischen Form, daß das Leben immer in das ‚Erlebnis’ subjektiviert und Erlebnis als Leben ‚objektiviert’ wird, gestattet ein solches – vor einer wirklichen Erkenntniskritik allerdings nie standhaltendes – Schillern zwischen Subjektivität und Objektivität.“ (46)

Eine ähnliche Funktion erfüllen der „Diskurs“ oder das „Diskursive“ in der Theorie von Laclau und Mouffe. Sie konstituieren einen Rahmen, in dem das Subjekt, das sich im Diskurs „artikuliert“ und konstituiert, freier, unbeschränkter als durch „objektivistische“ oder „essentialistische“ Vorgaben erscheint. Dem Marxismus wird eine „willkürliche“ Reduktion des Subjekts auf einen Aspekt oder eine Nebensächlichkeit, nämlich seine Klassenposition, vorgeworfen, während es sich im Diskurs vielfältiger, „reicher“, weil durch nichts Außerdiskursives „eingeschränkt“, vorkommen kann.

All dies dient in Wirklichkeit nur dazu, die reaktionären Konsequenzen der Theorie zu verschleiern.

Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse

Eine der Konsequenzen aus dieser Strukturierung der Realität besteht darin, dass auch Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse überhaupt erst und nur existieren, wenn sie im Diskurs artikuliert werden. Mouffe und Laclau verweigern sich dabei der Gleichsetzung (Synonymie) von Unterordnungsverhältnis, Unterdrückungsdrückungsverhältnis und Herrschaft.

„Das diese Synonomie ermöglichende Fundament ist ganz offensichtlich die anthropologische Annahme einer ‚menschlichen Natur’ und eines einheitlichen Subjekts: wenn wir a priori das Wesen eines Subjekts bestimmen können, wird jedes Unterordnungsverhältnis, das sich damit vereinbaren lässt, automatisch ein Unterdrückungsverhältnis.“ (47)

Zweifellos existieren auch Unterordnungsverhältnisse, die keine Unterdrückungsverhältnisse darstellen, sondern die sich aus bestimmten Aufgaben ergeben. So verlangt die Tätigkeit des Personals in einem Flugzeug zwar die Unterordnung von Passagieren unter bestimmte Anweisungen (z.B. Anschnallen beim Starten und Landen), aber daraus wird natürlich längst noch kein Unterdrückungs- oder Herrschaftsverhältnis. Aber darum geht es Laclau und Mouffe bei ihrer Unterscheidung nicht. Vielmehr geht es darum, unter welchen Bedingungen Unterordnung zur Unterdrückung oder gar zur Herrschaft wird.

„Wir verstehen unter einem Unterordnungsverhältnis die Unterwerfung eines sozialen Agenten unter die Entscheidung eines anderen – beispielsweise die Unterwerfung eines Arbeiters unter die Entscheidung des Unternehmers oder in bestimmten Formen der Familienorganisation die der Frau unter die Entscheidungen des Mannes und so weiter. Unterdrückungsverhältnisse nennen wir im Gegensatz dazu jene Unterordnungsverhältnisse, die sich zu Orten von Antagonismen transformiert haben. Schließlich bezeichnen wir als Herrschaftsverhältnisse die Reihe jener Unterdrückungsverhältnisse, die von der Perspektive oder im Urteil eines sozialen Agenten, der außerhalb ihrer steht, als illegitim betrachtet werden (…).“ (48)

An sich seien Unterordnungsverhältnisse, also auch die Ausbeutung von Klassen, das Patriarchat…, so Laclau und Mouffe, keine antagonistischen Verhältnisse. Sie würden dazu erst und nur dann, wenn sie als solche gesellschaftlich artikuliert werden.

„’Leibeigner’, ‚Sklave’ und so weiter bezeichnen nicht an sich antagonistische Positionen: nur in den Begriffen einer anderen diskursiven Formation, wie zum Beispiel der Behauptung ‚angeborener Rechte eines jeden Menschen’, kann die differentielle Position dieser Kategorien untergraben und Unterordnung als Unterdrückungsverhältnis konstruiert werden. Das bedeutet, dass es kein Unterdrückungsverhältnis ohne die Präsenz eines diskursiven ‚Äußeren’ gibt, von wo der Diskurs der Unterordnung unterbrochen werden kann.“ (49)

Mit anderen Worten: Die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse existiere nur als Unterordnungsverhältnis oder gar als Herrschaftsverhältnis einer Gruppe von Menschen über andere, wenn sie den gesellschaftlichen Akteuren diskursiv vor Augen trete. Außerhalb des Diskurses existiere es solches nicht , was natürlich auch auf die früheren Gesellschaftsformationen oder alle Formen sozialer Unterdrückung angewandt wird. So kann, nehmen wir Laclau/Mouffe ernst, von einer partiarchalen Unterdrückung der Frau nicht gesprochen werden, wenn diese derartig verfestigt ist, dass sie allen Gesellschaftsmitgliedern, Männern wie Frauen, als „natürlich“, unverändert erscheint. Gerade dann hätten wir es nur mit einer „Unterordnung“ zu tun. Alles andere würde bedeuten, der gesellschaftlichen Unterdrückung eine „Essenz“ außerhalb des Diskurses zuzusprechen. Die idealistische Konstruktion zeigt hier ihren reaktionären Gehalt.

Was für die Frauenunterdrückung gilt, gilt erst recht für die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse. Die radikalen, antikapitalistischen Aspekte des ArbeiterInnenkampfes im 19. Jahrhundert werden in einer schiefen Polemik gegen E.P. Thompsons „Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“ so uminterpretiert, als ob die Radikalität nur von den untergehenden Handwerkern ausgegangen sei, die sich gegen die Vernichtung ihrer Identitäten durch das Fabriksystem und die große Maschinerie gewehrt hätten.

„Es gab ohne Zweifel im 19. Jahrhundert radikal antikapitalistische Kämpfe, nur waren sie keine Kämpfe des Proletariats – wenn wir unter ‚Proletariat’ eher den Arbeitertypus verstehen, der durch die Entwicklung des Kapitalismus produziert wurde, als jene Handwerker, deren Qualifikationen und Lebensweisen durch die Etablierung des kapitalistischen Produktionssystems bedroht waren.“ (50)

Doch diese Zeiten seien vorbei:

„Diese Arbeiterbewegung versucht jedoch immer weniger, die inzwischen auf solider Basis stehenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse als solche anzuzweifeln und konzentriert sich auf den Kampf für eine Transformation der Verhältnisse in der Produktion. Jene Kämpfe, die die marxistische Tradition ‚reformistisch’ nennen und im Vergleich zu vorangegangenen als einen Schritt rückwärts betrachten würde, entsprechen in Wirklichkeit mehr dem Modus, den die Mobilisierungen des industriellen Proletariats angenommen hat, als die radikaleren Kämpfe früher. Die Unterordnungsverhältnisse zwischen Arbeitern und Kapitalisten wurden also bis zu einem gewissen Grad als legitime differentielle Positionen in einem einheitlichen diskursiven Raum absorbiert.“ (52)

Das Ausbeutungsverhältnis verschwindet im „einheitlichen diskursiven Raum“. Nachdem Laclau und Mouffe vom Klassencharakter verschiedener Ideologien nichts wissen wollen, reproduzieren sie selbst eine Standardideologie, und zwar eine der herrschenden Klasse. „Soziale Marktwirtschaft“ und „Sozialpartnerschaft“ hätten, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, einen Ausgleich der Klassen zur Realität werden lassen, diese würden als „differentielle“ (verschiedene) Positionen anerkannt. Demnach verschwinde nicht nur das Klassenbewusstsein, sondern auch die Ausbeutung selbst, sobald der Klassenwiderspruch diskursiv durch verschiedene Institutionen der Klassenzusammenarbeit für eine bestimmte Zeit befriedet und von oben reguliert werde.

Nachdem Mouffe und Laclau gegen den „Essentialismus“ zu Felde gezogen sind, wird deutlich, wohin diese Reise führt. Mit dem Verleugnen der Essenz des Klassenwiderspruchs und sozialer Unterdrückungsverhältnisse, mit der Leugnung der Tatsache, dass diese unabhängig vom Bewusstsein der Betroffenen auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhen, verschwinden letztlich auch diese Verhältnisse.

So wie sie den grundlegenden Charakter des „Klassenessentialismus“ angreifen, so auch die materielle, vom Bewusstsein der Betroffenen unabhängige Grundlage aller Unterdrückungsverhältnisse. Auch wenn sich Mouffe und Laclau gern als VerteidigerIn der „neuen sozialen Bewegungen“ und von deren Kämpfen verstanden wissen wollen, die die ArbeiterInnenbewegung vernachlässigt habe (Umwelt, Frauen, sexuelle Unterdrückung usw.), so wendet sich ihre Theorie nicht nur gegen den Marxismus, sondern erst recht gegen alle Bewegungen sozial Unterdrückter. Frauenunterdrückung, Rassismus, Imperialismus usw. werden ja erst durch ihre Artikulation im Diskurs als Unterdrückungsverhältnis konstituiert. Davor existiert z.B. das Patriarchat oder die Sklaverei nach ihrer Argumentation nur als ein System der Unterordnung.

Mit dieser diskursiven Bestimmung entfällt schließlich auch der innere Zusammenhang von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen.

„Die klassische Konzeption des Sozialismus nahm an, dass aus dem Verschwinden des Privatbesitzes an Produktionsmitteln eine Kette von Wirkungen folgen würde, die über eine ganze historische Epoche zur Abschaffung aller Formen von Unterordnung führen würde. Heute wissen wir, dass dem nicht so ist. Zum Beispiel gibt es keine notwendigen Verbindungen zwischen Antisexismus und Antikapitalismus und eine Einheit zwischen beiden kann nur das Resultat einer hegemonialen Artikulation sein.“ (51)

Zweifellos haben reformistische und bürokratische Traditionen der ArbeiterInnenbewegung immer wieder zu einer Vernachlässigung, wenn nicht Ignoranz des Sexismus und des Kampfes um Frauenbefreiung geführt. Das drückte sich entweder in der Reproduktion repressiver Verhaltensweisen und Strukturen in der Bewegung selbst oder der Politik des Reformismus an der Regierung oder des Stalinismus in den bürokratisch degenerierten ArbeiterInnenstaaten aus. Wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, darf die Befreiung der Frauen wie die Überwindung anderer Formen sozialer Unterdrückung nach einer Revolution nicht als automatische Wirkung der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln verstanden werden. Sie bedürfen vielmehr eines zähen, bewussten Kampfes. Aber das ändert nichts daran, dass die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmittel und des kapitalistischen Weltsystems die Voraussetzung für eine reale Überwindung aller Unterdrückungsverhältnisse darstellt.

Ökonomismus und Reformismus verstanden und verstehen den Kampf gegen soziale Unterdrückung als eine den „eigentlichen“ ArbeiterInneninteressen untergeordnete Frage – ebenso wie sie den Klassenkampf selbst auf Sozialreform und Gewerkschafterei verengen. Genau darin bestand und besteht ihr fundamentaler Bruch mit dem revolutionären Marxismus.

Die Kritik von Laclau und Mouffe richtet sich in dem Zusammenhang nun vor allem gegen den Marxismus. Sie ignorieren dabei jedoch gerade die marxistische Analyse des Ursprungs der Frauenunterdrückung und deren geschichtliche Wandlung in verschiedenen Klassengesellschaften, die gerade den inneren Zusammenhang von Sexismus und Kapitalismus deutlich macht und daher auch die Notwendigkeit der Vergesellschaftung der Hausarbeit hervorhebt. Diese erfordert notwendigerweise die Überwindung der bestehenden geschlechtlichen wie auch gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Laclau und Mouffe ignorieren aber die marxistische Analyse der Familie, des Ursprungs der Frauenunterdrückung und ihres inneren Zusammenhangs mit dem Kapitalismus.

Das ist aber vom Standpunkt ihrer Theorie auch nicht notwendig. Nachdem einmal gesetzt ist, dass Unterdrückungsverhältnisse, Herrschaftsverhältnisse und der Kampf gegen diese nur im Diskurs konstituiert werden können, kann auch der Zusammenhang zwischen diesen nur im Diskurs konstituiert werden. Das heißt aber, dass sie bei ihnen immer als voneinander getrennte Kämpfe verstanden werden müssen, die sich (a) auch ursprünglich nur als getrennte artikulieren können und (b) die nur durch eine Reihe von antagonistischen Artikulationen, also durch einen Verweis auf einen dritten gemeinsamen Feind (z.B. „die Elite“) verbunden werden können.

Die Verbindung zwischen den Kämpfen bleibt damit notwendigerweise immer instabil, prekär. Vor allem aber ist ihre Verknüpfung grundsätzlich beliebig, „kontingent“. Sie richtet sich nicht nach objektiven gesellschaftlichen Zusammenhängen, sondern sie wird je nach politischem Zweck mit diesem oder jenem verbunden. Da Laclau und Mouffe eine rationale, außerhalb des Diskurses gesetzte Verbindung zwischen verschiedenen Formen der Unterdrückung für unmöglich erklären, umfasst jede diskursive Setzung notwendigerweise ein beliebiges, politisch amorphes und letztlich auch demagogisches Element. Für Mouffe und Laclau macht genau das, wie wir sehen werden, ein Wesensmoment jeder Politik – auch linker – aus.

Keine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft möglich

Dies verweist auf eine andere Konstante im Denken der beiden linkspopulistischen AutorInnen. Sie lehnen grundsätzlich ab, dass eine vernünftige „durchsichtige“ Organisation der Gesellschaft überhaupt möglich sei. So wirft Mouffe in ihrem Buch „Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion“ einigen „liberalen Denkern“ vor:

„Der rationalistische Glaube an die Möglichkeit eines auf Vernunft basierenden universalen Konsens stellt aber – neben dem Individualismus – das andere zentrale Merkmal der meisten Formen liberalen Denkens dar.“ (53)

Lassen wir einmal dahingestellt, ob AutorInnen wie Rawl, Habermas, Beck und Giddens sowie etliche andere am ehesten als „liberale Denker“ aufgefasst werden können, so wird doch deutlich, was diesen sozialliberalen oder reformistischen TheoretikerInnen vorgeworfen wird. Mouffe/Laclau unterstellen ihnen, dass sich die gesellschaftlichen Konflikte über einen demokratischen, auf Verständigung orientierten Mechanismus „konsensual“, also trotz unterschiedlicher Interessen und gesellschaftlicher Stellung durch einen Rekurs auf wechselseitig anerkannte vernünftige Gründe, lösen ließen.

Der Utopismus und der ideologische Gehalt dieser Konzeption springen geradezu ins Auge. Der „vernünftige Konsens“ entspricht den Interessen der herrschenden Klasse bzw. deren dominanter Fraktion und ideologischer Ausrichtung. Die Vorstellungen dieser AutorInnen – vor allem von Beck und Giddens – waren und sind im Grunde Ausdruck einer sozialdemokratischen oder labouristischen Politik, die den Sieg und die Folgen des Neoliberalismus akzeptiert haben. Unter Blair und Schröder sollten allenfalls deren destabilisierende Auswirkungen auf die ArbeiterInnenaristokratie und die lohnabhängigen Mittelschichten abgeschwächt werden. Mouffe kritisiert zu Recht, dass mit der „Neuen Mitte“ oder dem „Dritten Weg“ ganz wie unter Clinton und Obama in den USA nicht viel „gemildert“ wurde, zum Teil sogar drakonische Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse gefahren worden seien (z.B. die Agenda 2010 unter Schröder).

Aber die Kritik von Mouffe und Laclau umfasst auch einen anderen Aspekt des „Liberalismus“. Es geht um die Möglichkeit einer universellen, vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft selbst. Mouffe wirft dem „liberalen Denken“ nicht nur vor, dass es eigentlich keiner vernünftigen Gesellschaft das Wort rede und auch die Herrschaft einer Klasse und eine bestimmte neoliberale politische Ausrichtung verkläre. Sie kritisiert darüber hinaus AutorInnen wie Habermas, aber auch Hannah Arendt, die mit dem Neoliberalismus sicher nichts zu tun hat, oder die antikapitalistischen Bewegungen um die Jahrtausende dafür, dass sie der falschen Vorstellung nachhängen würden, dass die Welt vernünftig eingerichtet werden könne.

Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Mouffe und Laclau behaupten nämlich nicht mehr und nicht weniger als einen grundsätzlich irrationalen Charakter des Politischen:

„Nur wenn der offene, ungenähte Charakter des Sozialen gänzlich akzeptiert, wenn der Essentialismus der Totalität und der Elemente verworfen wird, wird dieses Potential klar erkennbar und kann ‚Hegemonie’ ein wesentliches Werkzeug für eine politische Analyse der Linken sein.“ (54)

Unter „ungenäht“ verstehen Laclau und Mouffe zum einen, dass das Soziale immer unartikulierte, im Diskurs oder einer hegemonialen Ordnung nicht erscheinende Momente beinhalte. Damit meinen sie aber nicht, dass die Realität immer reichhaltiger sei als jede wissenschaftliche Verallgemeinerung. Vielmehr beinhalte die diskursive Konstitution des Sozialen immer auch eine alternative, „unausgesprochene“, unbewusste Form seiner Konstituierung, z.B. durch einen „Gegendiskurs“, ohne dass rational entschieden werden könne, welcher denn als solcher vernünftiger sei.

Der Anspruch, rational zu entscheiden, ob ein bestimmter „Diskurs“, ein bestimmtes gesellschaftliches Ziel oder ein Argument vernünftig sei oder nicht, erscheint als eine Form des Totalitarismus:

„Jeder Versuch, eine endgültige Naht zu etablieren und den radikal offenen Charakter des Sozialen zu verneinen, den die Logik der Demokratie errichtet, führt zu dem, was Lefort als ‚Totalitarismus’ bezeichnet, zu einer Logik der Konstruktion des Politischen, die darin besteht, einen Ausgangspunkt zu setzen, von dem aus Gesellschaft vollkommen gemeistert werden und gewusst werden kann. Dass dies eine politische Logik und kein Typus sozialer Organisation ist, wird durch die Tatsache bewiesen, dass sie keiner besonderen politischen Orientierung zugeschrieben werden kann; sie kann das Resultat ‚linker’ Politik sein, nach der jeder Antagonismus eliminiert und Gesellschaft vollkommen transparent gemacht werden kann, oder, wie im Fall des Faschismus, das Resultat eines autoritären Fixierens der sozialen Ordnung in vom Staat etablierte Hierarchien sein. Aber in beiden Fällen erhebt sich der Staat auf den Status des einzigen Besitzers der Wahrheit der sozialen Ordnung, ob im Namen des Proletariats oder der Nation, und sucht, alle Netze der Stabilität zu kontrollieren. Angesichts der radikalen Unbestimmtheit, die die Demokratie eröffnet, bedeutet dies einen Versuch, wieder ein absolutes Zentrum einzuführen und die Geschlossenheit wiederherzustellen, die Einheit wiedereinsetzt.“ (55)

Hier wird in die Mottenkiste der reaktionären Totalitarismustheorie zurückgegriffen. Kommunismus und Faschismus werden gleichgesetzt, weil beide eine „absolute“ Ordnung schaffen wollten. Die Gleichsetzung ist nur möglich, wenn von den gegensätzlichen Zielen und dem Klassencharakter dieser politischen Kräfte abgesehen wird. Während der Faschismus eine totalitäre, von allen Stützpunkten proletarischer Demokratie gesäuberte kapitalistische Ordnung schaffen will, kämpft der Kommunismus für die umfassende Befreiung von jeder Form der Ausbeutung und Unterdrückung, für eine universelle Gesellschaft, in der bewusst zur Befriedigung der Bedürfnisse aller produziert wird.

Dabei geht es nicht darum, dass in einer zukünftigen, kommunistischen Gesellschaftsordnung alles „vollkommen gewusst werden kann“. Dies wäre in der Tat ein Ding der Unmöglichkeit, weil natürlich auch in einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft neue Herausforderungen entstehen würden. Diese klassenlose Gesellschaft würde sicher nicht den Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung, sondern vielmehr den Beginn einer Entwicklungsperiode bedeuten, in der die Menschen wirklich ihre Geschichte selbst gestalten, in der ihnen ihre eigenen, von ihnen selbst geschaffenen Verhältnisse nicht als fremde, unbewusste Mächte gegenübertreten würden. In diesem Sinn würde die Überwindung der Klassengesellschaft tatsächlich die Grundlage für eine transparente Einrichtung der Gesellschaft und ein vernünftiges, nachhaltiges Verhältnis zur Natur schaffen.

Für Mouffe und Laclau ist jedoch, auch wenn sie an einigen Stellen weiter von „sozialistischen Zielen“ sprechen, eine Überwindung des Klassengegensatzes ebenso unvorstellbar wie das Absterben des Staates. Genau gegen dieses Ziel, die Schaffung einer nicht-antagonistischen Gesellschaftsformation, wenden sie sich vehement.

„Außerdem weisen wir darauf hin, dass die Ausweitung und Radikalisierung des Kampfes für mehr Demokratie niemals zu einer völlig befreiten Gesellschaft führen wird und man das emanzipatorische Projekt nicht mehr als gleichbedeutend mit der Eliminierung des Staates verstehen kann. Antagonismen, Konflikte und eine gewisse Undurchlässigkeit wird es in einer Gesellschaft immer geben. Daher gelte es, sich vom Mythos des Kommunismus als transparenter und versöhnter Gesellschaft – eine Idee, die klarerweise ein Ende der Politik einschließt – zu verabschieden.“ (56)

Antagonismus versus Klassenwiderspruch

Diese „mythologische“ Zielsetzung habe der Marxismus vom Jakobinismus der Französischen Revolution übernommen. Auch dieser habe auf einen „imaginären Bruch“ gezielt, der zum Totalitarismus habe führen müssen. Marxismus und Jakobinismus müssten daher durch „das Projekt für eine radikale Demokratie in Frage gestellt werden.“ (57).

„Die beiden wesentlichen Voraussetzungen für die Konstruktion eines neuen politischen Imaginären, das radikal libertär und in seinen Zielen unendlich viel anspruchsvoller als das der klassischen Linken ist, sind die Ablehnung von privilegierten Bruchpunkten und der Vorstellung des Zusammenfließens der Kämpfe zu einem einheitlichen politischen Raum sowie im Gegensatz dazu die Anerkennung der Pluralität und Unbestimmtheit des Sozialen.“ (58)

Dazu müsse das neue „Terrain“ beschrieben werden, das mit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft geschaffen worden sei. Diese habe nämlich das Politische als den Raum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geschaffen, das in zwei Prinzipien konstituiert worden sei, die zur Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte grundlegend seien:

„Aber um derart mobilisierend werden zu können, musste sich zuerst das demokratische Prinzip der Freiheit und Gleichheit als neue Matrix des sozialen Immaginären durchsetzen beziehungsweise, in unserer Terminologie, einen fundamentalen Knotenpunkt in der Konstruktion des Politischen bilden. Diese entscheidende Veränderung des politischen Imaginären westlicher Gesellschaften fand vor zweihundert Jahren statt und kann dahingehend bestimmt werden, dass die Logik der Äquivalenz in das grundlegende Instrument der Produktion des Sozialen transformiert wurde. Diese Veränderung bezeichnen wir in Anlehnung an einen Ausdruck von Tocqueville als ‚demokratische Revolution’“ (59)

Nicht der Klassenkampf, sondern der „demokratische Diskurs“ und die Legitimitätsvorstellung der Französischen Revolution, nämlich dass alle Macht vom Volk auszugehen habe, bilde die Antriebskraft der politischen und gesellschaftlichen Bewegungen der letzten 200 Jahre – und auch den Rahmen für „fortschrittliche“ Politik. Mouffe und Laclau interpretieren auch die ArbeiterInnenkämpfe – wie alle anderen progressiven Kämpfe der letzten 200 Jahre – als Formen der „Ausweitung von Gleichheit und Freiheit auf immer größere Bereiche“ (60).

Nachdem die beiden viele Seiten darauf verwendet haben, das marxistische Verständnis von Basis und Überbau anzugreifen, kehren sie es schließlich um. Nicht die ökonomische Basis determiniert den staatlichen, ideologischen Überbau, sondern „die Demokratie“ konstituiert die Gesellschaft.

Während der Marxismus die vorherrschenden Ideen – und dazu gehört die bürgerliche Demokratie samt ihrer Versprechen von „Freiheit“ und „Gleichheit“ – als die Ideen der Herrschenden bestimmt, erkennen wir nun, warum es für Laclau und Mouffe von so großer Bedeutung war, den Klassencharakter jeder „popularen“ Ideologie von „Demokratie“, „Nation“, „Freiheit“, „Gleichheit“ zu leugnen.

Nach der „Dekonstruktion des Marxismus“ werden zentrale Knotenpunkte in die diskursive Bestimmung des Politischen eingeführt, und zwar als angeblich von den Klassen unabhängige Formen. Solcherart wird, wie in jeder bürgerlichen Ideologie, der Klassencharakter der eigenen Theorie verschleiert, indem grundlegende Begriffe so konzipiert werden, dass sie über den gesellschaftlichen Gegensätzen zu stehen scheinen.

Dabei kommen Mouffe und Laclau in der Tat zugute, dass die meisten „Konflikte“ der letzten 200 Jahre als Kämpfe um mehr „Demokratie“ erschienen, um mehr Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Das trifft zweifellos auch auf die meisten ökonomischen Kämpfe der Lohnabhängigen zu, die, solange sie im rein gewerkschaftlichen Rahmen verbleiben, wesentlich um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, also um „gerechten“ Lohn geführt werden.

Dass sich die meisten Auseinandersetzungen in der bestehenden Gesellschaft im Rahmen des bürgerlichen Rechtshorizonts, im Rahmen von „Freiheit“ und „Gleichheit“ bewegen, ja, bewegen müssen, verweist letztlich auch nur darauf, dass die herrschenden Ideen die Vorstellungen aller Klassen prägen. Es sind notwendigerweise nur „Ausnahmesituationen“, heftige Klassenkämpfe, Krise, Kriege, Revolutionen und Konterrevolutionen, also „Bruchpunkte“, in denen dieser Horizont auch durch die Massen praktisch in Frage gestellt wird.

Während MarxistInnen gerade auf die Zuspitzung solcher Kämpfe und die revolutionäre Lösung von Krisen drängen, erklären Mouffe und Laclau die Aufhebung der grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüche für unmöglich und sagen der kommunistischen Strategie offen den Kampf an:

„Der Kompromiss, der prekäre Charakter jeder Anordnung sowie der Antagonismus sind die primären Wirklichkeiten, während das Moment der Positivität und seiner Verwaltung nur innerhalb dieser Instabilität stattfinden. Ein Projekt für radikale Demokratie voranzutreiben, bedeutet deshalb, den Mythos einer rationalen und transparenten Gesellschaft dazu zu zwingen, sich nach und nach an den Horizont des Sozialen zurückzuziehen. Diese wird so ein ‚Un-Ort’, das Symbol ihrer eigenen Unmöglichkeit.“ (61)

Während der Begriff der „Demokratie“ entideologisiert wird, erfahren auch die Begriffe „Antagonismus“ und „Hegemonie“, die ursprünglich marxistischen Theorien und Diskussionssträngen entnommen sind, eine entscheidende Bedeutungsverschiebungen.

Der Begriff „Antagonismus“ erinnert zwar an den Klassenwiderspruch. Er besagt aber bei ihnen etwas gänzlich anderes. „Widerspruch“ allgemein impliziert im Marxismus nicht nur eine Verlaufsform gesellschaftlicher Kämpfe, er drängt auch zu seiner Aufhebung, er verweist also auf seine Lösung. Für Mouffe und Laclau hingegen ist der Antagonismus eine Bestimmung des politischen Terrains selbst. In dessen Rahmen müssten Gegensätze immer wieder hervortreten, die Aufteilung des Raums in ein „Wir“ und „Sie“ könne grundsätzlich nicht überwunden werden. Der „Liberalismus“ versage genau darin, diese unaufhebbare Bestimmung des Politischen anzuerkennen:

„Ich werde das zentrale Defizit des Liberalismus auf dem Gebiet des Politischen herausarbeiten: sein Negieren das Antagonismus“. (62) Die „radikalste Infragestellung des so verstandenen Liberalismus“ finde sich lt. Mouffe im Werk von Carl Schmitt, dem sie über weite Strecken folgt.

„Der für das liberale Denken charakteristische methodologische Individualismus schließt das Verständnis des Wesens kollektiver Identitäten aus, während das Kriterium des Politischen, die differentia specifica, für Schmitt die Unterscheidung von Freund und Feind ist.“ (63)

Dummerweise hat Carl Schmitt das Freund-Feind-Schema im faschistischen Sinn auf seinen Endpunkt hingedacht, die Vernichtung des Feindes durch die zur Volksgemeinschaft barbarisierte Nation. Diese ultrareaktionären, faschistischen Konsequenzen will Mouffe nicht – sie übersieht aber vollständig, dass die Vernichtung des Feindes, dessen Auslöschung in Schmitts Hauptwerk „Der Begriff des Politischen“ nicht eine beliebige Schlussfolgerung darstellt, sondern die radikale Konsequenz seiner wesentlich irrationalen Konstitution des Antagonismus ist.

Die von Mouffe so gelobte Freund-Feind-Gegenüberstellung folgt einer recht dürren essentialistischen Bestimmung Schmitts: „Der Krieg, die Todesbereitschaft kämpfender Menschen, die physische Tötung von anderen Menschen, die auf der Seite des Feindes stehen, alles das hat keinen normativen, sondern nur einen essentiellen Sinn, und zwar in der Realität einer Situation des wirklichen Kampfes gegen einen wirklichen Feind, nicht in irgendwelchen Idealen, Programmen und Normativitäten. … Gibt es wirklich Feinde in der seinsmäßigen Bedeutung, wie es hier gemeint ist, so ist es sinnvoll, aber nur politisch sinnvoll, sie nötigenfalls physisch abzuwehren und mit ihnen zu kämpfen.“ (64)

Jeder außerhalb des „Seinsmäßigen“ liegende Grund für die Feindschaft (Programme, Normen, Ideale, Ziele, …) wird als nebensächlich betrachtet. Sie fußt vielmehr in einem überhistorischen, existenzialistisch bestimmten Wesen „der Menschen“. Die „Massendemokratie“, der ständige innere Gegensatz der Gesellschaft stehe dem im Weg, hindere nach Schmitt den Staat an der Verfolgung eines einheitlichen Willens. Die Unterscheidung von Freund und Feind konstituiert für ihn nicht einfach das „Politische“, sondern vielmehr die politische Existenz des Staates. Dieser kann umso ungehinderter zwischen Freund und Feind unterscheiden, je freier er von Antagonismen im Inneren, von „Massendemokratie“ und ArbeiterInnenbewegung ist.

„Gerade indem Schmitts Gegensatzpaar ‚Freund-Feind’ mit der Prätention, alle Probleme des gesellschaftlichen Lebens zu lösen, auftritt, wird seine Leere und Willkürlichkeit offenkundig. Gerade damit erweist er sich als äußerst wirkungsvoll in der Periode der Faschisierung der deutschen Ideologie; als methodologisches, abstraktes, sich wissenschaftlich gebärdendes Prolegomenon zu dem von Hitler und Rosenberg konstruierten Rassengegensatz.“ (65)

Mouffe lehnt zwar Schmitts Schlussfolgerungen und seine faschistischen Positionen ab – sie ist aber vollkommen blind dafür, wie und warum das „Freund-Feind-Schema“ zur begeisterten Befürwortung des Faschismus, Hitlers und des deutschen Imperialismus führte. Die Leugnung der materiellen Wurzeln reaktionärer Ideologien lässt sie nicht nur diesen Zusammenhang ausblenden – sie erlaubt ihr auch, die „brauchbaren“ Seiten von Schmitt eklektisch von seinen „falschen Schlussfolgerungen“ zu trennen.

Dabei übernimmt sie jedoch unwillkürlich einen Aspekt der Schmitt’schen Konzeption. Auch für Mouffe erscheint der „antagonistische Charakter“ der Politik unüberwindbar, eine vernünftige Organisation der Gesellschaft unmöglich.

Im Unterschied zu Schmitt will sie aber den Antagonismus begrenzen:

„Wir können hier festhalten, dass die Wir-Sie-Unterschiedung – die conditio sine qua non der Bildung politischer Identitäten – immer zum Ort eines Antagonismus werden kann. Da alle Formen politischer Identitäten eine Wir-Sie-Unterscheidung beinhalten, kann die Möglichkeit der Entstehung eines Antagonismus niemals ausgeschlossen werden. Insofern ist der Glaube an eine Gesellschaft ohne Antagonismus eine Illusion. Der Antagonismus ist, so Schmitt, eine immer gegenwärtige Möglichkeit; das Politische gehört zu unserer ontologischen Verfassung.“ (66)

Mit anderen Worten: Die Überwindung von Klassengegensätzen und Unterdrückungsverhältnissen wird für unmöglich erklärt, eine „gewisse“ Ungleichheit müsse es immer geben – und daher auch das Politische. Nachdem Laclau und Mouffe in ihrer „Dekonstruktion des Marxismus“ immer wieder darauf bestanden, dass Kämpfe nur im Diskurs konstituiert würden, zeigt sich, dass der „diskursive Raum“ selbst von der vorherrschenden Klassenideologie der bürgerlichen Epoche geprägt ist. Schon bei ihrem Bezug auf die bürgerliche, „radikale“ Demokratie entpuppt sich der „diskursive Raum“ als der Raum der demokratischen Herrschaftsorganisation. Bei Betrachtung des Antagonismus greift Mouffe auf das dürre „Freund-Feind“-Schema zurück. Das Politische, das uns zuvor noch als diskursiv konstituiert präsentiert wurde, wird nun zu einer ontologischen Größe. Antagonismen wird es immer geben – diese dünne, abstrakte, von jedem besonderen gesellschaftlichen Verhältnis gereinigte Aussage steht etwa auf dem Erkenntnisniveau von Volksweisheiten wie „Streiten werden sich die Menschen immer“. Doch die wenigsten Menschen beanspruchen, solche Sätze zur Grundlagen einer politischen Theorie zu machen.

Wenn „der Antagonismus“ also immer latent vorhanden ist, kann es nur darauf ankommen, in welcher Weise Antagonismen ausgetragen werden. Im Gegensatz zur Lösung von Schmitt schlägt Mouffe eine Begrenzung von Konfrontationen vor. Zur (physischen) Vernichtung des Feindes gebe es nämlich eine Alternative: die Begrenzung auf einen gemeinsamen Bezugsrahmen, auf die bürgerliche liberale Demokratie.

„Damit ein Konflikt als legitim akzeptiert wird, muß er eine Form annehmen, die die politische Gemeinschaft nicht zerstört. Das heißt, es muß zwischen den miteinander in Konflikt liegenden Parteien eine Art gemeinsames Band bestehen, damit sie den jeweiligen Gegner nicht als zu vernichtenden Feind betrachten, dessen Forderungen illegitim sind; (..) Wollen wir einerseits die Dauerhaftigkeit der antagonistischen Dimension des Konflikts anerkennen, andererseits die Möglichkeit ihrer ‚Zähmung’ zulassen, so müssen wir eine dritte Beziehungsform in Aussicht nehmen.“ (67)

Dafür prägt Mouffe den Begriff des „Agonismus“. Darunter versteht sie nicht, dass der Antagonismus eliminiert oder verschwinden, sondern „sublimiert“ würde. Die bestehenden Verhältnisse, die Vorherrschaft der Elite würde auch bei einer solchen Begrenzung des Kampfes nicht unangetastet bleiben, sondern durchaus angegriffen werden – wenn auch innerhalb eines gewissen Rahmens:

„Im agonistischen Kampf dagegen steht die Konfiguration der Machtverhältnisse selbst auf dem Spiel, um welche herum die Gesellschaft strukturiert ist. Es ist ein Kampf zwischen unvereinbaren hegemonialen Projekten, die niemals rational miteinander versöhnt werden können. Die antagonistische Dimension ist dabei immer gegenwärtig, es ist eine reale Konfrontation, die allerdings durch eine Reihe demokratischer, von den jeweiligen Gegnern akzeptierten Verfahrensweisen reguliert wird.“ (68)

Der Kampf um Hegemonie spielt hier eine andere Rolle als im marxistischen Denken, in diesem gilt er letztlich als Mittel zur Vorbereitung der Revolution bzw. zur Umgruppierung der Kräfte in der Revolution. Das Ziel besteht in der Erringung der Hegemonie einer Klasse, des Proletariats und der Führung anderer nicht-ausbeutender Klassen oder Schichten, hin zum revolutionären Sturz des Kapitalismus.

Für Laclau und Mouffe hingegen zielt Hegemonie auf die Errichtung eines neuen „Machtblocks“ , und das auf Grundlage des bürgerlich-demokratischen Systems. Sie betrachten dessen Institutionen, den Staat usw. zwar nicht im engen Sinn als „neutral“, aber als formbar im Sinne einer jeweiligen antagonistischen Strömung oder Artikulation.

Hegemonie kann dabei nur erkämpft werden, wenn unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte durch eine Kette von Artikulationen verbunden werden. So wäre es möglich, verschiedene Klassen, Schichten oder auch Antagonismen zu vereinen. Dies gilt für rechte wie linke Politik. Eine bestehende hegemoniale politische Struktur kann, ist sie einmal etabliert, nur gebrochen werden, wenn es gelingt, eine „gegenhegemoniale“ Verknüpfung unterschiedlicher Akteure herzustellen. Diese Verbindung nennen Laclau und Mouffe eine „Äquivalenzkette“. Diese müsse, um erfolgreich zu sein, selbst einen populistischen Charakter haben, also „das Volk anrufen“ oder gewissermaßen „schaffen“.

In den früheren Schriften wie „Politik und Ideologie im Marxismus“ oder auch in „Hegemonie und radikale Demokratie“ betonen Mouffe und Laclau auch den „antikapitalistischen“ oder gar sozialistischen Charakter einer solchen Verknüpfung. In den Arbeiten der 70er Jahre teilt Laclau mit dem Marxismus noch das Ziel der Überwindung der Klassengesellschaft und erklärt, dass die höchste Form des Populismus der Sozialismus sei und dass auch die populistische Konfrontation einen Klassenbezug haben müsse.

