Vorwort

Redaktion, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Anfang 2013 jährt sich die Verkündung der Agenda 2010. Der damalige Kanzler Schröder entpuppte sich damit einmal mehr als “Genosse der Bosse”. Die “Agenda” fasst einen Generalangriff auf die Arbeiterklasse zusammen, der innerhalb eines Jahrzehnts den deutschen Imperialismus konkurrenzfähiger und expansiver gemacht hat. Er hat auch die Klasse der Lohnabhängigen dramatisch verändert.

Die Darstellung dieser Veränderungen, ihre Analyse und ihre politischen Folgen bilden den Kern dieser Ausgabe des revolutionären Marxismus. Die Beiträge “10 Jahre Agenda 2010 – Arbeiterklasse und Gewerkschaften nach 10 Jahren Gegenreform” von Frederik Haber, “Das ‚Prekariat‘ – Klassenlage und Klassenkampf” von Tobi Hansen sowie die Beiträge von Jürgen Roth (“Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen” und “Verändertes Bewusstsein angesichts der Krise”) sind diesen Themen gewidmet.

Anders als die Darstellungen der bürgerlichen Wissenschaft oder jene reformistischer TheoretikerInnen bleiben sie nicht bei der bloßen Konstatierung der Veränderungen und mehr oder weniger hilflosen Verbesserungsrezepten stehen, welche diese vermeintlichen “Fehlentwicklungen” des Kapitalismus wegzureformieren hoffen. Statt dessen geht es darum, welche Möglichkeiten und Aufgaben sich aus diesen Veränderungen für klassenkämpferische, für revolutionäre Politik ergeben.

Dem ist auch der Text “Ziele und Taktiken kommunistischer Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit” gewidmet. Wir veröffentlichen hier in leicht redigierter Form eine Resolution der Gruppe Arbeitermacht, die wir hiermit auch anderen klassenkämpferischen GewerkschafterInnen, BetriebsaktivistInnen und all jenen Linken, die ernsthaft um eine Intervention in der Klasse bemüht sind, zur Diskussion stellen.

Die marxistische Analyse der Klasse und ihrer Veränderungen bedeutet auch, den Gegner in der Klasse zu kennen – die Bürokratie in den Gewerkschaften und Betriebsräten, die reformistischen, bürgerlichen Arbeiterparteien SPD und Linkspartei. Nur so ist es möglich, ihn politisch nicht nur zu kritisieren, sondern auch Taktiken, politische Kampfmittel zu entwickeln, um die Gewerkschaften in wirkliche Kampforganisationen zu verwandeln.

Daher veröffentlichen wir in dieser Ausgabe auch die “Thesen zum Reformismus. Die bürgerliche Arbeiterpartei” und “Thesen zur Wahltaktik” neu, die 1986 von unserer Vorläuferorganisation “Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale” (BRKI) beschlossen worden sind und bis heute eine der programmatischen Grundlagen unserer Organisation darstellen.




10 Jahre Agenda 2010

Arbeiterklasse und Gewerkschaften nach 10 Jahren Gegenreform

Frederik Haber, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Nur wenige Monate nach der Wiederwahl von Rot/Grün, im März 2003, verkündete der damalige Kanzler Schröder ein Bündel von Angriffen: die „Agenda 2010“ war proklamiert.

Der politische Hintergrund ist bekannt. Die kapitalistische Wiedervereinigung war ein historischer Sieg des deutschen Kapitals unter der Regierung Kohl gewesen – die politische, antibürokratische Revolution endete in einer demokratischen Konterrevolution (1).

Die DDR wurde in einen vergrößerten deutschen Imperialismus eingemeindet. Nicht nur die nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnisse wurden zerstört, auch zwei Drittel der Industriearbeiterschaft verloren in wenigen Jahren ihre Jobs, eine Heerschar schlechter bezahlter Arbeitskräfte trat auf den Plan. Bis heute ist der Osten ein Billiglohnland des deutschen Kapitals, wenn auch mit einigen hochmodernen „Inseln“.

Auch die wichtigsten Schranken der Expansion des deutschen Imperialismus, die sich aus der Niederlage des Faschismus und aus der Nachkriegsordnung ergaben, waren damit beseitigt. Die BRD war nun wieder in der Lage, im Kampf um die Neuaufteilung der Welt nicht nur ökonomisch, sondern perspektivisch auch politisch und militärisch „voll“ mitzumachen.

Auch die Grundlagen für eine deutsche Führung in Europa waren gelegt. Schon damals ihren Konkurrenten überlegen, war die deutsche Ökonomie durch die Einverleibung der DDR nun auch deutlich größer als die französische, britische oder italienische. Hinzu kam der Zusammenbruch des Stalinismus und die Reintegration Osteuropas in des Einzugsgebiet der westlichen Mächte, v.a. der BRD. Mit der Vertiefung der europäischen imperialistischen Vereinigung Europas (Maastricht-Verträge, Euro-Einführung usw.) nahm Deutschland Kurs auf eine bis heute allerdings unabgeschlossene „Reorganisation“ des Kontinents (2).

Doch dieses Ziel und die verschärfte globale Konkurrenz erforderten auch eine grundlegende Veränderung des Kräfteverhältnisses, der Beziehung von Kapital und Arbeit in Deutschland selbst. Schon die Regierung Kohl hatte mehrere Versuche unternommen, einen grundlegenden Angriff durchzuführen. Sie wurde aber durch Widerstand, durch Massenaktionen, z.B. die wilden Streiks in der Großindustrie gegen die drohende Aushebelung der Lohnfortzahlung bei Krankheit, gestoppt. Letztlich führten die Massenkämpfe auch zur Abwahl Kohls.

Schon damals versuchte die Gewerkschaftsbürokratie mit mehr Korporatismus, mehr Klassenzusammenarbeit, mehr Entgegenkommen und „Partnerschaft“ auf die Angriffe zu reagieren. Der vorläufige Gipfelpunkt, das „Bündnis für Arbeit“ (3), erscheint heute nur als Vorspiel. Aber im Grunde vertrat schon damals ein größer werdender Teil der Gewerkschaftsbürokratie und der Betriebsräte offen den Standortnationalismus und eine Politik des „Neuen Realismus“ oder, wie von Schröder auch genannt, die Politik der „Neuen Mitte“ (4).

Wichtig ist jedoch, dass diese Angriffe der Kohl-Ära und die Politik der Gewerkschaftsführungen wie jene von SPD und PDS zwar zu einem immer weiteren Zurückweichen und einer Schwächung der Klasse führten – aber sie beinhalteten auch eine Fortschreibung der sozialpartnerschaftlichen Strukturen der Nachkriegszeit und der Struktur der westdeutschen Arbeiterklasse.

Die unter dem Stichwort Agenda 2010 zusammengefassten Angriffe stehen hier für einen grundlegenden Angriff auf die Arbeiterklasse, der im Anschluss an die EU-Agenda von Lissabon aus dem Jahr 2000 folgendes Ziel hatte: „Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“ (5)

Davor müsse die Bevölkerung – d.h. die Arbeiterklasse – aber zuerst durch ein Tal von Tränen. In seiner „Blut- und Tränen“-Rede vom 14. März 2003 umriss Schröder dann auch zentrale Ziele der Agenda 2010:

  • Kündigungsschutz: Er soll dramatisch ausgehöhlt werden. Zwar soll er formell weiter ab fünf Beschäftigten gelten – nicht jedoch für neu eingestellte ArbeiterInnen und Angestellte.
  • Arbeitslosengeld: Die Bezugsdauer soll von 32 auf 18 bzw. 12 Monate reduziert werden.
  • Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe: Beide sollen zusammengelegt und auf Sozialhilfeniveau oder darunter gesenkt werden. 12 Mrd. Euro sollen so gespart werden.
  • Gewerkschaften: Sie sollen die weitere Aushöhlung der Tarifverträge „freiwillig“ mitmachen – oder sie sollen dazu per Gesetz gezwungen werden.

Zusammen mit weiteren „Strukturmaßnahmen“ und „Reformen“ (Rente, Gesundheitswesen, Privatisierung) sollte so die Arbeiterklasse insgesamt gemäß den Konkurrenzbedürfnissen des deutschen Kapitals neu strukturiert werden. Auch wenn die Agenda-Rede keineswegs alle Maßnahmen der Regierung beinhaltet und manche schon davor z.B. durch die Hartz-Kommission unterbreitet wurden, so markiert die „Agenda 2010“ einen strategischen Wurf, einen Generalangriff.

Dieser Generalangriff war nicht auf dem Mist der Sozialdemokratie gewachsen. Schon Anfang 2003 erstellte der Bund der Deutschen Industrie (BDI) ein 100 Seiten starkes Memorandum unter dem Titel „Für ein attraktives Deutschland – Fesseln sprengen – Freiheit wagen“, das dann auf dem Reformkongress im September 2003 verabschiedet wurde. Der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Hans Werner Sinn, forderte in seinem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ eine Senkung der Löhne um 30%, ähnlich auch für die Sozialhilfe und eine stärkere Spreizung der Löhne. Das Kapital bekam, was es bestellt hatte.

Im Folgenden werden wir grundlegende Veränderungen der Arbeiterklasse im letzten Jahrzehnt nachzeichnen. Es geht uns dabei jedoch nicht nur um eine Darstellung zentraler Entwicklungen und Veränderungen. Es geht v.a. darum, klassenkämpferischen LohnarbeiterInnen, linken und revolutionären AktivistInnen – ob in  „normalen“ oder „prekären“ Beschäftigungsverhältnissen oder als Erwerbslose – ein möglichst genaues Bild von diesen Veränderungen zu geben. Entgegen mancher modischer Theorien, die z.B. von eine Ablösung der Arbeiterklasse durch das „Prekariat“ sprechen, lässt sich leicht zeigen, dass es sich um keine „neue Klasse“, wohl aber um eine sehr tief gehende Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse handelt, deren Ende längst noch nicht erreicht ist.

Die politische Bedeutung dieser dramatischen Veränderung der Klasse ist freilich nur schwer zu überschätzen, weil sie auch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und auch die Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen massiv verändert hat.

Mit letzterer Veränderung meinen wir nicht nur Phänomene wie den Organisationsgrad usw. Auch das Verhältnis von Basis und Führung hat sich geändert, die gewerkschaftlichen Strukturen in den Betrieben sind andere geworden, tw. auch verschwunden. All das prägt jedoch die Bedingungen, unter denen oppositionelle, kämpferische oder revolutionäre KollegInnen und GenossInnen agieren, mit denen wir Widerstand organisieren und aufbauen müssen.

Daher ist unser Blick nicht einfach auf eine Bilanz und Bestandsaufnahme gerichtet, sondern wir versuchen am Ende des Textes auch, wichtige Schlussfolgerungen für unsere Aufgaben in den Gewerkschaften und Betrieben zu ziehen.

1. Die soziale Lage der Arbeiterklasse in Deutschland

Gegenüber der Jahrhundertwende hat sich die Lage der Lohnabhängigen aufgrund einer veränderten Zusammensetzung und Struktur des Gesamtkapitals sowie aufgrund von gesetzlichen und innerbetrieblichen Veränderungen massiv gewandelt – letztlich als Resultat von Klassenkämpfen. Bevor wir auf die eigentliche Struktur der Klasse eingehen, betrachten wir kurz einige dieser zentralen Veränderungen.

Die Hartz-Gesetze

Mit diesen Gesetzen, die seit 2003 die Ziele der EU-Agenda 2010 in Deutschland umsetzen sollen, wurde v.a. die Arbeitslosenversicherung angegriffen. Seit ihrer Einführung 1927 hatte diese denselben Charakter wie jede Versicherung. Beiträge, die nach der Höhe des Einkommens eingezahlt wurden, begründeten je nach Einzahlungsdauer einen unterschiedlich langen Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld, das sich wiederum an der Höhe des ehemaligen Einkommens bzw. der gezahlten Beiträge orientierte. Nach dem Ende dieser Zahlung trat eine niedrigere Zahlung (Arbeitslosenhilfe/Arbeitslosengeld 2) an deren Stelle, was der Sozialhilfe entsprach. Der Bezug von Arbeitslosengeld schützte zugleich vor einer Vermittlung in eine Stelle, die weniger Qualifikation verlangte und erzwang damit eine Vermittlung in Stellen, die ähnlich bezahlt wurden wie die verlorene.

Schon 1981 war diese „Unzumutbarkeitsregelung“ eingeschränkt worden, bis sie 2004 restlos fiel. Zugleich wurde der Bezug des Arbeitslosengeldes in der Regel auf ein Jahr verkürzt. In Verbindung mit der steigenden Arbeitslosigkeit war so der soziale Abstieg vorprogrammiert.

Dadurch entstand auch die Tendenz zur „Zwangsarbeit“ (Ein-Euro-Jobs). Zugleich wird seitdem die erworbene Qualifikation der Werktätigen noch schneller entwertet. Einmal, wenn ihnen durch Arbeitszwang die Arbeit in der erlernten Qualifikation verwehrt wird; zum anderen, wenn eine höhere Qualifikation durch die Unternehmer unbezahlt mitgenutzt werden kann und in der Praxis oft auch wird.

Vordergründig richteten sich diese Maßnahmen gegen „Arbeitsunwillige“. Es zeigte sich aber bald, dass sie ein massiver Schlag gegen die Errungenschaften der Arbeiteraristokratie waren.

Die Leiharbeit

Leiharbeit wurde in Deutschland erst mit der Agenda 2010 zu einer Massenerscheinung. Sie stieg von 2000 bis 2008. In der Krise wurden dann massiv LeiharbeiterInnen abgebaut. 2010, nach der Krise, stieg die Zahl dann wieder auf über 776.000 (Bundesagentur für Arbeit) bzw. 901.000 (Institut der deutschen Wirtschaft).

Grafik 1: LeiharbeiterInnen in 1000 (Quelle: Bundesagentur für Arbeit)

2004 hatte Clement (damals Arbeitsminister und SPD-Mitglied) erklärt, bei Leiharbeit habe Deutschland Nachholbedarf. Die Leiharbeit war ebenfalls ein wirksames Mittel zur Ausbreitung des Niedriglohnsektors. Das Gesetz zum angeblichen Schutz der LeiharbeiterInnen, das eine gleiche Bezahlung dieser wie der Stammbelegschaft verlangte, machte durch die Ausnahmeklausel „falls keine eigenen Tarife bestehen“ den „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ zur Makulatur. Ohne in den Zeitarbeits-Firmen über Mitglieder zu verfügen und ohne Tarifbewegung unterschrieben ver.di, IG Metall und DGB stehenden Fußes Billig-Tarife. Die innergewerkschaftlich verbreitete Begründung lautete, dass sonst die noch schlechteren Tarife der „christlichen“ „Gewerkschaften“ wirksam geworden wären. Dass auch dies eine Lüge war und nur die prinzipielle Zustimmung der DGB-Bonzen verkleistern sollte, erwies sich 2011, als – kurz bevor das Bundesarbeitsgericht die Tarife der christlichen „Gewerkschaften“ erwartungsgemäß für unwirksam erklärte – die DGB-Spitzen ihre Leiharbeitstarife – ohne Debatte in den Organisationen – erneut verlängert hatten.

Die Leiharbeit breitete sich zuerst im Dienstleistungsbereich u.a. gewerkschaftlich schlecht organisierten Bereichen aus. Dann wurde sie von einzelnen Betriebsräten der Großindustrie, z.B. bei Audi, VW und BMW, geradezu gefördert, um die Löhne der Stammbelegschaft zu sichern und „Kündigungen zu vermeiden“ – durch „geräuschloses“ Heimschicken der LeiharbeiterInnen.

Mit dem Konjunkturaufschwung 2010 hat der Anteil der Leiharbeit in den industriellen Belegschaften erwartungsgemäß weiter zugenommen, da Bemühungen der Gewerkschaften zu deren Eindämmung meist halbherzig waren und oft nur Lippenbekenntnisse. Sie steht damit aber auch vor einer eigenen Problematik, weil die Kernbereiche der Arbeiteraristokratie – der von der Bürokratie bevorzugten Kernbelegschaften – dennoch weiter bedroht sind.

Von der Leiharbeit besonders betroffen sind Jugendliche, Ostdeutsche und MigrantInnen, Frauen eher weniger, sie sind dafür in anderen prekären Beschäftigungsverhältnissen wie 400 Euro-Jobs überproportional vertreten.

Kündigungsschutz

Bei den Angriffen auf die Errungenschaften der Arbeiterklasse stand der Kündigungsschutz auf der Liste immer ganz oben. Dabei handelt es sich um ein ohnehin schwaches Schutzgesetz, das mitnichten vor Kündigung schützt. Es regelt lediglich die Form der Entlassung; es verlangt, dass Gründe dafür genannt werden müssen und legt Kriterien fest, in welcher Reihenfolge Kündigungen zu erfolgen haben.

Kohl hob 1996 die Betriebsgröße, ab der der Kündigungsschutz gilt, von 5 „regelmäßig“ Beschäftigten auf 10 Vollzeitbeschäftigte an. Schröder hatte bei seiner Wahl 1998 die Rücknahme dieses Gesetzes versprochen. Mit der Agenda wurde mehr oder weniger die Kohlsche „Reform“ wieder hergestellt. Aber letztlich ging es nie um die Kleinbetriebe. Wirksamkeit entfaltet das Gesetz nämlich erst mit der „Mitbestimmung“ der Betriebsräte, die Sozialpläne aushandeln können, und der Vorschrift, dass der Betrieb eine Sozialauswahl festlegen muss. Genau diese wurde von Schröder gelockert.

Der entscheidende Schlag gegen den Kündigungsschutz gelang natürlich durch Leiharbeit und die Zunahme von Befristungen, die wesentlich erleichtert wurde. Auch bei LeiharbeiterInnen sind Befristungen möglich geworden, die das (Leih)arbeitsverhältnis an die Dauer des Entleihvertrags koppeln. Das „Synchronisationsverbot“ wurde auch durch die Hartz-Gesetze aufgehoben. Die vorgebliche Funktion der Zeitarbeits-Branche, qualifizierte Beschäftigte für kurzfristige oder befristete Einsätze bereitzuhalten und diese dafür in Dauerarbeitsverhältnissen zu halten, war nicht mehr nötig.

Mit der Ausweitung der Leiharbeit und der Schaffung von „Pufferbelegschaften“ wurde der Kündigungsschutz weit mehr ausgehöhlt, als durch Gesetzesänderungen. Diejenigen, die ihn bräuchten, haben ihn nicht.

Privatisierung

Die schrittweise Privatisierung vormals öffentlicher Sektoren hat die Arbeitsbedingungen für größere Teile der Klasse massiv verändert. Als Hauptbeispiel kann das Gesundheitswesen gelten.

Die finanzielle Austrocknung der Gemeinden hat den Verkauf der Krankenhäuser erzwungen, dabei war der materielle Zwang oft viel wirksamer als die oft beschworene neoliberale Ideologie. Zugleich haben die verschiedenen Gesundheitsreformen die „Anbieter“, also die Krankenhäuser jedweder Rechtsform, zur Einführung industrieller Rationalisierungsmethoden und Organisationsänderungen gezwungen. Von staatlich organisierter Reproduktionsarbeit wurde das Gesundheitswesen der Kapitalverwertung ausgeliefert und soll nun dem Kapital nicht nur die Arbeitskräfte „gesund“, also in ausbeutbarem Zustand halten, sondern aus diesem Prozess zugleich Profit ziehen. Tatsächlich werden im Gesundheitswesen heute mehr Menschen ausgebeutet als in der Autoindustrie.

Die gleiche Entwicklung hat das Bildungswesen genommen. Auch die ehedem öffentlichen Transport- und Kommunikationseinrichtungen, Bahn, Telekom und Post, deren Aufgaben nicht in der Reproduktion der Arbeitskraft, sondern in der Unterhaltung einer leistungsfähigen Infrastruktur liegen, gingen den gleichen Weg.

Für die Beschäftigten bedeutet dies den Verlust der Privilegien des Öffentlichen Dienstes wie Kündigungsschutz und relativ gute Altersversorgung. Bestimmte Berufe wie Ärzte, Krankenschwestern oder LehrerInnen, verlieren die Reste ihrer romantischen Verklärung

Technische und organisatorische Veränderungen

Auch Entwicklungen in der Arbeitsorganisation und der Technik haben im letzten Jahrzehnt zu Veränderungen innerhalb der Klasse geführt:

  • die Datennetze wurden ausgebaut;
  • die Programmierung, die unzählige Prozesse in allen Bereichen standardisierte und rationalisierte, wurde ihrerseits rationalisiert;
  • Bilder werden digitalisiert; Barcode-Systeme haben sich ausgebreitet;
  • umfangreiche Qualitätsstandards und -sicherungssysteme wurden eingeführt;
  • in der Produktion wurde wieder zu kurzen Taktzeiten und weiterer Arbeitsteilung gegriffen.

Mit solchen Verfahren konnten in riesigem Umfang Prozesse in Produktion, Logistik und Verwaltung erfasst, standardisiert und kontrolliert werden. So kann heute ein Kunde durch seine Bestellung bei einer Firma automatisch die Bereitstellung von Rohstoffen und Halbzeugen, die Suche nach Produktionskapazität und die Erstellung der Rechnung auslösen. Fehler – auch in einem einzelnen produzierten Teil – können dank lückenloser Dokumentation auf den einzelnen Verursacher zurückverfolgt werden. Die Verlagerung von Produktionsprozessen ist erheblich einfacher geworden – sie ist aber immer noch schwieriger, als viele Manager denken.

Zugleich wurden bestimmte Tätigkeiten entwertet oder abgeschafft. So hat die Digitalisierung von Bildern nicht nur FotografInnen und Kameraleute entwertet, sondern auch Sichtkontrollen abgeschafft. Die Vernetzung von Vertrieb, Produktion und Rechnungswesen (z.B. durch SAP-Systeme) hat die Verwaltung in den Betrieben ausgedünnt. Der Status von ProgrammiererInnen und technischen Angestellten sank, heute sind sie nahe am Facharbeiter angesiedelt, alte Domänen der Facharbeit, z.B. Werkzeugmacher und Modellbauer, wurden ihrer planenden und berechnenden Tätigkeiten beraubt. Produktionsarbeit wurde inhaltlich weiter ausgedünnt, auf der anderen Seite stiegen einige Wenige zu Anlagenführern bei Vollautomation auf.

Verlagerungen

Die Verlagerungen ins Ausland sind weitergegangen, wobei wir angesichts weiterhin hoher Exportüberschüsse und Exportweltmeisterschaft jede nationale Panikmache ablehnen, genauso wie umgekehrt jede Arroganz gegenüber den Belegschaften, die gegen Produktionsverlagerung kämpfen. Es ist völlig berechtigt, dass sich ProduktionsarbeiterInnen gegen Entlassungen wehren. Solange die Gewerkschaften jedoch keine offensiven Kämpfe für Arbeitszeitverkürzung und Kontrolle der Produktion durch die Belegschaften führen, sondern lediglich Sanierungskonzepte und Beschäftigungsgesellschaften vereinbaren wollen, drohen diese immer wieder rasch an ihre Grenzen zu stoßen und können auch leicht für standortbornierte Zielsetzungen missbraucht werden.

Die Demagogie um den „Standort D“ ist nur die Kehrseite dieser Medaille. Die Reformisten entwaffnen damit einerseits gerade die kämpferischsten Belegschaften und bereiten rechten Nationalisten den Boden.

Der Prozess der Verlagerung zeigt sich v.a. in der Auslagerung einzelner Produktionsschritte oder der Fertigung von Einzelteilen. Die Gesamtmontage von Autos, Maschinen und Anlagen findet weiterhin meist im Land statt. Zunehmend werden aber auch Teile der Forschung und der Verwaltung ausgelagert. Zu Arbeitsplatzverlusten hat dies v.a. bei ProduktionsarbeiterInnen geführt, während Transport und Logistik wichtiger und ausgebaut wurden.

In demselben Prozess, in dem die Endhersteller die Produktionstiefe verringert haben, also bestimmte Produktionsprozesse ausgelagert haben, sind im Zulieferbereich neue transnationale Konzerne entstanden. Beispiele dafür sind die Hardware bei IT-Konzernen oder die Zulieferindustrie bei Autos. Während solche Unternehmen im IT-Bereich nicht in Deutschland basiert sind, ist das bei der Automobil-Zulieferindustrie sehr wohl der Fall und ist künftig auch im Maschinenbau möglich. Die Tatsache, dass es sich um deutsche Firmen handelt, heißt nicht, dass die gesamte Produktion in Deutschland stattfindet, wohl aber Entwicklung, Erprobung und Verwaltung. Die Beschäftigten in diesen Konzernzentralen sind – anders als früher – meist nicht mehr mit einem Produktionsstandort verbunden, sie werden durch Extraprofite gut gefüttert und verfügen zugleich über hohes Wissen in der weltweiten Arbeitsteilung des Konzerns und der Industrie. Wissen, das sowohl für die Führung und (internationale) Koordination von Arbeitskämpfen, wie für die Reorganisation der Produktion nötig wäre.

Generell ergeben sich aus den Verlagerungen auch die Profite, welche die Bezahlung der Arbeiteraristokratie erlauben. Früher kamen diese Extraprofite durch die hohen Preise für Exportgüter zustande. Heute verlangen Betriebsräte selbst eine „Misch-Kalkulation“, d.h. nichts anderes als eine Finanzierung der höheren Entgelte in Deutschland durch die Niedriglöhne in den Halbkolonien.

Experimentierfeld Ost

Zwanzig Jahre nach der Vereinigung ist eine Angleichung der Arbeitsbedingungen nur insofern geschehen, als dass Niedriglöhne, Jugendarbeitslosigkeit und Tariflosigkeit sich nach Westen ausgebreitet haben. In den letzten zehn Jahren gibt es bei Arbeits- und Lebensbedingungen keine weitere Annäherung zwischen Ost und West, die Schere schließt sich nicht. Da sich die wirtschaftlichen Bedingungen auch zwischen Nord- und Süddeutschland differenziert haben, hat die Spreizung zwischen Nordost und Südwest eher zugenommen.

So ist das BIP der 10 westlichen Bundesländer im Verhältnis zu den östlichen (ohne Berlin) von 2000 bis 2010 zwar von 7,46 auf 7,33 gesunken, zugleich aber das Verhältnis von Süd (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz) zu Nord (Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern) vom 2,52fachen auf das 2,58fache gestiegen.

2010 waren lt. Statistischem Bundesamt 22% aller ostdeutschen Beschäftigten im Niedriglohnbereich unter 8,50 Euro tätig – gegenüber 10% der westdeutschen.

2. Die Folgen im Allgemeinen

Druck auf Tarife und Belegschaften

Ideologisch wurde die Agenda 2010 durch eine Kampagne des Großkapitals vorbereitet, die Industrielöhne in Deutschland müssten um 30% gesenkt werden. Dies wurde unterstützt durch die Drohung der Regierung Schröder, die Tarifautonomie einzuschränken, wenn die Tarif-„Partner“ den Weg in die freiwillige Reduzierung nicht gehen würden. Die Gewerkschaften, insbesondere IG Metall und IG BCE, gaben klein bei: ihre Spitzen teilten den sozialdemokratischen Konsens.

So wurden dann seit 2004 „Standortsicherungs-Verträge“ vereinbart. Im Unterschied zu vielen betrieblichen „Bündnissen für Arbeit“ saß die Gewerkschaft bei diesen Verträgen mit am Tisch. Der Verzicht auf übertarifliche und tarifliche Errungenschaften war also von höchster Stelle abgesegnet und wurde allen Betrieben übergestülpt. Innerhalb der Großkonzerne waren selbst örtliche Betriebsratsvorsitzende weitgehend von diesen Verfahren ausgeschlossen. Die Belegschaften, die zum Widerstand bereit waren und eine entsprechende Tradition hatten, wurden vorher auch noch mal zu Protesten aufgerufen. Sie wurden letztlich aber immer mit der Drohung gefügig gemacht, bei einem Arbeitsplatzverlust durch Hartz IV innerhalb eines Jahres nicht nur Lohn und daran gekoppeltes Arbeitslosengeld, sondern auch jede Qualifikation und fast alle Ersparnisse zu verlieren.

Im Gefolge dieser Verträge gab die IG Metall auch das Ziel und Kampfmittel Arbeitszeitverkürzung als strategische Antwort auf Rationalisierung und Arbeitslosigkeit auf. Die historische Errungenschaft, die 35-Stunden-Woche, die sie gegen das Kapital und die Regierung Kohl durchgesetzt hatte, wurde zur Verhandlungsmasse in Verzichtsverträgen. Zwar existieren auch heute noch Belegschaftsteile, die 35 Stunden pro Woche arbeiten. Aber die Ausweitung auf Ostdeutschland wurde von der Führungsriege der IG Metall – durch den Vorsitzenden Zwickel sowie etliche Gesamtbetriebsratsfürsten sabotiert. Die Ausnahmen wurden ausgeweitet (Pforzheimer Vertrag und Dienstleistungstarifverträge) und sind auch Bestandteil vieler Standortsicherungsabkommen.

Grafik 2: Grafik 2: Effektivlöhne in der Metallindustrie, Quelle: IG Metall. Deutlich wird, dass in den Jahren der Agenda und der Standortsicherungen die Effektivlöhne geringer als die Tariflöhne stiegen.

Exkurs: Der Kampf um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland

Im Osten gab es einen starken Wunsch v.a. in den Metall-Betrieben, endlich auch bei der Arbeitszeit gleiche Bedingungen in Ost und West zu schaffen. Dies war auch ein Signal, eine der wichtigsten Spaltungen der Arbeiterklasse in ganz Deutschland anzugreifen.

Unter dem damaligen zweiten und späteren ersten Vorsitzenden der IG Metall, Peters, wurde der Tarifkampf allerdings schlecht vorbereitet – freilich nicht nur aufgrund eigener Fehler, sondern weil ein großer Teil der Bürokratie den Streik und die damit verbundene politische Konfrontation nicht wollte. So wurden die Belegschaften im Westen anfangs gar nicht einbezogen, selbst die Information war dürftig.

Nachdem sich die Konflikte zuspitzten, StreikbrecherInnen rekrutiert wurden und die Repression stark anstieg, wurden seitens der IG Metall StreikhelferInnen aus anderen Bereichen und auch aus dem Westen geschickt. Bevor der Streik aber durch Lieferausfälle in der Autoindustrie zu kalter Aussperrung im Westen geführt hätte, wurde er vom Vorsitzenden Zwickel beendet – im Bruch mit der Satzung der IG Metall.

Der Streikabbruch wurde v.a. auf Druck der Gesamtbetriebsratsfürsten der Autohersteller herbeigeführt. Klaus Franz (Opel), rief offen zum Streikabbruch auf, ein Vergehen, das mit Streikbrechertum gleichzusetzen ist. Von Klemm (Daimler), wurde der Begriff „Geisterfahrer“ kolportiert, mit dem er alle Streikbefürworter bezeichnete. Dieser offene Verrat besiegelte eine der schwersten Niederlagen der Arbeiterklasse im letzten Jahrzehnt.

Lohnsenkung im Tarif und außerhalb

All dies hat zu einem massiven Sinken des Lohnniveaus in Deutschland geführt. Die hochorganisierten und kampferprobten Belegschaften der Metallindustrie, insbesondere im Fahrzeugbau, waren erneut der Maßstab für alle. In den siebziger und achtziger Jahren hatte man gewerkschaftsintern vom „Geleitzug-Prinzip“ gesprochen, um zu beschreiben, dass und wie insbesondere die IG Metall Marken in der Tarifpolitik gesetzt hatte, die anderen Branchen als Orientierung und Hilfe dienten, wenn sie diese auch stets später oder nur teilweise erreichten. Außer bei der Lohnhöhe war dies z.B. bei der Arbeitszeit und den sechs Wochen Urlaub der Fall. Jetzt wurde nicht nur die Bremse, sondern der Rückwärtsgang eingelegt. Die IGM gab das Signal zu Lohnverzicht und Arbeitszeitverlängerung für alle Tarifbereiche und erst recht außerhalb dieser.

Von 2000 bis 2010 sanken die Reallöhne in Deutschland. Im Juli 2011 legte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie vor, die belegt, dass die Reallöhne seit 2000 nicht gestiegen sind. „Real“ heißt, dass die Inflation gegen die „nominale“ Erhöhung verrechnet wird. Wenn die Preise stärker steigen als die Zahlenwerte der Löhne steigen, können sich die Menschen von ihren Löhnen weniger kaufen – die Reallöhne sinken. Genau das geschah mit den GeringverdienerInnen, die weniger als 1.600 Euro netto im Monat erhalten. Sie haben bis zu 22% ihrer Kaufkraft verloren. (6)

Grafik 3: Lohnentwicklung 1991 – 2010, Quelle: Deutsches Institut für Wirtschafts-forschung

Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat diesen Trend bestätigt. Die Einkommensungleichheit ist in Deutschland seit 1990 stärker als in anderen wohlhabenden Industriestaaten gewachsen. In den 80er und 90er Jahren zählte die OECD Deutschland noch zu den wirtschaftlich „ausgeglichenen“ Gesellschaften – heute nicht mehr:

„Die Entwicklung der Einkommen in der Bevölkerung illustriert die Veränderung: Die Forscher haben festgestellt, dass die oberen zehn Prozent der Deutschen, die ein Einkommen beziehen, im Jahr 2008 durchschnittlich 57.300 Euro verdient haben – und damit achtmal so viel wie die unteren zehn Prozent, bei denen es nur 7.400 Euro waren. In den 90er Jahren war es noch das Sechsfache. Verantwortlich für das Auseinanderdriften von Arm und Reich ist vor allem die Entwicklung der Gehälter, die hierzulande rund 75 Prozent der Haushaltseinkommen ausmachen.“ (7)

Reichtumsverteilung in der BRD

In Verbindung mit weitergehender Rationalisierung sanken die Lohnstückkosten in der gleichen Zeit dramatisch. Damit konnte die deutsche Exportindustrie andere Volkswirtschaften, insbesondere die Länder der Euro-Zone niederkonkurrieren.

Das Kalkül der Kapitalisten und ihrer sozialdemokratischen Helfer ist in dieser Hinsicht aufgegangen. Den Preis hat die Klasse bezahlt: ökonomisch und politisch.

Grafik 4: Veränderung der Reichtumsverteilung 1998 – 2008

Grafik 5: Quelle: Eurostat. Die Lohnstückkosten werden von der Lohnentwicklung und der Rationalisierung beeinflusst. Je mehr Teile ein Arbeiter pro Stunde produzieren kann, desto geringer ist der Lohnanteil pro Stück.

Geringere tarifliche Abdeckung

Durch Ausgründungen und Firmenneugründungen sowie Leiharbeit hat sich die Gültigkeit von Tarifen allgemein verringert (Grafik 6).

Mehrfache Lohnspreizung

Dadurch sind innerhalb des letzten Jahrzehnts nicht nur die Löhne gegenüber Einkünften aus Kapitalerträgen gefallen, sondern die Spreizung innerhalb der Klasse, zwischen Niedriglöhnern einerseits und den Resten der Arbeiteraristokratie, erst Recht gegenüber Leitungsfunktionen, anderseits hat derart zugenommen, dass Deutschland im internationalen Vergleich von einem Land mit eher geringer Differenzierung zu einem Land mit überdurchschnittlicher Differenzierung wurde.

Nicht zufällig hat sich auch die Differenz zwischen Frauen und Männern nicht weiter verringert – nach Jahrzehnten langsamer Angleichung. „Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen lag 2011 um 23% niedriger als der Verdienst der Männer. Die Unterschiede fielen in Westdeutschland (und Berlin) mit 25% deutlich höher aus als im Osten (6%). Seit 2002 ist der Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern fast konstant. Das Ziel der Bundesregierung, den Verdienstabstand bis zum Jahr 2010 auf 15% zu senken, wurde damit deutlich verfehlt.“ (Statistisches Bundesamt 2012)

Grafik 7: Quelle: Statistisches Bundesamt. Die Lohnquote beschreibt, welcher Anteil des Volkseinkommens als Arbeit“nehmer“entgelt ausgegeben wird. Die Differenz sind alle Einkommen aus Unternehmen und Vermögen. Dies ist nur als Tendenz aussagekräftig, da z.B. auch Managervergütungen als Arbeit“nehmer“entgelt“ gelten. Der Anstieg in der Krise ist v.a. durch ein Sinken der Gewinne zu erklären, nicht durch den Anstieg der Löhne.

Grafik 8: Mit Gender Pay Gap wird die Verdienstlücke zwischen Männern und Frauen bezeichnet. Zahlen beziehen sich auf Stundenlöhne. Quelle: Stat. Bundesamt 2012

Differenzierung der Belegschaften

Die Lohnspreizung existiert zwischen Ost und West, Nord und Süd, Frauen und Männern, Alt und Jung, sie spaltet nicht nur einzelne Belegschaften, sondern wirkt auch direkt innerhalb einzelner Belegschaften.

Der Organisationsgrad der Gewerkschaften fällt

Die Organisierung von Niederlagen und Rückzügen, die verpassten und vergebenen Chancen, dem Kapital und seiner Regierung Niederlagen zuzufügen, hat sich auch in der Struktur und der Kampfkraft der Gewerkschaften niedergeschlagen. Ein Anzeichen dafür sind die gesunkenen Mitgliedszahlen.

Auch der Anteil von „aktiven“, also Mitgliedern im Betrieb, ist gefallen. Bei den jüngeren Beschäftigten-Generationen liegt der Organisationsgrad oft noch niedriger.

Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen können sich zudem Gewerkschaftsbeiträge zunehmend weniger leisten.

Grafik 9 und10 (Seite 21): Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften
Quelle: DGB. Es wurde das Jahr 2001 gewählt, weil dafür die ersten ver.di-Zahlen vorliegen

Grafik 10: Mitgliedsentwicklung der DGB-Gewerkschaften

3. Die Politik der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie

Tarifliche Ebene

Die Tarifauseinandersetzungen sind in Deutschland das Terrain, auf dem die Gewerkschaften am wahrnehmbarsten sind, wo sie für die ganze Klasse sichtbar agieren und umgekehrt die Mitglieder noch einen – wenn auch bescheidenen – Einfluss haben. Gerade auf diesem Gebiet hat sich eine dramatische Veränderung ergeben: von der Kompensation, d.h. dem Erkaufen von Lohnzuwächsen durch Verzicht bei Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen oder Zulagen, über Absenkungsverträge, die v.a. zukünftig wirken, bis hin zum Vertrag für die Metallindustrie 2010, der für das erste Jahr der Laufzeit sogar einen nominalen Lohnverlust ermöglichte.

Die Erosion der Tariflandschaft hatte schon in den 90er Jahren begonnen, begleitet von zahllosen Warnungen und durchaus kritischen Debatten innerhalb des DGB. Die meisten Warnungen waren berechtigt: die flächendeckende Erosion ist eingetreten. Die Debatten sind verstummt, die Praktiken der Demontage gelten heute innerhalb des Apparats als „Tariftechnik“.

Wir haben oben beschrieben, wie die Folgen der Politik der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze auf die Löhne der Beschäftigen durchgeschlagen haben, indem die Bürokratie „Standortsicherungsverträge“ durchsetzte. Diese können als der Dammbruch angesehen werden, der durch die Löcher vorbereitet wurde, die schon in den 90ern gebohrt worden waren.

Wir haben oben auch dargestellt, wie sich die Löhne und die Lohnspreizung entwickelt haben. Tarifvertraglich hat die Gewerkschaftsbürokratie dies auf unterschiedliche Weise gestaltet:

a) Absenkung in der Fläche: ERA, TVÖD

Diese Absenkung fand nicht nur auf Betriebs- oder Konzernebene statt, sondern auch im Flächentarif durch Tarifverträge, die Arbeitsplätze und die dafür nötige Qualifikation neu bewerteten. Damit wurden die Unternehmer legitimiert, massiv „Besitzstände“ anzugreifen, also Löhne und Positionen, die sich Beschäftigte erworben hatten, und zugleich die Niveaus für Neueinsteiger zu senken. Andererseits wurden zumindest beim Entgelt-Rahmen-Tarif (ERA) bei der IG Metall) auch bestimmte Schichten aufgewertet.

Beim TVÖD tritt der Lohnverlust ebenfalls bei Neueinsteigern auf, aber auch bei Beschäftigten, die lediglich die Stelle wechseln.

Derzeit wird für den Einzelhandel ein ähnliches Projekt vorbereitet – weitgehend hinter dem Rücken der Beschäftigten. Das Konzept, „Qualifikation“ zum Kriterium für die Lohnhöhe zu machen, muss in dieser Branche mit vielen Arbeitsplätzen mit geringer formaler Qualifikation verheerende Folgen haben.

b) Sparten-Tarif-Verträge

Unter dem Eindruck der Drohung seitens der Unternehmer wie der öffentlichen „Arbeitgeber“, bestimmte Bereiche in tariffreie Unternehmen oder Branchen mit niedrigeren Standards auszugliedern, haben Gewerkschaften und Betriebs- und Personalräte der Ausgliederung von Teilen der Belegschaften aus dem Flächentarif zugestimmt. So wurden etwa Busfahrer aus dem Öffentlichen Dienst oder Service-Bereiche aus dem Metallindustrie-Vertrag herausgenommen und schlechter gestellt.

c) Bestandssicherung für Alte, verbunden mit Absenkungen für Neue

Diese Tendenz, der die Betriebs- und Personalräte willig folgten, hat seine – reformistische – Logik: vom einzelnen Beschäftigten wird unmittelbarer Schaden, z.B. Lohnsenkung, abgewendet. Die negativen Folgen, die Spaltung der Klasse und die niedrigeren Löhne für die nachkommenden Generationen sowie die Ausblutung der Sozialkassen, wurden dabei in Kauf genommen, von den Gewerkschaften kaum ins Bewusstsein der Belegschaften gerückt und noch weniger bekämpft.

d) Öffnungsklauseln

Diese waren noch in den 90ern umstrittene Erscheinungen, heute sind sie aus Industrie-Tarifen nicht mehr wegzudenken. Damit wird ein Teil der Tarifpolitik auf die betriebliche Vertretung übertragen, was wie bei den „Standortsicherungsverträgen“ die Gewerkschaft als Organisation der Klasse in den Augen derselben immer mehr verschwinden lässt. Wir haben es also nicht nur mit tariflich organisiertem Rückschritt und Zersplitterung der Tariflandschaft zu tun, sondern auch mit dem Rückzug der Gewerkschaften aus ihrem ureigenen Kampffeld.

Betriebliche Ebene

Die Verbetrieblichung der Tarifpolitik auf dem Weg vom „betrieblichen Bündnis“ zum „Standortsicherungsvertrag“ hat aus betrieblicher Sicht ein stärkeres Auftauchen der Gewerkschaft zur Folge. Allerdings nicht als Organisatorin von Konflikten, sondern in Form von hochrangigen Bürokraten, die mit den Betriebsrats-Spitzen und Unternehmensvertretern am Verhandlungstisch sitzen und mehr oder weniger unkontrolliert Vereinbarungen abschließen.

Eine in der IG Metall propagierte „Stärkung der Vertrauensleute“ durch eine Verbetrieblichung der Tarifpolitik erwies sich dann genau als die Leimrute, als die sie verdächtigt wurde. So befanden z.B. die Vertrauensleute von Daimler-Untertürkheim im Oktober 2004 über die Standortsicherung, die im Juli beschlossen worden war. Betriebliche Tarifkommissionen können gebildet werden, müssen aber nicht, da letztlich der Vorstand alles allein entscheidet. Wie sie gebildet werden, ist Ermessenssache. Meist sind die Betriebsratsfürsten unter sich. Demokratie Fehlanzeige.

a) Arbeitszeitverlängerung

Sie wurde nicht nur auf tariflicher Ebene (Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst der Länder), sondern meist auf betrieblicher Ebene durchgesetzt. Auch hier folgte die Gewerkschaft meist den Erpressungen der Bosse oder dem Druck der Betriebsrats-Fürsten.

b) Weitere politische Unterordnung der Gewerkschaft unter die (Gesamt)-Betriebsräte

Die Gewerkschaften ordnen sich immer mehr den Betriebs- und Personalräten unter. Die freiwillige und unabhängige Organisation der Beschäftigten wird dominiert von Personen, die von den gesamten Belegschaften gewählt wurden, also auch den nicht gewerkschaftlich Organisierten. Auch die Vorstände werden aus Betriebsratsvorsitzenden zusammengesetzt.

In den Großbetrieben ging diese Entwicklung in den letzten Jahren weiter auf Kosten der Vertrauensleute-Körper. Innerhalb der Vorstandsverwaltung wurde das u.a. durch die Auflösung eines eigenständigen Bereiches vorangetrieben, die Vertrauensleute-Arbeit wurde in die „Betriebspolitik“ integriert. Das Grundlagenseminar für Vertrauensleute wurde für bestimmte Betriebe umgestaltet: Es werden nur noch geschlossene Seminare organisiert, bei denen nicht nur die betrieblichen Strukturen stärker betont werden, sondern auch die Politik des Betriebsrats gezielt „vermittelt“ wird.

Gegen alle Beschlüsse gewerkschaftlicher Gremien setzten 2003 die Gesamtbetriebsrats-Vorsitzenden der Autoindustrie den Abbruch des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten durch. Der damalige Gesamtbetriebsrats-Chef von Opel, Klaus Franz, rief straflos zum Streikabbruch auf. In der IG Metall ist das machtvollste Organ das Treffen der Gesamtbetriebsrats -Vorsitzenden der Auto-Industrie: obwohl in der IGM-Satzung gar nicht erwähnt, geht gegen dessen Willen nichts.

In weiten Bereichen von ver.di ist Gewerkschaftsarbeit die Betreuung von Personal-und Betriebsräten. Was in Kleinbetrieben wichtig und richtig ist, bedeutet für Großbetriebe Verzicht auf ein eigenständiges Auftreten als Gewerkschaft.

Organisationspolitik

Auf die massiven Mitgliederverluste seit 1992 haben die Gewerkschaftsapparate einerseits mit „downsizing“ reagiert, also mit Personalabbau und Zusammenlegung von Einheiten. Das ging von Gewerkschaftsfusionen wie bei ver.di bis zur Zusammenlegung von Verwaltungsstellen. Letzteres ging einher mit einer starken Ausdünnung der Basisstrukturen.

Der DGB ist zu einem reinen Spitzenverband geworden, der zugleich darunter leidet, dass ver.di und IG Metall ihn entweder dominieren oder auch ganz auf ihn verzichten können. Ortskartelle und Jugendgruppen sind fast verschwunden, auf dem Land ist Gewerkschaft mit der Auflösung der DGB-Kreisverbände praktisch nicht mehr vorhanden.

Andererseits wurde versucht, den Mitgliederverlust mit Werbeaktionen auszugleichen. Neben rigoroser Zielkontrolle verbunden mit Werbeprämien kam es zu einer Übernahme des amerikanischen „Organizing“-Modells, das – unpolitisch konzipiert – seines ursprünglich doch emanzipatorischen Inhalts beraubt wurde. Für solche Kampagnen greift der Apparat gern auf engagierte junge AktivistInnen zurück, die prekär beschäftigt und schlecht bezahlt werden.

In einigen Handels- und Dienstleistungsbereichen führten solche Kampagnen allerdings auch zum Aufbau neuer gewerkschaftlicher Strukturen.

Schon in den 90ern rieten der rechte Flügel des Apparats und „wohlmeinende Freunde“ der Arbeiterbewegung wie der SPD-Vordenker Peter Glotz den Gewerkschaften, sich von Streiks u.a. überholten Praktiken zu verabschieden und stattdessen Gewerkschaften als Service-Betriebe zu gestalten.

Diese Ausrichtung wurde zwar betrieben, hat sich aber natürlich als erfolglos erwiesen. Mitglied einer Gewerkschaft zu sein wegen Rabatten, Rentenversicherung und Qualifizierungsberatung ist bei ausbleibenden materiellen und politischen Erfolgen nur für sehr wenige Werktätige attraktiv.

Bei der Finanzierung haben die Apparate versucht, sich von den Mitgliedern unabhängiger zu machen. Die Gewerkschaftshäuser wurden in Immobilientrusts zusammengelegt, die für gewerkschaftliche Aktivitäten gemietet werden müssen. Die Verwaltung wie die Betreuung wurden weitgehend outgesourcet und die Beschäftigungsverhältnisse verschlechtert. Bildung und Beratung wurden eigenständigen Gesellschaften übertragen, die somit – anders als Gewerkschaften – Profit machen und Geld von Unternehmen kassieren dürfen (Verbot der Gegnerfinanzierung). Gegenüber den Altbeschäftigten, v.a. den „politischen“ Gewerkschaftssekretären, sind die dort Beschäftigten schlechter bezahlt.

Die politische Ebene

Auf politischer Ebene hat sich die Gewerkschafts-Bürokratie genauso orientiert wie die Sozialdemokratie, von deren Fleische sie ja ist. Ende der 1990er Jahre hat sich in der Sozialdemokratie aller größeren Länder eine starke rechte Strömung gebildet, die auf Grundlage einer Anerkennung von Neoliberalismus und kapitalistischer Globalisierung als „unvermeidlicher“ Realitäten die Politik der Sozialdemokratie auf eine „neue“ Grundlage stellen wollte. In Britannien war das Blairs „Third Way“, in Deutschland Schröders „Neue Mitte“. Die Zielsetzung dieser Strömung war letztlich, der Sozialdemokratie eine neue soziale Stütze außerhalb der Arbeiterklasse zu verschaffen und diese Parteien auf die lohnabhängigen Mittelschichten auszurichten.

In den Gewerkschaften entsprach dem der Kurs eines Teils der Bürokratie, z.B: die „Reformer“ in der IG BCE oder der Huber-Flügel in der IG Metall. Ähnliches geschah auch in anderen Ländern, so der „New Realism“ in der britischen Gewerkschaftsbewegung.

Auch wenn es diesem Flügel nicht gelang, die Sozialdemokratie von ihrer Abhängigkeit von der organisierten Gewerkschaftsbewegung abzukoppeln, wie es v.a. Blair zeitweilig offensiv verfolgte, so bildete die „Neue Mitte“ u.ä. Ideologien unausgesprochen einen neuen ideologischen Unterbau der Bürokratie in der Sozialdemokratie und auch in den Gewerkschaften und bei Betriebsräten. Ganz im Sinne dieser Ideologie wurde auch die Agenda 2010 übernommen oder die Hartz-Reformen unter Einbindung der Gewerkschaftsbürokratie ausgearbeitet.

Ziel der Agenda 2010 war es, die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Imperialismus v.a. gegenüber dem US-Imperialismus zu stärken. Diese Stärkung sollte über einen Angriff auf die Arbeiterklassen, v.a. auf die stärksten, erfolgen. Zugleich hieß und heißt „Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Imperialismus“ die des stärksten, also des deutschen. Dass dabei die anderen europäischen Staaten tw. massiv ins Hintertreffen gerieten, ist eine andere Folge, für die die Gewerkschaften mit der Senkung der Lohnstückkosten im internationalen Vergleich jedoch mitverantwortlich sind.

Die Bürokratie verfolgte diese nationalen, imperialistischen Ziele im Namen der „Stärkung des Standorts Deutschland“ oder der Wettbewerbsfähigkeit desselben. Es ist kein Wunder, dass sie mit dem Jugoslawienkrieg 1999 auch die militärischen Ziele des deutschen Imperialismus wieder offener unterstützt.

Trotz verbaler Kritik hat die Bürokratie letztlich nicht nur die Hartz-Gesetze, sondern auch die Leiharbeit akzeptiert, die es lediglich „zu regulieren“ gelte.

Zu dem massiv aufgetretenen Problem der Niedriglöhne haben die Gewerkschaften spät reagiert. Im Namen der Tarifautonomie sperrte sich die IG Metall noch gegen die Forderung nach einem Mindestlohn, als IG BAU und ver.di dies schon auf der Agenda hatten. Allerdings haben die Gewerkschaften nie ernsthaft für einen allgemeinen Mindestlohn gekämpft, sondern die Branchenlösung nach dem Entsendegesetz akzeptiert, die das Einverständnis der Unternehmerverbände voraussetzt.

Daneben wurden Mindestlöhne in einer Höhe gefordert, die auch bei 45 Versicherungsjahren nicht zu einer Rente oberhalb von Hartz IV reichen. Derzeit wären das etwa 11,- Euro, der DGB hat seine Forderung für den Mindestlohn zuletzt auf 8,50 Euro erhöht.

In der Krise sind die Industriegewerkschaften IGM und IG BCE zu einer gesteigerten Form der Klassenzusammenarbeit bereit gewesen, die man angesichts der verschärften inter-imperialistischen Konflikte schon als Vorstufe einer Burgfriedenspolitik (8) einschätzen kann. Die IG Metall hat sich mit einer Verlängerung der Kurzarbeit auf zwei Jahre, dem Verzicht auf die bisher tariflich geregelte Aufzahlung durch die Unternehmen, einem Tarifvertrag, der – erstmals seit den 30er Jahren – Einkommensverluste über die Kurzarbeit hinaus ermöglicht, im Austausch für weitere tarifliche Kurzarbeitsregelungen, das Ganze garniert mit der Abwrackprämie für Autos zum national Krisen-Co-Manager entwickelt.

Dieser Trend ging einher mit einer grundlegenden Verschiebung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Bürokratie auf der Grundlage bedeutender Niederlagen der Arbeiterklasse. Der IG Metall-Streik für die 35-Stunden-Woche im Osten war hier ein Wendepunkt. Er brachte zwar kurzfristig den „Traditionalisten“ Peters an die Spitze, doch dieser Flügel vermochte es nicht, die „Reformer“ um Huber zu stoppen oder ein tragfähiges Gegenkonzept zu entwickeln.

4. Die Klasse heute

Seit Mitte der 80er Jahre hatte die Arbeiterklasse in Westdeutschland immer wieder Angriffe hinnehmen müssen, nur selten konnte sie Teilerfolge erringen. Andererseits konnte sie so viel Widerstand entwickeln, dass auch die Bourgeoisie meist zurückstecken musste. Immer wieder erwiesen sich die SPD und die reformistische Bürokratie als wirkungsvolle Instrumente der Kapitalisten, um den Widerstand zu bremsen und zu begrenzen.

In der DDR erlitt die Arbeiterklasse eine Niederlage von historischer Dimension durch die kapitalistische Wiedervereinigung. Die verloren gegangen Kämpfe gegen Treuhand und Stilllegungen belegen das. Zwei Drittel der industriellen Arbeiterklasse der DDR verloren innerhalb von 2-3 Jahren ihre Jobs – im Osten fand eine auch im historischen Maßstab extreme Entindustrialisierung statt. Die Verantwortung dafür liegt sowohl bei den Stalinisten, die durch die politische Unterdrückung der Arbeiterklasse verhindert hatten, dass diese eigene Machtorgane wie Fabrikkomitees und Räte sowie eigene Parteien aufbauen konnte, als auch bei den Sozialdemokraten, die auf politischer wie gewerkschaftlicher Ebene sich zu Motoren der Rekapitalisierung machten und zugleich Illusionen in einen sozialen Kapitalismus streuten, den sie im Westen bereits zu demontieren halfen.

Im historischen Gesamtblick war die kapitalistische Wiedervereinigung zugleich eine Niederlage der gesamten deutschen Arbeiterklasse, die aber vom Hauptteil der Klasse im Westen so erst einmal nicht empfunden wurde – und gerade deshalb doppelt dramatisch war. Die deutsche Bourgeoisie aber nutzte die Niederlage als Hebel, die Sozialversicherung und die Tarife im ganzen Land anzugreifen. Ostdeutsche ArbeiterInnen wurden zur Billiglohn-Reservearmee.

Mit der Agenda 2010 hat sich das Kräfteverhältnis noch einmal entscheidend geändert. Die Angriffe der Regierung Schröder auf die westdeutschen ArbeiterInnen waren schwerer und erfolgreicher als die Helmut Kohls. In der Folge hat sich die Struktur der Klasse massiv geändert. Die überwiegende Mehrheit der Klasse ist geschwächt, weil sie weniger auf organisierte Strukturen und Erfahrungen zurückgreifen kann. Diese müssen neu erworben bzw. aufgebaut werden. Die deutsche Arbeiterklasse hat wichtige Errungenschaften oder Zugeständnisse der Nachkriegsära aufgegeben bzw. verloren. Das stellt eine wichtige Niederlage der Arbeiterklasse dar, auch wenn sie etappenweise und nicht auf einen Schlag erfolgte.

Eine Besonderheit stellt aber zweifellos die Form dar, in der diese Niederlage von statten ging. Sie erklärt sich aus dem Charakter und den Bedürfnissen des deutschen Imperialismus, was wiederum erklärt, warum nach dieser Niederlage die Gewerkschaftsbürokratie gestärkt wurde, was sich in der Krise 2008-10 fortgesetzt hat.

In Britannien und den USA gingen die strategischen Niederlagen durch die neoliberale Offensive mit einer massiven Schwächung der industriellen Basis des britischen bzw. US-Imperialismus einher. Die deutsche Bourgeoisie hingegen hat immer das Ziel verfolgt, die Industrie als materielle Basis ihres Imperialismus nicht nur zu erhalten, sondern sich darauf in der Weltmarktkonkurrenz ebenso wie im politischen Kampf um eine Neuordnung der Welt zu stützen.

Ein zentrales Ziel der neoliberalen Angriffe in Britannien und den USA war, eine grundlegende Schwächung der Gewerkschaften einschließlich ihrer bürokratischen Führungen herbeizuführen, indem die Strukturen der Gewerkschaften und ihre gesellschaftliche Macht frontal angegriffen und in den Augen aller Klassen gebrochen wurde.

In Deutschland war es anders. Trotz einer deutlichen Entfremdung von DGB-Führungen und SPD unter Rot/Grün und auch während der Großen Koalition, wurde der grundlegende Korporatismus, die „Sozialpartnerschaft“ nicht gebrochen. Die Gewerkschaften selbst wurden unter Schröder – siehe Hartz-Kommission – einbezogen, wenn auch oft nicht auf „Top“-Level. So gelang es der DGB-Spitze in einer ersten Stellungnahme zu Schröders Agenda-Rede auch dort noch, so manches „Positive“ zu finden.

„1. Schröder hat volle Unterstützung für Friedenskurs, 2. angekündigte Wachstumsimpulse sind gutes Zeichen, müssen aber anders ausgestaltet werden, der Staat und nicht eine Bank muss sich massiv engagieren, 3. insgesamt ist das Reformkonzept nicht ausgewogen: an die Wirtschaft gehen überwiegend Appelle, Arbeitnehmer und Erwerbslose dagegen müssen mit massiven finanziellen Nachteilen rechnen. 4. Tarifautonomie: wir machen seit Jahren, was der Kanzler fordert. Wir begrüßen sein klares Bekenntnis zu den Vorteilen der Tarifautonomie und der Mitbestimmung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. 5. Ausbildungsplätze: begrüßen Forderung des Kanzlers an die Unternehmen für mehr Ausbildung. Wichtig halten wir die Möglichkeit einer Ausbildungsplatzabgabe.“ (9)

Es verwundert nicht, dass sich die Gewerkschaftsführungen daher direkt gegen die Bewegungen gegen Hartz-Gesetze und Agenda 2010 stellten. Nach halbherzigen Mobilisierungen im Frühjahr 2003 wurden alle Aktivitäten eingestellt, da das Thema „nicht mobilisierungsfähig“ sei. Dass dies allein die Unwilligkeit der Führungen war, zeigte eine eintägige Massenmobilisierung in Schweinfurt, wo der spätere WASG-Führer Ernst als lokaler IG Metall-Chef streikähnlichen Widerstand organisierte.

Erst als am 1. November 2003 100.000 in Berlin gegen den erklärten Willen der Führung auf die Straße gingen, als sich eine Massenbewegung formierte und auch Teile des Apparats logistische Unterstützung für die Bewegung lieferten, schwenkte die Spitze um. Im Mai 2004 brachte sie mehr als eine halbe Million auf die Straße, allerdings nominell nicht gegen die Regierung, sondern für einen „europäischen Aktionstag“, von dem in keinem anderen Land etwas bekannt war. Um die Bewegung von oben her endgültig abzuwürgen, wurde danach aufgerufen, Unterschriften zu sammeln, die an alle Bundestagsparteien appellierten.

Die im August folgenden Montagsdemos – eine wirkliche Massenbewegung der Erwerbslosen im Osten – wurden noch viel schmählicher in Stich gelassen. Jede Ausweitung in den Westen, jede Verbindung mit Belegschaften wurde bekämpft.

Fast zeitgleich im Frühjahr 2003 hatte die schäbige Rolle der Betriebsratsbürokratien in den großen westdeutschen Autokonzernen zum Abbruch und zur Niederlage des Streiks um die 35-Stunden-Woche im Osten geführt. 2005 kamen dann die „Standortsicherungen“, in denen die IG Metall-Führung gegen Massenproteste bei Daimler und einen einwöchigen Streik bei Opel Bochum die Belegschaften verkaufte.

Ohne diesen Verrat der Führungen, ohne diese Kooperation mit dem Kapital wären die Agenda-Politik und ihre Folgen nicht so einfach durchsetzbar gewesen. Zugleich waren diese drei Klassenkampfereignisse auch Möglichkeiten für eine Verallgemeinerung des Kampfes und um die  Frage des politischen Massenstreiks gegen die Regierung auf die Tagesordnung zu stellen. Die Niederlagen dieser einzelnen Auseinandersetzungen haben nicht nur das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, sondern auch in der Klasse verschoben.

Alle Angriffe, und insbesondere auch die Anti-Krisenpolitik, gingen mit Korporatismus einher – ein Korporatismus jedoch für eine schrumpfende und sich wandelnde Arbeiteraristokratie. Diese sollte und soll weiter eingebunden werden in die ökonomischen und politischen Strategien des deutschen Kapitals.

Während also einerseits Organisations- und Kampfstrukturen der Klasse zerstört wurden, wurden andererseits Strukturen der Klassenkollaboration, wie die Betriebsräte, gegenüber allen eigenständigen Ansätzen bewusst weiter gestärkt. Unter Kohl suchte die Regierung noch eine Konfrontation mit den Gewerkschaften. In Phasen der Agenda-Umsetzung reichte der Regierung Schröder eine passive Unterstützung durch die Gewerkschaftsführungen. Interessanterweise hat die Krise 2007/08 dazu geführt, dass die Regierung Merkel stärker die Kollaboration mit Gewerkschaften und Betriebsräten suchte, um die Kosten der Krise auf die Klasse abzuwälzen, aber zugleich die Lasten für die Arbeiteraristokratie in der Exportindustrie abzuschwächen – was die Gewerkschaftsbürokratie wiederum als eine „Aufwertung“ ihrer gesellschaftlichen Rolle freudig aufgriff.

Neben der Niederlage und der daraus folgenden Veränderung der Klasse gibt also eine andere, grundlegende Veränderung gegenüber den 1990er Jahren und der ersten Phase des 21. Jahrhunderts. Die Gewerkschaftsbürokratie ist insgesamt deutlich nach rechts gerückt, der „traditionalistische“ Flügel ist schwächer geworden. Andererseits ist auch die Einbindung der Gewerkschaften in das System der Klassenkollaboration gestärkt worden, v.a. zu Beginn und im Laufe der letzten, großen Rezession.

Heute steht die Gewerkschaftsbürokratie insgesamt also geschlossener da, während die Niederlagen und vergebenen Möglichkeiten des letzten Jahrzehnts zugleich die kampffähigen Teile der Klasse in Struktur, Zahl und Größe geschwächt haben.

Natürlich sind auch weiterhin noch kampffähige Strukturen vorhanden, manche wurden auch neu aufgebaut. Diese können genutzt werden. In manchen betrieblichen Kämpfen und gesellschaftlichen (Anti-Krisen-) Bewegungen zeigen sich jene Elemente, mit der die deutsche Arbeiterklasse wieder auf die Füße kommen kann und wo sich sogar ein gewisser Grad an Eigenorganisation entwickelt.

Aber es handelt sich um einen Reorganisationsprozess aus der Defensive heraus. Über die Gewerkschaften und erst recht über die Betriebsräte in den Großkonzernen ist die Klasse mehr als noch vor 10 Jahren in das Herrschaftssystem des Kapitals eingebunden. Die Bürokratie sitzt fester im Sattel – damit ist auch ihre Fähigkeit gewachsen, die nach wie vor vorhandenen Kampfpotentiale auszubremsen.

Der Grund dafür liegt nicht einer grundsätzlichen Unmöglichkeit massenhafter politischer Abwehrkämpfe. Im Gegenteil. Ein Aufruf zu Massendemonstrationen am Beginn der Krise, als die Banken gerettet wurden und die Massen dafür bluten sollten, hätte wahrscheinlich Millionen mobilisieren und Kämpfe von weit größerem Ausmaß hervorrufen können, als die Kämpfe der letzten 10, 15 Jahre. Die herrschende Klasse fürchtete eine solche Entwicklung enorm, weil erstmals seit der kapitalistischen Wiedervereinigung der Kapitalismus als Gesellschaftssystem bei der Mehrheit der Bevölkerung in Misskredit geraten war. Aber die Gewerkschaften ließen die Möglichkeiten nicht nur verstreichen, sie blockierten die Entwicklung ganz bewusst bis hin zu Absprachen, vor den Bundestagswahlen nicht zu mobilisieren.

Zweifellos sind noch Errungenschaften des Proletariats vorhanden, die weitere Angriffe des Kapitals nötig machen. Doch das ist nicht so einfach. Einerseits muss die Bourgeoisie in Deutschland größere Teile der Klasse an sich binden, sie braucht eine im Vergleich zu anderen Ländern große Arbeiteraristokratie; andererseits muss sie zugleich deren Errungenschaften angreifen. Werden in einem neuen Abschwung Teile dieser angegriffenen Schichten, die oft noch über alte Kampferfahrung verfügen, in die Offensive gehen? Werden die Kämpfe der „neuen aristokratischen Schichten“, wie PilotInnen, ÄrztInnen usw. zu Zündfunken für weitere Teile der Klasse? Es stellen sich weitere Fragen: Wie werden die schlecht bezahlten Schichten der Klasse auf das zunehmende Lohngefälle reagieren? Werden sich die NiedriglöhnerInnen z.B. im Transport und in der Logistik ihrer Schlüsselstellung bewusst?

Zahlenmäßige Entwicklung der Arbeiterklasse und ihrer Schichten

Die Gesamtzahl der Lohnabhängigen ist gewachsen, auch die Gesamtzahl der eigentlichen Arbeiterklasse ist durch die Proletarisierung früherer Mittelschichten gewachsen. Der Anteil der Industriearbeiterschaft ist durch Rationalisierung, Ausgliederung und Verlagerung gesunken, damit wurde auch die traditionelle Arbeiteraristokratie zahlenmäßig verringert.

LeiharbeiterInnen und Prekariat: Die Herausbildung einer echten Unterschicht der Arbeiterklasse hat schon früher begonnen. Seit den 80ern wurden z.B. Behinderte, Kranke oder sozial „schwierige“ Menschen nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert. Sie wurden zu Langzeitarbeitslosen, die sich vielfach auch nicht mehr integrieren konnten oder wollten. Aber das war eine heterogene Gruppe am Rande einer relativ homogenen Arbeiterklasse. Nach den Massenentlassungen im Osten 1992 entstand dort ein pauperisiertes Arbeitermilieu aus Arbeitslosen, WanderarbeiterInnen und PendlerInnen, das aber auch bezogen auf die Klasse insgesamt weiter nur eine Randrolle spielte. Heute umfasst das Prekariat einen großen Teil der Klasse, etwa ein Fünftel bis ein Viertel aller Lohnabhängigen. Es dominiert nicht nur im Osten, sondern auch innerhalb der arbeitenden Jugend. Es gibt weiterhin unterschiedliche Formen – Leiharbeit, Teilzeit, 400 Euro-Jobs, Niedriglöhne, Ein-Euro-Jobs, Befristete, Werkverträge – aber die einzelnen Gruppen innerhalb dieser Schicht umfassen jeweils Hunderttausende.

Öffentlicher Dienst: In vielen europäischen Ländern stellt der Öffentliche Dienst – auch mit seinen privatisierten Bereichen – die kämpferischen Kernschichten der Klasse. In Deutschland waren die Kampftruppen eher in der Metallbranche, früher auch in der Druckindustrie, zu finden. Die andauernden Angriffe auf den Öffentlichen Dienst haben aber nicht nur die Gesamtzahl der dort Beschäftigten gesenkt, sondern dort auch die wenigen, traditionell kämpferischen Schichten wie Nahverkehr und Müllabfuhr durch Privatisierung und Zerschlagung geschwächt. Diese Schichten gehörten früher durchaus auch zur Arbeiteraristokratie. Neue Schichten sind nur vereinzelt in den Kampf gezogen, z.B. die ErzieherInnen. Das Potential an Proletariat ist durch Privatisierung und Verlust von Privilegien aber eigentlich gestiegen.

Zahlenmäßig sind die Schichten, die aus den lohnabhängigen Mittelschichten ins Proletariat hineinfallen, nicht so bedeutend wie ihre mögliche Rolle im Klassenkampf als neuer Bestandteil der Arbeiteraristokratie.

Die Arbeiteraristokratie

Die Veränderungen, die sich in und für die Arbeiteraristokratie ergeben, sind für eine revolutionäre Organisation von großer Bedeutung, v.a. in einem imperialistischen Land. Jede Krisenperiode des Kapitalismus, jede große Veränderung bedeutet natürlich auch, dass nicht nur die „unteren“ Schichten der Klasse weiter nach unten gedrückt werden, dass neben Arbeitslosigkeit auch „Unterbeschäftigung“ entsteht, sondern dass auch jene Schichten der Klasse, die über eine ganze Periode hinweg eine gegenüber der Mehrheit des Proletariats relativ privilegierte Stellung eingenommen haben, von massiven Veränderungen betroffen sind und tw. sogar als solche privilegierte Schicht verschwinden können. Ökonomisch betrachtet, stellt die Arbeiteraristokratie einen Teil der Klasse der Lohnabhängigen dar, der über eine längere Periode Löhne erhält, die über den durchschnittlichen Reproduktionskosten liegen.

Kapitalseitig ist die Basis dafür die Entstehung von Extraprofiten aus der globalen Ausbeutung und die Bildung großer Monopole. Somit ist eine Arbeiteraristokratie ein Kennzeichen für die Arbeiterklasse aller imperialistischen Länder, die in bestimmten Perioden ein Viertel oder gar Drittel der Gesamtklasse umfassen kann (vgl. z.B. Hobsbawns Kalkulationen für Britannien im 19. und 20. Jahrhundert). Das geht auch einher mit einer relativen Sicherheit des Arbeitsplatzes und einer gewissen Verkleinbürgerlichung des Lebensstils.

In Deutschland ist aufgrund der enormen Bedeutung des industriellen Sektors – Stichwort „Exportweltmeister“ – die tradierte Arbeiteraristokratie v.a. unter den Beschäftigten der Großindustrie zu finden.

Es handelt sich um die Teile der Klasse, einerseits stark inkorporiert sind, andererseits aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stellung dem Kapital aber auch den größten Schaden zufügen und damit ihm auch politisch gefährlich werden können: Sie sind es, die z.B. für einen Generalstreik von entscheidender Bedeutung sind.

Das ist kein Zufall. Schließlich ist es ja auch erst die Stellung in solch strategisch wichtigen Wirtschaftsbereichen, die es ermöglicht, dass sich bestimmte Schichten der Arbeiterklasse zu einer Arbeiteraristokratie entwickeln können – gewissermaßen als Nebenprodukt erfolgreich geführter ökonomischer Kämpfe oder jedenfalls einer starken Stellung im Produktionsprozess, aus der sich auch eine starke Verhandlungsposition ergibt.

Aus gutem Grund ist jede Bourgeoisie auch eher bereit, diesen Schichten entgegenzukommen, sie zu „bestechen“ und einen Teil ihrer Extraprofite auf diesen Bereich zu verwenden. Ebenso konzentrieren sich die reformistischen Apparate besonders darauf, diese Bereiche ökonomisch und politisch in den bürgerlichen Staat und seine Institutionen zu integrieren. Umgekehrt liefert natürlich auch die Arbeiteraristokratie überproportional viele Kader für die reformistischen Apparate. Diese Verbindung zu sprengen ist für eine siegreiche Revolution unerlässlich.

Welche Schichten in einer Gesellschaft zur Arbeiteraristokratie gehören, ist von der technisch-ökonomischen Entwicklung, dem Kräfteverhältnis zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie und der internationalen Stellung der Bourgeoisie abhängig. Entsprechend gibt es Schichten, die eher durch ihre unverzichtbare Qualifikation, und andere, die durch ihre hohe Wertschöpfung bzw. zentrale Stellung in der Produktions- oder Distributionskette zur Arbeiteraristokratie gehören. Gerade letztere Schichten müssen sich dieser Stellung bewusst werden, was nur durch kollektive Kampferfahrung geschehen kann.

Wenn verschärfte Konkurrenz zwischen den Kapitalisten bzw. den imperialistischen Staaten die Ressourcen zur Befriedung der Arbeiteraristokratie vermindert, die Bourgeoisie also die Arbeiteraristokratie oder Teile dieser angreifen muss, ergeben sich zwei Chancen: erstens können diese Angriffe zu sofortigem Widerstand führen, besonders dann, wenn es sich zugleich um Schichten handelt, die ihre herausgehobene Stellung zu erfolgreichen ökonomischen Kämpfen genutzt haben bzw. diesen verdanken; zweitens können diese Schichten auch langfristig besser für den Klassenkampf gewonnen werden, wenn sie ihre ökonomische Schlüsselrolle behalten und zugleich die Kontrolle der reformistischen Apparate geringer wird.

Die Angriffe der Kapitalisten und Regierungen haben hier zu einem Szenario geführt, das in bestimmten Bereichen schon zu Explosionen geführte hat und auch zukünftig führen kann.

Beispiele für Angriffe auf die Arbeiteraristokratie

ProduktionsarbeiterInnen in der Metallindustrie

Die Schicht der Arbeiteraristokratie, welche die stärksten Angriffe erlitten hat, sind die MetallarbeiterInnen in der Produktion. Sie wurden durch Rationalisierung und Verlagerung dezimiert, sie mussten Lohnverluste durch ERA und Standortsicherungen hinnehmen. Es gab kampflose Niederlagen bei Nokia Bochum und Siemens Kamp-Lintfort. Auch dort, wo die Bürokratie den Kampf nicht verhindern konnte, endete dieser in Niederlagen, z.B. bei BSH Berlin, AEG Nürnberg, Fahrradfabrik Nordhausen, Mahle Alzenau, Behr Stuttgart. Teilerfolge gab es nur bei Opel Bochum 2006 und Daimler Sindelfingen 2009.

Kampfmittel Betriebsbesetzung

In diesen Kämpfen kam es auch zu Besetzungen oder zu Versuchen dazu. Zu diesem Kampfmittel wurden von Belegschaften dann gegriffen, wenn klar war, dass ein Streik keinen ökonomischen Druck ausüben kann. Diese Besetzungen wurden in Deutschland aber nie mit der Perspektive der Arbeiterkontrolle der Produktion geführt, sondern nur, um die Abfindungsbedingungen hoch zu treiben. Bei Mahle Alzenau konnte diese Perspektive in einem Teil der Belegschaft durch unser Eingreifen verankert werden – drei Tage lang war der Betrieb besetzt.

Kampfmittel alternative Listen

Die Zunahme von alternativen Betriebsrats- und Personalratskandidaturen ist eine Antwort auf die Politik der Bürokratie. Da die gewerkschaftlichen Strukturen wie Vertrauensleute immer weniger Möglichkeiten bieten, selbst gegen die krassesten Auswüchse von Co-Management vorzugehen, ja sich die gewerkschaftliche Betriebspolitik auf Begleitung der Betriebsrats- und Personalratsarbeit reduziert, sind alternative Kandidaturen zu einem häufigeren Mittel geworden, um sowohl gegen Betriebsrats-Fürsten, wie auch gegen Gewerkschaftsbürokraten vorzugehen.

Die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes, die von CDU-Regierungen im Namen des Minderheitenschutzes eingeführt worden waren, werden heute öfter zum Werkzeug kämpferischer Elemente als der anti-gewerkschaftlichen Minderheiten, für deren Förderung sie ursprünglich gedacht waren. Die kämpferischen Betriebsrats-Fraktionen tendieren aber immer zum Betriebssyndikalismus und landen auch dort, solange keine antibürokratische Basisbewegung in den Gewerkschaften existiert. Umgekehrt stellen sie ein Potential für eine solche Bewegung dar. Bekanntestes Beispiel ist die Gruppierung ALTERNATIVE bei Daimler Untertürkheim. Aufgrund ihrer erfolgreichen Basisarbeit, die ihr eine Mehrheit im Werkteil Mettingen gegen die „offizielle“ Betriebsratsliste der IGM sicherte, konnte sie sich allen Repressionen einschließlich Ausschlussdrohungen widersetzen und ist so zum oft kopierten und nie erreichten Vorbild für eine solche Taktik geworden. Seit der Betriebsratswahl 2010 ist die ALTERNATIVE wieder in die IGM-Fraktion integriert, arbeitet aber um die gleichnamige Zeitung weiter. Ein Höhepunkt der ALTERNATIVE war der Marsch über die Schnellstraße B10 mit 2.000 Beschäftigten des Mettinger Werks auf dem Weg zur Protestkundgebung der IG Metall gegen die Angriffe im Jahr 2005.

Die Rolle der MigrantInnen

MigrantInnen stellen im Westen nicht nur einen großen Teil der prekär Beschäftigten und Arbeitslosen, sondern auch einen Teil der Arbeiteraristokratie. Naturgemäß spielen deshalb MigrantInnen bei den Kämpfen des Prekariats ihre Rolle, sehr wichtig ist aber auch ihre Rolle als bedrohte Schicht der Arbeiteraristokratie. Ihre Zugehörigkeit zur Arbeiteraristokratie beruht v.a. auf Kampfkraft, nicht so sehr auf Qualifikation, mit der sie als angelernte Produktionsarbeiter besonders in der Metall- und Elektroindustrie auch von den Extra-Profiten des exportorientierten Kapitals etwas abbekamen. Die Rationalisierungen und Verlagerungen von Produktion entwerten ihre v.a. in der Praxis erworbenen Fähigkeiten völlig und werfen sie in die untersten Schichten der Klasse hinab. Nur die Jüngeren haben eine Chance, über Qualifizierung in andere Bereiche zu wechseln, „deutsche“ ArbeiterInnen in der gleichen Lage haben ebenfalls bessere Chancen.

Ein Beispiel dafür ist das Werk 8 des Kühlerherstellers Behr in Stuttgart-Feuerbach, in dem fast nur MigrantInnen tätig waren, allerdings mit langer Betriebszugehörigkeit. Als das Werk in der Krise 2009/10 geschlossen werden sollte, widersetzten sich die Beschäftigten in einem halbjährigen harten Kampf diesen Plänen.

FacharbeiterInnen

In einer ähnlichen ökonomischen Lage befinden sich die FacharbeiterInnen im Maschinenbau u.ä. Branchen. In den letzten 10-20 Jahren fand eine große Fusionswelle in Deutschland statt. Jetzt steht diese auf internationaler Ebene bevor, v.a. in Richtung China. Im Maschinenbau dominiert aber die Schicht der männlichen „deutschen“ Facharbeiter, die v.a. durch „deutsche Wertarbeit“, d.h. hohe Qualifikation ihren Platz in der Arbeiteraristokratie eingenommen haben und seltener über Kampftraditionen verfügen als ihre KollegInnen in der Auto-Industrie. Dennoch können die neuen Angriffe zu neuen Kämpfen führen. Exemplarische Kämpfe gab es bei Alstom Power Mannheim, KBA Stuttgart oder Atlas Norddeutschland.

Ein gutes Beispiel sind auch die Drucker, die ursprünglich durch ihre Qualifikation (Lesen und Schreiben) – nicht nur in Deutschland – zur Arbeiteraristokratie gehörten. In Deutschland verbanden sie diese mit einem hohen Organisationsgrad und hoher Kampftradition. Ihr Schicksal wurde durch die Computertechnik schon vor einer Generation besiegelt.

Proletarisierte Schichten aus dem (ehemaligen) Öffentlichen Dienst

Post, Telekom und Bahn

In diesen Sektoren hatten die zuständigen Gewerkschaften, die rechtssozialdemokratische GDED (später Transnet, heute EVG) und die DPG (sozialdemokratisch mit stalinistischer Organisationsdisziplin, heute in ver.di) eine desaströse Linie: Keinen Widerstand gegen die Privatisierung als solche, keine oder zu späte Organisierung konkurrierender Unternehmen, anschließend Verzicht bei Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen mit Verweis auf die Konkurrenz. Die Belegschaften sind gespalten in einen alten Stamm mit Kündigungsschutz und hohen Rentenzusagen, teils sogar mit Beamtenstatus, und den Neuen, die befristet oder sogar bei firmeneigenen Leiharbeitsfirmen (bei Post und Telekom) oder Subunternehmen (Bahnen) angestellt sind.

Bei der Bahn führte diese Lage dazu, dass die GDL, als berufsständische Gewerkschaft der Lokführer im Beamtenbund, den wir im Prinzip als gelbe Gewerkschaft ansehen, durch einen Zustrom neuer Mitglieder, v.a. aus dem Osten, sich im Kampf aus der bürokratischen Tarif-Einheit der Bahngewerkschaften löste. Einerseits stellen die Lokführer eine arbeiteraristokratische Schicht innerhalb der Bahn dar, da sie nicht so schnell zu ersetzen sind, andererseits machten sie sich völlig zu Recht die Verwundbarkeit des Transportsystems zunutze. Die organisationspolitischen Egoismen der CDU-orientierten GDL-Führung wie auch die Spaltungspolitik der DGB-Führung verhinderten allerdings, dass die Teilerfolge des Streiks 2007 zu einem Fanal für allgemeine Kämpfe im Transportsektor wurden.

Krankenhäuser

Pflegekräfte und ÄrztInnen hatte beide eine typisch berufsständische Tradition. Heute verbindet Krankenhausärzte außer dem gleichen Ausbildungsweg nur noch wenig mit niedergelassenen Ärzten, die zwar auch von den Rationalisierungen im Gesundheitswesen erfasst sind, aber ihre Standesprivilegien wahren konnten. Bei den Pflegekräften funktioniert die Ideologie des „Dienstes am Menschen“ und der „Nächstenliebe“, die aus der kirchlichen Dominanz des Bereichs stammt, immer weniger. In der Folge sahen wir mehr Krankenhausstreiks, bei den ÄrztInnen hat sich auch die Spartengewerkschaft Marburger Bund gezwungen gesehen, zu diesem Kampfmittel zu greifen.

LeiharbeiterInnen und Prekariat im Klassenkampf

Bislang haben LeiharbeiterInnen nirgends eine spezifische Rolle in Kämpfen gespielt, weder in den entleihenden Branchen, noch bei den Verleih-Unternehmen selbst oder in sozialpolitischen Konflikten. Anders sieht es im Niedriglohnbereich bei bestimmten Dienstleistungsbranchen aus, dort gab es Kämpfe in einzelnen Sektoren.

Transport

Hohe Wellen schlug der Streik bei Gate-Gourmet im Düsseldorfer Flughafen 2006. 2009 gab es erste Streiks an Flughäfen während des Tarifkampfes im Bewachungsgewerbe.

Handel

Der Einzelhandel kann mit seinem hohen Anteil an 400 Euro-Kräften, teilzeitbeschäftigten Frauen, Befristungen und einem hohen Anteil an MigrantInnen auch zu diesem Sektor gezählt werden. Hier gab es Tarifkämpfe, Betriebsrats-Gründungen, Konflikte um Überwachung und willkürliche Entlassungen. Allerdings waren die ProtagonistInnen eher die Stammbeschäftigten. Ausnahmen waren die Mode-Läden H&M und Zara mit v.a. jugendlicher Belegschaft, die mit geringerer Abhängigkeit – z.B. Jobben neben dem Studium – und oft großem Elan die Zumutungen der Firmenleitungen attackierten.

Gebäudereinigung

Aufsehen erregte der erste Streik der GebäudereinigerInnen im Herbst 2009. Dieser gelang mit starkem Einsatz des Apparats der Gewerkschaft BAU, war aber durchaus getragen von zahlreichen Belegschaften im Osten bzw. im Westen v.a. durch MigrantInnen. Die IG BAU kann sich kaum noch auf arbeiteraristokratische Schichten stützen. Im Bauhauptgewerbe sind diese sehr stark geschrumpft, in anderen Branchen, die von der IG BAU organisiert werden, waren sie ohnehin nie vertreten. Dabei standen die GebäudereinigerInnen früher durchaus der Arbeiteraristokratie nahe – so gehörten sie z.B. zum Tarif der Metall- und Elektroindustrie oder des Öffentlichen Dienstes. Ihre Verdienste lagen weit über denen ihrer KollegInnen, die in Privathaushalten arbeiteten. Erst die massiven Ausgliederungen brachten sie zur IG BAU.

Der Fall aus den lohnabhängigen Mittelschichten ins Proletariat

Technische Angestellte und Beschäftigte in der Informations- und Kommunikationstechnologie (ITK)

Veränderungen im Bereich der ITK-Beschäftigten

Im Zusammenhang mit der gestiegenen Bedeutung von elektronischer Informationsverarbeitung und Kommunikation im Gefolge von Rationalisierungen im Industrie- und Dienstleistungssektor haben sich die Arbeitsbedingungen von technischen Angestellten stark geändert. Privilegierte Ingenieursberufe finden sich zumeist nur noch in Nischen. Besonders die ITK-Industrie ist inzwischen stark arbeitsteilig, qualifikationsmäßig und bezahlungsmäßig differenziert. Speziell Outsourcing (Auslagerung von IT-Abteilungen an eigens dafür tätige Dienstleistungsfirmen), Verlagerung von IT-Services (Programmierung, Call-Center …) in Billiglohnländer und Vereinfachung der Anpassbarkeit von IT-Diensten z.B. im Umfeld Web-basierter Anwendungen haben zu einer Entwertung von Expertentum und zu stark unsicheren Job-Situationen geführt. In der ITK-Industrie sind inzwischen nicht nur wie schon früher stark belastende und exzessive Arbeitsbedingungen, sondern auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse stärker verbreitet.

In diesem Zusammenhang verstärkt sich auch die Gegenwehr. Dies nimmt (neben den neuen Internet-basierten Widerstandsarten) auch traditionelle Formen an: Kämpfe um die Bildung von Betriebsräten (ob in kleinen „Software-Buden“ oder in der „Krake“ SAP), aber auch Tarifkämpfe. Dies drückt sich auch darin aus, dass inzwischen über die Hälfte der ITK-Beschäftigten in Betrieben mit Tarifverträgen arbeitet und dort nachgewiesen bessere Bedingungen als in den nicht-tarifgebundenen Betrieben haben. Allerdings sind dabei Haustarifverträge sehr häufig (z.B. IBM, HP). Zusätzlich konkurrieren ver.di und IG-Metall in dem Bereich mit stark konträren Eigeninteressen der jeweiligen bürokratischen Apparate. Dagegen sind die IT-Unternehmen stark vernetzt und nutzen ihre Marktposition und die schwache bzw. gespaltene Organisation der Beschäftigten zum Drücken der Lohnniveaus. So gibt es das „Market Based Adjustment“ – eine als Marktstudie verkleidete Kartellabsprache der IT-Unternehmen, aus der „Durchschnittsgehälter“ und angeblich daraus folgende „vertretbare Gehaltssteigerungen“ abgeleitet werden.

Außerdem bestehen Absprachen unter den großen Konzernen, was Qualifizierungsniveaus (Zwang zur Zertifizierung), Arbeitszeitmodelle (bevorzugt „Vertrauensarbeitszeit“), Ausweitung von Bereitschaftsdiensten und Home-office (verschwimmende Grenzen zwischen Arbeits- und Privatzeit) betrifft.

Generell hat sich die Position der technischen Angestellten in der Industrie verschlechtert. Zum einen wurden Teile ihrer Qualifikation wie Programmierung, Arbeitsvorbereitung und Terminverfolgung („SAP“) standardisiert, andere, wie Zeitaufnahmen („REFA“), entfielen durch die Technisierung. Für die Führung großer Anlagen, z.B. auch in der Chemie-Industrie wurde die Ausbildung zum Techniker zur Voraussetzung, zugleich wurden diese Stellen aber bezahlungs- und hierarchiemäßig entwertet.

LehrerInnen

Politisch sind die LehrerInnen 40 Jahre nach dem Aufbruch der 68er weit nach rechts gegangen. Die Angriffe auf das Bildungssystem haben in diesem Bereich nicht zu wahrnehmbarem Widerstand geführt. Zugleich geht der Trend vom Beamtenstatus zum Stundenlohn im Niedriglohnbereich, v.a. in der Erwachsenenbildung. Diese Proletarisierung des Lehrerberufs könnte die Ursache dafür sein, dass die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft die positivste Mitgliederentwicklung aller DGB-Gewerkschaften zu verzeichnen hat, auch wenn öffentliche Kämpfe dieser Gewerkschaft kaum bekannt sind.

JournalistInnen und Medienberufe

Im Medienbereich gab es große Umwälzungen: technische Veränderungen bei Druck, Datenübermittlung und Kommunikation, Kapitalkonzentration auf nationaler und internationaler Ebene und bewusste politische Entscheidungen, wie Teilprivatisierungen bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten oder Aufsplitterung von Konzernen wie Gruner+Jahr u.a. in rechtlich selbstständige Teilgesellschaften. Dies und v.a. die Ausgliederung der großen Verlagsdruckereien, mit den immer noch kampfstarken DruckerInnen machen eine gemeinsame Gegenwehr der Beschäftigten in den Verlagen immer schwieriger.

Berufe wie Kameraleute verloren ihren Status in den Fernsehanstalten durch Ausgliederung und billige Verfügbarkeit von Video-Technik. Print-JournalistInnen geraten v.a. durch den verstärkten Einsatz von „freien“ JournalistInnen, die in der Regel aber wirtschaftlich allein von dem jeweiligen Verlag abhängig sind, unter Druck. Damit findet eine Prekarisierung von vormals hochqualifizierten Jobs statt, die Medienkonzerne scheuen keine Tricks, Tarife zu senken oder entweder ganz oder nur in den zuvor ausgegliederten Betrieben aus der Tarifbindung herauszugehen.

Aber in den letzten Jahren sind in den Zeitungsverlagen JournalistInnen in Streiks getreten. Doch auch andere Verlage und Rundfunkanstalten waren in den letzten Jahren von Streiks betroffen.

Wer ist die Avantgarde der Klasse?

In der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen Politik und Wirtschaft als getrennte Sphären, daher auch der politische und ökonomischer Kampf als separat. Der Reformismus, wie generell bürgerliche Arbeiterpolitik, reproduziert diese Trennung noch einmal durch die Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaft, die für Tarife u.a. ökonomische und soziale Fragen zuständig sein soll, und reformistischer Partei. Das spiegelt sich auch in der Trennung von politischer und wirtschaftlicher Avantgarde wider. Letztlich kann diese Trennung nur durch eine kommunistische Avantgardepartei aufgehoben werden.

Auf ökonomischer Ebene waren es traditionell die Beschäftigten der Metallindustrie, die eine Vorreiterrolle in den Tarifrunden spielten und auch in politischen Fragen, z.B. den spontanen Streiks gegen den Angriff der Kohl-Regierung auf die Lohnfortzahlung 1996.

Mit den verschärften Angriffen des Kapitals und der zunehmenden Klassenkollaboration der IGM-Bürokratie sind die Beschäftigten der Metallindustrie im Begriff, ihre Rolle als ökonomische Avantgarde zu verlieren. Das „Geleitzugprinzip“ funktioniert nicht mehr, die anderen Branchen können nicht mehr von den Vorlagen der IG Metall profitieren. Andererseits hat noch keine andere Branche, kein anderer Sektor diese Rolle übernommen. Eher findet eine Angleichung nach unten statt.

Dennoch bleibt die Industriearbeiterschaft in Deutschland der Kern der Klasse, deren Gewinnung das strategische Ziel einer revolutionären Organisation sein muss.

Der Niedergang der Metallarbeiterschaft als wirtschaftliche Avantgarde ist sicher nicht durch eine geringere Bedeutung der industriellen Kernschichten im Produktionsprozess verursacht, auch wenn Veränderungen in der Zusammensetzungen von Belegschaften und die verschärfte Konkurrenz die Kampfbedingungen oft verschlechtert haben.

Entscheidend ist aber, dass die Trennung von wirtschaftlicher und politischer Avantgarde immer auch Schein ist, dass damit natürlich eine politische Bestimmung der Aktivitäten (oder der Passivität) der Klasse oder von Sektoren der Klasse auch verschleiert wird. Dass die IG Metall keine „Leitfunktion“ für die Tarife oder bei der Verkürzung der Arbeitszeit mehr spielt – höchstens auf „negative“ Art – hat ursächlich mit veränderten politischen Kräfteverhältnissen in der sozialdemokratischen Betriebs- und Gewerkschaftsbürokratie zu tun.

Dies ist auch ein Beleg dafür, dass eine grundlegende Veränderung der Gewerkschaften nie nur durch rein gewerkschaftlichen Kampf und ein rein gewerkschaftliches Programm erreicht werden kann, sondern immer auch politische Initiativen erfordert. Das trifft natürlich umso unmittelbarer in einer Krisenperiode der Gesellschaft zu.

Es ist daher auch kein Zufall, dass die Frage einer Neuzusammensetzung der Avantgarde nie befriedigend gelöst oder verstanden werden kann, wenn wir den Blick nur auf Betriebe und kämpferische Belegschaften und Betriebsoppositionen legen. Diese gehören zwar sicher auch zur Schicht einer größeren Avantgarde. Von mindestens genauso großer, wenn nicht größerer, Bedeutung sind aber die politischen Veränderungen in der Klasse.

Um ver.di-Stuttgart/Baden-Württemberg, Teile der Linkspartei und die Gewerkschaftslinke hat sich vermittels der Krisenbündnisse eine temporäre Struktur herausgebildet, die zeitweilig das Heft des Handelns aufnehmen konnte – ohne aber bereits die Dominanz des sozialdemokratischen Gewerkschaftsapparates zu brechen. Die Organisierung von ein oder zwei bundesweiten Demos mit einigen zehntausend TeilnehmerInnen ist ein wichtiger Schritt – die Macht der permanenten Strukturen der Arbeiterbewegung besteht aber weiter. Hier zeigt sich aber das Potential für eine neue politische Avantgarde, die über den Reformismus der Linkspartei hinausgehen könnte.

Besonderheiten im Verhältnis Massen – Apparate

Die Veränderungen im letzten Jahrzehnt haben auch das Gesamtbild der Kämpfe differenzierter gestaltet. Während Streiks in den Tarifrunden der Metallindustrie zurückgegangen sind, fanden diese in anderen Branchen wie Gebäudereinigung, Bewachung, Kindergärten, Krankenhäuser oder Eisenbahn erstmals statt.

Die Ferne oder Schwäche des Apparats kann es erlauben, dass Belegschaften schneller in den Kampf gehen bzw. AktivistInnen nicht ausgebremst werden. Selbst die FAU konnte sich dadurch erstmals in kleinen Kämpfen profilieren. (Nordhausen, Kino Babylon Berlin). Andererseits können durch die Politik der DGB-Gewerkschaften bei gleichzeitigen Angriffen auf Schichten, die bisher zur Arbeiteraristokratie (Lokführer) oder zu den lohnabhängigen Mittelschichten (Piloten) gehörten, Berufsverbände in die Rolle von kämpferischen Gewerkschaften gedrängt werden.

Schwache betriebliche Apparatstrukturen zwingen die Gewerkschaftsbürokratie unter Umständen, sich auf kämpferische Kräfte zu stützen, was nicht heißt, dass diese nicht nach erfolgreicher Aktion oder Kampagne ihre Schuldigkeit getan haben und gehen können. Umgekehrt gab es in manchen Kämpfen gerade in der Metallindustrie eine deutlich zugespitzte Konfrontation mit dem Apparat: bei Bosch-Siemens-Hausgeräte Berlin (BSH), Mahle Alzenau, Behr Feuerbach und Panasonic Esslingen.

Diese Differenzierung der Kämpfe führte auch dazu, dass verstärkt in „typischen Frauenbereichen“ gekämpft wurde: Kindergärten, Krankenhäuser, Einzelhandel. Manche Kämpfe sind ausgesprochen migrantisch geprägt.

Obige Entwicklungen führen auch zu Brüchen im Apparat, die selbst gewisse Veränderungen in der Klasse und das Potential für die Entstehung von neuen aktiven Schichten zeigen.

Aber es darf dabei die Haupttendenz der Entwicklung nicht übersehen werden, welche die Gewerkschaftslandschaft schon seit Jahren prägt: Bekanntlich ist die Interessenvertretung der Arbeiterklasse in Deutschland seit Beginn der Nachkriegsperiode von einem Dualismus zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat geprägt. Das Betriebsverfassungsgesetz und seine Novellierungen sahen von Beginn an eine Stärkung des Betriebsrates auf Kosten der Gewerkschaft vor. Betriebsräte sind per se in eine Struktur der Klassenkollaboration eingebunden, die sie gesetzlich an das Unternehmenswohl, „vertrauensvolle“ Zusammenarbeit zum Wohle des Betriebs und an Kooperation binden und ihnen zugleich die wichtigsten Waffen im Kampf nimmt, wie es das Verbot für sie, zu Streiks oder Arbeitskämpfen aufzurufen, zeigt.

Die Kapitalisten haben das bewusst als Mittel zur Schwächung des gewerkschaftlichen Einflusses im Betrieb verwandt und tun das auch weiterhin.

Nach anfänglichen Protesten hat sich die Gewerkschaftsbürokratie natürlich schnell, pragmatisch und opportunistisch angepasst und auf die Betriebsräte gesetzt – im Zweifel gegen die eigentliche gewerkschaftliche Struktur im Betrieb, die Vertrauensleute oder Betriebsgruppen. Mittlerweile sind die Betriebsrats- und Personalratsgremien in den privaten wie staatlichen Großunternehmen, die sich auch auf einen eigenen bürokratischen Apparat stützen können, längst zur dominierenden Kraft in Gewerkschaften aufgestiegen.

So wie in der Bürokratie die Betriebs(Personalrats)fürsten – Fürstinnen gibt es recht wenige – den Ton angeben, so ist auch der Apparat professioneller geworden, was seine Rekrutierung angeht. Der „klassische“ Aufstieg vom betrieblichen, wenn auch reformistischen „Basisfunktionär“ zum Gewerkschaftssekretär ist längst zur Ausnahmeerscheinung geworden. Heute rekrutiert die Bürokratie an der Uni. Selbst wer zuerst im Betrieb war, geht an die „Bürokratenschule“ ADA oder macht „Trainee-Programme“, wird für die ersten Jahre in irgendeine, von seinem Ursprungsort entlegene Verwaltungsstelle geschickt. Kurz, es entsteht eine Bürokratenschicht, die von den lokalen, betrieblichen Wurzeln, aus denen früher die Bürokratie kam, weit unabhängiger ist, ein von der Masse der Mitglieder viel abgesondertere Existenz führt und damit auch unabhängiger ist von deren politischen Druck. Es ist dabei letztlich vollkommen nebensächlich für das Funktionieren dieses abstoßenden Systems bürokratische Kontrolle, ob die „Neuen“ im Apparat, die selbst eine Periode der Befristung, des „Tests“ durchlaufen müssen, aus der christlichen Arbeitnehmerschaft kommen oder aus der autonomen Antifa.

Der Apparat ist mächtiger geworden gegenüber den Mitgliedern, die für die Funktionäre v.a. als BeitragszahlerInnen-Menge vorkommen. Der Apparat und damit die Spitzen der Bürokratie sind von der Aktivität ihre Mitglieder, von ihrem Druck unabhängiger als noch zur Jahrhundertwende. Die Versuche der bürokratisch inszenierten Mitgliederstimulierung, Werbung und Animation haben – selbst wenn sie im Namen der „Basisaktivierung“ wie z.B. beim „Organizing“ auftreten – daher immer etwas Manipulatives und unfreiwillig Komisches an sich.

Diese weitere „Selbstermächtigung“ des Apparats ist nicht trotz, sondern wegen der Niederlagen – welche die Bürokratie selbst mit verursacht hat – im letzten Jahrzehnts dramatisch vorangeschritten. Von ihr eine Regeneration der Gewerkschaften zu erwarten, wäre reine Utopie. Eine Erneuerung der Gewerkschaften, der betrieblichen Strukturen, eine Einbeziehung der Arbeitslosen, der Jugend, der Masse der MigrantInnen und „Prekären“ ist nur möglich in Verbindung mit einem Kampf für das Zerbrechen dieses Systems bürokratischer Kontrolle.

Wo stehen die Gewerkschaften heute?

Die Gewerkschaftsbürokratie reagierte auf die neoliberale Umstrukturierung der Gesamtwirtschaft von Beginn an defensiv. Zugleich versuchte sie, organisationspolitisch zu reagieren.

Unsere damalige Kritik am Fusionskurs der Bürokratien ist vollauf negativ bestätigt worden. Die Apparate wurden nach den Rationalisierungsmustern unternehmerischer Hierarchien effektiver gemacht, Verwaltung des Bestehenden stand generell vor – selbst bürokratischen – Strategien einer Ausdehnung des Einflusses der Gewerkschaften. Einflussmöglichkeiten der Basis wurden weiter reduziert, die Arbeitswelt des Apparats ist betriebsferner denn je.

Für eine Wende nach vorn müssten die DGB-Gewerkschaften nach Wertschöpfungsketten und mit dem Augenmerk auf Durchsetzungsfähigkeit neu zusammengesetzt werden – unter einem gestärkten Dachverband mit der Verpflichtung, Mitgliederkonkurrenz zwischen den Einzelgewerkschaften auszuschalten (Festlegung der Organisationszugehörigkeit gemäß der Ausrichtung nach dem Industrieprinzip) sowie dem Recht der Gliederungen, über Streiks selbst zu entscheiden, sei es im ökonomischen Kampf, sei es für politische Massenstreiks bis hin zum Generalstreik. Das Erstarken bestimmter Berufsgewerkschaften (GDL, Marburger Bund) ist auch ein Resultat der Basisferne der DGB-Apparate. Für eine Revitalisierung eines lebenskräftigen industriellen Einheitsgewerkschaftsprinzips müssen Kampfabkommen und Fusionsangebote an diese Organisationen gemacht werden.

Die IG Metall

Die IG Metall ist eindeutig nach rechts gerückt. Die Angleichung an die Linie der IG BCE erfolgte mit der Garnierung von Mobilisierungen, die aber umso mehr auf Wirkungslosigkeit ausgerichtet waren. Das ist die große Leistung der „Reformer“ unter Huber, dem die „Traditionalisten“ letztlich nichts entgegensetzen konnten und wollten. Im Apparat ist heute nirgendwo eine Kraft zu sehen, die sich dieser Linie ernsthaft widersetzt. Auch die exponierten AnhängerInnen der Linkspartei in der IG Metall (Urban, Ernst, Scharf, Hamm, Bender) begnügen sich mit einer etwas kämpferischeren Note, Initiativen in einzelnen Konflikten (Agenda, Leiharbeit, Rente 67), aber ohne jede politische Kritik an der Führung.

Ver.di bleibt ein Konglomerat mit geringen inneren Bindungskräften

Die Fusion mehrerer Branchengewerkschaften zu ver.di vor mehr als 10 Jahren erfolgte nicht entlang einer nach modernen Branchen ausgerichteten notwendigen Umstrukturierung im Verbund mit einem radikal umgekrempelten Dachverband DGB, sondern war eine bürokratische „Lösung“ angesichts schwindender Mitglieder, eine rein technische Verwaltungsmaßnahme. Es fand keine demokratische, konstitutionelle Debatte in allen DGB-Gewerkschaften mit dem Ziel verstärkter Aktions- und Streikfähigkeit statt. Ein Angestelltendachverband wie die DAG wurde nicht mit einem neu nach Wertschöpfungsketten strukturierten DGB fusioniert, sondern ihre Mitglieder – statt auf alle Branchen verteilt – in das Sammelsurium ver.di integriert.

Der DGB verlor weiter an Einfluss. Die Mitgliederkonkurrenz unter den Einzelgewerkschaften nahm zu. Der ITK- und Logistiksektor, zentraler neuralgischer Punkt im modernen Kapitalismus, verteilt sich auf verschiedene Einzelgewerkschaften: IG Metall, IG Bau, ver.di, Transnet/EVG. Streiks im zunehmend wichtiger werdenden Transportwesen wurden zusätzlich erschwert durch die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Verkehrssektor, eine zunehmend nachteilige und überflüssige Schwächung potenziell gebündelter Kampfkraft.

Im Öffentlichen Dienst setzte ver.di noch eins drauf: Durch die Zustimmung zur Auslagerung von Betriebsteilen als Privatisierung oder zu verschiedenen Tarifverträgen unter einem Dach wie im Krankenhausbereich, durch Spartentarife und eine Vielzahl von Haustarifverträgen, unterschiedliche Laufzeiten der Tarifverträge selbst in gleichen Branchen, die Spaltung zwischen Bund, Ländern, Kommunen, die Ausgliederung diverser Unikliniken, Notlagentarifverträge, „Zukunftstarifverträge“ genannt, mit Berlin und Hessen verurteilten immer mehr Bereiche dazu, auf sich allein gestellt zu handeln. Die früheren Bastionen Abfallentsorgung und Energieerzeugung wurden (teil-)privatisiert und zu neuen Konzernen zusammengefasst. Gehören sie noch den Städten, so unter immer offener einzelkapitalistisch ausgerichteter Betriebsführung durch meist widerstandslose Akzeptanz der Änderung der Rechtsform.

Dass dies nicht notwendigerweise so kommen musste, zeigte der erfolgreiche Widerstand in Stuttgart, wo ohne den Widerstand der Gewerkschaft die Stuttgarter Abfallwirtschaft sicherlich privatisiert, das Klinikum eine GmbH, die Sozialen Dienste ausgegliedert und die Kindertagesstätten in einen Eigenbetrieb umgewandelt worden wären.

Doch es wird immer schwieriger, sie gemeinsam in den Streik und unter einen Tarifvertrag zu bekommen, u.a. auch wegen des Festhaltens an der überkommenen Spaltung zwischen Öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft.

Die Gewerkschaftslinke

Die „Initiative für eine Vernetzung der Gewerkschaftslinken“ (IVG) ist nach links gegangen und hat dabei die stärker am Apparat orientierten Kräfte verloren, ohne aber neue Kräfte – z.B. aus der Anti-Agenda-Bewegung – dauerhaft zu gewinnen. Zusätzlich existieren die „Arbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft“ der Linkspartei, die Reste des SAV-ver.di-Netzwerks, die NRW-ver.di-Linke um Kräfte der isl sowie das Betriebsumfeld der MLPD (Betriebsgruppen, Auto-Ratschlag, Dortmunder Erklärung).

Der (Anarcho)-Sydikalismus wurde teilweise gestärkt: einerseits durch gewisse Betriebsarbeit (FAU, Wildcat), anderseits durch einen Block für das bedingungslose Grundeinkommen (Labournet, Reste der Anti-Hartz-IV-Bewegung). Andere, eher reformistisch-syndikalistische Kräfte wie „Jour fixe“ Hamburg oder die Zeitung EXPRESS haben sich aus dem Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie gänzlich verabschiedet.

Die politischen Organisationen

Eine Betrachtung der Entwicklung der Gewerkschaften wäre freilich ganz und gar unvollständig, würde sie nicht eine Betrachtung der politischen Kräfteverhältnisse einschließen. Die Gewerkschaftsführung, der größte Teil des Apparats und schließlich auch ein großer Teil der Mitglieder – allen voran ein großer Teil der Arbeiteraristokratie – sind nach wie vor politisch und historisch eng an die SPD gebunden. Sie stellen die soziale Basis des politischen Reformismus in der BRD und sichern, dass die SPD weiter als besondere bürgerliche Partei, als bürgerliche Arbeiterpartei existiert.

Die Serie grundlegender Angriffe, v.a. die  Agenda 2010, hat diese enge Bindung jedoch gelockert und zeitweilig erschüttert.

WASG/Linkspartei schwächen das SPD-Monopol in den Gewerkschaften

Die Gründung der späteren WASG durch zwei Initiativen aus dem IG Metall- und dem ver.di-Apparat stellt ein Novum in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung dar. Bis dahin waren alle Versuche gescheitert, links von der SPD eine Kraft aufzubauen, die eine Verankerung in der Arbeiterbewegung hat. Es war natürlich der Angriff der SPD auf historische Errungenschaften der Arbeiterklasse, der es für einen Teil des unteren und mittleren Gewerkschaftsapparates unmöglich machte, diese Politik weiter zu verteidigen.

Diese Apparat-Kräfte versuchten von Beginn an, dem neuen Parteiprojekt eine reformistische Ausrichtung zu geben. Dennoch waren sie gezwungen, eine relative offene Sammlungsbewegung zu organisieren. RevolutionärInnen mussten eine solche Chance nutzen, um mit der Avantgarde der Klasse, die sich in einem solchen Projekt einfindet, in eine offene Debatte über Programm und Perspektive einzutreten. Wir haben das getan und letztlich mit dem Netzwerk Linke Opposition (NLO) auch eine kleine, aber kurz befristete Gruppierung um uns geschaffen. Andere Teile der Linken (DKP, MLPD, RSB und die autonome/anarchistische Szene) haben sich diesem Kampf verweigert, um im Nachhinein lediglich das reformistische Endprodukt als solches zu konstatieren. Äußerst rechte Zentristen (Funke, ISA) verblieben am Beginn sogar bei ihrem Entrismus in der SPD!

Auch wenn die WASG von Beginn an eine reformistische Organisation war, so hatte sie in ihrer ersten Phase ein relativ hohes Aktivitätslevel und vermochte es, auch untere Schichten der Arbeiterklasse – manche sprachen nicht zu Unrecht von einer „Arbeitslosenpartei“ – anzuziehen.  Hinzu kam, dass sich die Gegensätze zwischen Apparat und Basis verstärkten, was sich nicht zuletzt in der Gründung des NLO und im eigenständigen Antritt der Berliner WASG gegen die (mit)regierende PDS ausdrückte.

Mit der bürokratischen Fusion mit der PDS zur Linkspartei war der Kuchen dann gegessen. DIE LINKE wurde von Beginn an – unabhängig von einzelnen Parteitagserfolgen des linken Flügels – eine sehr normale, wenn auch linkere reformistische Partei, die ganz und gar vom Apparat dominiert wird und deren Arbeit ganz und gar auf Parlamente und kommunale Wahlgremien ausgerichtet ist. Das „Parteileben“ ist v.a. durch die Passivität der Mitglieder geprägt. Nur eine Minderheit ist wirklich aktiv. Wie zuvor in der SPD sind viele der unteren und mittleren Gewerkschaftsfunktionäre, die in der LINKEN sind, in der Partei selbst inaktiv.

Eintritt und Verbleib in der Linkspartei waren taktisch unsinnig geworden angesichts geringer Basisaktivität, die eine reale Verknüpfung von linker Opposition und nach links gehenden AktivistInnen unmöglich machte. Dessen ungeachtet haben sich isl und DIDF, später der Funke, die SAV mit Zickzacks und Linksruck (heute Marx21) tw. sogar unter formeller Auflösung der eigenen Strukturen darin integriert.

Weil die LINKE im Grunde ebenso wie die SPD ein bürgerlich-reformistisches Programm vertritt (10), ist sie von Widersprüchen geprägt, die durch eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zum Platzen der Partei führen können. Letztlich unterscheidet sich der Reformismus der LINKEN nur dadurch von dem der SPD, dass er etwas mehr auf Verbalradikalität und Mobilisierung setzt. In Regierungsfunktionen setzt die Partei eins-zu-eins SPD-Politik um. So bleibt die LINKE sowohl Orientierungspunkt als auch Fessel für die Arbeiteravantgarde.

Insbesondere innerhalb der IG Metall, bis auf Ausnahmen auch in ver.di, ordnen sich die Kader der Linkspartei den sozialdemokratischen Apparaten in den Gewerkschaften unter. Lediglich Kräfte um Riexinger wollten die Partei, aber auch Bündnisse und die Gewerkschaftslinke nutzen, um die Gesamtpolitik des Gewerkschaftsapparats nach links zu schieben.

Mit seiner Wahl zum Vorsitzenden nimmt Riexinger nun aber eine andere Rolle ein. Mit Kipping bildet er die Führung, die mehr als jede andere Führung der Partei zuvor, offen den politischen Schulterschluss mit Rot/Grün propagiert. Praktisch gesehen, könnte die Riexinger/Kipping-Führung die LINKE sogar weiter nach rechts führen als jede andere Spitze, welche PDS, WASG oder Linkspartei je hatten. Einer Koalition auf Bundesebene stehen heute nur wenige Hindernisse im Weg – vielmehr sind es schlechte Umfragen und die „Unversöhnlichkeit“ der SPD, die die Linkspartei weiter auf die Oppositionsbank zwingen.

Die SPD als weiterhin bürgerliche Arbeiter-Partei

Die Durchsetzung der Agenda 2010 zwang auch die Spitzen der Gewerkschaften, sich etwas von der SPD abzusetzen. In der zweiten Hälfte der Dekade haben sich die Spitzenapparate dann wieder angenähert und den alten Schulterschluss vollzogen, was auch durch den Rechtsruck des IGM-Apparates erleichtert wurde. So gilt unsere alte Analyse weiter, dass sich die Verbindung der SPD zur Arbeiterklasse auf die Vermittlung durch die DGB-Gewerkschaften stützt.

Diese Verbindung ist dennoch schwächer geworden, da sich im mittleren und unteren Apparat die LINKE breitgemacht hat und die rechtesten Apparat-Größen wie Huber sich im Notfall von der SPD absetzen, um an die CDU in der Regierung heranzurücken. In der SPD ist die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) unterhalb der Landesebene nicht mehr existent, die Schicht von reformistischen Kadern, die sich sowohl im Betrieb wie in der Partei engagieren, ist entweder im Ruhestand oder bei der Linkspartei gelandet. Diese Schwächung muss aber durchaus nicht dauerhaft sein, wie Beispiele aus der Geschichte u.a. Ländern zeigen.

Zugleich offenbart sich aber auch, dass sich die SPD als Oppositionspartei wieder leicht regeneriert hat. Allein die Tatsache, dass die SPD nach Jahren neoliberaler Regierungspolitik unter Rot-Grün und einer Großen Koalition in manchen Bundesländern – allen voran in Nordrhein-Westfalen – wieder Boden gut machen konnte, verdeutlicht, wie tief erstens die historischen Bindungen der Arbeiterklasse an diese Partei sind; zeigt zweitens aber auch, wie leicht die Linkspartei wieder an Boden verliert, wenn sich die SPD als „sozial“ geriert.

Etliche Zentristen wie SAV, RSB und alle (Ex)-Maoisten haben mit ihrer falschen Einschätzung der SPD als rein bürgerlicher Partei nach wie vor Probleme mit ihrer Gewerkschaftsarbeit, lediglich in Revieren der LINKEN kommen sie damit besser klar. Ansonsten bezahlen sie entweder mit Isolation, unnötiger Repression oder peinlichem Opportunismus.

Anti-Krisen-Bündnisse

Die Bewegung gegen die Agenda hat zu Aktionskonferenzen und -bündnissen geführt, wie sie vorher in der BRD unbekannt waren. Sie sind Produkte der Antiglobalisierungsbewegung bzw. entspringen den gleichen Quellen. Nach der Erfahrung der weltweiten Niederlage der Arbeiterbewegung zu Beginn der 90er, waren die verbliebenen Linken eher bereit, theoretische und historische Differenzen zurückzustellen, um überhaupt wieder wirksam werden zu können. Auf der anderen Seite drängten Jugendliche, Autonome aller Art und neue Schichten in die Aktion und setzten so auch Teile der LINKEN und der unteren Apparat-Kräfte unter Druck.

5. Veränderte Klasse – veränderte Anforderungen

Die Veränderungen der Arbeiterklasse in Deutschland haben – wie wir dargelegt haben – nachhaltige Spuren hinterlassen. Diese Veränderungen sind selbst Resultat der Angriffe der imperialistischen Bourgeoisie Deutschlands und ihres Staates vor dem Hintergrund einer bis in die 1970er Jahre zurückgehenden Phase der strukturellen Überakkumulation des Kapitals, eines dementsprechend verschärften Konkurrenzkampfes zwischen Unternehmen und zwischen den imperialistischen Staaten.

Wie wir gesehen haben, wären diese Angriffe nicht so leicht durchsetzbar gewesen, hätten sich die Herrschenden nicht auf die Unterstützung durch SPD und Gewerkschaften verlassen können.

Bei allen wichtigen Angriffen des letzten Jahrzehnts hat sich die Bürokratie als williger Helfer „ihres“ Staates, „ihrer“ Unternehmen, kurz des deutschen Kapitals und des nationalen Standorts erwiesen.

Sie hat dabei nicht nur ideologisch Vorschub geleistet. Sie hat auch aktiv gegen entstehende Bewegungen gearbeitet. Sie hat aktiv und reaktionär gewirkt: Sie hat die Mobilisierungen gegen die Agenda 2010 so gut es ging sabotiert; sie hat offen die Montagsdemos verleumdet, die unter allen sozialen Bewegungen des letztes Jahrzehnts einer spontanen proletarischen Massenbewegung am nächsten kamen; sie hat den Metaller-Streik um die 35-Stunden-Woche im Osten verraten und zur kampflosen Kapitulation getrieben; sie hat am Höhepunkt der Krise 2008/09 für Regierung und Kapital die Kastanien aus dem Feuer geholt, indem sie für Ruhe in den Betrieben sorgte und alle wesentlichen Maßnahmen der Regierung zur Rettung des Großkapitals auf Kosten der Allgemeinheit unterstützte (Bankenrettung; Abwrackprämie; Kurzarbeitergeld, Europapolitik der Regierung). Maximal „begleitete“ sie diese mit der Forderung nach einigen Verbesserungen und symbolischen Aktionen.

Diese Politik hat mit zu einer Serie schwerer Niederlage der Arbeiterklasse und zum Niedergang der Gewerkschaften selbst beigetragen. Die Klasse ist heute zweifellos schwächer als noch vor 10 oder 15 Jahren.

Die Niederlage hat aber auch zu einer Stärkung des Apparates beigetragen, der v.a. im industriellen Sektor enger mit den Unternehmen verbunden ist denn je.