In „Hegemonie und radikale Demokratie“, das erstmals 1985 erschien, arbeiten sich die beiden noch vorwiegend am Marxismus ab – und schlagen eine enge Verbindung der heterogenen Akteure der „neuen sozialen Bewegungen“, von feministischen, antirassistischen, ökologischen Kämpfen und ArbeiterInnenkämpfen, zu einer populistischen Gegenkraft vor. Ihre Polemik gegen den Marxismus, gegen dessen „Privilegierung“ der ArbeiterInnenklasse, richtet sich gegen die wirkliche oder vermeintliche Ignoranz anderer Unterdrückter gegenüber und gegen den revolutionären Sturz des Kapitalismus. Schon 1985 wird allerdings die notwendige Verabschiedung vom Universalismus proklamiert, allerdings noch in einer recht allgemeinen Form (auf deren handgreifliche reaktionäre Konsequenzen kommen wir weiter unten zu sprechen).

Noch in den 1990er Jahren und auf dem Höhepunkt der antikapitalistischen oder Antiglobalisierungsbewegung beziehen sich Mouffe und Laclau positiv auf eine internationale Kraft, die sich selbst zum Ziel gesetzt habe, die Welt als ganze zu verändern und der kapitalistischen Globalisierung eine von unten entgegenzusetzen.

Da diese Bewegungen auch Elemente des „Volkes“ oder der „Völker“ waren, die zu bestimmten Zeitpunkten angesprochen oder konstituiert werden sollten, setzten diese AdressatInnen dem reaktionären Element des Linkspopulismus noch gewisse Grenzen, doch die Schriften der letzten zehn Jahre markieren hier einen weiteren Schwenk nach rechts, der seinerseits zwei Ursachen hat: einerseits den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, andererseits die Formierung nationalstaatlich ausgerichteter linkspopulistischer oder linksreformistischer Kräfte in Europa.

Vom Gegner was lernen?

Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien stellt für Mouffe und Laclau erneut ein Problem der Linken in den Mittelpunkt, das sie schon beim Aufstieg Thatchers am Werk sahen. Die Linke, die noch immer zu sehr von „Klassenessentialismus“, „Liberalismus“ oder „Kosmopolitismus“ geprägt sei, verstehe die Ursachen des Erfolgs der Rechten nicht.

Thatcher und der Neoliberalismus, so wird immer wieder betont, hätten es geschafft, eine populistische Verknüpfung, eine „Äquivalenzkette“ herzustellen, die an ein konstituierendes Moment der bürgerlichen Demokratie, die „Freiheit“ angeknüpft und gleichzeitig das andere, die Gleichheit, negativ besetzt hätten. Der Sozialstaat und seine UnterstützerInnen seien über die Äquivalenzkette „Gleichheit = Identität = Totalitarismus“ als der Feind dargestellt worden. Gleichzeitig habe die neoliberale Alternative über die zweite Äquivalenzkette „Differenz = Ungleichheit = Freiheit“ geschafft, „Verschiedenheit“ (Differenz) als etwas Positives (Freiheit) darzustellen und die Ungleichheit dabei als notwendigen Begleitumstand in die Welt gesetzt, während die Gleichheit als „Gleichmacherei“ und „Totalitarismus“ erfolgreich gebrandmarkt worden sei.

Wie wir schon am Beginn des Textes gezeigt haben, ignoriert diese Vorstellung die wirklichen Ursachen für die Siege des Neoliberalismus. Das Beispiel verdeutlicht aber, wie sich Mouffe und Laclau eine „Äquivalenzkette“ vorstellen, die natürlich auch noch einen gemeinsamen Feind, eine wirkliche oder vorgebliche „Elite“ brauche, gegen die sich das Volk wenden müsse. Im Falle des Thatcherismus seien der Sozialstaat, die „SchmarotzerInnen“ (also die Armen) und die Gewerkschaften samt der sie unterstützenden Labour-Partei als solche konstruiert worden. Der Neoliberalismus siegte, wurde für Jahrzehnte hegemonial, erschien alternativlos, globalisierte die Welt und seine einstigen Gegner (Sozialdemokratie, Linksliberalismus) richteten sich in seiner Welt ein, übernahmen sein „Narrativ“. Der letzte Satz beschreibt zweifellos einen wichtigen Aspekt der Wirklichkeit nach dem Sieg des Neoliberalismus. Die Erklärung der Ursachen dieser Erfolgs stellt jedoch die Realität auf den Kopf. Sie betrachtet die Klassenschlachten zwischen der ArbeiterInnenklasse und dem Kapital letztlich als Nebenaspekt. Nicht an der verräterischen, reformistischen Politik der Labour-Führung und der Gewerkschaftsbürokratie seien die BergarbeiterInnen gescheitert, sondern an zu wenig Populismus. Nicht der Generalstreik hätte die Machtfrage stellen können, sondern eine linke, populistische „Äquivalenzkette“ hätte dem Thatcherismus entgegengestellt werden müssen. So wären die Mittelschichten mit den BergarbeiterInnen verbunden gewesen und ein anti-neoliberales „Volk“ hätte konstruiert werden können.

Heute erleben wir eine Krise dieser hegemonialen Ordnung. Diese schafft die Bedingungen für ihre Herausforderung. Das Haupthindernis auf diesem Weg erblickt Mouffe in der von Liberalen und SozialdemokratInnen vertretenen „postpolitischen Ordnung“, die nichts von Antagonismus wissen wolle, und meint, die Gesellschaft durch Pseudoalternativen befrieden zu können. Dabei werde auf diese Weise jede Kritik an der Gesellschaft „ausgegrenzt“ und so eine untergehende Ordnung gegen ein zunehmendes Aufbegehren der Bevölkerung verteidigt. Die Linke müsse deshalb mit dieser „Postpolitik“ der Mitte brechen und von den RechtspopulistInnen lernen, dass wir einen „populistischen Moment“ durchleben:

„In dieser Untersuchung der Lage, in der Westeuropa sich derzeit befindet, habe ich argumentiert, wir durchlebten gerade einen ‚populistischen Moment’. Dieser ist Ausdruck der Widerstände gegen die postdemokratischen Zustände, die dreißig Jahre neoliberale Hegemonie hinterlassen haben. Dass diese Hegemonie nun in einer Krise steckt, eröffnet die Chance, eine neue hegemoniale Formation zu errichten. Je nachdem, wie diese Widerstände artikuliert werden und mit welcher Art von Politik der Neoliberalismus infrage gestellt werden wird, könnte diese neue hegemoniale Formation entweder demokratischer oder autoritärer als die bestehende sein.“ (69)

Die rechten Parteien hätten diese Lage besser erfasst, wie der Aufstieg der FPÖ in Österreich zeige:

„Haiders diskursive Strategie bestand darin, eine Grenze zwischen einem ‚Wir’, zu dem alle guten Österreicher gehörten – hart arbeitende Menschen und Verteidiger der nationalen Werte -, und einem ‚Sie’, das sich aus den an der Macht befindlichen Parteien, den Gewerkschaften, Bürokraten, Ausländern, Linksintellektuellen und Künstlern zusammensetze, die alle als Hindernisse für eine wirkliche demokratische Diskussion dargestellt wurden. Aufgrund dieser populistischen Strategie erfuhr die FPÖ einen dramatischen Zulauf. “ (70)

Und weiter: „Ich möchte vielmehr betonen, daß entgegen der weitverbreiteten Ansicht sicher nicht der Appell an angebliche Nazi-Nostalgie für den dramatischen Aufstieg der FPÖ verantwortlich war, sondern Haiders Fähigkeit, im Kontext der Opposition zwischen ‚dem Volk’ und den ‚Konsens-Eliten’ einen mächtigen Pol kollektiver Identifikation zu schaffen.“ (71)

Eine Analyse der sozialen Basis der FPÖ oder gar des Klassencharakters ihrer Politik fehlt bei Mouffe ebenso wie eine Betrachtung der Gründe, warum das österreichische Kapital auf eine schwarz-blaue Regierung setzte (und nun wieder setzt). Statt dessen prangert sie die Hoffnungslosigkeit der „Ausgrenzungspolitik“ der EU gegen die erste schwarz-blaue Regierung an. Den Massenwiderstand, den die Regierung Schüssel-Haider provozierte und der diese auch hätte stürzen können, erwähnt sie hingegen erst gar nicht.

Stattdessen verallgemeinert sie den Erfolg der rechts-populistischen Parteien folgendermaßen:

„Es ist höchste Zeit, den Hintergrund des Erfolgs rechts-populistischer Parteien zu erkennen. Er beruht auf in sehr problematischer Weise artikulierten, aber dennoch realen, demokratischen Forderungen, die von den traditionellen Parteien nicht berücksichtigt werden.“ (72)

Bemerkenswerterweise wird keine einzige „demokratische Forderung“ dieser Parteien angeführt. Sie wäre auch schwer zu finden. In Wirklichkeit bestehen deren Programme vor allem aus Forderungen nach der Einschränkung demokratischer Rechte, vor allem für MigrantInnen, Geflüchtete, Andersdenkende. Die „problematische Weise“, in der sie „artikuliert“ werden, besteht in erster Linie im Rassismus. Und das ist kein Zufall, sondern notwendig, um von sozialem Abstieg und zunehmender Konkurrenz bedrohte Schichten des KleinbürgerInnentums, der ArbeiterInnenklasse wie auch der herrschenden Klasse, also von Teilen der „Elite“, zu einer Partei oder Bewegung zu formieren und zu mobilisieren.

Mouffe’s Gebrauch des Begriffs der „Forderung“ ist jedoch bewusst diffus gehalten, so dass er mitunter gleichbedeutend mit „Stimmung“, „Affekt“, „Gefühl“ verwendet wird. So erscheint die Angst vor Abstieg, Deklassierung kleinbürgerlicher oder proletarischer Schichten als „Forderung“. Genau betrachtet, stellt aber erst die „problematische Weise“ ihrer Argumentation – in diesem Fall die nach Abschiebung, Schließung der Grenzen usw.– eine Forderung dar. Natürlich müssen auch Linke die Angst von Lohnabhängigen und der unteren Schichten des KleinbürgerInnentums vor Deklassierung, sozialem Abstieg usw. ernst nehmen, weshalb es gerade notwendig ist, dass sie präzise demokratische und soziale Forderungen erheben, die einen gemeinsamen Kampf aller Lohnabhängigen ermöglichen – was den Kampf für offene Grenzen, gleiche StaatsbürgerInnenrechte wie auch den Kampf um das Recht auf Arbeit, menschenwürdigen Wohnraum für alle einschließt.

Die Unschärfe der „Forderungen“ bei Mouffe, deren schwammiger Charakter – einschließlich einer Offenheit zu rechten Positionen – folgt jedoch auch aus ihrer Theorie, genauer der Vorstellung, dass popular-demokratische Forderungen keinen Klassencharakter hätten. Daher kann natürlich die Forderung nach Einreisebeschränkungen sowohl rechts als auch links artikuliert werden, also auch im Rahmen eines linkspopulistischen Programms problemlos als „fortschrittlich“ firmieren.

Das Fehlen einer Klassenanalyse des Rechtspopulismus geht unvermeidlich mit seiner Verharmlosung einher, aber auch mit der Aufforderung, dass die Linke von ihm einiges zu lernen habe. Schließlich hätten Haider und Co. vermocht, das „Volk“ gegen die „Eliten“ zu mobilisieren. Das müsse die Linke auch tun – natürlich auf demokratische und nicht auf „autoritäre“ Weise.

„Der linkspopulistischen Strategie zufolge sollte diese Frontlinie auf eine ‚populistische’ Art und Weise gezogen und ein Gegensatz zwischen dem ‚Volk’ und der ‚Oligarchie’ hergestellt werden – eine Auseinandersetzung, in der das ‚Volk’ durch die Artikulation einer Vielzahl demokratischer Forderungen konstituiert wird. Dieses ‚Volk’ ist nicht als empirischer Referent oder soziologische Kategorie zu verstehen. Vielmehr handelt es sich dabei um eine diskursive Konstruktion, die aus einer ‚Äquivalenzkette’ zwischen heterogenen Forderungen resultiert, deren Einheit durch die Identifikation mit einer radikal demokratischen Vorstellung, was ‚Bürgersein’ heißt, und der gemeinsamen Opposition gegen die ‚Oligarchie’ sichergestellt wird, jenen Kräften, die die Realisierung des demokratischen Projekts strukturell behindern.“ (73)

Die Konstruktion des Volkes

Hatte sich schon das Feld des Diskurses und des Kampfes um die Hegemonie als bürgerliche Demokratie entpuppt, so vermag auch „das Volk“ nicht diskursiv konstruiert zu werden, ohne auf das reale „Volk“ zurückzugreifen.

Schon in „Politik und Ideologie des Marxismus“ vertritt Laclau die These, dass „popular-demokratische Ideologien keine Klassenideologien“ seien, dass es daher möglich und nötig sei, diese mit dem Diskurs der ArbeiterInnenklasse zu verbinden. Daraus folgt seine positive Bewertung von Radeks Schlageter-Rede 1923, des KPD-Programms für nationale und soziale Befreiung, der Wendung zur Volksfrontpolitik und der Rede Dimitrows auf dem 7. Weltkongress der Komintern. In Wirklichkeit gehen diese opportunistischen Fehler immer mit einer Anpassung an den bürgerlichen Nationalismus einher und mit einer ideologischen Rechtfertigung dafür, an ein reaktionäres nationales Erbe des „Volkes“ anzukünpfen.

Dies erweist sich auch als unumgänglich bei der aktuellen linkspopulistischen Konstruktion des „Volkes“. Die Liberalen, die SozialdemokratInnen, aber auch die radikale Linke, hätte schon viel zu lange die „affektive Dimension für den Prozess der Identifikation“ (74) unterschätzt:

„Eine große Rolle spielt die affektive Dimension im Falle nationaler Formen der Identifikation, und deshalb kann man diese nicht einfach abtun. Sie stellen eine äußerst wichtige Form der kollektiven Identifikation dar, und die historische Erfahrung lehrt, dass sie ein wichtiges Terrain für die Unterscheidung zwischen ‚uns’ und ‚den Anderen’ sind.“ (75)

Die Ängste vor einer Zerstörung der eigenen Nation müssten daher von einem Linkspopulismus positiv aufgegriffen werden. Dazu Mouffe: „Deshalb ist es notwendig, behaupte ich, alle Versuche einzustellen, ein homogenes, postnationales ‚Wir’ zu konstruieren, das die Vielfalt des nationalen ‚Wir’ überwinden soll. Eben diese Negation des nationalen ‚Wir’, beziehungsweise die Angst, dass es dazu kommen könnte, ist die Wurzel vieler Widerstände gegen die europäische Integration und bedingt die Entstehung vielgestaltiger Antagonismen zwischen den einzelnen Nationen.“ (76)

Die realen Verhältnisse werden hier auf den Kopf gestellt. In Wirklichkeit verhindern die gegensätzlichen Interessen der führenden imperialistischen Mächte Europas die Überwindung nationaler Gegensätze und eine gleichberechtigte Vereinigung des Kontinents. Daher sind die herrschenden Klassen auch unfähig zur Überwindung der nationalen Unterschiede und zu einer Einigung Europas, die nicht auf Dominanz und Unterwerfung beruht.

MarxistInnen erkennen zwar das Recht auf Selbstbestimmung der Nationen (einschließlich des Rechts auf Lostrennung und einen eigenen Staat) an, aber sie sind zugleich keine VerteidigerInnen einer „nationalen Identität“. Im Gegenteil, jeder Nationalismus ist eine bürgerliche Ideologie, wie wir schon oben gezeigt haben. Wo aber die bürgerliche Gesellschaft diese selbst unterhöhlt, den Austausch zwischen den Menschen ausdehnt, Elemente einer globalen Kultur schafft, stellen sich MarxistInnen nicht dagegen, d.h. nicht auf den Boden der „nationalen“ Identität. Wir stellen uns nur der zwanghaften Zerstörung, der Zwangsassimilation entgegen – doch das trifft in Wirklichkeit nicht die Angehörigen der herrschenden Nationen, sondern vielmehr die Flüchtlinge und MigrantInnen, die einem realen Anpassungsdruck ausgesetzt sind, während die Sorge um „deutsche“ oder „österreichische“ Identität einen durchweg reaktionären Charakter hat (und ihre Bedrohung wahrlich rein imaginär ist).

Mouffe übernimmt die ganze reaktionäre Verklärung der „kulturellen Identität“ vollkommen unkritisch und verklärt die Enge ebendieses nationalen „Wir“, den Mief des Spießers, zu einer „Vielfalt“, während ein „postnationales Wir“ ganz homogen sein soll. In Wirklichkeit ist das nationale „Wir“ eine Waffe, eine Ideologie in den Händen der Reaktion, das eine imaginäre Einheit zwischen allen Angehörigen der Nation, oben und unten, „Volk“ und „Elite“ herstellen soll unter Ausschluss der „volksfremden“ Elemente. Das ist die unvermeidliche Logik dieses Nationalismus, und Mouffe passt sich dieser reaktionären Tendenz unserer Zeit an.

Wie für die Rechte kann auch für Mouffe die EU nur als ein Projekt überleben, das die Nationen und nationalen Identitäten nicht antastet, und auf dieser Basis ist auch Mouffe „pro-europäisch“.

Zugleich solle dieses Modell mit einer Rückkehr zu nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik und mit Protektionismus, der ökologisch verbrämt wird, verbunden werden. Auch wenn sich Mouffe um die Frage der Migration in ihren Büchern herumdrückt, so zielt ihre Politik logisch auf eine Begrenzung von Einwanderung – schließlich würden offene Grenzen, das Niederreißen der Festung Europa usw. unweigerlich auch jedes nationale „Wir“ untergraben.

Wiederholt wendet sie sich außerdem dagegen, die WählerInnen und UnterstützerInnen dieser Migrationsbegrenzung als RassistInnen oder xenophob „abzustempeln“ oder zu diffamieren. Im Gegenteil, die Linke müsse einem „ausgrenzenden Nationalismus“ einen positiven entgegensetzen – den Patriotismus:

„Das ist ein kompliziertes Problem, das nur im nationalen Rahmen gestellt werden kann. Ich glaube zuversichtlich an einen linken Patriotismus. Im Gegensatz zu vielen Linken glaube ich, dass der Patriotismus eine wichtiger Wert ist, denn er mobilisiert die Affekte. Für die Menschen ist die nationale Identität etwas Wichtiges. (…) In Frankreich gibt es die glückliche Lage, dass die Republik wegen der Französischen Revolution etwas ist, das sich von der Linken leicht mobilisieren lässt. In Deutschland und Österreich ist das viel komplizierter. Trotzdem gibt es in der österreichischen wie in der deutschen Geschichte eine ganze Tradition der Linken, an die sie sich anschließen können. Wenn man die Affekte mobilisieren will, ist die Frage des Patriotismus ausschlaggebend“ (77).

Also kein Volk ohne Patriotismus – und damit greift Chantal Mouffe unwillkürlich auf die jeweiligen nationalen Traditionen, ja auf den Nationalismus zurück. Der „Republikanismus“, auf den die französische Linke so leicht zurückgreifen könne, entpuppt sich regelmäßig als eine Ideologie des französischen Imperialismus, mit dem die ArbeiterInnenklasse an die herrschende Klasse gebunden wird. Dass die französische Linke meint, sich dieser Ideologie für ihre Zwecke bedienen zu können, verdeutlicht nur, wie sehr der reaktionäre Nationalismus die reformistische ArbeiterInnenbewegung (Sozialdemokratie und KP) und den Linkspopulismus Mélenchons durchdringt.

Auch die deutsche und österreichische Sozialdemokratie und der Stalinismus haben es in den letzten Jahrzehnten leider nicht an Nationalismus und Patriotismus mangeln lassen. SPD und SPÖ haben sich bis zur Selbstaufgabe in den Dienst der „Nation“, also ihrer herrschenden Klasse gestellt. Die Scheidung zwischen „gutem“ Patriotismus und „ausschließenden“ Formen des Nationalismus kann – gerade in einem imperialistischen Land – nur zur altbekannten Unterordnung der Interessen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten unter jene eines „besseren“, sozialeren, für eine hegemoniale Volkskonstruktion empfänglicheren Teils der Bourgeoisie führen.

Wir sehen also, dass bei der „Anrufung des Volkes“, bei dessen Konstruktion auf die Standardideologien der herrschenden Klasse, auf Nationalismus und Patriotismus, nicht nur nicht verzichtet werden kann, sondern sie werden ausdrücklich auch zu „Essentials“ linker Politik umgedichtet.

Mit dem Volk verschwindet dabei nicht nur die ArbeiterInnenklasse im „Volksganzen“. Auch die herrschende Klasse bleibt in der populistischen Ideologie notwendigerweise gänzlich unbestimmt. Nicht nur das Volk, auch „Elite“ oder „Kaste“ sind eine recht willkürliche Konstruktion. Die Unbestimmtheit, das Vage, das jedem Populismus innewohnt, erklären nicht nur Mouffe und Laclau, sondern auch die Führer von Podemos für eine Stärke des Linkspopulismus, die sie durchaus bewusst einsetzen.

„Mouffes spanischer Gesprächspartner Inigo Errejón verweist lobend auf den Kampfruf der Occupy-Bewegung von 1999 (‚Wir sind die 99 Prozent’) und erklärt, daß ein hegemonialer Diskurs ,nicht auf Statistiken beruht, sondern performativ’ sei. (…)

Am vagesten ist die Abgrenzung – unvermeidlich aus populistischer Sicht – gegenüber dem politischen Gegner. Benennt man ihn zu genau oder zu realitätsnah, läuft man Gefahr, mögliche Zielgruppen seiner hegemonialen Appelle zu verschrecken und deren rein rhetorische Anteile als die Fiktionen zu entlarven, die sie sind. Errejón hütet sich bewußt vor einer Definition der casta, gegen die Podemos la gente zum Aufstand rufen.“ (78)

Dieselbe Unbestimmtheit der Elite findet sich auch bei Laclau und Mouffe, wenn es um den Gegner geht, gegen den das Volk konstituiert werden soll. Die Führer von Podeomos, die sich offen dazu bekennen, von den Theorien der beiden TheoretikerInnen des Linkspopulismus inspiriert zu sein, erweisen sich als gelehrige Schüler. Es ist keinesfalls ein Zufall und auch nicht nur politischer Zweckmäßigkeiten geschuldet, dass die „Elite“ im Linkspopulismus eine schwer greifbare Gruppierung darstellt. Es kann sich um Institutionen, Vorstellungen, IdeologInnen (vorzugsweise des Liberalismus und Kosmopolitismus), Strukturen, gelegentlich auch um soziale Gruppen handeln. Aber noch viel weniger, als die Lohnabhängigen ein „privilegiertes Subjekt“, eine ausgebeutete oder unterdrückte Klasse darstellen, erscheint die Bourgeoisie als Klasse. Allenfalls gibt es eine neoliberale Politik, eine immer umfassendere Öffnung der Märkte, eine zügellose Globalisierung. Doch hinter ihnen stehen als treibende Momente keine Klasseninteressen, sondern eine bestimmte „hegemoniale Konstellation“, die ebenso durch eine andere ersetzt werden könnte.

Das Programm des Linkspopulismus zeichnet sich daher auch durch Vagheit und Gemeinplätze, eine Mischung aus Reformvorschlägen „der Demokratie“, Mittelstandsförderung, kleinbürgerlichem Ökologismus, sozialstaatlichen Reformen, also eine Rückkehr zur Politik der 60er und 70er Jahre aus.

Als Instrument des Linkspopulismus bleibt – wie schon in der sozialdemokratischen oder bürgerlichen Reformpolitik – der Staat.

„Während der traditionelle Marxismus behauptete, dass der Kommunismus und das Austrocknen des Staates sich gegenseitig logisch bedingen, sagen Laclau und ich, dass man sich das emanzipatorische Projekt heute nicht mehr als die Beseitigung von Herrschaftsstrukturen durch gesellschaftliche Akteure vorstellen kann, die mit dem Standpunkt der gesellschaftlichen Totalität gleichgesetzt werden. Antagonismen, Auseinandersetzungen und Uneinigkeit wird es in der Gesellschaft immer geben, und die Notwendigkeit von Institutionen, die sich mit ihnen befassen, wird niemals verschwinden.“ (79)

Der Staat müsse nicht zerschlagen oder zerbrochen werden – er müsse nur von den Richtigen in Besitz genommen und reformiert werden:

„Die Erfahrungen progressiver Regierungen in Südamerika in den letzten zehn Jahren belegen, dass es möglich ist, den Neoliberalismus infrage zu stellen und demokratischen Werten wieder Priorität einzuräumen, ohne auf liberale repräsentative Institutionen zu verzichten. Und sie zeigen außerdem, dass der Staat keineswegs demokratischen Fortschritten im Weg stehen muss, sondern vielmehr ein wichtiges Vehikel für die Durchsetzung der Forderungen des Volkes sein kann.“ (80)

Dummerweise entpuppte sich in den letzten Jahren auch der „Volksstaat“ in Südamerika als kapitalistischer Staat. In Venezuela, Bolivien, Brasilien sind die „Volksregierungen“ in der Krise, teilweise aufgrund der eigenen inneren Widersprüche populistischer Regime oder aufgrund des Sturzes der PT-Präsidentschaft durch einen Putsch der „Elite“. Die Mobilisierung der protofaschistischen Bewegung von Bolsanaro und sein Sieg bei den Präsidentschaftswahlen verdeutlichen, dass schon heute wichtige Teile der herrschenden Klasse nicht einmal mehr bereit sind, eine von ReformstInnen geführte Regierung zu akzeptieren, selbst wenn sie sich bemüht, die Gesamtinteressen der Kapitals durchzusetzen.

Der „populistische Moment“, den die Krise lt. Mouffe schafft, erlaubt eben in Wirklichkeit keine dauerhafte „Reformpolitik“, keine Verwendung der bürgerlichen Institutionen im Interesse des „Volkes“, sondern stößt selbst bei reformistischer oder linkspopulistischer Politik auf den Widerstand der herrschenden Klasse und des Imperialismus. Davon kann auch die von Mouffe immer wieder als Vorbild für eine „populistische“ Politik ins Feld geführte Syriza-Regierung ein Lied singen.

Kosmopolitismus und Universalismus als Feindbilder

Genau diesen Zusammenhang zwischen Staat, Demokratie und Kapitalismus muss der Linkspopulismus jedoch vehement bestreiten:

„Auch wenn viele liberale Theoretiker nicht müde werden zu beteuern, politischer Liberalismus mache notwendigerweise wirtschaftlichen Liberalismus erforderlich und eine demokratische Gesellschaft setzte eine kapitalistische Wirtschaft voraus, ist evident, dass zwischen Kapitalismus und liberaler Demokratie kein zwangsläufiger Zusammenhang besteht. Unglücklicherweise hat der Marxismus zu dieser Verwirrung beigetragen, indem er die liberale Demokratie als den Überbau des Kapitalismus dargestellt hat. Es ist wirklich bedauerlich, dass dieser ökonomistische Ansatz in verschiedenen Sektoren der Linken, die nach der Zerstörung des liberalen Staates rufen, noch immer akzeptiert wird. Im Rahmen der konstitutiven Prinzipien des liberalen Staates – Gewaltenteilung, allgemeines Wahlrecht, Mehrparteiensystem und Bürgerrechte – kann man die gesamte Bandbreite der heutigen demokratischen Forderungen vorbringen.“ (81)

Bei aller Kritik an der „alten“ Sozialdemokratie oder am Labourismus endet der Linkspopulismus darin, deren illusorische Vorstellungen des bürgerlichen Staates und der liberalen Demokratie zu übernehmen. Das Programm des Linkspopulismus ist daher eine Mischung aus BürgerInnenbewegung und staatlichen Reformprogrammen. Es ist dem Reformismus durchaus ähnlich, doch als Träger der politischen Veränderung erscheint nicht mehr die ArbeiterInnenbewegung, sondern „das Volk“.

Damit ein Volk jedoch überhaupt konstituiert werden kann, braucht es ein nationalstaatliches Terrain des Politischen. Ein „globales“ Volk, eine internationale Nation, lässt sich schlecht konstituieren. Daher ist Politik auch zuerst nationale Politik:

„Was ich unterstreichen will ist, dass der hegemoniale Kampf um die Wiederherstellung der Demokratie zuerst auf der Ebene des Nationalstaates stattfinden muss, der, obgleich er viele seiner Vorrechte eingebüßt hat, nach wie vor einen der entscheidenden Räume für das Ausüben der Demokratie und Volkssouveränität darstellt. Es ist die nationale Ebene, auf der die Frage der Radikalisierung der Demokratie als Erstes gestellt werden muss. Hier sollte ein kollektiver Wille, der Widerstand gegen die postdemokratischen Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung leistet, konstituiert werden. Erst wenn dieser kollektive Wille konsolidiert ist, kann eine produktive Zusammenarbeit mit ähnlichen Bewegungen in anderen Ländern stattfinden. (…) eine linkspopulistische Strategie kann die starke libidinöse Involvierung, die bei nationalen – und regionalen – Identifikationsformen am Werk ist, nicht ausblenden, und es wäre hochriskant, dieses Terrain dem Rechtspopulismus zu überlassen.“ (82)

Volk, Nation und Staat bilden das politische Lebenselixier der populistischen Konzeption. Der Kampf ist nicht nur zuerst ein nationaler. Die internationale ArbeiterInnenklasse hat sich zuerst im „nationalen Volkskörper“, natürlich unter besonderer Vorliebe für die „egalitären Aspekte der nationalen Tradition“, einzufinden.

Um ihr nationales Credo besonders zu untermauern, haben Laclau, Mouffe und ihre ParteigängerInnen auch gemeinsame Feinde ausgemacht, gewissermaßen Gipfelpunkte des Irrweges: den Kosmopolitismus und den Universalismus.

Der Kosmopolitismus wird von Mouffe im Wesentlichen als eine politische Strömung liberaler Eliten, von VerfechterInnen des internationalen Großkapitals, von urbanen Milieus, denen die nationalen Wurzeln der Mehrheit der Bevölkerung wenig bedeuten, von einer heterogenen Schicht von „Globalisierungsgewinnern“ betrachtet, die mit Abscheu auf die nationalen Traditionen schauen. Besonders drastisch bringt das Sahra Wagenknecht auf den Punkt:

„Der Kosmopolitismus ist die Ideologie der Gewinner des globalen Konzernkapitalismus. Diese Ideologie, die viele irrtümlich für links halten, verachtet die nationalstaatlichen Regelungen und Institutionen ebenso wie nationale Kulturen und Traditionen. Für sie gibt es keine Staatsbürger mehr, sondern nur noch Weltbürger. Nationale Identitäten sind in ihren Augen ein muffiges Relikt früherer Jahrhunderte, dem allenfalls die ungebildete Unterschicht und rechte Reaktionäre noch etwas abgewinnen können.“ (83)

Diese Passage ist typisch für linkspopulistische Konstruktionen. Der „Kosmopolitismus“ erscheint als das eigentliche Übel unserer Zeit, während der Nationalstaat als Ort zur Verteidigung der Armen und Benachteiligten zurückgewonnen werden müsse. Dort könnte nämlich noch etwas getan, die Globalisierung reguliert und staatlich eingegriffen werden.

Hier wird die reale Entwicklung des Kapitalismus selbst verkannt. Der zunehmend internationale Charakter der Produktion und des Verkehrs ist nämlich eine progressive Begleiterscheinung der kapitalistischen Produktionsweise, die natürlich v.a. für bornierte Zwecke der Einzelkapitalien, der großen Konzerne genutzt wird. Der Weltmarkt wirft in seiner Entwicklung selbst die Frage der Überwindung der nationalen Schranken auf, stößt aber zugleich darauf, dass die nationalstaatliche Verfasstheit des Kapitalismus selbst eine Hemmnis für die weitere Entwicklung darstellt. Hinzu kommt, dass der Weltmarkt wie auch die gesamte politisch-ökonomische Weltordnung immer eine ist, in der die mächtigen, imperialistischen Ländern und die in ihnen verwurzelten Kapitale die Welt beherrschen. In einer Krisenperiode, wie wir sie aktuell durchmachen, ist die Ordnung selbst erschüttert, weil neue Konkurrenten nach vorne drängen, weil z.B. China und die EU, die jahrzehntelange hegemoniale Stellung der USA herausfordern.

Hinter dieser Krise und dem Kampf um eine Neuaufteilung der Welt stehen letztlich der Fall der Profitrate in den großen Nationalökonomien und die Überakkumulation des Kapitals. Diese strukturellen Krisen können selbstredend nicht nationalstaatlich gelöst werden. Der Nationalstaat kann allenfalls zu mehr Abschottung greifen, um das nationale Kapital durch Protektionismus zu schützen, was früher oder später natürlich ähnliche Antworten der Konkurrenz hervorruft.

In jedem Fall, und das ist für den Linkspopulismus kennzeichnend, unterstellen Mouffe, Wagenknecht und Co., dass die aktuelle ökonomische Krisenhaftigkeit, die zunehmende Konkurrenz der Kapitale durch nationalstaatliche Maßnahmen eines linkspopulistischen Blocks gelöst werden könnten.

Daher stellt der Appell an Nationalismus, an Heimat, an die nationale Tradition für sie überhaupt kein Problem dar. Die „Nation“ ist für sie keine imaginäre Einheit gegensätzlicher Klassen, sondern der „natürliche“ Ort des Volkes. Die Wichtigkeit des bürgerlichen Staats und der Nation wird im Populismus geradezu zum vordringlichen Anliegen der Armen, der Unterschichten, aller, die nicht ins Ausland gehen und die nicht von der Globalisierung profitieren können, stilisiert.

In all dem erscheinen die ArbeiterInnen, die Lohnabhängigen längst nicht mehr als internationale Klasse, sondern nur als ein besonders benachteiligtes Segment von StaatsbürgerInnen, das aufgrund seiner untergeordneten Stellung besonders auf „nationale Identität“ setze. Die Lohnabhängigen erscheinen geradezu als TrägerInnen des Nationalismus, dem das „kosmopolitische“ BürgerInnentum, die Reichen und Mittelschichten (arroganterweise) entsagt hätten.

Eine solche Verkehrung liefert die Grundlage für eine rein national ausgerichtete, rückwärtsgewandte Strategie.

Mit der Identifizierung des Kosmopolitismus als Ideologie der Globalisierungsgewinner werden praktischerweise zugleich auch internationalistische Strömungen der Linken diffamiert. So werden Hardt/Negri und ihre post-autonomen AnhängerInnen wegen ihrer internationalistischen Ausrichtung, wegen des von ihnen postulierten grenzüberschreitenden Charakters der „Multitude“ als „ultralinke Version der kosmopolitischen Perspektive“ (84) denunziert. Die fortschrittlichen Momente von Hardt/Negri werden angriffen, weil der Linkspopulismus jede Schwerpunktsetzung auf die internationale Ausrichtung eines emanzipatorischen Kampf als Ablenkung vom eigentlich nationalen Feld der Auseinandersetzung versteht.

Eine weitere reaktionäre Implikation besteht in der Ablehnung des „Universalismus“. Auch hier geht der Linkspopulismus – wie schon bei der Kritik des Kosmospolitismus – den Weg, den „Universalismus“ z.B. der Menschenrechte als ein Mittel „westlicher Vormachtgelüste“ zu betrachten. Mouffe folgert daraus jedoch nicht nur, dass man z.B. humanitäre Begründungen für imperialistische Interventionen ablehnen müsste, wie z.B. der Vorwand, Frauenrechte beim Angriff auf Afghanistan zu verteidigen. Sie schließt daraus vielmehr auch, dass die Vorstellung universeller Rechte (z.B. der Frauen) als allgemeine und gleiche Menschenrechte zugunsten einer „Neudefinition“ der Menschenrechte gemäß den jeweiligen nationalen Kulturen zurückgestellt werden müssten. Hier schlägt die berechtigte Ablehnung imperialistischer Interventionen in eine reaktionäre Ablehnung der demokratischen Forderungen der Unterdrückten um.

Zweifellos beinhalten der bürgerliche Universalismus und Kosmopolitismus immer auch ein klassenspezifisches Moment – so wie jedes bürgerliche Emanzipationsversprechen einen ideologischen Charakter trägt, bei dem sich hinter dem Freiheitsversprechen das bornierte Interesse der herrschenden Klasse verbirgt. Die Kritik von Mouffe und Wagenknecht trägt jedoch durchweg reaktionäre Züge. Dem bürgerlichen Kosmopolitismus und Universalismus stellen sie die nationale Engstirnigkeit entgegen. Vor allem aber richtet sich die Kritik, wie eigentlich immer, gegen die radikalste Form des Universalismus und „Kosmopolitismus“ – den proletarischen Internationalismus und klassischen Sozialismus, die ihrerseits selbst „universalistischer Diskurs“ waren.

Programm und Beliebigkeit

Ein notwendiges Moment des Linkspopulismus besteht in dessen programmatischer und politischer Schwammigkeit. Daher reklamiert Mouffe praktisch alle Erfolge linker Parteien und Bewegungen – ob der Indignados, von Blockupy, Sanders oder Corbyn, ob von Syriza, Podemos, „France insoumise“ oder der deutschen Linkspartei – als Teil der Erfolgsgeschichte des Linkspopulismus. Der Unterschied zwischen reformistischen Parteien wie der Labour Party unter Corbyn, der Linkspartei in Deutschland oder Syriza in Griechenland zu linkspopulistischen Projekten wie Podemos, „France insoumise“ oder „Aufstehen“ wird nicht weiter betrachtet.

Zweifellos liegt das auch daran, dass es Übergangsstufen und Schraffierungen in diesem Spektrum gibt, die eine präzise Zuordnung erschweren. Linkspopulistische Projekte beinhalten oft auch Elemente reformistischer Politik oder sind aus Strömungen der ArbeiterInnenbewegung hervorgegangen. So schwankte Podemos mehrmals in seiner Geschichte zwischen der Ausrichtung auf eine „reine“ Volkspartei und einer stärkeren Hinwendung zu Organisationen, die in der ArbeiterInnenklasse verankert sind, vor allem zu Izquierda Unida (IU) und dem Gewerkschaftsverband CC.OO.

Sowohl Mélenchons „France insoumise“ als auch die „Aufstehen“-Bewegung Sahra Wagenknechts sind aus reformistischen Parteien hervorgegangen und haben natürlich auch politische Forderungen dieser Formationen übernommen.

Auch Syriza beinhaltete populistische Traditionen, wie z.B. die Abspaltung der „Volkseinheit“ nach der Kapitulation der Syriza-Anel-Regierung gegenüber der EU verdeutlichte. Hinzu kommt, dass diese reformistische Partei selbst eine „Volks“-Regierung unter Einschluss einer erzreaktionären bürgerlichen Partei (Anel) bildete und ihre Politik in der Regierung nach außen „populistisch“,als Politik im Interesse aller Klassen, verkaufte.

Während MarxistInnen die Anleihen, die reformistische Parteien bei populistischen Konzepten machen, als Schritt nach rechts betrachten, werden sie bei Laclau und Mouffe zu einer politischen Tugend. Die programmatischen Schwächen und auch die politische Bilanz dieser Parteien interessieren dabei nur am Rande. Die Formlosigkeit des Programms des Populismus erscheint ihnen geradezu als Vorzug.

„Ich habe betont, dass das Ziel einer linkspopulistischen Strategie nicht die Errichtung eines ‚populistischen Regimes’ ist, sondern die Konstruktion eines kollektiven Subjekts, das geeignet ist, eine politische Offensive zu starten, um innerhalb des liberal-demokratischen Rahmens eine hegemoniale Formation aufzubauen.“ (85)

Dieses Subjekt ist das „Volk“. Da dieses immer auf einen bestimmten Staat, eine bestimmte Nation bezogen sein muss, könne es auch politisch-programmatisch ebenso viele Wege zum Erfolg geben wie Länder auf der Erde.

„Was ich vorschlage ist kein vollständig ausgearbeitetes politisches Programm, sondern eine ganz konkrete Strategie für die Errichtung einer politischen Frontlinie. Parteien und Bewegungen, die eine links-populistische Strategie wählen, können dabei ganz unterschiedliche Wege gehen.“ (86)

Rückschläge wie Nicht-Verwirklichung der Anti-Austeritätspolitik Syrizas aufgrund des Zwangs der Europäischen Union wären dabei unvermeidlich. Die Kapitulation der Syriza-Regierung dürfe jedoch nicht bedeuten, dass „der Erfolg der populistischen Strategie, dank derer sie die Macht eroberte“ (87) geschmälert würde. Hier wird der Wahlerfolg zum Selbstzweck. Dass die Partei an der Regierung alle ihre Versprechen verriet, selbst das „Volk“, also die ArbeiterInnen und Bauern, einem Austeritätsprogramm unterzog, will sie dem „Populismus“ nicht angelastet wissen.

Die politische Kapitulation oder Anpassung an bürgerliche Kräfte, an Nationalismus, Chauvinismus oder, im Fall von Syria, auch an die EU erscheinen allenfalls als zeitweilige Rückschläge. Eine kritische Auseinandersetzung mit deren mögliche Ursachen findet erst gar nicht statt. Die reale Politik dieser linken Parteien soll schließlich der Erfolgsgeschichte des „Populismus“ keinen Abbruch tun. Schließlich geht es Mouffe und dem Linkspopulismus um kein konkretes politisches, wirtschaftliches und soziales Programm, sondern um die „Konstruktion“ eines Subjekts, eines Volkes, einer Frontlinie. Und hier werden die „unterschiedlichen Wege“, also die Anpassung an das jeweilige nationale Terrain, prinzipienlose Zugeständnisse an die KapitalistInnenklasse, überraschende Allianzen mit offen bürgerlichen oder gar reaktionären Parteien, zu raffinierten Schritten erklärt, um ein vorgeblich „linkes Volk“ zu konstruieren. Oder in ihren Worten:

„Das Ziel einer linkspopulistischen Strategie ist es, eine Mehrheit des Volkes hinter sich zu scharren, um an die Macht zu kommen und eine progressive Hegemonie aufzubauen. Für ihre konkrete Umsetzung gibt es ebenso wenig ein Patentrezept wie für das Endziel. Die Äquivalenzkette, durch die das ‚Volk’ konstituiert wird, wird von den spezifischen historischen Umständen abhängen.“ (88)

Damit erübrigt sich für den Linkspopulismus letztlich die Frage nach einer inhaltlichen Bestimmung des Programms. Es muss nur als „Volkskonstruktion“ tauglich sein. Der Ruf nach einer in sich stimmigen Politik erscheint als altbackener, „essentialistischer“ Einwand. Da das Volk nur eine politische Konstruktion sei, die diskursiv konstituiert werde, könne es natürlich auch kein bestimmtes Programm haben, sondern müsse sich dieses aus den Beständen existierender Ideologien zusammenschustern.

Das „Volk“ kennt jedoch eine kleinste Einheit, den/die BürgerIn.

„Es ist als Bürger, dass ein gesellschaftlicher Akteur auf der Ebene der politischen Gemeinschaft interveniert. Doch so zentral das ‚Staatsbürgersein’ als Kategorie in einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft ist, so unterschiedlich sind die Auffassungen davon, und diese bedingen ganz unterschiedliche politische Konzeptionen. Der Liberalismus betrachtet Staatsbürgerschaft lediglich als Rechtsstatus und sieht den Bürger als individuellen Inhaber von Rechten, unabhängig von irgendeiner Identifikation mit einem ‚Wir’. In der demokratischen Tradition dagegen wird das ‚Staatsbürgersein’ als aktives Engagement in der politischen Gemeinschaft verstanden, als Handeln als Teil eines ‚Wir’, im Einklang mit einer bestimmten Vorstellung von Gemeinwohl. Daher kommt der Entwicklung einer radikal-demokratischen Vorstellung davon, was es heißt, ein Bürger zu sein, im Kampf gegen Postdemokratie, eine Schlüsselfunktion zu.“ (89)

Der/die StaatsbürgerIn wird zum eigentlichen Subjekt der Geschichte erhoben, gewissermaßen zur Keimzelle des „Volkes“. Das Betätigungsfeld kann freilich auch nur der Staat und reformorientierte Politik sein:

„Die radikaldemokratische Auffassung des Bürgerseins, das ich hier verfechte, steht in engem Zusammenhang mit der radikalen, reformorientierten Politik der Auseinandersetzung mit den Institutionen, die ich oben befürwortet habe. Sie betrachtet den Staat als einen wichtigen Schauplatz demokratischer Politik, weil er den Raum konstituiert, in dem Bürger Entscheidungen über die Organisation der politischen Gemeinschaft treffen können; je es ist der Ort, wo Volkssouveränität ausgeübt werden kann.“ (90)

Wieder einmal wird eine Charaktermaske der bürgerlichen Gesellschaft, der/die StaatsbürgerIn, als überideologische Figur aus der Mottenkiste geholt und als scheinbar klassenneutrales, „linkes“ Subjekt behauptet. Dem „beschränkten“, egoistischen neoliberalen Bürger wird der sorgende Bürger entgegengestellt, der endlich den Staat, der ihm ohnedies nie gehörte, nun in Besitz nehmen möchte – ganz so, als ob der bürgerliche Staat nie Klassenstaat des Kapitals gewesen sei.. Dass er Organ der „Volkssouveränität“ sei, behaupten selbst bürgerliche TheoretikerInnen heute kaum noch ernsthaft. Anders der Linkspopulismus. Hier werden ungeniert längst brüchig gewordene Rechtfertigungsideologien mit verblüffender Selbstverständlichkeit aus dem Hut gezaubert. Sobald das Politische nur noch als diskursive Konstruktion existiert, ist offenbar alles möglich.

Für die Linke haben diese naiven Theorien jedoch handgreifliche reaktionäre Konsequenzen. Das „Kollektivsubjekt“ des Linkspopulismus entpuppt sich als Dekonstruktion jedes realen kollektiven Subjekts – sei es der ArbeiterInnenklasse oder anderer gesellschaftlich Unterdrückter. Zu Ende gedacht, soll jede proletarische Bewegung, jede Jugendbewegung, jede Frauenbewegung, jede anti-rassistische Bewegung, jede anti-imperialistische und internationalistische Bewegung in einer „BürgerInnenbewegung“, genau genommen in einer „StaatsbürgerInnenbewegung“, aufgehen.

Hier wird auch offenbar, dass der Linkspopulismus gegenüber dem Reformismus einen Schritt zurück darstellt. Im Reformismus bilden dieLohnabhängigen die soziale Basis seiner Reformpolitik. Auch wenn Reformismus und Revisionismus diese Bindung immer wieder ideologisch und realpolitisch abstreifen wollten (bzw. die inneren Widersprüche dieser Politik dazu trieben und treiben), musste sich die reformistische ArbeiterInnenbewegung auch auf eine Klasse und damit auf gemeinsame, ökonomisch bestimmte Interessen beziehen. Der Linkspopulismus dagegen will diese Beziehung, die von den reformistischen Parteien strapaziert, überdehnt oder gar gekappt wurde, bewusst zerbrechen und die Linke als BürgerInnenverein neu konstituieren.

Während Mouffe und Laclau den Modellcharakter von linkspopulistischen Organisationen wie Podemos und „France insoumie“ betonen, so hat diese Ideologie auch auf bestehende reformistische Parteien einen zersetzenden, reaktionären Einfluss. In Britannien drückt das Wachstum der Labour Party unter der linksreformistischen Corbyn-Führung eine Klassenpolarisierung der Gesellschaft aus. Die Aufgabe von revolutionären Linken besteht darin, diese Entwicklung bewusst zu machen und voranzutreiben, indem sie für ein konsequentes, klassenkämpferisches und revolutionäres Programm in der Labour Party kämpfen. Mouffes Intervention zielt auf das Gegenteil, doch eine linkspopulistische Ausrichtung von Labour kann nur zur Zerstörung des politischen Potentials führen, das in den letzten Jahren sichtbar wurde.

Ein anderes Beispiel für den reaktionären Charakter der Linkspopulismus stellt die Entstehung von „Aufstehen“ unter Führung von Sahra Wagenknecht und eines Flügels der Linkspartei dar.

Die Linkspartei stagniert seit Jahren mehr oder minder. Die Verluste in den Hochburgen im Osten werden durch Zugewinne im Westen bloß ausgeglichen. Sie vermag es nicht, von der Krise der SPD und der Großen Koalition zu profitieren, weil sie selbst keine konsequente Oppositionspolitik betreibt. In Berlin, Brandenburg und Thüringen regiert sie mit, und in diesen Koalitionen ist sie praktisch kaum unterscheidbar von der SPD oder den Grünen. Bemerkenswerterweise bilden aber die bürgerliche Politik in diesen Bundesländern und die fehlende Mobilisierungsfähigkeit der Linkspartei nicht den Fokus von Wagenknechts Kritik, sondern das Gezeter über die „Politik der offenen Grenzen“, der sich die Regierung Merkel, die EU und der Kosmopolitismus angeblich verschrieben hätten. Diese Zuspitzung von Wagenknecht und Lafontaine mag nicht ganz im Sinne von Mouffe sein, die gleichzeitig Beziehungen zu Kipping wie zu Wagenknecht unterhält. Andererseits unterscheidet sich der Sozialchauvinismus von „Aufstehen“ und Wagenknecht nicht grundlegend vom „linken Republikanismus“ Mélenchons, den der Linkspopulismus als Musterbeispiel für einen positiven Bezug zum „Volk“ preist.

Aufstehen?

Wir wollen an dieser Stelle in die Niederungen populistischer Realpolitik hinabsteigen, wie sie heute in Sahra Wagenkenchts Projekt „Aufstehen“ verkörpert wird. Sie selbst hat in den letzten Jahrzehnten selbst eine politische Rechtsentwicklung durchlaufen, die es ihr überhaupt erst ermöglichte, an die Fraktionsspitze der Linkspartei zu gelangen. Sie steht wie keine andere für Linkspopulismus und ein „linkspopuläres“ Projekt in der Bundesrepublik Deutschland.

Im Gründungsaufruf von „Aufstehen“ wird ein düsteres Bild der heutigen neoliberalen Gesellschaft gezeichnet: „Profit triumphiert über Gemeinwohl. Gewalt über Völkerrecht. Geld über Demokratie. Verschleiß über umweltbewusstes Wirtschaften.“ (91) Doch eine bessere Welt könne wiederhergestellt werden, erfahren wir aus dem Aufruf, wenn wir uns nur auf Vergangenes zurückbesinnen würden:

„Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, die sozial immer tiefer gespalten ist. Wir halten es für falsch, dass die deutsche Regierung sich einer unberechenbaren, zunehmend auf Konflikt orientierten US-Politik unterordnet, statt sich auf das gute Erbe der Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts, Egon Bahrs und der Friedensbewegung in Ost und West zu besinnen. (…)

Der Mensch ist kein Kostenfaktor. Nicht er ist für die Wirtschaft da, sondern die Wirtschaft für den Menschen. Das deutsche Grundgesetz sagt unmissverständlich: Eigentum verpflichtet, es soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (…)

Die Spielräume für die Politik in einzelnen Ländern sind auch heute noch weit größer als uns eingeredet wird. Eine vernünftige Politik kann den sozialen Zusammenhalt wiederherstellen und den Sozialstaat erneuern. Sie kann die Bürger vor dem globalen Finanzkapitalismus und einem entfesselten Dumpingwettbewerb schützen. Sie kann und muss in die Zukunft investieren.

Wir wollen keine marktkonforme Demokratie, in der sich die Politik von den Bürgerinnen und Bürgern immer mehr entfremdet. Heute wenden sich viele ab, weil sie sich im Stich gelassen fühlen. Weil sie immer wieder erleben, dass ihre Bedürfnisse weit weniger Einfluss auf politische Entscheidungen haben als die Wünsche zahlungskräftiger Wirtschaftslobbyisten.

Wir wollen die Politik zurück zu den Menschen bringen. Und die Menschen zurück in die Politik. Denn wir sind überzeugt: nur dann hat die Demokratie eine Zukunft.“ (92)

Diese Absätze idealisieren die guten alten Zeiten des Sozialstaats, der „Sozialpartnerschaft“, des „Klassenausgleiches“ und die „Ostpolitik“ eines Willi Brandt, als wäre die Bundesrepublik nicht auch damals von Kapitalinteresse, Profitmacherei und Imperialismus bestimmt gewesen. Die „Ostpolitik“, ein Mittel, die degenerierten, von einer konterrevolutionären Bürokratie politisch beherrschten ArbeiterInnenstaaten wieder für den Weltmarkt zu öffnen und in die Knie zu zwingen, wird zur Friedensmission verklärt. Das „Völkerrecht“ hätte das „Recht des Stärkeren“ beschränkt. Diese und ähnliche bürgerliche Gemeinplätze sollen ausgerechnet den „Neustart“ der Linken bewerkstelligen.

Die verschärfte Konkurrenz, die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, die zunehmenden internationalen Konflikte sollen durch eine „andere“, bessere bürgerliche Politik unter Ausnutzung staatlicher Spielräume, und zwar des bestehenden Staates!, zurückgedrängt werden. Lt. „Aufstehen“ und lt. Sahra Wagenknecht kann der Kapitalismus nämlich politisch gezähmt, gezügelt werden. Diese „Erkenntnis“ tischt sie in ihrem Buch „Reichtum ohne Gier“ auf. Dort wird nicht nur der Keynianismus, sondern auch der Ordoliberalismus der Freiburger Schule als „Zukunftsmodell“ gepriesen:

„Der deutsche Ordoliberalismus wie der Keynesianismus waren sich in dem Punkt einig, dass der Beherrschung von Märkten und Staaten durch große Firmen die Basis entzogen werden müsse, wenn Demokratie und soziale Marktwirtschaft eine Chance erhalten sollen. Deshalb setzen sie sich auch für eine De-Globalisierung der Wirtschaft und vor allem der Finanzmärkte ein, für lokale Wirtschaftskreisläufe, scharfe Kartellgesetze und strikte Regeln zur Bändigung der Renditejagd.“ (93)

So legt sich die Wirtschaftswissenschaftlerin die Realität zurecht. Dieses politische Märchen bildet freilich nur den Auftakt eines ganzen Buches, das unter anderem mit den Kapiteln wie „Warum echte Unternehmer den Kapitalismus nicht brauchen“ und „Marktwirtschaft statt Wirtschaftsfeudalismus“ überrascht.

Der zunehmenden Konzentration und Zentralisation von Kapital, der Tendenz zur Monopolbildung stellt sie die Rückkehr zur „echten Konkurrenz“ entgegen. Der Profit des Kapitals, so erfahren wir, entstünde nämlich nicht aus der Ausbeutung der Arbeitskraft, sondern aus der Monopolstellung, die entweder zeitweilig sein könne (bei Erfindung eines neuen Produktes oder einer neuen Produktionstechnik) oder aufgrund der Beherrschung des Marktes durch eine kleine Gruppe von GroßkapitalistInnen.

Der „echten“ Marktwirtschaft wird der „ungezügelte“ monopolistische Kapitalismus gegenüberstellt. So verstanden entpuppen sich alle „echten“ Unternehmer im Unterschied zu reinen Kapitaleigner als „antikapitalistisch“, denn, so erfahren wir von der ehemaligen Marxistin: „Langfristig gibt es im harten Wettbewerb auf einem offenen Markt keinen Grund, weshalb ein Unternehmer mehr als seine eigene unternehmerische Leistung bezahlt bekommen sollte.“ (94)

Vorwärts, – zurück zur Vulgärökonomie. Wagenknecht betrachtet den Kapitalismus vom Standpunkt des selbstständigen Kleinunternehmers, der im Gegensatz zum Großkapital im Betrieb eine anleitende, organisierende oder überwachende Funktion ausübt. Dumm nur, dass das große Kapital notwendigerweise aus der Konkurrenz erwächst, dass diese den Stachel zur Akkumulation bildet. Wie viele andere ApologetInnen der Marktwirtschaft – nicht zuletzt der von Wagenknecht beständig als wegweisender Ökonom und Politiker angeführte „Erfinder“ der „sozialen Marktwirtschaft“ Ludwig Erhard – behauptet auch sie einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Erhard beschönigte damit die imperialistische Politik im Interesse des Großkapitals und erfüllte damit auch ein Bedürfnis des Kapitals im Nachkriegsdeutschland. Wagenknecht hingegen stellt eine utopische Politik im Interesse der „selbstständigen“ ProduzentInnen und einer „echten“ Marktwirtschaft als linke (!) Perspektive dar – und erzeugt so bestenfalls Verwirrung.

Es zeigt aber, welches „Volk“ Wagenknecht und die „Aufstehen“-Bewegung konstruieren. Die „BürgerInnen“, die „Menschen“, die den Staat unter ihre Kontrolle und zur Rettung des sozialen Zusammenhalts „erobern“ sollen. Ihrer Ansicht nach stellen diese eine Allianz verschiedener Klassen dar: Lohnabhängige, Mittelschichten, KleinbürgerInnen in Stadt und Land und, gewissermaßen als deren Krönung, „echte“ UnternehmerInnen, KapitalistInnen, die ihr Kapital zum Nutzen des Betriebes und der Gesellschaft einsetzen und daher erhalten, was ihnen zusteht.

In dieser trauten BürgerInnenbewegung ist unter der Hand auch die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse verschwunden. Diese kommt gewissermaßen nur von „außen“, von jenen Teilen des Kapitals, die sich der Konkurrenz entziehen, also den Finanzmärkten, den Monopolen usw. Diese werden sodann als Träger von „Kosmopolitismus“ und „offenen Grenzen“ dargestellt, ihnen angeschlossen sind allenfalls „privilegierte“ Schichten der LohnarbeiterInnen, die es sich leisten könnten, ihre Arbeitskraft auch im Ausland zu verkaufen.

Hier werden wieder einmal zwei miteinander verbundene reaktionäre und spalterische Tendenzen deutlich. Die „einheimischen“ ArbeiterInnen sollten gefälligst in „ihrem“ Land bleiben, der Zustrom von MigrantInnen und Geflüchteten müsse begrenzt bleiben.

„Die Zerstörung des sozialen Zusammenhalts, wachsende Unzufriedenheit und empfundene Ohnmacht schaffen einen Nährboden für Hass und Intoleranz. Auch wenn der Hauptgrund für Zukunftsängste die Krise des Sozialstaats und globale Instabilitäten und Gefahren sind: Die Flüchtlingsentwicklung hat zu zusätzlicher Verunsicherung geführt. Übergriffe auf Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Religion häufen sich. Wir lehnen jede Art von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass ab. Gerade deshalb halten wir die Art und Weise, wie die Regierung Merkel mit den Herausforderungen der Zuwanderung umgeht, für unverantwortlich.“ (95)

Bemerkenswerterweise wird deshalb das zeitweilige Durchbrechen der Grenzen der Festung Europa durch Flüchtlinge und MigrantInnen der „Regierung Merkel“ als größtes Versäumnis angerechnet, nicht aber die umso barbarischere Wiedererrichtung ebendieser Grenzen!

Wie jeder BürgerInnenbewegung, die nicht die grundlegenden Verhältnisse verändern, sondern nur besser gestalten will, erscheinen auch bei „Aufstehen“ „zu viele“ MigrantInnen, d.h. zu viele Lohnabhängige und Entrechtete aus den vom deutschen Kapital ausgebeuteten Ländern, als Gefahr für ein nationales Reformprojekt. Wenn von der ArbeiterInnenklasse bei Wagenknecht und Co. überhaupt noch die Rede ist, so ist damit die „einheimische“, also die „nationale“ ArbeiterInnenklasse gemeint.

Schließlich kommt bei „Aufstehen“ auch der Staat zu seinem Recht. Dieses Instrument des Kapitals solle endlich wieder zum Instrument der „Menschen“, der BürgerInnen werden.

Dazu soll er erstens eine Reihe sozialer Reformen umsetzen, die ebenso gut von der Linkspartei oder selbst der SPD versprochen werden. Wenn es um den bewaffneten Staatsapparat geht, will sich „Aufstehen“ schon heute nicht unterstellen lassen, eine Gruppe vaterlandsloser GesellInnen zu sein. So wird unter „eine neue Friedenspolitik“ gefordert: „Die Bundeswehr als Verteidigungsarmee in eine Europäische Sicherheitsgemeinschaft einbinden, die Ost und West umfasst.“ (96) Und unter “Sicherheit im Alltag“ folgt: „mehr Personal und bessere Ausstattung von Polizei, Justiz und sozialer Arbeit.“ (97) Damit kann sich auch die verhasste Merkel-Regierung anfreunden. Schließlich heißt es am Ende des Aufrufs:

„Das Recht auf Asyl für Verfolgte gewährleisten, Waffenexporte in Spannungsgebiete stoppen und unfaire Handelspraktiken beenden, Kriegs- und Klimaflüchtlingen helfen, Armut, Hunger und Elendskrankheiten vor Ort bekämpfen und in den Heimatländern Perspektiven schaffen. Durch eine neue Weltwirtschaftsordnung die Lebenschancen aller Völker auf hohem Niveau und im Einklang mit den Ressourcen angleichen.“ (98)

Hier wird so getan, als könnten im Rahmen der imperialistischen Weltordnung die „Lebenschancen der Völker“ angeglichen werden. Die Beendigung „unfairer“ Praktiken verspricht im Kapitalismus allerdings so ziemlich jede bürgerliche Partei und Regierung, und die Flüchtlingskrise „vor Ort“ zu bekämpfen, neuerdings auch. In Wirklichkeit sind dies nur Phrasen, um die militärische und polizeiliche Abschottung an den Grenzen der EU zu rechtfertigen. Die Armen sollen gefälligst in „ihrem“ Land bleiben und auf die „Hilfe“ aus den Metropolen warten, statt unsichere Verhältnisse hierzulande noch unsicherer zu machen. Diese rechte Politik wird nicht besser, wenn sie mit humanitären Phrasen bemäntelt wird.

Schluss

Wir haben den Anspruch von Laclau und Mouffe, eine strategische Antwort auf den Rechtspopulismus und die Krise der Linken zu liefern, einer ausführlichen Kritik unterzogen. Weit davon entfernt, eine fortschrittliche Antwort auf die Krise der Linken darzustellen, theoretisieren sie vielmehr eine falsche Lösung des Problems.

Die linkspopulistischen Parteien und Bewegungen stellen eine Anpassung an den bürgerlichen Nationalismus, die bürgerliche Demokratie und andere vorherrschende Ideologien dar. Statt die Lohnabhängigen als eigene Klassenkraft zu konstituieren und so einen Pol der Veränderung der Gesellschaft zu schaffen, führt die populistische Ideologie notwendigerweise zur Auflösung der ArbeiterInnenklasse in der imaginären Einheit des „Volkes“. Mag sie auch noch zahlreich vertreten sein, so geht sie im Wust kleinbürgerlicher Ideologien, Vorurteile und Halbwahrheiten unter. Statt der Politik der herrschenden Klasse ihre eigene Politik, ihr eigenes Programm im Kampf entgegenzustellen, wird sie umso stärker an bürgerliche Ideen gebunden. Daher ist der Linkspopulismus untrennbar mit einem Angriff auf Klassenpolitik, Internationalismus, Befreiung und Sozialismus verbunden.

Die Theorien Mouffes und Laclaus, weit davon entfernt, über den Klassen zu stehen, entsprechen den politischen Bedürfnissen des sich als „Nation“, als „Volk“ proklamierenden KleinbürgerInnentums, der Mittelschichten und der unteren Schichten des Kapitals. Selbst wo und insofern Lohnabhängige die Mehrheit ihrer AnhängerInnen bilden mögen, werden sie als „Bürger“ und „BürgerInnen“ angesprochen und organisiert. Der Linkspopulismus will wie jeder Populismus nicht die Bildung eines Klassensubjekts, sondern dieses vielmehr im „Volk“ zum Verschwinden bringen.

Die gegenwärtige Kriseperiode erfordert jedoch genau das Gegenteil – nicht das Verschwinden des Proletariats als eigenständige Kraft, sondern die grundlegende Erneuerung der ArbeiterInnenbewegung. Und der Kampf gegen den Linkspopulismus, die Zurückweisung dieser kleinbürgerlichen Ideologie ist eine Voraussetzung dafür.

Eine globale politische Antwort auf die Krise des Kapitalismus erfordert den Bruch mit allen bürgerlichen Ideologien, mit jeder Unterunterordnung unter „populistische“ und sonstige klassenversöhnlerischen Ideen. Dieser Bruch stellt eine unerlässliche Voraussetzung dafür dar, dass das Proletariat von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden kann.

 

Endnoten

(1) Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018.

(2) Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, a. a. O., S. 16.

(3) Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, a. a. O., S. 14 oder S. 16?

(4) Laclau, Ernesto: Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus. Argument Verlag, Berlin 1981.

(5) Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus Passagen Verlag, Wien 2015, 5. überarbeitete Auflage.

(6) Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, a. a. O., S. 64.

(7) a. a. O., S. 52.

(8) Lenin, W. I.: Was Tun? LW 5, Berlin/Ost 1955, S. 426.

(9) Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, a. a. O., S. 85.

(10) Ebenda.

(11) Marx, Karl: Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie. MEW 13, Berlin/Ost 1974, S. 8/9.

(12) A. a. O., S. 9.

(13) Laclau, Ideologie und Politik im Marxismus, a. a. O., S. 177/178.

(14) Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23, Berlin/Ost 1971, S. 791.

(15) Rosdolsky, Roman: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’, Band 1 und 2. EVA, Frankfurt am Main 1972, 2. unveränderte Auflage.

(16) Marx, Karl: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. MEW 8, Berlin/Ost 1973, S. 115.

(17) Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus, a. a. O., S. 92.

(18) A. a. O., S. 93.

(19) A. a. O., S. 94.

(20) A. a. O., S. 94/95.

(21) A. a. O., S. 139.

(22) A. a. O., S. 139.

(23) A. a. O., S. 8.

(24) Laclau/Mouffe, Hegemoniale und radikale Demokratie, a. a. O., S. 110.

(25) A. a. O., S. 111.

(26) A. a. O., S. 112.

(27) Ebenda.

(28) Marx, Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 249.

(29) A. a. O., S. 351.

(30) A. a. O., S. 250.

(31) Sam Bowles/Herbert Gintis; zitiert von Mouffe/Laclau, Hegemonie und radikale Demokratie, a. a. O., S. 112.

(32) Marx, Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 349.

(33) A. a. O., S. 351.

(34) A. a. O., S. 180/181.

(35) Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, a. a. O., S. 112.

(36) Braverman, Harry: Die Arbeit im modernen Produktionsprozess, Campus-Verlag, Frankfurt am Main/New York 1985, 2. Auflage.

(37) Edwards, Richard: Herrschaft im modernen Produktionsprozess. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1981.

(38) Marx, Das Kapital Bd. 1, a. a. O., S. 529/30.

(39) A. a. O., S. 674/675.

(40) A. a. O, S. 559.

(41) A. a. O, S. 562.

(42) Mouffe, Für einen linken Populismus, a. a. O., S. 101.

(43) Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, a. a. O., S. 142.

(44) Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. MEW 3, Berlin/Ost 1969, S. 30/31.

(45) Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Aufbau Verlag, Berlin/Ost und Weimar 1984, S. 326, 3. Auflage.

(46) A. a. O., , S. 326.

(47) Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 190.

(48) Ebenda.

(49) Ebenda.

(50) A. a. O., S. 195.

(51) A. a. O., S. 194.

(52) A. a. O., S. 216.

(53) Mouffe, Chantal: Über das Politische. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2007, S. 19.

(54) Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, a. a. O., S. 232

(55) A. a. O., S. 227.

(56) Mouffe, Für einen linken Populismus, a. a. O., S. 13.

(57) Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, a. a. O., S. 188.

(58) Ebenda.

(59) A. a. O., S. 191.

(60) A. a. O., S. 192.

(61) A. a. O., S. 231.

(62) Mouffe, Über das Politische, a. a. O., S. 17.

(63) Ebenda, S 18.

(64) Schmitt, Über das Politische, zitiert nach Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, a. a. O., S. 521.

(65) Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, a. a. O.. S. 522.

(66) Mouffe, Über das Politische, a. a. O., S. 25.

(67) A. a. O., S. 29.

(68) A. a. O., S. 31.

(69) Mouffe, Für einen linken Populismus, a. a. O., S. 92.

(70) Mouffe, Über das Politische, a. a. O., S. 89.

(71) A. a. O., S. 89.

(72) A. a. O., S. 94.

(73) Mouffe, Für einen linken Populismus, a. a. O., S. 92.

(74) Mouffe, Chantal: Agonistik – Die Welt politisch denken. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014, S. 80.

(75) A. a. O., S. 81

(76) A. a. O., S. 84.

(77) „Wir dürfen die Kapitalismuskritik nicht den Rechten überlassen“. Chantal Mouffe im Gespräch mit Florian Borchmeyer:

(78) Anderson, Perry: Hegemonie. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018, S. 129/130.

(79) Mouffe, Agonistik…, a. a. O., S. 130.

(80) Ebenda, S. 183.

(81) Mouffe, Für einen linken Populismus, S. 61.

(82) A. a. O., S. 84/85.

(83) Wagenknecht, Sahra: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2016, S. 32.

(84) Mouffe, Über das Politische, a. a. O., S. 14.

(85) Mouffe, Für einen linken Populismus, a. a. O., S. 93.

(86) Ebenda.

(87) A. a. O., S. 31.

(88) A. a. O., S. 63.

(89) A. a. O., S. 77.

(90) A. a. O., S. 81

(91) Gründungsaufruf von „Aufstehen“:

(92) Ebenda.

(93) Wagenknecht, Reichtum ohne Gier, a. a. O., S. 16.

(94) Wagenknecht, Reichtum ohne Gier, a. a. O., S. 154.

(95) Gründungsaufruf von „Aufstehen“, a. a. O.

(96) Ebenda.

(97) Ebenda.

(98) Ebenda.




Zur Entwicklung der Faschismustheorie Trotzkis

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Einleitung

Was stellt der Faschismus dar? Diese Frage stellten sich bürgerliche Intelligenz, zahllose HistorikerInnen wie TheoretikerInnen der ArbeiterInnenbewegung schon vor mehr als 90 Jahren. Dieser Aufsatz bewertet einige der bedeutendsten Antworten darauf. Den Schwerpunkt bildet die Entwicklung der Faschismustheorie Trotzkis, beginnend mit seinen ersten Äußerungen zum Thema 1922. Dabei ist es unverzichtbar, seine Gedanken in den Kontext der damaligen Debatte innerhalb der (III.) Kommunistischen Internationale (Komintern, KI) zu stellen. Ab 1929 entstand dann sein bedeutend umfangreicher ausgearbeitetes Theoriegebilde, dessen wesentliche Eckpunkte dargestellt und mit den Vorstellungen anderer Strömungen der ArbeiterInnenbewegung verglichen werden sollen. Im Mittelpunkt stehen dabei die unterschiedlichen Konzepte, wie der Nationalsozialismus geschlagen werden kann. Zum Schluss versucht dieser Artikel, einen kurzen Ausblick auf aktuelle Probleme zu geben. Die Hauptfrage dabei lautet: Inwieweit kann Trotzkis Theorie uns dabei hilfreich sein?

Trotzkis Position in der Faschismusdebatte der jungen Komintern 1922–1924

Italien und der III. Weltkongress (WK)

Bis Mitte 1921 sprach die KI summarisch vom konterrevolutionären „weißen Terror“, zu dem sie Horthy in Ungarn, Kapp und die „weiße Sozialdemokratie“ in Deutschland sowie Elemente der ehemaligen zaristischen Geheimpolizei Ochrana zählte (1).

Im Zuge der taktischen Wende auf dem III. WK (22. Juni–12. Juli 1921) zur Einheitsfront („Heran an die Massen!“) setzte eine differenziertere Betrachtung ein. Zwischen diesen beiden Kongressen wurde die internationale Diskussion über den Faschismus im Lichte der italienischen Erfahrung vertieft. Zum einen ging es um die Analyse des Faschismus in der bürgerlichen Gesellschaft, zum anderen um die einzuschlagende Taktik gegenüber dieser Gefahr.

Mitte 1921 bis Ende 1922 herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass das Ziel des italienischen Faschismus die Zertrümmerung der proletarischen Bewegung bzw. die Atomisierung der italienischen ArbeiterInnenklasse sei und seine sozialen Wurzeln im Kleinbürgertum lägen. Über die Frage seines politischen Verhältnisses zum Großkapital gingen jedoch die Meinungen, nicht nur in der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), auseinander. Deren ultralinke Mehrheit (Bordiga, Gennari) ging von einer „großkapitalistischen Funktion“ der kleinbürgerlichen Massenbewegung aus. Gramsci dagegen ortete 1921 einen Widerspruch zwischen „parlamentarischem“ und „unversöhnlichem“ Faschismus. Letzterer werde im Gegensatz zu ersterem seine antiproletarische Richtung beibehalten. Ein drittes Lager betonte die Autonomie der faschistischen Bewegung als eigenständige Kraft, die sich in einen fundamentalen Gegensatz zur italienischen Großbourgeoisie hinentwickeln müsse (Rosso).

Auch das Verhältnis der faschistischen Bewegung zur bürgerlich-parlamentarischen Demokratie wurde kontrovers diskutiert. Der III. WK konstatierte die Zusammenarbeit demokratischer Staatsinstitutionen mit den FaschistInnen parallel zu deren Terror gegen die ArbeiterInnenbewegung. Das Exekutivkomitee der KI (EKKI) nahm scharf Stellung gegen die sozialdemokratische Konzeption, mithilfe des bürgerlichen Staatsapparats die Faschisten schlagen zu wollen. Die ultralinke KPI-Mehrheit ging sogar von einer Identität von bürgerlich-demokratischer und faschistischer Herrschaft aus. Terracini meinte, Faschismus sei ein vorübergehender Gewaltzustand seitens der herrschenden Klassen, untrennbar von den bereits bestehenden bürgerlichen Parteien. Diese Meinung wurde genährt von der weitgehend unblutigen Machtübernahme Mussolinis. Die Unterdrückungs- und Verhaftungswelle setzte erst später ein. Die Gleichsetzung von Faschismus und bürgerlicher Demokratie wurde von der EKKI-Mehrheit nicht geteilt.

Die Taktik der ArbeiterInneneinheitsfront (nicht nur) gegen den Faschismus

Trotzki war einer der wesentlichen Befürworter der Einheitsfronttaktik. Diese spielte besonders für kommunistische Parteien eine Rolle, die über keinen Massenanhang verfügten, und bedeutete Einheit in der Aktion für gemeinsame Ziele mit anderen Parteien und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung bei Bewahrung vollständiger politischer Unabhängigkeit voneinander: Getrennt marschieren, vereint schlagen! Freiheit der Kritik (auch an den zeitweiligen BündnispartnerInnen), Einheit in der Aktion! Vorschlag und Aufforderung zur Aktion richteten sich sowohl an die Basis wie die Führungen der Arbeiterorganisationen. Eine zweite Grundvoraussetzung, um die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse für den Kommunismus in der und durch die gemeinsame Aktion zu erlangen, war die getrennte Organisierung der KommunistInnen in einer eigenen, unabhängigen Partei und der Kampf für ihr Programm: keine gemeinsame Propaganda, kein Verwischen der Fahnen und Prinzipien. Die KommunistInnen sollten die besten und energischsten VerfechterInnen für die Ziele der Einheitsfront sein, ohne auch nur für einen Moment ihre Kritik an den Unzulänglichkeiten und Halbheiten ihrer KontrahentInnen und EinheitsfrontpartnerInnen einzustellen oder abzuschwächen, v. a. wenn letztere sich nicht mit voller Kampfkraft für die gemeinsamen Ziele einsetzten – aber natürlich auch darüber hinaus.

Diese Mehrheitslinie des EKKI musste auch im Kampf gegen den Faschismus gegen rechte wie ultralinke Abweichungen verteidigt werden. Die rechte KPD-Führung unterzeichnete mit SPD, USPD und Gewerkschaften z. B. eine gemeinsame Erklärung vor dem Hintergrund der Massendemonstrationen anlässlich der Ermordung Rathenaus (24. Juni 1922), welche die inhaltsleere „Demokratisierung der Republik“ forderte. Die italienischen Ultralinken sahen in der Einheitsfronttaktik den Verzicht auf kommunistischer Eigenständigkeit und ließen ein Zusammengehen mit anderen ArbeiterInnenorganisationen gegen die FaschistInnen nur auf Gewerkschaftsebene gelten.