Zugleich sind und bleiben die Gewerkschaften in Deutschland aber die Massenorganisationen der Arbeiterklasse schlechthin. RevolutionärInnen und erst recht jede Organisation, die sich revolutionär nennt, hat daher die Pflicht, eine Arbeit in den Gewerkschaften und in den betrieblichen Strukturen zu entwickeln. Alles andere bedeutet – ob gewollt oder ungewollt – die Dominanz, die Kontrolle über die Masse der Beschäftigten dem bürokratischen, politisch gesehen dem sozialdemokratischen Apparats zu überlassen.

Die Tatsache, dass die Gewerkschaften nicht erst in den letzten Jahren, sondern im Grunde während der ganzen imperialistischen Epoche dazu tendieren, immer enger mit dem Herrschaftsapparat des Kapitals zu verschmelzen, ändert daran nichts. Im Gegenteil!

„Aus dem Vorhergehenden folgert ganz klar, daß trotz fortschreitender Degeneration der Gewerkschaften und trotz ihres Verwachsens mit dem imperialistischen Staat die Arbeit innerhalb der Gewerkschaften nicht nur nichts von ihrer Wichtigkeit einbüßt, sondern als eine Notwendigkeit nach wie vor bestehen bleibt und in gewissem Sinne für jede revolutionäre Partei sogar noch wichtiger denn je wird. Die Sache, um die es nach wie vor geht, ist hauptsächlich der Kampf um den Einfluß auf die Arbeiterklasse. Jede Organisation, Partei oder Fraktion, die sich den Gewerkschaften gegenüber eine ultimatistische Stellungnahme erlaubt, das heißt, der Arbeiterklasse im Wesen den Rücken zuwendet, bloß weil ihr deren Organisationen nicht gefallen, ist zum Untergang bestimmt. Und es muß gesagt werden, sie verdient den Untergang.“ (11)

Die Frage besteht unserer Meinung nach im Kern also nicht darin, ob, sondern wie und mit welchem Ziel RevolutionärInnen in den Gewerkschaften arbeiten sollen und müssen. Wir wollen daher zum Abschluss einige Kernpunkte skizzieren, um die sich die Arbeit in den Gewerkschaften und Betrieben, unter „normal“ Beschäftigten, Prekären und Erwerbslosen gruppieren soll und muss.

Ein Programm des Klassenkampfes gegen die Krise

Selbst die ver.di-Bürokratie hat in einem ihre letzten Rundschreiben anerkannt, dass die Konjunktur wieder nach unten geht, dass mit der „Schuldenbremse“ weiterer sozialer Kahlschlag und massenhafte Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen drohen – also doppelte Verschlechterung für die Arbeiterklasse, einmal als Beschäftigte, die dann für weniger Geld und mit weniger Personal „echte“ Gewinne für ihren zukünftigen Unternehmer machen sollen; zum anderen für die „KonsumentInnen“ der Leistungen, die in der Regel höhere Preise für schlechteren Service zahlen sollen.

Die Gewerkschaftsbürokratie reagiert auf solche politischen Angriffe in der Regel „unpolitisch“. Mit Betriebsvereinbarungen, „Bestandssicherungen“ usw. sollen helfen. Arbeitskämpfe und Streiks gelten als „schwer durchführbar“ und gegenüber der Öffentlichkeit als „schwer vermittelbar“. Also läuft alles auf einen faulen Kompromiss hinaus, der in absehbarer Zeit von staatlichen Organen und/oder Unternehmern wieder in Frage gestellt wird.

Diese Strategie, die durchaus logisch auf dem „traditionellen“ Gewerkschaftertum aufbaut, ist ein Weg in die politische und gewerkschaftliche Sackgasse.

Es ist ein Kampf auf einer schieben Ebene, wo jedes Zugeständnis, jeder Kompromiss, zu einer verschlechterten Ausgangslage führt und damit zur nächsten Zumutung, zum nächsten Zugeständnis …

Eine solche, vorgeblich rein tarifliche, Politik bedeutet natürlich nicht, dass die Gewerkschaften keine Politik hätten, sondern nur, dass sie die politischen Vorgaben von Regierung, öffentlicher (also bürgerlicher) Meinung und die „Sachzwänge“ des kapitalistischen Systems unausgesprochen oder auch offen akzeptieren.

Wenn alles nur gewerkschaftlich oder tariflich oder gar nur betrieblich geregelt werden soll, kommt der „Rest“ der Klasse leicht unter die Räder. Kompromisse zielen auf einen enger werdenden und auch noch fragmentierten Mitgliederbestand. Die „LeiharbeiterInnen“ fallen da natürlich leicht runter. Die Interessen des „eigenen“ Standorts erscheinen unvermittelt als die Interessen der Belegschaft am Standort usw. usf.

Hier zeigt sich mit aller Konsequenz, dass reines Gewerkschaftertum wie auch reformistische Gewerkschaftspolitik letztlich immer bürgerliche Politik sind, weil sie die Vorgaben des Gesamtsystems akzeptieren, als Rahmen von Gewerkschaftspolitik – vom rein sozialpartnerschaftlichen bis hin zum militanten Reformismus – bestimmen. Das tun sie natürlich umso nachhaltiger und offensichtlicher in einer Krisenperiode, wo eine Politik der Umverteilung zwischen Klassen, eine Politik des Klassenkompromisses keine Chance auf längerfristige Umsetzung hat.

Es geht daher nicht nur darum, was wir für heute vorschlagen oder fordern, sondern auch darum, wie und mit welcher strategischen Zielsetzung das umgesetzt werden soll.

Kampf der Arbeitslosigkeit, Kampf allen Entlassungen!

Arbeitslosigkeit und Entlassungen sind unvermeidliche Folgen der „Krisenpolitik“ der herrschenden Klasse. Selbst in einem Land wie Deutschland, das momentan zu den Krisengewinnern gehört, sind Millionen verarmt. Selbst in Phasen des Aufschwungs ist die Arbeitslosigkeit kaum zurückgegangen. Ein zentrales Mittel muss der Kampf für eine gesetzlich Arbeitszeitverkürzung sein:

  • Für die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Verbot von Überstunden! Effektiver Renteneintritt mit 60 – ohne Abschläge!
  • Kontrolle dieser Maßnahmen durch die Gewerkschaften!

Große Teile der Lohnabhängigen müssen für ein Entgelt arbeiten, das unter ihren Reproduktionskosten liegt, mit denen selbst die Wiederherstellung der eigenen Arbeitskraft kaum möglichst ist, geschweige denn Alterssicherung, Versorgung der Kinder usw.

Daher halten wir einen gesetzlichen Mindestlohn von 13,50 Euro/Stunde brutto (etwa 11 Euro netto) für notwendig. Das ist zugleich auch eine Schlüsselforderung zur Bekämpfung von Niedriglohn, Outsourcing und Leiharbeit.

Für Arbeitslose fordern wir die Reintegration in den Produktionsprozess durch Arbeitszeitverkürzung und ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Arbeiterkontrolle.

Hartz-IV und alle anderen Hartz-Gesetzen müssen weg! Solange jemand arbeitslos ist, müssen auch die Reproduktionskosten gedeckt werden. Daher fordern wir ein Mindestniveau des Arbeitslosengelds von 1600,- Euro/Monat und ein ebensolches Mindesteinkommen für RentnerInnen, Azubis, PraktikantInnen etc.

Die zunehmenden Lohn- und Einkommensdifferenzen in der Klasse müssen bewusst bekämpft werden durch: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – Ost/West, Männer/Frauen, MigrantInnen/Deutsche! Garantierter, tariflich entlohnter Ausbildungsplatz für alle – mit Recht auf unbefristete Übernahme! Nein zu prekären Beschäftigungsverhältnissen! Verbot der Leiharbeit  Umwandlung aller befristeten, prekären Beschäftigungsverhältnisse in unbefristete!

Soziale Sicherung, Bildung

Die Gewerkschaften dürfen sich nicht auf die Beschäftigten und Arbeitsuchenden begrenzen, sie müssen auch politisch für RentnerInnen, für soziale Vorsorge, für ein staatlich finanziertes, ausreichendes Bildungs- und Ausbildungssystem kämpfen. Das ist unerlässlich, um der weiteren Spaltung der Klasse entgegenzutreten.

Für alle Maßnahmen, die wir oben skizzierten, müssen die Kapitalisten zur Kasse gebeten werden! Daher fordern wir eine massive, progressive Besteuerung der Unternehmer, Vermögensbesitzer und hohen Einkommen. Unternehmen, die mit Entlassung, Schließung oder Tarifbruch drohen, müssen entschädigungslos unter Arbeiterkontrolle verstaatlicht werden!

Effektive Tarifkämpfe erfordern Reorganisation

Dass die Gewerkschaften in den letzten Jahren bei Tarifkämpfen oft so erbärmlich dastanden, hat zu einem großen Teil die Bürokratie zu verantworten. Diese Verantwortung trifft sie nicht nur, weil sie Tarifforderungen oft schon im Voraus den Vorgaben des Kapitals unterordnet, sondern auch, weil die Gewerkschaften selbst immer weniger den Branchenstrukturen einer veränderten Ökonomie entsprechen. In manchen Betrieben ist „gewerkschaftsfreie“ Zone, während sich in anderen mehrere (auch mehrere DGB-Gewerkschaften) tummeln oder in anderen Brachen (z.B. Verkehr) mehrere Spartentarife nebeneinander existieren.

Wir treten für die Reorganisation der Gewerkschaften entlang von Branchen, von Produktions- und Vertriebsketten ein, also für das Prinzip „Eine Branche – eine Gewerkschaft“, um so erst das Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ wiederherzustellen und eine effektive branchenweite Organisierung zu ermöglichen. In diese Gewerkschaftsstrukturen wären selbstredend auch die LeiharbeiterInnen und PraktikantInnen in diesen Bereichen wie auch Erwerbslose einzugliedern.

In den Tarifkämpfen treten wir für Festgeldforderungen ein, um die Differenzen zwischen den unteren und oberen Lohngruppen nicht weiter zu erhöhen, sondern die unteren und durchschnittlich verdienenden KollegInnen stärker in den Kampf einzubeziehen.

Kämpfe unter Kontrolle der Kämpfenden!

Um diese Forderungen durchzusetzen, um Tarifkämpfe – und erst recht politische Kämpfe – effektiv zu führen, müssen die Aktionen, die Erstellung der Forderungen, Verhandlungen, die Festlegung von Streik- u.a. Kampftaktiken den Händen der „SpezialistInnen“, also letztlich besonderen Abteilungen des Gewerkschaftsapparates entrissen werden. Die Gewerkschaftsmitglieder, ja alle an Kämpfen beteiligten, müssen das Sagen haben.

Daher treten wir für Vollversammlungen ein, um über Forderungen und die Führung von Kämpfen zu entscheiden. Wir schlagen die Wahl von Aktions- und Streikkomitees zur Führung dieser Auseinandersetzungen vor, die über den Betrieb hinaus auf lokaler, regionaler und bundesweiter Ebene zentralisiert werden können. In ihren Händen, nicht in Verhandlungsgremien, die letztlich vom Apparat bestimmt sind, muss die Führung von Kämpfen liegen. Diese Aktions- oder Streikkomitees müssen den Belegschaften rechenschaftspflichtig, wähl-, und abwählbar sein.

Es darf keine Zustimmung zu Verhandlungsergebnissen, kein Abbruch oder Aussetzen von Aktionen ohne vorherige Zustimmung der Belegschaften geben.

Solche Komitees wären nicht nur sehr viel demokratischere und repräsentativere Kampforgane als der Apparat, sie hätten auch den Vorteil, dass sie problemlos alle Beschäftigten in einem Betrieb, die mitkämpfen wollen – ob nun „fest“ angestellt oder LeiharbeiterIn, ob nun in der Gewerkschaft oder nicht – in einer gemeinsamen demokratischen Struktur vereinen könnten. Sie könnten so auch viel leichter und besser ArbeiterInnen aktivieren und ihre Selbsttätigkeit fördern.

Keine Beschränkung auf Betrieb und Gewerkschaft

Ohne Zweifel werden auch die kämpferischsten Gewerkschaften einen wichtigen Teil ihrer Aktivität in Tarifkämpfen finden, in der tagtäglichen Vertretung von KollegInnen gegen die  Zumutungen der KapitalistInnen. Aber wir müssen das mit einer politischen Ausrichtung der Gewerkschaften verbinden, damit die Gewerkschaften sich nicht nur auf die Vertretung der ArbeiterInnen im Rahmen des Lohnarbeitssystems beschränken, sondern auch dieses System selbst in Frage stellen, den Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse selbst zu ihrem Ziel machen können.

Das heißt, dass die Gewerkschaften und ihre betrieblichen Strukturen selbst aktiv Teil des Kampfes gegen die Krise werden, dass sie aktiv KollegInnen zu antifaschistischen und antirassistischen Aktionen mobilisieren; dass sie sich als Teil einer europaweiten, gemeinsamen Kampfbewegung verstehen – in Solidarität mit den ArbeiterInnen Südeuropas, im Kampf gegen das Europa des Kapitals, für ein Europa der ArbeiterInnen.

Praktisch heißt das, dass GewerkschafterInnen, Vertrauensleute, Betriebsgruppen, Betriebsräte oder VertreterInnen von Belegschaften aktiv am Aufbau von Aktionsbündnissen im Stadtteil, am Aufbau einer Anti-Krisenbewegung u.a. Bündnisse teilnehmen.

Das schließt auch ein, dass die Gewerkschaften und betriebliche Strukturen zu Kräften werden, die politische Aktionen auch im Betrieb führen. Die reaktionäre Gesetzgebung (inklusive der besonders undemokratischen Setzungen durch Gerichte) legt der politischen Betätigung im Betrieb wie auch dem Streikrecht zahlreiche Hürden in den Weg. Es ist daher ein unverzichtbarer Bestandteil revolutionärer Gewerkschaftspolitik, für die Abschaffung all dieser Einschränkungen demokratischer Rechte zu kämpfen – für das Recht auf volle politische Betätigung, gegen alle Einschränkungen der politischen Rechte von „AusländerInnen“ wie auch des Streikrechts. Zugleich dürfen sie sich nicht vom fatalistischen Legalismus vieler GewerkschafterInnen und Betriebsräte anstecken lassen. Alle wichtigen Forderungen, die wir oben vorgeschlagen haben, werden sich letztlich nur durch politische Massenkämpfe, durch Besetzungen, politische Massenstreiks – bis hin zum Generalstreik – erzwingen lassen. Jeder Teilkampf, jede Teilauseinandersetzung ist letztlich ein Mittel zur Vorbereitung solcher Großkämpfe, die nicht nur massive Angriffe abwehren können, sondern zugleich auch die Machtfrage in der Gesellschaft aufwerfen.

Das heißt aber auch, dass sich alle klassenkämpferischen KollegInnen in den Gewerkschaften und in den Betrieben dazu organisieren müssen, den Kampf für andere Gewerkschaften aufzunehmen.

Klassenkämpferische und demokratische Gewerkschaften!

Alle von uns vorgeschlagenen Maßnahmen und Forderungen richten sich an den Interessen der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit aus, nicht nur an den gerade gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen und Angestellten, nicht nur an den Beschäftigten, sondern ebenso an den Arbeitslosen.

Die Gewerkschaftsbürokratie setzt hingegen – wenn überhaupt – auf die kurzfristigen und zumeist kurzsichtigen Interessen der „besser gestellten“ FacharbeiterInnen: der Arbeiteraristokratie.

Das geht fast „unwillkürlich“ damit einher, dass alles dem Standort oder der Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet wird, dass selbst Forderungen nach Verbesserungen immer noch damit begründet werden, dass auch die Unternehmer von gesteigerter Kaufkraft oder zufriedenen Malochern profitieren würden.

Zugleich bleiben bei diesem System die „Randschichten“ der Klasse auf der Strecke. Kein Wunder, dass nur eine Minderheit der Lohnabhängigen in Gewerkschaften organisiert ist, wenn die „Randschichten“ doch die deutliche Mehrheit der Klasse ausmachen.

Das beginnt mit den Frauen. Sie stellen – betrachten wir die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit – rund die Hälfe der Klasse. Unter den Beschäftigten sind sie unterrepräsentiert, dafür finden sich heute überproportional viele unter befristeten, prekär Beschäftigten und im Niedriglohnbereich – Tendenz steigend. Bis heute erhalten Frauen weniger Lohn für dieselbe Arbeit.

Nehmen wir die MigrantInnen. Diese sind ein wachsender Teil der Arbeiterklasse. Ihr Einfluss in den Gewerkschaften geht jedoch weiter zurück. Die Masse von Jugendlichen, von prekären arbeitenden MigrantInnen wird immer weniger erfasst. Auch die Jugend, die noch einen Ausbildungsplatz hat, wird bei allen Tarifverhandlungen regelmäßig zum Gegenstand von Zugeständnissen.

Auch die Beschäftigten im Osten sind bis heute Gewerkschaftsmitglieder zweiter Klasse, von den „Prekären“, von LeiharbeiterInnen oder BilliglöhnerInnen ganz zu schweigen.

Zweifellos wird niemand von der Gewerkschaften fordern oder auch nur erwarten, dass sie die Spaltungslinien der Gesellschaft, die sich in der Krise und unter den Angriffen von Kapital und Kabinett weiter vertiefen, tariflich und betrieblich überwinden könnten. Es wäre in der Tat utopisch zu hoffen, dass im kapitalistischen Unternehmen Unterdrückungsverhältnisse überwunden werden könnten, während in der Gesellschaft die Ungleichheit zunimmt.

Der einzige Weg, die sich vertiefende Spaltung in der Klasse zu verringern, tendenziell zu überwinden, ist der Klassenkampf. Das heißt aber nicht nur, Forderungen für besonders unterdrückte Teile und Schichten des Proletariats zu erheben, es heißt v.a. auch, ihre Selbstorganisation vorzubringen. Dazu sind die Gewerkschaften in ihrer gegenwärtigen Form ungeeignet.

Der Kampf für die Öffnung der Gewerkschaften, für gezielte Kampagnen zur Gewinnung von Frauen, Prekären, MigrantInnen, Jugendlichen muss damit verbunden werden, dass sich diese wirklich unabhängig von bürokratischer oder chauvinistischer Bevormundung organisieren können. Die Fachgruppen u.a. Institutionen in den Gewerkschaften werden diesem Ziel nicht gerecht, weil sie letztlich selbst an der Bürokratie kleben. Auch die Organizing-Kampagnen finden ihre Grenzen mit schöner Regelmäßigkeit in dem Problem, dass die organizten neuen KollegInnen keinen Platz in den bürokratischen Strukturen finden. Aus der Sicht des Apparats sind sie nicht „organisationstauglich“.

Tatsächlich kann man nicht erwarten, dass diese Teile der Arbeiterklasse notwendigerweise in den Gewerkschaften ihr erstes und anziehendstes Betätigungsfeld finden. Es wird vielmehr notwendig sind, dass Gewerkschaften eine Unterstützung von Kampagnen, Bewegungen, Strukturen von Erwerbslosen, von MigrantInnen, von proletarischen Frauen auch außerhalb der Gewerkschaften und Betriebe leisten.

So – indem Kämpfe, Organisierungsversuche usw. – unterstützt werden, können auch die Gewerkschaften umgekrempelt werden und die Unterdrückten dabei eine besonders aktive Rolle spielen. Das schließt aber auch ein, dass diese innerhalb der Gewerkschaften das Recht haben müssen, sich für ihre besonderen Anliegen zu organisieren, gesonderte Treffen abzuhalten usw., um sich erstens dafür einzusetzen, dass ihre Anliegen im Kampf nicht hintangestellt werden und zweitens auch organisiert gegen Chauvinismus, Sexismus, Homophobie, ja Rassismus in den Gewerkschaften und Betrieben vorzugehen.

Dieser Kampf für die besonders unterdrückten Teile der Klasse ist selbst Teil des Kampfes um eine Reorganisation der Gewerkschaften zu Organen des Klassenkampfes.

So wie in den Kämpfen arbeiterdemokratische Strukturen notwendig sind, um die Wähl- und Abwählbarkeit der Funktionäre zu sichern, so ist das erst recht in den Gewerkschaften notwendig. Die Funktionäre müssen ihren Mitgliedern rechenschaftspflichtig sind, sich regelmäßigen Wahlen und der möglichen Abwahl durch ihre Mitglieder stellen. Die Ernennung von SekretärInnen von oben, durch Vorstände, muss abgeschafft werden. Eine lebenslange Jobgarantie kann es hier nicht geben.

Das ist eine Maßnahme, um die Verfestigung des Apparates und der Führungen zu einer bürokratischen Kaste, die alles beherrscht, aufzubrechen. Die andere besteht darin, die Privilegien der Funktionäre abzuschaffen. Kein Funktionär – ob in der Gewerkschaft oder im Betriebsrat – darf mehr als ein durchschnittliches FacharbeiterInnengehalt verdienen. Ein „Arbeitervertreter“, der meint, dass es unter seiner Würde wäre, für „so wenig“ zu arbeiten, entlarvt sich selbst als Parasit, der seine Tätigkeit v.a. als Mittel zur Verbesserung des eigenen Lebens betrachtet.

Nicht nur die Hauptamtlichen, alle Ausgaben der Gewerkschaften, die (Teil)privatisierung von Gewerkschaftshäusern, unsinnige Geldverschwendung für Prestigeobjekte bei gleichzeitiger Einsparung von Mitgliederbetreuung in der Fläche oder in schwer zu organisierenden Bereichen – all das muss auf den Prüfstand! Die Finanzen und die Planung müssen der Basis offengelegt werden – und diese muss über die Prioritätensetzung der Ausgaben entscheiden.

Eine Demokratisierung der Gewerkschaften schließt auch ein, dass die gewerkschaftlichen Grundstrukturen wieder belebt werden müssen. De facto sind in vielen Betrieben die Betriebsräte zur „Grundstruktur“ geworden, während Vertrauensleutekörper zu ihren Laufburschen und -mädchen wurden. Betriebsgruppen gibt es oft gar nicht mehr.

Das ist kein „dummer Zufall“, sondern nur die andere Seite der zunehmenden Allmacht des Apparats. Die Mitglieder wurden über Jahre entmündigt und mürbe gemacht. Wo Vertrauensleute oder betriebliche Opposition gegen Betriebsratsfürsten oder die Bürokratie entstanden, wurde diese massiv bekämpft – gerade im industriellen Bereich. Dabei zeigt sich, dass die Bürokratie auch nicht davor halt macht, traditionelle Kernbereiche der kämpferischen Arbeiterschaft, die über Jahre und Jahrzehnte das Rückgrat der traditionellen Tarif- und Gewerkschaftspolitik bildeten, wo auch überdurchschnittlich viele MigrantInnen eine aktive, ja zentrale Rolle spielten, zu verraten. Wo diese Auseinandersetzungen verloren gingen, ging das auch oft mit einer Entmutigung, ja Demoralisierung der Beschäftigten einher.

Sind diese Strukturen oder gar oppositionelle Gruppierungen und Listen verschwunden, setzt nach der Niederlage oft auch noch die zynische Legendenbildung der Bürokratie ein – dass es keine Strukturen gebe, liege eben an „unpolitischen“ KollegInnen, die trotz gewerkschaftlicher und betriebsrätlicher Animiation zum „Mitmachen“ nichts zuwege brächten, so dass den armen BürokratInnen gar nichts übrig bliebe, als weiter Stellvertreterpolitik zu betreiben. Diese Einstellung ist nicht nur zynisch – sie entspricht vollkommen der verkehrten Weltsicht jeder Bürokratie, nämlich sich selbst als aktives, bewegendes Moment von Veränderung darzustellen. In Wirklichkeit ist die Bürokratie das konservativste, starrste Element, das die gesamte Entwicklung – einschließlich der realen Veränderungen in den Betrieben wie im Verhältnis zwischen den Klassen – verzerrt vom Blickwinkel der Selbsterhaltung der eigenen Vermittlertätigkeit, der eigenen Kaste betrachtet.

Die Wiederbelebung, ja der Aufbau gewerkschaftlicher Basisstrukturen ist in dieser Situation eine zentrale Aufgabe einer Opposition, einer klassenkämpferischen Strömung in den Betrieben – vom bürokratischen Apparat kann sie nicht erwartet werden. Im Betrieb würde das einen Kampf mit dem Kapitalisten erfordern und eine Unterminierung des Machtmonopols des Betriebsrates.

Für den Gewerkschaftsbürokraten ist das nur dann kurzfristig interessant, wenn er seine Macht gegen den Betriebsrat durchsetzen will – und dort endet dann auch die etwaige Unterstützung der betrieblichen Strukturen. Sobald Basisstrukturen über die Grenzen hinauszugehen versuchen, die ihnen die Bürokratie setzt – und das ist heute eher früher als später der Fall – können sie nur gegen den Apparat durchgesetzt werden.

Als RevolutionärInnen müssen wir daher für wirkliche Unabhängigkeit solcher Strukturen vom Apparat kämpfen, für ihr Recht, eigene Zeitungen, Flugblätter, Websites zu machen; für ihr Recht, selbst Entscheidungen zu treffen und über ihr eigenes Budget zu verfügen.

Die Macht der Bürokratie kann aber auch nur gebrochen werden, wenn die politische Dominanz der Sozialdemokratie über die deutschen Gewerkschaften gebrochen wird. Die Gründung der Linkspartei hat diese zwar geschwächt, andererseits hat die Linkspartei aber selbst deutlich genug gemacht, dass sie wie dereinst die DKP keinen organisierten politischen Kampf gegen die SPD und erst recht nicht gegen die Gewerkschaftsbürokratie führen will. Sie will vielmehr ihren Teil vom Kuchen. Attraktiv sein will sie in erster Linie nicht für die einfachen Mitglieder, sondern für die Funktionäre. Diese haben sich über Jahre in der Sozialdemokratie an eine Arbeitsteilung gewöhnt, die sie auch in der Linkspartei beibehalten wollen. Die „Partei“ ist für Politik (Wahlen, Parlamente, eventuell auch für eine vorübergehende Bewegung) zuständig, die Gewerkschaft für Löhne und Arbeitsbedingungen. Einmischung oder gar „Vorschriften“ machen, ja selbst das kritische Nachfragen sind tabu. So wie der Gewerkschafter oder Personalrat über die parlamentarischen Machenschaften „seiner“ Abgeordneten nicht allzu viel wissen muss, verbietet er sich genauere Nachfragen über Verhandlungen mit „seinem“ Chef inklusive so mancher üblen Kompromisse. Kein Wunder, dass solche Bürokraten keinen Kampf gegen die Bürokratie entfachen wollen oder können, ja sie treten nicht einmal offen gegen das sozialdemokratische Meinungsmonopol in den Gewerkschaften auf.

Dieses kommt in Deutschland besonders verlogen unter der Parole der „Politischen Neutralität“ der Gewerkschaften daher. Dieser Bürokratenlegende nach zähle die Parteizugehörigkeit in den DGB-Gewerkschaften nichts, auch wenn – wie durch ein Wunder – das Gros der Funktionäre mit SPD-Parteibuch dasteht, wenn in den Großkonzernen die Betriebsratsgremien nach wie vor von der SPD dominiert sind, wenn die SPD nach wie vor mit Abstand die stärkste Partei unter den gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen ist.

In Wirklichkeit ist die „politische Neutralität“ wie auch die Beschwörung der DGB-Gewerkschaften als scheinbar über allen Parteien stehende „Einheitsgewerkschaften“ ein reaktionärer Mythos. In Wahrheit sind die DGB-Gewerkschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges praktisch sozialdemokratische Richtungsgewerkschaften. Die anderen politischen Kräfte wurden in dieses System mit Versorgungsposten und Alibifunktionen inkorporiert, um den Schein zu wahren.

Eine revolutionäre, klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik muss – anders als so manche Linke – aufhören, selbst noch kindische Mythen wie jene der „politischen Neutralität“, die es im Kapitalismus letztlich ohnedies nie geben kann, oder die Beschwörung der „Einheitsgewerkschaft“ zu reproduzieren.

Statt dieses politischen Versteckspiels treten wir dafür ein, dass alle politischen Strömungen (außer faschistischen und offen rassistischen) in den Gewerkschaften eigene Fraktionen bilden können, die um politische Mehrheiten kämpfen. Wir treten für das Recht ein, dass diese auch in Betrieben offen auftreten und für ihre Politik werben können.

Das steht – wie das Beispiel der Gewerkschaften Anfang der 20er Jahre zeigt, als SPD, KPD und USPD als Fraktionen agieren konnten – der Einheit im Kampf, also einer gemeinsamen Gewerkschaftsbewegung, keineswegs entgegen.

Um für solche, grundlegend anderen Gewerkschaften erfolgreich zu kämpfen, schlagen wir heute die Bündelung, die Zusammenfassung aller oppositionellen, anti-bürokratischen und klassenkämpferischen Kräfte zu einer klassenkämpferischen Basisbewegung in den Betrieben und Gewerkschaften vor.

Eine solche Bewegung wäre heute ein Zusammenschluss von betrieblichen Oppositionellen und Betriebsgruppen und von linken Gruppierungen. Sie müsste versuchen, sowohl traditionelle kämpferische Kernschichten, als auch die Unterdrückten zu vereinen und zu organisieren.

Im Gegensatz zur Linkspartei oder zum linken Flügel des Apparats dürfte sie sich aber keinesfalls auf Reformen der gegenwärtigen Gewerkschaften und das Erringen von mehr Einfluss im Funktionärskörper konzentrieren. Der entscheidende Punkt ist vielmehr der Aufbau einer bundesweiten Strömung, die für ein anderes Programm, eine andere, klassenkämpferische Politik und für die Ersetzung der aktuellen Führung durch eine klassenkämpferische eintritt.

In der aktuellen Krisenperiode, wo wir in den nächsten Monaten und Jahren vor weiteren entscheidenden Kämpfen stehen, kann eine solche Perspektive nicht nur auf die Gewerkschaften beschränkt sein. Eine klassenkämpferische Basisbewegung muss Antworten nicht nur auf gewerkschaftliche, sondern auch auf alle großen politischen Fragen geben.

Dazu muss sie sich mehr und mehr bewusst werden, dass sie auch für eine politische Alternative zu den reformistischen Parteien kämpfen muss – für den Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiterpartei.

Fußnoten

(1) Zu unserer Analyse von Entstehung und Zusammenbruch des degenerierten Arbeiterstaates DDR vergleiche auch unsere Broschüre: Entstehung und Untergang der DDR, Berlin, 2009, auf unserer Website unter: http://www.arbeitermacht.de/broschueren/ddr/vorwort.htm

(2) Vergleiche dazu: Martin Suchanek, Der deutsche Imperialismus heute, in: Revolutionärer Marxismus 33, S. 57-88, Berlin/Wien März 2003, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm33/ deutsch.htm und Martin Suchanek, Der aufhaltsame Aufstieg des deutschen Imperialismus, in: Revolutionärer Marxismus 37, S. 55 – 71, Berlin/Wien Juni 2007, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm37/deutscherimperialismus.htm

(3) 1995 schlug der damalige IGM-Vorsitzende Klaus Zwickel der Regierung Kohl erstmals ein „Bündnis für Arbeit“, in dem die Gewerkschaften – zuerst die IG Metall, kurz danach alle DGB-Gewerkschaften – Regierung und Unternehmen Lohnverzicht im Gegenzug zur Sicherung von Arbeitsplätzen anboten. Auch wenn das erste Angebot nur wenige Monate hielt (wegen Kohls Angriff auf die Lohnfortzahlung), so war ein Damm gebrochen, weil die Gewerkschaften die Argumentation der Kapitalisten akzeptierten, dass höhere Löhne Ursache von Arbeitslosigkeit wären. Bis zu diesem Zeitpunkt war das jedenfalls in offiziellen Positionierungen von IG Metall und den meisten anderen DGB-Gewerkschaften zurückgewiesen worden.

(4) Zur Analyse der Wurzeln der Ideologie des „Dritten Wegs“ und der „Neuen Mitte“ siehe: Martin Suchanek, Where is European reformism going?, in: Trotsykist International 26, Dezember 1999

(5) EU 2004 Sozialabbau und Weltmachtkurs, ISW-report 57, München April 2004, S. 1

(6) Süddeutsche Zeitung 19.7.11

(7) welt-online 5.12.11

(8) Als Burgfrieden wurde der Verzicht auf jegliche gewerkschaftliche Aktion seitens der deutschen Gewerkschaften während des Ersten Weltkrieges bezeichnet.

(9) Zitiert nach: Schröders Reformkeule, Neue Internationale 79, April 2003, http://www.arbeitermacht.de/ni/ni79/angriff.htm

(10) Hannes Hohn/Martin Suchanek, Die Krise der Linkspartei und ihre Wurzeln, in: Revolutionärer Marxismus 43, S. 58 – 94, Berlin/Wien 2011, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm43/linkspartei.htm

(11) Leo Trotzki, Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs, http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1940




Neuzusammensetzung der LohnarbeiterInnenklasse – ein Überblick

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Die wichtigsten Veränderungen der Sozialstrukter seit Anfang der 1990er Jahre (1) wollen wir thesenhaft umreißen:

a) Der Klassengegensatz im Sinne einer fortschreitenden Trennung der ProduzentInnen von ihren Produktionsbedingungen nahm zu. Die Zahl der Lohnabhängigen (Arbeiterklasse und lohnabhängige Mittelschichten) stieg auf Kosten der Selbstständigen (klassisches Kleinbürgertum).

b) Der Warencharakter der Arbeitskraft prägte sich auch in Bereichen wie Distribution, Zirkulation und öffentlicher Dienst deutlicher aus.

c) Es kam zu einer scharfen Differenzierung, Segmentierung, aber auch Polarisierung der Sozialstruktur bzw. Klassengliederung.

7 Entwicklungstendenzen

1. Die Bourgeoisie ist heute eine in sich selbst hierarchisch gegliederte Klasse. Größere und mittlere KapitalistInnen stellen nur noch 0,5 Prozent der Erwerbstätigen. Die Bourgeoisie ist heute eine von der Finanzoligarchie und wenigen hundert Familien beherrschte Klasse.

2. Die Industriearbeiterklasse, hauptsächliche Produzentin des Mehrwerts, veränderte sich quantitativ und qualitativ. Größere Teile der technischen Intelligenz zählen heute zur Arbeiterklasse. Aber auch die Qualifizierung und Fachkompetenz der alten Industriearbeiterschaft ist gewachsen. In den fünfziger Jahren waren noch mehr als zwei Drittel ungelernte Arbeitskräfte, 2004 nur noch 17% (Westdeutschland) bzw. 10% (Ostdeutschland).

Die Zahl der Maschinenarbeiter („Blaumänner“), der Fabrikarbeiter in der Fertigung ist im besonderen Maße absolut und prozentual gegenüber anderen ausgebeuteten Beschäftigten in der Zirkulationssphäre und im „Dienstleistungsbereich“ in Deutschland rückläufig. Weltweit ist allerdings ihre Zahl angewachsen!

Von den abhängig Beschäftigten im „Dienstleistungsbereich“ müssen ebenso eine Vielzahl zu den produktiven LohnempfängerInnen der Transportindustrie und des Reparaturwesens gerechnet werden! Besonders der Sektor Logistik (Transport von Personen, Gütern, Dokumenten und Daten) entwickelt sich immer mehr zu einer Schlüsselbranche der BRD-Exportwirtschaft. Auch wenn die Bedeutung der Schwerindustrie stark geschrumpft ist, so nimmt in Deutschland der produktive Kern der Klasse zwar absolut und relativ ab, doch längst nicht in dem Maße wie oft unterstellt wird. Berücksichtigen wir außerdem die Zunahme der technischen Intelligenz ist aus dieser Sicht die wachsende Zahl der Angestellten in der Industrie, im produzierenden Handwerk, im Bauwesen, in der Landwirtschaft, im Bergbau, im Transportwesen keinesfalls mit einer Verringerung der Arbeiterklasse, auch nicht der produktiven Arbeit identisch.

3. Die Zahl der LohnempfängerInnen in unproduktiven Sektoren (Handel, Banken, Versicherungen, private und öffentliche Dienstleistungen) stieg beträchtlich. Zu den Angestellten zählen sowohl Angehörige des oberen Managements (leitende Angestellte, Kapitalfunktionäre, Geschäftsführungen), die eine Fraktion der Bourgeoisie repräsentieren, wie ein nicht geringer Teil als DirigentInnen bzw. Manager der lohnabhängigen Mittelschichten. Das Gros der ArbeiterInnen und Angestellten in den Dienstleistungsberufen gehört zwar nicht zur stark veränderten Industriearbeiterschaft, aber eindeutig zur Arbeiterklasse. Sie sind Eigentümer bloßer Arbeitskraft, bekommen nur deren Marktpreis bezahlt, während ihre „Arbeitgeber“ abgesehen von Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge sich mittels der Ausbeutung der unproduktive Beschäftigten einen Profit aneignen, der sich aus einer Umverteilung des in produktiven Sektoren erzeugten Mehrwerts speist. Zu ihnen gehören insbesondere die mehr als 4 Millionen kommerziellen Lohnarbeiter, die Lohnarbeiter im Bildungswesen (abgesehen von den betrieblichen Bildungseinrichtungen), im Gesundheitssektor, in der Werbung, im Bank- und Versicherungswesen.

4. Der Anteil der gewerblichen Mittelschichten an den Erwerbstätigen nahm ab, der der lohnabhängigen Mittelschichten zu. Die werktätige Bauernschaft verschwand fast vollständig.

Ein großer Teil des gewerblichen Kleinbürgertums stieg ins Proletariat ab, ein geringer schaffte den Sprung in die Kapitalistenklasse. Ein großer Teil der Kleinbetriebe sind von Großbetrieben abhängig, an deren Ausdehnung sie daher interessiert sind.

Ein signifikantes Umstrukturierungsmerkmal ist die Ausweitung des höheren und mittleren Leitungspersonals in Staat und Wirtschaft zu einer sozialen Schicht bzw. Klasse, die mit anderen Gruppen abhängig Arbeitender (insbesondere dem Bildungsbürgertum) eine Mittelstellung zwischen Kapital und Arbeit bekleidet. Ihre Oberschicht gehört zur herrschenden Klasse, ihre unteren Segmente zu den Lohnarbeitern bzw. abhängig Arbeitenden.

Unterm Strich überkompensiert die gewaltige Zunahme der unproduktiven Angestellten den Rückgang des produktiven Kerns der Arbeiterklasse in Deutschland. Letzterer wird auch in der hiesigen Linken stark überschätzt. Die deutsche Arbeiterklasse ist größer denn je im Verhältnis des Umfanges von Bourgeoisie und Kleinbourgeoisie. Weltweit gilt dies erst recht, v.a. auch für die Mehrwert erzeugende Industriearbeiterschaft und die Logistik!

5. Massenentlassungen im Zuge von Rationalisierungen (Mikroelektronik), Verwertungskrisen und zunehmende wirtschaftliche Instabilität erhöhten von einer Konjunkturkrise zur nächsten den Sockel an Arbeitslosen: von 1997 – 2005 lag die Arbeitslosenquote bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen im BRD-Durchschnitt bei 10% (Höhepunkt 2005 mit 13%). In Ostdeutschland schwankte sie zwischen 19,1% (1997) und 20,6% (2005). Die Zahl der Langzeitarbeitslosen lag auch 2009 noch bei 2,3 Millionen.

6. Die objektive Schwächung der Kampfkraft des Proletariats durch diese Zahlen wird vervollständigt durch die weitere Segmentierung der Lohnarbeiterschaft. Auch als Folge des Drucks auf Löhne und Arbeitsbedingungen durch die sich verstetigende industrielle Reservearmee nahm der Anteil prekärer Beschäftigung drastisch zu: Leiharbeit, Niedriglohnsektor, Hartz IV, Ein-Euro-JobberInnen, Teilzeitarbeit, Flexibilisierung, Minijobs, unbezahlte Praktika usw. Die Gewerkschaftsführung ist bestrebt, die Kernbelegschaften auf Kosten dieser unteren Segmente zu schonen. Trotzdem ging diese spalterische Politik nicht ohne Einbußen für den Stamm der Arbeiteraristokratie einher (Notlagentarifverträge, Standortsicherungsvereinbarungen unter Verzicht auf Lohnbestandteile und garniert mit unbezahlten Überstunden, Arbeitszeitkonten etc.). V.a. wird somit der immer weiter zunehmenden Lohnspreizung, der wachsenden Ungleichheit in der Klasse nicht abgeholfen. Zudem sind in den letzten 10 Jahren kaum nennenswerte Lohnabschlüsse getätigt worden. Im Gegenteil: Reallohnverluste und ungeheure Arbeitsintensivierung sind der Preis, den auch die gut organisierte Facharbeiterschaft zahlen muss und weiter zahlen wird, wenn sie die zunehmende Kluft in den Reihen der Lohnarbeit nicht durch kühne Gegenoffensive stoppt.

7. Deutlich zurückgegangen ist die Zahl der Großbetriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten in der Industrie, im Bergbau (plus Steine und Erden). Der Trend zur Konzentration eines immer größeren Anteils der Industriearbeiter in Großbetrieben mit mehr als 1000-köpfigen Belegschaften scheint seinen Höhepunkt um 1980 herum gehabt zu haben. 1976 lag er höher als 2007. 1976 gab es in der BRD 1066 solcher Betriebe, in denen 3 Millionen Personen oder 39% aller in Industrie und Bergbau Beschäftigten arbeiteten (1981: 905/3,9 Mio./51%; 1985: 830/3,6 Mio./43%; 1991: 930/3,7 Mio./48%; 1994: 820/3,0 Mio./43%; 2008: 642/1,7 Mio./27%).

Diese Zahlen müssen nicht bedeuten, dass das Gesetz zunehmender Konzentration und Zentralisation des Kapitals außer Kraft gesetzt wurde. Schließlich gründeten die Großkonzerne massenhaft Tochterunternehmen, in die sie große Teile der Arbeitskräfte auslagerten (Outsorcing, Profitcenter, innere Konkurrenz). Die Mutterkonzerne konzentrierten sich zunehmend aufs Kerngeschäft der Produktion, Forschung, Entwicklung, Vertrieb, Marketing und Unternehmenssteuerung. Doch ist diese Entwicklung für die Kampfkraft der Klasse objektiv nachteilig aufgrund schwindenden Konzentrationsgrads.

Fußnote

(1) Statistisches Material für die folgende Darstellung siehe: Ekkehard Lieberam, Strukturwandel und Klassenbildung der Lohnarbeiter in Deutschland – Skizze nach 162 Jahren Manifest; in: E. Lieberam/J. Miehe (Hg.), Arbeitende Klasse in Deutschland – Macht und Ohnmacht der Lohnarbeiter, S. 25 – 80, Pahl-Rugenstein Verlag Nf., Bonn, 2011




Verändertes Bewusstsein angesichts der Krise

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Eine Gleichzeitigkeit von Krise und Konflikt fehlt heute in Deutschland weitestgehend. Liegt das daran, dass die Krise hierzulande noch recht glimpflich ausfiel („Beschäftigungswunder“)? Eine Umfrage unter der untersten Ebene der betrieblichen Interessenvertretung in der Metall- und Elektroindustrie (Vertrauensleute und Betriebsräte) im Frühjahr 2010 ging dieser Frage nach (1).

Fehlendes Krisenbewusstsein?

Diesen in der Regel klassenbewusstesten, für die Initiierung betrieblicher Kämpfe ausschlaggebenden Elementen war ebenso wie der deutliche Bevölkerungsmehrheit bewusst:

  • v.a. bezüglich der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen Kapital- und Vermögensbesitz einer- und Lohn- und Sozialeinkommen andererseits geht es in diesem Land zunehmend ungerecht zu;
  • traditionelle Legitimationsmuster des Kapitalismus („Soziale Marktwirtschaft“) und Neoliberalismus (Notwendigkeit von „mehr Markt“) werden zunehmend in Frage gestellt bzw. deutlich zurückgewiesen;
  • Zukunftsperspektiven werden skeptisch eingeschätzt, drei Viertel erwarten auch von einem Aufschwung keine Verbesserung;
  • besonders erschrickt die Demoskopen die „Breite der systemischen Delegitimierung“. Banken, Finanzinstituten, Unternehmern und Managern, Politikern und dem politischen System insgesamt wird genauso misstraut wie der Umsetzung der „Sozialen Marktwirtschaft“.

Widersprüchliches Bewusstsein der Arbeiteravantgarde

Die Umfrage ergab darüber hinaus:

1. Selbst im Zentrum der deutschen Exportwirtschaft existiert an der Basis der betrieblichen Funktionäre ein fragmentiertes Krisenbewusstsein. Einschätzungen wie „herber Schlag“ finden sich neben „medienpolitischer Übertreibung“. Die eigene Lage wird als besser als die gesellschaftliche empfunden. Sei es, dass die InterviewpartnerInnen meinen, sie hätten ihr Leben noch unter Kontrolle oder anderen ginge es noch schlechter. Was tatsächlich als Krise bezeichnet wird, geht auch deshalb auseinander, weil die Gewerkschaften und ihre Bildungsarbeit hier weiße Flecken hinterlassen.

2. Die Welt der Finanzmärkte erscheint als virtuelle Welt, weit entfernt von jeder betrieblichen Produktion „realer Werte“. Gleichzeitig bemächtigt sich die „fiktive“ Wirtschaft zunehmend der realen. Das Verhältnis von Real- und Geldkapitalakkumulation erscheint in einem finanzgesteuerten Kapitalismus auf den Kopf gestellt. Die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise erscheint in diesem Bild noch gesteigert gegenüber klassischen Konjunkturkrisen. Dem akuten Krisenbewusstsein liegen stärker verschlüsselte Strukturen zugrunde als den Überakkumulationskrisen. Die Krise entschwindet dem Nahbereich. Nicht überquellende Lager, sondern die Folgen falsch gelaufener Finanztransaktionen führen zu Restriktionen für die Unternehmen. Die Finanzkrise erscheint als quasi exterritorialer Ort, die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten bis hin zu Kontroll- und Vetopositionen greifen nicht auf Finanzmärkten. Die Frage nach dem „was“ und „wann“ der Krise paart sich mit dem „wo“ und “wogegen“.

3. Warum die „Jahrhundertkrise“ bisher nahezu lautlos über die Bühne gegangen ist, legt die Vermutung nahe, sie würde als singuläre Ausnahme eingeschätzt. In der Befragung äußerten aber viele, für sie sei „immer Krise“. Dieser Widersinn entschleiert sich, wenn die Befragten nicht streng ökonomisch argumentieren, sondern mit „krisenhaft“ fortwährenden Druck und permanente Unsicherheit von Beschäftigung, Einkommen und Arbeitsbedingungen assoziieren, die beständige Restrukturierung der Betriebsabläufe: Verlagerungen, Outsorcing, Kostensenkungsprogramme, zunehmende Intensität der Arbeit usw. Auf dem Boden langjähriger Erfahrung einer Verschlechterung von Arbeits- und Lebensverhältnissen drückt Krise als „permanenter Prozess“ Defensivtraditionen bis hin zu regelrechten Niederlagen aus. Für einen Teil ist die Aussage, dass „Leistung sich lohnt“ desavouiert, aber resignativ besetzt.

4. Die Arbeitsplatzsicherung der Stammbelegschaften („German miracle“) beruhte nicht nur auf der erweiterten Kurzarbeiterregelung, sondern – quantitativ bedeutsamer – auf Arbeitszeitverkürzung über das Instrument der Arbeitszeitkonten.

Positiv wird daraus geschlossen: massive Arbeitszeitverkürzung ist ein Mittel zur Beschäftigungssicherung.

Negative Konsequenzen: Beschäftigungssicherheit galt nicht für die Prekären. In den Augen von Unternehmen und durchaus auch Stammbelegschaften funktionierte der „Puffer“ Leiharbeit. Für die Unternehmen allerdings auch nach der Krise (verstärkter Rückgriff auf Leiharbeit über Vorkrisenniveau). Sie haben wertvolle Erfahrungen mit externer Flexibilisierung wie Leiharbeit, befristetem Beschäftigungsverhältnissen und Scheinselbstständigkeit sammeln dürfen.

Das Hoch- und Runterfahren der Arbeitszeitkonten ging zu Lasten immer weiterer Unterwerfung privater Lebensverhältnisse unter die betrieblichen Anforderungen. Die deutschen Unternehmen konnten sich schon vor der Krise brüsten, im internationalen Vergleich über die flexibelsten Arbeitszeitregime zu verfügen. Die Flexibilisierungsspielräume konnten sie in der Krise nochmals ausweiten.

Das Wechselspiel zwischen Kurzarbeit und schneller Auftragsbearbeitung erfolgte auf Kosten wachsenden Zeit- und Leistungsdrucks. Das Experimentierfeld für noch weitergehende Intensivierung der Arbeit steigert das gesundheitliche Risiko der Beschäftigten enorm. Hier tickt eine Zeitbombe.

Der flexible Personaleinsatz ging auch mit innerbetrieblichen Umsetzungen, beruflicher Unsicherheit und Statusverlust einher, was aber nur als vorübergehend empfunden und nicht generell akzeptiert wird (Fachkräfte aus indirekten Bereichen in die Montage).

Fazit: Die „atmende Fabrik“ mit kapazitätsorientierten Arbeitszeiten hat nach krisenbedingter Ultraflexibilisierung noch deutlichere Konturen angenommen.

5. Großformatige Krisenauseinandersetzungen sind zwar ausgeblieben, doch trügt der Augenschein einer Krise ohne Konflikt. Hinter den Kulissen ballen sich tief gehende Ohnmachtserfahrungen gegenüber einer entrückten, unbeherrschbaren Dynamik, aber auch ein diffuses Protestpotenzial ist im Entstehen.

Diese massive Wut wird weniger von Apathie und Fatalismus geprägt, sondern aus Unzufriedenheit über fehlende Einsichten in die Lage, über den Wunsch diese zu ändern ohne zu wissen wie.

Die Wut kennt v.a. in abhängigen Zulieferbetrieben keine Adresse. Hier wird das örtliche Management als machtloses Rädchen im anonymen Großgetriebe verortet und entschuldigt, ohne dass der betriebliche Interessenkonflikt aus dem Bewusstsein verschwindet. Krisenkorporatismus wird zähneknirschend eingegangen, nicht als dauerhafte Lösung angesehen. Resignation, Erschöpfung, soziale Ängste mischen sich mit Wut und Protest. Das Ohnmachtsgefühl adressatenloser Empörung wird auf Staat und Gesellschaft verschoben. Die Protestfantasien beziehen sich oft auf Frankreich. Brennende Reifen, Aktionen auf der Straße und vorm Regierungssitz, „boss-napping“ lassen es „richtig krachen“. Die Hoffnung, aus der subalternen Rolle auszubrechen, endlich wieder mit eigener Stimme wahrgenommen zu werden, die eigenen Interessen endlich wieder ins Spiel zu bringen, ist der Treibstoff im Kampf gegen die eigene Rolle als Fußabtreter der Republik.

Es gibt aber auch Widerstand. Aber es sind Abwehrkämpfe, keine offensiven Auseinandersetzungen auf der Grundlage eigener Alternativvorstellungen.

6. In den Interviews wird immer wieder auf jene Bedingungen verwiesen, die grundsätzliche politische Aktivitäten erschweren: Existenzängste, verschlechterte Arbeitsbedingungen, Spaltungstendenzen in den Belegschaften zwischen Stamm – und Leiharbeitern, Produktionsarbeitern und Angestellten, verschiedenen Nationen und Kulturen usw.

Der Stellenwert der Gewerkschaften wird zwar anerkannt, ja ihr sogar erfolgreiches Krisenmanagement bescheinigt, aber sie wird in der Krise als erklärende, deutende Kraft vermisst! Sie hat zu wenig aufgeklärt, führte keinen Dialog mit Betriebsräten und Vertrauensleuten und war in den Betrieben zu wenig präsent.

Neben mehr Aufklärung und Deutung werden auch Forderungen an die Gewerkschaften formuliert, mehr zu mobilisieren und politischer zu werden.

7. Staat und Politik kommen deutlich schlechter weg. Auf sie verschiebt sich die „adressatenlose Wut“. Politiker sind korrupt und der Staat generell machtlos. Auf den Staat setzt man zwar doch noch, wenn es um Regulierung der Finanzmärkte geht, bleibt aber skeptisch bis resignativ. Krisenbewusstsein und Gesellschaftsbewusstsein liegen enger beieinander als früher, doch „die Politik“ erscheint nicht als Problemlöser, sondern als Teil der Problematik.

Fazit: Das Beschäftigtenbewusstsein bewegt sich im zentralen Dilemma: Wie können kritisch-realistische Handlungsperspektiven entwickelt werden, die schließlich doch die Grenzen dessen sprengen, was als das Machbare erscheint? Wie in der Bevölkerung ist die Unzufriedenheit mit den Gesellschaftszuständen sehr groß, die Idee einer Alternative aber zumindest extrem unterentwickelt.

Unsere eingehende theoretische Beschäftigung mit der Krise kann über die wissenschaftliche Genugtuung, die ein Studierzimmer mit wohlriechendem Flair ausfüllen mag, hinaus zu einem Schlüssel werden für die Freisetzung der objektiven Sprengkraft des gewaltigen Potenzials des BRD-Proletariats werden. Das gewaltige Potenzial schlummert nicht nur in seiner Stellung im Produktionsprozess, seinem Organisationsgrad, sondern auch im widersprüchlichen Krisenbewusstsein. Seine lähmenden Komponenten abzustreifen bedarf es zuerst der Antwort auf folgende Fragen: Was sind die Ausgangspunkte? Wer ist der Adressat, wo liegen die Interventionspunkte und Bruchlinien?

Fußnote

(1) Die Umfragen und Zahlen sind folgendem Text entnommen: Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer, Ohnmacht und adressatenlose Wut im Betrieb – Interessen- und Handlungsorientierungen in der Krise – die Sicht von Betroffenen, in: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 87, September 2011, S. 46 – 59




Ziele und Taktiken kommunistischer Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Resolution der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Vorbemerkung

Der folgende Text stellt Prinzipien und zentrale taktische Schlussfolgerungen unserer Organisation dar. Wir beginnen die Darstellung mit allgemein gültigen Methoden und mit längerfristigen Zielsetzungen, wie die kommunistische Gewerkschaftsfraktion oder die kommunistische Betriebsgruppe, um von deren Bestimmung ausgehend zentrale Taktiken auf den Weg dorthin, wie die klassenkämpferische Minderheitsbewegung oder die betriebliche Oppositionsgruppe, zu bestimmen.

Auch wenn wir es in der aktuellen betrieblichen und gewerkschaftlichen Praxis häufiger mit letzteren Problemstellungen zu tun haben werden, also den “umgekehrten Weg” wie in der Darstellung der Thesen gehen, ist die Bestimmung längerfristiger Ziele unabdingbar, um unserer Intervention in betriebliche Oppositionsmilieus, gewerkschaftliche Basis- und Oppositionellentreffen eine strategische Linie zu geben.

1. Womit beginnt kommunistische Arbeit im Betrieb?

Kommunistische Arbeit im Betrieb ist nie mit Gewerkschaftsarbeit oder betrieblicher Interessensvertretung identisch. Weder beginnt sie damit, noch endet sie damit. Kommunistische Arbeit im Betrieb geht immer über den Standpunkt des (reformistischen) Betriebsrates, Gewerkschaftssekretärs oder Vertrauensmannes hinaus. Sie muss beinhalten, dass Kommunisten und Kommunistinnen in den Diskussionen am Arbeitsplatz, in der Kantine, im Büro den Standpunkt der Gesamtklasse einbringen und die Auseinandersetzung politisieren. Das heißt wir bringen Themen “in den Betrieb”, sei es die Haltung zu militärischen Einsätzen, zur nationalen Frage, zum Sozialismus usw. Es ist dies eine wichtige Form, des “Hineintragens revolutionären Klassenbewusstseins in die Arbeiterklasse“.

Dadurch ergeben sich mehrere Vorteile und Chancen. Erstens stellen diese Diskussionen eine gute Möglichkeit dar, die Diskussion mit Kollegen und Kolleginnen zu üben – viele Genossen und Genossinnen sind vor allem Debatten in der politischen oder gewerkschaftlichen Linken gewohnt. Zweitens ergibt sich daraus eine Politisierung der Belegschaft, eine Differenzierung und eine Trennung zwischen unseren Positionen und jenen der Arbeiterbürokratie im Betrieb bzw. ihrer verlängerten Arme. Drittens ist damit eine Basis gegeben, politische Unterstützer und Kontakte der Organisation zu finden. Und damit ist viertens ein gewisser Grundstein gelegt, Kollegen und Kolleginnen zu unseren Veranstaltungen zu bringen oder in bestehende Kampagnen aktiv einzubeziehen (und sei es nur als Spender oder Unterschriftenleistende).

Kommunistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit bedeutet auch schon in den ersten Phasen, dass Revolutionäre praktisch in die Tagesauseinandersetzungen im Unternehmen oder in der Gewerkschaft eingreifen. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Charakter der Gewerkschaften als ökonomische Verteidigungsorganisationen und der Notwendigkeit des Abwehrkampfes gegen Zumutungen des Kapitals auf betrieblicher Ebene. Es ist für Kommunisten und Kommunistinnen unmöglich, als Führer oder Führerinnen ihrer Klasse Gehör zu finden, wenn sie nicht in der Lage sind, das Kräfteverhältnis im Betrieb oder in der Gesellschaft, zwischen Kapital und Arbeit wie innerhalb der Arbeiterbewegung, zwischen Apparat und Basis oder zwischen den verschiedenen politischen Strömungen konkret einzuschätzen. Es ist unmöglich, wenn sie nicht in der Lage sind, konkrete Vorschläge zu machen, um welche Forderungen ein bestimmter Kampf geführt werden soll, mit welchen Aktionen und Organisationsformen.

Unsere Herangehensweise an betriebliche und gewerkschaftliche Vorschläge geht davon aus, dass wir für jene Losungen, Kampfmethoden und Organisationsformen eintreten, die aufgrund eines bestimmten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen notwendig sind, um ein bestimmtes konkretes Ziel zu erreichen. Daher müssen unsere Vorschläge den konkreten Problemen angemessen sein und auf dieser Basis versuchen wir, die Kollegen und Kolleginnen zu überzeugen.

Dabei ist es wichtig, Kampfschritte zu definieren, die den ArbeiterInnen Mittel in die Hand zu geben, mit denen sie im Kampf für ihre Ziele auch einzelne Schritte realisieren können. Dies stellen wir den Kampfmethoden und -formen des Apparats und der Zentristen entgegen, die im Namen des „Realismus“ letztlich ungeeignete Vorschläge präsentieren. So wäre gegen die Agenda 2010 ein Generalstreik nötig gewesen. Der Druck der Massen und der politischen und gewerkschaftlichen Linken (100.000 am 1.10. 2003 in Berlin) zwang die DGB-Führung zu handeln. Die Großdemos waren zwar gut geeignet, den ArbeiterInnen ihre eigene Stärke, ihre Massenkraft vor Augen zu führen. Aber sie waren vollkommen unzureichend, um die Regierung in Bedrängnis zu bringen, geschweige denn zur Rücknahme ihrer Angriff zu zwingen. Daher konnten die Demos ohne weiter Kampf- und Organisierungsperspektive leicht missbraucht werden, um Dampf abzulassen.

Unser Vorschlag waren betriebliche und örtliche Mobilisierungskomitees für Demo und Generalstreik. Wenn so einzelne Komitees realisiert werden können, wird auch das Ziel des Generalstreiks in den Augen der AktivistInnen des Komitees realistischer. Solche Komitees können auch weiterhin für einige Zeit AktivistInnen anziehen und organisieren.