Zur Vorbereitung des IV. WK der KI (5. November–5. Dezember 1922) nahm Trotzki zum ersten Mal in einer Rede anlässlich des 5. Jahrestages der Russischen Revolution vor der Moskauer Parteiorganisation der RKP (Russische Kommunistische Partei) ausführlicher zum Faschismus Stellung. Er hielt seine Rede Ende Oktober 1922 vor dem Hintergrund der aktuellen italienischen Entwicklung, denn nach Mussolinis Marsch auf Rom setzten die Verfolgungen ein. Trotzki machte eine ernstzunehmende Niederlage des Proletariats als Folge der verpassten Machtübernahme 1920–1921 aus. Er blieb im Hinblick auf die sozialen Wurzeln der faschistischen Banden unbestimmt („bürgerlich“ wie „kleinbürgerlich“). Ihre politische Funktion sah er allerdings ganz im Interesse des Großkapitals – als dessen Rache. Er konstatierte weder einen Gegensatz zwischen bürgerlich-demokratischer und faschistischer Herrschaftsform noch deren Identität, legte sich diesbezüglich also (noch) nicht fest. Überdies war er der Ansicht, dass es sich beim Faschismus um keine rein italienische Angelegenheit handle, denn dieser habe sich in allen Ländern ausgebreitet (z. B. Orgesch in Deutschland).

Der IV. Weltkongress

Die Diskussion dort spiegelte das oben skizzierte Meinungsspektrum in der Faschismusfrage wie in der einzuschlagenden Taktik gegen die FaschistInnen wider. Im Gegensatz zu den italienischen Ultralinken sah Radek, Hauptredner zum Thema „Taktik“, im Sieg des italienischen Faschismus die größte Niederlage seit Beginn der Weltrevolution. Seine Rede enthielt aber auch ein rechtes Element, das in den zukünftigen Faschismusanalysen der KI bzw. der KPD 1923 zentral werden sollte. Er unterschied – ähnlich wie zuvor Gramsci – im Faschismus einen progressiven, „demokratischen“ Flügel von einem reaktionären.

„Natürlich waren die faschistischen Massenbewegungen, die über das Kleinbürgertum hinaus auch in der Arbeiterschaft Anhänger hatten, sozial und politisch tendenziell heterogen. Allerdings – als Bestandteil der faschistischen Bewegung mit klar anti-proletarischem Programm und Praxis – hatte diese Heterogenität für die Arbeiterbewegung erst dann eine Bedeutung, wenn es ihr gelänge, durch einen frontalen Angriff auf die faschistische Bewegung insgesamt diese in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Radeks Feststellung eines ,demokratischen faschistischen Flügels’ widersprach seiner Ausgangsposition, den Faschismus als konterrevolutionäre, anti-proletarische Bewegung im Dienste der Monopolbourgeoisie zu charakterisieren. Die Konstatierung eines ,demokratischen Flügels’ stand im Gegensatz zu einer Bewegung, deren Programm im radikalen Kampf gegen die Demokratie, angefangen mit der Zerschlagung der Arbeiterbewegung, bestand.“ (2)

Sinowjew forderte die Einheitsfront für Italien, ging aber weiter als andere RednerInnen, als er der KPI vorschlug, in bestimmten Situationen auch mit faschistischen „Gewerkschaften“ eine Front zu bilden. „Trotzki unterschied sich… methodisch von späteren Ansätzen in der Kominternpolitik, Kleinbürger als Bestandteile der faschistischen Bewegung für die Unterstützung der Arbeiterbewegung zu gewinnen, anstatt diese über Methoden des Klassenkampfes aus dem Lager des Faschismus zu brechen.“ (3)

Die „Taktikresolution“ folgte weder den rechten noch den ultralinken Positionen: Neben der Notwendigkeit der antifaschistischen ArbeiterInneneinheitsfront wurde der Unterschied zwischen demokratischer und faschistischer Herrschaft betont und damit die Position der ultralinken KPI-Mehrheit zurückgewiesen. Radeks These eines „demokratischen faschistischen Flügels“ wurde nicht aufgegriffen.

Trotzki und die KI-Mehrheit verstanden zur Zeit des IV. WK Faschismus und Demokratie als unterschiedliche bürgerliche Herrschaftsformen, ohne genau zu analysieren, wie der Faschismus zur Macht gelange. Die Möglichkeit eines organischen Hineinwachsens der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus wurde offen gelassen.

Deutschland 1923

Die Ruhrbesatzung durch französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 leitete eine revolutionäre Krise ein, die bis Oktober des Jahres andauerte. „Die politische Krise, der Entzug der Verfügungsgewalt über das Ruhrgebiet, ging einher mit der ökonomischen. Die Inflation, die bis zum November 1923 astronomische Ausmaße annahm…, erschütterte die bürgerliche Gesellschaft in ihren Grundfesten; Arbeitslosenunruhen, Demonstrationen, Streiks bis hin zu Arbeiteraufständen waren die Folge (April 1923: Aufstandsversuch in Mühlheim [heutige Schreibweise: Mülheim, d. Red.]; Mai-Aufruhr in Gelsenkirchen). Ab Mitte Mai wurde das Ruhrgebiet von einer Massenstreikwelle erfasst, wobei die Losung der Dortmunder Bergarbeiter lautete: ,Die Ruhrgruben dem Proletariat’. Ihren Höhepunkt fand die Streikbewegung im unbesetzten Teil Deutschlands in den Auguststreiks, die zum Rücktritt der Regierung Cuno führten.“ (4)

Im Sommer 1923 hatte die KPD im deutschen Proletariat die SPD überflügelt. Die rechte KPD-Führung unter Brandler/Thalheimer, beraten von Radek, betrieb nach den bitteren Erfahrungen der putschistischen März-Aktion 1923 eine defensive Politik, die hinter den stürmischen Ereignissen zurückblieb; die ultralinke Opposition um Fischer/Maslow zeigte keine revolutionäre Alternative dazu auf. (5)

In der Behandlung der deutschen nationalen Frage während der Ruhrbesatzung zeigte sich ein Schwanken der KPD. Anfangs verurteilten KPD und EKKI den Einmarsch der Invasionstruppen, verweigerten aber einen Burgfrieden mit der Reichsregierung (Essener Konferenz), nur die unabhängige Mobilisierung der deutschen, französischen und belgischen ArbeiterInnenklassen könne die Ruhrkrise lösen. Diese Position des revolutionären Defätismus wurde jedoch von der KPD-Führung zunehmend unterhöhlt. August Thalheimer sprach im Februar 1923 davon, die Lage des deutschen Bürgertums habe dieses dazu geführt, nach außen „objektiv revolutionär“ aufzutreten. Offensichtlich waren für Brandler, Thalheimer und Radek, insbesondere im Verhältnis zu Frankreich, das Deutsche Reich kein imperialistisches Land und die Regierung keine Vertretung des deutschen Kapitals mehr, sondern eine Art Halbkolonie bzw. Kleinbürgerregierung. Der Kampf gegen die Regierung wurde (auch) auf der Grundlage einer konsequenteren Vertretung deutscher nationaler Interessen geführt. Diese populistische, „nationalbolschewistische“ Haltung gipfelte in der Parole der „Roten Fahne“, dem KPD-Zentralorgan vom 29. Mai 1923: „Nieder mit der Regierung der nationalen Schmach und des Volksverrats!“ Beiläufig bemerkt: Dagegen gab es genauso wenig Einspruch seitens der ultralinken Opposition um Fischer wie gegen die spätere Schlageter-Linie. In der Logik dieser Position lag also die Anbiederung an die nationalistische Bewegung; z. B. unterschied der Zentralausschuss (ZA) zwischen vom „Kapital gekauften Elementen“ und „irregeführten Kleinbürgern“. Die Konferenz des erweiterten EKKI vom 12.–23. Juni 1923 diskutierte zum Unglück nicht die revolutionäre Situation in Deutschland. Zetkin fasste in ihrem Einleitungsreferat zur Lage in Italien die Faschismusanalyse es IV. WK eindringlich zusammen und betonte die Notwendigkeit gesonderter kommunistischer Agitation unter den kleinbürgerlichen Schichten und des Aufbaus der ArbeiterInneneinheitsfront, des proletarischen Selbstschutzes gegen die faschistische Gefahr. Die Ähnlichkeit mit Radeks Rede auf dem IV. WK lag in der These der Heterogenität der faschistischen Bewegung; diese bestehe sowohl aus konterrevolutionären wie revolutionären Elementen. Die sich anschließende „Schlageter-Rede“ Radekks mit ihrer Anlehnung an schwülstiges völkisches Vokabular sollte zur Entfesselung dieser revolutionären Elemente beitragen. Die bisherige rechte Politik der KPD in der Faschismusfrage wurde in dieser Rede auf die Spitze getrieben.

„Wenn es richtig war, dass es ,revolutionäre’ Faschisten gab, dann war es nur konsequent, dass man mit solchen Teilen der faschistischen Bewegung auf der Basis der ,deutschen Arbeit’ gegen die Franzosen und die deutschen ,Erfüllungspolitiker’ gemeinsame Sache machte. Das neue an Radeks Programmatik war also, dass er mehr oder minder direkt die Bildung eines Blockes mit Teilen der faschistischen Bewegung befürwortete, den die KPD dann mit der Politik der ,Schlageter-Linie’ herzustellen versuchte.“ (6)

Die Resolution des EKKI-Plenums übernahm einige Elemente Zetkins (revolutionäre Tendenzen im Faschismus), nicht jedoch die Radeks, und wich damit tendenziell von den bisherigen Beschlüssen der KI ab, betonte jedoch weiterhin, der Faschismus sei eine gefährliche Macht der Gegenrevolution. Trotzki nahm am Plenum nicht teil und äußerte sich auch nicht zur „Schlageter-Rede“. Seine davor getätigten Äußerungen lehnten eine Einheitsfront mit den FaschistInnen jedoch klar ab. Die „Rote Fahne“ druckte sie jedoch am 26. Juni 1923 ab als Auftakt zu einer Debatte mit den NationalsozialistInnen. Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass die Schlageter-Politik nicht die Hauptachse der antifaschistischen KPD-Politik darstellte. Konferenzen im Januar und März sowie der Antifaschistentag am 29. Juli hatten zur Mobilisierung gegen die FaschistInnen aufgerufen. Im Herbst 1923 verlief die Schlageter-Linie im Sande, nachdem die FaschistInnen mit der KPD nicht weiter debattieren wollten. Eine seriöse Aufarbeitung dieser opportunistischen Abweichung erfolgte aber nicht (7).

Trotzkis Position im Oktober 1923

Hier wollen wir uns nicht mit seiner Beurteilung der Lage und Aufstandsplanung8 beschäftigen, sondern mit seiner Charakterisierung „faschistischer“ Elemente. Trotzki sah drei konterrevolutionäre Kräfte: die von faschistischen Offizieren geführte Reichswehr; faschistische Schockbataillone wie die „schwarze Reichswehr“, abhängig vom Reichswehrkommando; die Schutzpolizei. Er sprach von der Herrschaft eines „moderaten Faschismus“ in Bayern. Doch weder von Kahr noch von Seeckt oder dessen Adjutant Müller waren Faschisten.

Aufgrund der damals vorliegenden Erfahrungen war es allerdings schwierig bis unmöglich, im rechtsextremen Lager Unterschiede festzustellen. NSDAP, SA, Heimschutz, vaterländische Verbände, „schwarze Reichswehr“, bonapartistische und monarchistische Elemente bis hin zu Deutschnationalen und Bayerischer Volkspartei traten terroristisch auf, um die „rote Gefahr“ auszumerzen. Der „Nationalsozialismus“ unter Hitler, Ludendorff und Röhm steckte selbst noch in einem Klärungsprozess. Erst der Ludendorff-Hitler-Putsch in München im November 1923 klärte die Fronten zwischen FaschistInnen und anderen Bestandteilen des rechtsextremen Lagers: christliche, föderalistisch und wittelsbachisch gesonnene Kräfte bildeten die bürgerlich-konservative Komponente. NSDAP/SA mobilisierten das Kleinbürgertum für ein „nationalrevolutionäres“, gesamtdeutsches Programm. Von Kahr, gestützt auf die bayerische Generalität und vom Reich mit Sondervollmachten für Bayern ausgestattet, lavierte zwischen diesen Kräften und stellte gegen die Zentralregierung die besondere Rolle Bayerns heraus. Die von Seeckt-Exekutive bildete zwischen September 1923 und Februar 1924 eine bonapartistische Diktatur. Bis Oktober 1924 herrschte danach ein ziviler Ausnahmezustand, ähnlich der heutigen Situation in Brasilien.

Die Charakterisierung von Seeckts als Faschisten hat diesen in falscher Weise zu sehr mit Mussolini gleichgesetzt. Die unterschiedlichen Wurzeln (Armee/Reichswehr, kleinbürgerliche Massenbewegung) wurden nicht berücksichtigt.

Trotzki entwickelte den Bonapartismusbegriff erst in den 1930er Jahren. Seine bisherige Faschismusdefinition als „Sturmtruppenorganisation der Konterrevolution“ erwies sich als zu grob. Er konnte sich weder die Differenzen in Bayern, beginnend mit Hitlers „Bierhallenputsch“ (Marsch auf die Feldherrnhalle), noch die zwischen Bayern und Berlin im November 1923 erklären. Die These vom Seeckt-Faschismus implizierte, dass der Entscheidungskampf zwischen Faschismus und proletarischer Revolution direkt anstehe. Damit verbunden war zweitens eine Fehleinschätzung der politischen Situation im Oktober (8, 9). Das bonapartistische Lager sowie die Widerstandskraft des bürgerlich-demokratischen Lagers, vor allem der SPD, wurden unterschätzt. Der undifferenzierte Faschismusbegriff, den Trotzki z. B. mit Brandler, Thalheimer, Radek, Kamenew, Sinowjew und Stalin teilte, sollte sich bei der aufkommenden stalinistischen Faschismusinterpretation als Nachteil erweisen.

Die Auseinandersetzungen in der KI nach der deutschen Niederlage und die Entstehung der „Sozialfaschismustheorie“

1923 kann als Schicksalsjahr für die kommunistische Weltbewegung bezeichnet werden. Die Herausbildung und das jähe Ende einer revolutionären Situation in Deutschland hatten tiefe Auswirkungen auf den Bürokratisierungsprozess in der Sowjetunion. Sinowjew hatte sowohl den Aufstandsplan als auch den Rückzug Brandlers und Radeks in Chemnitz als auch das Experiment mit den Landes„arbeiterInnenregierungen“ unterstützt. Der letzte Artikel seiner Serie „Die Probleme der deutschen Revolution“ zog die Konsequenz, die SPD habe den Weg für eine Machtübernahme der FaschistInnen geebnet. Ins gleiche Horn stieß die KPD-Leitung in ihrem Thesenpapier „Der Sieg des Faschismus über die Novemberrepublik und die Aufgaben der Kommunistischen Partei Deutschlands“ (3. November 1923). Im November 1923 begann sich Sinowjew langsam von der Brandler-Führung abzusetzen und kritisierte die Praxis der KPD in Sachsen und Thüringen als sozialdemokratisch-opportunistisch. In seinem Artikel „Der deutsche Koltschak“ ging er wie die KPD von einer faschistischen Diktatur von Seeckts aus, ebenfalls wie die KPD von einem organischen Hinüberwachsen der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus. Im Gegensatz zur KPD-Rechten, die er deshalb scharf kritisierte, sah Sinowjew jedoch im Faschismus nicht einen Sieg über die demokratische Novemberrepublik, nicht ihre Abschaffung, sondern ihre Krönung. Ebert und von Seeckt seien zwei Seiten der gleiche Medaille.

Vor 1923 vertrat diese Gleichsetzung nur die ultralinke KPI-Mehrheit. Das EKKI hatte dies zwar zurückgewiesen, jedoch nicht die Frage beantwortet, in welcher Weise der Faschismus die bürgerlich-parlamentarische Republik ersetze! Wenn nun aber Ende 1923 Brandler, Thalheimer, Radek wie auch die Moskauer EKKI-Mitglieder einhellig Deutschland unter General von Seeckt als faschistisch bezeichneten, dann musste die Demokratie in den Faschismus hineingewachsen sein – ganz ohne Bürgerkrieg! Folglich legte Sinowjew mit seinem Artikel den Grundstein für die Sozialfaschismustheorie. Die Analogie zwischen von Seeckt und Koltschak war zwar richtig, aber Faschisten waren beide nicht! Darüber hinaus verharmloste Sinowjew den Faschismus auch noch, indem er Hitler mit Purischkewitsch verglich. Beide seien mehr Narren und Spaßmacher als ernsthafte Agenten der Konterrevolution.

Die russische linke Opposition nahm zur deutschen Frage nicht geschlossen Stellung. Radek verteidigte die rechte KPD-Linie. Von ein paar allgemeinen Bemerkungen abgesehen, schwieg Trotzki.

Das EKKI-Plenum von Januar 1924 endete mit einem Sieg des Triumvirats aus Kamenew/Sinowjew/Stalin und vervollständigte die Niederlage der linken Opposition auf der gleichzeitig tagenden 13. russischen Parteikonferenz. Die EKKI-Resolution vom 19. Januar wich einer definitiven Stellungnahme zum Oktoberrückzug aus, der von der KPD-Linken im Nachhinein heftig kritisiert worden war. Wesentlich waren drei Punkte: Der Oktober 1923 wurde nicht als eine entscheidende Niederlage gewertet, sondern lediglich als verlorene Schlacht; die Sozialdemokratie wurde zusammen mit der von Seeckt-Diktatur als faschistisch bezeichnet. Außerdem wurde das bisherige Einheitsfrontkonzept zugunsten einer Politik der „Einheitsfront von unten“ aufgegeben. Der Triumviratsfraktion ging es dabei weniger um eine Aufarbeitung der Fehler kommunistischer Politik 1923, sondern um eine Verhinderung der Formierung einer internationalen Opposition gegen ihre Apparatherrschaft in der UdSSR.

„Die ,Sozialfaschismustheorie’ war also 1923/24 ein wichtiges ideologisches Instrument zur Durchsetzung der Herrschaft der russischen Bürokratie. Die programmatischen Unklarheiten der bisherigen Faschismusanalyse der Komintern konnten bei der Formulierung dieser ,Theorie’ genutzt werden. Die Opposition gegen die Neuauflage der ultralinken Politik hatte hier ein entscheidendes Defizit, da sie die Grundlage der .Sozialfaschismustheorie’, Seeckt-Faschismus und ,organisches Hineinwachsen der Demokratie in den Faschismus’ teilte.“ (10)

Trotzkis Position vom November 1923 bis Januar 1924

Außer der Äußerung im August 1933 im Gespräch mit Walcher (siehe Endnote 9) erschien dazu im Dezember 1923 Trotzkis Beitrag „Tradition und revolutionäre Politik“ (11). Dort konstatiert er die falsche Einstellung der KPD zur politischen Entwicklung seit Mai bzw. Juli bis zum November („kalter“ Putsch von Seeckts) 1923. Eine konservative, hemmende, „halbautomatische“ Tradition habe in dieser Periode eine Neuorientierung, eine jähe taktische Wendung behindert. Nur indirekt deutete er eine entscheidende Niederlage der Partei im Oktober an. Die Verantwortung der KI findet in seiner Kritik hier ebenso wenig Niederschlag, wie die Fehler während der vorangegangenen Ruhrbesatzung erwähnt werden. Diese allgemein gehaltenen Bemerkungen unterscheiden sich in der Substanz weder von Radek, Sinowjew noch der EKKI-Resolution. Diese gaben ja durchaus Mängel im Zeitraum vor Oktober zu.

Im russischen Fraktionskampf 1923/24 ist gegen Trotzki immer wieder der Vorwurf erhoben worden, Trotzki habe die Linie der KPD-Rechten unterstützt. Zu diesem Eindruck hatte Radeks Intervention auf dem EKKI-Plenum beigetragen, der gemeinsam mit Trotzki vorbereitete Thesen zur deutschen Frage ankündigte und damit eine Einvernehmlichkeit mit letzterem suggerierte, der dieser nicht öffentlich entgegentrat. Äußerungen Trotzkis aus dem Zeitraum 1922/23 legen allerdings nahe, dass er Anfang 1924 weder die Charakterisierung der SPD als faschistisch noch das Konzept der „Einheitsfront von unten“ geteilt hätte. Trotzki solidarisierte sich auch nicht politisch mit Brandler, sondern wandte sich durch dessen bürokratische Absetzung von oben durch die KI. Gemäß seinem Verständnis fiel die Wahl einer neuen Führung bevorzugt in die Verantwortung einer jeden nationalen Sektion. Eine selbstständig abgegrenzte Position Trotzkis im Unterschied zur KPD-Rechten und EKKI-Mehrheit lässt sich auch in der Aufstandsfrage schwer erkennen. „Tradition und revolutionäre Politik“ macht allerdings deutlich, dass das Aufstandsfiasko für ihn nicht das entscheidende Element darstellte, sondern eines in einer Kette schwerer Versäumnisse. Die Hervorhebung eines „kampflosen Rückzugs“ der KPD-Führung legt jedoch Kritik an deren Vorgehensweise (auch) im Oktober nahe. Folgende Mutmaßung hat sehr wahrscheinlich recht: „Man könne – spekulativ – folgern, dass Trotzki für den Oktober/November 1923 begrenzte Widerstandsaktionen im Sinne hatte, z. B. die eigenständige Durchführung eines defensiven Generalstreiks gegen Müller in Sachsen, analog etwa zur Politik im Juli 1917…“ (12) in Petrograd.

Fazit: Trotzkis Zurückhaltung in der deutschen Frage war ein weiterer Baustein für die Niederlage der linken Opposition gegen den Stalinismus.

Trotzkis Opposition gegen den ultralinken Kurs der Komintern 1924

In seiner Rede in Tiflis (Hauptstadt Georgiens; 11. April 1924) sprach Trotzki erstmals von einer entscheidenden Niederlage der deutschen Revolution, die er allerdings fälschlich mit dem Sieg des Faschismus gleichsetzte. Von größerer Bedeutung ist allerdings sein Vorwort zu „Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale“ (Mai 1924) (13). Dort formulierte er seine grundsätzliche Kritik des stalinistischen ultralinken Kurses, präzisierte auf systematische Weise seine bisherigen Äußerungen zur neuen internationalen Lage im Allgemeinen und zur deutschen im Besonderen. Letztere sei nicht an objektiven Bedingungen, sondern wegen taktischer Fehler gescheitert. Der Oktoberrückzug wurde verurteilt, KPD-Linke wie -Rechte einte ein gemeinsamer fatalistischer Zug.

Seine Faschismuseinschätzung zu dieser Zeit war geprägt von einer allgemeinen Einschätzung der internationalen Situation (proletarischer Ansturm bzw. revolutionäre Ebbe), von der er die Herrschaftsform der Bourgeoisie (Demokratie oder Faschismus) abhängig machte. In Italien sah er Mussolini Kurs auf eine „parlamentarische ,Regulierung’ seiner Politik“ nehmen, eine Herrschaft des Faschismus also tendenziell schwinden. In Deutschland stellte er zwar einen Rechtsschwenk, aber innerhalb des parlamentarischen Rahmens fest. Seine Charakterisierung von Seeckts 1923 als Faschisten revidierte er jedoch nicht und teilte mit der EKKI-Mehrheit immer noch das Verständnis vom „Hineinwachsen der Demokratie in den Faschismus“. Im Gegensatz zur Ansicht der Komintern-Führung vertrat er aber die Meinung, der Faschismus habe die Macht wieder an die Demokratie abgegeben (Deutschland) bzw. sei auf dem Weg dahin (Italien). „Dieses Verständnis einer ,evolutionären’ faschistischen Machtübernahme [und –abgabe] entlang der jeweiligen politischen Konjunktur lässt sich auch in seinen folgenden Publikationen des Jahres 1924 feststellen…Verstrickt in eine Parteidisziplin, deren Rahmen jetzt von einer Bürokratenfraktion mit eigenen Interessen ausgelegt wurde, erkannte Trotzki nicht in vollem Ausmaß die Tiefe der Differenzen und die Bedeutung der Stalin-Fraktion.“ (14)

Der V. WK (17. Juni–8. Juli 1924) bekräftigte die Resolution des Januar-EKKI-Plenums zur Faschismusfrage, zur Charakterisierung der Sozialdemokratie und zur Einheitsfront. Auf dem Kongress verteidigte Radek seine Deutschlandpolitik von 1923, während Trotzki nicht eingriff und damit seine letzte Chance vergab, vor der KI für seine Positionen zur russischen und internationalen Situation zu kämpfen. Sein passives Verhalten trug sicher dazu bei, dass nach der deutschen Oktoberniederlage in der KPD eine leninistische Alternative so gut wie nicht präsent war. Im Juni und Juli 1924 ging Trotzki einen Schritt weiter und definierte Faschismus als Bürgerkriegsformation des Kapitals (15). Die faschistische Herrschaft werde nicht von langer Dauer sein, gewissermaßen werde sich der Prozess des „Hineinwachsens der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus“ umkehren. Damit war zumindest der Anschluss an die frühe KI-Programmatik wiederhergestellt, die in Faschismus und parlamentarischer Demokratie zwei unterschiedliche Herrschaftsformen des Kapitals gesehen hatte. Der jetzt üblich gewordene inflationäre Gebrauch des Faschismusbegriffs konnte nun von Trotzki kritisiert werden.

Die Analyse als Bürgerkriegsformation bildete eine Brücke zur späteren, reifen Faschismusdefinition Trotzkis. „Für Trotzki konnte der Faschismus auch eine kleinbürgerliche Bewegung sein. Im Gegensatz zu seiner späteren Analyse war er dies jedoch nicht ausschließlich. Damit hatte die politische Funktion des Faschismus, die vor allem von KPI-Mitgliedern analysierte Atomisierung des Proletariats, die nur durch eine Massenbewegung erfüllt werden kann, für Trotzki keinerlei spezifische Bedeutung.“ (16) Trotzki erfasste die faschistische Bewegung in ihrer Funktion als pro-bürgerliche, konterrevolutionäre, bewaffnete Kraft, beantwortete die Frage nach der Art und Weise ihrer Machtergreifung (und Entmachtung) mittels einer „evolutionären“ Interpretation: nach Wiederherstellung der Ruhe entwickle sich der Faschismus wieder zurück zur „normalen“ bürgerlichen Demokratie. Bei der Unterscheidung dieser beiden Herrschaftsformen blieb er gegenüber der KI-Mehrheit unbeweglich. Die Sicherung der bürgerlichen Interessen mittels einer dritten Herrschaftsform (Bonapartismus/Cäsarismus, monarchischer Absolutismus, Militärdiktatur, Halbfaschismus…) wurde von ihm erst nach 1924 als Möglichkeit entwickelt.

III. Die Grundelemente von Trotzkis Faschismustheorie ab 1929

Mandel nennt hier:

a) Das Aufkommen des Faschismus ist Ausdruck einer schweren gesellschaftlichen Krise des Spätkapitalismus…Die historische Funktion der faschistischen Machtergreifung besteht darin, diese Verwertungsbedingungen schlagartig und gewaltsam zugunsten der entscheidenden Gruppen des Monopolkapitalismus zu ändern.

b) Die politische Herrschaft des Bürgertums wird unter den Bedingungen des Imperialismus und der historisch gewachsenen, modernen Arbeiterbewegung am günstigsten, d. h. mit den geringsten Unkosten, auf dem Wege der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie ausgeübt.

c) Unter den Bedingungen des modernen industriellen Monopolkapitalismus und der zahlenmäßig ungeheuren Disproportion zwischen Lohnabhängigen und Großkapitalbesitzern ist eine gewaltsame Zentralisierung der Staatsgewalt mit Ausschaltung der meisten (wenn nicht aller) Errungenschaften der modernen Arbeiterbewegung…praktisch mit rein technischen Mitteln unmöglich. Weder eine Militärdiktatur noch ein reiner Polizeistaat, ganz zu schweigen von einer absolutistischen Monarchie, verfügen über zureichende Mittel, um eine millionenstarke, bewusste Gesellschaftsklasse für längere Zeit zu atomisieren, zu entmutigen und zu demoralisieren. Dazu ist eine Massenbewegung notwendig, die ihrerseits große Menschenmengen in Bewegung bringt, die bewussteren Teile des Proletariats in systematischem Massenterror, in Kleinkrieg und Straßenkrieg zermürbt und demoralisiert und es nach der Machtübernahme durch völlige Zerschlagung der Massenorganisationen nicht nur atomisiert, sondern auch entmutigt und resignieren lässt.

d) Eine solche Massenbewegung kann nur auf dem Boden der dritten Gesellschaftsklasse entstehen, die im Kapitalismus neben Bürgertum und Proletariat existiert: des Kleinbürgertums. Dabei handelt es sich um eine kleinbürgerliche Bewegung, die extremen Nationalismus und, zumindest verbal ausgeprägte, antikapitalistische Demagogie (17) mit größter Feindschaft gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung…verknüpft.

e) Die vorherige Zermürbung und Zurückschlagung der Arbeiterbewegung, die, wenn die faschistische Diktatur ihre historische Rolle erfüllen will, unerlässlich ist, ist jedoch nur möglich, wenn sich in der der Machtergreifung vorangehenden Periode die Waagschale entscheidend zugunsten der faschistischen Banden und zuungunsten der Lohnabhängigen senkt…Der Aufstieg der faschistischen Massenbewegung kommt sozusagen einer Institutionalisierung des Bürgerkriegs gleich, in dem jedoch objektiv gesehen beide Seiten eine Erfolgschance besitzen.

f) Ist es dem Faschismus gelungen, „als Rammbock die Arbeiterbewegung zu zerschlagen“, dann hat er vom Standpunkt der Monopolkapitalisten seine Schuldigkeit getan. Seine Massenbewegung wird verbürokratisiert und dem bürgerlichen Staatsapparat weitgehend einverleibt, was nur geschehen kann, wenn die extremsten Formen plebejisch-kleinbürgerlicher Demagogie, die zu den „Zielen der Bewegung“ gehörten, von der Oberfläche verschwinden…Ist aber die Arbeiterbewegung besiegt und haben sich die Verwertungsbedingungen des Kapitals im Inneren entscheidend zugunsten des Großkapitals verändert, so konzentriert sich dessen politisches Interesse mit Notwendigkeit auf eine ähnliche Änderung auf dem Weltmarkt. Der Faschismus verwandelt sich in der Phase seines Niedergangs in eine besondere Form des Bonapartismus zurück.

Dies sind die konstitutiven Elemente von Trotzkis Faschismustheorie. Sie fußt auf einer Analyse der besonderen Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf in den hochindustrialisierten Ländern während der spätkapitalistischen Strukturkrise…entwickelt, und auf einer besonderen, für Trotzkis Marxismus charakteristischen, Verbindung objektiver und subjektiver Faktoren in der Theorie des Klassenkampfs wie beim Versuch, ihn praktisch zu beeinflussen (18):

Diese adäquate Charakterisierung belegt zweierlei: Trotzki hatte ab 1929 die Lücken in seiner Theorie gefüllt, sämtliche Zweideutigkeiten beseitigt; zudem erfüllt seine Faschismusanalyse die strengen methodischen Ansprüche, die an eine historisch-materialistische Geschichtsschreibung gebieterisch gestellt werden müssen (19)!

Die Lösung der strukturellen kapitalistischen Verwertungskrise durch den Machtantritt der NSDAP

Worin bestand nun die strukturelle Verwertungskrise des deutschen Monopolkapitals? „Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 33 läßt sich als die direkte Auswirkung dieses ,unentschiedenen’ Kräftegleichgewichts der Klassen der Gesellschaft einerseits und als Ausdruck der schon in der gesamten Phase seit 1924 vorhandenen immanenten Tendenzen und strukturellen Schwierigkeiten des internationalen Kapitals verstehen. Die Weltwirtschaftskrise verlief in zwei Etappen:

,Als ,einfache’ zyklische Krise…bis 1931…In der folgenden zweiten Phase der Krise bildeten sich Merkmale heraus, die die Weltwirtschaftskrise von allen früheren kapitalistischen Krisen unterscheiden und schließlich auch zu weiteren Strukturveränderungen des kapitalistischen Systems führten. Zunächst war die Weltwirtschaftskrise in der Tat nicht nur eine konjunkturelle, sondern eine strukturelle Krise insofern, als hier negative Strukturelemente kulminierten, die bereits die gesamte Nachkriegsentwicklung bestimmt hatten, aber in den Jahren einer relativen Prosperität überdeckt worden waren…durch die Rationalisierungs- und Konzentrationsbestrebungen der 20er Jahre außerordentliche Disparität zwischen industriellen Produktionskapazitäten…und den Absatzmöglichkeiten der deutschen Industrie…Agrarkrise…Dazu kamen der weltweite Charakter der Krise, die…nach und nach alle Länder erfasste und damit die Möglichkeit eines ,Exportventils’…verschloss; der Zusammenbruch des Welt- und des internationalen Kapitalmarktes; die verstärkten Tendenzen zur Monopolisierung…in der Absicht, die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung, die sich in der Krise verschärften…

Eingeleitet wurde die Weltwirtschaftskrise durch eine allgemeine Produktions-Krise (1932 betrug die Gesamtproduktion Deutschlands nur noch 60 % derjenigen von 1929…Erst mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems 1931 fielen auch die Exporte rapide ab. Die Lohnkürzungen…verschärften noch die Lage auf dem Inlandsmarkt.

In ihrer entscheidenden Phase ab 1931 stellte sich die Weltwirtschaftskrise hauptsächlich als internationale Finanzkrise dar…Als die ausländischen Gläubiger (vor allem aus den USA) selbst immer mehr in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, forderten sie von den deutschen Banken die Rückzahlung der kurzfristig vergebenen Kredite. Diese hatten die Banken aber – zwecks ,Stabilisierung’ – als langfristige Kredite an die Einzelkapitalisten weitergeleitet, die diese Gelder natürlich nicht so schnell zurückzahlen konnten. Die Folge war das reihenweise Zusammenbrechen von Banken, die auch ihre enge wirtschaftliche und personelle Verflechtung mit dem Staatsapparat – der ja ebenfalls unglaublich verschuldet war – nicht vor dem Bankrott retten konnte; in der Folge davon der Bankrott tausender von Betrieben, der schlagartige Rückgang der Produktions- und Exportziffern, wirtschaftlicher Ruin großer Teile des Kleinbürgertums und größtes Elend auf Seiten der Arbeiterklasse.

…Das Gleichgewicht, das in der Zeit von 1924 bis 1928 erreicht werden konnte, war nur eine trügerische Ruhe vor dem Sturm von 1929, denn unter der Oberfläche der „Konsolidierung“ der Märkte lagen weiterhin die alten Widersprüche im Kampf miteinander, die schon zur ,Bereinigungskrise’ des I. Weltkriegs geführt hatten. Trotz seiner militärischen Niederlage wurde mit dem Krieg Deutschland als Konkurrent auf dem Weltmarkt nicht ausgeschaltet, sondern konnte sogar England und Frankreich den Platz der führenden europäischen Wirtschaftsmächte streitig machen, denn weder entsprach der politischen Macht Englands und Frankreichs eine entsprechende wirtschaftliche Macht, noch war damals die Vorherrschaft der USA über die anderen kapitalistischen Staaten so übermächtig und sicher, wie dies nach dem II. Weltkrieg der Fall war.“ (20)

Die innen- wie außenpolitische Konsequenz dieser Situation bestand in Folgendem:

„Eine Wiederbelebung des kapitalistischen Systems, eine Überwindung der schwersten ökonomischen Krise, die dieses System jemals erlebt hatte, konnte nur noch dann stattfinden, wenn keinerlei Zugeständnisse mehr an die Arbeiter gemacht werden mußten, wenn das Kapital die Häppchen und Brocken,…diesen wegnehmen und dem ,Allgemeininteresse’ zuführen konnte. Das Überlebensinteresse des deutschen Kapitals drängte auf eine imperialistische Offensive auf dem Weltmarkt, nach einer Zurückdrängung der europäischen Konkurrenten, die nur auf der Grundlage völlig veränderter nationaler Verwertungsbedingungen erfolgversprechend in Angriff genommen werden konnte.“ (21)

Wie sah die drastische Verbesserung der Verwertungssituation im Inneren aus? Das Verschwinden der Massenarbeitslosigkeit führte zu keiner bedeutsamen Erhöhung der Lohnsätze. Der Durchschnittsstundenlohn lag 1929 bei 95,9 Rpf. und noch im Oktober mit 80,8 Rpf. weit darunter. Konzentration und Zentralisation das Kapitals nahmen dagegen bedeutend zu: Das Gesamtkapital aller deutschen Aktiengesellschaften stieg erheblich; gleichzeitig sank die Anzahl der Aktiengesellschaften zwischen 1931 und 1942 um fast die Hälfte. Der steilste Sinkflug erfolgte dabei zwischen 1931 und 1938, nicht, wie man hätte vermuten können, zwischen 1938 und 1942. Der Staat begünstigte diese Konzentrationsprozesse durch Zwangskartellierungen, Zusammenschlüsse unter „Wehrwirtschaftsführern“, Organisation von „Reichsvereinigungen“ und „Gauwirtschaftskammern“ als höchste Formen von Fusion zwischen Monopolkapital und faschistischem Staat. Die grundlegende Tendenz war dabei nicht die Verstaatlichung, sondern die Reprivatisierung. Man könnte annehmen, dass die Rüstungsindustrie verstaatlicht worden wäre oder wenigstens mehr als die Hälfte der Aufsichtsrätemitglieder aus direkten Staats- und WehrmachtsvertreterInnen bestanden hätte, alles aus den Bedürfnissen einer wirksameren Kriegsführung ableitbar. Doch auch die barbarische Kriegsführung musste vor den Geboten der Kapitalakkumulation Halt machen (22).

Der Nationalsozialismus an der Macht: Primat der Politik oder des Monopolkapitals?

Die mit Tim Masons Aufsatz „Das Primat der Politik – Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus“ (23) angestoßene, teils sehr heftig geführte, Debatte zog viele DiskussionsteilnehmerInnen an. Für Mandel war es unverständlich, dass Mason für die Phase zwischen 1936 bis 1939 von einer „Zersetzung des industriellen Machtblocks“ im faschistischen Deutschland, seiner Auflösung in einzelne egoistische Firmeninteressen, sprechen konnte. „Gerade auf Grund dieser einwandfrei feststellbaren Entwicklung, die nicht nur dem demagogischen Programm der Nazis, sondern auch ihrem >>politischen Sonderinteresse<< (der Konservierung einer breiten Massenbasis in Mittelstand, Kleinbürgertum und Kleinbetrieb) direkt widersprach, ist unverständlich, wie Tim Mason zu dem Schluss kommen kann,…Monopolkapitalismus ist nicht >>Auflösung<< des Systems in eine >>reine Anhäufung von Firmenegoismen<<, sondern immer zunehmende Identifizierung des Systems mit den Firmenegoismen von einigen Dutzend Großkonzernen, auch auf Kosten der Masse der Klein- und Mittelbetriebe. Und das ist ja gerade im faschistischen Deutschland in einem vorher wie nachher noch nicht wiederholten Ausmaß geschehen.“ (24) Gegen Masons Argument, die politische Willensbildung und die Innen- und Außenpolitik der nationalsozialistischen Staatsführung sei ab 1936 in zunehmendem Maße von der Bestimmung durch die ökonomisch herrschenden Klassen unabhängig geworden, wendet er ein: „…daß also Klassengesellschaften bis zu einem gewissen Grade eine Verselbständigung nicht nur von Religion und Philosophie, sondern auch von Staat und Armee kennen. Worauf es ankommt ist nicht, zu wissen, ob eine Gruppe von Bankiers oder Großindustriellen dem Regierungschef oder Armeeführer seine [ihre, d. Red.] Beschlüsse unmittelbar >>diktiert<<, sondern ob diese Beschlüsse dem Klasseninteresse dieser Großfinanz oder der Großkonzerne entsprechen und aus der inneren Logik der Verteidigung der gegebenen Produktionsweise heraus verständlich werden.

Tim Mason übersieht, daß Militarismus und Kriege diese Autonomie schon sehr weitgehend im Rahmen des Monopolkapitalismus, lange bevor die NSDAP geboren wurde, erlangt hatten. Ja, der ganze Begriff des >>Primats der Politik<< ist gerade aus dem Komplex des Ersten Weltkriegs geboren.“ (25)

Richard Saage zeichnet die gesamte Kontroverse ausführlich nach und untersucht das Verhältnis zwischen großindustriellen Interessen und nationalsozialistischer Herrschaft einerseits sowie zwischen Nationalsozialismus und seiner Massenbasis andererseits. Zum ersten Themenkomplex hätten sich seiner Ansicht nach drei Gruppen gebildet: Für die erste ist das Verhältnis von Faschismus und Kapital kontingent, also zufällig; für die zweite existiert eine strukturelle Identität. Hierunter fällt v. a. die stalinistische Geschichtsschreibung. Die dritte zeichnet die Definition von Faschismus als tendenziell verselbstständigte Exekutive aus. Seine Parteinahme für das dritte Lager mündet in ein recht ausgewogenes Urteil, das zu dem Mandels nicht im Widerspruch steht, aber ihm gegenüber den Vorzug aufweist, allen Analysen zu dieser Frage bis in ihre feinsten Schattierungen nachzugehen: „…darum werden auch die politischen Einflußnahmen auf die Wirtschaft implizit überschätzt. Alle wissenschaftliche Aufmerksamkeit gilt den Lenkungsmaßnahmen, wenig Beachtung hingegen dem ungemein dynamischen Prozeß des öffentlichen Lebens selbst, der gelenkt werden soll: der deutschen Wirtschaft…Dies vorausgesetzt, steht also der Konflikt der verschiedenen Machtgruppen keineswegs im Gegensatz zum monolithischen Charakter des Systems.“ (26) Das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft unterm Faschismus entspricht also vollständig dem von Trotzki aufgezeigten Bild vom Faschismus an der Macht als – besonderer – Herrschaftsform des Monopolkapitals. Es zeigt die Liaison zwischen Staat und Kapital, wie sie für bonapartistische Regime typisch ist! Doch im hier behandelten Fall handelt es sich ja um einen besonderen Bonapartismustyp: einen faschistischen. Was präsentiert uns Saage im zweiten Teil seines Buchs? Suggeriert er nicht einen Unterschied zu Trotzki (und Mandel), die ja von einem Abbau der faschistischen Massenbewegung ausgehen? Der Vorzug von Saages Analyse besteht in seiner differenzierten Antwort, die ebenso wie Trotzki die Bedeutung der faschistischen Massenbasis betont, obwohl diese keinen Bewegungscharakter mehr annimmt – außer unter Kontrolle und nach Aufforderung durch den Staat („Reichskristallnacht“, „Euthanasie“-Programme) und nur insoweit Teilen ihrer Sozialdemagogie nachgeht. Diese auf die Spitze getriebene Fusion zwischen Staat und Monopolkapital mit ihren Folgen u. a. der forcierten Enteignung des Kleinbürgertums und Mittelstandes – auch der Bauernschaft (Reichserbhofgesetz) – wird nur mit kleinbürgerlich-rechtsextremer Färbung versehen. Zu dieser Färbung zählt auch ein Stück „Primat der Politik“ bei der Durchsetzung der absoluten Mehrwertproduktion: „Zwar hat die faschistische Partei das absolute Monopol des Politischen, aber sie übt es aus im Namen einer Bourgeoisie, die ihre ,objektiven’ Interessen nur noch auf der Grundlage der absoluten Mehrwertproduktion festmachen kann…Wenn Sohn-Rethel nämlich den gesellschaftlichen Rahmen der unterm Faschismus praktizierten absoluten Mehrwertproduktion dadurch charakterisiert sieht, daß dieser ,nach innen und nach außen…die Brachialgewalt an die Stelle der ökonomischen Kapitalsfunktion (setzt)’, bringt er ,damit das Kapital wieder auf den Nenner seines Ursprungs, seine Akkumulation auf den der sog. >ursprünglichen<’.“ (27) Ein wichtiger Gedanke und richtig insoweit, als das NS-Regime durch seinen Zwangscharakter und die barbarischen Methoden die Produktion absoluten Mehrwerts (Verlängerung des Arbeitstags, Intensivierung der Arbeit, Lohnsenkungen) effektiv durchsetzen konnte. Doch nur indirekt richtig ist die Gleichsetzung von Produktionsmethoden des absoluten Mehrwerts mit ursprünglicher Akkumulation, der Schaffung des doppelt freien LohnarbeiterInnentyps. Diese erhöht real „nur“ die Masse des Mehrwerts, wenn die freigesetzten ehemaligen KleinbesitzerInnen als produktive ArbeiterInnen Beschäftigung finden. Zweitens forciert der Nationalsozialismus an der Regierung auch die für die große Industrie typischen Methoden des relativen Mehrwerts (Konzentration und Zentralisation, forcierte Produktion von Produktionsmitteln und Rüstungsgütern, Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals durch Einführung neuer und von mehr Maschinerie). Indirekt erhöht die durch ursprüngliche Akkumulation gebildete zusätzliche Masse an LohnarbeiterInnen durch Vergrößerung der industriellen Reservearmee auch den Druck auf die Löhne der Beschäftigten nach unten und den Mehrwert/die Mehrwertrate nach oben. Bei aller Richtigkeit der von Sohn-Rethel betonten äußersten Möglichkeiten des NS-Zwangsregimes für die Produktion absoluten Mehrwerts gilt dort auch weiterhin der kombinierte Charakter (aller Methoden) der Mehrwertproduktion.

Die plebiszitäre Mobilisierbarkeit der faschistischen Massenbewegung nach der Machtergreifung spielte im NS-Deutschland eine wichtige Rolle bei der für die Kriegswirtschaft elementaren Mobilisierung von ZwangsarbeiterInnen, einer Art ursprünglicher Akkumulation durch Zwangsenteignung von Hab und Gut – allerdings nicht mit dem Resultat der Schaffung neuer Lohnarbeitskräfte, sondern eines millionenstarken Heeres von de facto SklavInnen. In diesem Sinn macht auch Sohn-Rethels Hypothese mehr als Sinn.

Die Parole vom „Lebensraum im Osten“ erwies sich als zugkräftiges Versprechen für die enteigneten KleinbürgerInnen im Reich, ihren Status als LohnarbeiterInnen dort bald aufgeben und ihren alten bzw. sogar besseren Status wiedererlangen zu können. Dazu mussten aber Juden und Jüdinnen und „slawische Untermenschen“ besiegt, vertrieben, enteignet und durch Zwangsarbeit vernichtet werden. Diese „Perspektive“ fürs ehemalige deklassierte KleinbürgerInnentum machte es zum Rammbock in Uniform. Theorien, denen zufolge der Faschismus eine neue totalitäre Form von Klassengesellschaft darstelle, finden in diesen Tatsachen mehr als ein Körnchen Nahrung. Auch Trotzki spekulierte kurz vor seinem Tod, wenn auch beiläufig, mit dieser möglichen Perspektive. Ehemalige TrotzkistInnen wie Burnham favorisierten die Idee einer universellen totalitären Managerklassengesellschaft, wobei Trotzki diese Bezeichnung für die stalinistische Sowjetunion kritisierte. Auch methodisch ist diese Annahme äußerst fraglich, bezeichnete doch Marx im „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“ als höchste Klassengesellschaft die, die die menschliche „Vorgeschichte“ der unbewussten, hinter dem Rücken vor sich gehende, unkontrollierte, indirekten Vergesellschaftung aus unfreien Stücken abschließe. Der Faschismus und insbesondere der deutsche Nationalsozialismus zeigen aber die barbarischen Umrisse eines drohenden Zerfalls der Zivilisation, ein „Ende der Geschichte“ in der Katastrophe. Er ist ein Menetekel dessen, was der Menschheit durch einen Superfaschismus mit den heutigen Massenvernichtungswaffen drohen kann: die Auslöschung der Menschengattung, wenn die von Rosa Luxemburg genial zugespitzte Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ von der internationalen ArbeiterInnenklasse nicht zugunsten der ersteren entschieden wird! Doch schließen wir das Thema Massenbasis und NS-Regime nach der faschistischen Machtergreifung mit Saages Resümee: „Schon im Ansatz verstellt er (Heinrich August Winkler; d. Red.) sich damit den Blick dafür, daß die NSDAP nur in Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten die Macht erwerben und erhalten konnte und daß sie gleichzeitig zur Aufrechterhaltung ihrer ,Identität’ des ständigen plebiszitären Rekurses auf die mobilisierbaren mittelständischen Massen bedurfte.“ (28)

Faschismusanalyse anderer Strömungen der ArbeiterInnenbewegung

Die Sozialdemokratie

Die sozialdemokratische Literatur zu unserem Thema ist vor allem pragmatisch-apologetischer Natur: Das eigene Versagen ist „Schuld des/r GegnerIn“. Die „Gewalt der objektiven Bedingungen“ gesellt sich einträchtig dazu. Die „Kräfteverhältnisse“ erlaubten halt nichts Besseres. Dass das eigene Handeln dieses hätte ändern bzw. abwenden können, das passt nicht zur politischen Passivität der SPD. Eine weitere These schiebt der radikalen Agitation der KommunistInnen die Schuld in die Schuhe, dass nämlich dem Faschismus die Möglichkeit bzw. der Vorwand zur Mobilisierung der verängstigten konservativen Bevölkerungsschichten geliefert worden sei. Dabei war es doch gerade der Bankrott der „gemäßigten“ parlamentarischen Alltagspolitik unter den Bedingungen der verschärften Strukturkrise, der die verzweifelten KleinbürgerInnen in die Arme der FaschistInnen trieb. Wird ihnen keine klassenkämpferische Alternative angeboten und bleibt dem deklassierten, pauperisierten Mittelstand nur die Wahl zwischen ohnmächtigem Parlament und aufmarschierendem Faschismus, wird er sich für letzteren entscheiden. Besonders hilflos ist die Haltung, um jeden Preis an der Legalität festhalten zu wollen. So argumentiert die Sozialdemokratie: Wenn die Nazis den Boden der Legalität verlassen, müssten die Organisationen der Lohnabhängigen umso fester und ausschließlich auf ihm ausharren. „Legalität“ und „Staat“ sind aber immer Institutionen und Ausdruck konkreter Gesellschaftsinteressen der herrschenden Klasse. In der Endphase der Weimarer Republik standen die RichterInnen, Oberste und Majore der Reichswehr fest an der Seite ihrer „Kameraden“ von „Stahlhelm“ und SS. Sie hassten und bekämpften die organisierte ArbeiterInnenbewegung genauso wie es parallel die FaschistInnen taten, nur ziviler und „legal“.

Auch die Faktoren Wirtschaftskrise und Erwerbslosigkeit werden ins Feld geführt, als ob ein Konjunkturaufschwung den Aufstieg Hitlers automatisch gestoppt hätte. Erstens handelte es sich um mehr als eine konjunkturelle Rezession, zweitens stoppte z.B. die Beschäftigungs„planwirtschaft“ (Arbeitsbeschaffungsprogramme) der belgischen Sozialdemokratie unter Spaak und de Man, die mit der Preisgabe wichtiger Errungenschaften der belgischen ArbeiterInnenschaft bezahlt wurden, keineswegs das Wachstum des belgischen Faschismus!

Einzig Léon Blum sprach die Wahrheit aus über den Kern hinter diesen sozialdemokratischen Rechtfertigungsideologien. Diese Wahrheit fiel genau entgegengesetzt zu den Weisheiten dieser TheoretikerInnen aus. Der Sieg Hitlers, so Blum, sei die Strafe dafür, dass die SPD nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs die Ansätze zur proletarischen Revolution erstickt und dadurch alle jene Faktoren entfesselt und bestärkt habe – von der Reichswehr bis zu den Freikorps, die sie nun schmählich davonjagen würden.

Komintern

Die Faschismusideologie der KI besteht aus fünf Elementen: a) Verkennung des eigenständigen Massencharakters der faschistischen Bewegung, Reduzierung des Faschismus auf einen reinen Agenten und direkten Ausdruck der Interessen der „aggressivsten Teile des Monopolkapitals“; b) Theorie des Faschismus als „Zwilling“ der Sozialdemokratie; c) Theorie der graduellen, schrittweisen „Faschisierung“, die die Werktätigen über den katastrophalen Charakter der faschistischen Machtergreifung täuscht und sie vom Kampf gegen noch bevorstehende Gefahren abhält; d) Theorie des „Sozialfaschismus“ in extremer Form: erst müsse man die SPD geschlagen haben, bevor man den Faschismus schlagen könne; e) der typisch sozialdemokratisch-defätistische Zusatz, Hitler würde rasch abwirtschaften (durch seine Unfähigkeit, die Wirtschaftskrise zu lösen) und „nach Hitler kommen wir“. Das bedeutete praktisch, sich bereits mit der Unabwendbarkeit der Hitler’schen Machtergreifung bereits abgefunden zu haben und wiederum ihre Auswirkung auf die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung zu unterschätzen.

Erst 25 Jahre später zog die offizielle kommunistische, moskaustalinistische Weltbewegung (Togliatti, DDR-„Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“) ansatzweise die Lehren aus dieser Ideologie. Praktisch hatte die KI sie bereits vorher revidiert, aber erst, als es bereits zu spät war. Der VII. WK verwarf 1935 die Theorie vom „Sozialfaschismus“ und vollzog eine sprunghafte Rechtswende zur Volksfrontpolitik. Diese war noch fehlerhafter als das Ultralinkstum der 3. Periode, Ausdruck des Übergangs vom Zentrismus zum Reformismus ab 1934. „In der Theorie vom >>Sozialfaschismus<< wird die objektive Rolle der sozialdemokratischen Führung…gegenüber ihrer Massenbasis und ihrer spezifischen Form (die das Fortbestehen der Arbeiterorganisationen impliziert) willkürlich isoliert; in der Volksfronttheorie wird dagegen der antifaschistische Wille der Massen und der Zwang der sozialdemokratischen Führung, sich gegen die Gefahr der Vernichtung durch den Faschismus zur Wehr zu setzen, ebenso willkürlich vom gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang der Strukturkrise des Kapitalismus isoliert. Im ersten Fall werden die Massen durch Spaltung paralysiert, im zweiten durch Rücksichtnahme auf den >>liberal<<-bürgerlichen Partner der Volksfrontpolitik entscheidend gebremst.“ (29)

Die Politik der Volksfront stellt, wie der Faschismus zur Rechten, zur Linken die letzte Karte der Bourgeoisie dar, durch Klassenzusammenarbeit von offen bürgerlichen Parteien, Organisationen oder auch nur einzelnen RepräsentantInnen („Schatten“ der Bourgeosie, meistens Armeeoffiziere) mit reformistischen Arbeiterparteien in Zeiten einer zugespitzten (vor-)revolutionären Krise den Vormarsch zur proletarischen Revolution entscheidend zu bremsen. Beispiele für eine solche Politik sind Spanien 1936–39 und Chile 1970–73. In modifizierter Form gilt dies auch für die russische Kerenski-Regierung 1917 und die zwischen Ebert und der General Groener von der Obersten Heeresleitung 1918–19.

Die Theorien von der „graduellen Faschisierung“ und vom „Sozialfaschismus“ sind gewissermaßen Zwillinge. „Der Faschismus ist nicht bloß eine neue Etappe der Stärkung und Verselbständigung der Exekutive des bürgerlichen Staates. Er ist nicht bloß >>die offene Diktatur des Monopolkapitals<<. Er ist eine besondere Form der >>starken Exekutive<< und der >>offenen Diktatur<<, die sich durch völlige Zerschlagung sämtlicher Arbeiterorganisationen, auch der gemäßigten, sicher der sozialdemokratischen – kennzeichnet. Er ist der Versuch, durch völlige Atomisierung der Werktätigen jegliche Form des organisierten Klassenkampfes, der organisierten Selbstverteidigung der Lohnabhängigen, gewaltsam zu verhindern. Man sieht, wie falsch die Theorie ist, die besagt: weil die Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg ebne, seien Faschismus und Sozialdemokratie Verbündete, und man könne sich nicht mit der letzteren gegen den ersteren verbünden.

Gerade das Umgekehrte trifft zu. Die Sozialdemokratie bereitete tatsächlich die Machtergreifung des Faschismus vor, indem sie die Kampfkraft der Werktätigen durch ihre Politik der Klassenkollaboration untergrub und sich mit dem Bankrott der parlamentarischen Demokratie identifizierte. Die Machtergreifung des Faschismus ist aber gleichzeitig der Untergang der Sozialdemokratie.“ (30)

In der Theorie von der „Faschisierung“ liegt jedoch zugleich auch ein richtiges Element: „Es wäre aber falsch, etwa den Regierungsantritt Hitlers im Frühjahr 1933 zeitlich gleichzusetzen mit jener alles entscheidenden Niederlage, die der Faschismus an der Macht für das Proletariat bedeutet.

Die faschistische Diktatur wird nicht von einem Tag zum anderen installiert. Mit dem Machtanritt der Faschistsne [Faschisten; d. Red.] verändern sich die Bedingungen zuungunsten des Proletariats. Damit die Gefahr des Bürgerkriegs aber endgültig beseitigt werden kann, benötigt der Faschismus eine gewisse Zeitspanne, um sich als Regime zu festigen. Die Länge dieser Zeitspanne wird davon bestimmt, in wie kurzer Zeit die Organisationen der Arbeiterklasse aufgelöst, wie schnell die politischen Gegner ausgeschaltet und die Fraktionskämpfe in den eigenen Reihen beendet werden können. Nur in diesem Zusammenhang kann man den Begriff der ,Faschisierung’ verwenden: als Prozess der Konsolidierung des faschistischen Regimes…“ (31)

Die Länge dieser Zeitspanne kann genauer als nur summarisch bestimmt werden. Die ArbeiterInnenorganisationen wurden in folgender Reihenfolge verboten bzw. gleichgeschaltet: KPD – SPD – ADGB, zuletzt die bürgerlichen Parteien mithilfe des Gesetzes „Gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 1933, darunter auch die kurzzeitige NSDAP-Koalitionspartnerin DNVP. Bereits am 24. März hatte sich der „Führer“ sämtliche legislative Gewalt im „Ermächtigungsgesetz“ gesichert. Damit und mit der Verhaftung aller bedeutenderen ArbeiterInnenfunktionärInnen ab 1. März 1933 war der kalte, einseitige Bürgerkrieg de facto beendet. Einseitig, weil SPD und Gewerkschaften keinen Widerstand leisteten. Die offen bürgerlichen Parteien stimmten dem „Ermächtigungsgesetz“ allesamt zu, nur die 94 Abgeordneten der SPD dagegen. Die Sitze der KPD waren bereits einkassiert. Damit konnte die NSDAP   den konsequenten Aufbau einer totalitär-bonapartistischen Diktatur beginnen. 1934 wurde ihre ursprüngliche radikale Massenbasis quasi entwaffnet („Röhm-Putsch“), um die militärischen Funktionen der SS zu übergeben.

Die unter a) genannte Reduzierung des Faschismus auf lediglich eine Agentenrolle der aggressivsten Teile des Monopolkapitals, knüpft in verballhornter Form an die Hilferding’sche These von der Kongruenz zwischen der politischen Macht im bürgerlichen Staat und der „höchsten Form der Konzentration des Kapitals“, dem Finanzkapital, an, die schon im Jahre 1907 bei aller Genialität eine Vereinfachung implizierte, der zufolge der bürgerliche Staat einfach übernommen werden und über das „Generalkartell“ der Kapitalismus friedlich in den Sozialismus hineinwachsen könne. Letzteres brach mit Marx’ Feststellung, die Konkurrenz gehöre essenziell zum Begriff des Kapitals, sowie mit der Engels’schenThese , das Staatseigentum sei nicht die Überwindung des Kapitalismus, biete jedoch eine bessere Handhabe dafür. Die Hilferding’sche Formel war also 1907 bestenfalls potenziell opportunistisch, in den Jahren vor und nach Hitlers Machtübernahme unzutreffend. Max Horkheimer „löste“ sie zugunsten einer Variante der Kominternhypothese, die 1935 die Grundlage für Dimitroffs Volksfrontkonzept lieferte. Er bezeichnete den Faschismus als modernste Form der monopolkapitalistischen Gesellschaft. Paul Sering (Richard Löwenthal) favorisierte die andere mögliche „Lösung“: Für ihn war der NS-Staat ein „Planimperialismus“. „Man kann den Faschismus nicht begreifen, wenn man von zwei entscheidenden Momenten der Analyse abstrahiert: daß die höchste Form der Zentralisation des bürgerlichen Staates nur durch die politische Selbstentmachtung des Bürgertums erreicht werden kann…, und daß es sich nicht um die >>modernste Form der monopolkapitalistischen Gesellschaft<<, sondern um den Ausdruck der schärfsten Form der Krise dieser Gesellschaft handelt.“ (32)

Otto Bauer

Otto Bauer, Cheftheoretiker des Austromarxismus und von 1918 bis 1934 stellvertretender Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP-Ö), sieht im Faschismus (33) eine Verbindung dreier Momente: Deklassierung von Teilen des Kleinbürgertums im Krieg; Verelendung weiter Teile des Mittelstands durch die Wirtschaftskrise, die zu deren Bruch mit der bürgerlichen Demokratie führte; Interesse des Großkapitals an vermehrter Ausbeutung der Arbeitskraft, wozu der Widerstand der ArbeiterInnenorganisationen notwendig gebrochen werden muss. Der Faschismus habe gesiegt, als das Proletariat längst geschwächt und in die Defensive gedrängt gewesen sei. Folglich habe die Kapitalistenklasse die Staatsmacht den faschistischen Gewalthaufen nicht übertragen, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken, sondern um die Errungenschaften des „reformistischen Sozialismus“ zu zerschlagen. Dieser Ansatz, so sehr er auch der rechtsreformistischen Position überlegen ist, demzufolge Mussolinis und Hitlers Siege Resultate der „bolschewistischen“ Agitation verkörperten, unterschätzt die kapitalistische Strukturkrise 1918–1927 in Italien und 1929–1933 in Deutschland. Sie erschütterte und schwächte diese Gesellschaftsordnungen und verbesserte dadurch zugleich die objektiven Möglichkeiten einer Machteroberung durch die ArbeiterInnenklasse. Der Sieg des Faschismus ist eben keine zwangsläufige Folge nach der Niederschlagung der Ansätze proletarischer Revolution 1921 bzw. 1923. Die 15 Jahre von 1918 bis 1933 in Deutschland waren keineswegs durch einen geradlinigen Abstieg revolutionärer Möglichkeiten gekennzeichnet, sondern durch deren periodisches Auf und Ab.

Diese Analyse von Otto Bauer führte zu schweren taktischen Fehlern: Da man sich in einer „defensiven Phase“ befand, glaubte Bauer, sich Gewehr bei Fuß aufs Abwarten beschränken zu müssen, bis die ArbeiterInnenorganisationen von der klerikal-faschistische Reaktion angegriffen wurden. So führte der heroische Schutzbundkampf vom Februar 1934 zu einer Niederlage, wenn auch zu einer weit weniger schmachvollen als in Deutschland. Die Tiefe der Strukturkrise machte es notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung ihren Willen zum Ausdruck brachte, sie mit eigenen Mitteln, d.h. ihrer Machteroberung, zu lösen. Nur so hätte es ihr gelingen können, die am Status quo (und auch an der bloßen Verteidigung der ArbeiterInnenorganisationen) nicht mehr interessierten Mittelschichten und schwankenden Bevölkerungsteile auf ihre Seite zu ziehen. Es blieben 1930 noch drei Jahre Zeit, um durch aktiven Kampf der ArbeiterInnenschaft zwar nicht die bürgerliche Demokratie zu retten (34), aber die Bollwerke der ArbeiterInnendemokratie und sozialen Errungenschaften innerhalb des bürgerlich-parlamentarischen Systems, die es zu erhalten lohnte, in den Sozialismus mit herüberzunehmen. Dazu war aber erforderlich, dass die proletarischen Führungen nicht versagten.

Bauer folgerte überdies eine Symmetrie zwischen Faschismus und Bolschewismus (35). „Aus der Ideologie des ,neutralen, demokratisch-parlamentarischen Staates’, in dem Sozialdemokraten des linken Flügels für die Machtergreifung des Proletariats kämpfen wollten, ergab sich mit logischer Konsequenz die Ideologie des ,neutralen’, ,unabhängigen’ ,über den Klassen stehenden’ Bonapartimus/Faschismus (bzw. Bolschewismus). Diese Herrschaftsformen seien, wie Bauer postulierte, ,über den Klassen stehende Diktaturen’…“ (36)

August Thalheimer

August Thalheimers Analyse kommt der Trotzkis am nächsten. Das Aktionsprogramm der KPD-O von 1931 näherte sich in seiner Perspektive der Linken Opposition an. Es enthielt nicht nur unmittelbare Tagesforderungen, sondern auch ein Verständnis von Übergangslosungen, die das Proletariat aus seiner „Verteidigung gegen den Faschismus und die Angriffe auf seine Lebensgrundlagen bis zum Kampf um die staatliche Macht vorantreiben“ sollten. Führte die SPD den Kampf als „Verteidigung der Demokratie“ und unterstützte das Kabinett Brüning bedingungslos und die KPD zuallererst den gegen die Sozialdemokratie, so wurde für die KPD-O der Kampf gegen die Brüning-Regierung zur Voraussetzung der proletarischen antifaschistischen Einheitsfront.

Ihr taktischer Fehler resultierte letzten Endes aus ihrer Theorie der „schrittweisen Faschisierung“ und einer zu engen Anlehnung an die Marx’sche Analyse des Bonapartismus des 19. Jahrhunderts. Ferner reduzierte Thalheimer das Faschismusproblem auf die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse, ohne den Zusammenhang mit der Strukturkrise zu beleuchten: Die ArbeiterInnenschaft sei noch nicht fähig, die politische Herrschaft auszuüben, das Großbürgertum bereits nicht mehr. Er unterschätzte den qualitativen Unterschied zwischen Bonapartismus und Faschismus, verwechselte die objektiv-historisch bedingte Unreife der französischen ArbeiterInnenklasse in den Jahren 1848–1850 mit der nur subjektiven (Führungskrise) der deutschen ArbeiterInnenbewegung1918–1933. Aufgrund einer mechanischen, schematischen Gegenüberstellung einzelner Elemente beider Herrschaftsformen konnte er letztlich im Faschismus nur noch eine „Ergänzung“, „Vollendung“ des bonapartistischen Regimes sehen, das als „Übergangsprogramm des Faschismus“ bezeichnet wurde. Die faschistische Partei ist für ihn das Gegenstück zur „Dezemberbande“ des Louis Bonaparte; die Klassenkampfsituation nach 1850 sei die gleiche wie beim Übergang von von Schleicher zu Hitler. Der Faschismus ist aber eben keine militärische Verschwörung, sondern eine kleinbürgerliche Massenbewegung, – was das französische Kleinbürgertum (Parzellenbauernschaft) des 19. Jahrhunderts nicht war – Es war im Wesentlichen nur plebiszitär passiver Unterstützer Napoleons des III. Zwischen aufsteigendem französischem Kapitalismus und deutschem Imperialismus liegt zudem die „Kleinigkeit“ einer ganzen Epoche (37)! Eine Differenzierung zwischen faschistischer Massenbewegung während ihres Aufstiegs und ihrer Machtergreifung und dem sich danach mehr und mehr in einen Bonapartismus verwandelnden Herrschaftsapparat kann auf dieser Basis erst recht nicht gelingen (38).

Umgekehrt bestand Thalheimers Analyse aus einer Aufzählung von Äußerlichkeiten. Den Faschismus verstand er als größtmögliche Quantität an Repression. Das führte ihn zur Ablehnung der Analogie zwischen den vorfaschistischen Regimen in Deutschland und dem Bonapartismus: „Dieselben Stalinisten und Brandlerianer lehnten sich auf gegen die Analogie zwischen dem vorfaschistischen Regime in Deutschland (>>Präsidial<<-Kabinette) und dem Bonapartismus. Sie zählten Dutzende von Zügen auf, durch die sich das Papen-Schleicher-Regime vom klassischen Bonapartismus unterschied, und übersahen darüber jenen Grundzug, der sie einander näherte: das Balancieren zweier unversöhnlicher Lager…Jetzt kann man schon ohne weiteres von einer tiefen Gesetzmäßigkeit der >>bonapartistischen>> Übergangsperiode zwischen Parlamentarismus und Faschismus sprechen.“ (39)

Ein gutes Resümee der Widersprüche im KPD-O-Konzept zieht Dahl-Arnold: „Thalheimer ging nicht von einer absoluten Verselbständigung der Exekutivgewalt aus, sondern sehr wohl – und hier blieb er Marx und Engels treu – beim Faschismus/Bonapartismus von einer spezifischen Klassendiktatur der Bourgeoisie…Im Gegensatz zu Trotzkis Analyse identifizierte Thalheimer tendenziell Bonapartismus und Faschismus, während er Trotzkis Analyse des präfaschistischen Bonapartismus rundheraus ablehnte…Entgegen der Analyse der Linken Opposition subsumierten die ,Brandlerianer’ sowohl das faschistische Regime als auch den ,Bonapartismus faschistischen Ursprungs’, der sich von seiner kleinbürgerlichen Basis gelöst hat, unter den Begriff Faschismus.

Die Identifizierung von Faschismus und Bonapartismus führte die KPD-O darüber hinaus zum ,Überspringen’ der Periode der Vorbereitung des faschistischen Staatsstreiches durch den Bonapartismus Brünings und Papen/Schleichers…Praktisch führte diese Position die KPD-O dazu, nicht unähnlich der KPD, eine ,Faschisierung’ der staatlichen Institutionen der Weimarer Republik festzustellen und bei der Ablösung des Brüning-Regimes im Sommer 1932 voreilig den ,ersten Akt des faschistischen Staatsstreichs’ zu konstatieren…“ (40)

Die Widersprüche äußerten sich in einer schwankenden Praxis zwischen Ultralinkstum und linkssozialdemokratischem Opportunismus: „Faschisierung“ – ja, aber nicht schleichend (41); Einheitsfront mit der SPD – ja, aber zuvor muss sie die Unterstützung Brünings aufgeben; die proletarische Machtergreifung – ja, aber durch eine (strategische) Einheitsfront, also als Hybrid zwischen Partei und Aktionseinheit.

Lehren für heute

Hier können wir festhalten: die ausgereifte Faschismustheorie nach 1929 ist allen Konkurrentinnen überlegen. Im Kern besteht sie aus dem Zusammenhang zwischen schwerer Strukturkrise des Kapitalismus und der unzureichenden Politik der ArbeiterInnenführungen; der Analyse des Klassencharakters der faschistischen Massenbasis wie des Faschismus an der Macht; Ablehnung der Sozialfaschismus- wie der Volksfronttheorie der KI; Ablehnung des bürgerlichen Legalismus der Sozialdemokratie, ihrer Unterstützung bürgerlicher Regierungen und Präsidialkabinette; Anwendung der klassischen Einheitsfronttaktik der KI in Form der antifaschistischen ArbeiterInneneinheitsfront gegen ultralinke (Einheitsfront nur von unten) wie opportunistische (Volksfront, strategisch-programmatische Einheitsfront) Abweichungen; Verteidigung der Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung (Bollwerke) innerhalb der bürgerlichen Demokratie statt Verteidigung parlamentarisch-demokratischer Herrschaftsform als Endzweck; Zusammenhang zwischen antifaschistischer Selbstverteidigung und dem Kampf um die Staatsmacht.

Trotzkis Analyse entstand im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Faschismus in imperialistischen Ländern. Dies bedeutet nicht, dass faschistische Massenbewegungen in Halbkolonien nicht existieren können. Sie spielten oft Steigbügelhalterinnen für Militär- bzw. halbfaschistische Diktaturen (Franco-Spanien, Indonesien, Chile) oder kamen unter deutsch-italienischer Schutzherrschaft sogar an die Macht (kroatische Ustascha). Doch können sie kein eigenes imperialistisches Regime errichten, das nach der Weltmacht greift, und bleiben Vasallen des ausländischen Monopolkapitals.

Das Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen – ein Schwerpunkt dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus – verleitet viele Linke, ihnen ein faschistisches Etikett aufzukleben. Dieser inflationäre Gebrauch der Faschismusdefinition bildet die eine Gefahr. Die andere verkörpert eine Blindheit gegenüber Instrumentalisierungsversuchen des Rechtspopulismus durch echte FaschistInnen. MSI in Italien und Front National in Frankreich stellten vor einigen Jahren faschistische Frontparteien dar, überwiegend geführt von faschistischen Kadern, die eine extrem nationalistische und rassistische Politik verfolgten. Von einer solchen Organisation können wir heute in beiden Fällen zwar nicht (mehr) sprechen – der FN hat sich in eine rechtspopulistische Partei wie viele andere verwandelt, die MSI existiert nicht mehr – aber AfD und Co. bieten ein weites Betätigungsfeld für die FaschistInnen. Wo sie zu rassistischer Hetze mobilisieren und gemeinsam mit diesen marschieren wie in Chemnitz müssen wir ihnen mit den gleichen physischen Mitteln entgegentreten wie . damals der SA.

Endnoten

(1) Wir folgen in diesem Kapitel weitgehend der dankenswerterweise vom Autor zur Verfügung gestellten Arbeit von Dahl-Arnold, Henning: „Trotzkismus“ und Faschismus 1922–1933. Magisterarbeit am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin. Berlin 1991, S. 6–39.

(2) a. a. O., S. 15.

(3) a. a. O., S. 16.

(4) a. a. O., S. 18.

(5) Die Polemik Dahl-Arnolds gegen die Anwendung der ArbeiterInnenregierungstaktik lässt zumindest Fragen offen. Er schließt aus der Formulierung des VIII. KPD-Parteitags in Leipzig: „Die Arbeiterregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher parlamentarischer Aufstieg zu ihr“, dass „die KPD ihre Bereitschaft zur Bildung einer SPD/KPD-Koalition im Rahmen des Parlamentarismus…, de facto zum Eintritt in eine bürgerliche Regierung“ erklärt habe. Die Parteitagsformel ist zwar ungenauer als die Resolution des IV. WK, aber nicht opportunistisch. Der Autor geht nicht auf die Frage ein, ob die o. a. KI-Resolution auch unter sein Verdikt fällt. Wenn er ihren wesentlichen Gehalt teilen sollte, nämlich dass eine echte ArbeiterInnenregierung die Tür zur Diktatur des Proletariats (DdP) aufstößt, aber nicht mit dieser identisch ist, sondern eine – nicht zwingend ins Leben tretende – Übergangsregierung dazu, so ist seine Kritik an Ruth Fischer zumindest verwirrend: „Fischer argumentierte dabei allerdings auf einer Grundlage, die prinzipiell die Bildung einer Arbeiterregierung – verantwortlich ausschließlich proletarischen Organen – als Weg zur Festigung der Arbeiterdiktatur ausschloß…“ Das kann doch nur heißen: Festigung einer DdP, oder welche „Arbeiterdiktatur“ kennt Dahl-Arnold noch? Aber die proletarische Staatsmacht ist ja bereits die Krone der echten ArbeiterInnenregierung und hat das Übergangsstadium, wo der Staat von einer zur anderen Klasse übertragen wird, bereits hinter sich. Bestenfalls hat er hier (unfreiwillig?) die Fischer’sche These, ArbeiterInnenregierung könne nur ein populärer Ausdruck für die DdP sein, bestätigt. Der IV. WK hätte sich seine ganze Mühe sparen können! Allerdings stellten die Politik der loyalen Opposition ggü. einer Koalition aus SPD und offen bürgerlicher DDP (Deutsche Demokratische Partei, linksliberal) in Thüringen (diese wurde von der USPD sogar geduldet) sowie der Tolerierung (Duldung, Mehrheitsbeschaffung als Blankoscheck ohne Regierungseintritt der KPD) der SPD (Sachsen) bzw. SPD/USPD-Koalition (Thüringen) rechte Abweichungen von der korrekten taktischen Linie dar. Das Gleiche gilt für den Eintritt in die dortigen Landesregierungen und ihre Bezeichnung als (echte) ArbeiterInnenregierung.

(6) a. a. O., S. 22.

(7) Dahl-Arnold geht auch auf den Umgang mit der revolutionären deutschen Situation durch KPD und KI ein. Die KI wurde erst nach dem Antifaschistentag Ende Juli – viel zu spät – hellhörig. Er schildert auch interessante Details zur Rolle Sinowjews und Trotzkis. Sein Urteil, dem wir uns anschließen, lautet: „Zu spät, und dann der bereits rückläufigen revolutionären Welle nicht angepasst. Reagierte nicht nur die KPD-Führung, sondern auch die Komintern-Führung mechanisch auf die deutsche Entwicklung.“ A. a. O., S. 23.