Forderungen, wie die der SAV nach einem eintägigen Generalstreik, wären ebenfalls ungeeignet gewesen. Einen eintägigen Generalstreik durchzusetzen war (und ist zumeist) für einzelne KollegInnen oder kleine Gruppen so „unrealistisch“ oder „realistisch“ wie ein unbegrenzter. Andererseits überlebt eine Regierung einen solchen locker, wie die Erfahrungen aus Frankreich oder Italien zeigen.

Bei allen Vorschlägen ist es für uns unerlässlich, Forderungen an die bestehende betriebliche oder gewerkschaftliche Führung zu stellen und Mittel anzugeben, wie diese von den Beschäftigten darauf verpflichtet werden kann. D.h., wir müssen auch in diesen Phasen die Taktik der Einheitsfront anwenden (auch wenn oft keine Einheitsfronten dabei entstehen werden). Dabei können wir uns punktuell mit bestimmten Teilen des Apparats gegen andere verbünden, z.B. mit Gewerkschaftssekretären gegen Betriebsratsfürsten. Forderungen an die bestehende Führung sind unerlässlich, da diese nicht einfach “umgangen” werden kann, wenn bestimmte Ziele durchgesetzt werden sollen. Ein Verzicht auf solche Forderungen führt vielmehr immer ins Fahrwasser des abstrakten Propagandismus.

Beispiele dafür sind Parolen wie „Kapitalismus abschaffen“, „Für eine revolutionäre Perspektive“,, die im Grunde nur gut gemeinte Absichten darstellen, also politisch abstrakt bleiben müssen, wenn sie nicht mit einer konkreten Taktik, mit Aktionslosungen, Minimal- und Übergangsforderungen verbunden werden, die einen Weg zu diesen Zielen weisen. Ansonsten verbleiben solche Losungen auf der Ebene von allgemeinen Phrasen, die sich von reformistischen und Apparatformeln wie „Gute Arbeit“ oder „Für ein soziales Europa“ nur durch ihre größere Wünschbarkeit unterscheiden.

Das ändert aber auch nichts daran, dass auch der reine „revolutionäre“ Maximalismus Forderungen entweder zu reinen Wünsch-dir-was-Listen verkommen lässt oder ungewollt die existierende Führung aus ihrer politischen Verantwortung entlässt. Forderungen an die bestehende Führung (oder verschiedene Strömungen) sind für revolutionäre Politik notwendig, um diese Kräfte in den Augen nicht-kommunistischer Arbeiter und Arbeiterinnen einem möglichst konkreten Test zu unterziehen.

Die Taktik der Einheitsfront ist aber nicht nur nötig im Kampf gegen die reformistische Bürokratie, sie entspricht auch dem tiefverwurzelten Bedürfnis gerade der bewusstesten Teile der Klasse nach Einheit im Kampf. Die BürokratInnen wissen dies zu gut, und betreiben ihre Politik immer im Namen der „Einheit“ oder auch der „Solidarität“. Gerade letztere hat durch diesen Missbrauch verstärkt die Bedeutung des „gemeinsamen Verzichtes“  statt des „gemeinsamen Kampfes“ erhalten.

Wenn wir als KommunistInnen in jedem Kampf das Gesamtinteresse der Klasse vertreten, dann müssen wir durch praktische Kampfschritte zeigen, wie dieses Gesamtinteresse auch durchgesetzt werden kann. Diese Kampfschritte sollen so weit konkretisiert werden, dass selbst kleine Gruppen oder sogar einzelne KollegInnen selbst dafür handeln können, einerseits um mehr Leute einzubeziehen, zugleich aber um die Forderungen an die BürokratInnen mit Druck zu unterstützen.

Solche Aktionen wie Unterschriftensammlungen, Briefe an Gewerkschaft oder Betriebsrat, Forderungen an Einberufungen von Versammlungen auf allen Ebenen, Delegationen zu anderen Abteilungen und Betrieben,…. sind für sich genommen gewerkschaftliches Grundhandwerkszeug. Ohne Verbindung mit unserer Politik verbleiben sie im reformistischen Rahmen, bzw. können immer wieder in diesen integriert werden, auch wenn sie den Beteiligten zu Kampferfahrung verhelfen. Ihre Fetischisierung ist ein Grundfehler aller „BasisgewerkschafterInnen“ und Workeristen (Arbeitertümler), sie zu ignorieren ein Kennzeichnen aller Sektierer. Sie sind allerdings unerlässlich, um unsere Forderungen und Vorschläge zu materiellen Gewalt zu machen.

Wir lehnen die Methoden mancher Zentristen und Ultralinker ab, ökonomische und politische Teilforderungen mit Kampfformen zu verknüpfen, die zu ihrer Realisierung nicht notwendig sind (z.B. durch Fetischisierung bestimmter Aktionsformen wie den Generalstreik, von Besetzungen o.ä.). Die kommunistische Strategie und Taktik unterscheidet sich vom Reformismus oder Zentrismus nicht darin, dass sie immer “radikalere” Kampfformen vorschlägt. Sie unterscheidet sich durch den Gesamtkontext, in dem sie steht, nicht durch diese oder jene Teillosung. Ein Fetischisierung bestimmter Kampfformen ist selbst Ausdruck eines kleinbürgerlichen Pseudoradikalismus und wird von den Arbeitern und Arbeiterinnen oft zu Recht als Abenteuertum betrachtet.

Eine Konstante unserer Agitation wie Propaganda und der Intervention um praktische Auseinandersetzungen ist die Betonung von Kampfmethoden und -formen, die möglichst alle Arbeiter und Arbeiterinnen umfassen und die Führung unter die Kontrolle der Basis stellen, d.h. das Eintreten für Vollversammlungen, Aktionskomitees, Streikkomitees usw.. Diese Elemente erlauben, Konflikte über den bestehenden Anlass hinaus weiterzutreiben und das Bewusstsein und die Selbstorganisation der Arbeiter und Arbeiterinnen über diesen Konflikt hinaus zu heben. Diese Herangehensweise ist für Kommunisten und Kommunistinnen unerlässlich.

Wir lehnen in diesem Zusammenhang alle reformistischen oder zentristischen Vorbehalte ab. Bei den ReformistInnen und anderen BürokratInnen sind diese Vorbehalte mehr oder weniger offen von den Bedürfnissen der Bürokratie um Kontrolle der Belegschaften diktiert. Wir weisen aber auch die “linken” Einwände gegen die Kontrolle der Basis über den Kampf zurück. Diese argumentieren in der Regel damit, dass die Masse rechter wäre oder sein könnte als die bestehende Führung und somit die demokratische Kontrolle über die existierende Führung eine Gefährdung der Aktion darstellen würde.

Dieser Einwand – von so unterschiedlichen Gruppierungen wie dem Gewerkschaftsapparat, Lutte Ouvriére oder den Spartakisten erhoben – verkehrt nicht nur die realen Proportionen, dass nämlich fast immer die existierende Führung Aktionen abwürgt und hintertreibt und es nicht die Basis ist, der sich der kampfeswütige Apparat zähneknirschend fügen würde. Vor allem geht dieser Einwand von einem statischen Charakter des Bewusstseins der Arbeiterklasse oder einzelner Schichten und Fraktionen aus. In Wirklichkeit sind arbeiterdemokratische Kampfformen genau jene Formen, worin sich die Veränderung des Arbeiterbewusstseins, seine Revolutionierung, am leichtesten und besten vollziehen kann und die gleichzeitig die effektivste, einfachste, für alle transparente Kampforganisation liefern.

In diesen Formen können die bestehenden Führungen am besten und einfachsten getestet und am leichtesten ersetzt werden, da sie schneller als alle anderen Formen die Veränderung von Stimmungen und Bewusstsein widerspiegeln. Wir treten daher auch dafür ein, dass der Basis verantwortliche Aktions- oder Streikkomitees auch dann gebildet werden, wenn mit großer Wahrscheinlichkeit die Vertreter der betrieblichen oder gewerkschaftlichen Bürokratie gewählt würden. Die Bildung oder Propagierung von “Streikkomitees”, die nur aus Linken oder Revolutionären bestehen und “Streik” oder “Streikführung” spielen, lehnen wir ab. Solche Taktiken – im Grunde Reminiszenzen an die späte RGO-Phase – müssen zu ökonomischen Niederlagen, zur Diskreditierung der Kommunisten und zur Stärkung von reformistischen oder syndikalistischen Kräften und ihrer Kontrolle über den Apparat führen.

In der heutigen Phase unseres Organisationsaufbaus sind diese Elemente für unsere Genossen und Genossinnen auch als Schule zum Erlernen einer gewissen “Betriebs- und Gewerkschaftsarbeitsroutine” wichtig, zum Messen mit der Bürokratie, mit Reformisten und Zentristen auf einer anderen Ebene als der schriftlichen Polemik, um dabei eine prinzipienfeste und zugleich flexible Herangehensweise an nicht-kommunistische Arbeiter zu erlernen. Es ist auch eine Gelegenheit, schriftliche und mündliche Formen der Agitation zu üben.

Wie offen diese Arbeit betrieben werden kann, ob es möglich ist, die Unterstützung oder Zugehörigkeit zur Organisation für die anderen Beschäftigten offen darzulegen oder nicht, hängt von den Umständen ab. Generell versuchen unsere Mitglieder, so offen wie möglich aufzutreten, und es ist ein unabdingbarer Teil kommunistischer Arbeit im Betrieb, die Grenzen offenen Auftretens zugunsten freier politischer Organisierung zu verschieben. Damit wird erstens die Macht des Kapitalisten und/oder der Bürokratie geschwächt, zweitens erlaubt es eine viel weitergehende Politisierung der Arbeiter und Arbeiterinnen im Betrieb, was ja auch der Grund ist, warum Kapital und Bürokratie dagegen sind.

In jedem Fall sollten den anderen Beschäftigten unsere politischen Grundüberzeugungen einigermaßen bekannt sein – auch wenn das oft mit sehr vagen Vorstellungen wie “Linker”, “Roter”, “Marxist”, “Kommunist” usw. behaftet bleibt. Die Grenze findet das an der konkreten Einschätzung von Sicherheitsrisiken (Arbeitsplatzverlust, Versetzen auf Überhänge, Probezeit). Die Entscheidung, wie offen vorgegangen werden soll, obliegt in letzter Instanz der nationalen Leitung der Organisation.

Auch wenn diese kommunistische Tätigkeit im Betrieb wenig systematischen Charakter hat und im heutigen Stadium in der Regel keinem Aufbauplan und konkreten kurz oder -mittelfristigen Organisationszielen im Betrieb folgt, so wird sie von bestimmten Prinzipien geleitet, die für alle Stadien der betrieblichen und gewerkschaftlichen Arbeit gelten:

a) Politisierung des Konflikts, Hineintragen eines proletarischen Klassenstandpunktes

b) Transparenz der politischen Position

c) Leitung durch die Programmatik und Disziplin der Organisation

Diese drei Grundmuster gelten für alle Stadien und Formen der Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit.

2. Systematische Betriebsarbeit – die kommunistische Betriebsgruppe

Unter systematischer Betriebsarbeit verstehen wir das Ziel, eine Verankerung im Betrieb als revolutionäre Kommunisten zu erlangen, also als Mitglieder oder Unterstützer der Gruppe/Organisation/Partei. Wenn wir im folgenden gelegentlich den Begriff „Partei“ für die kommunistische Organisation verwenden, so wollen wir damit keineswegs andeuten, dass wir schon eine Partei wären – wohl aber eine Vorform, die Prinzipien kommunistischer Arbeit in den Betrieben und Gewerkschaften anwendet. Das Ziel dieser Arbeit ist der Aufbau einer kommunistischen Betriebsgruppe (Zelle).

Diese kann, ja soll über die Parteimitglieder im Betrieb hinausgehen, also auch jene Arbeiter und Arbeiterinnen umfassen, die noch nicht bereit sind, die Pflichten einer Parteimitgliedschaft zu erfüllen. Die politische Voraussetzung für die Mitgliedschaft besteht aber in der Anerkennung des gewerkschaftlichen Aktionsprogramms der GAM oder GAM-Gewerkschaftsfraktion. Das heißt, es ist mehr erforderlich als die Zustimmung zu Taktiken und Losungen im Betrieb oder in der Gewerkschaft.

Eine Gewerkschaftsfraktion/-zelle im Betrieb muss als politische Gruppierung für die anderen Kollegen und Kolleginnen sichtbar und klar identifizierbar sein. Dazu ist die Herausgabe eines kommunistischen Betriebsbulletins notwendig.

Wo die Gruppierung im Betrieb nicht offen auftreten kann, muss das “von außen” geschehen. In diesem Fall muss das Bulletin durch Mitglieder und SympathisantInnen der jeweiligen Ortsgruppe vor den Werkstoren, Personaleingängen etc. verteilt werden. Diese Bulletins müssen den Beschäftigten eine Kontaktmöglichkeit angeben und gleichzeitig die Betriebsgruppe im Inneren schützen.

Ein kommunistisches Betriebsbulletin muss sich als solches zu erkennen geben, die politische Verbundenheit mit der GAM zum Ausdruck bringen und sowohl betriebliche, gewerkschaftliche und politische (inländische wie internationale) Themen aufgreifen. Es muss ein redaktionelles Team geben, das zum größten Teil aus Aktivisten im Betrieb besteht und in das auch neu gewonnene Kollegen und Kolleginnen eingebunden werden können. Ein solches Bulletin sollte kurz und prägnant gefasst und leicht lesbar sein.

Es muss regelmäßig erscheinen, und eine solche Regelmäßigkeit muss auch am Beginn sichergestellt sein. Wo eine regelmäßige (d.h. zumindest zweimonatige) Erscheinungsweise nicht sichergestellt werden kann, soll auch kein Betriebsbulletin herausgeben werden, da wir ansonsten nur als unernsthaft erscheinen. In diesem Fall muss mit Flugblättern ausgeholfen werden. Es muss Möglichkeiten zum Kontaktieren der Gruppierung geben, zur Stellungnahme usw. Das Bulletin muss die anderen Strömungen im Betrieb klar, konkret und politisch unzweideutig kritisieren. Es darf nicht bei moralischen Verurteilungen stecken bleiben, sondern muss versuchen darzulegen, warum ein Bürokrat wie ein Bürokrat handelt, ein Reformist wie ein Reformist, ein Zentrist wie ein Zentrist usw. Eigene Aktions- und Handlungsvorschläge sowie Einheitsfrontangebote und Forderungen an die betrieblichen und gewerkschaftlichen Führungen müssen ebenfalls enthalten sein.

In einer Reihe von Fällen wird die Schaffung einer Basisopposition im Betrieb oder, wo eine betriebliche Oppositionsströmung vorhanden ist, die Arbeit in dieser, ein Zwischenschritt zur Schaffung einer kommunistischen Betriebsgruppe sein. Auch hier streben wir die Herausgabe eines Bulletins an, das regelmäßig erscheinen soll. Für die Arbeit in einer solchen Opposition stellen wir allerdings die Vorbedingung, in der Opposition offen für unsere Ideen auftreten zu dürfen. Wir kämpfen für die Möglichkeit, unsere Positionen – und sei es in Form einer offenen Debatte, von Leserbriefen usw. – in den Publikationen der Opposition vertreten zu können. Sollte das nicht möglich sein, müssen wir über andere Wege sicherstellen, dass unsere Auffassungen nach außen dringen. Wir sind bei dieser Tätigkeit immer zuerst an die Disziplin der GAM gebunden und versuchen auch innerhalb der Opposition eine kommunistische Zelle/Strömung um uns auf der Grundlage des Aktionsprogramms zu organisieren.

Ein kommunistisches wie auch ein oppositionelles Bulletin wird in der Regel betrieblichen oder örtlichen Charakter haben. Es kann jedoch auch einen überregionalen oder einen internationalen Charakter haben. Ein solches kommunistisches Bulletin setzt aber ein qualitativ höheres Stadium der Entwicklung der Liga für die Fünfte Internationale voraus. Oppositionelle Bulletins internationalen Charakters sind jedoch auch heute möglich und sollten von uns ermutigt werden, auch wenn diese eine andere Erscheinungsform haben würden (z.B. Verbreitung via Internet).

Auch wenn die Bildung einer oppositionellen Gruppierung im Betrieb der Bildung einer kommunistischen Betriebsgruppe in einer Reihe von Fällen vorausgehen mag, so ist das keineswegs zwingend der Fall. Unser Ziel auf betrieblicher Ebene ist immer die kommunistische Betriebsgruppe, nicht das Oppositionellen-Sammelsurium. Zweitens schließen sich eine kommunistische Betriebsgruppe und eine oppositionelle Basisgruppe gerade in Großbetrieben nicht gegenseitig aus. Gerade hier ist es notwendig, mittels Bulletins usw. ein eigenes kommunistisches Profil zu zeigen und gleichzeitig lässt sich eine oppositionelle Gruppierung selbst nur vorantreiben, wenn es darin einen starken und straff organisierten kommunistischen Kern gibt, der um die Führung kämpft.

Sowohl als kommunistische Betriebsgruppe wie auch als Mitglieder einer Oppositionsgruppierung treten wir für die Öffnung betrieblicher und gewerkschaftlicher Publikationen für alle Mitglieder und somit für alle politischen Auffassungen ein (mit Ausnahme faschistischer, rassistischer und sexistischer Beiträge) bei gleichzeitiger Beibehaltung gewerkschaftlicher Kampfdisziplin. Eine solche Öffnung kann jedoch nicht die Herausgabe eines kommunistischen Betriebsbulletins oder einer oppositionellen Publikation ersetzen.

Die Parteimitglieder in einer kommunistischen Betriebsgruppe, einer Zelle oder in einer betrieblichen Oppositionsgruppe sind immer im Rahmen einer Ortsgruppe der GAM organisiert, um so der Vereinseitigung auf rein betriebliche oder gewerkschaftliche Probleme vorzubeugen und die Einbindung in andere Aufgabenbereiche der Organisation sicherzustellen.

3. Gewerkschaftsarbeit im Betrieb und Kandidatur zum Betriebsrat

Die betriebliche Arbeit ist in letzter Instanz Voraussetzung jeder erfolgreichen kommunistischen Gewerkschaftsarbeit. Ohne betriebliche Basis richtet man auch in der Gewerkschaft nichts aus. Auf betrieblicher Ebene ist die Gewerkschaft zumeist durch die Vertrauensleute repräsentiert. Gewerkschaftliche Betriebsgruppen oder Versammlungen der Gewerkschaftsmitglieder gibt es kaum. Allerdings ist die Existenz von Vertrauensleutekörpern in bestimmten Branchen (Elektro-/Metallindustrie, öffentlicher Dienst, Bergbau, Stahl, Chemie, Energieerzeugung, Bahn, Post, Deutsche Telekom) durchaus noch die Regel.

In anderen Bereichen (halbstaatlicher Sozialbereich, viele Dienstleistungen, zahlreiche neue Telekommunikationsbereiche) existieren kaum gewerkschaftliche Strukturen im Betrieb, also oft keine Vertrauensleute, immer öfter auch keine Betriebsräte.

Diese Teilung hat wichtige Auswirkungen für die gewerkschaftlichen Interventionsmöglichkeiten im Betrieb. Wo Vertrauensleutekörper (VK) existieren, sind diese oft gleichbedeutend mit den aktiven Gewerkschaftern im Betrieb. Die Kandidatur als Vertrauensmann oder -frau ist in vielen Betrieben ein unerlässlicher Schritt, um überhaupt in gewerkschaftliche Aktivitäten einsteigen zu können. Wo wir systematisch im Betrieb arbeiten  oder arbeiten wollen, streben wir generell eine Kandidatur oder notfalls Ernennung zum Vertrauensmann/-frau (im Folgenden als VP = Vertrauensperson abgekürzt) an.

Diese setzt noch nicht eine Basis im Betrieb voraus, die in politischer Solidarität mit uns steht. Vielmehr kann und soll die VP-Position dazu genutzt werden, eine solche Basis zu schaffen oder zu erweitern, Kontakt zu anderen Kollegen herzustellen etc. Die Tätigkeit im VK wird von den allgemeinen Prinzipien unserer Betriebsarbeit gelenkt.

Die Kandidatur zur VKL (Vertrauenskörperleitung) hingegen soll auf folgenden inhaltlichen Grundlagen erfolgen:

a) Plattform, die Stellung zu den wichtigsten betrieblichen und unmittelbar gewerkschaftlichen Problemen nimmt und den Unterschied zur Bürokratie darlegt. Ob diese Positionierung schriftlich oder mündlich, auf einer Versammlung oder durch das Auftreten in den Abteilungen deutlich gemacht wird, ist zweitrangig. Es ist dazu kein revolutionäres Aktionsprogramm notwendig, da weder VK, VKL (noch der Betriebsrat) Organe sind, die einen gesellschaftlichen Bereich betreffen, in dem es um die Staatsmacht geht.

Allerdings muss sich die Plattform, die politische Grundlage, auf der wir antreten, auf folgende Grundsätze stützen: Gegen Klassenzusammenarbeit und für Mobilisierungen; gegen bürokratische Stellvertreterpolitik und geheime Mauschelei, sondern für Basismobilisierungen, Arbeiterdemokratie und Einbeziehung der Gewerkschaftsmitglieder oder Belegschaft in jeden Kampfschritt. Diese Punkte müssen immer möglichst konkret auf aktuelle und wichtige betriebliche oder gewerkschaftliche Themen gemünzt werden.

b) Politische Solidarität zur GAM bekannt machen unter Berücksichtigung von elementaren Sicherheitsrichtlinien. Auch hier ist unerheblich, wie das gemacht wird. Wir sollten auch immer sicherstellen, dass wir als eher unverfängliche “Sympathisanten”, “Unterstützer” („was die schreiben, finde ich gut“) gelten. Wichtig ist, dass wir sicherstellen, dass die Kollegen und Kolleginnen wissen, warum wir wo politisch stehen, und dass diese Gruppierung auch einen Namen hat (nicht einfach “links” oder so).

Wir treten für die volle Diskussion innerhalb der Gewerkschaftsmitgliedschaft bei der Auswahl der Kandidaten für den Betriebsrat ein. Wir treten dafür ein, dass die Gewerkschaftsmitglieder in offener Diskussion über die Reihung der Kandidaten auf der Gewerkschaftsliste entscheiden. Natürlich soll eine Wahlkampfphase auch zur Gewinnung neuer Mitglieder und deren Einbeziehung genutzt werden. Wir treten aber im Normalfall ausdrücklich für die Auswahl der Kandidaten auf der Gewerkschaftsliste nur durch die Gewerkschaftsmitglieder bzw. in Großbetrieben durch repräsentative gewerkschaftliche Organe wie Vertrauensleutekörper ein, da diese einen bewussteren Teil der Belegschaft darstellen, sie erkennen an, dass es notwendig ist sich gewerkschaftlich, d.h. auch über den Betrieb hinaus zu organisieren.

Wir versuchen, auf der Liste der DGB-Gewerkschaft zu kandidieren – eine Gegenliste kann freilich notwendig werden, wenn wir bürokratisch ausgegrenzt werden. Wir versuchen auf jeden Fall, den Kampf so lange wie möglich innerhalb der Gewerkschaft zu führen, da wir auch ein Interesse daran haben, dass die Gewerkschaftsliste den Betriebsrat stellt und nicht irgendwelche gelben und/oder antigewerkschaftlichen Gruppen wie z.B. der Beamtenbund im öffentlichen Dienst, der Konzernleitung nahe Listen wie bei Siemens usw. In Bereichen, in denen sich neue Gewerkschaften oder ehemals ständische Organisationen in Kämpfen zu einer echten Konkurrenz zu den DGB-Gewerkschaften entwickeln, wie zum Beispiel die GDL, entscheiden wir anhand der Situation im Betrieb und der Branche, wo wir die besten Möglichkeiten für revolutionäre Arbeit haben. Eine Kandidatur auf einer bestimmten Liste heißt nicht, dass wir auf den Kampf für die Einheit der Gewerkschaften, bzw. der Listen, gegen Management und Kapital verzichten dürfen.

Wir treten dafür ein, dass sich die Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb, die Vertrauensleutekörper, die gewerkschaftlichen Betriebsgruppen usw. in den innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen als Kollektiv positionieren, einschließlich der deklarierten Unterstützung gewerkschaftlicher Oppositionsströmungen bzw. des offenen Anschlusses daran (immer vorausgesetzt, wir unterstützen eine solche Strömung). Auf Basis solcher Diskussionen und Beschlüsse sollten auch Delegierte in gewerkschaftliche Gremien entsandt werden.

Wo es keine gewerkschaftlichen Strukturen im Betrieb, ja auch keinen Betriebsrat gibt, treten wir den Aufbau dieser Strukturen ein. Selbstredend treten wir auch für die Organisierung der Beschäftigten in der jeweiligen DGB-Gewerkschaft ein und treiben das aktiv voran. Wo ein solches Projekt Teil unserer systematischen Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit ist, wird es mit dem Ziel der Schaffung einer oppositionellen Gruppe im Betrieb bzw. einer kommunistischen Betriebsgruppe kombiniert.

Während die Vertrauensleute und die Leitung des Vertrauensleutekörpers im Betrieb gewerkschaftliche Strukturen darstellen, sind Betriebsräte (und auch Jugendvertretungen) sozialpartnerschaftliche Gremien, die direkt mit dem Management verhandeln. Für die Wahl zum Betriebsrat gelten dieselben Grundsätze wie für die Vertrauensleutekörper-Leitung. Die Arbeit in der Vertrauensleutekörper-Leitung ist zwar auch vom Druck der Bürokratie, der betrieblichen Machtverhältnisse eingeschränkt, nicht jedoch vom Betriebsverfassungsgesetz.

Unsere Arbeit in beiden Gremien muss von Transparenz gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern und der Belegschaft im Betrieb auf allen Ebenen gekennzeichnet sein. Wir agieren mit Voll- oder Abteilungsversammlungen, mobilisieren die Beschäftigten in allen Phasen und besonders auch in der Kontrolle etwaiger erreichter Kampfziele. Wir machen dabei auch Differenzen im Rahmen des BR oder des VKs deutlich und welche Position wir darin vertreten. Wir treten dafür ein, dass es eine Zeitung des VKs gibt, die allen Beschäftigten im Betrieb offen steht, und in der offen innerbetriebliche oder innergewerkschaftliche Diskussionen geführt werden.

4. Kandidatur zu regionalen oder bundesweiten Gewerkschaftsfunktionen

Anders als die Kandidatur zum Betriebsrat oder zur VP bedarf es bei der Kandidatur zu örtlichen, regionalen oder bundesweiten exekutiven Gewerkschaftsfunktionen in Verwaltungsstelle, Bezirk oder Vorstandsebene der klaren Darlegung unserer weitergehenden politischen Positionen und eines zugespitzten Aktionsprogramms für diesen Bereich. Eine solche Kandidatur ist praktisch nur möglich auf Grundlage einer signifikanten Verankerung in der Basis. Wir unterwerfen uns dabei nicht der Disziplin des Apparates, sondern versuchen, die Basis bei allen Schritten und allen politischen Differenzen einzubeziehen. Ihr – nicht dem Apparat – sind wir verantwortlich. Wo eine solche Position in Widerspruch zur Politik der Partei gerät, treten wir von dieser Funktion zurück.

Wir treten dabei klar gegen alle Privilegien für die Bürokratie sowie für die Anpassung der Einkommen aller hauptamtlichen Funktionäre auf ein durchschnittliches Entgelt, für jederzeitige Rechenschaftspflicht aller haupt- und ehrenamtlichen Funktionsträger gegenüber den Mitgliedern, Kontroll-, Wahl- und Abwahlmöglichkeiten durch repräsentative Organe bzw. Versammlungen der Basis ein.

Anders verhält es sich bei Organen wie der Vertreterversammlung, der Tarifkommission oder der Delegation zum Gewerkschaftstag. Hier ist eine Positionierung zu den wichtigsten anstehenden Fragen und Konflikten, wie z.B. in der Tarifauseinandersetzung oder auf dem Gewerkschaftstag, notwendig. Genossen und Genossinnen, die dorthin delegiert werden, müssen ihren Standpunkt zu den Fragen im Voraus und in der Debatte darüber unter der Belegschaft, der Betriebsgruppe, dem Ortsausschuss etc. deutlich machen. Eine Darlegung des vollständigen kommunistischen Programms ist nicht zwingend notwendig, es sollte allerdings – ähnlich wie bei Wahlen zum BR – unsere politische Zugehörigkeit deutlich werden.

5. Gewerkschaftsopposition

Wie im Betrieb die Schaffung einer kommunistischen Betriebsorganisation/-gruppe unser Ziel ist, so ist es die Schaffung einer kommunistischen Gewerkschaftsfraktion in den Gewerkschaften. Diese muss auf Basis eines revolutionären Aktionsprogramms für die Gewerkschaften gebildet werden und steht neben Parteimitgliedern allen offen, die bereit sind, auf dieser Grundlage diszipliniert in den Gewerkschaften um eine revolutionäre Führung zu kämpfen.

Der Aufbau einer revolutionären Gewerkschaftsfraktion setzt den Aufbau der revolutionären Partei voraus. Ohne revolutionäre Kaderorganisation kann es auf Dauer keine revolutionäre Gewerkschaftsfraktion geben.

Die revolutionäre Gewerkschaftsfraktion ist eine Vorfeldstruktur der Partei, eine Frontorganisation. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie steht daher in offener und deklarierter Solidarität zur Partei. Auch wenn sie für Genossen und Genossinnen, die nicht Mitglied der Partei sind, offen ist, so ist klar, dass die Parteimitglieder dem demokratischen Zentralismus der Partei verpflichtet sind.

Natürlich wird die Partei bestrebt sein, die Gewerkschaftsfraktion und vor allem die Nichtmitglieder durch Überzeugung zu führen – aber es gibt, anders als bei einer revolutionären Jugendorganisation, keine organisatorische Unabhängigkeit der Gewerkschaftsfraktion. Sie ist Instrument der Partei. Der entscheidende Unterschied zwischen Parteimitgliedern und Nichtmitgliedern in der Fraktion besteht nicht in weltanschaulichen Differenzen, sondern im Maß an Verpflichtung, das die Genossen oder Genossinnen zu geben bereit sind. Auch die Gewerkschaftsfraktion ist demokratisch-zentralistisch aufgebaut, basiert auf einer wissenschaftlichen revolutionär-marxistischen Doktrin und erkennt die Führungsrolle der kommunistischen Partei an.

Die Organisation der eigenen Genossen und Genossinnen in einer Gewerkschaftsfraktion oder in besonderen bundesweiten Strukturen zur Koordination und Zentralisation der Arbeit ist daher von Beginn jeder systematischen Gewerkschaftsarbeit an unerlässlich. Sie ist umso dringender, wenn irgendwelche taktische Manöver in anderen Oppositionsstrukturen unternommen werden sollen, oder wenn die Taktik der klassenkämpferischen Basisbewegung angewandt werden soll.

Die Basis für die Schaffung einer Gewerkschaftsfraktion wie für jede oppositionelle Arbeit in den Gewerkschaften ist das Aktionsprogramm für den Gewerkschaftsbereich bzw. ein Aktionsprogramm für die Gewerkschaften.

In der heutigen Phase leisten wir gewissermaßen die Vorarbeit für den Aufbau einer revolutionären Gewerkschaftsfraktion, und das wird wohl noch einige Jahre so bleiben, bevor wir auf eine bundesweite Organisation zurückgreifen können, die in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Avantgarde verankert und bewusst kommunistisch ist. Im Grunde ist das erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium des Parteiaufbaus möglich und setzt die Vervielfachung der Größe der GAM voraus.

(Allerdings heißt das auch heute, dass wir eine embryonale revolutionäre Gewerkschaftsfraktion zur Koordination der Arbeit, zu Einbeziehung von Kontakten usw. aufbauen. Zentral dafür ist die Gewinnung für unser Aktionsprogramm und die Intervention in diversen gewerkschaftsoppositionellen Strömungen.)

Für heute heißt das, dass wir als Vorbereitung für eine revolutionäre Gewerkschaftsfraktion lokale und zentrale Betriebs- und Gewerkschaftskommissionen zur Koordination der Arbeit und zu Einbeziehung von Kontakten und Sympathisanten aufbauen. Zentral dafür ist die Gewinnung für unser Aktionsprogramm und die Intervention in diversen gewerkschaftsoppositionellen Strömungen.

In der aktuellen betrieblichen und Gewerkschaftsopposition „Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken“ sammeln sich Kräfte, die durch die bürokratische Umsetzung sozialdemokratischer Regierungspolitik in den Gewerkschaften zum Widerstand gedrängt werden. Dieser Widerstand ist politisch heterogen und die einzelnen Kräfte sind oft selbst Bürokraten oder Produkte des bürokratischen Apparates. Trotzdem betrachten wir die Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken nicht als die Summe ihrer einzelnen Elemente, sondern als verzerrten Ausdruck des Widerstands der Klasse. Letztlich ist sie trotz ihrer Schwächen heute die einzige bundesweite Struktur, die oppositionelle Kräfte sammelt und in einzelnen Fällen Aktionen und Kampagnen initiiert. Es wäre daher reines Sektierertum, sich dort nicht zu beteiligen und zu intervenieren.

Heute produziert diese Opposition kann jedoch nicht viel mehr als eine “Vernetzung”, die gelegentlich dem Widerstand der Arbeiterklasse Ausdruck gibt. Sie zieht dadurch aber auch kämpferische Kader aus den unteren Funktionärsschichten an. Wir kämpfen in diesem Rahmen für offene Aktionen gegen Kapital und Regierung und propagieren unser Ziel einer revolutionären Gewerkschaftsfraktion wie den Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung.

Die derzeitige Opposition darf nicht mit einer genuinen Basisbewegung antibürokratischer Militanter verwechselt werden. Zweifellos gibt es diese auch in der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken und als zersplitterte Kämpferschicht in den Betrieben. Unter diesen Militanten gilt es vor allem, ihr (vorgebliches) Nur-Gewerkschaftertum, hinter dem sich zumeist linker Sozialdemokratismus, Stalinismus oder Brandlerianertum verbergen, zu bekämpfen und die praktische Untauglichkeit dieser Ideologien zu entlarven.

In der “Vereinigung der Gewerkschaftslinken” kämpfen wir für den Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung in Betrieb und Gewerkschaft. Diese Taktik dient dazu, jene Element zu sammeln, die für eine andere Führung in den Gewerkschaften eintreten, für eine Politik der Klassenkonfrontation und direkten Mobilisierung, gegen jede Klassenkollaboration (“Bündnis für Arbeit”, „Standortsicherung“ etc.) und Unterordnung unter die Regierung, für internationale Zusammenarbeit, für die Demokratisierung der Gewerkschaften und die Kontrolle der Arbeiter über diese Organisation und den Kampf. Eine solche Bewegung muss sich gegen die gesamte Bürokratenkaste in den Gewerkschaften richten und nicht bloß gegen “die Co-Manager”. Wir treten von Beginn an dafür ein, dass diese Bewegung auf der Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms geschaffen wird. Wir machen unsere Mitarbeit/Zugehörigkeit zu einer solchen Bewegung jedoch nicht von der Annahme unseres Programms abhängig. Wir kritisieren jedoch öffentlich die Halbherzigkeit jedes anderen Programms.

Die klassenkämpferische Basisbewegung kann kein Ersatz für eine kommunistische Gewerkschaftsfraktion sein. Ohne revolutionäre Führung ist sie zur raschen Degeneration verdammt. Daher ist die klassenkämpferische Basisbewegung auch kein “Wunderweg” zur revolutionären Partei, sondern umgekehrt ist eine revolutionäre Partei Voraussetzung für das Überleben einer genuinen Basisbewegung. Ansonsten werden wir es immer nur mit Keimformen zu tun haben, die zum späteren Zerfallen verurteilt sind, die nur ein Potential zeigen, das jedoch ohne revolutionäre Avantgardepartei, die die Bewegung führen kann, verpuffen muss.

Eine kommunistische Gewerkschaftsfraktion im eigentlichen Sinne wird immer auch eine Gewerkschaftszeitung für die Massen herausgeben. Allerdings sind wir heute weit davon entfernt und die Schaffung einer kommunistischen Gewerkschaftszeitschrift oder Beilage zur NEUEN INTERNATIONALE wäre ein großer Schritt vorwärts in diese Richtung. Eine solche kommunistische Gewerkschaftszeitung würde sich von den anderen Presseorganen der Sektion unterscheiden: Einmal durch das Schwergewicht ihrer Berichte, aber auch durch den mehr agitatorischen Stil. Sie müsste recht detailliert auf betriebliche und gewerkschaftliche Spezialprobleme, Erfahrungen aus Kämpfen usw. eingehen, so dass die gewerkschaftliche und betriebliche Verankerung der Publikation deutlich hervorginge. Sie müsste jedoch ebenfalls internationale Artikel, Analysen zur Wirtschaftslage und die Kritik anderer politischer und gewerkschaftlicher Strömungen beinhalten.

6. Führung und Verantwortung

Wir haben die Betriebsarbeit als Schule für die Organisation bezeichnet, in der Erfahrungen im Kampf mit der Bourgeoisie und mit dem reformistischen Apparat gesammelt werden, und bei der die Organisation auch beginnt, Arbeiter und Arbeiterinnen um sich zu sammeln. In gleichem Maße übernehmen die Organisation und ihre Mitglieder Verantwortung für die politische Führung und das Agieren von GenossInnen und KollegInnen und deren Konsequenzen. Zweifellos werden wir dabei auch Fehler machen so wie es neue Erfahrungen, Erfolge und auch Kampf -und Organisationsmethoden geben wird. Wir müssen sicherstellen, dass wir in der Lage sind, daraus zu lernen und Erfahrungen zu verallgemeinern.

Kinderradikale Fehler und eine Politik, die sich selbst zur Führung erklärt, ohne es zu sein, haben in der Vergangenheit gerade in der Betriebsarbeit bei vielen politischen Gruppen zum Verheizen von Kadern geführt, die ihr politisches Engagement aufgegeben haben. So sie sich angepasst haben, wurden sie zu Werkzeugen des Apparats bei der Abdeckung seiner Politik, und haben so geholfen, Arbeitsplätze und Errungenschaften aufzugeben.

Eine revolutionäre Organisation muss lernen, mit dieser Verantwortung umzugehen. Wenn wir heute z.B. schreiben, dass die Nationale Leitung über die Offenheit des Auftretens und die Interventionsformen entscheidet, so heißt das für die Nationale Leitung sich auf diesem Gebiet mit Kompetenz und unter Auswertung aller Erfahrung zu bewegen. Unser Ziel ist eine Partei, die nicht nur Entscheidungen fällt, die die Existenz und das Auftreten der eigenen Genossen und Genossinnen berühren, sondern die das Schicksal der ganzen Klasse bestimmen – eine Partei, die dafür kompetent ist.




Das „Prekariat“ – Klassenlage und Klassenkampf

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Die Begriffe „Prekariat“ oder „Prekarisierung“ sind vor einigen Jahren in den Sozialwissenschaften entwickelt worden. Mittlerweile haben sie Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit gefunden. Kein Wunder, denn die unter „Prekariat“ subsummierten Schichten der Bevölkerung sind spätestens im letzten Jahrzehnt auch in Deutschland zu einem Massenphänomen geworden, das schier unaufhaltsam weiter zunimmt.

Verwendung in der Soziologie

In der Soziologie wird „Prekariat“ auch mit „Unterschicht“ kombiniert oder zumindest festgestellt, dass „die Grenzen fließend sind“. In unserem Artikel wollen wir die soziologische Betrachtungsweise verlassen und das Prekariat einer Klassenanalyse unterziehen. Dabei untersuchen wir, welche Beschäftigungsgruppen und -verhältnisse unter „Prekariat“ zusammen gefasst werden, welche Interessen beim „Arbeitgeber“, dem Kapital, hinter diesem Prozess stehen. Wir stellen uns auch die Aufgabe, programmatische Antworten für diese Teile der Klasse zu entwickeln bzw. das Prekariat als Teil der Arbeiterklasse zu definieren.

Dabei fragen wir, welche Rolle die Gewerkschaften für diese Beschäftigten einnehmen können und wie die DGB-Gewerkschaften auf diese neuen Beschäftigungsverhältnisse reagieren sollten, welche Forderungen und welche Organisierung sinnvoll ist.

Erweitern wollen wir das „Prekariat“ auch um die Bereiche, welche nicht ausschließlich im Niedriglohnbereich zu finden sind. Auf die Gruppen, welche in die „Selbstständigkeit“ getrieben wurden, die entkoppelt worden vom „unbefristeten“ Arbeitsverhältnis. Dazu gehören auch die Veränderungen am Arbeitsmarkt, die Neustrukturierung des Kaufs der Ware Arbeitskraft durch das Kapital – sei es durch „Arbeitsverleiher“ oder Internetplattformen fürs Projektmanagement.

Schließlich müssen wir diese Prozesse auch einordnen in die aktuelle Krisenperiode des globalen Kapitalismus. Die Entwicklung eines „Prekariats“ in der BRD steht im internationalen Zusammenhang der kapitalistischen Arbeitsteilung und den Anforderungen an das globale Proletariat bzw. was sich der Kapitalismus darunter vorstellt.

Neben diesen Einordnungen wird es auch wichtig sein, einen Blick auf die Lebenswirklichkeit dieser Teile der Beschäftigten zu werfen, um anhand dessen die Möglichkeiten, aber auch die Einschränkungen für den politischen Kampf wahrzunehmen.

Über wen sprechen wir überhaupt?

Wir beginnen bei der Sprache. Bei Wikipedia lesen wir: „Prekariat ist ein Begriff aus der Soziologie und definiert „ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose“ als eine neue soziale Gruppierung. Der Begriff selbst ist ein Neologismus, der vom Adjektiv prekär (schwierig, misslich, bedenklich) analog zu Proletariat abgeleitet ist. Etymologisch stammt das Wort „Prekariat“ vom lat. precarium = ein bittweises, auf Widerruf gewährtes Besitzverhältnis (Prekarium).“ (1)

In dieser sprachlichen Herleitung finden wir einige Hinweise über die Beschäftigungsverhältnisse. Besonders das Prekarium bringt schon inhaltlich die heutige Form der Zeitarbeit auf den Punkt – das auf kurze Zeit befristete Verhältnis des Verkaufs der Ware Arbeitskraft.

Widersprüchlich ist sicher die Definition als „neue soziale Gruppierung“, da der „ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose“ keine neue Entwicklung im Kapitalismus ist, sondern eine wichtige Grundlage des Aufstiegs des Kapitalismus als Weltsystem darstellt. Hinzu kommt, dass diese Lage für die Masse der Lohnabhängigen außerhalb der imperialistischen Zentren (und der degenerierten Arbeiterstaaten, solange sie existierten) immer ein durchaus „normales“ Verhältnis darstellte.

Wenn Soziologen von einer „neuen“ Gruppierung sprechen, dann meinen sie meist den Gegensatz zum „Normalarbeitsverhältnis“. Dieser Gegensatz ist natürlich vorhanden, wie auch die soziale Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse nicht neu ist. Im Gegenteil: die Geschichte des Kapitalismus ist immer von Differenzierungen in der Arbeiterklasse geprägt, die auch einem historischen Wandel unterworfen sind.

Die erste und wichtigste, treibende Veränderung ist dabei die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Diese hat z.B. eine permanente Tendenz zur Entwertung der Ware Arbeitskraft und eine permanente Tendenz, die Arbeiterklasse zum Verkauf der ihrer Arbeitskraft unter ihrem Wert zu treiben – durch die Herausbildung einer „industriellen Reservearmee“ und einer „relativen Überbevölkerung“. So spricht Marx im Kapital schon von der Entwicklung von Schichten des Subproletariats, vom Pauperismus bis hin zum Absinken ins Lumpenproletariat. (2)

Ende des 19. Jahrhunderts analysierte auch Engels, dass das britische Welthandelsmonopol zur Absonderung einer relativ privilegierten Schicht der Arbeiterklasse – der „Arbeiteraristokratie“ führt. (3) Lenin arbeitet später in seiner Analyse des Imperialismus heraus, dass die „Arbeiteraristokratie“ zu einem allgemeinen Phänomen aller imperialistischen Staaten und zu einer sozialen Hauptstütze des Reformismus, zur Basis bürgerlicher Arbeiterparteien – und damit zur Sicherung bürgerlicher und imperialistischer Herrschaft – wird. (4) Dieses Phänomen hat sich bis heute erhalten und lässt sich selbst in halb-kolonialen Ländern, insbesondere den industriell entwickelten finden, wenn auch als weitaus kleinere Schicht innerhalb der Arbeiterklasse.

Bildlich gesprochen: Der „Arbeiteraristokrat“ ist heute jener, dessen Haustarifvertrag höher ist als der Flächentarifvertrag der Branche, der, welcher nach zwei Nullrunden während der Rezession eine Prämie im fünfstelligen Bereich ausgeschüttet bekommt – in der BRD arbeitet dieser meist in der Exportindustrie.

Der „Subproletarier“ wäre heute dann wohl in der Zeitarbeit beschäftigt, wäre „saisonal“ arbeitslos und müsste den Zeitarbeitslohn von der ARGE „aufstocken“ lassen oder hätte am Wochenende noch einen Mini-Job.

Diese simple soziale Gegenüberstellung lässt Zweifel aufkommen, inwieweit der Begriff „Normalarbeitsverhältnis“ eine brauchbare Kategorie ist. Wenn die Soziologie damit die unbefristete Festanstellung mit überdurchschnittlichem Lohn und Sozialversicherung meint, so müssen wir – marxistisch betrachtet – feststellen, dass dieses im Kapitalismus nie „normal“ war, also nie für die Mehrheit der globalen Arbeiterklasse galt. Nur für einzelne Länder waren sie für einen begrenzten Zeitraum von 30-40 Jahren die Regel.

Hinzu kommt, dass das „Normalarbeitsverhältnis“ selbst nicht einfach vom Kapital zugestanden wurde, sondern meist erst nach Kämpfen der Lohnabhängigen.

Zunahme prekärer Verhältnisse

Der Prozess der „Prekarisierung“ von Beschäftigung lässt sich v.a. in der Zunahme der Zeit- und Leiharbeit in der BRD in den letzten 10 Jahren feststellen. Prekarisierung bedeutet dabei, dass Teile der vormaligen „Normal“arbeitsverhältnisse – grob gesagt unbefristete, tarifliche Beschäftigung – entrechtet wurden.

An erster Stelle steht dabei die zeitliche Befristung der Beschäftigung. Dem folgt zwangsläufig die Senkung des Lohns und die Auslagerung von Produktionsstätten und Sphären aus dem Kernbereich des Unternehmens.

Gleichzeitig werden vormals „volle“ Stellen in Teilzeitstellen umgewandelt. Unter dem Stichwort „Flexibilität“ ist vom 400-Euro-Minijob, über 630-Euro-Stellen und „Teilzeit“ oder Altersteilzeitmodelle ziemlich viel zu finden.

Diese Veränderung des Arbeitsmarktes war eine direkte Folge der „Hartz-Gesetz“ unter Rot/Grün, die Agenda 2010 war seit der  kapitalistischen Wiedervereinigung der heftigste Angriff in der BRD-Geschichte auf das Lohnniveau der Arbeiterklasse und der  Arbeitslosen.

Durch diese Angriffe explodierte der Leih- und Zeitarbeitssektor, ebenso wurde ein staatlicher Zwangsarbeitssektor durch die Ein-Euro-Jobs eingeführt. Für die Ausbreitung der Leiharbeit war das VW-Projekt „5.000 x 5.000“ der Startschuss, dabei bekamen die VW-internen LeiharbeiterInnen damals 5.000 DM brutto, ca. ein Drittel weniger als der damalige Haustarif bei VW. Inzwischen haben alle „Global Player“ des deutschen Kapitals ausgegliederte Beschäftigungsgruppen. Zumeist gehört den Konzernen auch die Leiharbeitsfirma, mit denen ganze Bereiche der Produktion niedriger bezahlt werden.

Auch die Einführung der „Ich -AG´s“ gehört zu dieser Neustrukturierung der Beschäftigungsverhältnisse, dort entstand ein Druck Richtung Selbstständigkeit inkl. günstiger Kredite, wodurch in Hochzeiten über 100.000 als „Ich AG“ geführt wurden.

Alle heutigen Entwicklungen im „Prekariat“, im Niedriglohnbereich haben daher einen Ausgangspunkt in den Angriffen der Schröder/Fischer Regierung. Hier sollte der Arbeitsmarkt „fit für die Globalisierung“ gemacht werden, dies hieß v.a. Lohnsenkung im großen Stil, Kürzung der sozialen Transferleistungen inkl. der Zusammenlegung von ALG 2 und Sozialhilfe.

Als Folge davon konnte die offizielle Arbeitslosigkeit gesenkt werden, die Beschäftigungszahlen stiegen, während die Lohnstückkosten in den letzten 10 Jahren fielen und die Reallöhne sanken – insoweit war ein wichtiges Ziel des deutschen Kapitals erreicht.

Ausmaß prekärer Beschäftigung

Von den ca. 40 Millionen Beschäftigten, die in der BRD gezählt werden, sind 14 Millionen Stellen nicht oder nur eingeschränkt sozialversicherungspflichtig. Die Zahlen der voll sozialversicherungspflichtigen Jobs sinkt konstant und liegt derzeit bei ungefähr 26 Millionen.

Im Niedriglohnbereich arbeiten derzeit nach verschiedenen Zählungen zwischen 6-8 Millionen Beschäftigte. Dazu kommen die Beschäftigten im Teilzeitbereich mit halben oder „Drittel“-Stellen, Mini-Jobs und in Altersteilzeit.

Die ILO hat folgende Definition für prekär Beschäftigte: „ …die aufgrund ihres Erwerbsstatus nur geringe Arbeitsplatzsicherheit genießen, die wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung ihrer Arbeitssituation haben, die nur partiell im arbeitsrechtlichen Schutzkreis stehen und deren Chancen auf materielle Existenzsicherung durch Arbeit in der Regel schlecht sind.“ (5)

In der BRD orientiert sich die Existenzsicherung am allgemeinen Durchschnittslohn. Dieser lag im 1. Quartal 2011 bei ca. 3.200 Euro brutto. 36% aller Beschäftigten verdienen weniger als 2/3 des Durchschnittslohns, mehr als die Hälfte von diesen verdient weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns. Diese Lohngruppen stellen den Niedriglohnbereich bzw. die als „Working Poor“ bezeichneten Teile der Klasse dar.

Besonders die Zunahme der „Mini-Jobs“ von 1996-2006 um 163% (6) ist eine entscheidende Triebfeder der Prekarisierung. Hier werden immer mehr „Normalarbeitsverhältnisse“ in Teilzeit- oder Mini-Jobs verwandelt. Immer mehr Menschen müssen mehrere Jobs ausüben, wie auch gleichzeitig größere Bereiche der Klasse unbefristet und unsicher beschäftigt sind. Dabei steigt zwar die Gesamtzahl der Beschäftigten, aber nicht die Zahl der Arbeitsstunden, diese werden nur auf mehr Köpfe und Hände verteilt.

Generation prekär?

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die junge Generation einen Hauptteil der prekär Beschäftigten ausmacht. An dieser Generation werden die Neuerungen des Arbeitsmarkts direkt getestet. Somit ist die Jugend im Niedriglohnbereich führend, ebenso in der Erwerbslosigkeit (doppelt so hoch wie im Durchschnitt).

Laut einer Jugendstudie des DGB arbeiten nur 30% der unter 35jährigen in einem „Normalarbeitsverhältnis“, inkl. unbefristeter Anstellung und einem Lohn von mindestens 2.300 Euro brutto. Einen wichtigen Teilaspekt der „Generation Praktikum“ macht auch die Herausbildung eines wissenschaftlichen Prekariats aus. Zur „Generation Praktikum“ gab es eine Kampagne der DGB-Jugend. Bei den öffentlichen Kundgebungen und Aktionen liefen zumeist AktivistInnen mit weißen Masken, welche die „Gesichtslosen“ der Betriebe und Firmen darstellen sollten – gesichtslos sind diese zumeist auf den Lohnzetteln, aber nicht in den Abteilungen und gegenüber den anderen Beschäftigten.

So kennt fast jeder Azubi auf der Berufsschultour der DGB-Jugend Berlin-Brandenburg PraktikanntInnen im Betrieb und fast jeder kennt auch ein Hauptmerkmal – die PraktikantInnen arbeiten umsonst. Diese Sklaven-Praktika bestimmen den Markt und gelten oft als Voraussetzung für zukünftige Einstellungen oder für einen Ausbildungsplatz. Die Hälfte dieser Stellen wird nicht entlohnt – trotz Vollzeit und oft vergleichbarer Arbeit wie die Festangestellten. Wenn dann doch Lohn oder “Entschädigung“ gezahlt wird, dann werden 30% der Praktika mit weniger als 500 Euro entlohnt. Davon kann niemand leben. Dort müssen dann die Einkommen der Eltern oder Erspartes dran glauben.

Die Azubis wissen auch, dass diese PraktikantInnen KonkurrentInnen am Arbeitsplatz sind. Zwischen 16 und 18 müssen viele Jugendliche ein Praktikum machen, um überhaupt Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu haben. Gerade für Jugendliche mit einem mittleren Schulabschluss (z.B. Realschule) oder mit Hauptschulabschluss ist das Praktikum meist die Einstiegserfahrung in den Arbeitsmarkt.

Dieser Einstieg wird mittlerweile aber auch für viele HochschulabsolventInnen zur ersten Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt. Inzwischen berichten auch bürgerliche Medien regelmäßig über die Praktika-Rotation von Uni-AbsolventInnen bei Großkonzernen. Es wird davon geredet, wie die Hoffnung auf eine Festanstellung beständig schwindet und das nächste Praktikum begonnen wird. Besonders die „Projektabteilungen“ der Konzerne, welche meist selber schon „outgesourct“ sind, beschäftigen so immer wieder dutzende PraktikantInnen – per Kooperation mit den jeweiligen Fachbereichen an den Unis wird so für steten Nachschub gesorgt.

Ideologisch verbrämt wird dieses Dilemma der kapitalistischen Arbeitswelt durch das Motto „einen Fuß in die Tür bekommen“. Damit wird seit Jahrzehnten das Umsonst-Praktikum beworben. So könne man sich am besten für eine feste Stelle präsentieren. Daraus haben die meisten Unternehmen eine Beschäftigungsnische geschaffen, in der den PraktikantInnen regelmäßig die Tür wieder zugeschlagen wird, was aber kein Problem ist, da die nächsten schon auf Abruf bereit stehen.

Sollte die Erwerbslosigkeit am Beginn stehen, dann sorgt die Arbeitsagentur für die Eingliederung in den Niedriglohnbereich. Wenn 18jährige nach der Schule Hartz IV beantragen, da sie keine Ausbildungsstelle bekommen haben, investiert die ARGE keine Mittel in die Ausbildung und Qualifizierung der Jugendlichen; sie werden vielmehr zu den Leih- und Zeitarbeitsfirmen gejagt. Nach der nun gültigen Eingliederungsvereinbarung darf der Jugendliche keinen Zeitarbeitsjob mehr ablehnen. Wenn er/sie das dennoch tut, droht sofort eine 20prozentige Kürzung und im nächsten Schritt die Streichung von Geldleistungen. Diese Jugendlichen landen zumeist in Hilfsarbeiterjobs, werden saisonal von Zeitarbeitsfirmen an die Großfirmen verschachert und bilden eine Kernschicht des Niedriglohnsektors in Deutschland.

Auf der anderen Seite finden wir die jungen AkademikerInnen, die seit der BA/MA-Reform einige akademische Privilegien verloren haben. Dort nimmt die Prekarisierung v.a. die Form der Befristung an, von Teilzeitarbeit und geringeren Aufstiegsmöglichkeiten. Während die Fachbereiche mit Drittmittelförderung durch Unternehmen neue Stellen schaffen können bzw. dortige Privilegien weiter Bestand haben, sind andere Fachbereiche von Kürzungen und Rationalisierungen betroffen, gerade dort tritt eine „Proletarisierung“ verschiedener akademischer Mittelschichten ein.

Prekariat, Arbeitslose, ArbeiterInnen

Während die Soziologie das Prekariat als „Grenzgänger des Arbeitsmarkts“ vom „normalen“ Proletariat trennt, muss eine Klassenanalyse tiefer greifen. Die soziologischen Trennungen beziehen sich auf Lebenswelten und Einstellungen, also eher Beobachtungen an der Oberfläche – wobei dann „grundlegende Unterschiede“ festgestellt werden und deswegen die Gruppen sozial getrennt werden. Solche Erscheinungen der Lebenswelt bzw. die Unterschiede sind natürlich wichtig, um das Prekariat gesellschaftlich zu verorten, um daraus eine Perspektive des sozialen und politischen Kampfes zu entwickeln und letztlich Forderungen für diese soziale „Schicht“ der Arbeiterklasse zu entwickeln, genau wie es für Arbeitslose, weibliche Beschäftigte, MigrantInnen und die Jugend ebenso nötig ist, spezifische Forderungen aufzustellen und Organisationsformen zu schaffen, die ihrer Benachteiligung innerhalb der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen entgegenwirken.

Gerade dort, wo die prekär Beschäftigten zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit pendeln, gehören diese „Grenzgänger“ natürlich zum Proletariat und teilen dessen Interessen, wie sie auch objektiv die Interessen der Arbeitslosen vertreten müssten, da auch sie mit Hartz, mit Aufstockung etc. ihre Erfahrungen haben. Natürlich werden diese Gruppen sozial und politisch gegeneinander in Stellung gebracht, die ideologische Spaltung der Arbeiterklasse will niemand bestreiten, ebenso wenig die massive Zunahme der Konkurrenz untereinander, welche die Spaltungen vertieft.

Aber im Gegensatz zur Soziologie muss es das Ziel einer marxistischen Analyse sein, die Interessen der Gesamtklasse zu formulieren und alle „neuen“ Entwicklungen darin zu integrieren. Wir fixieren uns eben nicht nur auf die soziotopischen Unterschiede, sondern richten unseren Blick auf die gemeinsamen Interessen im Klassenkampf gegen Kapital und bürgerlichen Staat – und da gibt es sehr viele Überschneidungen. Daher müssen hier die Entwicklungen bei den Erwerbslosen, den Beschäftigten und darunter und dazwischen dem Prekariat stets als Ganzes verstanden und analysiert werden – nur so wird ein gesamtgesellschaftlicher Kontext deutlich.

Die Arbeiterklasse verändert sich in ihrer Zusammensetzung, die Bedingungen der Ausbeutung werden derzeit neu bestimmt, die Prekarisierung ist ein Hauptmittel dabei. Wenn dort soziologische „Schnitte“ angebracht werden, dient dies meist einer ausführlichen Einzelbetrachtung der jeweiligen Existenz, was sicherlich auch interessant ist – allerdings entwickelt es eben keine wissenschaftliche Antwort auf das „Warum“, sondern bleibt beim „Wie“ stehen. So bleibt die Kapitalismus-Analyse meist auf ein „Ende des Postfordismus“ beschränkt, seitdem verändern sich die Arbeitsprozesse und deswegen auch die sozialen Verhältnisse.

Natürlich müssen wir bei der Klassenanalyse auch die neuen Formen der Selbstständigkeit berücksichtigen. Dort werden Viele ins Kleinbürgertum gedrängt, meist unfreiwillig, sei es nun als selbstständige/r KurierfahrerIn, AltenpflegerIn oder als „Freelancer“ in der IT Branche. Während dort Teile der Arbeiterklasse ausgesondert werden, für die es dann meist keine „normalen“ Festanstellungsverhältnisse mehr gibt, gibt es auch eine verschärfte Konkurrenz im Kleinbürgertum selbst. Zuletzt wurde dies v.a. beim „wissenschaftlichen Prekariat“ untersucht. Dort befindet sich v.a. das „Bildungsbürgertum“ in einer gewissen „Prekarisierung“, heißt konkret Verlust von festen Stellen und Privilegien – was auch mit „Proletarisierung“ bezeichnet werden könnte.

Internationale Arbeitsteilung im Imperialismus

Die Aussonderung bestimmter Teile der Arbeiterklasse ist kein neues Phänomen, es liegt in der Natur des Kapitalismus selbst, stets „überflüssige Arme“ (Arbeitskräfte) zu reproduzieren. Seit Beginn des industriellen Kapitalismus ist die Entstehung der Erwerbslosigkeit eine Konstante, wie auch zyklische Veränderungen der Höhe der Erwerbslosigkeit, immer auftreten.

Marx zitiert im Kapital den Professor für politische Ökonomie H. Merivale: „gesetzt, bei Gelegenheit einer Krise raffte die Nation sich zu einer Kraftanstrengung auf, um durch Emigration einige 100.000 überflüssige Arme loszuwerden, was würde die Folge sein? Dass bei der ersten Wiederkehr der Arbeitsnachfrage ein Mangel vorhanden wäre. Wie rasch auch immer die Reproduktion von Menschen sein mag, sie braucht jedenfalls den Zwischenraum einer Generation zum Ersatz erwachsener Arbeiter. Nun hängen die Profite unserer Fabrikanten hauptsächlich von der Macht ab, den günstigen Moment lebhafter Nachfrage zu exploitieren und sich so für die Periode der Erlahmung schadlos zu halten. Diese Macht ist ihnen nur gesichert durch Kommando über Maschinerie und Handarbeit. Sie müssen disponible Hände vorfinden; sie müssen fähig sein, die Aktivität ihrer Operationen wenn nötig höher zu spannen oder abzuspannen, je nach Stand des Markts, oder sie können platterdings nicht in der Hetzjagd der Konkurrenz das Übergewicht behaupten, auf das der Reichtum dieses Landes gegründet ist.“ (7)

Hier wird recht deutlich, welche Funktion die „industrielle Reservearmee“ im Kapitalismus hat – als disponible Ware Arbeitskraft, als Masse, welche den konjunkturellen Anforderungen des Kapitals gehorcht, je nach den Bedingungen der Konkurrenz.

Der Begriff und die arbeitsrechtliche Stellung des „Tagelöhners“ bringt diese abstrakte Beschreibung recht konkret auf den Punkt. Dieses Phänomen ist in der BRD mit Hartz IV auch wieder Realität. In bestimmten „Arbeitsagenturen“ können Erwerbslose ab 4 Uhr morgens im Wartezimmer Platz nehmen und ab dieser Zeit gebucht werden. Auf „erweiterter Stufenleiter“ vollstrecken dann die Zeit- und Leiharbeitsunternehmen dieses Prinzip, in dem diese Unternehmen die konjunkturell zusätzlich erforderliche Arbeit organisieren und auch die „konjunkturunabhängigen“ Arbeitsplätze der „Kernbelegschaften“ angreifen bzw. in die Zeit- und Leiharbeit integrieren.

Der entscheidende Faktor der „Flexibilität“ ist neben der zeitlichen Befristung v.a. die Lohnhöhe. Der „Tagelöhner“ oder Zeit- und Leiharbeiter kostet zwischen 25-50% weniger Lohn und Sozialabgaben (also indirekte Lohnbestandteile). Somit stellt der gesamte Niedriglohnbereich einen Übergang zwischen Erwerbslosigkeit und Beschäftigung dar, konkret zu bemessen an arbeitsrechtlichen Bedingungen und Lohnhöhen – quasi eine „Pufferzone“, durch die das Kapital den Wert der Ware Arbeitskraft beständig senkt, mit direkten Auswirkungen auch auf die Sektoren der Beschäftigten und der Erwerbslosen.

Die Leiharbeit bedroht direkt die Arbeitsbedingungen der Tarifbeschäftigten. Die KollegInnen arbeiten für ein Drittel weniger im gleichen Betrieb, oft werden sogar ganze Produktionszweige oder Abteilungen auf diese Art ausgegliedert. Diese Ausgliederungen weg vom branchenüblichen Tarifvertrag werden meist vom Kapital mit konjunkturellen Erfordernissen begründet. Als hauptsächliche Drohung, welche dann auch meist von den Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten akzeptiert wird, ist die Drohung der Verlagerung bzw. dass andere Standorte diese Arbeit zu günstigeren Konditionen übernehmen könnten. Angefangen mit dem VW-Modell „5.000 x 5.000“ haben alle Großkonzerne, Zulieferer, Mittelstand und Handwerk dieses Modell der Aufsplittung der Beschäftigungsstruktur übernommen.

Damit einhergehend wurden in der BRD mit der Agenda 2010 die größten Sozialkürzungen vorgenommen. Der ominöse „Lohnabstand“ zwischen Beschäftigten und „Arbeitslosen“ wurde angepasst – speziell zwischen Niedriglohn und Sozialleistung.  Diese Sozialleistung wurde auf das „Existenzminimum“ gesenkt, inklusive des Niedriglohnbereichs ist ein gutes Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung beim Einkommen unter 70% des Durchschnittslohns angekommen und somit, je nach statistischer oder soziologischer Erklärung, armutsgefährdet bzw. „Working Poor“.

Das Kapital hält die „Pauper“ chronisch an der Existenzgrenze. Somit steht diese Gruppe stets in Konkurrenz zu zwei Seiten – zu den „Tarifbeschäftigten“ und den Erwerbslosen, allerdings meist mit der Gefahr, in die Erwerbslosigkeit zu rutschen und weniger mit der Aussicht, eine tarifliche Entlohnung zu erreichen.

Solidarität in der Arbeiterklasse begann oft mit Solidarität am Arbeitsplatz, im Betrieb. Sich nicht nach Abteilungen, nach Standorten und Berufsgruppen spalten zu lassen, gehörte zu den Grundlagen gewerkschaftlicher Entwicklung und Entstehung. Dieses Prinzip wird durch Niedriglohn und Prekariat aufgeweicht bzw. hier schlägt das Kapital offen zu.

Diese Entwicklungen und Zusammenhänge innerhalb der Arbeiterklasse machen einen marxistischen Ansatz der Analyse und Methode dringend notwendig. Beschäftigte, Erwerbslose und das Prekariat sind nur verschiedene Formen der Ausbeutung im Kapitalismus, sind nur verschiedene Abteilungen der Arbeiterklasse. Für diese Gruppen muss eine gemeinsame Klassenpolitik praktiziert werden. Nur wenn wir die Zusammenhänge zwischen Beschäftigten, Erwerbslosen und dem zahlenmäßig steigenden Prekariat analysieren und ihre gemeinsamen Interessen gegenüber dem Kapital formulieren können, ist es möglich, die soziologische und politische Spaltung innerhalb der Klasse zu überwinden.

Prekäre Situation in den Mittelschichten

In der soziologischen Forschung, hauptsächlich bei Dörre und Castel (8) wird die Kategorie „Prekarisierung“ von verschiedenen Standpunkten aus untersucht. Aus der Sicht einer Klassenanalyse sind die Auswirkungen der Prekarisierung auf die lohnabhängigen „Mittelschichten“, die Arbeiteraristokratie und in Teilen des Kleinbürgertums interessant, auch wenn in der Soziologie diese klassenmäßig unterschiedlichen Schichten oft irrtümlich unter „Mittelschicht“ zusammengefasst werden.

Die soziologische Forschung stellt in diesen Schichten eine „gefühlte Unsicherheit“ fest, welche auf zunehmende Prekarisierung zurückzuführen ist, gerade bei den Teilen, die (noch) nicht davon betroffen sind.

Speziell die „Unsicherheit“ und die Entwicklungen in den Mittelschichten müssen politisch-ökonomisch analysiert werden – in welchen Klassenzusammenhängen gibt es Veränderungen? In der Soziologie wird die Prekarisierung dieser Gruppen oft getrennt vom Prekariat untersucht, speziell aufgrund milieu-typischer psychosozialer Entwicklungen in den Mittelschichten.

Diese „Mittelschichten“ erreichen meist den Einkommensdurchschnitt bzw. übertreffen ihn. Teile der deutschen Arbeiteraristokratie gehören dazu, auch die höheren Angestellten und Beamten des Öffentlichen Dienstes, bis zu den klassisch kleinbürgerlichen Gruppen wie Apotheker, Kaufmann, Selbstständige und Freiberufler wie Architekten, Anwälte etc.

Getrennt davon sind die Angehörigen des „Mittelstandes“ zu betrachten. Dieser ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt und gehört eigentlich zur Kapitalistenklasse, dazu zählen Unternehmen mit einigen tausend Beschäftigten. Viele von diesen Unternehmen sind direkt an die deutsche Exportindustrie, also an das Monopolkapital, gekoppelt.

In unserer Betrachtung wollen wir die Beschäftigten untersuchen und weniger die Produktionsmittel-Besitzer im industriellen Mittelstand, obwohl diese natürlich auch in der Krise neuem Druck von Seiten des Großkapitals ausgesetzt sind.

Die Prozesse der Prekarisierung bringen Unsicherheit in diese lohnabhängigen Mittelschichten. Verstärkt tritt diese Unsicherheit in den Krisenperioden des Kapitalismus auf – was für das Proletariat gilt, trifft auch auf die Mittelschichten zu. Das Großkapital verstärkt die Konkurrenz untereinander. Um dem Fall der Profitrate und v.a. der Profitmasse entgegenzuwirken, verschärft das Großkapital den sozial-ökonomischen Druck.

Diesen Druck bekommen auch kleinere Kapitale zu spüren, z.B. als Zulieferer – so wie diese beiden Kapitalfraktionen ihrerseits den Druck auf das Handwerk erhöhen. Sei es das Aufweichen der deutschen Handwerksordnung, inkl. des Meisterzwangs und der -gebühr oder der Zugang von Internet-Apotheken auf dem deutschen Markt – hier geraten auch Überreste des ständischen deutschen Kleinbürgertums unter Beschuss, die zuvor noch Jahrhunderte überdauert hatten.

Beispiel IT-Branche

Diese Branche galt bis zum Platzen der „New Economy“-Blase 2000/01 als potentieller Hochlohnsektor, die Firmen hatten eigene Fachleute beschäftigt, um ihre Unternehmen fit für das Internet zu machen. Dementsprechend explodierten auch die Ausbildungsquoten Jahr für Jahr. In Indien werden pro Jahr mehrere hunderttausend IT-Fachkräfte ausgebildet – die Ware Arbeitskraft erscheint in Hülle und Fülle.

Bald fingen die Unternehmen jedoch damit an, ihre IT-Abteilungen auszugliedern bzw. an selbstständige Dienstleister zu vergeben. Zur Konfiguration eines Programms oder zur Erstellung einer Software braucht die IT-Fachkraft keine Produktionshalle und auch keine feste Beschäftigung – daraus entwickeln diese Firmen eine völlig neue Beschäftigungsstruktur.

Während die ausgebildeten IT-Fachkräfte oft nur in Dienstleistungsunternehmen überhaupt feste Stellen finden, beginnen die Großkonzerne eine grundlegende Umstrukturierung hin zum „freien Mitarbeiter“. „Frei“ bedeutet in diesem Zusammenhang v.a. die Freiheit des Unternehmens, frei von Sozialabgaben zu sein und keine unbefristeten Stellen zu haben.

Eine andere, oft damit verbundene Form besteht darin, Konkurrenz zwischen Beschäftigten und Abteilungen ins Unternehmen zu verlagern. So haben Firmen wie IBM angefangen, mittels des Internets einen neuen Arbeitsmarkt aufzubauen. Mit Plattformen wie „Topcoder“ oder „Liquid“ werden Auftragsarbeiten des Konzern virtuell angeboten und die „freien“ Mitarbeiter können dann ihre Angebote abgeben und treten in Konkurrenz zu den (noch) fest Beschäftigten.

Diese Auftragsarbeiten können dazu führen, dass verschiedene Projektgruppen als „freelancer“ für das Unternehmen einen Auftrag erledigen – unabhängig voneinander und ohne die Möglichkeit, gemeinsame Interessen (wie Lohn, Honorare) gegenüber dem Unternehmen zu vertreten. Die Ware Arbeitskraft wird über das „Werkzeug“ der IT-Fachkraft ausgegliedert – mit dem Laptop, so ist die bestechende Logik, kann ja jeder zu jeder Zeit an jedem Ort diese Arbeit machen. Damit ist dem Kapital fast etwas Historisches gelungen: es hat die Arbeitskraft aus ihren sozialen, kulturellen und örtlichen Zusammenhängen heraus gebrochen, in der „Cloud-Plattform“ treten alle „Anbieter“ in Konkurrenz zueinander, nach dem Ebay-Versteigerungsprinzip entscheidet das Unternehmen, welche Konditionen die günstigsten sind.

Natürlich klappt Gleiches nicht mit der Reinigungskraft, diese wird nie per Laptop reinigen können. Auch in den Konzernen erzeugt das keineswegs immer die gewünschten Ergebnisse. Aber diese Art von Ausgliederung funktioniert insofern, als sie in einem Hochlohnbereich erfolgreich zur Preissenkung der Ware Arbeitskraft führt.

Wenn vormals relativ privilegierte Teile der Beschäftigten unter Druck geraten und ihre soziale Stellung gefährdet ist, dann hat dies stets auch politische Implikationen. Der Statusverlust kann in der Krise zum Verlust der „Klassenzugehörigkeit“ führen, Teile der Mittelschichten werden proletarisiert, verlieren vormals bestehende soziale Errungenschaften.

Andere fallen noch tiefer, werden nicht durch schlechtere feste Beschäftigungsverhältnisse „aufgefangen“, sondern in die Selbstständigkeit getrieben und/oder verlieren komplett ihre soziale Existenz. Diese Situation lässt soziale Angst in den Mittelschichten aufkommen. Diese Angst kann sich leicht zu reaktionären Antworten auf die Krise verdichten, wenn es keine kämpferische Antwort der Arbeiterklasse gibt.

In den Niederlanden oder in Finnland sind derzeit Rechtspopulisten sehr erfolgreich in den kleinbürgerlichen Schichten unterwegs, während der FPÖ in Österreich meistens Ausländer- und EU-Hetze reichten, spielen diese Formationen auch die „soziale“ Karte. Die „Freiheit“ aus den Niederlanden und die „Wahren Finnen“ verweigern die Hilfen für südeuropäische Länder, wollen stattdessen die nationalen „Leistungsträger“ unterstützen – hier werden dem Kleinbürgertum und den Mittelschichten rechte und autoritäre Krisenlösungen vorgeschlagen. In Griechenland, das derzeit am schärfsten von der Krise geschüttelt ist, sehen wir diese Zuspitzung auch am Zulauf für die Faschistenpartei „Goldene Morgendämmerung“.

In der Krise ist das Kleinbürgertum gewissermaßen orientierungslos, etablierte Parteien können das Kleinbürgertum nicht mehr genügend schützen, die verschärften Konkurrenzbedingungen – losgetreten vom Großkapital – unterwerfen diese Mittelschichten einer Zäsur. Auf diese Veränderungen müssen die Organisationen der Arbeiterklasse, Gewerkschaften und Parteien reagieren, müssen Lösungen anbieten – ansonsten ist sind diese Schichten ein gefundenes Fressen für Rechtspopulisten, Faschisten oder rassistische Hetzer a la Sarrazin.

Ein Beispiel. Genügend Selbstständige sind finanziell nicht in der Lage, alle Versicherungsleistungen als Selbstständige auch zu bezahlen, eine mögliche Pflichtzahlung an die staatliche Rentenversicherung kann das Ende von manch „Ich-Unternehmen“ sein. Wenn ein IT-Selbstständiger eine Initiative gegen die Pflichtzahlung zur Rentenversicherung startet, so startet dieser eine Initiative gegen die objektiven Interessen seiner „Schicht“.

Als Antwort brauchen wir keine neoliberale Aktion gegen die Pflichtversicherung; wir brauchen eine gesetzliche, aus der Besteuerung der Reichen – also der Kapital- und Vermögensbesitzer – finanzierte Mindestrente, welche die Reproduktionskosten deckt. Solange dies nicht politisch-gewerkschaftlich vertreten wird, ist die Abgleitfläche für solche Initiativen sehr groß – diese Initiative orientiert sich vom Staatsverständnis eher an der stockreaktionären „Tea Party“-Bewegung in den USA. Dies bietet keine Perspektive zur sozialen Absicherung.

Frauen und Prekarisierung

Die weibliche Beschäftigung trägt strukturell prekäre Merkmale. 45% aller beschäftigten Frauen arbeiten in Teilzeitverhältnissen mit einer Spannbreite vom 400-Euro-Job bis zur 27,5-Stunden-Woche. Besonders im Einzelhandel wurden Festangestellte abgebaut, in jedem Konsum-Center in der Republik finden wir höchst vielfältige, niedrig entlohnte Teilzeitjobs. 49% der Teilzeit arbeitenden Frauen verdienen weniger als 800 Euro im Monat.

Bei der Prekarisierung und Entrechtung von Arbeitsverhältnissen sind speziell „weibliche“ Beschäftigungsfelder schon immer ein Experimentierfeld im Kapitalismus gewesen. In kapitalistischen Staaten gab es häufig die „Zuverdienerin“ als weibliche Beschäftigungsform, im Verkauf, der Pflege, der Reinigung u.ä. Sektoren sollte die Frau den Hauptverdiener ergänzen, aber gleichzeitig auch den „häuslichen Pflichten“ nachkommen können. Idealerweise trat die Frau dann wieder ins Berufsleben, wenn die Kinder groß waren. Dies war in der alten BRD ein typisches Procedere, während bei den ostdeutschen Frauen heute noch andere Strukturen vorzufinden sind. (9)

Bei weiblichen Vollzeitbeschäftigten können wir eine weitere Gruppe dem Prekariat zuordnen. Dieses Drittel ist im Niedriglohnbereich beschäftigt. So lässt sich sagen, dass gut zwei Drittel aller weiblichen Beschäftigten prekären Zuständen ausgesetzt sind.

Allerdings müssen wir hier auch unterscheiden – „prekäre Zustände“ sagt nicht alles über die sozio-ökonomische Situation der Frauen aus. Wenn sie als Zuverdienerin einen 400-Euro-Job ausübt, so ist dieser Job wahrscheinlich schlecht bezahlt und sie kann wenig Einfluss nehmen – ihr Beschäftigungsverhältnis ist somit prekär, ihre soziale Lage muss es aber nicht sein, wenn denn ein anderes „Ernährereinkommen“ vorhanden ist.

So war in der alten BRD weibliche Arbeit stark auf Teilzeit, auf Zuverdienst orientiert. Dies nimmt aber nun in den Reproduktionsverhältnissen eine immer größere Rolle ein. Der Zuverdienst wird natürlich umso wichtiger, je geringer das (männliche) Vollzeiteinkommen ausfällt, aus Mini-Job wird Teilzeit oder eine Zwei-Drittel-Stelle, je mehr Vollzeitstellen abgebaut werden, desto mehr Teilzeitjobs können geschaffen werden.

Ost/West-Unterschiede und Geschlechterverhältnis (10)

Auch zwanzig Jahre nach der kapitalistischen Wiedervereinigung finden wir noch Besonderheiten in den Beschäftigungsverhältnissen von Frauen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Diese Frauen sind weiterhin überdurchschnittlich Vollzeit beschäftigt, während die „klassische“ Hausfrauenehe im Osten eher wenig zu finden ist (6% aller Haushalte). Weiterhin vorherrschend ist der Unterschied bei den Paaren mit zwei Vollverdienern. Im Osten trifft dies auf 41% aller Paare zu, im Westen auf 23%, hier befinden sich aber auch 25% der Frauen noch in der Hausfrauenehe. Im Gegensatz dazu ist in Ostdeutschland auch ein eher neues “Ernährerinnen-Modell“ aufgetaucht: in 25% aller Haushalte ist die Frau AlleinverdienerIn geworden, davon sind die Hälfte Alleinerziehende.

Hier ist in vielen Bereichen die „männliche“ Beschäftigung verschwunden. Die massive  Deindustrialisierung am Beginn der 90er Jahren hat v.a. männliche Erwerbsbiographien ruiniert. Auch heute pendeln zwischen 350.000 und 400.000 v.a. männliche ostdeutsche „Wanderarbeiter“ in die industriellen Zentren in Süddeutschland, was auch Ausdruck der fehlenden Arbeitsplätze in Ostdeutschland ist.

Speziell die weibliche Alleinverdienerin ist das Resultat dieser Entwicklung. Hier müssen Teilzeitjobs die Hauptlast der Reproduktion tragen können; wenn die 27,5 Stunden-Stelle (höchste Teilzeitform) im Niedriglohnbereich nicht ausreicht, um den vergleichbaren Hartz IV-Satz zu erreichen, dann muss „aufgestockt“ werden. Diese Teile der Klasse stellen in der wiedervereinigten BRD einen Teil der Armutsschicht der Gesellschaft, ihre Lohnarbeit deckt nicht die Reproduktionskosten, ohne Sozialleistungen sind sie nicht lebensfähig.

Dies trifft besonders auf allein erziehende Frauen zu. Hier sind alle soziologischen Risiken geballt. Wenn dann noch schlechte Ausbildung oder Migrationshintergrund dazu kommen, ist der Weg in die Armut vorprogrammiert. Ausdruck dieser Sozialpolitik des letzten Jahrzehnts war ein Gerichtsurteil aus Hamburg, bei dem festgelegt wurde, dass eine erwerbslose alleinerziehende Frau, sobald das Kind 3 Jahre alt ist, dem Arbeitsmarkt „teilweise“ wieder zur Verfügung stehen müsste. Dies würde den jungen Müttern den „Wiedereinstieg“ ins Berufsleben erleichtern, meinte die Richterin. Im Klartext heißt das, dass die Kürzung der Bezüge ab dem 3. Lebensjahr rechtens sind, wenn die Mutter sich nicht wieder „eingliedern“ möchte – von möglichen Kita-Plätzen und Gebühren stand natürlich nichts im Urteil. Somit zwingt der Staat die Alleinerziehenden in die Teilzeit und nutzt somit die prekäre soziale Situation aus.

Die Rolle der Gewerkschaften – wie organisieren, was nicht organisiert werden soll?

Bei der Frage wie Gewerkschaften mit Niedriglohn, Erwerbslosigkeit, Prekariat umgehen, muss zunächst eine politische Analyse der DGB-Politik erfolgen, um anhand dieser dann die massiven Probleme der Gewerkschaften in diesem Bereich erklären zu können.

Zu Anfang eine Anekdote: Zur Einführung von Hartz IV lud die Kasseler Erwerbslosen-Initiative KEI im Frühjahr 2004 ins regionale DGB-Haus zur Diskussionsveranstaltung ein. Anwesend waren auch einige lokale Gewerkschaftsbosse. Die Initiative legte diesen Fragen vor, wie denn die DGB-Gewerkschaften die Proteste unterstützen könnten bzw. wie in ihrer Mitgliedschaft Aufklärung gegen die massive staatliche und mediale Hetze zu organisieren wäre.

Während einige um warme Worte für die Initiative bemüht waren, brachte der Ortsvorsteher der IG Metall und spätere SPD-Bundestagsabgeordnete seine Position, wie folgt auf den Punkt: Ich vertrete in erster Linie die Beschäftigten, die Arbeit haben. Um die Arbeitslosen können wir uns nicht auch noch kümmern und schließlich muss ja auch irgendwas verändert werden.

Diese Episode illustriert die gängige Praxis der heutigen DGB-Gewerkschaften. Die eigenen Erwerbslosenstrukturen verfügen über „Jahresetats“, für die manch ein Vollzeitfunktionär keine 14 Tage arbeiten muss. Konkret hieß dies z.B. 2.000 Euro für die registrierten knapp 900 erwerbslosen ver.di-Mitglieder der Region Nordhessen. Die Aktivitäten des Erwerbslosen-Ausschusses waren dementsprechend begrenzt. Es reichte für die Teilnahme von mehreren Personen an verschiedenen Konferenzen in diesem Jahr und einen Flyer.

Diese Schilderung zeigt den mühseligen Kampf von Erwerbslosen um gewerkschaftliche Organisierung. Zumeist bleibt die Sozialberatung als einzige reale Unterstützung übrig, von einem „Nischen-Dasein“ zu sprechen ist fast schon eine Übertreibung.

Dementsprechend waren dann auch die Proteste des DGB gegen die Einführung von Hartz IV. Aus den „Montagsdemo“ gegen Hartz IV zogen sich die Gewerkschaften mit höchst fadenscheinigen Begründungen zurück. Angeblich würden Rechte die Demos in einigen ostdeutschen Städten unterlaufen und andernorts würden die PDS und Linksradikale alles in gefährliche Bahnen lenken, so dass sich der DGB zurückziehen müsse.

Diese obskure Mischung aus Verleumdungen und politischer Feigheit hatte nur einen Zweck – der DGB wollte nicht gegen „ihre GenossInnen“ in der Regierung demonstrieren. Im November 2003 war es zu einer Großdemo gegen die Agenda 2010 gekommen. Ca. 100.000 aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen protestierten – „natürlich“ ohne die DGB-Spitze. Danach sabotierte der DGB den Widerstand. Als das nichts half, musste die Bewegung von der Spitze gebrochen werden. 2004 mobilisierten  die Gewerkschaften mehrere Hunderttausend – dann war der Protest am Ende. DGB-Vorsitzender Sommer kündigte zwar öfter „heiße“ Jahreszeiten an, das SPD-Mitglied Sommer blieb aber seiner Regierungspartei treu.

Reformistische Gewerkschaftspolitik und daraus resultierende Widersprüche

Durch die Konkurrenz zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten ist eine der tiefsten Spaltungen der Arbeiterklasse begründet und damit einhergehend auch das Versagen der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften im letzten Jahrhundert. In allgemeinen Deklarationen setzen sich natürlich auch heute noch Gewerkschaftsbosse für die Erwerbslosen ein. Zumindest wird Hartz IV „irgendwie“ abgelehnt, während gleichzeitig kein Kampf dagegen geführt wurde und auch bis heute kein Kampf des DGB z.B. gegen Hartz IV und für die Rechte der Erwerbslosen erkennbar ist.

Die sozioökonomische Spaltung zwischen Beschäftigen und Erwerbslosen ist aber einer der Pfeiler der verschärften Ausbeutung der Arbeiterklasse insgesamt – abgesichert durch die „Interessenvertreter“ der Beschäftigten.

In den Gewerkschaften bildet die Politik für die „normal“ Beschäftigten, die „Kernbelegschaften“, die FacharbeiterInnen, letztlich für die Arbeiteraristokratie die soziale Grundlage für die Bürokratie, den Apparat und deren Kontrolle über die Organisation. Rein fiskalisch ist der Apparat darauf angewiesen, besonders die Hochlohngruppen zu organisieren. Diese sichern organisch die Existenz ihrer Interessenvertretung. Es ist heute auch nicht verwunderlich, in welchen Bereichen eine  Organisationsquote von über 80, 90, 95% erreicht wird: in der Automobilbranche, im Stahlbereich, im Maschinen- und Anlagenbau, in der Chemie, in der Energiesparte – sprich in den industriellen Kernsektoren des deutschen Imperialismus.

Diese Teile der BRD-Arbeiterklasse sind beispielhaft für die Arbeiteraristokratie. Diese Kernsektoren des deutschen Imperialismus sind „Global Player“ der internationalen Konkurrenz. Hier wird der Extraprofit für die deutsche Bourgeoisie erzielt. Die dort Beschäftigten sind die soziale Elite der Arbeiterklasse – in Deutschland ein Zustand, der schon länger als 100 Jahre andauert und sich heute in hohen Haustarifverträgen (zumeist höher als der Flächen/Manteltarif), höheren Prämienzahlungen etc. äußert. Für die Lohnzurückhaltung der IG Metall während der schärfsten Krise 2009 wurden im Aufschwung-Jahr 2011 fast fünfstellige Prämien in den Exportsektionen ausgeschüttet.

Ökonomischer Kern der Arbeiteraristokratie ist ihre enorme Produktivität, diese ist quasi das Herzstück des deutschen Imperialismus, diese steigt jährlich (in manchen Branchen tw. zweistellig) und die Beschäftigten werden konsequent und extrem ausgebeutet. In diesen Bereichen findet die stärkste Verdichtung und Rationalisierung von menschlicher Arbeit statt, dies ist der oft bemühte „Standortvorteil“.

Direkt daran gekettet sind die betrieblichen und gewerkschaftlichen Apparate. Diese hatten in der Geschichte auch schon höchst kämpferische und revolutionäre Ausrichtungen, wie beim Berliner Metallarbeiterverband im 1. Weltkrieg, als von der „aristokratischen“ Berufsgruppe der Dreher die Initiativen für Streiks und später auch für politische Streiks ausgingen, allerdings ist hier auch der Einfluss des „Trade Unionismus“, der reformistischen Standortpolitik, am stärksten ausgeprägt.

Doch die Politik der Bürokratie hat mit einem gewaltigen inneren Widerspruch zu kämpfen. Ihre stetigen Zugeständnisse an das Kapital lassen nicht nur die „unteren“ Schichten der Klasse, ja zunehmend deren Mehrheit im Regen stehen – sie unterminieren sogar die Positionen der Arbeiteraristokratie.

Es ist Teil der inneren Widersprüchlichkeit der Bürokratie, dass es diese Kernsektoren der gewerkschaftlichen Organisierung waren, in denen die Einführung von Leih- und Zeitarbeit als erstes durchgedrückt wurde. Mit diesen Ausgliederungen wurde das Fundament für die Entstehung des Niedriglohnbereichs gelegt, welcher seitdem die Löhne der Kernbelegschaften ständig bedroht. Als Erpressung von Bourgeoisie und Staat zog am meisten die Angst vor der Verlagerung (Osteuropa, China) und dass die BRD nicht mehr konkurrenzfähig sein würde – seitdem hat die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Imperialismus bedrohlich zugenommen, siehe auch die aktuelle EU-Krise und die stärkere Position des BRD-Imperialismus in Europa.

Die „Standort-Partnerschaft“ und das „Co-Management“, als politisch-ökonomische Strategie der aktuellen Gewerkschaftspolitik greifen entgegen der Intentionen der Bürokraten die Grundlagen der Gewerkschaften jedoch stetig an. Die voll- sozialversicherungspflichtigen Stellen wurden in den letzten 10 Jahren abgebaut und somit auch die Kernbelegschaften angegriffen und unterhöhlt.

Innerhalb eines Jahrzehnts entstand ein riesiger Niedriglohnbereich, auf den die Gewerkschaften wenig Zugriff und die dort Beschäftigten kaum Zugang zu Gewerkschaften haben. In diesen Sektoren ist ein nahezu gewerkschaftsfreier Raum entstanden, in dem das Ansprechen des Betriebsrat zur Kündigung führen kann, die Beschäftigten der Willkür der Geschäftsleitung ausgeliefert sind und viele der erkämpften Arbeitsrechte mit Füßen getreten werden.

Während die gewerkschaftlichen AktivistInnen im Einzelhandel mit Schikanen, Gerichten und Entlassungen rechnen müssen, betreibt die Spitze fortgesetzte „Burgfriedenspolitik“ mit Bourgeoisie und Staat, aktuell besonders devot gegenüber einer schwarz/gelben Regierung. Wie diese Gewerkschaften unter dieser Führung und mit dieser Politik für Mindestlohn, für ein Ende der Rente mit 67 o.a. unmittelbare Kampfziele real kämpfen könnten und wollten, ist heute schwer vorstellbar.

Das gilt v.a. für die Gruppen, die dem Prekariat angehören. Für sie sind Gewerkschaften kaum auffindbar, die Forderungen kaum bekannt – sie kennen oft nur die Konkurrenzstellung gegenüber tariflich entlohnten Beschäftigten. Objektiv wären sie aber genau jene Gruppen, um die die Gewerkschaften kämpfen müssten, hier sind die schlimmsten Auswüchse des Lohnarbeitsverhältbnisses zu finden – aber leider kein entschlossener gewerkschaftlicher Kampf.

Für Erwerbslose, Niedriglohn- und TeilzeitarbeiterInnen, (Schein)Selbstständige, Mini-JobberInnen stellen die heutigen Gewerkschaften keine Interessenvertretung dar. Das Prekariat ist sozioökonomisch nicht organisiert – im Gegensatz zu den „Kernbelegschaften“ des Exportkapitals oder zum Öffentlichen Dienst. Mit der aktuellen Politik verschärft die DGB-Spitze die Spaltung zwischen diesen Teilen der Klasse und passt sich somit auch den Anforderungen von Kapital und Staat an die Lohnarbeit von heute an.

Was ist prekär-selbstständig?

Besonders schwierig gestalten sich gewerkschaftliche Organisierungsprozesse, wenn es um „Selbstständige“ geht. Zwischen „Freiberuflern“, Ich-AGs, Schein-Selbstständigen und den „gezwungenen“ Selbstständigen, gibt es viele Formen, die analytisch geklärt werden müssen.

Architekten, Anwälte, Notare u.a. Dienstleister am Kapital waren historisch immer bestens beraten, sich „ständisch“, d.h. als Berufsgruppe zu organisieren und so die eigenen Gebühren festsetzen zu können – dies ist die Sahnehaube der „Mittelschicht“, des gut verdienenden Kleinbürgertums. Sie sind selbstständig, weil sie historisch und funktional eng an die Kapitalistenklasse gebunden sind, ja manche sogar zu kapitalistischen Unternehmen wurden (große Kanzleien, große Architekturbüros).

Auf der Spiegelseite der Selbstständigkeit finden wir „freischaffende“ PaketfahrerInnen, den zuletzt auch von Günter Wallraff dargestellten Logistik-Kleinunternehmer, die selbstständige mobile Altenpflegerin oder Reinigungskraft, die Werbedesignerin oder den IT-Entwickler – dieser sehr vielfältige Bereich ist nicht freiwillig selbstständig, kann keine eigenen Gebühren und Honorare festsetzen, sondern kann über diesen Weg allein die Ware Arbeitskraft verkaufen.

Für diese Teile der Arbeiterklasse ist das „Normalarbeitsverhältnis“ in den letzten 10 Jahren systematisch abgeschafft worden, was früher als „Schein-Selbstständigkeit“ galt, ist heute Normalität geworden. Oft sind diese Selbstständigen nur für einen „Arbeitgeber“ tätig. Was früher als Schein galt und verboten war, ist heute die Grundlage dutzender Beschäftigungsstrukturen in verschiedensten Bereichen. Während „klassische“ kleinbürgerlich-selbstständige Sektoren wie VersicherungsvertreterIn oder Gastgewerbe in den letzten 10 Jahren eher abgenommen haben, ist insgesamt die Zahl der Selbstständigen um 500.000 gestiegen, allein mehr als 300.000 im Bereich der privaten Dienstleistungen. Soweit die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, wobei wir berücksichtigen müssen, was das Bundesamt nicht erfasst: diejenigen, die einen Minijob haben und gleichzeitig selbstständig auf Auftragsbasis arbeiten, oder Leute, die es „illegal“ mit Hartz IV tun oder nirgends „arbeitsrechtlich“ gemeldet sind.

Im Bereich Erziehung und Unterricht stieg die Zahl von 84.000 im Jahr 2000 auf 140.000 im Jahr 2009, hier finden wir die prozentual größte Steigerung. Die nächstgrößte findet sich im angesprochenen Dienstleistungsbereich von 764.000 im Jahr 2000 auf 1.068.000 im Jahr 2009, es folgt das Gesundheits- und Sozialwesen. Hier stieg die Zahl der Selbstständigen von 320.000 (2000) auf 442.000 (2009).

Die Ausgliederung spart dem Kapital Sozialabgaben, während gleichzeitig den neuen Selbstständigen auch zusätzliche Pflichten und Hindernisse (Krankenversicherung, Sozialkassen) aufgebürdet werden.

Ideologisch wird das alte Selbstständigenmotto (lieber 16 Stunden für mich arbeiten, als 8 Stunden für einen anderen) heute mit den „neuen Anforderungen“ des Arbeitsmarktes, der Globalisierung, der Flexibilität begründet, inklusive aller möglichen Freiheits- und Unabhängigkeitsversprechungen. Der selbstständige Traumjob wird zumeist per Laptop oder Tablet ausgeführt – zu angeblich selbstbestimmten Arbeitszeiten und Orten. Alles ist flexibel und erfolgreich – Arbeit, Freizeit und Urlaub gehen fließend ineinander über – das „alte“ Beschäftigungsverhältnis scheint überholt zu sein, alle können ihre eigenen Unternehmer sein. Dazu sprießen seit einigen Jahren die „Selfmade“-Rezepte am Büchermarkt. Promis, die während der Wirtschaftskrise reich wurden, lassen auch noch darüber schreiben – nach dem Motto „Wie windig komme ich zu meiner ersten Million?“

Über die Kehrseite dieses Unternehmertums berichtet inzwischen sogar RTL. Die Zustände beim Logistik-Riesen GLS werden derzeit einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Dort wurden die „angestellten Sub-Unternehmer“ in Schulden und Pleite getrieben – diese „Unternehmer“ waren nicht mehr in der Lage, Miete oder Stromrechnungen zu bezahlen und sind oft genug insolvent.

Nicht anders läuft es bei anderen Logistik-Konzernen, besonders DHL/Post vergibt immer mehr Aufträge an Subunternehmen. Diese bekommen dann meist eine Strecke/Gebiet/Region, haben dafür 10-50 FahrerInnen und müssen Zeiten/Quoten erfüllen und werden danach bezahlt. Diese Unternehmen bekämpfen jede  gewerkschaftliche Organisierung am schärfsten – wohl wissend, dass mit tariflicher Bezahlung der Beschäftigten „ihr“ Unternehmen sofort pleite wäre, da sie dann die Anforderungen des Großkonzerns, der diesen Geschäftszweig vorsorglich ausgegliedert hat, nicht erfüllen könnten.

Die Gewerkschaften müssen gerade in den Betrieben mit starker Verankerung dafür sorgen, dass es keine Ausgliederung gibt, dass keine (Schein)Selbstständigen zur Spaltung der Beschäftigten beitragen und dass jegliche Arbeit des Unternehmens unter tariflichen Bedingungen stattfindet. In der aktuellen Situation ist diese Spaltung für das Kapital nützlich, es gibt keine Solidaritätsaktionen oder gar Streiks der „Normalarbeitsverhältnisse“ für die ausgegliederten, prekarisierten Beschäftigten – stattdessen herrschen Konkurrenz und Zwietracht, wobei beide Gruppen immer wieder gegenseitig in Stellung gebracht werden.

Wenn dieser Kampf nicht geführt wird, entstehen immer mehr „gewerkschaftsfreie Zonen“, dies führt zu einer weiteren Schwächung der Gewerkschaften und dazu, dass die ausgegliederten Gruppen keinen Zugang zur organisierten Arbeiterschaft bekommen. Von einer formalen Selbstständigkeit sollte sich dabei die gewerkschaftliche Arbeit nicht täuschen lassen bzw. dieses (Schein)Argument überall scharf bekämpfen. Die Gewerkschaften müssen dafür eintreten, dass diese Selbstständigen, die für den Großkonzern arbeiten, die gleichen Konditionen haben wie die Beschäftigten; dass keine Aufträge an Subunternehmen vergeben werden, die Konzerne auch keine eigenen gründen dürfen und somit ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Spaltung gemacht werden kann.

Eine wichtige Frage wird also sein: Wie organisieren die Gewerkschaften das Prekariat, wie entwickeln sie gemeinsame Forderungen und Kampfformen und wie können aktive GewerkschafterInnen dafür in den Gewerkschaften kämpfen?

Gewerkschaftliche Versuche

Auch in den Apparaten der Einzelgewerkschaften ist diese Entwicklung angekommen (auch bei deren Beschäftigungsstruktur, speziell in der Jugend) und es gibt erste Anläufe gewerkschaftlicher Aktivität. Ganz allgemein gibt es natürlich eine Kampagne gegen die Leiharbeit, gegen den Niedriglohnbereich und für einen Mindestlohn – also durchaus wichtige Fragen für Teile des Prekariats. Andere Teile, wie die „Selbstständigen“ werden nicht angesprochen bzw. es fehlen den Gewerkschaften passende Konzepte für diese neuen Beschäftigungsgruppen.

Als ver.di einmal zu einer Konferenz der offiziell 90.000 „selbstständigen“ KollegInnen in der Gewerkschaft aufrief, waren eher die Hochlohngruppen unter den ca. 60 anwesenden Selbstständigen vertreten, die Prekarisierten fanden keine Zeit für Konferenzen.

Bei ver.di und GEW gibt es Arbeitsgruppen und Arbeitskreise, welche sich mit prekären Beschäftigungsverhältnissen befassen und gewerkschaftliche Strategien zu entwickeln suchen, aber dies steckt noch in den „Kinderschuhen“ – während der „prekarisierte“ Arbeitsmarkt inzwischen 36% der Beschäftigten umfasst!

Als beispielhaft für eine gewerkschaftliche Organisierung im Bereich des Prekariats gelten die italienischen Gewerkschaften, von denen alle größeren Verbände inzwischen eigene Gliederungen aufgebaut haben. Deren größte ist die NIDiL (Neue Identität der Arbeit), welche zum größten Dachverband CGIL gehört und mehrere Zehntausend organisiert. Im Gegensatz zu den sonst üblichen Entwicklungen in Branchengewerkschaften sind 54% der Mitglieder von NIDiL jünger als 40, mehr als die Hälfte weiblich und es herrscht eine höhere Fluktuation in der Mitgliedschaft.

Zweifellos geht auch die Politik in Italien nicht über einen beschränkten reformistischen Rahmen hinaus. Das Beispiel widerlegt jedoch das Märchen, dass diese Schichten „prinzipiell“ unorganisierbar wären. Es verdeutlicht vielmehr, dass selbst „traditionelle“ Gewerkschaften durchaus in der Lage sind, prekarisierte Schichten der Klasse zu organisieren und eine Perspektive des gewerkschaftlichen Kampfes aufzuzeigen.

Für die DGB-Gewerkschaften liegt eine Gefahr in der bürokratischen Zuständigkeit und zuerst am fehlenden politischen Willen. Während gleichzeitig gleicher Lohn für gleiche Arbeit gefordert wird, tun sich die Branchengewerkschaften bislang schwer, die LeiharbeiterInnen und weiteres Prekariat ihrer Branche zu organisieren.

Nicht selten haben die Apparate genau den Ausgliederungen im Betrieb zugestimmt, in denen jetzt keine Tariflöhne mehr gezahlt und gewerkschaftliche Strukturen auf Schärfste bekämpft werden. Dies ist für deutsche Gewerkschaften ein neues Terrain. Natürlich gab es im BRD-Kapitalismus nach 1945 immer wichtige Bereiche, die gewerkschaftlich nicht oder nur wenig erfasst wurden. Diese waren aber nicht nur kleiner im Verhältnis zu den organisierten Bereichen. Jahrelang war es auch üblich, dass tarifliche Regelungen Allgemeingültigkeit für eine ganze Branche hatten – nämlich immer dann, wenn dominierende Kapitalverbände ein Interesse an der Verhinderung von „Schmutz“konkurrenz hatten und so ihre Monopolstellung sichern wollten.

Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt müssen auch die „Shops“ erobert werden, dass taten DGB-Gewerkschaften einige Jahrzehnte nicht mehr, nicht umsonst gilt „Organizing“ als Lösung des Problems bzw. als erste Antwort.

Organizing soll v.a. in nicht-organisierten Sektoren/Betrieben stattfinden, dort soll gewerkschaftliche Basisarbeit über den Betrieb hinausgehen, die letzten bekannten Beispiele gab es im Bereich der Reinigungskräfte 2009 von der IG BAU. Nach diesem  Konzept bekommen immer einige schwer motivierte junge AktivistInnen, meist zuvor durch Akademien, Stipendien und Trainee-Programmen gejagt, den Auftrag, Mitglieder zu werben, Strukturen aufzubauen und Öffentlichkeit herzustellen.

Als eine der ersten Kampagnen rund um das Prekariat arbeitete die DGB-Jugend unter dem Motto „Generation Praktikum“ und versuchte speziell an den Universitäten, Aktive für das Thema zu gewinnen. Ein Problem war, dass die unbezahlten PraktikantInnen meistens eben nicht nebenher studieren, sie haben meist ein abgeschlossenes Studium und dementsprechend konnte die DGB-Jugend kaum „Betroffene“ organisieren. Schwierig ist es auch, wenn die Praktika bei Großkonzernen angeboten werden, die sonst Tariflohn zahlen und die betriebliche Gewerkschaft nicht wirksam für die Interessen der PraktikantInnen kämpft – die Kampagne zum Thema schuf durchaus etwas Aufklärung, konnte aber keinen Kampf organisieren, geschweige denn etwas am Zustand ändern.

Andererseits konnte die IG Metall auch einen tarifrechtlichen Sieg zur Leiharbeit einfahren. Seit dem Abschluss 2010 ist in der Stahlbranche das Ende der Leih- und Zeitarbeit geregelt, alle damaligen Stellen gingen in Vollzeit und Tarif über (auch wenn es „nur“ 3.3% der Beschäftigten betraf). Daraus entwickelte sich aber keine gemeinsame Kampagne aller Branchengewerkschaften gegen Leih- und Zeitarbeit, stattdessen gibt es gültige Tarifverträge mit Zeitarbeitsunternehmen in Höhe von 7,30 Euro.

Diese Beispiele zeigen, dass die deutschen Gewerkschaften schlecht aufgestellt sind, wenn es darum geht, auf neue Beschäftigungsstrukturen politische Antworten zu finden und gemeinsame Taktiken gegen die Interessen von Kapital und Staat umzusetzen.

Das zentrale politische Hindernis dabei ist die vorherrschende Politik des Apparats selbst, die die bornierten, kurzfristigen (und oft nicht minder kurzsichtigen) Einzelinteressen der privilegierten Schichten der Klasse zum Ausdruck bringt wie auch das Selbsterhaltungsinteresse der Bürokratie als Vermittler zwischen Lohnarbeit und Kapital.

Selbst dort, wo zentrale Themen der zunehmende Prekarisierung aufgenommen werden, so tauchen die unteren Schichten der Arbeiterklasse nicht als gewerkschaftliches und politisches Subjekt des Kampfes, sondern als Masse auf, die „organisiert“ und „für die“ etwas „geregelt“ werden soll. Sie gilt als Objekt für „Betreuung“ durch die Gewerkschaft und ihre Stellvertreterpolitik.

Der Apparat nimmt die zunehmende Prekarisierung nämlich nicht als notwendige Folge des niedergehenden Kapitalismus wahr, als zutiefst politische Frage, sondern v.a. als organisatorisches Problem.

Eine solche Politik ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Der Kampf um die Organisierung des Prekariats ist daher auch untrennbar mit dem Kampf um die Umwandlung der Gewerkschaften zu Organisationen des Klassenkampfes, mit dem Kampf gegen die Bürokratie und für eine revolutionäre Führung verbunden. Diese grundsätzliche Schlussfolgerung bedeutet keineswegs, die subjektiven Schwierigkeiten zu ignorieren, wenn es gilt, diese „neuen“ Beschäftigungsgruppen zu organisieren. Aber sie sind Voraussetzung dafür, dass diese Organisierungsversuche nicht selbst in den Strudel bürokratische Bevormundung oder quasi-sozialarbeiterischer Betreuung geraten.

Es darf eben nichts dazwischen kommen …

Dieses Motto finden wir oft bei soziologischen Untersuchungen, eine Veröffentlichung sogar per Titel, diese Aussage bringt prekäre Zustände auf den Punkt. Wenn wir zuvor von schlecht bezahlten, befristeten und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen geschrieben haben, so wollen wir hier anschauen, was das genau heißt. Wie ist die Lage dieser Teile der Klasse heute?

Der Kampf ums Existenzminimum und soziale Teilhabe prägt den Alltag der prekären Schichten. Allein die Trennung zwischen Existenzminimum und sozialer Teilhabe zeigt die Abstufung gesellschaftlicher Realität. Der Hartz IV-Satz reicht zur Nahrungsversorgung, möglicherweise auch inkl. Internet und Stromversorgung, dann wird es langsam knapp mit weiteren Anschaffungen.

Die Kategorie „soziale Teilhabe“ soll eine gesicherte Reproduktion beschreiben, die über das unmittelbar Lebensnotwendige hinausgeht und auch eine gewisse Dauerhaftigkeit und Sicherheit einschließt – wie z.B. Jahresurlaub, regelmäßiger Besuch von Kino, Konzert oder Theater, Essen im Restaurant, Klassenfahrten für die Kinder usw.

Die prekären Schichten kämpfen stets um diese für andere (noch) selbstverständlichen Konsumbedürfnisse. Sie sind stets bemüht, das Existenzminimum zu übertreffen, in bestimmten Gruppen gibt es auch Aufstiegsillusionen – Hauptsache der Gang zum Arbeitsamt kann verhindert werden.

Aufstiegsillusionen können wir v.a. bei Jüngeren beobachten. Junge ZeitarbeiterInnen oder die „Generation Praktikum“ hoffen natürlich, durch Fleiß und Tempo eine Festanstellung zu bekommen. Der selbstständige Webdesigner hofft auf den „Durchbruch“, den Top-Auftrag etc. Neben diesen Hoffnungen gibt es auch stetigen Druck, stetige Angst vor Statusverlust. Natürlich wissen die ZeitarbeiterInnen, dass ihre Stelle jederzeit gekündigt werden kann. Die PraktikantInnen haben auch schon mehrere Stellen gehabt und auch die Neu-Selbstständigen wissen, ab welchem Monat sie die Fixkosten nicht mehr bezahlen können.

Haben sich die verschiedenen Existenzformen des Prekariats einmal an den Status quo „gewöhnt“, gilt das Motto der Zwischenüberschrift. Sicherheit ist nicht planbar, die Unsicherheit ständiger Begleiter.

Gewisse Gruppen des Prekariats erfahren eine soziale Isolation, v.a. gegenüber den eigentlichen „KollegInnen“. Eine selbstständige Altenpflegerin sieht ihre KollegIn eben nicht auf Station oder im Heim wieder, sie hat keinen Kontakt – genau wie die IT-ProgrammiererInnen, die andere Projektgruppen der Firma auch nicht zu Gesicht bekommen. In diesen Arbeitsbereichen wurden kollektive Strukturen beseitigt, die Ware Arbeitskraft komplett individualisiert und somit eine gewerkschaftliche Organisierung erschwert.

Bei allgemeinen Untersuchungen über das Prekariat fällt auf, dass vielfältige soziale und psychische Grenzsituationen auftreten, bislang gab es solche Forschungen meist nur zu den Erwerbslosen. Soziale Unsicherheit, ständiger Druck und Angstzustände führen auch im Prekariat zu einer höheren psychischen Belastung, die sich in Depressionen, Manien und zunehmenden suizidalen Tendenzen ausdrücken. Diese Teile der Klasse erleben eine ständige soziale Bedrohung, sie haben wenig Möglichkeiten zur Regeneration und Reproduktion und verfügen kaum über soziale Schutzmechanismen.

All das ist Folge der Tatsache, dass das Prekatariat jener wachsende Teil der Arbeiterklasse ist, dessen Lohn unter die Reproduktionskosten gedrückt wird.

Einige programmatische Schlussfolgerungen

Der Ausgangspunkt für den Kampf gegen diese Zustände muss daher darin liegen, gemeinsam für die Sicherung der Reproduktionskosten dieses Teils der Klasse und für die Erwerbslosen zu kämpfen. Das kann aber nicht nur durch „Tarifpolitik“, durch das klassische Arsenal der bundesdeutschen Gewerkschaftspolitik, also durch rein ökonomischen Kampf erreicht werden. Es darf vielmehr von Beginn an eines politischen Kampfes.

Alle Formen von Zeit- und Leiharbeit ließen sich einfach mit einem erkämpften gesetzlichen Mindestlohn und der Abschaffung der Befristung von Arbeitsverträgen beenden. Solch ein Mindestlohn sollte die „soziale Teilhabe“ garantieren. Wir fordern daher 1.600 Euro Mindestlohn – damit gäbe es keinen Niedriglohnbereich mehr in Deutschland.

Damit einhergehend brauchen wir eine deutliche Erhöhung der Sozialleistungen. Nur wenn der Arbeitslose oder RentnerInnen ein Mindesteinkommen in der Höhe des Mindestlohnes erhalten, entfällt auch der Druck, jederzeit jede Billigarbeit anzunehmen.

Wenn der Abstand zwischen sozialen Leistungen und Löhnen auf diese Weise abgeschafft wird, können wir auch eine historische Spaltungslinie innerhalb der Arbeiterklasse – die zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen – entschärfen, die Konkurrenz mildern.

Die auftretende Zersplitterung bestimmter Arbeitswelten muss mit und durch die Gewerkschaften bekämpft werden. Die Modelle aus Italien oder den USA mit eigenen Gliederungen der Branchengewerkschaften für das Prekariat können dem Teil der Klasse eine eigene Plattform bieten, dies ist schon mal ein großer Fortschritt.

Ebenso müssen die Gewerkschaften und politischen Gruppen auch Lösungen für das „selbstständige Prekariat“ entwickeln. Eine zentrale Forderung wäre dabei garantierte Gesundheitsversorgung und Mindestrente für alle.

Zum anderen geht es darum, diese „selbstständigen Gruppen“ in tarifliche Arbeitsverhältnisse einzugliedern.

Durch Prekarisierung verschiedenster Formen (Praktika, Leih- oder Zeitarbeit, Selbstständigkeit) drückt sich das Kapital vor den Sozialabgaben, senkt also praktisch den Arbeitslohn. Wo sich Unternehmen gegen eine Eingliederung der „freien MitarbeiterInnen“ oder von LeiharbeiterInnen wehren, müssen sie dazu gezwungen werden – bis hin zur entschädigungslosen Enteignung der Unternehmen unter Arbeiterkontrolle.

Wo diese „freien MitarbeiterInnen“ nicht eindeutig einem Betrieb zuzuordnen sind, die sie praktisch als Scheinselbständige ausbeuten, sollen sie im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten zu tariflichen Bedingungen beschäftigt werden.

Ein solches Programm wird – dazu braucht es wenig Phantasie – auf den erbitterten Widerstand der herrschenden Klasse, von Regierungen, Unternehmen, Gerichten stoßen. Schließlich geht es „nur“ darum, die Einkommen und Arbeitsbedingungen von rund einem Drittel der Arbeiterklasse so anzuheben, dass sie wenigstens ihre Arbeitskraft dauerhaft erneuern, reproduzieren können.

Doch in der gegenwärtigen Periode des Kapitalismus erscheint es als Utopie, als Zumutung erster Ordnung, dass für immer größere Teile der LohnarbeiterInnen, die Lohnsklaverei nicht einmal mehr ihre Existenz sichert. Selbst in einem der reichsten imperialistischen Länder ist die Bourgeoisie offenbar nicht willens und fähig, für eine Millionenmasse von Lohnabhängigen wenigstens Löhne zu bezahlen, die dem Wert der Ware Arbeitskraft entsprechen. Hier offenbart sich eine grundlegende Tendenz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die nicht nur ihren ausbeuterischen Charakter, sondern letztlich auch ihre historische Überholtheit offenbart.

„Es tritt offen hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb der Bedingungen der Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“ (11)

Daraus geht hervor, dass eine revolutionäre, realistische Arbeiterpolitik klar vor Augen haben muss, dass der Kampf gegen die Prekarisierung zu keiner dauerhaften, stabilen Lösung im heutigen Kapitalismus führen kann. Sie ist vielmehr eng verbunden und nur dann wirklich Erfolg versprechend, wenn sie mit dem Kampf für den Sturz des Kapitalismus, der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse und der Etablierung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden wird. Es ist ein schlagendes Beispiel für die Aktualität der Methode des Übergangsprogramms Leo Trotzkis:

„Die Vierte Internationale verwirft die Forderungen des alten Minimalprogramms nicht, soweit sie sich noch einige Lebenskraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte und sozialen Errungenschaften der Arbeiter. Aber sie leistet diese Alltagsarbeit im Rahmen einer richtigen, realen, das heißt revolutionären Perspektive. Sofern die alten ‚minimalen‘ Teilforderungen der Massen mit den zerstörerischen und entwürdigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus zusammenstoßen – und dies geschieht auf Schritt und Tritt – stellt die Vierte Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, deren Sinn darin besteht, dass sie sich immer offener und entschiedener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird aufgehoben vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“ (12)

Fußnoten

(1) Wikipedia, Stichwort Prekariat, www.wikipedia.de

(2) Zur begrifflichen Unterscheidung der unteren Schichten des Proletariats (Pauperismus, Lazarusschicht der Arbeiterklasse) und Lumpenproletariat, das keinen Teil des Proletariats darstellt, siehe Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 673 f.

Im Abschnitt über die „relative Überbevölkerung“ (MEW S. 670 ff) findet sich auf Seite 672 ein Zitat, das der Beschreibung des heutigen Prekariats in vielem verblüffend ähnlich ist:

„Die dritte Kategorie der relativen Überbevölkerung, die stockende, bildet einen Teil der aktiven Arbeiterarmee, aber mit durchaus unregelmäßiger Beschäftigung. Sie bietet so dem Kapital einen unerschöpflichen Behälter disponibler Arbeitskraft. Ihre Lebenslage sinkt unter das durchschnittliche Niveau der arbeitenden Klasse, und gerade das macht sie zur breiten Grundlage eigner Exploitationszwecke des Kapitals.“

(3) Engels, Brief an Marx, 7. Oktober 1858, MEW 29, S. 358

(4) Vergleiche u.a. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in: Lenin, Werke, Bd. 23, S. 102 – 118

(5) B. Vogel aus APUZ 33/34 2008 S. 13

(6) Kalina/Weinkopf 2008, in: Standpunkte 8/2011

(7) Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 662f

(8) Dörre/Kastel

(9) Kalina/Weinkopf 2008, in: Standpunkte 8/2011

(10) Standpunkte RosaLux – Klenner Studie WSI 2010

(11) Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 473

(12) Trotzki, Der Todeskampf der Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, In: Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 87f




Thesen zum Reformismus – die bürgerliche Arbeiterpartei

Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale, 1986, veröffentlicht in: Revolutionärer Marxismus 44, November 2012


Einleitung

Der wissenschaftliche Kommunismus wurde von Marx, Engels, Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki begründet bzw. weiterentwickelt. Im Rahmen des Bundes der Kommunisten, der deutschen Sozialdemokratie, der Partei der Bolschewiki und der I., II., III. und IV. Internationale arbeiteten sie die Grundlagen der marxistischen Kritik am Reformismus aus. Wir halten an dem revolutionären Erbe fest, das in den Schriften, Resolutionen, Thesen und in der Praxis dieser Organisationen während ihrer jeweiligen revolutionären Perioden enthalten ist.

Die Politik und Praxis der Hauptgruppierungen, die sich heute auf den Trotzkismus berufen oder sich als die Weiterführung von Trotzkis IV. Internationale präsentieren, beinhalten in Wirklichkeit eine völlig andere Tradition – eine, die aus der Periode von 1948 bis 1953 stammt. Dies war die Periode der zentristischen Degeneration des Trotzkismus. Die Tradition der Epigonen hat Trotzkis Werk und das seiner großen Vorgänger auf den Gebieten der theoretischen Analyse, programmatischen Umsetzung, politischen Perspektive und der Taktik völlig revidiert. In opportunistischer als auch sektiererischer Weise haben die „pabloistischen“ und „antipabloistischen“ Flügel des degenerierten „Trotzkismus“ wiederholt ihre Unfähigkeit bewiesen, sich die zentralen Grundsätze des leninistischen und trctzkistischen Programms bezüglich des Reformismus wieder anzueignen, erneut geltend zu machen und zu vertreten. Vom Ende der 40er bis Ende der 60er Jahre betrieben beide Fraktionen der „IV. Internationale“ – das Internationale Komitee (IK) und das Internationale Sekretariat (IS) -eine Politik, die im wesentlichen Anpassung an und Versöhnung mit der Sozialdemokratie beinhaltete.