(8) Siehe dazu: a. a. O., S. 24 f. Dahl-Arnold spricht von einer „vollständigen Überschätzung des bisher erreichten kommunistischen Einflusses“. Trotzkis Verteidigung des Eintritts in die sächsische und thüringische Landesregierung hält er für falsch, was er jedoch nicht seiner Konzeption, sondern seiner verfehlten Einschätzung der Lage dort anlastet.

(9) Im August 1923 präzisierte Trotzki seine Position zur Aufstandsfrage im Oktober 1923 in Deutschland dahingehend, dass er nicht die Absage des Aufstands im Oktober für falsch hielt. Die verpassten Chancen lagen viel früher, v. a. im August (Streik gegen die Cuno-Regierung). Notes sur les conversations entre Trotsky et Walcher. Arbeterrörelsen Arkiv, Stockholm; Trotsky, Léon: Oeuvres 2, S. 91–110. Zur Einschätzung in Trotzkis „Lehren des Oktober“ (Berlin 1925, Reprint) siehe: Dahl-Arnold, a. a. O., S. 113, Anm. 166.

(10) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 31 f.

(11) Dieser Artikel lag den Delegierten der 13. Parteikonferenz der RKP erst Mitte Januar 1924 vor. Siehe Trotzki, Leo: Der Neue Kurs (Dezember 1923 – Januar 1924), Kapitel V. In: Schriften 3, Band 3.1. Linke Opposition und IV. Internationale 1923–1926 (Hrsg. Dahmer, Helmut u. a.). Hamburg 1997, S. 209–314. Laut Dahl-Arnold (a. a. O.) scheint die englische Übersetzung gegenüber der deutschen Ausgabe (Trotzki, Leo: Der Neue Kurs, Berlin/West 1972 [Intarlit]) präziser zu sein (ders.: Challenge of the Left Opposition 1923–1925. New York 1975).

(12) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 33. Die Analogie zu den russischen Julitagen galt vollständig für die „Märzaktion“ 1921 im Mansfelder Revier (heute: Sachsen-Anhalt), wo die KPD ganz anders als knapp vier Jahre zuvor sich in einen abenteuerlichen Aufstandsversuch hineinziehen ließ. Für den Oktober 1923 hinkt sie jedoch; hier handelte es sich nicht um einen spontanen, unverantwortlichen Aufstand. Dahl-Arnold ist in der Sache aber vollständig recht zu geben. Die Paralyse der KPD zeigte sich im Fehlen eines Planes B, den er durchaus zutreffend skizziert. Ihr Repertoire bestand im Oktober 1923 nur aus den Alternativen Absage oder Durchführung eines Aufstandes, was die Komplexität der Situation inadäquat widerspiegelte. Um die Bedingungen für einen siegreichen Aufstand zu verbessern, musste man dem Hauptelement der gegebenen Situation Rechnung tragen und das konnte nur heißen: ArbeiterInneneinheitsfront – durchaus nicht nur in Sachsen und Thüringen – gegen einen drohenden Militärputsch, Bonapartismus im ganzen Reich. General von Seeckt war kein deutscher Mussolini, sondern ein preußischer Kornilow. Eine analog zu der der Bolschewiki während der Kornilowiade im August 1917 durchgeführte Einheitsfrontpolitik hätte sich als Schlüssel für den Sieg des deutschen Kommunismus erweisen können, als welche sie sich in Russland erwies. Sie war der einzige Weg aus der Sackgasse und die wahre, vollständige Analogie zur Russischen Revolution!

(13) Trotsky, Leon: The first five years of the Communist International, 2 Bände. New York 1972.

(14) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 35 f.

(15) Trotzki, Leo: Faschismus und Reformismus, in: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 2, S. 721 sowie ders.: Aussichten der Weltentwicklung, in: Wohin treibt England? – Europa und Amerika. Berlin/West 1972. Werk 2, S. 17.

(16) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 39.

(17) Mandel betont, dass nur bestimmte Formen des Kapitalismus angegriffen werden wie „Zinsknechtschaft“, Warenhäuser, „raffendes“ im Gegensatz zu „schaffendem“ Kapital. Wir würden „jüdisches“ Kapital hinzufügen. Privateigentum als solches oder Unternehmerherrschaft im Betrieb wird nicht attackiert.

Mandel, Ernest: Einleitung. Trotzkis Faschismustheorie. In: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 1. Frankfurt am Main 1971, S. 24, Anm. 21.

(18) Mandel, Ernest: Einleitung. Trotzkis Faschismustheorie. In: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 1. Frankfurt am Main 1971, a. a. O., S. 21–26.

(19) Allerdings bedeutet das nicht, dass er Fehlurteilen entgangen wäre oder schwankende Einschätzungen vermieden hätte. Dahl-Arnold weist darauf hin, dass Trotzki auf seine Fehleinschätzung der von Seeckt-Diktatur 1923–24 nicht mehr eingegangen sei (a. a. O., S. 59) und stellt dies in Zusammenhang mit dem Ausbleiben einer systematischen Diskussion innerhalb der Internationalen Linken Opposition (ILO, Vorläuferin der IV. Internationale) über die Niederlage der deutschen Revolution 1923. Trotzki hatte zu Anfang der 1920er Jahre in Nebenbemerkungen die Regime Zankows in Bulgarien sowie Horthys in Ungarn als faschistisch bezeichnet, ebenso 1926 die Militärdiktatur Pilsudskis. Über letzteres gab es einen Disput in der ILO. Ausführlich widerrufen hat Trotzki später seine frühere Charakterisierung der Regierungen Primo de Riveras in Spanien und Tschiang Kai Scheks in China als faschistische (a. a. O., S. 60 f.). Fraglich beim Pilsudski-Regime war auch, ob der Ausgangspunkt überhaupt richtig war, es unter einem präfaschistischen Gesichtspunkt zu diskutieren. Die Geschichte, nicht nur des Monopolkapitalismus, kennt bonapartistische Regime auch ohne diesen Kontext (Portugal, Spanien, Afrika, Asien, Lateinamerika).

Auch Trotzkis Bemerkung, der Sieg des Faschismus habe dazu geführt, dass sich das Finanzkapital aller Einrichtungen und Organe der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung direkt und unmittelbar bemächtigt, kann als Widerspruch zur Argumentation der politischen Enteignung des Bürgertums verstanden werden (a. a. O., S. 117, Anm. 49).

(20) Spartacusbund/IKL: Faschismus – eine historisch-materialistische Analyse. Ergebnisse & Perspektiven, Theoretisches Organ von: Spartacusbund [BRD] – Internationale Kommunistische Liga [Österreich], Nr. 9, Frankfurt am Main Juni 1979, S. 7 f.

(21) a. a. O., S. 9.

(22) Zahlen bei Mandel, Ernest: Einleitung…A. a. O., S. 38–45.

(23) In: Das Argument 41 – Staat und Gesellschaft im Faschismus. Faschismus-Theorien (IV). 8. Jahrgang, Heft 6. Berlin/West 1966, S. 473–494.

(24) Mandel, Ernest: Einleitung…A. a. O., S. 40 f.

(25) a. a. O., S. 41, Anm. 52.

(26) Saage, Richard: Faschismustheorien. München 19772, S. 80 f.

(27) a. a. O., S. 68 f.

(28) a. a. O., S. 141.

(29) Mandel, Ernest: Einleitung…, a. a. O., S. 31 f., Anm. 32.

(30) a. a. O., S. 32 f.

(31) Spartacusbund/IKL: Faschismus, a. a. O., S. 27.

(32) Mandel, Einleitung…, a. a. O., S. 33 f. Mandel liefert noch einen wichtigen Gedanken bezüglich der Selbstentmachtung des Bürgertums: „Es wäre interessant, die tieferen Wurzeln dieses Zwangs zu untersuchen. Er liegt u. E. nicht nur in der Notwendigkeit, die Atomisierung der Arbeiterklasse durch Massenterror zu gewährleisten, wozu ein >>normaler<< Repressionsapparat nicht ausreicht, sondern auch in der Natur der auf Privateigentum an Produktionsmitteln errichteten Produktionsweise selbst, der immer ein Element der Konkurrenz anhaftet, und in der es den direkten Vertretern der Konzerne nur auf dem Umweg des Feilschens und der gegenseitigen Aussöhnung widerspruchsvoller Teilinteressen gelingen kann, zum Gesamtinteresse der Klasse (oder genauer: ihrer entscheidenden Schicht) vorzustoßen. Soll dieses Gesamtinteresse unmittelbar und zentralisiert, also ohne lange Besprechungen und schwierige Verhandlungen sich auswirken, dann muß die Interessenvertretung des Gesamtinteresses von der gleichzeitigen Verteidigung von Patikularinteressen getrennt werden, d. h.: dann muß die Personalunion der Großkonzerne und der politischen Führung aufgehoben werden. Deshalb die Neigung der bürgerlichen Gesellschaft zur politischen Selbstentmachtung in Krisenzeiten, in ihrer stürmischen Jugend ebenso wie in ihrem dekadenten Alter.“ (a. a. O., 33 f., Anm. 56) Mandel meint mit „Selbstentmachtung in ihrer stürmischen Jugend“ offensichtlich die Integration der monarchisch-absolutistischen Staatsmaschine in die bürgerliche Produktionsweise unter Zurückdrängung ihres feudalen Aspekts. Engels hat dies am Beispiel Bismarcks und der Verwandlung des junkerlich-feudalen Staatsapparats in den preußisch-deutschen bonapartistischen untersucht.

(33) Bauer, Otto: Der Faschismus. Aus: Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus. Bratislawa 1936. In: Abendroth, Wolfgang: Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. Frankfurt am Main 19742, S. 145–167.

(34) Nur in diesem Sinne muss die ArbeiterInnenbewegung die bürgerlich-parlamentarische Demokratie verteidigen, nicht als Selbstzweck. Innerhalb des Kapitalismus musste das jedoch den Eintritt für den Erhalt der vollen Bürgerrechte bedeuten. Trotzki geißelte die KPD-O, deren Führer Brandler und Thalheimer nur „für die demokratischen Rechte der Werktätigen: Versammlungs-, Vereinsrecht, Pressefreiheit, Koalitions- und Streikrecht“ ins Feld zogen: „Versammlungs- und Pressefreiheit nur für die Werktätigen ist nicht anders denkbar als unter der Diktatur des Proletariats…“ (Trotzki, Leo: Faschismus und demokratische Losungen. Prinkipo, 14. Juli 1933. In: SüD, Band 2, a. a. O., S. 601.

35 Bauer, Otto: Das Gleichgewicht der Klassenkräfte, in: Der Kampf 17, 1924, S. 57–67. Quelle zitiert nach Dahl-Arnold, a. a. O., S. 120, Anm. 87.

36 Dahl-Arnold, a. a. O., S. 57.

37 Spartacusbund/IKL: Faschismus…A. a. O., S. 20.

38 Siehe: a. a. O., S. 17–20; auch: Mandel, Ernest: Einleitung…, a. a. O., S. 35–36.

39 Trotzki, Leo: Der „4. August“ (Prinkipo, 4. Juni 1933). In: SüD, Band 2, a. a. O., S. 568.

40 Dahl-Arnold, a. a. O., S. 58.

41 Eine Variante davon stellte die Faschisierungsthese des Kommunistischen Bundes/Nord (KB/Nord) dar. Siehe die Polemik dagegen in: Spatacusbund/IKL, a. a. O., S. 52–58.

 




Organisierte Selbstverteidigung und antifaschistischer Kampf

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Der rassistische und faschistische Mob von Chemnitz und dessen Hetzjagden gegen Flüchtlinge, MigrantInnen und Linke verdeutlichen, dass wir – und damit meinen wir die gesamte ArbeiterInnenbewegung, die sozial Unterdrückten und die Linke – die Frage der organisierten Gegenwehr diskutieren und praktisch in Angriff nehmen müssen. Ansonsten drohen uns die Rechten, seien es offene Nazis und militante RassistInnen, das rechtspopulistische AfD-Milieu, das sich zu „besorgten BürgerInnen“ stilisiert, und der repressiver werdende Staatsapparat immer weiter in die Defensive zu drängen.

Die Schaffung eines organisierten Selbstschutzes bildet dabei zwar nur einen, in letzter Instanz untergeordneten, Aspekt einer Gesamtstrategie. Aber sie ist zugleich ein unverzichtbares Element ebendieser Konzeption.

Wir werden uns in diesem Beitrag zuerst mit Einwänden beschäftigen, die in den letzten Tagen von Menschen erhoben wurden, die Faschismus und Rassismus entgegentreten wollen, und danach unsere Vorstellung organisierter Selbstverteidigung darlegen.

Erzeugt Gewalt nicht nur (noch mehr) Gewalt?

Viele Menschen, die von der brutalen Aggression der Rechten und deren offen zur Schau getragenen Gewalttätigkeit abgestoßen sind, befürchten, dass eine organisierte Gegenwehr von Seiten der Linken letztlich zur Reproduktion dieser Gewalttätigkeit führen würde. Wenn mit gleicher Münze zurückgezahlt würde, werde das berechtigte Anliegen von antifaschistischen und antirassistischen Kräften aufgrund ihrer gleichfalls gewalttätigen Praxis mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, so dass auch bei diesen Vernunft, Argument, Verständigung durch das vermeintliche „Recht des Stärkeren“ ersetzt würden.

Wir wollen keineswegs bestreiten, dass eine solche Gefahr besteht. Jede Aktionsform, jede Kampfmethode kann sich unter bestimmten Bedingungen verselbständigen und sogar in ihr Gegenteil verkehren. Natürlich gab es auch in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung oder von Befreiungsbewegungen immer wieder solche Fälle. Bestimmte Strategien (wie z. B. der Guerillaismus, aber auch die verselbstständige Aktion „militanter“ Kleingruppen, die niemandem rechenschaftspflichtig sind) tragen einen inhärent elitären und anti-proletarischen Charakter, weil diese unwillkürlich jeder realen Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse entzogen sind.

Das Problem der prinzipiellen Ablehnung der Gewalt der Unterdrückten – aktuell der von Rassismus und Faschismus bedrohten – besteht aber darin, dass aus einer möglichen Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit konstruiert wird. Die Frage, wer wo unter welchen Bedingungen Gewalt anwendet, wie Selbstverteidigungseinheiten, Milizen, bewaffnete Verbände einer unterdrückten Klasse oder Bevölkerungsgruppe mit deren politischen, gewerkschaftlichen, sozialen Strukturen verbunden sind – all das wird unerheblich, wenn Gewalt per se als die Ursache allen Übels betrachtet wird.

Die These, dass „Gewalt nur Gewalt erzeuge“, ist allenfalls im ersten Moment plausibel.

Klassengesellschaft

In Wirklichkeit verstellt sie jedoch den Blick auf deren gesellschaftliche Ursachen. Sie unterstellt, dass Gewalt von einzelnen Individuen erzeugt und daher auch durch die Einnahme einer bestimmten Haltung durch eine möglichst große Zahl einzelner, z. B. durch „bessere Erziehung“ und Aufklärung beendet, werden könne. Strukturelle, in den gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschriebene Gewalt, die unabhängig von der individuellen Einstellung existiert und die Gesellschaft prägt, gerät so aus dem Blick. Dabei beruht unsere gesamte, kapitalistische Gesellschaftsordnung auf der Ausbeutung der Klasse der LohnarbeiterInnen. Zur Verteidigung und Absicherung dieses Verhältnisses braucht es wie zur Durchsetzung jeder damit verwobenen Form gesellschaftlicher Unterdrückung (z. B. der von Frauen, LGBTIA*-Menschen, der Jugend, von nationaler wie rassistischer Unterdrückung) immer auch Gewalt. Diese nimmt auch „private“ Formen der Diskriminierung oder gar physischer Angriffe an. Vor allem tritt sie uns als verselbstständigte Institutionen, als Staats- und Repressionsapparat, gegenüber.

Nicht die Gewalt hat Ausbeutung und Unterdrückung geschaffen, es sind vielmehr die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse, die zu ihrer Reproduktion und Verteidigung auch Gewalt erfordern. Historisch geht daher Entstehung der Klassengesellschaft wie auch der Frauenunterdrückung mit der Bildung des Staates einher. Die Wandlung der Staatsform (z. B. von der feudalen zur bürgerlichen) spiegelt dabei grundlegende Veränderungen der Klassenverhältnisse wider.

Da in der menschlichen Geschichte die Herrschenden nie freiwillig ihrer ökonomisch, gesellschaftlich und politisch privilegierten Stellung entsagt haben, müssen die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Kampf gegen sie notwendigerweise auch deren Gewaltmonopol in Frage stellen. Sie müssen selbst Formen der Selbstverteidigung und vom Staat unabhängige Organisationen schaffen, die in gesellschaftlichen Krisensituationen zu Instrumenten für den revolutionären Sturz und die Errichtung der Macht der vormals Ausgebeuteten werden können. Ansonsten sind diese bis ans Ende der Geschichte zu einer Existenz als Unterdrückte, als LohnsklavInnen, verdammt.

Zweifellos trägt die Gewalt der Unterdrückten bei jeder großen gesellschaftlichen und politischen Umwälzung auch exzessive Züge einer Abrechnung mit besonders brutalen UnterdrückerInnen. Dies ist jedoch ein unvermeidlicher Aspekt aller Revolutionen, aller fortschrittlichen Umbrüche der Geschichte. Wer diese gänzlich ausschließen will, muss sich letztlich gegen die Umwälzung der Verhältnisse selbst wenden.

Der Pazifismus, die Doktrin des allseitigen „Gewaltverzichts“, erweist sich angesichts der Gewalt der Verhältnisse und des Aufstandes der Unterdrückten als leere Floskel. Sie muss entweder verworfen werden – oder aber sie endet bei der Verteidigung des Bestehenden, indem die Gewalt der Unterdrückten mit jener der UnterdrückerInnen gleichgesetzt wird.

Staat und Gewaltmonopol

Da die Gewaltmittel der Gesellschaft im Kapitalismus ohnedies im bürgerlichen Staat (Polizei, Militär, Geheimdienste, Justiz, Gefängnisse …) konzentriert und monopolisiert sind, erscheint die Selbstverteidigung der Unterdrückten oder deren gewaltsames Aufbegehren (Aufstand, Revolte, Revolution) in der bürgerlichen Ideologie als zusätzliche Gewalt, nicht als Mittel zur Beschränkung oder Überwindung der Gewalt der UnterdrückerInnen.

Das staatliche Gewaltmonopol wird als „natürlich“, „zivilisierend“ verklärt und als scheinbar über den gesellschaftlichen Konflikten stehende, „neutrale“ Kraft ideologisch gerechtfertigt. Daher tendieren PazifistInnen und „GewaltgegnerInnen“ im Zweifelsfall dazu, diese für das geringere Übel zu halten. In ihrer Vorstellung (aber auch in der von Liberalen und ReformistInnen) erscheint die Konzentration der Gewaltmittel im bürgerlichen Staat nicht als Mittel zur Herrschaftssicherung einer Minderheit über die Mehrheit, sondern als Mittel zur „Befriedung“ der Gesellschaft, zur Beschränkung legaler, gesellschaftlich sanktionierter Gewaltanwendung auf eine Gruppe eigens dazu legitimierter und spezialisierter Menschen.

Dieser Schein wird durch das für den Kapitalismus grundlegende Auseinanderfallen von Politik und Ökonomie, von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zusätzlich befestigt. Das Ausbeutungsverhältnis erscheint notwendigerweise als Vertragsverhältnis freier WarenbesitzerInnen, von KäuferIn und VerkäuferInnen von Arbeitskraft. Die Menschen treten einander nicht nur auf dem Arbeitsmarkt als formal gleiche gegenüber, sondern auch als gleiche Rechtspersonen, als BürgerInnen im öffentlichen Leben. Vor dem Gesetz erscheinen ArbeiterInnen und KapitalistInnen als gleich. Der Staat, der auch die allgemeine Reproduktion dieses Rechtsverhältnisses sichern muss, scheint also über den Klassen zu stehen.

Wenn in der bürgerlichen Ideologie – und somit auch in ihren pazifistischen und reformistischen Spielarten – der Klassencharakter des Staats verschwindet, so beruht dies nicht auf einer bewussten Täuschung, sondern dieser Schein wird durch die kapitalistischen Verhältnisse selbst hervorgebracht.

Auf diesem falschen Verständnis des Staates beruht aber auch die Position von vielen PazifistInnen und ReformistInnen, dass der Aufbau von Selbstverteidigungsorganen der ArbeiterInnenklasse, der MigrantInnen und Geflüchteten selbst im Kampf gegen die Nazis abzulehnen wäre. Durch den Aufbau von Selbstschutzeinheiten würden ihrer Logik zufolge noch mehr Menschen als die legal Befugten (Polizei, …) „militarisiert“. Damit würde die Gewalt nur zunehmen. Sofern sie sich nicht auf rein moralische Phrasen wie die Aufforderung zum „Gewaltverzicht“ aller zurückziehen, müssen sie nach dem Staat im Kampf gegen die Nazis rufen. Dessen staatliches Gewaltmonopol müsse wieder gefestigt und die Sicherheitskräfte müssten auf die „Demokratie“ verpflichtet werden, um so sicherzustellen, dass nicht noch mehr Menschen anfangen, die „Ordnung“ oder ihre eigenen Interessen auch mit Mitteln der Selbstverteidigung, also „gewaltsam“, durchzusetzen. Wenn schon die Gesellschaft nicht als Ganze friedlich sein kann, so die Logik, soll die legalisierte Gewalttätigkeit auf einzelne spezialisierte Personen, eben den Staatsapparat, beschränkt bleiben.

In Wirklichkeit ist das staatliche Gewaltmonopol (und zwar nicht nur die Polizei, die unmittelbaren Repressionsorgane, sondern auch Gerichte etc.) eine Fessel nicht nur für Linke, sondern auch für die ArbeiterInnenbewegung. So stellt jeder Streik, der über eine ritualisierte Form hinausgeht, auch die Frage nach der Verteidigung gegen Streikbruch. Gegen StreikbrecherInnen, die sich durch Worte allein nicht überzeugen lassen, bedarf es des Zwangs. Sie müssen an der Aufnahme der Arbeit gehindert werden. Die Verteidigung eines Arbeitskampfes gegen Streikbruch, Werkschutz, Polizei erfordert die Bildung von Streikposten, von „Selbstschutz“. Ab einer bestimmten Stufe der Eskalation – z. B. wenn FaschistInnen drohen, einen Streik oder eine Besetzung anzugreifen – stellt sich auch die Frage der Bewaffnung solcher Streikposten, die sich im Zuge der Auseinandersetzung zu einer ArbeiterInnenmiliz entwickeln können.

Wenn die Lohnabhängigen nicht in der Lage sind, auf drohende Gewalt von Rechten oder des Staates adäquat zu antworten, so sind sie zum Rückzug gezwungen. Das hatten wir z. B. bei den großen Streiks und Besetzungen der Raffinerien unter Sarkozy in Frankreich gesehen. Diese wurden besiegt, indem der damalige Präsident mit dem Ausnahmezustand und dem Einsatz des Militärs drohte. Die GewerkschaftsführerInnen und die Klasse insgesamt waren darauf nicht vorbereitet. Sie brachen ihre Aktionen ab. Um in dieser Situation dem Angriff der Regierung zu begegnen, hätten sie selbst den Konflikt weiter zuspitzen, also zum Generalstreik und zur Bildung von Selbstverteidigungsmilizen aufrufen müssen. Sie hätten das mit einer Agitation unter den SoldatInnen verbinden müssen, eigene Rätestrukturen zu bilden und den Einsatz gegen die Streikenden zu verweigern. Ein solcher Kurs wäre jedoch auf eine revolutionäre Zuspitzung hinausgelaufen, die die GewerkschaftsführerInnen vermeiden wollten. Stattdessen zogen sie die Niederlage vor. Die Klasse selbst hatte keine alternative politische Kraft hervorgebracht, die in dieser kritischen Lage die bestehende Führung hätte ersetzen können, da sie selbst auf die Konfrontation nicht vorbereitet wurde – und zwar auch nicht von den linken KritikerInnen der Bürokratie.

In der bürgerlichen Gesellschaft entscheidet, wie Marx im Kapital bei der Analyse des Kampfes um den Arbeitslohn herausarbeitet, zwischen widerstreitenden Rechtsansprüchen letztlich – die Gewalt. So war es auch in Frankreich. Wer daher „prinzipiellen“ Gewaltverzicht predigt, der schlägt der ausgebeuteten Klasse letztlich den Verzicht auf die Verteidigung ihrer Interessen bei allen wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen vor. Im Kampf gegen den Faschismus ist dies jedoch besonders fatal.

Faschismus, Staat und Gewalt

Der Faschismus und die gewalttätigen RassistInnen, die MigrantInnen, Unterkünfte, SupporterInnen, linke Strukturen angreifen, verfolgen mit dieser Gewalttätigkeit einen politischen Zweck. Sie wollen die Organisationen ihrer FeindInnen vernichten, zum Teil diese selbst (MigrantInnen, MuslimInnen, Linke) – und sie werden sich davon sicher nicht durch deren „Gewaltverzicht“ abhalten lassen. Der Faschismus organisiert für seine Ziele nicht nur besonders brutale, barbarisierte Menschen. Er präsentiert sich als besonders „radikal“, um dem KleinbürgerInnentum, dem Lumpenproletariat und politisch rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse das Gefühl der Stärke zu vermitteln. So treiben Nazis Menschen durch die Straße und terrorisieren sie auch, um so ihre AnhängerInnen zu binden. Die Verletzung, ja Tötung des Feindes wird zum Beleg der Überlegenheit in den Augen ihres Umfeldes, des Milieus, das der Faschismus ultra-reaktionär organisiert.

Daher müssen wir den Nazis und dem von ihnen organisierten Umfeld auch anders begegnen als „normalen“ reaktionären Kräften. Das grundlegende Ziel des Faschismus ist die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung, die Ausschaltung aller Elemente der proletarischen Demokratie und die Reorganisation der Gesellschaft nach dem Modell der „Volksgemeinschaft“. Die faschistische Diktatur, ist sie einmal verwirklicht, entpuppt sich zwar von Beginn an nicht als Herrschaft des zum Volk stilisierten Kleinbürgertums, sondern als jene des Finanzkapitals – aber sie ist zugleich eine Herrschaft, die durch den erfolgreichen Terror gegen die ArbeiterInnenklasse, MigrantInnen, JüdInnen, ja selbst bürgerlich-demokratische Kräfte errichtet wurde.

Bis zu einem gewissen Grad durchbricht auch die reaktionäre Gewalt des Faschismus und militanter RassistInnen das staatliche Gewaltmonopol. Daher brechen Konflikte über den Umgang mit dem Faschismus oder auch mit rechts-populistischen Gruppierungen wie der AfD sowohl unter den bürgerlichen Parteien wie in der herrschenden Klasse selbst auf. Ein Teil möchte auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – also einer kapitalistischen Krise und verschärfter Konkurrenz – an den etablierten Formen der Herrschaftsausübung (parlamentarische Demokratie, Sozialpartnerschaft) festhalten, da diese über Jahre oder Jahrzehnte die ArbeiterInnenklasse gut integrierten, den sozialen Frieden wahrten, die Profite und die imperialistischen Gesamtinteressen sicherten.

Doch die Krisenhaftigkeit des Systems stellt in vielfacher Hinsicht auch diese „traditionelle“ Form der Herrschaft in Frage. Schon der Neo-Liberalismus hat sie über Jahre unterminiert. Ab einem bestimmten Punkt sehen sich auch größere Teile der herrschenden Klasse vor die Notwendigkeit gestellt, die gesellschaftliche und politische Ordnung neu zu organisieren. Dies nimmt aktuell die Form einer scheinbar außerhalb der bürgerlichen „Elite“ stehenden, kleinbürgerlich-populistischen Bewegung und auch faschistischer Kräfte an. Diese sind keineswegs bloß gedungene LakaiInnen des Großkapitals. Bis zu einem gewissen Grad braucht der Populismus wie auch der Faschismus einen Bewegungscharakter, der sich nationalistisch, rassistisch oder gar völkisch gegen MigrantInnen, die „Gutmenschen“ aus reformistischer ArbeiterInnenschaft, Liberalen und Grünen richtet wie auch gegen die „Elite“. Während es dem Rechts-Populismus letztlich um eine Verschiebung und einen Umbau der bestehenden staatlichen Institutionen und Herrschaft Richtung Autoritarismus und Bonapartismus geht, will der Faschismus noch gründlicher „aufräumen“, gleich die gesamte ArbeiterInnenbewegung zerschlagen.

Es ist kein Zufall, dass Rassismus, Anti-Liberalismus und auch Anti-Semitismus immer wiederkehrende Ideologien dieser Bewegungen sind. Im Unterschied zu den Rechts-PopulistInnen geht es dem Faschismus jedoch nicht nur um eine Protestbewegung von „Empörten“, sondern um die Schaffung einer militanten Bewegung zur Zerschlagung der Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Gerade der gewalttätige „Bewegungscharakter“ kann sich in zugespitzten Krisen auch für die herrschende Klasse als nützlich erweisen. Der faschistische Mob, die zur einer reaktionären Kraft, zu einem Rammbock gegen die ArbeiterInnenbewegung zusammengeschweißten Nazis kommen aus denselben Wohngebieten, wo auch ArbeiterInnen, die Linken, MigrantInnen leben. Sie sind – anders als Polizei und Justiz – „normale BürgerInnen“. Sie arbeiten in Betrieben, betreiben Geschäfte – und errichten ihre Vorherrschaft über ein Wohngebiet durch Terror und Organisation „von unten“ (auch wenn sie natürlich, einmal zur Macht gekommen, diese Macht dem Monopolkapital überlassen müssen). Daher erweist sich der Faschismus an der Macht auch als eine weitaus tiefer gehende Diktatur als andere Formen.

Eine solche totalitäre Form bürgerlicher Herrschaft lässt sich ohne Gewalt und Terror nicht errichten. Der Faschismus (oder die Bedrohung, die er bedeutet) zeigt aber schlagkräftiger als alles andere, wie wenig hilfreich der Satz ist, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeuge.

Nehmen wir einmal an, wir würden auf jede Gewalt gegen den Faschismus verzichten. Was würde dann passieren? Weniger Gewalt? Wohl nicht. Die Gewalt der FaschistInnen würde uns nur ungebremst die Knochen brechen. Es bleiben also zwei Möglichkeiten. Entweder wir nehmen mehr und mehr Gewalt einfach hin – oder wir appellieren an eine andere Institution, die den Faschismus scheinbar aufhalten kann: den bürgerlichen Staat. Dumm nur, dass dieser selbst in Zeiten der Krise mehr und mehr zu autoritären Formen greift, dass die bürgerliche Politik selbst dem Faschismus, Rassismus und Rechts-Populismus einen Nährboden liefert.

Verzichten die Linken und die ArbeiterInnenbewegung im Kampf gegen die Nazis auf organisierte Selbstverteidigung, dann bedeutet das, dass sie selbst entweder alle zu hoffnungsfrohen ChristInnen der ersten Stunde mutieren müssen, die dem Feind, nachdem er sie auf die linke Wange geschlagen hat, auch die rechte hinhalten – oder sie setzen auf die Polizei, die Geheimdienste, die bürgerlichen Parlamente und Regierungen im Kampf gegen rechts. Das heißt aber, sie müssten dann für eine Stärkung des repressiven Apparates eintreten, der gerade dabei ist, für die Interessen des deutschen Imperialismus aufzurüsten, das Mittelmeer zum Massengrab zu machen und Geflüchtete in Länder wie Afghanistan abzuschieben. Sie müssten also selbst der Bourgeoisie jene Waffen schmieden helfen, die sie morgen (oder schon heute) gegen Streiks, antirassistische Aktionen, gegen die BesetzerInnen im Hambacher Forst, gegen linke Demonstrationen einsetzt.

Der Appell an den bürgerlichen Staat und seine Stärkung im Kampf gegen den Faschismus erweist sich als doppelt falsch. Erstens unterstellt er dem bürgerlichen Staat wider eigene Erfahrung zu, ein verlässlicher Verbündeter im Kampf gegen rechts zu sein oder sein zu können. Dabei wird die historische Erfahrung ausgeblendet, dass die herrschende Klasse selbst in Krisensituationen auf den Faschismus zurückgreift, dass sie genötigt sein kann, ihn als letztes Mittel zu ihrer Herrschaftssicherung zu nutzen – und ihn daher in Reserve hält.

Zweitens bedeutet das falsche Vertrauen in den bürgerlichen Staat auch, dass sich die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in einen Zustand gesellschaftlicher Ohnmacht begeben und in diesem verharren. Während die Rechten trotz manchmal härterer, zumeist ohnedies verhaltener staatlicher Repression weiter ihre Bewegung aufbauen, ihre AnhängerInnen im Kampf auf der Straße, in der reaktionären Mobilisierung schulen und so deren Moral und Zuversicht heben, überlässt die Linke dem bürgerlichen Staat das Handeln. Sie verzichtet auf den Aufbau eigener Strukturen. Indem sie die Kampfmoral und das Selbstbewusstsein der eigenen UnterstützerInnen nicht heben kann, verstärkt sie auch die Passivität, Niedergeschlagenheit und den Fatalismus der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Diese werden zu reinen Objekten, die sich entweder von den Faschos und Rechten drangsalieren lassen oder auf rassistische, mit den Rechten oft sogar noch sympathisierende Bullen hoffen müssen. Wer auf den bürgerlichen Staat bei der Verteidigung gegen faschistische Gewalt vertraut, überlässt diesem unwillkürlich nicht nur das Heft des Handelns, er macht sich selbst letztlich von der „Initiative“ der herrschenden Klasse, deren „Schutz“ abhängig.

Der Verzicht auf Strukturen, die der faschistischen und rassistischen Gewalt entgegentreten können, ermutigt nur diese Gewalt. Sie bringt eine Konzentration der Gewalt auf einer Seite (nämlich der der Barbarei und Unterdrückung) hervor, während die Gegenkräfte immer ohnmächtiger werden und sich selbst so fühlen.

Während sich rechts eine militante Naziszene bildet und ein großes, wachsendes rechts-populistisches Milieu, befindet sich die ArbeiterInnenbewegung in einem Zustand der politischen Konfusion.

Ideologische Prägung der ArbeiterInnenklasse

Das ist selbst ein Resultat ihrer Einbindung in bürgerlichen Staat und kapitalistische Verhältnisse durch Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Die Linkspartei spielt keine viel bessere Rolle. Die ArbeiterInnenklasse und insbesondere die gewerkschaftlich organisierten KollegInnen wurden über Jahrzehnte im Geiste der Staatstreue und des Legalismus politisch geprägt. Auch in der DDR erzog die SED-Diktatur die „herrschende Klasse“ im Geiste des „sozialistischen“ Gehorsams und der Staatstreue.

Daher erscheint der großen Masse der ArbeiterInnenklasse – nicht nur ihrer bürokratischen Führung – die Selbstorganisation als etwas Fremdes, auch wenn es um die Abwehr eines faschistischen und rassistischen Mobs geht. Organisierte Selbstverteidigung trifft in der ArbeiterInnenklasse – zumal unter ihren Kernschichten und besser organisierten Teilen – auf eine Reihe von Vorbehalten, die selbst die jahrzehntelange sozialdemokratische Dominanz widerspiegeln. Während viele reformistisch geprägten Lohnabhängige gegen rechte Gefahr auf den Staat und seine OrdnungshüterInnen einerseits, sozialen Ausgleich und politische Bildung andererseits setzen, entspricht der Pazifismus eher einem kleinbürgerlich-studentischen und akademischen Milieu. Rechtes Gedankengut soll am besten „wegerzogen“ werden – und im Notfall muss eben doch die Polizei einschreiten.

Diese Ideologien lähmen die ArbeiterInnenklasse, die Jugend, MigrantInnen – alle, die gegen die Nazis Widerstand leisten wollen. Um in der Klasse, sei es in Betrieben, im Stadtteil, an Schulen und Unis Selbstverteidigungsstrukturen zu schaffen und einen effektiven Kampf gegen rechts zu führen, braucht es auch eine offene Diskussion über die aktuelle Situation, die rechte Gefahr und, wie sie gestoppt werden kann.

Nur wenn sich die ArbeiterInnenklasse selbst der Lage bewusst wird, kann sie auch für den Aufbau des Notwendigen gewonnen werden. Daher gilt es unbedingt, diese Diskussion offen und kontrovers zu führen. Der Diskussion mit dem Argument auszuweichen, dass die Forderung nach Selbstverteidigungsstrukturen abschrecke, kommt einer Vogel-Strauß-Politik gleich. Wenn die reformistischen und pazifistischen Vorurteile und Ideologien in der Klasse nicht offen kritisiert und überwunden werden, wird es immer zu wenige UnterstützerInnen eines kämpferischen, proletarischen Antifaschismus geben. Die Lohnabhängigen werden nie spontan ein korrektes, marxistisches Verständnis von Staat, Faschismus und Rassismus entwickeln können. Dazu bedarf es einer politischen Auseinandersetzung. Natürlich drängt die aktuelle Lage auch mehr Lohnabhängige und Jugendlich dazu, sich die Frage der Militanz, der Gegenwehr, ihrer Mittel und ihres Verhältnisses zu einer breiteren Bewegung zu stellen. Das bedeutet aber nur, dass revolutionäre KommunistInnen darauf eine Antwort geben müssen, eine Antwort, die letztlich nur der wissenschaftliche Sozialismus zu liefern vermag.

Die „radikale“ Linke in Deutschland drückt sich vor dieser Aufgabe. Ein Teil lässt die Frage der Selbstverteidigung und der dafür notwendigen Schritte geflissentlich außen vor oder erwähnt sie allenfalls in Nebensätzen. Andere wiederum reduzieren Antifaschismus auf die möglichst militante Konfrontation durch die „radikale“ Linke. So richtig es ist, die eigene Gruppe auf diese Konfrontation vorzubereiten und, wo es möglich ist, FaschistInnen zu stellen, so geht auch diese Strömung der eigentlichen Kernaufgabe aus dem Weg: die ArbeiterInnenklasse für den Kampf zu gewinnen, denn das erfordert, vor allem diese zu überzeugen, revolutionäres Bewusstsein konkret in die Klasse zu tragen. Die AnhängerInnen dieser Auffassung tendieren dazu, Antifaschismus zur „militanten“ StellvertreterInnenpolitik einer Kleingruppenmilitanz zu reduzieren, die von der Klasse selbst weitgehend isoliert bleibt.