Die dramatischen Ereignisse zu Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre – die Studentendemonstrationen und Unruhen, die militanten Antikriegsbewegungen, die Massenstreiks der italienischen, britischen und besonders der französischen Arbeiter – führten bei den degenerierten Bruchstücken der IV. Internationale zu einer scharfen Revision ihrer Position gegenüber der Sozialdemokratie. Fast alle Gruppen trotzkistischen Ursprungs waren zu einem bestimmten Zeitpunkt in irgendeiner Art und Weise in die Politik des „tiefen Entrismus“ verwickelt. Nun schwenkten sie von ihrer bisherigen Linie der politischen Anpassung an den Reformismus zu einer völligen Ablehnung reformistischer Parteien um, da diese keine Beziehung zum Proletariat mehr hätten.

Anfangs und Mitte der 70er Jahre gab es eine Wende zum „Parteiaufbau“, was in der Regel von einer Haltung zur Sozialdemokratie begleitet war, die im selben Maße blind, einseitig und politisch nutzlos war, wie die vorherige passiv und liquidatorisch. Auf ihrer Suche nach vom Reformismus nicht korrumpierten Elementen wandten sie sich abwechselnd gewerkschaftlich organisierten Militanten in den Betrieben, Studenten oder der Frauenbewegung als Basis für revolutionäre Politik zu. Die Sozialdemokratie wurde entweder für tot erklärt oder als rein bürgerlich angesehen. Es wurden Versuche angestellt, sie zu umgehen, sie völlig zu ignorieren oder sie gar mit Beschimpfungen nach Manier der „Dritten Periode“ der Komintern zur Strecke zu bringen.

Doch der Reformismus überlebte den Sturm der spontanen Militanz der Arbeiterklasse. In Frankreich erhob sich die „tote“ SFIO in Gestalt von Mitterands Sozialistischer Partei wie ein Phönix aus der Asche der Wahldebakel am Ende der 60er Jahre. In Italien überlebte die eurokommunistische PCI die Streikwellen und das Aufblühen militanter Organisierung in den Betrieben nach 1969. In Britannien wurde die Labour Party auf dem Rücken der gewerkschaftlichen Militanz 1971-74 an die Regierung geschwemmt und machte sich daran, diese Militanz zu demobilisieren und sie jeglichen revolutionären Potentials zu berauben. Unnötig zu sagen, dass der Reformismus ebenso die Verdammungen und die abstrakte Propaganda der zentristischen Linken überlebte.

Überdies wurden die „Jugendavantgarden“ älter und „weiser“. Die „inoffiziellen Bewegungen“ wurden bürokratisiert und die revolutionären Parteien folglich nicht aufgebaut. Die Gruppen zersplitterten vielmehr. Obwohl sie sich kurz zuvor dicht am Erfolg gewähnt hatten, lösten sie sich auf oder zerfielen. Wie reuige Zecher im Morgengrauen ließen sie von den Ausschweifungen ihrer nach-68er-Taktiken ab und fielen darauf zurück, was sie als die nüchterneren Taktiken ihrer vor-68er-Vergangenheit empfanden. Bei ihrer Rückkehr zu den reformistischen Parteien fielen sie tatsächlich oft hinter die Nachzügler der Jugendbewegung, die Frauenbewegung, die Pazifisten und die „neulinken“ Gewerkschaftskarrieristen zurück. Diese erneute Orientierung auf die Sozialdemokratie erzeugte eine Analyse des Reformismus, die wieder der aus der vor-68er-Periode ähnlich war und sich wiederum als ebenso einseitig und nutzlos erwies wie die „linke“ abstrakte Propaganda. Der degenerierte „Trotzkismus“ der 20 Jahre nach 1948 konnte lediglich ein Rezept für die Auflösung der „Kinder von ’68“ in die Sozialdemokratie anbieten.

Ein radikaler Bruch mit dieser ganzen Tradition ist unumgänglich. Dies erfordert im umfassenden Maßstab die Rückkehr zur alten und unverfälschten Tradition des Bolschewismus und Trotzkismus, deren Methode – angewandt auf die heutigen Bedingungen – ein Programm, eine Strategie und Taktik liefern kann, mit denen der Reformismus in den großen Schlachten, die sich für das krisengeschüttelte letzte Viertel dieses Jahrhunderts abzeichnen, geschlagen, werden kann.

Die vorliegenden Thesen beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem sozialdemokratischen Reformismus, sind aber in vielen grundsätzlichen Punkten auch auf den stalinistischen Reformismus in kapitalistischen Ländern anwendbar. Mit dem Gesamtphänomen des Stalinismus werden wir uns in gesonderten Thesen noch eingehender beschäftigen. Die Frage nach den Möglichkeiten des Reformismus in den imperialisierten Ländern, insbesondere den Aufgaben von revolutionären Kommunisten in diesen Staaten, muss in dieser Arbeit weitgehend unberücksichtigt bleiben.

Politische Parteien und die Arbeiterklasse

1. Politische Parteien sind selbstgewählte organisierte Zusammenschlüsse mit dem Ziel, gemeinsame soziale Interessen und politische Vorstellungen über die Gestaltung der staatlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung zum Tragen zu bringen. Deshalb streben solche Parteien nach der Übernahme, der Behauptung bzw. der Kontrolle der Regierungsverantwortung. In der Klassengesellschaft reflektieren solche Interessen notwendigerweise Klasseninteressen. Für Marxisten ist die politische Charakterisierung einer politischen Partei im Grunde durch die Klasseninteressen bedingt, die sie objektiv verteidigt – ungeachtet der subjektiven Ideen und Hoffnungen oder der sozialen Herkunft der Parteiführer bzw. Mitglieder. In der kapitalistischen Gesellschaft, die in die Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat geteilt ist, heißt das: entweder Verteidigung des bürgerlichen Staates und des Privateigentums an den Produktionsmitteln oder Aufhebung. Jede Partei, die in der Praxis diesen Staat und dieses Privateigentum verteidigt, ist eine bürgerliche Partei.

Eine Klasse ist allerdings nicht nur auf eine Partei beschränkt und kann darum mehrere konkurrierende „Avantgarden“ haben, die nach der tatsächlichen Führung streben. Überdies sind Klassen nicht homogen, sondern bestehen aus verschiedenen Teilen, deren Interessen einander widersprechen können; die offene Identifikation zwischen Parteien und Klassen ist in der Tendenz verschleiert. Herrschende Klassen, die in der Minderheit sind, müssen sich außerdem auf eine Massenbasis stützen, die sie nötigenfalls mobilisieren können, um ihre Herrschaftsinteressen durchzusetzen. Dies erfordert Kompromisse in zweitrangigen programmatischen Fragen, was sich in der Ideologie widerspiegelt. Mindestens seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts können bürgerliche Parteien also nicht mehr ausschließlich oder hauptsächlich aus Angehörigen der Bourgeoisie bestehen, sondern müssen als Massenbasis Elemente aus untergeordneten Klassen, aus dem städtischen Kleinbürgertum, der Bauernschaft und von Arbeitern ohne Klassenbewusstsein aufweisen. Außerdem bildet sich eine besondere Kaste von bürgerlichen Politikern, die mit den höheren und akademischen Berufen verbunden ist und der Bourgeoisie dient.

Das breite Spektrum politischer Parteien, die offen das – bürgerliche – Privateigentum verteidigen, erklärt sich durch diese bestimmenden Fak-toren, die sich ständig verändern, das heißt, im Konflikt mit den antagonistischen Klassenkräften stehen innerhalb der dem kapitalistischen System eigenen Widersprüche, seinen Kriegen und Wirtschaftskrisen. Konservative, liberale oder faschistische Parteien verteidigen also alle die bürgerliche Gesellschaftsordnung, jedoch auf verschiedene Art und abhängig vorn Rhythmus der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenkämpfe. Im Falle einer faschistischen Partei kann die Verteidigung des bürgerlichen Privateigentums als ganzem, als der Basis der Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft, die politische Enteignung der Parteien der Bourgeoisie durch die Faschisten, deren Basis das Kleinbürgertum und das Lumpenproletariat ist, mit sich bringen. Mehr noch, es kann die materielle Enteignung von Teilen der Bourgeoisie bedeuten, um die Interessen des Monopol- und Finanzkapitals besser durchzusetzen. Aufgrund ihrer ganzen Scheinradikalität und  ihrer Verneinung der bürgerlichen Demokratie ist die Ideologie des Faschismus, mit Trotzkis Worten, ein chemisch reines Destillat des Imperialismus, aus all den fauligen Ausdünstungen der zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft zusammengesetzt. (1)

Somit können selbst unterschiedliche politische Parteien, mit unterschiedlicher sozialer Basis, den Interessen der Bourgeoisie dienen, da sie alle eines gemeinsam haben: an der Regierung sind sie gezwungen, im Rahmen des bürgerlichen Staates zu handeln und diesen zu verteidigen. Kleinbürgerliche oder aristokratische, liberale oder faschistische Politiker können die Regierung stellen; die Bourgeoisie aber herrscht durch ihren Staat. Im Grunde ist der Klassencharakter solcher Regierungen immer bürgerlich. Dies kann, wie wir sehen werden, genauso auf Parteien angewandt werden, deren soziale Massenbasis die Arbeiterklasse ist.

2. In den Ländern, wo eine klare Mehrheit der Bevölkerung proletarisch ist, ist die Bourgeoisie gezwungen, das Einverständnis des Proletariats zu dessen fortgesetzter Ausbeutung zu erreichen: „In einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft baut die Bourgeoisie während eines demokratischen Regimes vor allem auf die Unterstützung der arbeitenden Klassen, die von den Reformisten in Schach gehalten werden. In seiner ausgeprägtesten Form findet dieses System in Britannien sowohl während der Amtszeit der Labour – als auch der konservativen Regierung – seinen Ausdruck.“ (2)

Ein relativ wohlhabender Kapitalismus zweigt daher einen Teil seiner Extraprofite aus der imperialistischen Ausbeutung zur Gewährung ausreichender direkter Reformen ab, damit die Führung der Arbeiter gekauft werden kann und als Agenten der Bourgeoisie handelt. Die Prosperität und Weltvorherrschaft des US-Finanz-und Monopolkapitals seit dem 1. Weltkrieg hatte ein solches Ausmaß, dass die Arbeiterführung (die AFL-CIO Bürokraten) in der Lage war, das Proletariat an eine offen bürgerliche Partei, die Demokraten, und an kapitalistische Politiker wie Hubert Humphrey und Edward Kennedy – die ‚Freunde der Arbeiter“ – zu binden. Eine vergleichbare Situation bestand in Britannien von 1869 bis 1900, während der unumschränkten Vorherrschaft des britischen Kapitalismus auf dem Weltmarkt.

3. Solche Parteien wie die Liberalen des 19. Jahrhunderts oder die heutigen Demokraten mögen zwar ein beträchtliches Maß an sozialen Reformen in ihre Programme aufnehmen, um ihren Anspruch, „demokratisch“ zu sein, zu untermauern, sie werden von uns aber nicht als „reformistische Parteien“ charakterisiert. Ihr Erfolg beruht gerade auf dem rückständigen nur-gewerkschaftlichen Klassenbewußtsein des Proletariats und seinem Mangel an irgendeinem merklichen Grad von politischem Klassenbewußtsein.

Die Situation sieht ganz anders aus bei jenen Parteien – den sozialdemokratischen, Labour- und stalinistischen Parteien in imperialistischen Ländern – die wir als reformistisch charakterisieren. Um die Bedeutung dieses Unterschiedes zu verstehen, ist es notwendig, die marxistische Analyse des Bewußtseins der Arbeiterklasse und seiner Entwicklung geltend zu machen.

Das Proletariat wird als eine objektive Klasse durch die Entwicklung des Kapitalismus erzeugt. Es ist eine wesentliche Produktivkraft der kapitalistischen Produktionsweise. Genau in den Produktionsverhältnissen des Kapitalismus erkannte Marx den wesentlichen Grund, weshalb Proletarier für eine Ideologie empfänglich sein können, welche die bürgerliche Gesellschaft nicht nur als die „natürliche Ordnung“ der Dinge annimmt, sondern auch als eine, in der sie ihre eigenen Interessen verwirklichen könnten. Die Wurzel dafür ist die scheinbare Gleichheit der Partner im Lohnvertrag, von Arbeiter und Kapitalist: „Auf dieser Erscheinungsform (der Lohnform; Hrsg.), die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt, beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (3)

In Wirklichkeit jedoch ist der einzelne Arbeiter sogar zu schwach, dafür zu sorgen, dass seine Arbeitskraft wirklich gegen einen entsprechenden Wert, in Form von Lohn, getauscht wird. Schon sehr früh in ihrer Existenz war die Arbeiterklasse daher gezwungen, kollektive Organisationsformen anzunehmen, um zumindest einen besseren Tausch durchzusetzen. Eine andauernde Wiederholung dieses Kampfes, dieses „Kleinkriegs“, wie ihn Marx nannte, erzeugte dauerhafte Organisationen, Gewerkschaften, welche einen ersten Schritt hin auf eine Organisierung des Proletariats als Klasse „an sich“ darstellen. Diese Organisierung wird zu einem wesentlichen Schritt in Richtung einer Organisierung als Klasse „für sich“, zum Bewußtsein von sich selbst als einer Klasse. Doch dies hat keineswegs eine völlige Ablehnung des Kapitalismus zur Folge. Jeder Erfolg bei der Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen kann den Glauben neu beleben, die Arbeiterklasse könne mit dem KapitaIismus versöhnt werden. Das Gewerkschaftswesen zeigt zwar die Existenz der Arbeiterklasse, erkennt diese Klasse aber nur als ökonomische Kategorie des Kapitalismus an und nicht als Klasse, deren historisches Interesse in der Zerstörung des Kapitalismus liegt. Als solche können Gewerkschaften antisozialistisch sein – und sie sind es oft. Lenin betont diesen Punkt scharf und korrekt in der berühmten und immer noch treffenden Stelle in „Was tun?“: „… denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus ist Nur-Gewerkschaftlerei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie.“ (4)

Diese Versklavung wird zwangsläufig immens geschwächt, wo sich die Bourgeoisie aufgrund der Erfordernisse ihres Systems den Versuchen der Gewerkschaften, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern, widersetzen muss. Wo die Bourgeoisie alle ihr verfügbaren Kräfte, einschließlich der Staatsmacht einsetzt, um die höchstmögliche Ausbeutungsrate durchzusetzen, schränkt die lebendige Erfahrung der Klasse die Annahme der bürgerlichen Ideologie ein.

Wenn dagegen die Bourgeoisie der Arbeiterklasse oder bedeutenden Sektionen von ihr Reformen zugestehen kann, kann dies die Herrschaft der bürgerlichen Ideologie über die Arbeiterklasse wieder verstärken. Desweiteren führt bereits der „Erfolg“ der Gewerkschaften in der Erlangung von Reformen zur Bildung einer Kaste von Verhandlungsspezialisten in der Arbeiterbewegung; zur Gewerkschaftsbürokratie. Diese Kaste stützt sich in ihrer sozialen Existenz auf den Fortbestand des Kapitalismus, und ihre Politik ist die der Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie. Sie hat keinen Grund, eine eigene Partei zu schaffen; wo ihre Interessen oder die ihrer Mitgliedschaft Regierungsmaßnahmen erfordern, ist sie bereit, Bündnisse mit Elementen der Bourgeoisie einzugehen, die sie als „fortschrittlich“ oder „arbeiterfreundlich“ definiert.

Eine solche Situation kann jedoch nur dort über eine längere Periode bestehen, wo der Kapitalismus so floriert und einen so großen Vorsprung vor seinen Konkurrenten hat, dass er es sich leisten kann, sowohl die Führer als auch bedeutende Sektionen der Arbeiterklasse selbst systematisch zu „kaufen“. Das war im Britannien des 19. Jahrhunderts und ist in den heutigen USA der Fall.

Unter solchen Bedingungen werden nicht nur die Bürokraten von der Bourgeoisie „gekauft“. Ganze Schichten von Arbeitern, vor allem Facharbeiter in den strategisch wichtigen oder durch imperialistisches Monopol überdurchschnittlich profitablen Industrien können mit überdurchschnittlichen Löhnen und Arbeitsbedingungen bestochen werden. Diese Situation kann nicht nur zu relativer sozialer Passivität bei den Arbeitern führen, sondern sogar zur Identifikation mit den Interessen des imperialistischen Staates, sowohl gegen Arbeiter anderer Länder als tatsächlich auch gegen andere Teile des Proletariats in „ihren“ eigenen Ländern. Auf diese Weise bilden in den imperialistischen Ländern Arbeiterbürokratie und -aristokratie zusammen einen Transmissionsriemen für die bürgerliche Ideologie in den eigentlichen Kern der Arbeiterklasse, in ihre am besten organisierten Sektionen.

Doch eine solche Entwicklung geht nicht ohne Widersprüche vor sich. Der Erfolg der gewerkschaftlichen Organisierung unter den „aristokratischen“ Schichten stellt ein Modell für andere Schichten dar, die von daher die Bedeutung von Organisation, kollektiver Aktion und Solidarität lernen, denn auch die „Arbeiteraristokratie“ muss ihre Privilegien der Bourgeoisie abringen. Genauso wandelt die innere Entwicklung des Kapitalismus vormals unbedeutende und unrentable Industrien in wegweisende und höchst profitable um. Infolgedessen können die Arbeiter dort höhere Löhnen durchsetzen und in die Arbeiteraristokratie aufsteigen. Andere Teile der Klasse können durch den Niedergang ihrer Industrie oder durch technologische Neuerung, die ihre Stellung untergräbt, zur Verteidigung ihrer bisherigen Errungenschaften gezwungen sein. Unter solchen Umständen wird die widersprüchliche Natur des Gewerkschaftswesens offenbar. Obwohl es den Kapitalismus akzeptiert, ist es durch objektive Entwicklungen gezwungen, ihn zu bekämpfen.

4. Wenn sich das Gewerkschaftswesen einmal etabliert hat, kann es sich nicht auf Verhandlungen mit einzelnen Unternehmern beschränken. Die Durchsetzung minimaler Richtlinien hinsichtlich Schutz und Sicherheit und bezüglich der Länge des Arbeitstages für alle Gewerkschaftsmitglieder und daraus folgend für alle Arbeiter erfordert gesetzgeberische Maßnahmen und darum eine politische Repräsentation der Arbeiterklasse. In einer solchen Situation ist es die bevorzugte Taktik der Gewerkschaftsbürokratie, nach einem Bündnis mit der einen oder anderen Bourgeoisiefraktion zu suchen, von der sie glaubt, dass deren Interessen nicht von den vorgeschlagenen Reformen bedroht werden. Diese Fraktion etikettieren sie als die „Progressiven“. Wo jedoch die Kapitalistenklasse als ganze nicht bereit ist, ohne ernstlichen Kampf Reformen zuzugestehen, und wo es deshalb keine „Freunde der Arbeiter“ für die „Vertretung“ der Klasse gibt, oder wo der Druck der Arbeiterklasse für Reformen so groß ist, dass ein offenes Bündnis mit solchen bürgerlichen Politkern unmöglich wird, dort wird die Schaffung einer politischen Partei, die sich für Reformgesetze einsetzt und diese einbringt, zur Notwendigkeit. Gleich, ob sie ein Resultat des Drucks einer bereits etablierten Gewerkschaftsbewegung nach Reformen ist, wie es in Britannien der Fall war, oder ob der Kampf für gewerkschaftliche Rechte selbst ein Bestandteil der Entstehung einer solchen Partei ist, wie in Deutschland, solch eine Partei ist eine Arbeiterpartei. Das heißt, sie kommt als Ausdruck der Interessen der Arbeiterklasse zustande und aufgrund der Erkenntnis, dass die Arbeiter eine unabhängige politische Vertretung brauchen. In dieser Beziehung ist die Entstehung einer solchen Partei ein historischer Schritt vorwärts in der politischen Entwicklung der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie hat sich stets gegen diesen Schritt gewehrt. Sie hat die potentielle Gefahr in der unabhängigen politischen Organisierung der Arbeiterklasse erkannt und war in bestimmten historischen Situationen sogar veranlaßt, die äußersten Maßnahmen zur Zerstörung solcher Organisationen zu ergreifen.

Die Politik einer solchen Partei wird aber weder spontan erzeugt noch im voraus bestimmt durch irgendeine innere Logik. Sie ist neben dem Druck von außen das Resultat des Zusammenstoßes widersprüchlicher Kräfte in der Klasse selbst bzw. daneben auch ein Ergebnis des Eigeninteresses von Schichten oder Elementen anderer Klassen, die sich in die Arbeiterpartei integriert haben. Sollte eine solche Partei die Politik der Klassenkollaboration annehmen, wie sie von der Gewerkschaftsbürokratie vorbildlich vertreten wird, so wird ihre Politik die Interessen der Arbeiterklasse der Erhaltung des bürgerlichen Systems unterordnen. In diesem Falle wird das höchste Streben einer solchen Partei der Kampf um Reformen innerhalb der bürgerlichen Demokratie sein; sie wird eine reformistische Partei sein, deren Politik durch und durch bürgerlichen Charakters ist. Nichtsdestoweniger wird ihre soziale Basis von der anderer bürgerlicher Parteien unterschieden bleiben. Sie wird weiterhin in den Augen von Millionen Arbeitern als die „eigene Partei“, die „Partei der Gewerkschaften“ oder die „Partei der Arbeiter“ identifiziert. In Zeiten relativen Klassenfriedens und vor allem dann, wenn die Sozialdemokratie an der Regierung ist, macht sich allerdings auch eine zweite Tendenz bemerkbar: Die Sozialdemokratie wird von großen Teilen ihrer Massenbasis zunehmend weniger als „Arbeiterpartei“ gesehen und immer mehr als eine liberale Reformpartei oder „Volkspartei“, d.h. eine reformistische Partei, die über den Klassen und dem Klassenkampf steht. Für die meisten ihrer proletarischen oder kleinbürgerlichen Wähler mag sie schlicht als diejenige Partei erscheinen, die den „kleinen Leuten“ am nächsten steht. Doch auch dies ändert unsere grundsätzliche Herangehensweise nicht. Auch wenn solche Stimmungen in „friedlichen“ Zeiten immer mehr anwachsen und zum Massenphänomen werden können, so bleibt trotzdem der grundlegende Widerspruch zwischen proletarischer Basis und bürgerlicher Politik bestehen. Wir nennen solche Parteien „bürgerliche Arbeiterparteien“, eine Bezeichnung, die ihre widersprüchliche Natur zum Ausdruck bringt.

Das heisst allerdings nicht, dass beide Seiten des Widerspruchs gleichgewichtig sind und reformistische Parteien darum einen „Doppelcharakter“ haben. Nein, die politische Charakterisierung jeder Partei ist dadurch bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse sie letzten Endes verteidigt, und nach diesem Kriterium sind reformistische Parteien vollkommen bürgerlich. Der Begriff „Arbeiterpartei“ bezieht sich auf die soziologische Zusammensetzung des Großteils der Mitglieder-, Änhänger- und Wählerbasis.  Diese Charakterisierung gilt sowohl für sozialdemokratische reformistische Parteien (die ihren historischen Ursprung in der II. Internationale haben), wie auch für stalinistische reformistische Parteien (die ihren Ursprung in der III. Internationale haben und die weiterhin die UdSSR und die von Anfang an degenerierten Arbeiterstaaten als qualitativ fortschrittlich gegenüber bürgerlichen Staaten ansehen). In beiden Fällen unterscheiden sich diese Parteien von anderen bürgerlichen Parteien (neben der Bindung der stalinistischen Parteien an einen oder mehrere bürokratische Arbeiterstaaten) nur durch fortwährende organische Verbindungen zur Arbeiterklasse.

Solche Verbindungen zeigen sich z.B deutlich in massenhafter Mitgliedschaft aus der Arbeiterklasse, Leserschaft der Parteipresse, proletarischen Jugendorganisationen oder in der offenen Identifizierung mit den Gewerkschaften bzw. durch Parteifraktionen in den Gewerkschaften. Bei Parteien wie der britischen Labour Party, die ihre Entstehung politischen Gewerkschaftsinitiativen verdanken, bildet die direkte Angliederung der Gewerkschaften an die Partei deren hauptsächliche Massenbasis. In jedem Fall verkörpern bürgerliche Arbeiterparteien weiterhin einen ursprünglichen Drang der Arbeiterklasse nach politischer Unabhängigkeit, und das müssen Revolutionäre gegen jeglichen Versuch der Bourgeoisie, diese Parteien zu zerstören, verteidigen. Trotz der ungezählten Beispiele von Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse bleiben diese Parteien eine Schöpfung der Klasse. Nichtsdestoweniger sind sie deformiert und in das genaue Gegenteil einer unabhängigen Klassenkraft verkehrt worden. Sie sind zu Werkzeugen der Bourgeoisie geworden, um über die Arbeiterklasse zu herrschen und ihr die politische Unabhängigkeit vorzuenthalten.

5. Eine solche Umwandlung ist keineswegs unvermeidlich. Wo reformistisches Bewußtsein in einer Arbeiterpartei die Oberhand gewinnt, geht dies unauflöslich mit der Entwicklung und Verfestigung einer Bürokratenkaste in Gewerkschaft und Partei einher. Diese Kaste ist außer einer stetigen Quelle bürgerlicher Ideologie in der Arbeiterbewegung auch eine eigenständige und reale materielle Kraft. Berufsfunktionäre der Gewerkschaften und der Partei sind systematisch in die bürgerliche Gesellschaft integriert: durch Berufung in Regierungskommissionen, Aufsichtsräte von verstaatlichten Industrien und Expertenausschüsse, durch den Eintritt in den Apparat der Kommunalverwaltungen und durch die Wahl in Stadträte, durch den Einzug ins Parlament und schließlich durch Kabinettssitze in ihrer „eigenen“ oder in Koalitionsregierungen. Dadurch erlangen solche Individuen die Verbindungen und die Macht zur Kontrolle von Gewerkschaften und Partei. Diese Kaste hat ihren eigenen Frieden mit der kapitalistischen Gesellschaft gemacht und nutzt ihre Macht, um bei den Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern Anerkennung für die Interessen der Bourgeoisie durchzusetzen. Die Bürokraten sind die Gendarmen des Kapitals innerhalb der Arbeiterbewegung und die vorderste Verteidigungslinie gegen mögliche Eingriffe der Arbeiterbewegung in die bürgerliche Gesellschaft. Für Kommunisten ist die Aufgabe, die Kontrolle des Reformismus über die Arbeiterklasse zu brechen, untrennbar mit der Niederlage und dem Sturz dieser Bürokratie verbunden.

Ein revolutionäres Verständnis des Reformismus muss darum sowohl die Erkenntnis seines konterrevolutionären, bürgerlichen Charakters, als auch seines Ursprungs als einer Errungenschaft der Arbeiterklasse im Klassenkampf mit einschließen. Er ist eine Organisationsform, mit deren Hilfe die Arbeiterklasse versucht, ihre unmittelbaren Interessen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu -verteidigen oder auszuweiten. Deswegen bezeichnete Trotzki die Sozialdemokratie als „die Partei, die sich auf die Arbeiter stützt, aber der Bourgeoisie dient“. Dies unterstreicht ihren bürgerlichen Charakter in politischer Hinsicht. Es war für ihn jedoch keineswegs ein Paradoxon, in demselben Zusammenhang festzustellen, die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften seien „Bollwerke der Arbeiterdemokratie innerhalb des bürgerlichen Staates“. (5) Dadurch brachte er sein Verständnis zum Ausdruck, dass die Arbeiter die reformistischen Parteien und Organisationen dazu benutzen, für Verbesserungen ihrer sozialen, ökonomischen und politischen Rechte und Lebensbedingungen im Kapitalismus Druck auszuüben. Ebenso versuchen die Arbeiter, sich mit Hilfe dieser Parteien gegen Angriffe des kapitalistischen Staates zu wehren. Dies geschieht unter einer Führung, die bei jeder Gelegenheit bestrebt ist, die Entfaltung einer effektiven Arbeiterdemokratie zu sabotieren. Die sozialdemokratischen Parteien sind in der Tat schwache und letzten Endes wirkungslose “Bollwerke“ gegen jeden entschlossenen Versuch der Bourgeoisie, die Arbeiter ihrer im Kapitalismus gewonnenen Errungenschaften zu berauben, aber Bollwerke sind sie deswegen trotzdem. Aus diesem Grunde wird eine verzweifelte und zum Angriff entschlossene Bourgeoisie unter Umständen darangehen, sie als beschränkende Faktoren ihrer Herrschaft völlig zu zerschlagen (z.B. Deutschland 1933, Spanien 1936, Chile 1973). Dies ist weder ein plumper Widerspruch in sich, noch sind die Widersprüche der reformistischen Organisationen einfach logische oder analytische Merkmale. Sie bestehen in der Wirklichkeit und stellen genau den Kern des Reformismus dar. Ohne seine real existierenden Wurzeln in der Arbeiterklasse wäre der Reformismus für die Bourgeoisie nutzlos. Ohne seine Festlegung auf die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung wäre derselbe Reformismus nicht zu dem Hindernis für den Fortschritt der Arbeiterklasse geworden, das er heute ist.

6. Die ausschließliche Betonung der einen oder anderen Seite der Dialektik, die in dem Begriff „bürgerliche Arbeiterpartei“ ausgedrückt ist, führte zu Verwirrung und als Ergebnis zu falschen Taktiken. Jene „Revolutionäre“, die von einer empiristischen Methode geleitet sind, stehen hilflos vor den mannigfaltigen und wechselhaften „Erscheinungen“ der Sozialdemokratie. Folglich entwickeln sie nutzlose und einseitige Verallgemeinerungen, die sie undialektisch von dem jeweiligen Element der widersprüchlichen Natur des Reformismus ableiten, das er in einer bestimmten Periode gerade an den Tag legt. So haben „Trotzkisten“ in bestimmten Perioden seit der Degeneration der IV. Internationale ihre Analyse der Sozialdemokratie vorwiegend auf deren Ursprünge und Basis in der Arbeiterklasse gestützt. Daraus schlossen sie, dass die betreffenden Parteien „Arbeiterparteien“ seien, fähig zur Entwicklung einer klaren Politik für die Arbeiterklasse, bis hin zu „sozialistischer Politik“. Das einzige Hindernis seien die „bürgerlichen Führer“, die ersetzt werden müssten, und die bürokratischen Organisationsstrukturen, die „reformiert“, „erneuert“ oder „demokratisiert“ werden müssten. Und umgekehrt: in anderen Perioden, als sie mit den konservativen und durch und durch bürgerlichen Regierungen der 60er und 70er Jahre, mit ihren Angriffen auf bürgerliche Freiheiten und gewerkschaftliche Rechte, ihrem Rassismus und ihrer sklavisch proimperialistischen Außenpolitik konfrontiert waren, folgerten „Trotzkisten“, dass reformistische Parteien schlicht und einfach „bürgerliche Parteien“ seien. Sie untermauerten ihre Schlussfolgerung mit Statistiken, die auf die geschrumpften organisatorischen Verbindungen zwischen der Partei und der Arbeiterklasse oder auf die sinkende Wahlunterstützung durch die Arbeiter hinwiesen. Die taktischen Früchte dieser Analysen waren im ersten Falle eine sklavische Nachtrabpolitik, als sich die „Trotzkisten“ auf linke Strömungen in der Sozialdemokratie zu „beziehen“ versuchten, oder – im anderen Fall – eine stumpfsinnige, abstrakte Denunziation und der Verzicht auf den Kontakt zu den Labourparteien und sozialdemokratischen Parteien. Diese zwei gleichermaßen falschen Positionen schließen sich gegenseitig keineswegs aus. Wenn auch dieselben „trotzkistischen“ Gruppen zu gewissen Zeiten einen Zickzack-Kurs von der einen zur anderen Position verfolgten, so einigt diese Positionen doch die programmatische Unfähigkeit bzw. der Unwille, die Sozialdemokratie mit den prinzipienfesten Taktiken der kommunistischen Tradition zu bekämpfen.

Um solche Fehler zu vermeiden, benötigen Revolutionäre an erster Stelle eine absolute Klarheit über die politische Charakterisierung der reformistischen Parteien als bürgerliche Parteien. Nur dann ist es möglich, die Art und Weise zu verstehen, in der die Durchführung bürgerlicher Politik durch die proletarischen Ursprünge und sozialen Wurzeln des Reformismus bedingt werden kann.

Die Strategie der reformistischen Parteien

7. Die reformistische Partei ist bürgerlich in ihren Zielen und ihrer Strategie; d.h. ihr „kombiniertes System von Aktionen“ führt nicht zur Machtergreifung durch das Proletariat, sondern zu deren Verhinderung und zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft. Dieses Ziel wird natürlich oft durch die Verpflichtung auf den „Sozialismus“ verschleiert. Aber dieses „sozialistische Endziel“ ist nichts weiter als eine Anhäufung von sozialen Reformen innerhalb des Kapitalismus. Selbst eine offene Erklärung für das „gemeinschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, den Verteilungs- und Tauschmitteln“ (wie im Absatz IV. der Statuten der britischen Labour Party) sieht weder die Enteignung der Enteigner vor noch überschreitet sie die Grenzen des bürgerlichen Staates in seiner „demokratischen“ Form.

Solche Verstaatlichungen gehen nicht über den Rahmen staatskapitalistischer Maßnahmen hinaus. Das Programm des Marxismus unterscheidet sich hiervon qualitativ. Es besteht in der revolutionären Eroberung der Staatsmacht, der Errichtung der Arbeitermacht durch die Diktatur des Proletariats, der Enteignung der Kapitalistenklasse, der Zerschlagung des bürokratisch-militärischen Staatsapparates und sodann im Übergang zu einer sozialistischen, klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage von Planwirtschaft und proletarischer Rätedemokratie.

Im Gegensatz zu diesem wissenschaftlichen Programm verbreitet die Sozialdemokratie, auch wenn sie in ihrer Programmatik möglicherweise den verbalen auf das sozialistische „Endziel“ noch nicht aufgegeben hat, ein utopisch-reaktionäres Reformprogramm im Rahmen des bürgerlichen Staates. Gemessen an diesem Maßstab ist sie keine sozialistische, sondern eine bürgerlich-liberale Partei, wenn auch eine von besonderer Art.

Der Reformismus ist in seiner Taktik bürgerlich. Er ist auf systematische Weise opportunistisch. Lenin beschreibt ihn so: „Opportunismus bedeutet Opferung grundlegender Interessen um zeitweiliger und teilweiser Vorteile willen.“ (6) Engels bezeichnet den Opportunismus als „die Jagd und den Kampf für Augenblickserfolge, ohne Rücksicht auf spätere Folgen”. (7)

Die historischen Ziele und Interessen des Proletariats werden geopfert zugunsten einer Perspektive stückchenweiser Sozialreformen, die erreicht werden sollen, indem man Druck auf den bürgerlichen Staat ausübt und vor allem, indem die reformistische Partei durch Wahlen oder auf parlamentarischem Wege die Regierungsverantwortung übernimmt (entweder allein oder in einer Koalition mit offen bürgerlichen Parteien). Da eine solche Regierung im Rahmen bürgerlicher ökonomischer, gerichtlicher, gesetzlicher, polizeilicher und militärischer Strukturen arbeitet, ist sie von Anfang an ein Instrument der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterklasse.

Die Bourgeoisie herrscht durch solche Regierungen. Sozialdemokratische Regierungen sind daher bürgerliche Regierungen. Reformen sind dabei zweitrangig und in ihrem Ausmaß abhängig von der Kampfbereitschaft und dem Druck der Arbeiterklasse, sowie von der Fähigkeit der herrschenden Klasse, sie zu gewähren bzw. ihrer Unfähigkeit, sie zu verweigern. Jedenfalls sind sie auf solche Maßnahmen beschränkt, die entweder dem Kapitalismus sogar zugute kommen oder die zumindest seine strategischen Interessen nicht bedrohen. Sollte eine reformistische Regierung gesetzliche Schritte zum ernsten Schaden für bürgerliche Eigentumsrechte oder die bürgerliche Staatsmacht einleiten bzw. damit drohen, so würde sie auf den Widerstand oder die Revolte des bürgerlichen Staatsapparats treffen. Je nach den Umständen würde die Regierung entweder „verfassungskonform“ aus dem Amt geworfen oder durch Militärgewalt gestürzt werden.

Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass reformistische Parteien als Geschäftsführer des Kapitals Regierungsverantwortung übernehmen. Mit Kriegsausbruch 1914 hatte die Sozialdemokratie international ihren Bankrott als historisch vorwärtsweisende Kraft erklärt und vor dem Imperialismus kapituliert. Sie hatte mit ihrer Zustimmung zu den imperialistischen Kriegsabsichten Verrat am Weltproletariat begangen und es für die Interessen seiner Ausbeuter auf die Schlachtbänke des Kapitals geschickt. Damit hatte der Reformismus den Bourgeoisien endgültig signalisiert, dass er bereit war, die Ziele der bürgerlichen Ordnung in vollem Umfang zu vertreten. Dennoch sträubten sich, z.B. in Deutschland, die reformistischen Führer, zunächst nach dem 1. imperialistischen Krieg zum ersten Mal in der Geschichte die Regierungsgewalt zu übernehmen (vorher hatte es mit einer Ausnahme (Australien) keine sozialdemokratische- oder Labour-Regierung gegeben!). Der Grund liegt in dem tiefen Misstrauen, das sie mit der Bourgeoisie teilen, dem Misstrauen gegenüber den Arbeitermassen und ihrem Aktionspotential, das sie zur Verantwortung ziehen könnte, genauso wie sie dem Druck der Bourgeoisie ausgesetzt sind durch deren herrschende Eigentumsformen. Daher ziehen die reformistischen Parteien in der Regel Koalitionen der Alleinregierung vor. Auf die Art können sie ihr Handeln, das dem Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte verpflichtet ist, besser präsentieren.

8. In seiner Ideologie akzeptiert der sozialdemokratische Reformismus die Grenzen des Nationalstaates. Er identifiziert sich völlig mit den „nationalen Interessen“, trotz der Tatsache, dass vermeintlich klassenübergreifende Interessen im Kapitalismus schlicht ein verallgemeinerter ideologischer Ausdruck für bürgerliche Interessen sind. Der Reformismus bricht also mit dem seinem Wesen nach internationalen Charakter und Interesse des Proletariats. In imperialistischen Ländern bedeutet ein solcher Nationalismus darüber hinaus Sozialimperialismus. Dieser mag zwar in Friedenszeiten eine mehr oder weniger pazifistische Form annehmen, im Krieg verwandelt er sich aber in bösartigen Sozialchauvinismus (wie sein Zwilling, der Liberalismus). Der reformistische rechte Flügel neigt dazu, solchen Chauvinismus sogar in Friedenszeiten offen zu propagieren, und alle sozialdemokratischen Regierungen in imperialistischen Ländern handeln tatsächlich als imperialistische Regierungen. In demokratischer und pazifistischer Verkleidung trägt die Sozialdemokratie das chauvinistische Gift in die Arbeiterklasse.

In der Organisationspraxis des Reformismus gehen die fortgeschrittenen Arbeiter in der passiven Masse der Mitglieder und Wähler unter und werden von der Kontrolle über die Partei durch eine Clique von Parlamentariern und Gewerkschaftsbürokraten ausgeschlossen.

Trotzki beschrieb die Struktur sozialdemokratischer Parteien dementsprechend als eine „verborgene und verschleierte, aber nicht weniger verhängnisvolle Diktatur- die bürgerlichen ‚Freunde‘ des Proletariats, die parlamentarischen Karrieremacher, die Salonjournalisten, die ganze Schmarotzerbande, die der Parteibasis die ‚freie‘ und demokratische Aussprache gestattet, aber sich hartnäckig an den Apparat klammert und letztenendes doch tut, was dieser will. Eine solche Art von ‚Demokratie´ in der Partei ist nichts als eine Kopie des bürgerlich demokratischen Staates …”. Trotzki schlussfolgert, dass der Zweck dieser „Betrugsdemokratie“ die Zügelung und Lähmung der revolutionären Erziehung der Arbeiter ist, „die Übertönung ihrer Stimmen durch den Chor der Stadträte, Parlamentsabgeordneten usw., die bis ins Mark von egoistischen, kleinbürgerlichen und reaktionären Vorurteilen durchdrungen sind“. (8)

Die praktische Parteipolitik wird nicht von der Basis bestimmt, sondern von der Bürokratie, also je nach der konkreten Situation von der Parlamentsfraktion, dem Parteivorstand oder anderen leitenden Gremien. Die einfachen Mitglieder, nur episodisch beteiligt, und dann fast nur über Wahlroutine oder gelegentliche „Protest“aktionen, sind auf diese Weise im Nachteil gegenüber dem Apparat der Parlamentsabgeordneten und Berufsfunktionäre. Das Kleinbürgertum und die gehobene Facharbeiterschaft stellen eine Basis für die reformistischen Bürokraten dar. Durch solche Mittel wird die formale Demokratie dieser Parteien noch weiter ausgehöhlt und es den Parlamentariern aus der Partei- und Gewerkschaftsbürokratie ermöglicht, die Partei völlig zu beherrschen. Außerdem hilft die strenge Trennung von politischer und ökonomischer Organisation des Proletariats, niedergelegt in den Schlagworten von den „zwei Flügeln“ oder „zwei Säulen“ der Arbeiterbewegung, die Macht von Parlamentariern und Gewerkschaftsbürokraten gleichermaßen zu erhalten. In einigen Ländern, wie in Österreich oder Belgien, trat in der Geschichte der Sozialdemokratie noch als „dritter Flügel“ oder „dritte Säule“ die Genossenschaftsbewegung hinzu, die diese Trennung von wirtschaftlichen und politischen Organisationsformen noch verstärkte. Politik wird in den Gewerkschaften und Genossenschaften auf ein Mindestmaß beschränkt, und in der Partei ist jeder Gedanke an direkte Aktion oder den Einsatz der Gewerkschaften für politische Ziele verpönt. So bleibt die Partei ausschließlich auf Wahlkampfaktivitäten orientiert.

9. Die Notwendigigkeit für den Reformismus, sich auf seine soziale Basis zu beziehen und sie zu erhalten, ist zwar ein zweitrangiger Umstand angesichts seines grundsätzlichen Klassencharakters, trotzdem ist es genau das, was diese Partei von allen anderen unterscheidet. Im Unterschied zu anderen bürgerlichen Parteien muss sich die reformistische Partei auf die unvermeidlichen Kämpfe der Arbeiter gegen den Kapitalismus derart beziehen, dass sie die anerkannte Führung der Arbeiterklasse bleibt.

Eine solche Partei kann sich nicht  der ganzen Linie gegen die Verteidigungsaktionen der Arbeiter stellen. Mehr noch, wenn sie nicht beiseitegefegt werden wollen, müssen die reformistischen Führer diese Kämpfe bis zu einem gewissen Grade unterstützen und anführen, trotz der darin enthaltenen antikapitalistischen Dynamik. Der Versuch, in solchen Situationen „an der Spitze der Arbeiter zu stehen“ und gleichzeitig den Schaden für die Interessen des Kapitals gering zu halten, ermöglicht es Revolutionären, eine Taktik zu entwickeln, die darauf abzielt, die Widersprüche im Reformismus auszunützen und zur Explosion zu bringen. In seiner allgemeinsten Form liegt der Hauptwiderspruch zwischen einer objektiv revolutionären Klasse, die gegen das kapitalistische System durch dessen eigene Gesetzmäßigkeiten, seine Kriege und Krisen in Marsch gesetzt wird, auf der einen und einer gegen die Arbeiterklasse gerichteten Partei- und Gewerkschaftsstruktur, die ihre soziale Basis in dieser Klasse hat, auf der anderen Seite. Ein dialektisches Verständnis der historischen Entwicklung des Reformismus als eines Produkts des Klassenkampfes, aber gleichzeitig auch als einer Bremse desselben, ermöglicht es Revolutionären zu begreifen, wie sich die Stärke des Reformismus, abhängig vom Rhythmus des Klassenkampfes und der Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft selbst, ändern kann. In Perioden kapitalistischer Expansion ist es für die Arbeiter möglich, relativ ernsthafte und langanhaltende Errungenschaften zu machen. Die allergrößten Möglichkeiten haben dabei die Facharbeiter der imperialistischen Hauptmächte. Geringer und sogar unbedeutend sind dagegen die Aussichten für die ungelernten Arbeiter dieser Länder oder für die Arbeiter in den kolonialen bzw. halbkolonialen Ländern. Perioden eines längeren kapitalistischen Aufschwungs (z.B. die 1890er und frühen 1900er oder die 1950/60er Jahre) sind der natürliche Nährboden des Reformismus. Die Rolle der konterrevolutionären Bürokratie in solchen Perioden ist es, Reformen auszuhandeln, die zwar für die Arbeiterklasse wichtig sind, aber vom Standpunkt der Bourgeoisie aus gesehen kaum mehr als geringfügige Zugeständnisse und keine Bedrohung der Wurzeln ihrer Macht in Wirtschaft und Staat darstellen. Dennoch dienen selbst die zur Erlangung solcher Zugeständnisse notwendigen Kämpfe – auch wo sie unter reformistischer Führung stehen – dazu, die Organisierung der Arbeiterklasse auszuweiten und zu stärken. Doch auch in solchen Perioden gibt es keinen automatischen oder unvermeidlichen Triumph des  Reformismus. Der Kampf entscheidet das Ergebnis. Zu allen Zeiten, ob Aufschwung oder wirtschaftlicher Niedergang, kann eine bewusste kommunistische Führung intervenieren, um „spontane“ Entwicklungen zu modifizieren, zu nutzen, anzuhalten oder sogar umzudrehen. Falls dies getan wird, können auch Perioden sozialer Stabilität sinnvoll genutzt werden, durch die Vorbereitung und das Sammeln der Kräfte, die Schulung und die Entwicklung des politischen Bewusstseins der Avantgarde.

In Perioden zugespitzter kapitalistischer Krisen hören die reformistischen Führer nicht auf zu verhandeln, nur verhandeln sie nun über bedeutende und schmerzliche Zugeständnisse vom Proletariat an die Bourgeoisie. Diese Führer müssen sich mehr oder weniger und auf unterschiedliche Weise einen Anschein von Widerstand geben: entweder mit Worten, parlamentarisch und sogar mit gewerkschaftlichen Aktionen (Streiks) oder Protesten (Demonstrationen). Ihr Ziel ist dabei nicht die historische oder strategische Niederlage der Bourgeoisie, sondern nur die Absicht, die Bourgeoisie auf den Weg der kleinen Zugeständnisse zurückzubringen oder wenigstens deren Forderungen an das Proletariat so zu mäßigen, dass die reformistischen Führer sie den einfachen Mitgliedern „verkaufen“ können. Dennoch, selbst solche Teil- bzw. Scheinmobilisierungen bergen das Risiko, die Massen zu ermutigen, über die Absichten ihrer Führer hinauszugehen.

Die reformistischen Führer unterliegen also selbst einem Widerspruch; vor allem müssen sie ihre Stellung als Führer der Massen behaupten. Ihre Kastenprivilegien, ihre Gehälter und ihre ganze soziale Bedeutung in der bürgerlichen Gesellschaft sind vollständig davon abhängig. Sie müssen die Organisation der Arbeiter aufrechterhalten und sie sogar bis zu einem gewissen Grade mobilisieren. Doch wenn sie die Arbeiter zu stark aufrütteln, können sie völlig die Kontrolle verlieren und laufen Gefahr, dass sie zwischen dem Angriff der Bourgeoisie und dem Aufruhr der eigenen Mitglieder zermahlen werden. Diese beiden Pole des Drucks produzieren einen rechten und einen linken Flügel in den Gewerkschaften und reformistischen politischen Parteien. Die grundlegende Aufgabe des rechten Flügels ist es, das Kommando zu führen, sich vor der Bourgeoisie zu verantworten, mit den staatlichen Stellen zu verhandeln und zusammen zu arbeiten, sowie ein loyaler und vertrauenswürdiger Handlanger für den Kapitalismus zu sein. Die Hauptaufgabe des linken Flügels ist es, Kontakt zu den Massen zu halten und in ihnen die Illusion zu bewahren und neu zu beleben, dass die Verwirklichung ihrer Bedürfnisse und Bestrebungen die Unterwerfung unter die reformistischen Bürokraten und Parlamentarier erfordere. Teil dieser Aufgabe ist es, die Massen davon zu überzeugen, dass der Verrat und die Täuschungsmanöver dieser Parteien gegenüber der Arbeiterklasse nicht in der Natur des reformistischen Programms und der reformistischen Führung liegen.

Alle reformistischen Parteien haben an der Regierung, wo sie als Agenten der Bourgeoisie handeln, die Tendenz, ihre „Glaubwürdigkeit“ zu verschleißen. Sie muss folglich durch eine Periode in der Opposition, in der Regel verbunden mit einem Wechsel des Führungspersonals, erneuert werden. Letzteres geschieht im allgemeinen durch die Einbeziehung von Elementen der „linken“ oder oppositionellen Fraktion in die Führung – nachdem sie alle Bindungen zu den Massen gelöst haben und immer vorausgesetzt, dass sie nicht allzu viele Aktionen in der Vergangenheit auf dem Kerbholz haben, was sie als Risiko für die Geheimnisse und die Sicherheit des bürgerlichen Staates erscheinen ließe.

In „friedlichen Perioden“, wenn die Arbeitermassen nur begrenzte Reformen erwarten, geht dieser Kreislauf von Regierungen, die Desillusionierung erzeugen, und Oppositionsphasen, die neue Illusionen aufbauen, ohne größere Störungen vonstatten. In kapitalistischen Krisenperioden kann es hierbei jedoch zu großen Erschütterungen kommen. In außergewöhnlichen Situationen, z.B. in einer Periode „friedlichen“ Wachstums im Kapitalismus, in Zeiten eines weittestgehenden Konsenses zwischen den Parteien auf nationaler Ebene oder in Perioden, wo aufgrund besonderer ökonomischer Spielräume sozialdemokratische Reformvorhaben durchgezogen werden können – in solchen Situationen kann sich allerdings dieser Verschleiß der Glaubwürdigkeit reformistischer Parteien entscheidend verlangsamen, ja für einige Zeit kann sich diese Tendenz sogar umkehren. Nur so ist es zu verstehen, wie in Schweden eine sozialdemokratische Partei auf Jahrzehnte die Regierung stellen konnte. Ein weiteres Beispiel wäre Österreich, wo eine Koalition zwischen der Sozialdemokratie und einer offen bürgerlichen Partei 20 Jahre lang an der Macht bleiben konnte, worauf nach kurzer Unterbrechung zusätzlich 13 Jahre sozialdemokratischer Alleinregierung folgten.

Die revolutionäre Taktik gegenüber dem Reformismus

10. Es hat sich als eine historische Tendenz erwiesen, dass der Beginn einer Krise vielfach von Kämpfen der Arbeiterklasse zur Verteidigung bestehender Errungenschaften und zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards begleitet wird. Der Erfolg in solchen Kämpfen beschneidet ernsthaft die Fähigkeit der Bourgeoisie, die Lasten der Krise auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Wie in Wachstumsphasen müssen Revolutionäre in solche Kämpfe eingreifen, indem sie selbst für die geringsten Teil- und Abwehrforderungen den Kampf mit den Methoden der direkten Aktion und der demokratischen Einbeziehung der größtmöglichen Anzahl von Arbeitern vorschlagen, um sowohl den konkreten Kampf zu gewinnen, als auch die Klasse politisch und organisatorisch auf die kommende Periode vorzubereiten. Die erfolgreiche Durchführung solcher Kämpfe führt aber nicht von selbst zur Entwicklung revolutionären Bewusstseins. Ein solcher Glaube ist ein Merkmal des Ökonomismus. Revolutionäre können sich nicht damit zufrieden geben, nur für bessere und wirkungsvollere Kampfmethoden zur Durchsetzung der spontanen Forderungen der Arbeiter einzutreten. Selbst wenn solche Forderungen einen fortschrittlichen Inhalt haben (was durchaus nicht immer zutrifft), ist es die Pflicht von Revolutionären, den Kampf dafür mit der historischen Aufgabe des Proletariats, der Eroberung der Staatsmacht zu verbinden.

Eine solche Verbindung ist nur möglich durch die Anwendung von Übergangslosungen, d.h. von Losungen, die die wirklichen und zentralen Bedürfnisse der Arbeiter erfassen und die unversöhnlich gegen die Versuche der Kapitalisten und ihres Staates, den Arbeitern die Kosten der Krise aufzubürden, gerichtet sind. Das System der von Kommunisten aufgestellten Übergangsforderungen, das den Kampf für die Arbeiterkontrolle durch Kampforgane wie Arbeiterräte und Fabrikkomitees auf die Tagesordnung setzt, führt zur Organisierung und Vorbereitung der Arbeiterklasse für den Kampf um die Staatsmacht.

Der Kampf um Sofort- und Übergangsforderungen bringt die Arbeiterklasse notwendigerweise in einen potentiellen Konflikt mit den etablierten reformistischen Führern. Diese Führer sind im Zwiespalt zwischen ihrer Verpflichtung dem Kapitalismus gegenüber und der Notwendigkeit, die Führung in den Arbeiterorganisationen zu behalten. Jeder Schritt, den sie tun, um an der Spitze der Arbeiter zu bleiben, erzeugt in der Tendenz noch größere Hoffnungen und Forderungen, die von einer bürgerlichen Arbeiterpartei (oder einer bürgerlichen Arbeiterregierung) bald nicht mehr erfüllt werden können.

Ebenso können im Verlauf von Kämpfen neue Führer auftauchen, oft in militant linksreformistischer Spielart. Obwohl eine etwas andere Taktik im Bezug auf solche Führer nötig sein mag, sind sie doch nicht qualitativ verschieden von der verwurzelten, konservativen Bürokratie. Sie spiegeln das Bewusstsein der Arbeiter wider, von denen sie gewählt werden. Als solche repräsentieren sie die reformistischen Grenzen des Bewusstseins dieser Arbeiter und werden zum Mittel der Aufrechterhaltung dieser Begrenztheit. Trotzki betonte dies im Zusammenhang mit der Labour- und Gewerkschaftslinken in Britannien während der 20er Jahre: „Die Linken spiegeln die Unzufriedenheit der britischen Arbeiterklasse wider. Bis jetzt ist diese Unzufriedenheit noch unklar, und die Linken drücken das tiefgehende und andauernde Streben der Arbeiter nach einem Bruch mit Baldwin und MacDonald in linksoppositionellen Phrasen aus, die keinerlei Verpflichtungen nach sich ziehen. Sie machen einen ideologischen Irrgarten aus der politischen Hilflosigkeit der Massen. Sie stellen einen Ausdruck der Vorwärtsbewegung dar, fungieren aber auch als Bremse darin.“ (9)

Um die Arbeiter zu befähigen, die falsche Führung der Reformisten zu überwinden, müssen Revolutionäre den Arbeitern die richtigen Kampfziele und Kampftaktiken vermitteln, indem sie gezielte Forderungen an diese Führer richten. Solche Forderungen unterstützen einerseits die Mobilisierung der Arbeiter zur Verteidigung ihrer unmittelbaren und weitergehenden Interessen, und sie entlarven gleichzeitig in der Praxis die Unfähigkeit und den Verrat der reformistischen Führer. Dadurch wird die Grundlage geschaffen, sie zu ersetzen. Erst wenn die Unzulänglichkeiten der Führer, seien sie linker oder rechter Spielart, von den Arbeitern im Verlauf des Kampfes verstanden werden können, werden diese Führer überwunden. Wo immer eine bedeutende Anzahl von Arbeitern durch Nicht-Revolutionäre geführt wird, müssen Kommunisten nicht nur von ihnen fordern, dass sie ihre Anhänger für bestehende Ziele der Arbeiterklasse mobilisieren, sondern müssen auch andere für den Kampf notwendige Sofort- und Übergangsforderungen aufstellen. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass man sich auf die nicht-revolutionären Führer bei der Durchsetzung solcher Forderungen verlassen könne.

Diese Taktik hat vier Ziele. Erstens: die Führer vor den Augen ihrer eigenen Anhänger zu testen. Zweitens: die Forderungen populär zu machen, die am besten den Interessen der Arbeiterklasse entsprechen. Drittens: die maximale Einheit in der Aktion herzustellen und die proletarischen Massen zu mobilisieren. Viertens: die Notwendigkeit eines Entscheidungskampfes der ganzen Klasse gegen die Bourgeoisie aufzuzeigen.

11. Gewerkschaften und politische Parteien sind zwei verschiedene organisatorische Ausdrucksformen der Arbeiterbewegung und der Bewusstseinsstufen der Arbeiterklasse. Gewerkschaften entstehen chronologisch in der Regel vor der Massenpartei. Sie bilden sich als Organe des Klassenschutzes in ökonomischer Hinsicht. Die so errichtete Front gegen die Kapitalisten führt Arbeiter unterschiedlicher politischer Überzeugungen zusammen und nimmt in zweckbeschränktem Maß die Interessen aller Arbeiter wahr. Sie erscheint also in der Funktion eines urtümlichen klassenmäßigen Einheitsfrontorgans.

Schafft die Arbeiterbewegung sich eine Formation ihres politischen Willens im Rahmen der bürgerlich-parlamentarischen Ordnung, eine sozialdemokratische oder Labour-Partei, stellt dies einen höheren Bewusstseinsgrad in der proletarischen Bewegung dar. Diese politische Partei kann auch als Massenpartei jedoch nur einen, wenngleich den größten Teil, der Arbeiterbewegung repräsentieren.

Die Teilung in ökonomische und politische Auf-gaben und deren Realisierung in verschiedenen Organisationsebenen – hier Verhandlung mit dem Kapital – dort Verhandlung mit dem bürgerlichen Staat – vollzieht sich analog dem in den bürgerlich-kapitalistischen  Erscheinungsformen befangenen Arbeiterbewusstsein, das Ökonomie und Politik voneinander trennt. In etlichen imperialistischen Ländern tritt noch ein Auseinanderfallen von Partei- und Gewerkschaftszugehörigkeit hinzu, was bspw. in Ländern mit Labour-Party-Tradition nicht in diesem Ausmaß der Fall ist. Dort bedeutet Mitgliedschaft in der Gewerkschaft in der Regel auch Parteizugehörigkeit. Durch die scheinbare Trennung dieser Arbeiterorganisationen -ergibt sich u.a., dass die Gewerkschaftsbürokratie einerseits über größere Mobilisierungskraft als die Parteibürokratie verfügt, zum anderen aber auch stärker dem Druck der eigenen Basis unterliegt.