Klassenkampf und Selbstverteidigung

Wenn wir von organisierter Selbstverteidigung oder Selbstschutz sprechen, so geht es uns um Selbstverteidigungsorgane der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten in ihrer Gesamtheit. Kleine Gruppen, die sich selbst Fähigkeiten in diesem Bereich – im Wesentlichen zu ihrem eigenen Schutz – aneignen, können zwar in mancher Hinsicht beispielhaft und vorbildlich agieren, sie sind jedoch nicht einfach kleinere Ausgaben der organisierten Selbstverteidigung einer Klasse – weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht. Den Selbstschutz einer Kleingruppe damit zu verwechseln, würde einen schweren politischen Fehler bedeuten und kann leicht die Idee selbst diskreditieren.

Das hängt damit zusammen, dass der Aufbau von Selbstverteidigungsorganen und eines Selbstschutzes in eine umfassendere Strategie des Kampfes gegen den Faschismus und militante Formen des Rassismus eingebettet sein muss.

Um den Aufstieg des Faschismus zu stoppen, müssen dessen gesellschaftliche Ursachen und sein Klassencharakter verstanden werden. Die aktuelle Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems treibt kleinbürgerliche Schichten in Richtung Rassismus, Populismus und Faschismus – allesamt Formen der politischen Organisierung und Formierung gesellschaftlicher Verzweiflung.

Damit die ArbeiterInnenklasse den heute noch am Beginn stehenden Faschismus, vor allem aber auch das Wachstum des Rechts-Populismus stoppen kann, braucht sie nicht nur eine Taktik und Kampfmethoden, den Nazis entgegenzutreten. Es bedarf auch des gemeinsamen Kampfes zur Umkehr der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre. Eine solche Einheitsfront oder Einheitsfronten müssten sich natürlich gegen den Rassismus der AfD wie auch gegen den staatlichen Rassismus wenden, für offene Grenzen und gleiche StaatsbürgerInnenrechte eintreten. Sie müssten zugleich um elementare soziale, politische und ökonomische Forderungen gebildet werden wie z. B. nach einem Mindestlohn von 12,50 Euro netto, Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden/Woche, entschädigungslose Enteignung der großen ImmobilienspekulantInnen und Kontrolle der Mietpreise durch MieterInnen und Gewerkschaften, Aufhebung aller Einschränkungen demokratischer Rechte, …

Daher schlagen wir auch eine Aktionskonferenz zum Kampf gegen die Angriffe der Regierung und des Kapitals vor. Nur wenn es der ArbeiterInnenklasse gelingt, eine Massenbewegung in den Betrieben und auf der Straße zu organisieren, die sich dem Rechtsruck, der Prekarisierung, weiteren Kürzungen entgegenstellt und in Deutschland wie auch europaweit gemeinsam für ihre Interessen kämpft, kann sie zu einem Pol der gesellschaftlichen Hoffnung werden und auch rückständigere LohnarbeiterInnen wieder anziehen.

Nur wenn die ArbeiterInnenbewegung selbst als eine gesellschaftliche Kraft in Erscheinung tritt, die für ihre eigenen Interessen kämpft, kann sie attraktiv für die rückständigeren und halb-proletarischen Teile der Klasse oder die unteren Schichten des KleinbürgerInnentums werden.

Eine solche Bewegung muss internationalistisch und anti-rassistisch sein. Sie muss Flüchtlinge, MigrantInnen als Teil ihrer Klasse begreifen und daher gegen jede staatlich kontrollierte, an den Verwertungsinteressen des Kapitals orientierte „gesteuerte“ Migration eintreten. Der Kampf für offene Grenzen, gegen alle Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen muss mit dem Kampf um gleiche Rechte – Arbeit, Wohnraum usw. – verbunden werden. Nur so kann die Einheit unserer Klasse hergestellt werden.

Internationalismus bedeutet, dass die Klasse den Kampf nicht auf eine nationale Ebene beschränkt, sondern europaweit, global führt. Anti-imperialistische Solidarität, Unterstützung von Befreiungsbewegungen und von ArbeiterInnenkämpfen in den vom deutschen Imperialismus ausgebeuteten Ländern sind unverzichtbare Bestandteile einer solchen Ausrichtung.

Als einen ersten Schritt bedeutet es, die unmittelbaren Schritte zum Selbstschutz, die Geflüchtete oder MigrantInnen gegen Abschiebungen, rassistische und faschistische Angriffe selbst ergreifen oder ergriffen haben, zu unterstützen und politisch zu verteidigen. So haben wir es mit elementaren Formen der Selbstverteidigung zu tun, wenn Flüchtlinge in Unterkünften oder Lagern eine Abschiebung durch den gemeinsamen Widerstand (in welcher Form auch immer) zu verhindern versuchen oder wenn sie sich kollektiv gegen Übergriffe wehren und die angreifenden RassistInnen oder FaschistInnen mit welchen Mitteln auch immer in die Flucht schlagen. Der bürgerlich-demokratische Staat, seine Polizei und Gerichte treten hier den Unterdrückten noch einmal als Gegner gegenüber, indem ihnen das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen wird. Daher schließt der Kampf für „Selbstschutz“ auch den gegen dessen Kriminalisierung und für die Unterstützung der unmittelbar Gefährdeten ein – was natürlich auch linke Zentren, Gewerkschaftshäuser und andere von FaschistInnen bedrohte Räume und Personen umfasst.

Entscheidend ist dabei, dass die Flüchtlinge und MigrantInnen nicht bloß als zu schützende Opfer, sondern vor allem als Subjekte gestärkt und unterstützt werden.

Zweifellos entspricht das heute nur der Vorstellung einer kleinen Minderheit innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und der Linken. Diese werden zur Zeit politisch von verschiedenen Spielarten des Reformismus, also bürgerlicher Reformpolitik, oder des Links-Populismus dominiert. Beide hoffen auf einen „verbesserten“ bürgerlichen Staat, auf staatliche Umverteilungspolitik und Bündnisse mit „vernünftigen“ UnternehmerInnen. Eine solche Strategie ist letztlich zum Scheitern verurteilt und kann nur darin enden, dass die „Linken“ an der Regierung Politik im Interesse des Kapitals und des Imperialismus machen.

Aber um eine Einheitsfront gegen die Rechten zu schaffen, die selbst über einen Massenanhang verfügt, ist es unerlässlich, die Mitglieder und AnhängerInnen von SPD, Linkspartei, links-populistischen Bewegungen und vor allem der Gewerkschaften für diesen Kampf zu gewinnen. Ohne diese Millionen Lohnabhängiger, Jugendlicher, Linker kann eine Massenkraft gegen rechts nicht geschaffen werden. Daher schlagen wir nicht nur diesen Menschen, sondern auch ihren Organisationen vor, gemeinsam gegen die FaschistInnen und RechtspopulistInnen, gegen den staatlichen Rassismus, gegen die Angriffe der Regierung und des Kapitals zu kämpfen – ohne die Kritik an ihrer Politik zu verschweigen.

Der Aufruf zu einer antifaschistischen Einheitsfront bedeutet jedoch nicht, mit ersten Schritten zu warten, bis eine oder alle großen Organisationen zugestimmt haben. Im Gegenteil. Da die kleinen Gruppen der radikalen Linken auf sich alleine gestellt allenfalls episodisch in der Lage sein werden, Massenorganisationen zur Aktion zu zwingen, sollten sie möglichst gemeinsam für eine solche Einheitsfront eintreten und den Druck auf die Massenorganisationen und deren Führungen erhöhen. Gleichzeitig sollten sie schon jetzt den Aufbau von Aktionsbündnissen in Angriff nehmen, ohne vorzugeben, dass ein Bündnis einiger dutzend oder hundert Kleingruppen schon eine ArbeiterInneneinheitsfront oder den proletarischen Selbstschutz darstellen würde, die notwendig sind, um den Faschismus zu schlagen.

Die Propaganda für die ArbeiterInneneinheitsfront und militanten, organisierten und massenhaften – d. h. von einer Bewegung selbst getragenen – Selbstschutz nimmt daher für KommunistInnen in der aktuellen Situation eine bedeutende Rolle ein. Sie müssen und sollten sich jedoch nicht darauf beschränken, sondern auch dort, wo sie dazu fähig sind, selbst die Initiative für den Aufbau einer Einheitsfront und von Selbstschutz auf lokaler Ebene ergreifen, um ein praktisch nachvollziehbares Beispiel zu geben. In jedem Fall sollten sie ihre Vorstellung offen propagieren. Wir wollen daher kurz verdeutlichen, was wir unter Selbstverteidigungsorganen verstehen und wie diese praktisch entwickelt werden können.

Wie kann Selbstschutz aufgebaut werden?

In einer Stadt oder einem Stadtteil sollten sich linke Gruppierungen, Organisationen der Unterdrückten, die Ortsgruppen von Parteien wie „Die Linke“ oder auch die SPD, GewerkschafterInnen, Betriebsräte, Vertrauensleute auf die Errichtung gemeinsamen Selbstschutzes oder von Selbstverteidigungsstrukturen verständigen. Von besonderer Bedeutung ist es dabei, die Masse der MigrantInnen anzusprechen und einzubeziehen. Alle, die bereit sind, daran mitzuwirken, sollten sich bei Demonstrationen und Aktionen zum Schutz gegen Provokationen oder Angriffe der Rechten koordinieren und diesen gemeinsam vorbereiten. Sie sollten dabei nicht nur die eigenen GenossInnen im Auge haben, sondern auch organisierend und strukturierend auf die gesamte Aktion wirken, indem sie die TeilnehmerInnen – z. B. zur Verhinderung eines Naziaufmarsches – selbst anleiten und ihnen helfen, effektiv als Masse zu wirken.

Für Geflüchtete, MigrantInnen oder linke AktivistInnen, die von Angriffen bedroht sind oder angegriffen werden, sollte es sichere Anlaufpunkte geben – z. B. Gewerkschaftshäuser, linke Parteibüros, aber auch Schulen, Unis, Nachbarschafts- oder Jugendzentren. Bei einer stärkeren Bewegung sollten Gewerkschaften, Betriebsräte oder Vertrauensleute auch auf betrieblicher Ebene durchzusetzen versuchen, dass Betriebe und Büros auch für von Rechten Bedrohte als Rückungspunkte geöffnet werden.

Manches davon mag noch weit entfernt erscheinen, anderes (sichere Räume) könnte in den meisten Städten sehr rasch verwirklicht werden.

Zu einem organisierten Selbstschutz würde auch gehören, dass Menschen, die bedroht sind, diesen auch jederzeit kontaktieren können und dieser dann über die beteiligten Organisationen oder Telefonketten aktiviert wird.

Dabei geht es nicht darum, kleine „Spezialeinheiten“ zu schaffen, sondern eine Struktur, in der möglichst viele – Linke, MigrantInnen, Flüchtlinge, GewerkschafterInnen, SchülerInnen, Studierende, … – als Aktive in den Selbstschutz einbezogen sind, auf den sie umgekehrt auch selbst zurückgreifen können.

Der Aufbau von Selbstschutzgruppen im Stadtteil, im Betrieb, an einer Schule oder Uni bedeutet aber nicht nur die Einbindung von Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und Unterdrückten, sondern auch eine aktive Einbindung einer ganzen Belegschaft oder Schulklasse. Arbeitsstätten, aber auch Schulen oder Universitäten sollten zu Zentren des organisierten Kampfes werden, zu antifaschistischen Stützpunkten. Die Betriebe nehmen dabei eine strategische Position ein, weil so das Gewicht der ArbeiterInnenklasse im Kampf nicht nur extrem gestärkt wird, sondern der Antifaschismus ginge zugleich auch mit einer enormen Steigerung der Selbstorganisierung und des Bewusstseins der Klasse einher. Doch auch an Schulen und Unis würde dies eine enorme Veränderung bedeuten.

Versammlungen, die offen über die Notwendigkeit antifaschistischen und antirassistischen organisierten Schutzes diskutieren und diesen auf den Weg bringen, sollten möglichst während der Arbeitszeit bzw. des Schulunterrichts stattfinden und von gewählten VertreterInnen der Beschäftigten, SchülerInnen oder Studierenden geleitet werden. Solche Treffen sollten sich nicht nur auf Fragen des Schutzes beschränken, sie müssten auch die politischen Aktionen gegen Rassismus, Sozialabbau, … besprechen. Jene, die sich führend und besonders aktiv am Selbstschutz beteiligen, müssten zugleich aber auch in die gewerkschaftliche oder politische Arbeit eingebunden werden.

Selbstschutz beinhaltet natürlich auch die Ausbildung in Selbstverteidigung. Diese sollte kostenlos und unter Kontrolle der Gewerkschaften sowie anderer ArbeiterInnen-, MigrantInnen- und Frauenorganisationen durchgeführt werden. Sie sollte sich nicht nur an schon Aktive wenden, sondern möglichst viele Menschen ansprechen.

Der organisierte Selbstschutz einer Massenbewegung wird immer auch gewisse Arbeitsteilung und Spezialisierung beinhalten, also auch Menschen hervorbringen, die sich eine besondere Expertise verschafft haben. Sicher werden auch Gruppen gebildet werden müssen, die Gebäude und Versammlungen schützen oder den FaschistInnen an vorderster Front entgegentreten. Das eigentliche Ziel besteht aber darin, eine möglichst große Masse zu befähigen, sich selbst besser physisch wehren zu können und bei Aktionen als Teil eines Kollektivs zu agieren. Der „Selbstschutz“ ist eine kollektive Aufgabe aller. Damit wird auch verhindert, dass kleine, spezialisierte Einheiten ein politisches Eigenleben entfalten können, das außerhalb der politischen Kontrolle durch die Beschäftigen, die ArbeiterInnen im Stadtteil, von Gewerkschaften oder einer revolutionären Partei steht.

Neben der Gefahr des Pazifismus und des Legalismus besteht nämlich auch die, dass sich kleine „antifaschistische“ Aktivitäten verselbstständigen und den kollektiven politischen Kampf der Klasse gegen den Faschismus durch einen quasi-militärischen kleiner, möglicherweise sogar sehr gut trainierter „Kampfgruppen“ ersetzen. Diese Taktik ist gerade auch deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie die gewaltsame Konfrontation fetischisiert. Sobald der Faschismus zu einer gesellschaftlichen Kraft wird, entpuppt sie sich als vollkommen nutzlos, ja kontraproduktiv. Dann kann der Zulauf zu den Rechten nur noch gestoppt werden, wenn die militante Auseinandersetzung, der antifaschistische Selbstschutz Teil einer breiten ArbeiterInneneinheitsfront ist, die sich nicht auf die gewaltsame Konfrontation beschränkt, sondern die mit dem gemeinsamen Kampf gegen die Auswirkungen der Krise und letztlich gegen den Kapitalismus verbunden wird.

In einer solchen Situation kann die ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Faschismus zu einem Mittel werden, das der Klasse ihre Stärke vor Augen führt, ihr zeigt, dass sie in der gemeinsamen Klassenaktion auch ein Anti-Krisen-Programm in ihrem Sinne erkämpfen kann, dass die Einheitsfront auch auf andere Gebiete ausgedehnt werden kann und muss – in letzter Instanz zum Kampf für eine ArbeiterInnenregierung und zum Sturz des Kapitalismus.

Auch deshalb ist es so wichtig, dass der Selbstschutz in Betrieben und den proletarischen Wohngebieten verankert ist, weil der Aufbau einer starken antifaschistischen oder antirassistischen Einheitsfront auch die Grundlage für den Aufbau weitergehender Formen der proletarischen Selbstorganisation – in zugespitzten Situationen letztlich von Räten und Milizen – bilden kann. Und genau das wollen wir.




Politische und ökonomische Lage in Österreich: Eine rechts-konservative Melange

Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 50, Oktober 2018

Vorwort

In dem folgenden Beitrag bieten wir eine Analyse der jüngsten politisch-ökonomischen Entwicklung Österreichs. Das erscheint uns notwendig, denn mit den Nationalratswahlen am 15. Oktober 2017 ging eine bedeutende Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses einher. Die im Dezember gebildete Koalition aus ÖVP unter Sebastian Kurz und FPÖ unter Heinz-Christian Strache befindet sich in einer neoliberalen, rassistischen und antidemokratischen Offensive gegen die Rechte der ArbeiterInnenklasse. Ein korrektes Verständnis der politisch-ökonomischen Verhältnisse und der österreichischen ArbeiterInnenbewegung ist notwendig für erfolgreiche linke Strategie und Taktik. Dabei werden wir uns auf die aktuelle Lage und die Agenda der Regierung (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) beschränken müssen. Eine umfassendere Analyse der politischen Ökonomie Österreichs (1), die auch eine historische Betrachtung und eine Analyse der ArbeiterInnenklasse in Österreich einschließen muss, wird allerdings für die Zukunft notwendig sein, um ein klares Fundament für ein kommunistisches Programm in diesem Land zu legen. Denn aktuell erweist sich die Linke abseits der Sozialdemokratie organisatorisch, methodisch und programmatisch als zu schwach und zu zersplittert, um die Angriffe von Schwarz-Blau abzuwehren. Diese Feststellung soll aber nicht einen Defätismus gegenüber den herrschenden Verhältnissen bestärken, sondern die Bedeutung der Frage nach den politischen Aufgaben betonen.

Einleitung

Mit der Übernahme der schwarz-blauen Regierung in Österreich beginnt eine Phase des verschärften Klassenkampfs von oben. Alle Schichten der arbeitenden Klasse im weiteren Sinne sind von den Angriffsplänen der neuen Rechtsregierung betroffen. ArbeiterInnen und Angestellte, die übergroße Mehrheit an Frauen, MigrantInnen, Jugendlichen und PensionistInnen werden unter der neoliberalen und rassistischen Politik von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache leiden.

Was sind die zentralen Projekte dieser Regierung, was sind ihre Beweggründe und wie wird sich das auf die genannten Betroffenen auswirken? Antworten auf diese Fragen sind notwendig, denn um zielführend zu handeln (gegen die Angriffe der Regierung), muss man zuallererst verstehen. Einen Teil der Antworten gibt uns die Regierung selbst. So teilt sie uns in der Präambel des Regierungsprogramms ihre Sorgen mit:

Auch wenn Österreich grundsätzlich gut dasteht, haben wir in manchen Bereichen den Anschluss an die Spitze in Europa verloren. Wir können uns auf ein starkes Sozialsystem verlassen, das aber nicht mehr treffsicher und effizient ist. Wir haben einen guten Wirtschaftsstandort, der aber im Vergleich mit unseren Nachbarn nicht mehr wettbewerbsfähig genug ist. Und wir leben in einer freien und solidarischen Gesellschaft, die aber immer mehr herausgefordert ist durch die Verfehlungen in der Migrationspolitik in den vergangenen Jahren.“ (2)

Österreich ist gegenüber seinen Nachbarn nicht mehr wettbewerbsfähig genug, sagen sie. Im Vorwort, noch vor der Präambel, benennt die Regierung auch die „großen Herausforderungen“:

Obwohl Österreich eine der höchsten Steuer- und Abgabenquoten im internationalen Vergleich aufweist, decken unsere Staatseinnahmen nicht die Staatsausgaben, der Schuldenberg wächst jedes Jahr weiter. Wir sind Weltmeister im Regulieren und im Einschränken von Freiheit und Selbstverantwortung. Und unser Sozialsystem ist in eine Schieflage geraten, weil der Einkommensunterschied zwischen arbeitenden und nichtarbeitenden Menschen so gering ist, dass es nur noch wenige Anreize gibt zu arbeiten. Außerdem können sich viele Menschen von ihrem Lohn das Leben nicht mehr leisten und immer mehr Menschen wandern in unser Sozialsystem zu.“ (3)

In dieser Auflistung stecken schon die abzuleitenden „Reformen“, nämlich die Senkung der Abgabenquote, damit verbunden Einsparungen bei den Staatsausgaben, Abschaffung von Regulierungen, Einsparungen im Sozialsystem, Einschnitte bei der Arbeitslosenversicherung und die Ausgrenzung von MigrantInnen aus Sozialleistungen. Tatsächlich war die Senkung der Abgabenquote auf 40 % des BIP ein zentrales Thema im Wahlkampf von Sebastian Kurz und wurde auch von der FPÖ gefordert. Trotzdem ist die Regierung sehr bemüht, in den nächsten Jahren ein ausgeglichenes Budget herzustellen, und wird dabei vermutlich sogar erfolgreich sein. Auch Einsparungen im Sozialsystem, insbesondere bei den Krankenkassen, befinden sich in Umsetzung. In Bezug auf die Arbeitslosenversicherung hat die Regierung Pläne für ein System vorgelegt, das Hartz-IV in Deutschland ähnlich ist. Und was die Sozialleistungen für MigrantInnen angeht, hat die Regierung mit ihrer Reform der Mindestsicherung die Ansprüche für Asylberechtigte dramatisch gekürzt. Und das ist längt nicht alles. Doch bevor wir die Pläne und schon getätigten Maßnahmen genauer untersuchen und der Frage nachgehen, welche Auswirkungen diese auf die Verhältnisse zwischen den Klassen haben, müssen wir untersuchen, ob die Regierung denn überhaupt mit ihrer „Analyse“ recht hat.

Die wirtschaftliche Lage

Die Konjunkturentwicklung

Oberflächlich betrachtet, nämlich rein auf der Ebende der Konjunktur, scheinen die Worte und Taten der Regierung in einem Missverhältnis zur wirtschaftlichen Lage zu stehen. Immerhin wird derzeit von einer Hochkonjunktur gesprochen, die die Staatsverschuldung und die Arbeitslosigkeit zurückdränge. Trotzdem soll gespart, die Abgabenquote reduziert, das Kapital entlastet und die Ausbeutungsrate durch Verschlechterungen für Arbeitende und Arbeitslose erhöht werden.

Tatsächlich wuchs das BIP 2017 um 3,1 % während es noch 2016 nur 1,5 % waren. Die Österreichische Nationalbank (OeNB) hat im Juni 2018 ihre Prognose für das aktuelle Jahr um 0,3 Prozentpunkte ebenfalls auf 3,1 % nach oben korrigiert. Das Wirtschaftswachstum liegt sogar über dem des Euroraums mit 2,4 % im Jahr 2017 und prognostizierten 2,1 % für das Jahr 2018. (4)

Haben ÖVP und FPÖ den Aufschwung schlichtweg nicht bemerkt? Tatsächlich war schon vor dem Wahlkampf klar, dass sich die Weltwirtschaft und mit ihr auch der Euro-Raum erholte. Und schon vor der Regierungsbildung wurden die verschiedenen Wirtschaftsprognosen für Österreich kräftig angehoben, obgleich sie immer noch hinter den realen Entwicklungen zurückblieben. Aber noch im Juni 2017 prognostizierte die OeNB für jenes Jahr ein BIP-Wachstum von 2,2 % und für das Folgejahr 1,7 %. (5)

Die Frage nach der Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums ist natürlich von besonderer Bedeutung, denn davon hängen die Möglichkeiten von Zugeständnissen der UnternehmerInnen ab, die soziale Stabilität durch Zugeständnisse an die ArbeiterInnen zu sichern, worauf jede bürgerlich-demokratische Regierung letztendlich baut.

Die Österreichische Nationalbank (OeNB) erklärt die positive konjunkturelle Dynamik durch zwei wesentliche Faktoren. (6) Auf der einen Seite profitiert die österreichische Wirtschaft mit starkem Anteil des Außenhandels von der guten internationalen Konkunkturentwicklung, auf der anderen Seite von einem Investitionszyklus, der die Inlandsnachfrage bedeutend steigert. Mit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 waren die globalen Wachstumsraten rasant gefallen, von 5,6 % im Jahr 2007 auf -0,2 % im Jahr 2009. Nach einer ausgedehnten Stagnationsphase erlebte die Weltwirtschaft nun einen kleinen Wachstumsschub auf 3,8 % im Jahr 2017 und weiter auf prognostizierte 3,9 % für dieses Jahr. (7) Einen Überblick über das Weltwirtschaftswachstum bietet Abbildung 1.

Abbildung 1: Wachstumsraten des Bruttoweltproduks von der Weltwirtschaftskrise bis heute.

Besonders die Exporte konnten im Rahmen der guten internationalen Entwicklung stärker anziehen, im Jahr 2017 um reale 5,6 %, sodass sich die Ausfuhr von Gütern und Dienstleistungen gegenüber dem Vorjahr sogar verdoppelte. (8) Die Warenausfuhren erreichten Ende 2017 die stärkste Dynamik, aber schon in den ersten vier Monaten des Jahres 2018 ging der Exportanstieg zurück, wobei er auch in den nächsten Jahren über 4 % bleiben soll.

Die zweite Konkunkturstütze, der Investitionszyklus, begann im zweiten Halbjahr 2015 und dauert verhältnismäßig lange. Die Bruttoanlageinvestitionen stiegen von 1 % im Jahr 2015 auf 3,8 % im Jahr 2016 und weiter auf 4,9 % im Jahr 2017. Besonders bedeutend dafür waren die Ausrüstungsinvestitionen, das sind Investitionen z. B. in Maschinen, Geräte und Fahrzeuge. Die Zuwachsraten dafür liegen bei 1,3 % (2015), 8,6 % (2016) und 8,8 % (2017). Die OeNB schreibt, dass die Unternehmen ab Jahresmitte 2015 nach längerer Investitionszurückhaltung in den Ersatz veralteter Anlagen investierten und später in die Ausweitung ihrer Produktionskapazitäten, sodass die Auslastungen sich zu Jahresbeginn 2018 auf einem historischen Höchststand befanden. Aber dieses Jahr soll mit dem Rückgang des Wachstums der Exportnachfrage auch der Zyklus der Ausrüstungsinvestitionen zu Ende gehen.

  2017 2018 2019 2020
Wirtschaftswachstum + 3,1 % + 3,1 % + 2,1 % + 1,7 %
Arbeitslosigkeit 5,5 % 5,0 % 4,9 % 4,9 %
Unselbstständig Beschäftigte + 1,9 % + 2,2 % + 1,4 % + 1,1 %
Arbeitsvolumen + 2,3 % + 2,4 % + 1,3 % + 1,0 %
Inflation + 2,2 % + 2,2 % + 2,0 % + 1,9 %
Löhne nominal + 1,5 % + 2,6 % + 2,5 % + 2,2 %
Exporte real + 5,6 % + 4,9 % + 4,2 % + 3,9 %
Ausrüstungsinvestitionen > + 8 % + 4,2 % + 2 % + 2 %
Bruttoanlageinvestitionen gesamt + 4,9 % + 3,5 % + 2,3 % + 2,0 %
Konsum + 1,5 % + 1,6 % + 1,4 % + 1,2 %
Schuldenquote 78,4 % 74,1 % 70,6 % 67,5 %
Tabelle 1: Ausgewählte Daten der Wirtschaftsprognose der Österreichischen Nationalbank.

Angesichts der Bedeutung der Investitionen für das Wirtschaftswachstum kann in Österreich von einem zyklischen Konjunkturaufschwung nach einer längeren Stagnationsphase im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise geredet werden. Der Höhepunkt scheint schon vorüber zu sein und auch die Prognosen sprechen dafür, dass der Aufschwung nicht mehr lange andauern wird. Gemäß den Daten der OeNB wird sich das Wachstum schon nächstes Jahr auf 2,1 % abkühlen, im Folgejahr weiter auf 1,7 %. Aber auch die globale Konjunktur hat laut OeNB bereits ihren Höhepunkt erlebt. Außerdem sind die Risiken für das Weltwirtschaftswachstum weiter gestiegen, insbesondere durch die protektionistischen Maßnahmen der USA, Chinas, der EU und Kanadas. Unlängst warnte die Weltbank vor einer Zuspitzung der Handelsstreitigkeiten, denn dadurch drohe ein Einbruch des Welthandels wie in der Krise 2008. (9) Zusätzlich zu dieser Bedrohung geht man auch von einem zyklischen Charakter von Krisen im Abstand von ca. 10 Jahren aus.

Der Wirtschaftsstandort

Viele bürgerliche „ExpertInnen“ (so z. B. aus der Wirtschaftskammer) sahen die Wirtschaft in den letzten Jahren im europäischen Vergleich zurückfallen. ÖVP und FPÖ haben diese Ängste aufgegriffen, damit Wahlkampf getrieben und in ihrem Regierungsprogramm darüber argumentiert. Wer sich bei den Nationalratswahlen das Wahlprogramm der „Liste Kurz“ gegönnt hat, dem ist unweigerlich eine dementsprechende kleine Feinheit aufgefallen. „Der neue Weg“, wie das Programm genannt wird, steht durchgängig unter dem Motto „Zurück an die Spitze“. Aufschluss über den Slogan findet man im zweiten Programmteil „Aufbruch & Wohlstand“:

„( … ) Österreich hat in den letzten Jahren einiges verschlafen. Während Deutschland und andere Länder kräftig gewachsen und an uns vorbeigezogen sind, hat man davon bei uns nur wenig mitbekommen. Auch wenn sich in den letzten Monaten erste Anzeichen einer Verbesserung gezeigt haben, so sind wir in den strukturellen Fragen immer noch weit von der Position entfernt, die wir schon einmal innehatten. Im bekannten Standort-Ranking der renommierten Hochschule IMD (Internationales Institut für Management-Entwicklung) belegen wir im Jahr 2017 nur mehr den 25. Platz. 2007 waren wir noch auf Platz 11. Im Bereich der Fiskalpolitik sind wir im Jahr 2017 sogar auf Platz 61 von 63 Staaten abgerutscht. Unser Ziel muss sein, es wieder an die Spitze zu schaffen – und da liegt noch ein langer Weg vor uns.“ (10)

Wie steht es bei der Koalitionspartnerin, der FPÖ? Im August 2017 hatten die Freiheitlichen ein neues Wirtschaftsprogramm präsentiert. Schon im ersten Satz des Vorworts von Heinz-Christian Strache erkennt man die Übereinstimmung mit Sebastian Kurz: „Ohne jeden Zweifel muss in Österreich viel getan werden, um unser Land wieder auf die Überholspur zu bringen.“ (11) Aufschlussreich ist Kapitel 1 „Zuerst: Die traurige Bilanz“:

Etwas mehr als zwölf Jahre später (gegenüber 2005, Anm. d. A.) hat Österreich nicht nur seinen gesamten Vorsprung eingebüßt, es ist in allen wichtigen internationalen Rankings weit zurückgefallen, also wirklich ‚abgesandelt‘. ( … ) Mit wenigen Ausnahmen lag Österreich in den vergangenen 10 Jahren nicht nur hinter Deutschland, sondern auch hinter dem Durchschnitt der OECD-Mitglieder, also den 35 bedeutendsten Industriestaaten der Welt. Und auch wenn nun, im Sommer 2017, sich Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit vorübergehend besser entwickeln, ist leider kein Grund zur Euphorie gegeben. Denn die weitere Entwicklung der wichtigsten Wirtschaftsdaten kann bestenfalls als schleppend bezeichnet werden. ( … ) Österreich hat einen beispiellosen Abstieg hinter sich. ( … ) Es wird Zeit, Österreich wieder zur Spitze (!) zu führen.“

Auch die FPÖ zitiert das „International Institute for Management Development“ (IMD), eine private Wirtschaftshochschule in der Schweiz zur Herausbildung von Unternehmensführungskräften, die eben auch Untersuchungen zur Wettbewerbsfähigkeit anstellt. Eine Analyse darüber, was denn die Wettbewerbsprobleme wirklich seien, wird in den Publikationen nicht präsentiert, stattdessen werden ausgewählte Faktoren wie „Education“ oder „Public Finance“ rangiert. Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf die benannten Herausforderungen für das Jahr 2018 (in dem Österreich nebenbei sieben Plätze auf Rang 18 vorgerückt ist) zu werfen. Nicht weil sich Kurz und Strache davon offenbar beeindrucken lassen, sondern weil diese zeigen, wo aus Sicht dieser bürgerlichen Intellektuellen der Schuh drückt: „Early retirement age to be adressed“, „Administrative reform and fiscal consolidation must also be pursued at provincial (Länder) and local level (Gemeinden)“, „Shortage of qualified labour to be adressed“, „Reduce tax burden (for companies)“ und „Digital economy to be developed“. (12) Besonders drastisch stuft das IMD die Steuerpolitik („Tax policy“) auf Platz 60 von 63 ein.

Ausführlicher und somit für ein Gesamtbild aufschlussreicher ist das Wettbewerbsranking des Weltwirtschaftsforums, das ebenfalls als prokapitalistischer Thinktank die Bedürfnisse des Kapitals artikuliert, indem es mehrheitlich auf der Grundlage von Meinungsforschung Faktoren bildet, die die Produktivität eines Landes charakterisieren. Für die Jahre 2017–2018 wird Österreich auf Rang 18 von 137 platziert (wobei sich hier die Schlüsselindikatoren auf das Jahr 2016 beziehen). (13) Interessant ist es, die Veränderungen in den letzten 12 Jahren zu betrachten (siehe Abbildung 2). Dabei kann man erkennen, dass Österreich in den letzten Jahren vor der Krise aufgeholt hat und dann in der Krise (ab 2008) zurückgefallen ist, insbesondere in den Jahren 2013–2015, um 2017 im internationalen Vergleich wieder auf dem Niveau von 2006 zu landen.

Interessant sind auch die zahlreichen Bewertungsfaktoren, denn sie veranschaulichen die konkreteren Bedürfnisse der KapitalistInnen, in deren Kontext das Regierungsprogramm klarer zu verstehen ist. (14) So erhält Österreich beispielsweise bei „Nature of competitive advantage“ eine Spitzenbewertung (6,3 auf einer Skala von 1–7), was bedeuten soll, dass der Wettbewerbsvorteil österreichischer Unternehmen am internationalen Markt primär auf besonderen Produkten und Prozessen beruht, im Gegensatz zu niedrigen Arbeits- oder Ressourcenkosten. Nur Japan und die Schweiz werden hier besser bewertet. Ähnlich ist es beim Faktor „Production process sophistication“, (6,1 auf einer Skala von 1–7), was bedeutet, dass die Produktionsprozesse hochtechnologisiert sind statt arbeitskräftelastig. Der ganze Bereich „Innovation“ (z. B. Innovationskapazität, die Qualität der Forschungsinstitutionen, Unternehmensausgaben für Forschung und Entwicklung) ist gut bewertet, wenn auch nicht spitzenmäßig. Relativ gut schneidet Österreich auch in den Bereichen „Infrastructure“, „Higher education and training“ und „Technological readiness“ (Technologische Anpassungsfähigkeit zur Produktivitätssteigerung) ab. Besonders schlecht bewertet ist hingegen der Bereich „Flexibilität“ (Rang 103). Folgende Faktoren spielen hier besonders hinein: „Flexibility of wage determination“, soll heißen die Löhne sind stark durch einen zentalisierten Verhandlungsprozess bestimmt statt durch einen individuellen; „Hiring and firing practices“, soll heißen die Anstellungs- und Entlassungsmöglichkeiten sind den Unternehmen nicht flexibel genug; „Effect of taxation on incentives to work“, soll heißen Steuern und Sozialabgaben mindern den Arbeitsanreiz (wohl besser die Motivation der Unternehmen, Arbeitskräfte einzustellen).

Das Regierungsprogramm

Wie wir sehen werden, ist das Regierungsprogramm im Großen und Ganzen ein Umverteilungsprogramm von unten nach oben, insbesondere von der ArbeiterInnenklasse zur KapitalistInnenklasse. Dass die konjunkturelle Entwicklung besser ist als im Wahlkampf geahnt und dass Österreich in den Standortrankings wieder Plätze gutmacht, veranlasst die neue Regierung natürlich keineswegs dazu, ihre im Regierungsprogramm geplanten Maßnahmen zu überdenken. Aus der Perspektive des Kapitals bedeutet das Regierungsprogramm vor dem Hintergrund der positiveren wirtschaftlichen Entwicklungen schlichtweg eine zukünftig bessere Position als erwartet. Aber die Bürgerlichen, ihre PolitikerInnen und WirtschaftswissenschaftlerInnen sind sich auch darüber bewusst, dass der Aufschwung bald sein Ende hat, dass das Weltwirtschaftswachstum gefährdet ist und sich die Konkurrenz auf dem Weltmarkt verschärft. Es geht der österreichischen Bourgeoisie also vor allem darum, gestärkt in die zukünftigen Auseinandersetzungen zu gehen. Deshalb das ständige Gerede vom Standort, der nun durch ein Bundesverfassungsgesetz zur Staatszielbestimmung erhoben werden soll (was nebenbei schon von der rot-schwarzen Koalition begonnen wurde).

Wie in der Einleitung argumentiert ist die Stärkung des Wirtschaftstandorts das zentrale Projekt der schwarz-blauen Regierung. In der Präambel des Regierungsprogramms wird das so formuliert:

Mit unserer Politik fördern wir unternehmerische Initiative, belohnen die Fleißigen und sichern einen sozialen Ausgleich unter allen Gesellschaftsschichten. Wir setzen uns als Ziel, die Steuer- und Abgabenlast nachhaltig zu senken und mittelfristig keine neuen Schulden mehr zu machen. Wir schützen unseren Sozialstaat vor Missbrauch und werden die illegale Migration nach Österreich stoppen.“ (15)

 Steuersenkungen

Die Senkung der Steuer- und Abgabenlast war schon ein zentrales Thema von ÖVP und FPÖ im Nationalratswahlkampf. Kurz und Strache wollen die Abgabenquote, d. h. den Anteil von Steuern und Sozialabgaben am BIP, auf 40 % senken. Im Jahr 2016 lag die Abgabenquote in Österreich bei 42,7 % und damit um einiges höher als der OECD-Durchschnitt von 34,3 %. (16) Allerdings muss man die Aussagekraft des internationalen Vergleichs dieser Zahlen relativieren, denn es stellt sich zusätzlich die Frage, was an Förderungen und Sozialausgaben in Form von Geldern und Leistungen wieder an die Bevölkerung zurückgeht. Mit den Einnahmen aus Steuern und Abgaben werden die Ausgaben finanziert, die zu einem großen Teil für das staatliche Sozialsystem bestimmt sind. Eine Kürzung der Abgabenquote bedeutet dementsprechend weniger Einnahmen für den Staat und damit Ausgabenkürzungen und mitunter weniger Sozialausgaben.