Trotz dieser Verschiedenheit der Grundtypen von Arbeiterorganisationen versuchen Kommunisten sich beiden gegenüber, sowohl den Gewerkschaften als auch den politischen Parteien, mit der Methode der Einheitsfront zu beziehen. Daran ändert auch nichts deren strategisch unterschiedliche Bewertung. Kommunisten sind für die Beibehaltung der Gewerkschaften als Arbeitergrundorganisation auch nach der sozialistischen Revolution, was natürlich voraussetzt, dass Revolutionäre um die Klassenführung in diesem Organ kämpfen müssen. Der erste Schritt dahin ist die Aufnahme von kommunistischer Fraktionsarbeit in den Gewerkschaften als unentbehrliches Element im revolutionären Parteiaufbau. Aufgrund des Charakters der Gewerkschaften als elementarer Organisation des Klassenkampfs, einer Art Einheitsfrontorganisation für den ökonomischen Kampf, sind Kommunisten also zur Mitgliedschaft und dauerhaften Fraktionsarbeit verpflichtet mit dem Ziel, die Führung zu erringen und die Gewerkschaften zu arbeiterdemokratischen Massenorganisationen revolutionär-klassenkämpferisch zu transformieren. Ein Verlassen dieser Verbände ist erst dann angezeigt, wenn die kämpfenden Arbeiter sie massenhaft hinter sich lassen und andere, höhere Organe des Klassenkampfes schaffen (Räte, Fabrikkomitees, usw.).

Die sozialdemokratische/Labour-Partei jedoch ist ihrer Konstruktion und ihrem Inhalt nach das Haupthindernis auf dem Weg erfolgreichen Machteroberung des Staates durch die Arbeiterklasse und muss daher politisch zersetzt werden. Im Unterschied zur gewerkschaftlichen Fraktionsarbeit ist hier nur unter bestimmten Bedingungen eine Mitgliedschaft von Revolutionären, sei es individuell (z.T. in der britischen Labour Party) oder als gesamte Organisation (kurzfristiger Entrismus) möglich und notwendig. Besteht nicht die Möglichkeit, für das volle kommunistische Programm zu kämpfen, so würden Kommunisten als objektive Vertreter der dezidiert konterrevolutionären reformistischen Programme nach außen erscheinen.

Die Einheitsfronttaktik ist allerdings auf beide Formen anwendbar. Es sind reformistisch geführte Klassenvertretungen mit Arbeitermassenanhang; sie verharren im Gefüge des Kapitalismus und sind gleichzeitig scharf seinen Widersprüchen unterworfen. Alle Versuche, die Anwendung der Einheitsfronttaktik auf einen Organisationstypus (Gewerkschaften), auf eine Ebene (Basis) oder ein bestimmtes Klassenkampfstadium („revolutionärer Aufschwung”) zu begrenzen, müssen als verfehlt zurückgewiesen werden. Syndikalismus und Sektierertum gehen eine verhängnisvolle Symbiose ein, denn wer es ablehnt, die Einheitsfronttaktik in vollem Umfang anzuwenden, lehnt letzten Endes die Aufhebung der Trennung von Ökonomie und Politik, von Basis und Führung ab und vertieft stattdessen nur die Illusionen davon.

Die künstliche Trennungslinie wird ständig faktisch durchbrochen, wie der Charakter von Aktionen der Arbeitermassen überall zeigt. Es ist für Revolutionäre darum bspw. notwendig, den Zusammenhang von Streiks mit politischen Konsequenzen herzustellen, ebenso wie reformistische Politiker bei Tarifauseinandersetzungen in die Pflicht genommen werden müssen, Partei zu ergreifen und sich nicht hinter einer Scheinneutralität oder Nichtkompetenz zu verschanzen.

Wer die Notwendigkeit der Anwendung der Einheitsfronttaktik auf allen Ebenen des Klassenkampfes leugnet, widerspricht elementar der Methode des trotzkistischen Übergangsprogramms. Jede noch so unscheinbare („rein ökonomische“) Forderung enthält immer die Frage nach ihrer Durchsetzung und dauerhaften Verankerung, nach selbstständiger Organisierung und Mobilisierung der Arbeiterklasse und eröffnet letzten Endes die Perspektive der politischen Dimension von der Größenordnung der Machtfrage im Staat.

Die  Vielfalt von Anwendungsbereichen ist bei der reformistischen Partei sogar größer, obwohl sie kein Einheitsfrontorgan per se ist; aber sie hat einen weitgesteckteren Kompetenzspielraum als der Gewerkschaftsapparat: sie kann die Regierung übernehmen. Von daher ist eine Taktik auch in bezug auf die reformistische Führung der Massen nicht nur vereinbar mit revolutionären Prinzipien, sondern sogar zwingend.

Wer jedoch vor der Anwendung der Einheitsfronttaktik auch hier zurückscheut, unterschreibt damit seine Kapitulationsurkunde vor dem Reformismus ebenso wie derjenige, der sich unkritisch an die reformistischen Massen und ihre Führer anpasst.

12. Die korrekte Anwendung dieser Methode enthält nicht nur das Potential, die Illusionen in einzelne Reformisten zu erschüttern, sondern in den Reformismus insgesamt, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, die Arbeiter für eine alternative revolutionäre Führung zu gewinnen. Doch selbst in der drückendsten Krise existiert kein objektiver oder automatischer Prozess, der wie von selbst zu revolutionärem Bewusstsein führt. Falls eine alternative revolutionäre Führung und Strategie nicht die Oberhand gewinnen, werden Niederlage und Demoralisierung die Kontrolle der reformistischen Führer über eine gebändigte und gebrochene Mitgliedschaft wiederherstellen. Im äußersten Falle kann es der Bourgeoisie sogar möglich sein, die legalen Arbeiterorganisationen völlig zu zerstören. Die Dialektik des Klassenkampfes schafft der Arbeiterbewegung die Möglichkeit, sich hinsichtlich Führung, Organisation und Taktik auf eine revolutionäre Höhe zu erheben. Wenn die Entscheidung im Zusammenstoß zwischen Proletariat und Bourgeoisie jedoch nicht auf diesem höheren Niveau fällt, muss sie auf niedrigerem Niveau fallen, und das heißt, dass trotz möglicher Teilerfolge der Kampf in letzter Konsequenz im Interesse der Bourgeoisie, ihre Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten, entschieden wird.

Obwohl die Sozialdemokratie in der großen Krisenperiode zwischen den imperialistischen Weltkriegen schwere Schläge erlitt, haben es verfehlte Taktiken von Revolutionären, Wankelmut der Zentristen und die verbrecherische Sabotage der stalinistischen Bürokratie den Reformisten erlaubt, sich verjüngt aus dem Staub zu erheben, in den Krise und Klassenkampf sie getreten hatten. Der Reformismus lag im Sterben, doch die Kräfte der Revolution waren unfähig, ihn gänzlich in den Abgrund zu stoßen.

Dies verdeutlicht die extreme Gefährlichkeit aller plump vereinfachenden Schemata für die Entwicklung revolutionären Bewusstseins. Sie alle, von den am meisten evolutionistischen und gradualistischen Vorstellungen bis hin zu den gröbsten Katastrophentheorien schieben die Dinge dem „objektiven Prozess“ zu, die in Wirklichkeit die Aufgaben von Revolutionären sind. Ein solcher Schematismus ist ein todsicheres Zeichen für Zentrismus gegenüber den reformistischen Führern: „Denn stets hat der Zentrismus die Sünden des Opportunismus mit feierlichen Hinweisen auf die objektiven Tendenzen der Entwicklung bemäntelt … aber eigentlich drückt sich in diesem vermeintlich revolutionären Objektivismus nur der Versuch aus, den revolutionären Aufgaben auszuweichen und sie auf den Schultern des sogenannten historischen Prozesses abzuladen.“ (10)

13. Einen solchen Schematismus kann man deutlich bei den modernen Zentristen sehen, auch wenn sie ihr Festhalten an Trotzkis Ideen beteuern. Die Katastrophentheorie der Tradition von Gerry Healy, verkörpert in den Dokumenten und der Perspektive des ‚Internationalen Komitees‘, ist lediglich eine frühe und primitive Form des Objektivismus, der den Pablo/Mandel-Flügel des „Trotzkismus“ (das Internationale Sekretariat) auszeichnet. Laut dieser Strömung befindet sich der Kapitalismus seit 30 Jahren direkt am Rande des Untergangs. Bei den Arbeitern brodelt angeblich das revolutionäre Bewusstsein, und nur eine dünne Schicht von reformistischen Führern hält die Massen von ihrem Weg zur revolutionären Partei ab. Letztere muss von Anfang an mit dem ganzen Apparat und der Selbstdarstellung einer Massenpartei aufgebaut werden, um für die Katastrophe bereit zu sein. Die Arbeiter könnten dann einfach massenweise in die Partei eintreten und von ihren Illusionen befreit werden. Somit rostet die Taktik zur Überwindung reformistischer Passivität, wozu die Einheitsfront da ist, ungenutzt vor sich hin, während die Organisation, die tatsächlich – trotz aller Selbstdarstellung – noch eine Propagandagruppe ist, zur Sekte verkümmert und von dort zum Kult eingehüllt in eine Wolke aus idealistischer Dialektik und Selbsttäuschung. Dies war die Krankengeschichte von Healys Workers Revolutionary Party.

Das andere Schema, typisch für den Mandel-Flügel der degenerierten Bruchstücke des Trotzkismus, trachtet danach, den Prozess der Weltrevolution als Organisator und Anwalt der zentristischen und linksreformistischen Führer zu fördern. Diese Führer müssten ermutigt werden, da sie den Vormarsch der Geschichte darstellen.

Zentristischer Schematismus und Objektivismus können sowohl zu sektiererischen als auch zu opportunistischen Schlußfolgerungen in ein und derselben politischen Gruppierung führen. Bspw. hat sich die Healy-Strömung in den 50er Jahren an die reformistischen Teile der Arbeiterbewegung angepasst und hat dann in den 70er Jahren hysterisch die revolutionäre Partei proklamiert. In ähnlicher Form schwankte die Haltung der deutschen Mandel-Anhänger, die bis Ende der 60er Jahre im tiefen Entrismus innerhalb der SPD versackt waren, um danach auf diverse „neue“ Avantgarden zu setzen, die allesamt darin fortschrittlich sein sollten, außerhalb der SPD zu stehen! Nach der Eigenkandidatur der Gruppe Internationale Marxisten (GIM) zur Bundestagswahl 1976, die taktisch so sektiererisch wie programmatisch opportunistisch war, wurde wieder eine Brücke zum linkssozialdemokratischen Spektrum in SPD und Gewerkschaften geschlagen durch anpaßlerische Projekte wie „Aktionskreis Leben“, „Sozialistische Alternative“, etc. Die GIM hatte aber auch immer noch ihre Augen auf das Milieu der Reste der Linken und Einpunktbewegungen und der grün-alternativen Szene gerichtet. Diese Positionen erscheinen als Gegensätze, doch die zugrundeliegende Methode ist dieselbe.

Indem sie kämpferischen Arbeitern entweder die revolutionäre Umwandlung der reformistischen Parteien oder den „Parteiaufbau“ (d.h. den Eintritt in ihre Sekte) anbieten, erweisen sich beide Varianten als vollständig nutzlos für Arbeiter, die aktuell mit der Notwendigkeit konfrontiert sind, hier und jetzt innerhalb reformistischer Organisationen und an der Seite reformistischer Arbeiter zu kämpfen. Revolutionäre Kommunisten bieten ihr alternatives Programm nicht bloß wie eine Art Glücksbringer an, sondern sie benennen Taktiken, die gleichzeitig für den Sieg in den Klassenkämpfen und zur Überwindung des Reformismus geeignet und notwendig sind.

14. Solche Taktiken können nur auf der Grundlage der lebendigen Erfahrung des Klassenkampfes entwickelt werden. Daher erhielten sie ihre vollständigste Systematisierung während der Periode des intensivsten Konflikts zwischen Kommunismus und Kapitalismus, d.h. in den Jahren unmittelbar nach der ersten Eroberung staatlicher Macht durch ein kommunistisch geführtes Proletariat – nach der russischen Revolution vom Oktober 1917. In ihrem Kampf um die Macht in Russland standen die Bolschewiki vor einer zweifachen Aufgabe. Die Dynamik des Klassenkampfes hatte die Arbeiter zur Schaffung von Räten (Sowjets) geführt, von Kampforganen, gestützt auf die direkte Demokratie der Arbeiterklasse. Jedoch erkannte die Mehrheit der Arbeiterdelegierten in den Sowjets anfangs noch nicht die Notwendigkeit der Revolution. Dies führte dazu, dass die Führung in den Sowjets und damit in der Arbeiterklasse den Menschewiki zufiel, die – anders als die Arbeiterklasse -bewusst gegen die Revolution waren. Die Bolschewiki mussten daher den Massen sowohl den letzten Endes arbeiterfeindlichen Charakter der Menschewiki aufzeigen, als auch die Notwendigkeit der proletarischen Revolution.

Die Taktik der Bolschewiki, zusammengefasst in den Losungen „Alle Macht den Sowjets!“ und „Brecht mit der Bourgeoisie!“ zielte darauf ab, es den Massen der Arbeiterklasse zu ermöglichen, durch ihre eigene Kampferfahrung zu lernen, dass allein die Eroberung der Staatsmacht ihre Probleme lösen kann und dass die Menschewiki alles tun würden, um dies zu verhindern. Die Bolschewiki überzeugten die Arbeiter von der Notwendigkeit der Sowjetmacht als Mittel zur Erlangung von Frieden, Brot und Land und von der Notwendigkeit, von jenen Führern, die behaupteten, der Arbeiterklasse und den Sowjets ergeben zu sein, die praktische Durchführung einer solchen Politik zu verlangen. Dadurch wurde der Widerspruch zwischen dem sich rapide entwickelnden politischen Klassenbewusstsein der Arbeiter und der Kontrolle der Menschewiki über sie (die ja auf dem früheren Mangel an politischem Klassenbewußtsein beruhte) bis zum Äußersten verschärft.

In der Hitze der Revolution wurde diese Methode, die reformistischen Führer zu bekämpfen und die Massen zu befähigen, ihren eigenen reformistischen Bewusstsein stand zu überwinden, weder systematisiert noch verallgemeinert. Doch die Bolschewiki benutzten wiederholt die Taktik der Agitation für Massenaktionen und der Forderung an die reformistischen Führer, solche Aktionen zu unterstützen und zu führen, solange sie das Vertrauen der Mehrheit der Arbeiter besaßen. Eben dies Praxis fasste die junge Kommunistische Internationale zu einem Bündel von Taktiken zusammen, bekannt als Einheitsfront.

Die Einheitsfront

15. Die effektive Anwendung von Taktiken zur Überwindung des Reformismus erfordert ein klares Verständnis der Strategie, von der diese Taktiken abgeleitet sind. So darf die unter dem Namen Einheitsfront bekannte Reihe von zusammenhängenden Taktiken niemals ihre untergeordnete Funktion überschreiten. Jede Theorie oder Praxis, die der Einheitsfront die Rolle eines direkte Weges zum Sozialismus zuschreiben – sei es in eine ihrer besonderen Formen oder über eine Reihe von Einheitsfronten – sind dadurch von selbst prinzipienlos und können nur zu systematischer und fortschreitende Preisgabe des revolutionären Programms führen. Die führt mit eherner Notwendigkeit zur Verneinung der unabhängigen und bewussten Rolle der Arbeiterklasse bei ihrer eigenen Emanzipation. Es entwertet und leugnet in der Praxis zunehmend die Rolle der revolutionärer Partei. Es verwandelt die Einheitsfront von einer Waffe gegen den Reformismus zu einem Vorwand für die ideologische Kapitulation vor dem Reformismus und die organisatorische Auflösung in ihn.

Der Weg zur Macht liegt für die Arbeiterklasse nicht auf einer geraden Linie von Gewerkschafts- oder Wahlkampfaktionen, auch wenn eine nationale Arbeiterbewegung lange Zeit auf solche Aktionen beschränkt gewesen sein mag. Unterbrechungen in ihrem Verlauf, Katastrophen ebenso wie Triumphe, der Verlust von vorherige Errungenschaften, die Entstehung neuer Formen von Organisationen und Taktiken, vorwärtsgerichtete Bewusstseinssprünge – das alles charakterisiert die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Die Aufgabe von Revolutionären ist es, sich programmatisch, taktisch und organisatorisch auf diese Ereignisse vorzubereiten.

Die schöpferische Rolle der Arbeiterklasse selbst und die anderer unterdrückter Klassen und Schichten ist das Fundament marxistischer Taktik. Die Erfahrungen der Arbeiterbewegung (mit ihrem Höhepunkt, der Pariser Kommune) waren die unersetzliche schöpferische Antriebskraft zur Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus. Auf der Grundlage einer kritischen Analyse dieser Erfahrungen kamen Marx und Engels zur Ausarbeitung der Prinzipien und der Strategie für die Machtergreifung der Arbeiterklasse, die Rolle der Gewerkschaften und die Notwendigkeit einer politischen Arbeiterpartei. Desgleichen entwickelten Lenin und Trotzki das revolutionäre Programm, gestützt auf die Erfahrung des russischen Proletariats mit Massenstreiks und Sowjets. Sie taten dies nicht aus einer Anbetung der „Spontaneität“ heraus. Sie waren weit davon entfernt die unbewussten, rückwärtsgewandten oder verwirrten Bestandteile in all diesen großartigen Beispielen proletarischer Kreativität festzuschreiben oder zu verteidigen. Durch ihre kritische Analyse erkannten sie jedoch die wesentliche vorwärtstreibende Dynamik dieser Errungenschaften. Vor allem verstanden sie die entscheidende Rolle der revolutionären Avantgardepartei. Sie begriffen ihre Funktion im Ausarbeiten und Propagieren von Strategie und Taktik, als militante Alternative für die Führung in den Alltagskämpfen der Klasse und notwendigerweise als Kader und Generalstab der entscheidenden Mehrheit des Proletariats bei der Eroberung der politischen Macht. Die Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Programms – neu erarbeitet, wo immer fundamentale Veränderungen dies erfordern, aber unnachgiebig verteidigt gegen Revisionen, die von oberflächlichen Eindrücken herrühren – macht genau das Wesen der Partei, ihre entscheidende Bedeutung aus. Auf dieser Grundlage organisiert die Partei ihre eigene Arbeit und strebt danach, das Proletariat durch die Entwicklung konkreter Perspektiven und durch die prinzipienfeste Anwendung und Kombinierung von Taktiken anzuleiten. Diejenigen Taktiken sind prinzipienfest, die in einer bestimmten Situation helfen, die Klasse ihren historischen Zielen entweder allgemein oder teilweise näherzubringen. Das heißt, es müssen Taktiken sein, die das Klassenbewusstsein und die Organisierung des Proletariats vorantreiben. Dagegen sind jene Taktiken prinzipienlos (oder opportunistisch), die um vermeintlicher Augenblickserfolge willen oder zum Vorteil eines Teils der Arbeiterklasse grundlegende Interessen opfern oder gegen die Einheit und die Interessen der Gesamtklasse, national und international, verstoßen.

16. Für revolutionäre Strategie und Taktik kann man nicht nur mittels literarischer Darstellung, d.h. durch Propaganda kämpfen. Ideen überzeugen meist nicht von selbst, durch ihre eigene Korrektheit. Ihnen muss ein organisierter Ausdruck gegeben werden. Sie überzeugen die Massen nur in der Hand eines organisierten Kaders, einer potentiellen Führung für die Arbeiterklasse. Diese alternative Führung kann nicht im Handumdrehen triumphieren, sondern zunächst nur teilweise und ungleichmäßig. Erst im Endstadium wird dieser Kampf zu einem Konflikt zwischen Massenparteien, zwischen Sektionen des Proletariats, die sich unter den Bannern von Reform oder Revolution zusammenfinden.

Wenn das Proletariat durch Krieg, soziale Krise oder Revolution vor objektiv entscheidende Aufgaben gestellt wird, bewirkt das Fehlen eines revolutionären Kaders oder dessen Schwäche, seine mangelnde Verankerung (durch erfahrene Kämpfer) im Proletariat eine Führungskrise. Diese Krise eröffnet Revolutionären, die mit dem richtigen Programm und den richtigen Taktiken bewaffnet sind, aber auch enorme Möglichkeiten.

Angewandt werden diese Taktiken von der Organisation der Revolutionäre. Eine solche Organisation muss eine Reihe von Entwicklungs- und Wachstumsstadien durchlaufen: von einer ideologischen Strömung über eine kämpfende Propagandagruppe zu einer Partei, die die Vorhut der Arbeiterklasse umfasst. Grundlage auf allen ihren Stufen ist ein Prozess der ideologischen und programmatischen Diskussion, der in Beschlüsse zur gemeinsamen Aktion mündet. Hieraus erwächst, wenn die Gruppe mit den Kämpfen der Arbeiter verschmilzt und die fortgeschrittenen Arbeiter in ihre Reihen aufnimmt, die Arbeiterdemokratie und die disziplinierte Aktion – der demokratische Zentralismus. In allen Entwicklungsstadien des Parteiaufbaus und ungeachtet aller taktischen und äußerlichen Zugeständnisse darf das leninistische Prinzip des Organisations- und Parteiaufbaus nicht zugunsten von reformistischen oder zentristischen Alternativen kompromittiert und verwässert werden. Die Taktik kann und darf die Strategie nicht ersetzen. Falls dies trotzdem geschieht, so legt sich die Einheitsfront wie ein Schleier um die revolutionäre Organisation, verdeckt ihre Strategie, führt zu Zersetzung oder Degeneration und schließlich zum Triumph des Reformismus.

Der Reformismus konnte schon viel zu viele Siege dieser Art verbuchen. Doch es gibt keine Alternative zum Schlachtfeld des Klassenkampfes, und damit kommt man auch an den speziellen „Schlachten“ der Einheitsfront nicht vorbei. Die bordigistische Politik der Enthaltung – eine passive, rein propagandistische Ablehnung von taktischen Kompromissen, einschließlich der Einheitsfront – ist allerdings in keiner Hinsicht eine Lösung für die politischen „Gefahren“, die alle täglichen Konflikte mit sich bringen. (11) Ob die Sektierer es wollen oder nicht, die Arbeiterklasse kann sich dem Kampf um Tagesprobleme nicht entziehen. Dies reicht von Teilkämpfen bis hin zu Auseinandersetzungen, die objektiv die Frage nach der politischen Macht in der Gesellschaft aufwerfen. Die Arbeiterklasse kann und wird nicht in Passivität verharren, bis sie die „richtige“ Führung hat. Die Einheitsfronttaktik gestattet eine unmittelbare Antwort auf die Angriffe des Klassenfeindes. Sie erlaubt eine frontale Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Feind, aber sie beinhaltet notwendigerweise gleichzeitig einen politischen Kampf gegen die verräterischen reformistischen Führer. Diese Notwendigkeit wird sowohl von den unmittelbaren taktischen Erfordernissen des jeweiligen aktuellen Kampfes, als auch von den historischen Interessen der Arbeiterklasse diktiert. Diese Taktik ist unauflöslich mit dem prinzipienfesten Gebrauch von ökonomischen und politischen Tagesforderungen und von Übergangslosungen verbunden. Hierdurch können ein alternatives Aktionsprogramm und eine alternative Führung präsentiert werden, um den von den reformistischen Führern immer wieder im Kampf verursachten Krisen ein Ende zu machen.

Da kommunistische Taktiken das Produkt der Einheit von wissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse und revolutionärer Praxis im Klassenkampf sind, sind sie selbst der historischen Entwicklung, der Neubeurteilung und Neuerarbeitung unterworfen. Das gilt nicht weniger für die marxistische Analyse des Reformismus und die Entwicklung von Taktiken zu seiner Bekämpfung.

17. Der marxistische Kampf gegen den Reformismus begann nicht erst mit der Einführung des Begriffs „Einheitsfront“ in der leninistischen Komintern. Der Marxismus selbst wurde im Kampf gegen den Reformismus geboren, gegen die niedergehenden utopischen Sozialisten und die Mixtur aus demokratischen und „sozialistischen“ Ideologien, die in den 1840er bis 60er Jahren verbreitet war. Marx‘ Kampf gegen Pierre Joseph Proudhon und dessen Anhänger, gegen Louis Blancs Sozialdemokraten um die Zeitung La Reforme, gegen den Einfluss von Ferdinand Lassalle in der jungen deutschen sozialdemokratischen Bewegung häufte bereits viel von dem programmatischen Kapital an, das dann Lenin, Rosa Luxemburg und andere vor 1914 in ihrem Kampf gegen die wachsende Kraft des Opportunismus und Revisionismus verwendeten. 1848/49 praktizierten Marx und Engels verschiedene Formen von „Einheitsfront“. Rjazanov bemerkt richtigerweise im Bezug auf die 1. Internationale und ihre „Inauguraladresse“, dass “Marx und Engels ein klassisches Beispiel von ‚Einheitsfronttaktik‘ gegeben haben”. (12)

Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus meinten durchaus richtig, dass der Reformismus, den sie bekämpften, seine Ursprünge in dem kleinbürgerlichen und handwerklichen Milieu hätte, aus dem das moderne Proletariat und seine Organisationen entstanden waren. Natürlich repräsentierten die reaktionären Utopien eines Proudhon oder Bakunin eine kleinbürgerliche Rückständigkeit, die sich in der Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus nicht nennenswert behaupten konnte. Marx‘ und Engels‘ kritischer Optimismus schien angesichts der großen Leistungen der I. und II. Internationale, die die Weltarbeiterbewegung für den Marxismus gewonnen hatten, wohlbegründet. Nur in Britannien begegneten Marx und Engels dem, was wir „modernen Reformismus“ nennen würden – einem Proletariat, das dem bürgerlichen Einfluss erlegen war. Diesen Umstand schrieben sie der britischen Vorherrschaft auf dem Weltmarkt zu, der „Bestechung“ von Teilen der britischen Arbeiterführung durch die Bourgeoisie, sowie der Existenz einer aristokratischen Schicht von Facharbeitern, deren Gewerkschaften die Arbeiterbewegung dominierten und deren politischer Horizont nur radikalliberal war. Sie betonten auch die verheerende Wirkung der Feindschaft zwischen irischen Einwanderern und britischen Arbeitern und führten die politische Bedeutungslosigkeit der britischen Arbeiter auf deren stillschweigendes Einverständnis mit der nationalen Unterdrückung Irlands zurück. Ihre Prognose war, dass, wenn Britanniens ungehinderte Ausbeutung der ganzen Welt durch den sich rasch entwickelnden Kapitalismus in den USA und Deutschland durchbrochen würde, und wenn sich die großen unorganisierten Massen des Proletariats zu rühren begännen, „dann wird es wieder Sozialismus in England geben“. (13)

Marx‘ und Engels‘ Analyse der Wurzeln für das Scheitern der britischen Arbeiter bei der Schaffung einer unabhängigen politischen Bewegung gab Lenin zwar nach 1914 wichtige methodische Hinweise in die Hand, doch die optimistische Prognose, dass der Reformismus zusammen mit dem Verschwinden der ihn tragenden Schichten ein absterbendes Phänomen sein würde, stellte sich etwa seit der Jahrhundertwende zunehmend als falsch heraus. Der energische Widerstand der deutschen Gewerkschaftsführer gegen die Taktik des Massenstreiks, das Anwachsen des Revisionismus in der SPD, wie auch deren rasche Bürokratisierung nach 1905; all diese Phänomene, die sich mehr oder minder ausgeprägt bei allen Parteien der II. Internationale (1889 – 1914) vorfanden, zeigten die Notwendigkeit einer neuerlichen Untersuchung der Wurzeln dieses Problems an.

Von 1889 bis 1914 bekämpften Lenin und Rosa Luxemburg entschieden den Revisionismus und Opportunismus in der Sozialdemokratie und geißelten ihn als eine in Theorie und Praxis bürgerliche Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung, erkannten jedoch bis 1914 weder seine Ursachen noch seine ganze Stärke. Die Katastrophe kam 1914, als mit Ausnahme der russischen Sozialdemokratie alle bedeutenderen Parteien der 11. Internationale für die Kriegskredite stimmten, obwohl sie auf ihren Kongressen in Zürich 1893, Stuttgart 1907 und Basel 1913 gemeinsame Antikriegs-Resolutionen verabschiedet hatten. Sie unterstützten einen Klassenfrieden, um den Sieg ihrer eigenen imperialistischen „Vaterländer“ zu sichern. Nicht nur war das Proletariat auf einen Schlag seiner Massenorganisationen für den Klassenkampf beraubt, die von zwei Generationen aufgebaut worden waren; auch das volle Ausmaß des krebsartig wuchernden Geschwürs des reformistischen Bürokratismus wurde nun offenbar. Ebenso zeigte sich der epochale Wandel des Kapitalismus in voller Größe, die Entwicklung zu seinem letzten Stadium, dem Imperialismus. Lenins Analyse dieser Veränderung war nicht einfach nur eine ökonomische Untersuchung. Die neue „Epoche von Kriegen und Revolutionen“ hatte auch eine neue Grundlage für bürgerliche Politik in der Arbeiterbewegung geschaffen.

18. Nach Lenins Analyse konnte der neue imperialistische Kapitalismus auf der Basis von Extraprofiten einer Oberschicht in der Arbeiterklasse, der Arbeiteraristokratie, Zugeständnisse machen. Diese Schicht wurde dadurch zunehmend konservativ und nahm eine kleinbürgerliche Lebensart an. Mit Hilfe der Gewerkschaften und durch die Reformen, die sie über den Gebrauch des kommunalen und parlamentarischen Wahlrechts erreicht hatten, bekam diese Schicht das Gefühl, dass sie „ihre soziale Frage gelöst habe“, ohne zu revolutionären Mitteln gegriffen zu haben. Als Folge wurde sie zur sozialen Basis einer mächtigen konservativen Bürokratie in den Gewerkschaften und Massenparteien, in den Genossenschaften und anderen Arbeiterorganisationen. Dieser Prozess des wachsenden Konservatismus und der Bürokratisierung nahm von 1890 bis 1914 rapide zu. Betroffen waren sowohl Arbeiterbewegungen, in denen der Marxismus dominierte, als auch solche, in denen dieser schwach war; allerdings versteckte sich im ersteren Falle die neue Tendenz hinter der Maske einer formal orthodoxen Phraseologie. Im August 1914 sah sich dieser neue Reformismus vor die historische Entscheidung gestellt. Nun musste er „es wagen, als das zu erscheinen, was er in Wirklichkeit war“, wie Bernstein es ausgedrückt hatte. Nur, unter den Bedingungen des imperialistischen Krieges war dies keine „demokratische Partei der sozialen Reform“, wie der Vater des Revisionismus gehofft hatte, sondern eine Partei des Sozialchauvinismus und Sozialimperialismus.

Der Reformismus offenbarte sich somit der von Lenin, Luxemburg und Liebknecht repräsentierten revolutionären Strömung nicht als der opportunistische rechte Flügel der proletarischen Kampfkräfte, sondern als der linke Flügel der Truppen der Bourgeoisie. Aber die Agenten der Bourgeoisie hielten den Großteil der Arbeiterorganisationen im Würgegriff ihrer weitverzweigte bürokratischen Strukturen, erstickten damit die proletarische Demokratie, hielten die Arbeiterorganisationen unter ihrer Überwachung und verfolgten und atomisierten die revolutionäre Avantgarde.

Es war offensichtlich, dass eine marxistische Taktik entwickelt werden musste, um diesen gewaltigen Rückschlag zu überwinden. Sie musste sich auf die Mobilisierung der Massen zum Sturz der reformistischen Bürokraten stützen, um die Mehrheit gegen die winzige Minderheit, die Basis gegen die verräterische Führung auszurichten. Diese Taktik wurde nicht losgelöst vom Klassenkampf von neunmalklugen Theoretikern „ausgedacht“. Sie wurde mitten in der Feuerprobe einer großen siegreichen Revolution und in der einer tragischen Niederlage für das Proletariat entwickelt. Die leninistische Komintern fasste dies auf der Grundlage der russischen und der deutschen Erfahrungen in der Taktik der Einheitsfront systematisch zusammen.

19. Zwischen Februar und Oktober 1917 hielt die russische Arbeiterklasse in den großen Städten durch ihre Sowjets praktisch die Macht in Händen. Der Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets wies die Arbeiter und Soldaten an, nur solche Anordnungen der bürgerliche Provisorischen Regierung auszuführen, welche der Sowjet selbst bestätigt hatte. Jedoch akzeptierte die Mehrheit der Arbeiter in dieser Periode noch die Führung der reformistischen Menschewiki. Diese hatten nicht den Wunsch, die Macht der Sowjets zur Zerstörung des bereits brüchigen bürgerlichen Staates zu gebrauchen. Stattdessen benützten sie die Sowjets zur Stützung der bereits schwer erschütterten Provisorischen Regierung.

Die Bolschewiki erkannten, dass der bürgerliche Staat nur durch die bewusste Entscheidung einer Mehrheit der Arbeiterklasse, die Macht in die eigenen Hände übernehmen, gestürzt werden konnte, und sie entwickelten Taktiken, die die Arbeiter für diese Strategie gewinnen und vom Einfluss der Menschewiki loslösen konnten. Dies erforderte mehr als eine bloße Gegenüberstellung ihres Programms – der Revolution – gegen die Illusion der Massen, ihre Forderungen könnten ohne eine weitere (proletarische) Revolution erfüllt werden. Die Bolschewiki mussten in gemeinsamen Aktionen mit den menschewistisch geführten Arbeitern und der von den Sozialrevolutionären geführten Bauernschaft aufzeigen, dass die unmittelbaren Forderungen nach Frieden, Brot und Land nur durchgesetzt werden konnten, wenn der Bourgeoisie die Macht aus den Händen gerissen wurde.

Den Bolschewiki gelang dies letzten Endes nicht wegen einer etwaigen Schwäche des Reformismus im rückständigen Russland oder wegen der unbestreitbaren Genialität von Lenin und Trotzki. Im Laufe ihrer Entwicklung hatten die Bolschewiki gelernt, die doppelte Falle von Opportunismus und Sektierertum zu meiden, d. h. sie widerstanden der Versuchung, dem unentwickelten Bewusstsein der Arbeiter schlicht ihr Programm entgegenzuhalten oder aber ihr Programm im Interesse der Anpassung an dieses begrenzte Bewusstsein aufzugeben. Dies musste durch einen erbitterten Kampf in den Reihen der revolutionären Bewegung, der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) erreicht werden.

So musste 1905 die sektiererische Haltung zum ersten St. Petersburger Sowjet in der bolschewistischen Fraktion überwunden werden, genauso wie das opportunistische Ausweichen vor der Frage des bewaffneten Aufstands, das bei den Menschewiki vorherrschte. Im selben Jahr 1905 boykottierten die Bolschewiki korrekterweise das vom Zaren einberufene beratende „Parlament“ und verteidigten diese Position gegen opportunistische Wahltaktiken. 1906 wurde ebenfalls die Position des Duma-Boykotts aufgestellt, was Lenin jedoch später als „kleinen, leicht korrigierbaren Fehler“ bezeichnete. (14).

1907 dagegen wurde die Boykotthaltung vor dem Hintergrund einer Niederlage der Arbeiterklasse definitiv zum sektiererischen Fehler.

1914 standen die Bolschewiki in der Kriegsfrage fest gegen den Sozialpatriotismus. Diese Haltung hob sie unter den Revolutionären als die Hauptgruppierung heraus, die unter allen Umständen an einer unbeugsamen Opposition gegen jede Art von Klassenkollaboration festhielten. Trotz ihrer unerschütterlichen Antikriegshaltung erlahmten die Bolschewiki bei ihren Aktivitäten in der Arbeiterklasse keineswegs, auch nicht, als die Mehrheit der Klasse den Krieg noch unterstützte. Dies dauerte fort, als nach der Februarrevolution die Arbeiterführer selbst den Krieg führten. Diese prinzipienfeste Beharrlichkeit hat Lenin angesichts der feindlichen Haltung der britischen SDF gegen die Labour Party wie folgt zusammengefasst: „Wenn objektive Bedingungen vorherrschen, die die Entwicklung des politischen Bewusstseins und der Klassenunabhängigkeit der proletarischen Massen hemmen, muss man geduldig und beharrlich Hand in Hand mit ihnen arbeiten können, ohne  prinzipielle Zugeständnisse, aber auch ohne abzulassen von Aktivitäten INMITTEN der proletarischen Massen. (15) Die Bolschewiki korrigierten mit der Annahme der Aprilthesen ihre programmatische Konzeption von der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ und übernahmen damit praktisch die Strategie der permanenten Revolution. Erst danach konnten die Bolschewiki prinzipienfeste Taktiken anwenden, die von einer klaren programmatischen Vorstellung der Revolution abgeleitet waren, und die die Klasse zur Revolution hinführen konnten. Praktisch die gesamten führenden nicht emigrierten Bolschewiki unterstützten opportunistischerweise die Provisorische Regierung und teilweise auch deren Militärpolitik. Erst nach der Annahme von Lenins Aprilthesen hörte diese falsche Politik auf, und an ihre Stelle trat die totale Opposition gegen den Krieg, solange dieser einen imperialistischen Charakter hatte und zur Verteidigung des russischen bürgerlichen Staates geführt wurde. Gleichzeitig aber vermochten die Bolschewiki von diesem Punkt aus auch Taktiken zu entwickeln, die die Arbeiterklasse mobilisieren und im Klassenkampf von ihrer bestehenden Führung losbrechen konnten. Die Bolschewiki erkannten klar, dass die Menschewiki letzten Endes der Bourgeoisie die Treue halten würden und trachteten danach, deren Widerspruch zu den Interessen und Forderungen ihres Arbeiteranhangs offen aufzuzeigen.

Die Verschmelzung von programmatischen und taktischen Fortschritten bei den Bolschewiki 1917 kann in zwei an die Arbeiter und deren Führer gerichtete Schlüssellosungen zusammengefasst werden: “Brecht mit der Bourgeoisie!“ und „Alle Macht den Sowjets!“. In diesen Formeln ist die Konkretisierung all dessen enthalten, was Kommunisten bis dahin von der miteinander verbundenen Problematik des Programms, der Strategie und der Taktik begriffen hatten. Die Revolution ist unauflöslich mit den tatsächlichen Aktivitäten und den lebendigen Organisationen der Arbeiterklasse verbunden. Sie muss selbst die Macht ergreifen. Dies wird den Arbeitern wiederholt vor Augen geführt durch das Elend und die Leichenstarre in den eigenen Reihen, die das direkte Resultat der falschen Politik ihrer Führer sind. Diese Führer müssen daher praktisch beweisen, auf wessen Seite sie im Klassenkampf stehen. Falls sie nicht ihre Koalition mit der Bourgeoisie lösen wollen, müssen die Arbeiterorganisationen mit ihnen brechen. Währenddessen haben die Bolschewiki nicht passiv darauf gewartet, bis die objektive Entwicklung ihnen recht gab. Das hätte nur negativ bewiesen werden können, durch die Niederlage der Arbeiterklasse, die von ihren eigenen Führern fehlgeleitet worden war. Im Gegenteil, die Bolschewiki forderten den sofortigen Bruch der Menschewiki mit ihrer Koalition, nicht nur in der zentralen Regierungsfrage, sondern auch in den unmittelbaren Lebensfragen der Arbeiterklasse – Kontrolle der Sowjets über die Lebensmittelverteilung, Arbeiterinspektion der Kriegsindustrien und ihrer Gewinne, Verstaatlichung der Banken unter Arbeiterkontrolle, sofortige Durchführung der Landreform, um die Macht der Großgrundbesitzer zu brechen und die Bauernmassen auf die Seite des Proletariats zu bringen, und vor allem das sofortige Kriegsende.

In den Sowjets vertraten die Bolschewiki die Meinung, dass die Menschewiki diese Maßnahmen niemals durchführen würden, obwohl sie im Interesse der Arbeiterklasse unbedingt notwendig waren. Deshalb sollten die Sowjets diese Aufgaben übernehmen. Damit entlarvten die Bolschewiki nicht nur den wahren Charakter der Menschewiki und untergruben ihre soziale Basis, sondern sie entwickelten gleichzeitig auch die Fähigkeit der Sowjets, die Macht an sich zu nehmen.

Die Methode der Bolschewiki von 1917 kann wie folgt zusammengefasst werden: Erstens, das offene Eintreten für und die Forderung nach dem revolutionären Sturz des bürgerlichen Staates durch die Arbeiterklasse; zweitens, die Aufstellung von Forderungen, die die lebendigen Erfahrungen und unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse mit den Erfordernissen der Revolution vermittelten; drittens, völlige taktische Flexibilität im Bezug auf die Masse der reformistisch geführten Arbeiter sowie Aktivitäten in ihren Organisationen und deren Verteidigung gegen den Klassenfeind; viertens, offen ausgesprochene Warnung vor den reformistischen Führern, verbunden mit der Verpflichtung, sie jederzeit zu verteidigen, falls sie von den offenen Kräften der Bourgeoisie direkt angegriffen werden sollten.

20. Während der revolutionären Welle, die mit der Russischen Revolution begann und bis 1921 dauerte, lag die Hauptaufgabe der Bolschewiki mit Blickrichtung auf das internationale Proletariat im Aufbau der Kommunistischen Internationale. Bei deren Gestaltung als revolutionärer Weltpartei war es notwendig, eine klare Scheidelinie zwischen Revolutionären auf der einen und Reformisten bzw. Zentristen auf der anderen Seite zu ziehen. Die entscheidenden Differenzpunkte konzentrierten sich auf die Frage der Strategie: Für den revolutionären Sturz des bürgerlichen Staates oder für dessen Verteidigung, für proletarischen Internationalismus oder Vaterlandsverteidigung, für die Verteidigung Sowjetrusslands oder Krieg gegen Sowjetrussland? Unter den bedrückenden Bedingungen, die in den meisten imperialistischen Ländern damals vorherrschten, ging die Arbeiterklasse politisch nach links, und zumindest in Worten auch die Reformisten und Zentristen, um in ihren führenden Positionen verbleiben zu können. In dieser Situation mussten sich die schwachen kommunistischen Kräfte in jenen Ländern darauf konzentrieren, die wahren Absichten dieser Führer zu entlarven und sie samt ihrer ganzen Politik zu denunzieren. Die organisatorische Schlussfolgerung daraus war die Gründung von gesonderten kommunistischen Parteien bzw. die Umwandlung bestehender sozialistischer Parteien in kommunistische, durch die Säuberung von allen Spuren reformistischer oder zentristischer Politik. Der Komintern gelang auf diese Weise der Aufbau von kommunistischen Parteien. Sie spaltete die zentristische USPD in Deutschland auf dem Kongress in Halle 1920 und zog die Parteimehrheit zu sich herüber. Dadurch vergrößerte sich die Mitgliederzahl der KPD von einigen zehntausend auf eine halbe Million. In Frankreich spaltete sich im selben Jahr die SFIO auf ihrem Kongress in Tours, und die französische kommunistische Partei bildete sich. Im Jahr darauf spaltete sich die italienische PSI. Diesmal vollzog nur eine Minderheit den Bruch und formierte die kommunistische Partei (PCI). Die Komintern beharrte auf programmatischer Geschlossenheit und drückte dies beispielhaft in ihren berühmten 21 Mitgliedsbedingungen aus. Dies war nicht nur wesentlich für die Markierung einer Grenze zwischen Reformisten und Revolutionären in theoretischen Fragen, sondern entsprach auch den konkreten Erfordernissen des Klassenkampfes. Da die Bourgeoisie der Arbeiterklasse einige Zugeständnisse machte, um Zeit zu gewinnen und ihre Kräfte zu sammeln, mussten die Kommunisten gegen die Propaganda der Reformisten auftreten, solche Zugeständnisse seien ausreichend für die Bedürfnisse der Arbeiterklasse und würden die Notwendigkeit einer Revolution aus-ser Kraft setzen.

Die Zugeständnisse konzentrierten sich bezeichnenderweise darauf, gerade die reformistischen Vertreter der Arbeiterklasse in „Macht“positionen zu bringen. Diese verlangten dann von den Arbeitern, die „neue“ Regierung zu verteidigen und ihr Zeit zu geben, damit sie beweisen könne, wie wertvoll sie sei. Keinesfalls sollten die Arbeiter durch weitere Forderungen an die „Gesellschaft“ den Verlust der bestehenden Errungenschaften heraufbeschwören. Die Kommunisten mussten solchen Verrätern und dem Staat, den diese verteidigten, die Mobilisierung der Arbeiter entgegenstellen. In Berlin wurde nach dem Sturz der Hohenzollern-Monarchie die tatsächliche Macht von einem Arbeiter- und Soldatenrat ausgeübt, dessen Milizen in den Straßen patrouillierten. Auch in Wien führte der Sturz der Habsburger zur Herausbildung von Elementen der Doppelmacht, die jedoch von der Sozialdemokratie vergleichsweise schnell abgewürgt wurden. Einen weiteren Beweis für die revolutionären Möglichkeiten und die Gangbarkeit des revolutionären Weges lieferten, trotz ihrer Kurzlebigkeit, die Räterepubliken in Bayern und Ungarn.

Doch außerhalb Russlands überlebte die Bourgeoisie, und die kommunistischen Parteien wurden zwar gegründet, blieben aber eine Minderheit in der Arbeiterklasse. 1921 erkannte die KI auf ihrem 3. Weltkongress, dass die anfängliche revolutionäre Nachkriegswelle vorbei war, und dass die Bourgeoisie nun in die Offensive gegangen war, um die ihr abgerungenen Zugeständnisse wieder zurückzuerobern. Auch die Reformisten, die jene Zugeständnisse politisch ausgehandelt hatten, waren vor dem Angriff der Bourgeoisie nicht sicher. Sie wurden mehr und mehr beiseite geschoben, ihre Nützlichkeit hatte sich überlebt. Die KI entwickelte Taktiken für diese neue Situation und besann sich dabei nicht nur auf die russischen Erfahrungen von 1917, sondern ganz besonders auch auf die Erfahrungen in Deutschland 1919 und 1920.

21. Wie in Russland ging auch in Deutschland die Macht auf die Arbeiterräte über, als die Monarchie im November 1918 stürzte. Wie in Russland wurden diese Räte von reformistischen Führern dominiert, von der SPD unter Noske und Scheidemann. Aber anders als in Russland waren in Deutschland die Reformisten äußerst fest in den Organisationen und Traditionen der Arbeiterklasse verwurzelt. Demzufolge waren die Arbeiter im Sinne einer reformistischen Praxis geschult, die sich real auf den Kampf für ein „Minimalprogramm“ beschränkte. Sie kämpften für Reformen, die zwar tatsächlich im Interesse der Arbeiterklasse waren, aber nicht den grundsätzlichen Rahmen der bürgerlichen Ordnung sprengten. Die deutschen Reformisten konnten ihre führenden Positionen in den Arbeiterräten ausnutzen, um ein solches Minimalprogramm scheinbar zu erfüllen. Die revolutionären Aktionen der Arbeiter fegten Kaiser und Bismarckreich hinweg. Die konterrevolutionären Aktivitäten in der SPD stellten die Herrschaft des reaktionären Generalstabs und der alten Bürokratie wieder her. Dabei wurden die Räte zunächst neutralisiert und danach zerstört. Was dabei herauskam, war das morsche Gebäude der Weimarer Republik. Die deutschen Revolutionäre im Spartakusbund und später in der KPD waren zahlenmäßig schwach und politisch unerfahren im Vergleich mit der Bolschewiki. Kaum gegründet (Dezember 1918), wurde die neue Partei in einen schlecht vorbereiteten Konflikt mit dem bürgerlichen Staat hineingezogen. Noske und Scheidemann benutzten die staatlichen Machtmittel, um die KPD-Führung zuerst in Berlin und dann in Bayern zu isolieren und schließlich zu liquidieren. Ihrer erfahrenste Kader beraubt, musste die KPD in die Illegalität gehen.

Ermutigt durch ihre Erfolge gegen die proletarische Avantgarde versuchte die äußerste Rechte der deutsche Bourgeoisie im März 1920 die sozialen Zugeständnisse zurückzugewinnen und griff die Regierung der Weimarer Republik an. Die Freikorps, eine von der Mehrheit des Generalstabs unterstützte Söldnertruppe, wurden von dem Reichswehroffizier Lüttwitz auf Berlin in Marsch gesetzt; sie sollten dort die Regierung stürzen und eine Militärdiktatur unter der Führung von W.Kapp installieren. Als die Regierung die Reichswehr ersuchte, die Republik zu verteidigen, weigerte sich die Armee unter v. Seeckt einzugreifen. Die Regierung floh nach Dresden und später nach Stuttgart.

Die Führer der deutschen Gewerkschaften mit K. Legien an der Spitze erkannten, dass nicht nur die kommunistischen Arbeiter, sondern auch sie selbst Zielscheibe dieses Angriffs waren und mussten darum die einzige Kraft mobilisieren, mit deren Hilfe sie sich dagegen verteidigen konnten. Sie riefen einen sofortigen Generalstreik zur Verteidigung der Republik aus. Die übergroße Mehrheit der Arbeiterklasse orientierte sich noch an dem politischen Programm ihrer reformistischer Führer und folgte dem Aufruf. Ganz Deutschland befand sich binnen Stunden im Streik. In Berlin patrouillierten wieder bewaffnete Arbeiter. Als die Freikorps abzogen, wurden Arbeiterräte in den größeren Städten gebildet, die Waffenlager gewaltsam geöffnet, ihr Inhalt an die Arbeiter ausgegeben und die größeren Gebäude und Eisenbahnlinien gegen mögliche Anschläge der Konterrevolution gesichert.

Die Führung der KPD hatte ihre besten Vertreter durch die Konterrevolution verloren und zeigte sich unfähig, die scharfe taktische Wende, die diese dramatische Situationswende erforderte, zu bewerkstelligen. Sie erklärte, das Proletariat habe kein Interesse am Ausgang eines Klassenkampfes, der sich im wesentlichen zwischen den Kräften der Konterrevolution abspielen würde. Die KPD-Führung erklärte, die Arbeiter sollten „keinen Finger zur Verteidigung der demokratischen Republik rühren“. Nichtsdestoweniger schuf die Dynamik des Kampfes in ganz Deutschland eine Einheit zwischen Kommunisten, Unabhängigen (USPD) und der Basis der SPD. In Sachsen bestand z.B. der Arbeiterrat aus Abgeordneten aller drei Parteien. Die Berliner Zentrale der KPD musste ihre Position binnen zwei Tagen umkehren. Doch als Legien, aufgeschreckt durch das Wiedererstarken der Reaktion einerseits und die von den Arbeitern gewonnenen Machtpositionen andererseits, die Bildung einer Arbeiterregierung aus SPD, USPD und Gewerkschaften vorschlug, lehnte die KPD jedwede Unterstützung dafür (sogar im Kampf gegen die Reaktion) ab. Die SPD war mehr an ihrem Bündnis mit der „fortschrittlichen“ Bourgeoisie interessiert und war ebenfalls gegen den Aufruf. Sie bildete stattdessen eine Koalition. Danach setzte sie abermals die Reichswehr ein, um genau die Arbeiterräte, die ihr das Leben gerettet hatten, zu vernichten.

Die Antwort der KPD auf den Kapp-Putsch war sektiererisch. Durch die ultimatistische Gegenüberstellung der Revolution gegen die Einheitsfront mit den Arbeitermassen zur Verteidigung ihrer demokratischen Errungenschaften verpasste sie die Möglichkeit, aus dem Kampf heraus das politische Bewusstsein und die unabhängigen Organisationsformen zu entwickeln, um auf diese Weise die SPD zur Rechenschaft zu ziehen und die Entwaffnung der Räte zu verhindern. Obwohl die KPD vom Kapp-Putsch über-rascht wurde, konnte sie im weiteren Verlauf des Jahres an Boden wieder gut machen. Durch ihre Verteidigung der Roten Ruhr-Armee und der Ablehnung des Verrates im „Bielefelder Abkommen“ gewann sie entscheidenden Einfluss im Ruhrproletariat und den linken Flügel der USPD, die hierzu eine opportunistische Haltung eingenommen hatte.

Im Vertrauen auf ihre Massenbasis und wirkliche gesellschaftliche Macht versuchte die KPD-Führung, nun unter Paul Levi, diese Macht zu nützen, um die SPD- und USPD-Führer zum Kampf gegen die rasch aufkommende kapitalistische Offensive (gegen Löhne und Arbeitsplätze) zu zwingen. Im Januar 1921 richtete die KPD einen „Offenen Brief“ an alle Arbeiterorganisationen, worin sie die Formierung einer Einheitsfront zum Kampf um diese Fragen vorschlug. Lenin unterstützte diesen Vorschlag. Nachdem er aber von den Reformisten und Zentristen abgelehnt worden war, wurde die Forderung der Einheitsfront fallengelassen zugunsten des fehlgeleiteten Versuches einer unabhängigen revolutionären Aktion, der März-Aktion von 1921. Der Versuch der KPD, die Arbeiterklasse unvorbereitet zur Revolution aufzuwiegeln, schlug krass fehl. Die Mitgliederzahl halbierte sich, und die rechten Kräfte in Deutschland wurden enorm gestärkt, begünstigt durch die Isolation der Kommunisten und die Feindseligkeit oder zumindest Gleichgültigkeit der Arbeitermassen.

Den reformistischen Führern war es gelungen, die Mehrheit der Arbeiterklasse während der revolutionären Periode 1918-1919 in Schach zu halten, indem sie auf Errungenschaften hinweisen konnten, die ohne Revolution gewonnen worden waren. Das war der Kern des Situationswandels in Deutschland, der die Möglichkeit der gemeinsamen Aktion von Kommunisten mit reformistischen Arbeitern eröffnete. Ein nicht unwesentlicher Teil des traditionellen reformistischen Programms war verwirklicht worden. Die Monarchie war weg, das allgemeine und gleiche Wahlrecht war gewährleistet. Die Fabrikräte waren legalisiert und eine Arbeiterpartei war nun an der Regierung, wenn auch nur in einer Koalition. Diese Errungenschaften seien genug, sagten die Reformisten. Sie könnten dazu benutzt werden, eine vergesellschaftete Wirtschaft zu entwickeln, die die Kapitalisten unter strenger Kontrolle halten würde. Aber als die revolutionäre Flut zurückgegangen war, konnte die Bourgeoisie zur Offensive übergehen, um sich die Macht zurückzuerobern, die sie in den Betrieben und in der gesamten Gesellschaft weitgehend hatte preisgeben müssen.

Sie griff die Zugeständnisse an die Arbeiterklasse an und musste somit auch deren Unterhändler angreifen. Selbst das reformistische Bewusstsein der deutschen Arbeitermassen verlangte, dass für die Verteidigung der Weimarer Republik gekämpft werden müsse. Die Arbeiter gingen also während des Kapp-Putsches auf die Straße, wobei ihre reformistischen Illusionen noch im wesentlichen unangetastet blieben. Als die reformistischen Führer noch ganz auf Seiten der Konterrevolution waren, konnten die Kommunisten nur versuchen, die reformistischen Arbeiter direkt gegen ihre eigenen Führer auszurichten und zu verlangen, dass sie gemeinsame Sache mit den Kommunisten zu kommunistische Bedingungen machen sollten. Jetzt dagegen wurden die reformistischen Arbeiter und ihre Führer angegriffen, und es war möglich, eine Einheitsfront mit deren Führung und Basis vorzuschlagen.

22. In allen Wesenszügen fand dieselbe Entwicklung international im Jahre 1921 und danach statt. Die Schwierigkeiten der KPD mit der Einstellung auf die neue Situation und der Entwicklung flexibler Taktiken, um sie zu meistern, wiederholten sich in den Reihen der Komintern. Der 3. Weltkongreß konzentrierte sich auf die Analyse des tiefgehenden Wandels und die Notwendigkeit einer taktischen Neuorientierung. In seinen „Thesen zur Taktik“ erkannte der 3. Kongress als wichtigste aktuelle Aufgabe „die Gewinnung vorherrschenden Einflusses in der Mehrheit der Arbeiterklasse und die Mobilisierung ihrer entscheidenden Schichten für den Kampf. Denn trotz der objektiv revolutionären politischen wie ökonomischen Situation ist die Mehrheit der Arbeiter noch nicht unter kommunistischem Einfluss; das gilt besonders für Länder, wo das Finanzkapital mächtig ist und wo infolgedessen breite Schichten von Arbeitern vom Imperialismus korrumpiert werden können (z.B England und Amerika).“ (16)

In der „Teilkämpfe und Teilforderungen“ betitelten Entschließung wurde diese Notwendigkeit einer Teilnahme an den Arbeiterkämpfen besonders betont: „Kommunistische Parteien können sich nur im Kampf entwickeln. Sogar die kleinsten unter ihnen sollten sich nicht allein auf Propaganda und Agitation beschränken. Sie müssen die Speerspitze aller proletarischen Massenorganisationen sein. Sie müssen den rückständigen und schwankenden Massen durch praktische Vorschläge für den und durch Druck im Kampf für die Alltagsbedürfnisse des Proletariats aufzeigen, wie der Kampf geführt werden soll, um damit vor den Massen den verräterischen Charakter aller nicht-kommunistischen Parteien bloßzustellen. Nur wenn die kommunistischen Parteien sich an die Spitze der praktischen Kämpfe des Proletariats stellen und diese vorantreiben, können sie wirklich Massen für den Kampf um die Diktatur des Proletariats gewinnen“. (17)

In seinem Schlussmanifest nahm der Kongress noch einmal Bezug auf die Notwendigkeit der direkten Beteiligung an der Seite der Arbeitermassen im Kampf um deren unmittelbare Tagesforderungen: „Die Verräter am Proletariat, die Agenten der Bourgeoisie werden nicht durch theoretische Argumente über Demokratie oder Diktatur geschlagen, sondern durch die Beantwortung der Frage nach Brot, Löhnen und Wohnungen für die Arbeiter.“ (18)

Das Werk des 3. Weltkongresses mit seiner Hauptlosung „Heran an die Massen!“ war aber nur ein Anfang bei der Aufgabe, die benötigten neuen Taktiken auszuarbeiten. Im Dezember 1921 entwickelte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) den logischen Zusammenhang, der in den Thesen des 3. Weltkongresses bereits angelegt war. Wenn es notwendig war, sich an Teil- und Alltagskämpfen zu beteiligen und sie anzuführen, dann war es auch notwendig, solche Kämpfe zu entfachen. Solange eine Mehrheit der Arbeiter noch Vertrauen in ihre reformistischen Organisationen und Führer hatte, musste ihnen eine Zusammenarbeit mit Kommunisten in solchen Tageskämpfen möglich gemacht werden. Dies war die erste bewusste und geplante Anwendung der Einheitsfronttaktik. Viele Sektionen de Komintern hatten große Schwierigkeiten, die neue taktische Ausrichtung zu akzeptieren. Insbesondere jenen, die erst kurz vorher aus den Reihen der reformistischen Parteien herausgebrochen waren, erschien es widersprüchlich, nun zu fordern, dass ihre alten Führer mit den Kommunisten zusammenarbeiten sollten. Für viele erschien diese Taktik gleichbedeutend mit dem „Ausstreuen von Illusionen“ in die reformistischen Führer.