Ein „Prestigeprojekt“ der Regierung ist im Rahmen der Steuerentlastungen der „Familienbonus plus“, der auch schon am 4. Juli 2018 im Nationalrat gegen die Stimmen von SPÖ und Liste Pilz beschlossen wurde und mit 1. Jänner 2019 in Kraft tritt. (17) Die Reform sieht für die Einkommenssteuer einen Absetzbetrag von jährlich bis zu 1.500 Euro pro Kind unter 18 Jahren vor. Der Familienbonus ist vor allem eine Entlastungsmaßnahme für mittlere und hohe Einkommen. Personen mit Einkommen unter 1.260 Euro profitieren überhaupt nicht, weil sie keine Einkommenssteuer bezahlen (das ist ein Drittel aller unselbstständig Beschäftigten). Das gilt ebenso für Arbeitslose und EmpfängerInnen der Mindestsicherung. Damit der Bonus im vollen Ausmaß beansprucht werden kann, muss man mehr als 1.700 Euro verdienen. Veranschaulicht man das mit dem jährlichen Bruttomedianeinkommen unselbstständig Erwerbstätiger, errechnet sich für die Werte von 2016 eine jährliche Einkommenssteuerleistung von 1.866 Euro. Somit könnte für eine unselbstständige Person mit diesem Einkommen (hätte sie ein Kind) fast die gesamte Einkommenssteuer wegfallen. In diesem Fall wäre das also eine durchaus beträchtliche Entlastung, von der eben auch viele proletarische Familien profitieren können.

Brutto-Einkommen 1 Kind 2 Kinder 3 Kinder
> 3.000 Euro 1.500 Euro 3.000 Euro 4.500 Euro
2.300 Euro 1.500 Euro 3.000 Euro 3.292 Euro
2.000 Euro 1.500 Euro 2.261 Euro 2.261 Euro
1.750 Euro 1.500 Euro 1.606 Euro 1.606 Euro
1.500 Euro 1.022 Euro 1.022 Euro 1.022 Euro
1.200 Euro 258 Euro 258 Euro 258 Euro
Tabelle 2: Steuerentlastung durch den Familienbonus plus nach Einkomen und Anzahl an Kindern.

Wie ist die Reform aber gesamtgesellschaftlich zu bewerten? Laut Finanzminister Hartwig Löger soll die Maßnahme jenen Personen zugutekommen, die den Sozialstaat aufrechterhielten. (18) Das klingt im ersten Moment natürlich gerecht: Wer mehr an den Staat zahlt, hat eher eine Entlastung verdient. Tatsächlich gibt es nur einen geringen relativen Unterschied der gesamten Abgabenbelastung über die Höhe des Einkommens. (19) Angesichts dieser Tatsache und der Tatsache, dass der Familienbonus Geringverdienende nicht betrifft, dagegen Gutverdienende mit vielen Kindern am meisten profitieren, hat die Reform einen Umverteilungseffekt von unten nach oben.

Weiters geplant im Regierungsprogramm ist die Senkung der Körperschaftssteuer (KöSt), die gewerbetreibende juristische Personen und damit vor allem Unternehmen entrichten müssen. Mit der KöSt werden die Unternehmensgewinne besteuert, derzeit mit 25 %. Werden diese Gewinne an natürliche Personen, z. B. AktionärInnen, ausgeschüttet, wird zusätzlich die Kapitalertragssteuer mit 27,5 % fällig. Im Regierungsprogramm ist von der Senkung der KöSt auf nicht entnommene Gewinne die Rede „sowie im Hinblick auf die Mindest-KöSt“ (die unabhängig vom Unternehmensgewinn entrichtet wird). Wirtschaftsministerin Margarete Schrammböck hat das Vorhaben im März konkretisiert und zwar mit einer Halbierung der Körperschaftssteuer auf 12,5 % ab dem Jahr 2020. (20) Laut eigener Berechnung der Industriellenvereinigung (IV) entfallen bei der Halbierung jährlich zwei Milliarden Euro an Einnahmen für den Staat.

In eine ähnliche Richtung geht das Vorhaben einer „deutlichen“ Senkung der Lohnnebenkosten. Hierbei wird beteuert „ohne Leistungsreduktion“. Als Beispiele für Abstriche werden der Dienstgeberbeitrag und die Unfallversicherung genannt. Bei ersterem ist wohl der Dienstgeberbeitrag zum Familienlastenausgleichsfonds (FLAF) gemeint, aus dem beispielsweise die Familienbeihilfe bezahlt wird. Bei letzerer will man den Beitrag von 1,3 % auf 0,8 % der Löhne reduzieren und damit 500 Millionen Euro einsparen, was finanziell nichts anderes als die Auflösung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) bedeutet. (21) Wenn der Staat nicht mit Budgetmitteln diese entfallenden Gelder ersetzt, wovon bisher nie die Rede war, dann bedeutet die Senkung der Lohnnebenkosten im Allgemeinen den Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften.

Abseits von weiteren Abgabenkürzungen wie vermehrten Abschreibungsmöglichkeiten bei Investitionen von Unternehmen oder der Senkung der Mehrwertsteuer für Übernachtungen ist ein zentrales Versprechen der Regierung eine Reform der Einkommenssteuer im Jahr 2020 „zur Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen“ mit Abschaffung der kalten Progression, „aber mit dem Ziel, den Unternehmensstandort Österreich, den Wirtschaftsstandort attraktiver zu machen“. (22) Das kann eigentlich nur bedeuten, über eine Reduzierung der Einkommenssteuer den Spielraum für Lohnkürzungen zu erhöhen bzw. für -erhöhungen zu senken. Auch die Rede von einer „Modernisierung und massiven Vereinfachung des Steuerrechts“ klingt in Hinblick auf das Ausmaß der Steuerprogression zumindest alarmierend.

Zusammengefasst laufen die Steuersenkungen der schwarz-blauen Regierung auf enorme Entlastungen für das Kapital und die mittleren bis oberen Einkommensschichten hinaus. Der Rest, insbesondere große Teile der ArbeiterInnenklasse, kann davon verhältnismäßig wenig oder auch gar nicht profitieren, sondern muss sich vielmehr auf Einsparungen bei Sozialleistungen gefasst machen. Das gilt umso mehr, als die Regierung kein Konzept vorgelegt hat, wie die abgängigen Einnahmen in der Höhe von etwa 12–14 Mrd. Euro jährlich zukünftig kompensiert werden sollen.

Einsparungen

Im Regierungsprogramm finden sich einige Sparmaßnahmen, auch mit ungefähren Beträgen, aufgelistet. Weiter konkretisiert wurde das im Doppelbudget 2018/19, das für nächstes Jahr nicht nur ein Nulldefizit einplant, sondern sogar einen Überschuss von einer halben Milliarde beinhalten soll. Insgesamt wird laut dem Finanzministerium der Schuldenstand von 74,5 % des BIP im Jahr 2018 (2017 noch 83,6 % bzw. 290 Mrd. Euro) auf 62,2 % im Jahr 2022 sinken. (23) Geringere Schulden wären natürlich gut, die Frage ist aber, auf wessen Kosten.

Wie ist ein ausgeglichenes Budget trotz Senkung der Abgabenquote möglich? Einerseits steigen angesichts der guten Konkunktur derzeit (!) die Staatseinnahmen. Wesentlich ist aber auch, dass 2018 die Kosten der Bankenrettungen im Zuge der Wirtschaftskrise (Hypo Alpe Adria, Kommunalkredit, ÖVAG) ausgelaufen sind, die im Jahr 2017 noch 4,9 Mrd. Euro betrugen.

Beim allergrößten Ausgabenposten, den Pensionen (fast 19 Mrd. Euro), sind derzeit noch keine großen Reformen geplant. Aber der Finanzminister hat in seiner Budgetrede klargemacht, dass die schwarz-blaue Regierung noch etwas vorbereiten wird: „Wer bestreitet, dass hier Reformschritte vonnöten sind, der weiß, dass er den Menschen Sand in die Augen streut – gefährlichen Sand. (…) Die nächsten Jahre werden wir für umsichtige Änderungen nützen müssen“. Nachdem kaum zu erwarten ist, dass Einsparungen in diesem Bereich ausschließlich Spitzen- und Luxuspensionen umfassen, sondern allgemeiner Natur sein werden, kann man davon ausgehen, dass davon am meisten die arbeitende Bevölkerung getroffen wird, insbesondere da immer wieder das Pensionseintrittsalter kritisiert wird. Kleinere Einschnitte wurden aber dennoch schon beschlossen, und zwar steigt das Eintrittsalter bei Altersteilzeit in zwei Schritten um zwei Jahre.

Größere Einsparungen gibt es auf dem Arbeitsmarkt zulasten der Arbeitslosen. Recht bald nach der Regierungsangelobung war klar, dass es die zwei großen Beschäftigungsfördermaßnahmen der Vorgängerregierung bzw. „Prestigeprojekte“ der SPÖ treffen wird. (24) Der größere Budgetposten davon ist der „Beschäftigungsbonus“, eine Subvention der Lohnnebenkosten für die UnternehmerInnen im Ausmaß von 50 % auf Kosten der Allgemeinheit. Dafür waren zwei Milliarden Euro budgetiert, 900 Mio. wurden schon beantragt, sodass sich die Regierung etwa eine Milliarde ersparen wird. Die zweite Beschäftigungsfördermaßnahme war die „Aktion 20.000“, die Förderung der gesamten Lohn- und Lohnnebenkosten für Langzeitarbeitslose über 50 in Gemeinden und im öffentlichen Dienst, im Ausmaß von 780 Mio. Euro. Argumentiert wird mit der guten Konjunktur, in der man solche Maßnahmen nicht brauche. Dabei zeigen die Wirtschaftsprognosen, dass die Arbeitslosigkeit in den kommenden Jahren nur schwach zurückgehen wird.

Ein weiterer Angriff auf Arbeitslose und Menschen ohne Beschäftigung, insbesondere auf Asylberechtigte, ist die Kürzung der Mindestsicherung, die im Herbst beschlossen werden soll. (25) Der Anspruch wird de facto gedeckelt, indem die Zuschläge für jedes weitere Kind geringer ausfallen. Die „bundeseinheitliche“ Regelung sieht einen maximalen Grundbetrag von 863 Euro vor, niedrigere Grenzen in den einzelnen Bundesländern sind aber möglich. Vor allem anerkannte Flüchtlinge sowie auch Zugewanderte mit schlechten Deutschkenntnissen werden um einen „Arbeitsqualifizierungsbonus“ von 300 Euro benachteiligt. Wer hier keinen Anspruch hat, erhält eben nur 563 Euro. Um qualifiziert zu sein, muss man entweder einen Pflichtschulabschluss oder Deutschkenntnise auf Sprachniveau B1 (alternativ Englisch C1), eine „Integrationsvereinbarung“ und einen absolvierten „Wertekurs“ vorweisen können. Wer aus der EU zuwandert, wird sich erst einmal fünf Jahre in Österreich aufhalten müssen, um überhaupt Mindestsicherung beziehen zu können. Mit dieser „Mindestsicherung neu“ werden die Ärmsten in der Gesellschaft noch weiter benachteiligt und die MigrantInnen an ihren Rand gedrängt.

Obwohl ÖVP und FPÖ bevorzugt über integrationsunwillige ZuwanderInnen sprechen, womit ihre fehlende bedingungslose Anpassung an die vermeintlich vorherrschende Kultur gemeint ist, wollen sie von staatlicher Seite dafür weniger leisten. Mit Verweis auf weniger werdende AsylwerberInnen wurde beschlossen, die Förderungsmittel für Integration im Arbeitsmarktservice (AMS) von 180 auf 110 Mio. Euro zu kürzen. (26) Tatsächlich hat die Zahl der beim AMS registrierten Asylberechtigten aber in den letzten Jahren weiterhin zugenommen. Davon werden insbesondere etliche Deutschkurse betroffen sein. Während die Regierungsparteien ständig das Erlernen der deutschen Sprache von Flüchtlingen einfordern, verringern sie das vorhandene Angebot dafür. Man kann hier ruhig unterstellen, dass Kurz und Strache für die Beibehaltung nicht vermittelbarer Flüchtlinge arbeiten, um im nächstbesten Moment mit rassistischen Maßnahmen auf Stimmenfang zu gehen. In eine ähnliche Richtung geht auch die Kürzung des Integrationstopfs für Schulen bei gleichzeitiger Einführung von separaten „Deutschförderklassen“.

Auch für Frauen hat die rechts-konservative Regierung erwartungsgemäß wenig übrig. Das drückt sich beispielsweise durch Förderkürzungen für Frauenvereine aus. So wurde das Förderbudget 2018 um 179.000 Euro gekürzt, 2019 werden es noch mal 230.000 Euro weniger. (27) In makaberer Manier wird das mit Umschichtungen für Gewaltschutzzentren argumentiert. Tatsächlich handelt es sich aber bei letzteren nur um eine Inflationsabgeltung.

Entrechtung der ArbeiterInnen

Einer der größten Schläge gegen die Rechte der arbeitenden Bevölkerung ist die Ausweitung der Höchstarbeitszeit, die Anfang Juli im Nationalrat beschlossen wurde und schon im September in Kraft tritt. Damit wird die zulässige Höchstarbeitszeit auf täglich 12 und wöchentlich 60 Stunden angehoben, womit 20 Überstunden pro Woche möglich werden. Von der Regierung als auch den Unternehmensverbänden wie der Wirtschaftskammer oder der Industriellenvereinigung wird dabei mit Flexibilität im Sinne der Arbeitenden argumentiert. Für das Kapital geht es vor allem um die Arbeitsverdichtung zur schnelleren Abarbeitung von Aufträgen und Projekten. Von Freiwilligkeit wird zwar viel geredet, tatsächlich werden Überstunden aber gemacht, wann es den Chefs am besten passt, sodass „Arbeitszeitflexibilität“ im Allgemeinen vor allem jene für die KapitalistInnen bedeutet. Noch dazu wird das zulässige jährliche Ausmaß an Überstunden von 320 auf 416 erhöht. (28) Bei Gleitzeitregelungen wird das in der Praxis sogar zum Entfall von Überstundenzuschlägen führen. Auch ist es eine anerkannte Tatsache, dass eine längere Arbeitszeit gesundheitsschädigend ist und das Unfallrisiko am Arbeitsplatz erhöht.

Auch der Abbau anderer Arbeitsschutzbestimmungen ist geplant, wenn auch noch nicht konkretisiert. So heißt es im Regierungsprogramm: „Wir werden generell die Bestimmungen für den Arbeitnehmerschutz durchforsten und auf ihre Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit überprüfen. Um der betrieblichen Ebene wieder mehr Freiheit für die Gestaltung des Arbeitsalltags zu geben, braucht es eine umfassende (!) Reduktion der Regulierungslast.“ Das kann man auch als Unterminierung des Kollektivvertragssystems durch Betriebsvereinbarungen o. ä. lesen. Fatal ist auch das „Prinzip ‚Beraten statt strafen‘ beim Arbeitsinspektorat effektiv umsetzen, Arbeitsinspektorat stärker als Serviceeinrichtung etablieren“. Nachdem in der Regel Mängel bei der Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen innerhalb einer vereinbarten Frist behoben werden müssen, bevor bestraft wird, geht es der Regierung wohl darum, Mängel in Zukunft zu tolerieren – auf Kosten der Gesundheit der ArbeiterInnen. Ähnlich fatal ist das Vorhaben, das Kumulationsprinzip in Verwaltungsstrafverfahren ab 2020 aufzuheben. Das Kumulationsprinzip besagt, dass bei Verwaltungsdelikten jedes Vergehen einzeln bestraft wird. (29) Mit dessen Abschaffung wäre der Bruch von Arbeitschutzbestimmungen eine äußerst rentable Sache für die KapitalistInnen.

Eine Schwächung der Interessenvertretung der ArbeiterInnenklasse erwartet sich die Regierung zusätzlich mit einem Vorstoß gegen die Arbeiterkammer (AK). Die AK ist (anders als die Gewerkschaften) die gesetzliche Interessenvertretung der unselbstständig Beschäftigten in Österreich. Ihre Aufgaben umfassen Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen, wissenschaftliche Erhebungen zur Lage der sogenannten ArbeitnehmerInnen, Beratung und Rechtsschutz für die Mitglieder sowie die Überwachung von Arbeitsbedingungen. Offiziell geht es der Regierung darum, die Beiträge („Umlage“, bei der AK max. 14,44 Euro im Monat) der Pflichtmitglieder der Arbeiterkammer und der Wirtschaftskammer zu senken, um die Mitglieder zu entlasten. Natürlich ist der eigentliche Zweck die finanzielle Beschneidung der Interessenvertretung und damit die Schwächung der österreichischen ArbeiterInnenklasse. Die Kammern wurden von der Regierung aufgefordert, bis Ende Juni ein Reformkonzept vorzustellen, das den geringeren Einnahmen entspreche. Die AK hat ein Papier abgeliefert, aber keine Einsparpläne formuliert. Im nächsten Schritt wird die Regierung also über den Gesetzesweg die Umlage der Arbeiterkammer senken müssen.

Sehr substantiell ist das Vorhaben eines „Arbeitslosengeld neu“, das bis Jahresende umgesetzt werden soll. Demnach soll das Arbeitslosengeld mit steigender Bezugsdauer sinken und die Notstandshilfe abgeschafft werden. Wer dann den Anspruch auf das Arbeitslosengeld verliert, rutscht zukünftig in die Mindestsicherung, Voraussetzung dafür ist aber, das eigene Vermögen weitgehend aufgebraucht zu haben. Durch die Reform wird also der Druck auf Arbeitslose enorm erhöht, Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen anzunehmen, was den KapitalistInnen diese Verschlechterung enorm vereinfacht.

Eine der „größten Reformen“, ebenfalls zuungunsten der arbeitenden Bevölkerung, bedeuten die Pläne der Regierung in Bezug auf die Sozialversicherung (vor allem Krankenversicherung). Schon lange besteht in Österreich die Debatte, ob die große Anzahl an verschiedenen Trägern reduziert und die Leistungen vereinheitlicht werden sollen. Dagegen wäre auch gar nichts einzuwenden, wenn es nicht mit Leistungsreduktionen für die einfache Bevölkerung verbunden wäre. Die Regierung will nun 21 Träger auf 4 bis 5 zusammenlegen und damit bis 2023 eine Milliarde Euro einsparen. (30) Dass das ohne Leistungsreduktionen einhergehen wird, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen. Besonders brisant ist dabei die drohende Schließung der Unfallversicherungsanstalt (AUVA), die mit den Sparvorgaben der Regierung schlichtweg nicht mehr finanzierbar wäre. Wichtig ist im Zusammenhang mit der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse, dass die Selbstverwaltungsgremien, die mehrheitlich durch die Arbeiterkammer kontrolliert sind, durch einen von AK und Wirtschaftskammer paritätisch besetzten Verwaltungsrat ersetzt werden sollen.

Einen speziellen Anschlag plant Schwarz-Blau auf junge ArbeiterInnen und Lehrlinge. (31) Für sie soll die gesetzliche Interessenvertretung im Betrieb, der Jugendvertrauensrat (JRV) (Pendant zum Betriebsrat), ersatzlos gestrichen werden. Über den JVR können Jugendliche ihre eigenen Interessen unabhängig gegenüber Geschäftsführung und Betriebsrat vertreten. Dadurch wird es für die KapitalistInnen noch einfacher, die Rechte von jugendlichen ArbeiterInnen und Lehrlingen zu umgehen. In diesem Kontext muss auch die Kürzung der sogenannten „Lehrlingsbeihilfe“ für Lehrlinge in der überbetrieblichen Lehrausbildung von 753 auf 325,80 Euro genannt werden. (32)

Rassismus als sozialer Kitt

Es wäre nicht die Regierung von Kurz und Strache, wenn sie ihre Angriffe auf die lohnarbeitende Bevölkerung nicht mit permanenten rassistischen Angriffen auf MigrantInnen zu überspielen versuchte. In diesem Sinn werden unterschiedliche Herkunft, Sprache, Kultur und Lebensstandards von Schwarz-Blau als Spaltungslinien der internationalen ArbeiterInnenklasse ausgenutzt. Die Flüchtlinge dienen dabei als Schreckgespenster, um die Konkurrenzangst in der ArbeiterInnenklasse anzufachen und mittels geschürter rassistischer Vorurteile die „österreichischen“ ArbeiterInnen gegen die zugewanderten auszuspielen und in ein klassenübergreifendes, nationalistisches Programm einzubinden. Das ist aber nur die eine Seite, die vor allem diejenigen MigrantInnen trifft, für die das Kapital derzeit keinen Gebrauch hat. Denn dort wo Nachfrage an (qualifizierter) Arbeitskraft besteht, soll es Erleichterungen geben. Auch für die Zuwanderung gilt also, dass sie unter dem Gesichtspunkt der Kapitalverwertung reguliert wird. Dass die wenigen Glücklichen aber auch gleiche Rechte über die StaatsbürgerInnenschaft bekommen, wird erschwert. AsylwerberInnen wird weiter das Leben zur Hölle gemacht, um sie abzuschrecken, überhaupt ins Land zu kommen. Deshalb soll ihnen gleich zu Beginn das Bargeld abgenommen werden und sie sollen nur noch Sachleistungen erhalten. Auch das Handy muss mitsamt den darauf gespeicherten privaten Daten zur Verfügung gestellt werden, damit die Identität, die Fluchtroute u. ä. der geflüchteten Person kontrolliert werden kann. Wer dann eine Asylberechtigung erhält, aber keinen Job findet, bekommt zukünftig nur eine extra für Asylberechtigte reduzierte Mindestsicherung. Damit werden diese nicht nur noch mehr zu Menschen zweiter Klasse degradiert, sie werden auch in die Armut und besonders unattraktive Jobs gedrängt. Die sogenannte Integration ist nichts anderes als die erzwungene Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft. Das wird exekutiert durch eine Kopplung finanzieller Leistungen an Deutsch- und Wertekurse. Dabei wird allerdings noch die Absonderung von der Mehrheitsgesellschaft vorangetrieben. Deutschkurse sollen bald in sogenannten Brückenklassen im Asylheim stattfinden und statt mehrsprachigen Unterrichts bzw. forcierter Förderung von Deutschkenntnissen dort heißt es nun „Deutsch vor Regelunterricht“ oder gar „eigene Deutschklassen“.

Festigung der Staatsgewalt

Der ArbeiterInnenklasse werden von der rechts-konservativen Regierung zentrale Rechte und soziale Errungenschaften beschnitten, um die Ausbeutungsrate im Interesse des Kapitals zu erhöhen. Nicht die KapitalistInnen und ihre Regierung sollen die Feindbilder sein, sondern die Flüchtlinge. Aber um die Herrschaft der Reichen und Besitzenden abzusichern, wird der staatliche Gewaltapparat von der Regierung verstärkt. Nebenbei wird das so dargestellt, als ginge es darum, die einfache Bevölkerung vor Kriminalität, angeblich befördert durch die Zuwanderung, zu schützen. Der Kriminalität der KapitalistInnen (Stichwort Arbeitsinspektorat) wird hingegen Tür und Tor geöffnet. Vor allem der Polizeiapparat wird ausgebaut werden. 2.100 neue Planstellen sollen geschaffen werden sowie 2.000 zusätzliche Ausbildungsplätze. Innenminister Herbert Kickl hat sich sogar mit der Anschaffung von Polizeipferden durchsetzen können. Polizeipferde eignen sich, abseits von ihrer Geländegängigkeit, im Unterschied zu Fahrrädern und Motorrädern vor allem zum Auseinandertreiben von Menschenmassen wie etwa bei Demonstrationen. Ebenso soll es auch wieder, vor allem ab 2020, mehr Geld für das Bundesheer geben.

Weiters wird die staatliche Überwachung ausgebaut. (33) Das Regierungsprogramm sieht eine Schließung der „Lücke bei der Überwachung internetbasierter Telekommunikation“ vor. Konkret bedeutet das die Einführung eines Bundestrojaners, also einer Schadsoftware, um elektronische Inhalte von Kommunikationsgeräten wie Smartphones auslesen zu können. Damit will man vor allem die Verschlüsselungen von Chatdiensten wie Whatsapp umgehen. Weiters will man sich Gesichtsfelderkennung und Big-Data-Analysen bedienen plus den Einsatz unbemannter Objekte wie Drohnen steigern. Mit „Quick Freeze“ wird ein erneuter Anlauf zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung (allerdings in abgeschwächter Form) genommen. All das wird nicht einfach nur gegen islamistische TerroristInnen oder zur Abwehr ausländischer Geheimdienste eingesetzt werden, sondern dient dem Staat vor allem als Waffe gegen die arbeitende Klasse, die sich in zugespitzen Situationen des Klassenkampfes gegen die herrschende KapitalistInnenklasse auflehnen könnte.

Widerstand

Widerstand gegen die Angriffe von Schwarz-Blau findet statt. Was fehlt, sind richtige Strategien und Taktiken, sodass selbst kleine Erfolge bisher ausblieben. Dabei gab es durchaus relevante Bewegungen. Schon am Wahlabend gab es eine Demonstration gegen die drohende schwarz-blaue Regierung. Darauf folgend gab es große Mobilisierungen in Linz gegen das Sparpaket der schwarz-blauen Landesregierung mit mehreren tausend Menschen. Gegen die Angelobung wurden dann breite Proteste von unterschiedlichen Bündnissen und Initiativen (Offensive gegen Rechts, Österreichische HochschülerInnenschaft, Plattform radikale Linke, Jugendorganisationen, …) organisiert, die es schafften, an einem Montagvormittag bei schlechtem Wetter, tausende Menschen auf die Straße zu bringen und sogar einen Schulstreik zu organisieren. Die darauf folgende Entwicklung, insbesondere die Großdemonstration am 13. Jänner mit bis zu 50.000 TeilnehmerInnen, hätte den Startschuss für effektiven Widerstand abgeben können. Dass das nicht passiert ist, liegt an der Tatsache, dass sich die Linke nicht dazu überwinden konnte, ihre Kräfte in einer schlagkräftigen Einheitsfront (34) gegen die Regierung zu bündeln. Somit hätte man sich auf gemeinsame Aktionen gegen die zentralsten Angriffe verständigen können. Stattdessen ist der Widerstand in Einzelinitiativen und beschränkte Bündnisse (z. B. im Bereich der Flüchtlingssolidarität) zersplittert. Abseits davon gab es wiederum keine relevante politische Kraft, die eine ernsthafte Führung im Kampf gegen die Regierung hätte stellen und eine politische Perspektive aufzeigen können. Somit richten sich viele Augen wieder auf die Sozialdemokratische Partei, die sich als einzige (sichtbare) Oppositionskraft inszenieren kann.

Die Rolle der Sozialdemokratie

Anders als in den vergangenen zehn Jahren hat die SPÖ nun die Gelegenheit, sich in der Opposition wieder zu festigen und ihrem Niedergang einen einstweiligen Aufschub zu verleihen. Freilich ist die Sozialdemokratische Partei nicht das geeignete Instrument der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen die Regierung. Das zeigt sich schon alleine in der Flüchtlingsfrage, wo die SPÖ bestenfalls unmenschliche und offensichtlich rassistische Vorstöße kritisiert, nicht aber die immer weiter gehenden Verschlechterungen für Geflüchtete generell. Das liegt auch daran, dass die SPÖ WählerInnenstimmen von der FPÖ zurückgewinnen möchte und dafür selbst die Spaltung der ArbeiterInnenklasse in Inländisch und Ausländisch mitmacht (so z. B. geschehen bei der Ausweitung der Mangelberufsliste). Aber allgemeiner betrachtet, dort wo sie aus fortschrittlicher Perspektive gegen die Regierung auftritt, führt sie die ArbeiterInnenklasse in eine reformistische (35) Sackgasse. Das nicht nur dadurch, dass sie sich selbst letztlich auf parlamentarischen Widerstand beschränkt, obwohl die Regierung eine klare Abgeordnetenmehrheit besitzt. Die reformistische Bürokratie, die auch den Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) beherrscht, scheut die offene Konfrontation mit der herrschenden kapitalistischen Klasse, mit der sie ja strategische Kompromisse sucht.

Was das in der Praxis bedeutet, wurde zuletzt in der Auseinandersetzung um den 12-Stundentag offensichtlich. Obwohl die allgemeinen Pläne dazu schon seit Angelobung der Regierung bekannt waren, hat der ÖGB auf eine Mobilisierung der ArbeiterInnen gegen den Angriff verzichtet. Erst als ein konkreter Gesetzentwurf kurz vor der Beschlussfassung im Nationalrat vorlag, rief man zum öffentlichen Protest auf. Mehr als 700 Betriebsversammlungen wurden in ganz Österreich durchgeführt und über 100.000 Menschen am 30. Juni in Wien auf die Straßen mobilisiert. Das Potential der ArbeiterInnenklasse war damit offensichtlich und eine Streikbewegung gegen die Ausweitung der Höchstarbeitszeit realistisch. Forderungen nach einem Streik waren auf der Demonstration überall sichtbar und ein solcher hätte sogar auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung bauen können (59 % hielten Streiks für gerechtfertigt), wie eine Umfrage des „Profil“ aufzeigte. (36) Ein Streikaufruf des ÖGB blieb aber aus. Stattdessen stellte ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian eine Volksabstimmung in den Raum, obwohl eine Beschlussfassung dafür eine parlamentarische Mehrheit gebraucht hätte. Im nächsten Schritt wurde auf die ausstehende Abstimmung im Bundesrat verwiesen. Als das auch nichts half, vertröstete die Gewerkschaftsführung auf Kollektivvertragsverhandlungen im Herbst (das Gesetz tritt mit 1. September in Kraft). Die mobilisierte ArbeiterInnenklasse wurde demobilisiert, auf illusorische Alternativen zu einem Generalstreik vertröstet. Der ÖGB kapitulierte also de facto kampflos vor der reaktionären Mehrheit im Parlament. Die Politik der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführung kann somit als nichts anderes als bewusster Verrat an den Interessen der ArbeiterInnen bezeichnet werden.

Neuformierung der ArbeiterInnenbewegung

Es wurde gezeigt, dass die Agenda der schwarz-blauen Regierung einen Generalangriff auf die ArbeiterInnenklasse darstellt. Insbesondere die Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeit, die Reform der Arbeitslosenversicherung hin zu einem Hartz-IV-Modell als auch die Schwächung der Arbeiterkammer drohen zu strategischen Niederlagen für die ArbeiterInnenklasse zu werden, was sich in einer bedeutsamen Schwächung der Organisationen der ArbeiterInnenbewegung (der Gewerkschaften, der AK, der politischen Organisationen inklusive Sozialdemokratie) und einem weiteren Rückgang des Klassenbewusstseins ausdrücken würde. Aufgrund der Dominanz der Sozialdemokratie über die ArbeiterInnenbewegung wäre das zwar gleichbedeutend mit einem Verlust des sozialdemokratischen Einflusses, dieser würde sich aber nicht automatisch auf fortschrittliche Weise ausdrücken. Die drohenden Niederlagen zeigen allerdings auf, dass die ArbeiterInnenbewegung in ihrer bestehenden Form, mit ihrer aktuellen Politik des sozialpartnerschaftlichen Ausgleichs und ihrer bestehenden reformistischen Führung nicht den Erfordernissen des Klassenkampfniveaus entspricht. Die Angriffe von ÖVP und FPÖ drängen auf die Notwendigkeit ihrer Erneuerung!

Diese kann jedoch nicht stattfinden ohne eine bewusste politische Kraft, die einen fortschrittlichen Bruch mit der sozialdemokratischen Dominanz über die ArbeiterInnenbewegung vorantreibt. Es ist die Aufgabe einer kommunistischen Organisation, die notwendigen Maßnahmen dafür in die ArbeiterInnenbewegung zu tragen. Das bedeutet vor allem zwei Dinge: Auf der einen Seite ist das der Kampf für eine klassenkämpferische Basisbewegung in den Gewerkschaften gegen die Bürokratie. Auf der anderen Seite ist das der um den Aufbau einer wahrhaftigen ArbeiterInnenpartei in Österreich, was untrennbar ist vom Eintreten für ein revolutionär-marxistisches Übergangsprogramm (37) durch eine kommunistische Parteiaufbauorganisation. Den Schlüssel dafür sehen wir heute im Aufbau einer breiten Einheitsfront der Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung inklusive Sozialdemokratie und Gewerkschaften gegen die Angriffe der Regierung. Eine solche schweißt nicht nur die größtmögliche Einheit im Widerstand zusammen, sie kann AktivistInnen mit unterschiedlichen politischen Hintergründen in Basisorganen (Aktionskomitees, gewerkschaftliche Basisgruppen etc.) versammeln und ermöglicht eine Debatte über die politischen Aufgaben im Klassenkampf. Nur auf diese Weise können die fortschrittlichsten und kämpferischsten Teile der Bewegung gegen Schwarz-Blau für ein Programm vom Widerstand zur ArbeiterInnenmacht gewonnen werden.

Endnoten

(1) An dieser Stelle sei auf zwei ältere Beiträge unserer Strömung verwiesen:
(i) Michael Gatter: Österreichischer Kapitalismus. Gestärkt, aber nicht stark genug. In: Revolutionärer Marxismus 10, Winter 1993/94
(ii) Michael Pröbsting: Vier Jahre Bürgerblock. Kapitalismus und Klassenkampf in Österreich. In: Revolutionärer Marxismus 34, Mai 2004
(2) Regierungsprogramm 2017–2022
(3) ebenda
(4) Österreichische Nationalbank: Gesamtwirtschaftliche Prognose der OeNB für Österreich 2018 bis 2020; Juni 2018
(5) Österreichische Nationalbank: Konjunktur aktuell; Berichte und Analysen zur wirtschaftlichen Lage; Juni 2017
(6) Österreichische Nationalbank: Gesamtwirtschaftliche Prognose der OeNB für Österreich 2018 bis 2020; Juni 2018
(7) https://knoema.com/tbocwag/gdp-by-country-statistics-from-imf-1980-2022?country=World
(8) Österreichische Nationalbank: Gesamtwirtschaftliche Prognose der OeNB für Österreich 2018 bis 2020; Juni 2018
(9) http://orf.at/stories/2444585/2444582/
(10) Programm der Liste Kurz – die neue Volkspartei zur Nationalratswahl 2017: Der neue Weg. Aufbruch & Wohlstand
(11) FPÖ Bildungsinstitut: Das freiheitliche Wirtschaftsprogramm. Fairness. Freiheit. Fortschritt.
(12) IMD: World Competitiveness Ranking 2018 Country Profile Austria
(13) Siehe „https://knoema.com/atlas/Austria/topics/World-Rankings/World-Rankings/Global-competitiveness-rank
(14) WEF: The Global Competitiveness Index 2017–2018 edition, Austria
(15) Regierungsprogramm 2017–2022
(16) OECD: Revenue Statistics 2017
(17) https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5458237/Heute-beschlossen_Was-ist-der-Familienbonus-und-wem-steht-er-zu
(18) https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2018/PK0816/
(19) https://www.steuernzahlen.at/pdf/INEQ_Gesamtabgabenstatistik_Final.pdf
(20) http://orf.at/stories/2429747/
(21) https://derstandard.at/2000077361937/Hartinger-Klein-rechnet-mit-Aufloesung-der-Allgemeinen-Unfallversicherungsanstalt
(22) http://www.oe24.at/oesterreich/politik/2020-naechste-Steuerreform/327117532
(23) https://diepresse.com/home/innenpolitik/5392775/Das-tuerkisblaue-Budget-im-Detail
(24) https://derstandard.at/2000071308023/Regierung-stellte-Beschaeftigungsbonus-und-Aktion-20-000-ein
(25) https://kurier.at/politik/inland/regierungsklausur-koalition-bei-mindestsicherung-einig/400041913
(26) https://derstandard.at/2000076583552/Budget-Wo-der-Guertel-enger-wo-er-lockerer-sitzt
(27) https://derstandard.at/2000084754013/Frauenvereine-bekommen-2019-noch-weniger-Geld
(28) https://www.oegb.at/cms/S06/S06_0.a/1342593401052/home/die-neue-arbeitszeit
(29) https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/963950_Kumulationsprinzip-endet-2020.html
(30) https://www.profil.at/oesterreich/sozialversicherung-reform-oevp-fpoe-10087497
(31) http://www.onesolutionrevolution.at/index.php/archiv/klassenkampfundpolitik/530-regierung-nimmt-lehrlingen-die-vertretung-jugendvertrauensrat-verteidigen
(32) http://www.jugendnetzwerk-ooe.at/ak-kritisiert-kuerzungen-bei-der-ueberbetrieblichen-lehre-die-regierung-raubt-den-jungen-menschen-ihre-perspektiven/
(33) https://derstandard.at/2000070494894/regierungsprogramm-oevp-fpoe-kurz-strache-ueberwachung
(34) Mit einer Einheitsfront meinen wir ein klar politisch abgegrenztes Bündnis verschiedener Organisationen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung für die Aktion. Darüber sollte einerseits eine möglichst schlagkräftige Front, größtmögliche Einheit für deren Ziele geschaffen, andererseits die politische Unabhängigkeit und Freiheit der Kritik aller Beteiligten – auch untereinander – ermöglicht werden.
(35) Unter Reformismus verstehen wir bürgerliche Politik in der ArbeiterInnenbewegung. Sie zielt einerseits bestenfalls auf die utopische Überwindung der Klassengegensätze durch Reformen innerhalb des bürgerlich-demokratischen Systems, verteidigt dieses jedoch andererseits gegen einen drohenden Umsturz durch die LohnarbeiterInnenklasse.
(36) https://www.profil.at/oesterreich/umfrage-mehrheit-streiks-12-stunden-tag-10193160
(37) Als Übergangsprogramm bezeichnen wir ein Programm, das die Brücke schlägt zwischen den unmittelbaren Kämpfen innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems und der politischen Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse zur Überwindung des Kapitalismus. Dabei geht es vor allem um den Aufbau von ArbeiterInnenkontrolle über die verschiedenen Bereiche des gesellschaftllichen Lebens bis zu einer Situation der Doppelmacht, die der ArbeiterInnenklasse den Weg zur Revolution bahnt.