Trotzki hatte eine Auseinandersetzung mit der französischen KP, die besonders gegen diese Politik eingenommen war. In diesem Zusammenhang erläuterte er nochmals sehr eindringlich die Wesensmerkmale der neuen Taktik, ihre Ursprünge in den Erfordernissen des täglichen Kampfes und die Notwendigkeit, die reformistischen Führer durch die Forderung nach gemeinsamer Aktionen festzunageln. Trotzki schreibt: „Die Klassenaktivitäten des Proletariats hören selbstverständlich nicht während der Vorbereitungsphase auf die Revolution auf. Zusammenstöße mit den Fabrikherren, mit der Bourgeoisie insgesamt und mit der Staatsmacht, egal von welcher Seite dabei die Initiative ausgeht, nehmen ihre gewohnten Verlauf. In diesen Zusammenstößen – sofern sie die Lebensinteressen der gesamten Arbeiterklasse oder einer Mehrheit von ihr bzw. des einen oder anderen Teils davon betreffen – verspüren die werktätigen Massen den Wunsch nach Einheit in der Aktion. Gemeint ist die Einheit, dem Angriff des Kapitalismus standzuhalten, und die Einheit, um zum Gegenangriff übergehen zu können. Jede Partei, die sich mechanisch gegen dieses Streben der Arbeiterklasse nach Aktionseinheit stellt, wird in den Augen der Arbeiter unweigerlich verurteilt sein. ( … ) Erstreckt sich die Einheitsfront nur auf die Arbeitermassen oder schließt sie auch die opportunistischen Führer mit ein? Die bloße Frage ist schon ein Missverständnis. Wenn wir die Arbeitermassen einfach um unser Banner oder unsere praktischen, unmittelbaren Losungen scharen und auf diese Weise die reformistischen Organisationen – seien es Parteien oder Gewerkschaften – überspringen könnten, wäre das natürlich die beste Sache der Welt. Aber dann würde die Frage der Einheitsfront sich gar nicht in der vorliegenden Form stellen. Das Problem ist, dass bestimmte, sehr bedeutende Teile der Arbeiterklasse reformistischen Organisationen angehören oder sie unterstützen. Ihre momentane Erfahrung ist noch nicht ausreichend, um sie zum Bruch mit den reformistischen Organisationen und zum Anschluss an uns zu befähigen. Gerade nach unserer Beteiligung an jenen Massenaktivitäten, die an der Tagesordnung sind, könnte ein größerer Umschwung hinsichtlich dieser Bindungen stattfinden. Gerade das streben wir an. Aber gegenwärtig sind die Dinge noch nicht so weit gediehen. (…)

Kommunisten dürfen sich, wie gesagt, solchen Aktionseinheiten nicht entgegenstellen, sondern müssen vielmehr sogar die Initiative dafür ergreifen. Je größere Massen nämlich in die Bewegung einbezogen werden und je höher ihr Selbstvertrauen steigt, desto mehr Selbstvertrauen wird die Massenbewegung insgesamt haben und desto entschlossener wird sie voranschreiten können, wie gemäßigt die Ausgangslosungen im Kampf auch gewesen sein mögen. Und das heißt auch, dass die Massenhaftigkeit einer bestimmten Bewegung an sich schon ein Faktor ist, der die Radikalisierung der Bewegung begünstigen kann und viel bessere Bedingungen für unsere Aktionslosungen und Kampfmethoden, sowie für die Führungsrolle der kommunistischen Partei im allgemeinen erzeugt.” (19)

Aber die Komintern sah auch klar die Gefahren der Einheitsfront als Taktik. Sie könnte zum Deckmantel für einen friedlichen Nichtangriffspakt mit den reformistischen Führern werden. Letztere werden natürlich immer die Einstellung „destruktiver“ Kritik verlangen. Darauf können Kommunisten niemals eingehen, weil das bedeuten würde, dass unmittelbar anstehende Kämpfe nur mit einer letzten Endes opportunistischen Perspektive geführt werden könnten.

Das EKKI forderte daher die „absolute Unabhängigkeit einer jeden KP, die ein Abkommen mit den Parteien der 2. oder 2 1/2. Internationale trifft, ihre vollständige Freiheit in der Darlegung eigener Anschauungen und in der Kritik an den Gegnern des Kommunismus. Kommunisten akzeptieren eine Aktionsgrundlage, aber behalten sich das unbedingte Recht und die Möglichkeit vor, ihre Meinung über die Politik aller Arbeiterorganisationen ohne Ausnahme frei zu äußern, und zwar nicht nur vor oder nach einer Aktion, sondern falls nötig auch WÄHREND IHRES VERLAUFES. Unter keinen Umständen sind diese Rechte veräußerlich. Kommunisten unterstützen die Losung der größtmöglichen Einheit aller Arbeiterorganisationen in jeder PRAKTISCHEN AKTION GEGEN DIE KAPITALISTISCHE FRONT. Sie lassen aber unter keinen Umständen davon ab, ihre Anschauungen zu propagieren, die der einzige zusam-menhängende Ausdruck der Verteidigung proletarischer Klasseninteressen insgesamt sind.“ (20)

Außerdem war die Einheitsfront nicht in erster Linie ein Versuch zur Übereinkunft mit reformistischen Führern, sondern ein Aufruf an die hinter ihnen stehenden Massen. Die Einheitsfront sollte von oben und unten gleichermaßen angesetzt werden: „Was ist die Einheitsfront und was will sie bewirken? Die Einheitsfront sollte keine bloße Verbrüderung von Parteiführern sein. Die Einheitsfront wird nicht durch bloße Abmachungen mit jenen „Sozialisten“ geschaffen, die kurz zuvor noch Mitglieder bürgerlicher Regierungen waren. Einheitsfront bedeutet Zusammenschluss aller Arbeiter, gleich ob Kommunist, Anarchist, Sozialdemokrat, unabhängig, parteilos oder  gar christlich organisiert, gegen die Bourgeoisie. Die Einheitsfront wird gegenüber den Führern praktiziert, wenn sie unbeteiligt abseits stehen; sie wird aber ihnen zum Trotz durchgesetzt und gegen sie gerichtet, wenn sie die Arbeiterkämpfe sabotieren.“ (21)

Wo die Reformisten sich der Formierung einer Einheitsfront widersetzen, sollten Kommunisten nicht auf bequeme literarisch-polemische Denunziationen ausweichen, sondern „auch eine lokale Einheitsfront aufbauen, ohne dabei auf die Erlaubnis von Führern der 2. Internationale zu warten.“ (22)

Wenn Einheitsfronten auf begrenzte Aktionen hin angelegt sind, bedeutet die Aufrechterhaltung eines Blocks mit den reformistischen Führern während oder nach einem Verrat an einer solchen Aktion nichts anderes als eine Komplizenschaft mit ihnen. Aus diesem Grunde kritisierte Trotzki die russischen Gewerkschaften, die während des britischen Generalstreiks an der Seite des britischen Gewerkschaftsverbandes im Anglo-Russischen Komitee verblieben waren: „Vorübergehende Abkommen können mit den Reformisten geschlossen werden, wenn sie einen Schritt vorwärts machen. Aber wenn sie erschreckt durch die Bewegung Verrat begehen, ist die Aufrechterhaltung eines Blocks mit ihnen gleichbedeutend mit krimineller Duldung von Verrätern und einer Verschleierung des Verrats.“ (23)

Die leninistische Komintern in den frühen 20er Jahren und auch Trotzki in den 20er und 30er Jahren betonten stark den begrenzten und besonderen Charakter der Forderungen und Losungen, um die herum eine Einheitsfront angeboten werden sollte. In den 20er Jahren hob Trotzki folgendes hervor: „Wie beschränkt die Losungen auch sein mögen, alles was den Massencharakter einer Bewegung entfaltet, bringt die Reformisten in Verlegenheit, deren bevorzugte Betätigungsfelder die parlamentarische Tribüne, die Gewerkschaftsbüros, die Schiedsstellen und die Vorzimmer der Minister sind.“ (24)

23. Der der Einheitsfront angemessene Organisationstyp ist eine Kampforganisation – keine propagandistische oder programmatisch fundierte Organisation. In diesem Sinne ist eine Gewerkschaft eine Einheitsfront. Korrekter ausgedrückt: eine  Einheitsfront schafft direkte, den anstehenden Aufgaben angemessene Kampforgane. Das können Streikausschüsse, Aktionskomitees und auf höchster Ebene Arbeiterräte (Sowjets) sein. Solche für den Kampf lebensnotwendigen Organe verstärken den Druck auf die reformistischen Führer, „mit der Bourgeoisie zu brechen“.

Die Einheitsfront ist eine Taktik, um ein Höchstmaß an Einheit in der Aktion zu erreichen, für begrenzte, direkte oder defensive Ziele, wenn die Kräfte des Proletariats zersplittert sind und Reformisten bzw. Zentristen noch bedeutende Teile der Klasse oder gar deren große Mehrheit anführen. Gleichzeitig ist die Einheitsfront eine Taktik zur Entlarvung der reformistischen Führer als Verräter selbst an den geringeren und unmittelbaren Zielen der Arbeiter, eine Taktik zur Gewinnung der Massen für eine kommunistische Führung. Trotzki erläuterte die Frage der Einheitsfront, und wie sie sich im Gesamtzusammenhang der revolutionären Strategie zu anderen Taktiken verhält:

„Die Einheit des Proletariats als allumfassende Losung ist ein Mythos. Das Proletariat ist nicht einheitlich. Die Spaltung fängt mit dem ersten politischen Er-wachen an und bildet den natürlichen Mechanismus seiner Bewusstwerdung. Nur unter den Bedingungen einer herangereiften Gesellschaftskrise kann die proletarische Avantgarde, die Machtergreifung als unmittelbare Aufgabe vor Augen und mit einer korrekten Politik ausgerüstet, die überwiegende Klassenmehrheit um sich scharen. Aber der Aufstieg zum revolutionären Gipfel vollzieht sich auf den Stufen fortgesetzter Spaltungen. Die Politik der Einheitsfront ist nicht eine Erfindung Lenins; wie die Spaltung im Proletariat musste auch sie mit Notwendigkeit aus der Dialektik des Klassenkampfes heraus entstehen. Erfolge wären unmöglich ohne vorübergehende Absprachen, um der Erfüllung unmittelbarer Aufgaben willen, zwischen verschiedenen Teilen, Organisationen oder Gruppen des Proletariats …(diese Kämpfe) erfordern eine SOFORTIGE Einheitsfront, auch wenn sie nicht immer genau diese Form annimmt … Auf einem bestimmten Niveau wird der Kampf um die Aktionseinheit von einer elementaren Tatsache zu einer taktischen Aufgabe. Die bloße Formel der Einheitsfront löst keine Probleme … Die taktische Anwendung der Einheitsfront muss in jeder Phase einer klar marxistischen strategischen Konzeption unterworfen sein. Zur Vorbereitung auf die revolutionäre Vereinigung der Arbeiter, ohne und gegen den Reformismus, ist eine lange und geduldige Erfahrung in der Anwendung der Einheitsfront gegenüber den Reformisten vonnöten; natürlich immer unter dem Gesichtspunkt des revolutionären Endziels.“ (25)

Wie sieht das Verhältnis von Strategie und Taktik aus? Trotzki macht in seiner Schrift „Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche“ dazu klare Aussagen: „Mit der taktischen Konzeption ist ein System von Maßnahmen gemeint, das einer momentanen Aufgabe oder einem Teilziel des Klassenkampfes dient. Revolutionäre Strategie umfaßt hingegen eine kombinierte Kette von Aktionen, die kraft ihrer Bündelung und ihres Zusammenhangs das Proletariat zur Machteroberung führen können.“ (26)

Von daher ist jede Einheitsfront oder Art von Einheitsfront nur eine Taktik und Bestandteil einer umfassenden Strategie, die Spaltungen, Brüche und schließlich die Vereinigung der Mehrheit der Klasse unter der revolutionären Avantgarde im Kampf um die Macht mit einschließt. In diesem Kampf befinden sich die reformistischen Führer höchstwahrscheinlich im Lager der Konterrevolution und können höchstens neutralisiert werden. Trotzki betonte immer wieder, dass keine Form der Einheitsfront mit dem Weg zum Kommunismus gleichbedeutend sein kann: „Die Politik der Einheitsfront mit Reformisten ist Pflicht, aber sie ist notwendigerweise auf Teilaufgaben beschränkt, insbesondere auf Verteidigungskämpfe. Es kann keinen Gedanken an die Durchführung der sozialistischen Revolution in einer Einheitsfront mit reformistischen Organisationen geben.“ (27)

Die von der Komintern zu Anfang der 20er Jahre vertretene Form der Einheitsfront war die Einheitsfront der Arbeiterparteien und Gewerkschaften. Unter den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der kapitalistischen Offensive, aber auch wegen der zuvor in mehreren Ländern erfolgten Formierung politisch unabhängiger kommunistischer Parteien war dies möglich. Die wichtigsten kommunistischen Parteien waren in der Position, gemeinsame Aktionen zwischen ihnen und nicht-kommunistischen Organisationen als realistischen Beitrag zum Zusammenschluss der Arbeiterklasse vorschlagen zu können. In Situationen, wo die kommunistischen Kräfte jedoch gering und ohne großes Gewicht sind, können die Prinzipien, auf denen die KI die Taktik der Arbeitereinheitsfront aufgebaut hat, auch noch andere Formen der Einheitsfront erlauben. In den Jahren vor der Machtübernahme durch die Nazis in Deutschland propagierte Trotzki die Formierung einer „Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus“, obwohl die trotzkistischen Kräfte in Deutschland verschwindend gering waren.

Trotzki betonte die Unabdingbarkeit konkret zu stellender Forderungen und die Notwendigkeit, die völlige Unabhängigkeit der kommunistischen Kräfte zu wahren: „Das Aktionsprogramm muss ganz praktisch sein, ohne irgendwelche künstlichen ‚Ansprüche‘ und Vorbehalte, so dass sich ein durchschnittlicher sozialdemokratischer Arbeiter sagen kann: Was die Kommunisten da vorschlagen, ist völlig unverzichtbar im Kampf gegen den Faschismus.“ (28)  Aber gleichzeitig: „Keine gemeinsame Plattform mit der Sozialdemokratie oder den Führern der deutschen Gewerkschaften, keine gemeinsamen Publikationen, Spruchbänder oder Plakate! Getrennt marschieren, aber vereint schlagen! Absprachen nur über das Wie, Wann und Wo der Aktion! Eine solche Übereinkunft kann mit den Teufel persönlich, mit des Teufels Großmutter und sogar mit Noske und Grzesinski geschlossen werden. Unter einer Bedingung: sich nicht die eigenen Hände zu binden.“ (29)

Die Forderung nach einer Einheitsfront der Arbeiterorganisationen hängt demnach nicht von der Existenz einer revolutionären Partei ab, die groß genug ist, ein formales Einheitsfrontabkommen einzugehen, sondern von der objektiven Notwendigkeit einer Einheitsfront, wenn die Arbeiterklasse angegriffen wird und sie in sich gespalten ist. Aber auch in Zeiten relativer Ruhe des Klassenkampfes oder wenn sich die Arbeiterklasse in der Offensive befindet oder wenn die Arbeiterklasse in der Lage ist, der Bourgeoisie Zugeständnisse abzuringen, ist jede Möglichkeit, Einheitsfronten zu bilden, wahrzunehmen, um die Arbeiterklasse einer Einheit unter revolutionärer Führung näherzubringen. Die Logik des Klassenkampfes macht die Aktionseinheit erforderlich; den Kommunisten kommt dabei die Rolle zu, bewusst in solche Situationen zu intervenieren und die Forderungen und Methoden einzubringen, die die Klasse unter den gegebenen Umständen voranbringen können.

Die Einheitsfront der Massenorganisationen der Arbeiterklasse bzw. die agitatorische oder propagandistische Forderung danach erschöpft allerdings noch nicht das taktische Waffenarsenal, das von der KI erarbeitet und von den Kräften der Linken Opposition, der Internationalen Kommunistischen Liga und der IV. Internationale weiterentwickelt worden ist. Diese Taktiken wurden besonders für Situationen entwickelt, wo Revolutionäre unter äußerst ungünstigen Bedingungen antreten mussten, wo der Reformismus einen scheinbar unerschütterlichen Einfluss auf die Arbeitermassen ausübte und wo die Kommunisten wenig oder gar keinen Kontakt mit den Alltagsaktivitäten der Arbeiterklasse hatten. Das trifft auch auf die Gegenwart zu, wo diese Taktiken von besonderer Bedeutung für Revolutionäre sind, die aus ihrer Isolation ausbrechen, die politische Methode und das Programm des revolutionären Marxismus wiederherstellen und ihren führenden Platz in den Reihen der Arbeiterorganisationen einnehmen wollen.

Die Taktik der Labor Party

24. Um die Arbeiterklasse wirksam in eine zentralisierte Offensive gegen die bürgerliche Staatsmacht zu führen, ist eine demokratisch-zentralistische Kaderpartei unbedingt notwendig. Eine solche Partei muss große Massen hinter sich bringen, um auch die zum jeweiligen Zeitpunkt im Kampf befindliche vorderste Linie der proletarischen Kämpfer mit zu erfassen. Keine Sekte, die sich selbst zur Vorhut ernennt, kein „historischer Prozess“ und keine zentristischen Strömungen können der Partei diese Aufgabe abnehmen. Die Partei muss in den und durch die Kämpfe der Arbeiterklasse aufgebaut werden.

In der ersten Phase der imperialistischen Epoche haben bei der Bewältigung dieser Aufgabe revolutionäre Marxisten in manchen Ländern die Führung übernommen und Massenkaderparteien geschaffen. Doch auch damals stieß dieser Prozess in bestimmten Ländern, vor allem im angelsächsischen Bereich (Britannien, USA, Australien usw.), auf das mächtige Hindernis einer gewerkschaftlichen Massenbewegung, deren Führer mit einer bürgerlichen Partei verbunden waren. In Britannien bildeten die Gewerkschaftsführer eine Unterabteilung der Liberalen Partei (die sogenannten Lib-Labs). In den USA waren die Führer des Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO seit den 30er Jahren auf ähnliche Weise ein Bestandteil der Demokratischen Partei. In den entwickelteren halb-kolonialen Ländern, z.B. in Argentinien, bleibt die Gewerkschaftsbürokratie an den bürgerlichen Nationalismus gebunden.

Um mit solchen Situationen. fertig zu werden, haben revolutionäre Marxisten eine Variante der Einheitsfronttaktik entwickelt, die zum Bruch der Gewerkschaften oder anderer proletarischer Massenorganisationen mit ihrer politischen Anbindung an die Bourgeoisie führen und die Erkenntnis der Unabdingbarkeit einer revolutionären Partei vermitteln soll.

Diese Taktik nennen wir die „Taktik der Labor Party“ (Arbeiterpartei). (30)  Sie zielt natürlich nicht auf die Schaffung von reformistischen Arbeiterparteien ab. Tatsächlich ist sie auf die Verhinderung der Bildung einer verschleierten bürgerlichen Partei ausgerichtet, zumal sie von der Losung des Bruchs mit der Bourgeoisie ausgeht. Formal unabhängige reformistische Parteien sind unabhängig nur im Wahlkampf, aber nicht im Klassenkampf. Ziel der Taktik der Arbeiterpartei ist die Erleichterung der Schaffung einer revolutionären Avantgardepartei der Arbeiterklasse, die die Führung in den Gewerkschaften erringen kann. Wo immer sich eine gesonderte Arbeiterpartei formiert, die sich auf die Gewerkschaften stützt, wird ihr Charakter – reformistisch oder revolutionär – durch den Kampf bestimmt. Die Taktik der Arbeiterpartei entsprang natürlich nicht voll ausgeprägt den Köpfen von Engels, Lenin oder Trotzki. Alle drei trugen allerdings zur Entwicklung dieser Taktik bei, und Trotzki gab ihr in den späten 30er Jahren die endgültige Form.

Zu Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts meinten viele Marxisten, dass die Schaffung einer Arbeiterpartei an sich schon eine historisch progressive Tat sei.

Diese Meinung wurde sogar in Bezug auf Britannien und Australien für richtig gehalten, wo die betreffende Partei nicht das marxistische Programm vertrat. Engels‘ Haltung zur britischen Arbeiterbewegung war ein prägnantes Beispiel hierfür. Die imperialistische Konkurrenz begann zu Ende des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft des britischen Imperialismus zu schwächen. Die Beschränktheit der britischen Arbeiterbewegung, die sich auf den Trade-Unionismus und ein politisches Bündnis mit der offen bürgerlichen Liberalen Partei gestützt hatte, wurde offenbar. Die Verteidigung bzw. Anhebung des Lebensstandards erforderte ein politisches Instrument, das unabhängig von den offen bürgerlichen Unternehmerparteien war. Die Notwendigkeit einer unabhängigen Partei der Arbeiterklasse stellte sich in scharfer Form. Der reformistische Arbeitervertretungsausschuss (1900) und später die Labour Party (1906) waren das Ergebnis eines Bruches der Gewerkschaften mit den Liberalen und einer Hinwendung zu eigenständiger politischer Vertretung. Dieses reformistische Ergebnis war aber keineswegs von Anfang an vorherbestimmt. Ein korrektes Eingreifen von Revolutionären hätte möglicherweise die Etablierung der Partei als bürgerliche Arbeiterpartei verhindern können, oder hätte zumindest eine revolutionäre alternative Führung der Massen innerhalb oder außerhalb dieser Partei etablieren können. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine reformistische Partei bildet, hätte Marxisten trotz ihrer anfänglichen zahlenmäßigen Unterlegenheit nicht davon abhalten dürfen, sich am Formierungsprozess dieser Partei auf ihre Weise zu beteiligen. Der Zustand der Marxisten als verschwindend kleine Minderheit wäre dabei nicht entscheidend gewesen. Lenin merkte 1907 an: „Engels bestand darauf, wie wichtig eine unabhängige Arbeiterpartei sei, selbst mit einem schlechten Programm, weil er von Ländern sprach, wo bis dahin nicht das geringste Anzeichen einer politischen Unabhängigkeit der Arbeiter vorhanden war – wo die Arbeiter meistens der Politik der Bourgeoisie gefolgt sind und dies auch weiterhin tun.” (31)

Engels trat dafür ein, dass die Massen ihre -Erfahrungen mit der Bildung einer Partei machen müssen, und dass sie davon lernen könnten und lernen würden. 1889 schrieb er an Sorge über die Erhebung der Arbeiterklasse: „Die Bewegung ist jetzt endlich im Gang, und wie ich glaube, endgültig. Aber nicht direkt sozialistisch, und diejenigen Leute, die unter den Engländern unsre Theorie am besten verstanden, stehn außer ihr. (…) Dabei sehn die Leute ihre momentanen Forderungen selbst nur als provisorisch an, obwohl sie selbst noch nicht wissen, auf welches Endziel sie hinarbeiten. Aber diese dunkle Ahnung sitzt tief genug in ihnen, um sie zu bewegen, nur offenkundige Sozialisten zu Führern zu wählen. Wie alle andern müssen sie durch ihre eignen Erfahrungen, an den Folgen ihrer eignen Fehler lernen. Aber da sie, entgegen den alten Trades Unions, jede Andeutung von der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit mit Hohngelächter aufnehmen, wird das nicht sehr lange dauern.“ (32)

Der hier enthaltene perspektivische Ansatz, den Engels oft wiederholte und der sich auf die offensichtliche Schwächung der ökonomischen Position Britanniens stützte, sollte sich als falsch erweisen. Engels konnte nicht das massive Wachstum imperialistischer Ausbeutung vorhersehen, das den Reformismus in der Arbeiterklasse stärken sollte. Dies zu verstehen und zu bekämpfen war die Aufgabe der nächsten Generation von revolutionären Marxisten. Engels erkannte aber, dass die Einheit von Marxisten und Nicht-Marxisten beim Aufbau einer proletarischen Klassenpartei kein Hemmnis war für den Kampf um unabhängige Klassenpolitik innerhalb einer solchen Partei. Das war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung der Taktik der Labor Party (Arbeiterpartei) in den USA durch die Komintern und später durch Trotzki.

25. Die kommunistische Bewegung in den USA entstand aus der schlimmen Krise der amerikanischen sozialistischen und syndikalistischen Bewegung während des 1. Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren. Sie entstand als eine gespaltene und verfolgte Bewegung, die von der großen Masse der amerikanischen Arbeiter isoliert war und die von Taktiken zur Oberwindung dieses Zustandes nicht viel hielt. Die Komintern führte einen sehr langen Kampf für die Vereinigung der Bewegung und gegen die sektiererischen Elemente darin. Die Wende kam auf dem 3. Kongress der KI im Jahre 1921.

Dort wurde die Kampagne der kommunistischen Parteien für die Gewinnung der Massen mittels praktischer Aktionseinheiten gegen die Unternehmer begründet. Auf dem Kongress wurde zwar nichts im Hinblick auf die Einheitsfront in Amerika beschlossen, doch Lenin stellte hier den US-Delegierten zum ersten Mal die Frage nach einer Labor Party. Auf dem 4. Kongress 1922 hatten die gerade aus dem Untergrund als „Workers Party“ aufgetauchten amerikanischen Kommunisten bereits eine Position zugunsten der Taktik der Labor Party zu entwickeln begonnen. Im Mai 1922 verabschiedete die Workers Party ein Thesenpapier zur Einheitsfront, das die Labor Party als besondere Form der Einheitsfront in den USA anerkannte. Im Oktober desselben Jahres veröffentlichte der Vertreter der KI in den USA, Pepper, eine Broschüre mit den Titel „Für eine Labor Party!“. Er stellte darin die Labor Party als Partei der gesamten organisierten Arbeiterklasse dar, aber mit dem Ziel „der Abschaffung der Lohnsklaverei, der Errichtung einer Arbeiterrepublik und eines kollektiven Produktionssystem.” (33)

Doch bei der praktischen Anwendung dieser besonderen Form der Einheitsfront zeigten die amerikanischen Kommunisten nur ein beschränktes Verständnis bezüglich der prinzipienfesten Handhabung einer solchen Taktik.

1923 berief die Workers Party eine Konferenz zur Gründung einer Labor Party ein, zusammen mit der reformistisch geführten Chicago Federation of Labor und der populistischen Farmer-Labor-Bewegung (einem losen Zusammenschluss von Parteien aus verschiedenen Bundesstaaten). Auf dieser Konferenz stellten die Kommunisten ausschließlich die Notwendigkeit der raschen Parteigründung in den Vordergrund. Es wurde eher über den Zeitpunkt der Parteigründung als über die politischen Inhalte diskutiert. Dieser Organisationsfetischismus der Kommunisten beschwor eine vorzeitige Spaltung mit den reformistischen Gewerkschaftsführern herauf. Die Kommunistische Partei machte sich daran, die “Federated Farmer-Labor Party“ (FFLP) zu gründen. Durch erfolgreiche Konferenztaktik gewannen die Kommunisten die Kontrolle über jene Partei, aber das erwies sich als ein Pyrrhussieg. Die FFLP war nur der vergrößerte Schatten der Kommunisten und keine Massenpartei der amerikanischen Arbeiterklasse. Sie wollte sich auf zwei Klassen stützen, Farmer und Arbeiter, und sie hatte kein revolutionäres Programm.

In der Workers Party waren James P. Cannon und der frühere Syndikalist William Z. Foster die Hauptgegner dieser Orientierung auf die FFLP. Ihre Gegnerschaft beruhte freilich nicht auf dem politischen Inhalt der FFLP, sondern darauf, dass der Bruch mit Fitzpatrick von der Chicago Federation of Labor die kommunistischen Kämpfer von den „Fortschrittlichen“ in den AFL-Gewerkschaften isoliert hatte. Sie betrieben eine rechte Opposition gegen Pepper, den Befürworter dieses Bruches. Cannon gab selber zu, dass er damals „ausgesprochen rechts“ gewesen war. (34) Pepper beharrte andererseits darauf, dass die FFLP eine Massenpartei und ein Sieg für die Kommunisten sei. Über den programmatischen Inhalt dieser Taktik gab es keine Auseinandersetzungen. Das wurde durch die allseitige Unterstützung für Peppers späteren Plan bestätigt, die FFLP als Wahlhilfe für einen mittelständischen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 1924 einzuspannen.

Sowohl Pepper wie auch Cannon sahen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die Unterstützung des liberalen Senators La Follette aus Wisconsin als Mittel zur Rechtfertigung ihrer jeweiligen Orientierung an. Cannon sah darin ein Mittel für die Partei, eine neue Brücke zu den fortschrittlichen Gewerkschaftern zu schlagen, die mit La Follette sympathisierten. Auf der anderen Seite entwickelte Pepper eine Theorie, wonach die amerikanischen Farmer die wahre revolutionäre Kraft im Lande wären. Durch die Unterstützung La Follettes könnte die FFLP mit diesen Farmern zusammengehen und so ein Bündnis mit dem Kleinbürgertum in Gestalt einer Zweiklassenpartei zustandebringen. Diese Partei würde dann eine dritte (bürgerlich-demokratische) amerikanische Revolution hervorrufen, die schließlich den Weg für eine vierte, proletarische, ebnen würde. Das war eine frühe Fassung von Stalins menschewistischer „Etappenstrategie“. Erst das Eingreifen der Komintern vereitelte diese Pläne in Amerika. Der Einspruch der KI zwang die amerikanischen Kommunisten, mit allen Teilen der Farmer-Arbeiter-Bewegung vollkommen zu brechen, die FFLP aufzulösen und eine „Linkswendung“ zu vollziehen. Die von Sinowjew geführte KI legte der amerikanischen Kommunistischen Partei nahe, ihre Irrtümer zu korrigieren, indem sie nun La Follette als Faschisten beschimpfen sollte!

Das ganze Experiment deckte eine grundlegende Schwäche in der Taktik der Labor Party auf, wie sie von den amerikanischen Kommunisten verstanden wurde. (35)  Ausgehend von einem sektiererischen Fernbleiben von der wirklichen Labor-Party-Bewegung 1919 landeten die Kommunisten schließlich bei einer Position, die die Gründung einer Labor Party ohne Rücksicht auf die Inhalte ihres Programms als taktisches Ziel betrachtete. Das musste sie zur Übernahme einer Rolle als wohlgesonnener Geburtshelfer für eine reformistische Labor Party führen. Die „linke“ Alternative hierzu sah nicht besser aus; sie bestand darin, die auf politische Unabhängigkeit gerichteten Bewegungsansätze in den Gewerkschaften faktisch zu hintertreiben. Cannon dachte gewiss an eine reformistische Labor Party und fasste sogar ein Bündnis für eine dritte (bürgerliche) Partei über alle Klassen hinweg ins Auge. Der Fehler dabei lag in dem Rückgriff auf den Ratschlag von Engels aus den 1880er Jahren, ohne die Bedeutung der Spaltung in der 2. Internationale und die programmatische Entwicklung der 3. Internationale zu berücksichtigen. Diese Position ging von der nicht mehr gültigen Voraussetzung aus, dass jede Art von Arbeiterpartei einen unbedingten Schritt vorwärts darstellen würde. Die Verwirrung darüber hielt sogar unter den besten revolutionär-kommunistischen Elementen bis Ende der 30er Jahre an.

26. In der Komintern und der amerikanischen Partei vereitelte das Aufkommen des Stalinismus eine kritische Würdigung der Periode von 1922/23. Als sich die amerikanische Linke Opposition formierte, übernahm sie einfach die Position der KP von früher her. Cannons Programm der Linken Opposition in Amerika stellte fest: „Die Perspektive einer Labor Party als erster Schritt in der politischen Entwicklung der amerikanischen Arbeiter gilt heute genauso wie 1922, als diese Position nach scharfem Kampf in der Partei und auf dem 4. Kongress der KI angenommen wurde, obwohl die Formen und Methoden ihrer Verwirklichung heute etwas von denen abweichen, die damals angezeigt waren.“ (36)

Das Programm kritisierte wohl die Initiativen zur Etablierung einer Schein-Labor-Party (z.B. die FFLP), griff Peppers Idee von einer Zweiklassen-„Farmer-Arbeiter“-Partei an und rief stattdessen zur Bildung einer wirklichen Labor Party sowie zu einem Bündnis mit den armen Farmern auf. Doch der Kardinalfehler von 1922/23, nämlich eine solche Parteigründung an sich schon als notwendigen Schritt zu erachten, wurde wiederholt. Die innere rechte Logik des Fehlers wurde nicht erkannt. Diese Position veranlasste Trotzki 1932 zu einer Kritik an den amerikanischen Trotzkisten.

Trotzkis Kritik fußte auf der Abneigung gegen die Idee, dass Revolutionäre von sich aus zur Bildung einer Labor Party aufrufen sollten. So wie Cannon die Losung aufstellte – für eine reformistische Labor Party – traf Trotzkis Kritik ins Schwarze. Einerseits hatte die Phase relativer kapitalistischer Prosperität bis 1929 der Massenbewegung für eine Labor Party das Wasser abgegraben. Andererseits hätte ein Sieg der Linken Opposition in der Komintern eine erneuerte revolutionär-kommunistische Partei in die Lage versetzt, sich selbst an die Spitze der Arbeiterklasse zu stellen, wenn deren Milltanz wiedererwacht wäre. Außerdem war die Praxis, Langzeitblöcke mit Reformisten bzw. kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalisten zu bilden, der Kern des Stalin/Bucharinschen Verrats in China und Britannien gewesen. Dies war weiterentwickelt worden zu einer ausgewachsenen Etappentheorie. Für Trotzki war die Schaffung einer reformistischen Partei nicht der ersehnte „erste Schritt“, sondern eine potentielle Barriere für die revolutionäre Entwicklung der amerikanischen Arbeiter. Aus den genannten Gründen folgerte er: „Die Schaffung einer Labor Party kann nur hervorgerufen werden durch starken revolutionären Druck der werktätigen Massen und eine wachsende Bedrohung durch den Kommunismus. Unter diesen Umständen ist völlig klar, dass die Labor Party keine fortschrittliche Entwicklung für die Arbeiterklasse darstellen würde.“ (37)

Trotzkis Kritik an den rechten Positionen der amerikanischen Genossen war zwar an sich korrekt, aber mit dem Makel behaftet, dass er sich der Einschätzung anschloss, eine Labor Party sei nur als reformistische Partei denkbar. Trotzkis Anschauung war auf die Unterstellung verkürzt, eine Labor Party sei entweder nutzlos oder reaktionär. Als unnütz würde sie sich erweisen, falls es ein massenhaftes Anwachsen von revolutionärem Bewusstsein gäbe. In diesem Falle würde sich eine kommunistische Massenpartei formieren. Reaktionär wäre die Labor Party, falls die Gewerkschaftsbürokraten zur Kontrolle über die Bewegung imstande wären. Diese Anschauung war weit undialektischer als seine spätere Position, weil sie eine, Situation aus-schloss, die beide Erscheinungen miteinander kombinierte, und wo der Druck der Massen für die Schaffung einer Labor Party gegen die reformistischen Führer gewendet werden konnte.

Seine spätere Perspektive (vgl. das Übergangsprogramm von 1938) war geprägt von einem Verständnis für die Tiefe der imperialistischen Krise und die Bewusstseinsstagnation der Arbeiterklasse. Daraus ergab sich eine schwere Führungskrise in den proletarischen Organisationen. So war es lebensnotwendig für Revolutionäre, in vorwärtsweisenden Bewegungen der Arbeiterklasse intervenieren zu können, auch wenn diese noch unter reformistischem Einfluss standen. Eine solche Intervention war notwendig, um die Arbeiter für wirksame Taktiken und eine zusammenhängende antikapitalistische Strategie zu gewinnen. So kann im Feuer des Kampfes eine alternative Führung geschmiedet und die Führungskrise gemeistert werden.

Der Aufstieg der großen Industriegewerkschaften (die CIO-Bewegung) Mitte der 30er Jahre war die Grundlage für Trotzkis Wiederaufarbeitung der Taktik der Labor Party, die nun im Lichte der vollentfalteten Methode des Übergangsprogramms neu entworfen wurde.

27. Auf ihrer Gründungskonferenz wiederholte die amerikanische Socialist Workers Party (SWP) Trotzkis Position von 1932 zur Labor Party fast wortgetreu. Trotzki kritisierte sie deswegen und kämpfte für eine Umkehr der Parteiposition um 180 Grad.

Bei der Ausarbeitung seiner Position von 1938 berücksichtigte Trotzki zwei neue Entwicklungen. Zunächst analysierte er den Aufstieg der CIO als einen Faktor, der das Bewusstsein der Arbeiterklasse über die Notwendigkeit politischer Aktionen beleben würde. Zu diesem Zweck würden sie eine politische Partei brauchen. Er stellte die Alternative für die Arbeiterklasse folgendermaßen dar: „Es ist eine objektive Tatsache, dass die von der Arbeitern neu geschaffenen Gewerkschaften in eine Sackgasse geraten sind, und der einzige Weg für die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter besteht darin, mit vereinten Kräften die Gesetzgebung und den Klassenkampf zu beeinflussen. Die Arbeiterklasse steht vor der Alternative: entweder Auflösung der Gewerkschaften oder Zusammenschluss zur politischen Aktion.“ (38)

Mit anderen Worten: die objektive Lage erforderte klar eine Arbeiterpartei. Wenn allerdings Millionen von Arbeitern in der CIO zur politischen Aktion übergingen, würde dies von der reformistischen Führern wahrscheinlich in eine nur reformistische Richtung kanalisiert werden. Revolutionäre können es sich nicht leisten, auf irgendeiner Stufe der politischen Entwicklung der Arbeiter abseits zu stehen, wenn sie die Chance haben wollen, diesen Prozess in eine revolutionäre Richtung zu lenken. Zu diesem Zweck müssen sie sich mit den Millionen von reformistisch geführten Arbeitern vereinigen und ihren Führern zurufen: Brecht mit den bürgerlichen Parteien, kettet unsere Gewerkschaften nicht politisch an die Unternehmer! Dadurch können sich die Kommunisten eine günstigere Position verschaffen, um das revolutionäre Programm in den politischen Bruch mit der bürgerlichen Demokratischen Partei inhaltlich einzubringen.

Trotzkis zweite Oberlegung fußte auf dem Umstand, dass die amerikanische Sektion der IV. Internationale unfähig gewesen war, die Führung der Arbeiterklasse so rasch zu übernehmen, wie er dies gehofft hatte. Das verschlimmerte die proletarische Führungskrise. Die Massen verlangten nach politischen Antworten. Das zeigte sich bei den neuerlichen Bewegungsansätzen für eine echte Labor Party in Organisationen wie der Liga parteiloser Arbeiter, der Amerikanischen Labor Party in New York und anderen Gruppen. Wenn die SWP abseits von diesen Bewegungen stünde, würden die Bürokraten die Führungskrise lösen, indem sie den Druck der Massen mit der Schaffung einer reformistischen Labor Party auffingen. Um dies zu verhindern und die Bewegung in eine revolutionäre Richtung lenken zu können, entwickelte Trotzki die Taktik der Labor Party und ging über seine früheren Einwände hinweg.

Er führte in die Taktik ein algebraisches Element ein, d.h. er wollte zugleich mit der Schaffung der Einheitsfront zum Aufbau einer unabhängigen Arbeiterpartei ein Übergangsprogramm in die Bewegung hineintragen. Wenn dieses Programm angenommen werden würde, würde das den Triumph der Revolutionäre in der neuen Partei bedeuten. Trotzki überwand die offenkundige Etappentheorie der – „reformistischen Labor Party“ und ersetzte sie durch eine Taktik, bei der der Kampf über die Herausbildung einer Labor Party entscheiden würde: „Sind wir für den Aufbau einer reformistischen Labor Party? Nein. Sind wir für eine Politik, die den Gewerkschaften die Gelegenheit einräumt, ihr Gewicht politisch geltend zu machen? Ja. Es kann eine reformistische Partei werden – das hängt von der Entwicklung ab. Hier kommt die Frage nach dem Programm herein.“ (39)

Durch den Kampf für das eigene Programm als Programm der Labor Party eröffnete die SWP die Möglichkeit, sie als revolutionäre Partei zu formen. Natürlich würde dies in einem relativ kurzfristigen, aber heftigen Kampf mit der Bürokratie entschieden werden. Allerdings war dies nur eine Möglichkeit, und darum blieb die Konsolidierung der SWP das wichtigere Ziel. Wenn die Revolutionäre gewinnen würden, könnten sie die Labor Party als revolutionäre, von Reformisten gesäuberte Kampfpartei organisieren, meinte Trotzki. Aber das Programm würde entscheiden, ob die Partei revolutionär oder reformistisch sein würde. Deswegen dachte Trotzki für den Fall der praktischen Realisierung, dass die Labor Party „eine fortschrittliche Bedeutung nur für eine vergleichsweise kurze Übergangszeit erhalten kann“. (40)

Das heißt, bis zu dem Zeitpunkt, da der Kampf zwischen Reformisten und Revolutionären für eine Seite entschieden worden war. Würden letztere gewinnen, so würde das „unvermeidlich den Rahmen der Labor Party sprengen und es der SWP erlauben, die revolutionäre Vorhut des amerikanischen Proletariats um das Banner der IV. Internationale zu scharen“. (41) Wenn die Reformisten siegen würden, wäre eine konterrevolutionäre, sozialdemokratische Partei das Ergebnis.

Trotzki argumentierte, dass seine Position von 1938 keine theoretische Revision seiner Position von 1932 bedeutete, sondern lediglich eine Konkretisierung. Das ist nicht der Fall. Trotzki änderte tatsächlich seine Position. Alle Behauptungen, es gäbe keine Positionsänderung, führen zu einer sektiererischen Abwendung von der Labor-Party-Taktik; d.h. 1932 schloss Trotzkis Position die Anwendung der LP-Taktik in einer algebraischen, übergangsartigen Weise aus. Sektierer benutzen diese frühe Position, um zu beweisen, dass nur in Zusammenhang mit dem CIO-Aufschwung und dem Klassenkampf die spätere Verwendung der Losung durch Trotzki gerechtfertigt war. Ohne einen solchen Aufstand sei es unmöglich, die Taktik anzuwenden, und wir sollten zu Trotzkis Position von 1932 zurückkehren, die die revolutionäre Partei der Labor Party gegenüberstellte. Die LRP in Amerika ist ein treffendes Beispiel für eine von dieser sektiererischen Methode paralysierten Gruppe.

Der Druck der Massen ist zweitrangig beim Verständnis der Differenzen in den beiden Positionen Trotzkis. Er sagte 1932, dass die alleinigen Entstehungsbedingungen für eine Labor Party nur als Resultat des revolutionären Drucks der Massen zu sehen wären. Er kam zu dem Schluss, dass eine solche Entwicklung schlecht wäre, ein Hindernis wäre für die Schaffung einer revolutionären Partei. Der Grund dafür ist, dass Trotzki die Anwendung der LP-Taktik dem Aufbau einer revolutionären Partei gegenüberstellte. Beides in einer Perspektive wurde als widersprüchlich gesehen.

Doch 1938 war es genau der Druck der Massen, der sich in dem CIO-Aufschwung ausdrückte, der ihn zur Änderung seiner Position brachte. Trotzki trat nun für die Notwendigkeit ein, eine Labor Party zu fordern. Dabei war nun genau derselbe Druck vorhanden, den Trotzki 1932 als Grund bemühte, die Losung nicht zu verwenden. Geändert hatten sich nicht die Umstände, wie die Sektierer wahrhaben wollen, sondern Trotzkis methodischer Zugang zum Problem. Die Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse, der schreckliche Verrat der traditionellen Führungen, die geringe Größe der IV. Internationale und das enorme Ausmaß der Krise für die Menschheit brachten Trotzki zur erstmals in umfassendem Sinn vollen Entwicklung der Übergangsmethode. Im wesentlichen hieß das die Anwendung des Übergangsprogramms und der sich daraus ergebenden Forderungen und Taktiken, sowie der Versuch, die Führungskrise zu lösen. Von der fehlerhaften Position, die Anwendung der Einheitsfront sowie den Kampf für Übergangsforderungen darin und den Ruf nach einer revolutionären Partei (genau genommen der Forderung nach einer reformierten KP in der Position von 1932) einander gegenüberzustellen, bewegte sich Trotzki mithin zur korrekten Position, die Einheitsfront auf politischer Ebene als eine Taktik zum Aufbau der revolutionären Partei und dadurch zur Lösung der Führungskrise anzuwenden.

Wie Trotzki selbst bei der Begründung für die Positionsänderung feststellte: „Nun dürfen wir nicht mit unserer Prognose von gestern, sondern mit der Situation von heute rechnen … Wir müssen unser Programm ändern, weil die objektive Situation sich völlig unterscheidet von unserer früheren Prognose.“ („US- und europäische Arbeiterbewegungen: ein Vergleich”) Die Führungskrise wurde zum Zentrum von Trotzkis Überlegungen. Eine Rückkehr zur Position von 1932 wäre gleichbedeutend mit einem Verlassen des programmatischen methodischen Wegs, der von Trotzki gebahnt wurde, um jene Krise (von der wir meinen, dass sie noch besteht) zu lösen; stattdessen würde man ihn nur durch abstrakte Forderungen nach einer revolutionären Partei ersetzen.

28. 1938 hatte Trotzki die Taktik der Labor Party fertig entwickelt, bis in ihre ausgearbeitete revolutionäre Form. Die von ihm verfassten Leitlinien bleiben gültig bis heute. Sie können wie folgt zusammengefasst werden:

a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in “ruhigen“ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z.B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiterklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiterklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.

Obwohl diese Leitlinien heute in den USA und anderswo von Gruppen wie der mittlerweile durch und durch rechtszentristischen SWP (US) grob verfälscht und missbraucht werden, haben sie immer noch ihre Gültigkeit als Anleitung zur revolutionären Handhabung der Labor-Party-Taktik.

Ob wir die Labor-Party-Taktik anwenden oder nicht, hängt von den jeweiligen Zuständen in einzelnen Ländern ab. Wir würden als allgemeine Regel aufstellen, dass die Taktik in Ländern angewendet werden kann, wo die Arbeiterklasse Gewerkschaften geschaffen hat, aber keine Form von politischer Organisation entwickelt hat. Die Taktik wird Teil des taktischen Rüstzeugs für Revolutionäre in jenen Ländern. Natürlich heißt das nicht, dass sie immer als zentrale Taktik angewendet werden kann und dass man um sie kämpft als ein Allheilmittel gegen alle Krankheiten des Proletariats. Wie bei allen Taktiken erkennen wir, dass der Umfang ihrer Nutzbarmachung und der Charakter ihrer Anwendung unter verschiedenen Umständen variieren können. In den Vereinigten Staaten hätte die Losung in Wahlkampagnen, wenn die Gewerkschaftsführer damit beschäftigt sind, Geld für die Parteien der Bourgeoisie aufzubringen und Stimmen für sie zu gewinnen, eine enorme Bedeutung und würde damit einen integralen und zentralen Bestandteil revolutionärer Arbeit bilden. In anderen Perioden, bspw. zu Zeiten einer Klassenkampfruhe würde die Losung ihr Gewicht vornehmlich auf der Propagandaebene bewahren.

Man muss jedoch das Wesen der Taktik verstehen, nämlich: Bruch mit der Bourgeoisie als eine Forderung an die Gewerkschaftsführer und die Basis. In den USA würde dies insbesondere einen Kampf beinhalten, der zum Ziel hat, die Gewerkschaften von den Demokraten loszubrechen. In Argentinien wäre die Losung auf den Bruch der Gewerkschaften mit dem bürgerlichen Nationalismus abgestimmt, in Südafrika auf den Bruch mit der Volksfrontpolitik der UDF und der ökonomistischen Haltung vieler schwarzer Gewerkschaftsführer, die ihren Abstentionismus von der Politik pflegen. In Brasilien, wo eine Arbeiterpartei formiert worden ist, würde der Kampf für ein revolutionäres Aktionsprogramm in dieser Partei die Achse einer revolutionären Intervention bilden, um ein revolutionäres Instrument zu schmieden – eine Entwicklung, die noch nicht ausgeschlossen ist im Rahmen der Brasilianischen Arbeiterpartei PT.

Doch wir fordern keine Arbeiterparteien unter Umständen, wo auf Gewerkschaften gestützte oder zu bedeutenden Teilen aus gewerkschaftlicher Basis bestehende reformistische Parteien schon existieren. Dies wäre eine opportunistische Anwendung der Losung, wie sie das lambertistische IK in vielen Ländern praktiziert. Die Forderung nach einer anderen Arbeiterpartei, ohne damit eine revolutionäre Partei zu meinen, wie z.B. in Frankreich, würde allerdings den Kampf um die Lostrennung der gewerkschaftlichen Massen vom Reformismus scheuen. Eine solche Forderung hieße, den Kampf gegen die sozialistischen und stalinistischen Bürokratien zu scheuen.

Mit der Verwendung der Losung der Labor Party in einem übergangsartigen, algebraischen Sinn und durch die Untersuchung der konkreten Umstände, unter denen sie anzuwenden ist, vermeiden wir sowohl die sektiererischen wie auch die opportunistischen Anwendungen der Taktik, die bei den degenerierten Bruchstücken der IV. Internationale so üblich sind.

Anmerkung der Redaktion

Hinsichtlich der Anwendung der Taktik in Länder, wo es schon bürgerliche Arbeiterparteien hat die LFI vor mehr als einem Jahrzehnt ihre Position geändert. Wir halten eine prinzipienfeste Anwendung dieser Taktik für möglich, wo wichtige Sektoren der Avantgarde mit ihren “traditionellen” reformistischen Parteien brechen und sich nach links bewegen. Dieser Kampf muss jedoch in jedem Fall auf Basis einer revolutionären Aktionsprogramm geführt werden.

Die Taktik der organisatorischen Angliederung

29. Die politische Bewegung, die die Revolutionäre mit Hilfe der Labor-Party-Taktik zu steuern versuchen, existiert nicht nur in Perioden vor der Schaffung einer solchen Partei. Sie kann sich fortsetzen oder entwickeln, wenn die verschiedenen Tendenzen und Programme in der Arbeiterklasse bei der Frage des Parteiaufbaus und des Parteiprogramms aufeinanderprallen. Trotzki erkannte das 1932, als er schrieb: „Die Möglichkeit zur Teilnahme an der Bewegung für eine Labor Party und deren Nutzung ist offensichtlich größer in ihrer Anfangsphase, d.h. dann, wenn die Partei noch keine Partei, sondern erst eine konturlose politische Massenbewegung ist. Fraglos müssen wir dabei dann mit größter Energie mitarbeiten; aber nicht beim Aufbau einer Labor Party, die uns ausschließen und bekämpfen wird, sondern wir müssen die fortschrittlichen Elemente der Bewegung durch unsere Aktivität und Propaganda mehr und mehr nach links zu treiben versuchen.“ (42)

In den frühen 20er Jahren konnte die junge Kommunistische Partei Großbritanniens (CPGB) diese Taktik gegenüber die britischen Labour Party (LP) anwenden. Die LP wurde nicht als zentralisierte Partei, sondern als Verbund von Teilorganisationen gebildet. Sie schloss sowohl die Gewerkschaften, als auch politische Tendenzen wie die Unabhängige Labour Partei (ILP), den Sozialdemokratischen Bund (diesen nur kurze Zeit) und die „Fabier“ mit ein. (43)  Das föderative Prinzip verhinderte wirksam eine demokratische Kontrolle der Führung durch die Massen der Parteimitglieder. Dieses Prinzip bewirkte auch eine ideologische Schwammigkeit, die den Reformisten eine optimale Fortsetzung ihrer praktischen Kollaboration mit der Bourgeoisie erlaubte. Aber das föderative Prinzip erlaubte 1916 auch die Angliederung der Britischen Sozialistischen Partei (BSP), der Nachfolgerin des Sozialdemokratischen Bundes, die die bedeutendste Gruppierung von Marxisten in Britannien war. Als die BSP sich 1920 an der Gründung der CPGB beteiligte, stellte sich darum die Frage ihrer weiteren Mitgliedschaft in der Labour Party.

Im Gegensatz zu denen, die stillschweigend ihre Mitgliedschaft in der LP erneuern wollten, so als hätte sich nichts geändert, und diejenigen, die sich demonstrativ von der LP abspalten wollten, war Lenin für den Versuch der CPGB, sich geschlossen an die LP anzugliedern.

Er schlug dies vor, damit die Kommunisten sich einen direkten Kontakt mit den vielen Arbeitern an der Basis verschaffen konnten, die in die LP als Folge des Beschlusses, Einzelmitgliedschaften zu erlauben, nach 1918 eingetreten waren. Die Angliederungstaktik war darum als Test für den Anspruch der LP gedacht, die Partei der gesamten Arbeiterklasse zu sein – zu einer Zeit, als die bürokratische Kontrolle über die Partei noch nicht direkt spürbar war und der wirkliche Charakter dieser Partei Millionen von Arbeitern noch nicht durch die Erfahrung mit ihr an der Regierung enthüllt worden war. Lenin betonte, dass die Anwendung dieser Taktik minimale Zugeständnisse von Seiten der Kommunisten erfordern würde: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiterklasse bewahrt.” (44)  Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunisten eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“ (45)

Der Antrag auf Angliederung der CPGB vom August 1920 wurde von den reformistischen Führern der LP abgelehnt. Trotzdem kämpfte die CPGB auf der Basis ihrer Einzelmitglieder in der LP bzw. über die von den angeschlossenen Gewerkschaften in die LP-Organe entsandten KP-Mitglieder bis 1928 weiter für das Recht auf Angliederung.

30. Die Parteien der Komintern betrieben systematisch während ihrer revolutionären Periode in der Labour Party (auch nach der Ablehnung der Angliederung) und in anderen reformistischen Parteien wie selbstverständlich Fraktionsarbeit. Die KPD-Fraktion kämpfte 1920 in der deutschen USPD höchst erfolgreich für die Anerkennung der Komintern-Mitgliedschaftskriterien und für die Trennung von den reformistischen und zentristischen USPD-Führern. Eine solche Fraktionsarbeit ist aber nicht zum Zwecke einer strategischen Umwandlung der Parteien gedacht, in denen fraktionell gearbeitet wird. Die Arbeit der KPD wirkte sich vielmehr so aus, dass der linke Flügel der USPD (mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern) sich von dieser Partei abspaltete und mit der KPD vereinigte. Der fortwährende Kampf um die Angliederung an die britische LP war auch das Ergebnis der disziplinierten und aufeinander abgestimmten Aktivitäten der kommunistischen Einzelmitglieder in der LP. Lenin riet ihnen vollkommen klar: Durch revolutionäre Politik begäben sie sich in die Gefahr, ausgeschlossen zu werden. Doch sollten sie nicht davor zurückschrecken, denn in einem solchen Streit um ihre Mitgliedschaft würden die Reformisten bei den gegen die Bourgeoisie kampfbereiten Kräften als die Spalter entlarvt: „Lasst die Herren Thomas und die anderen sozialen Verräter, die euch soziale Verräter nennen, euch ausschließen. Das wird eine ausgezeichnete Wirkung haben auf die britischen Arbeitermassen … Wenn die britische KP sich anschickt, in der Labour Party revolutionär zu handeln, und wenn die Herren Henderson und Co. dann gezwungen sind, unsere Partei auszuschließen, wird das ein großer Sieg für die Kommunisten und die Arbeiterbewegung in England sein.“ (46)

Das Entwicklungspotential einer solchen Situation zeigte sich klar anhand der Erfahrungen mit der britischen LP, auch nachdem die Angliederung abgelehnt worden war. Der Aufnahmeantrag wurde auf den Jahreskonferenzen stets neu gestellt und schuf für die Kommunisten ständig Gelegenheiten, LP-Mitglieder zumindest für das Recht auf ihre Anerkennung als Bestandteil der Labour-Bewegung zu gewinnen. 1923 erhielten sie beispielsweise 200.000 Stimmen, wenn auch insgesamt die Entschließung zur Angliederung von 3 Millionen niedergestimmt wurde. Die reformistischen Führer waren damit nicht zufrieden, und im Laufe der 20er Jahre gelang ihnen die schrittweise Eindämmung der Rechte der Kommunisten in der Partei. 1924 wurde den Kommunisten das Recht auf Kandidatur für die LP entzogen. Im folgenden Jahr wurde ihnen die Einzelmitgliedschaft in der Partei verboten, und 1926 wurden sie für unwählbar als Konferenzdelegierte erklärt, selbst wenn sie von Gewerkschaftsorganen entsandt worden waren.

Diese Maßnahmen riefen ernsthafte Opposition in der Partei hervor. Ober 100 Wahlkreisvereine der LP weigerten sich, den Beschluss von 1925 zu übernehmen. Die KP versuchte, ein taktisches Bündnis mit Linksreformisten und Zentristen aufzubauen, um Ausschlüsse und andere Maßnahmen zu durchkreuzen. Über 50 Ortsvereine der LP schlossen sich mit dieser „Nationalen Bewegung des linken Flügels“ (NLWM) zusammen. Obwohl der Versuch, ein solches Bündnis zu formen, an sich korrekt war, ähnelte die Politik der CPGB doch keineswegs dem prinzipienfesten Herangehen Lenins. Als Teil ihrer Rechtswende von 1925-1928 ließ die CPGB die Betonung der eigenen politischen Unabhängigkeit fallen und unterstützte die erklärte Absicht des NLWM, den Rahmen der LP nicht zu sprengen, sondern sie „orientiert an den Wünschen der Basis neu zu gestalten“. (47)

Die KP tat alles andere, als die Linken und Zentristen durch scharfe Kritik an solchen wirren Erklärungen zu einem echten Linksruck zu veranlassen. Stattdessen gab sie eine Wochenzeitung, den „Sunday Worker“ heraus, wo ihre Verbündeten ohne ein Wort der Kritik von seiten der Kommunisten ihrer zentristischen Politik freien Lauf lassen konnten. Das NLWM wurde zu einem Nichtangriffspakt, da die KP verzweifelt versuchte, das Bündnis trotz des Rückzugs und Verrats ihrer „linken“ Verbündeten aufrechtzuerhalten. Nach der Niederlage des Generalstreiks von 1926 krümmten die „Linken“ weder in der LP noch in den Gewerkschaften einen Finger, um der erneuten Offensive des rechten Flügels entgegenzuwirken. Die Freiheit der Propaganda, die Lenin als Mindestvoraussetzung genannt hatte, ohne die eine Angliederung nicht möglich war, bestand nicht mehr. Die korrekte Antwort der KP hätte die schärfste Kritik an den Spaltungsmanövern der Führer und der Kampf gegen die vermeintlichen „Linken“ bzw. um die vielen Arbeiter unter deren Einfluss sein müssen. Stattdessen ging die KP unter der Führung der stalinistischen Komintern, die zuvor den rechten Kurs befohlen hatte, nun heftig nach links. Die ultralinke Politik der stalinistischen „3. Periode“ verleitete die KP zur Denunzierung der Labour Party als „sozialfaschistisch“. Demgemäss gab sie sowohl das NLWM wie auch den „Sunday Worker“ auf.

Die für eine kommunistische Fraktionsarbeit in reformistischen Parteien verbindlichen Grundprinzipien wurden durch die Kritik der Linken Opposition gegenüber den stalinistischen Irrtümern abgegrenzt und von den Trotzkisten in den 30er Jahren bei ihrem Kampf um die Vertiefung ihrer Wurzeln in der Arbeiterklasse entfaltet. 1938 nahm die SWP im Zuge ihrer Diskussion über die Arbeit in der stalinistischen amerikanischen KP folgende Entschließung an: “Im gegenwärtigen Entwicklungsstadium ziehen wir nicht prinzipiell Anhänger der IV. Internationale in der KP individuell aus dieser Partei heraus, sondern trachten vielmehr danach, a) sie (unter unserer Disziplin) in strategische Positionen mit dem Ziel hineinzubringen, Information und Einfluss zu erlangen; b) versuchen wir, eine nationale Fraktion mit der Perspektive einer landesweiten Spaltung zu einem günstigen Zeitpunkt zu organisieren. Wenn unsere Fraktion stark genug ist, werden wir ein regelmäßiges nationales Organ dieser Fraktion für die KP und ihre Jugendorganisation (Youth Communist League) als leninistisches Blatt in der kommunistischen Bewegung herausgeben.“ (48)

Der Zweck solcher Fraktionsarbeit ist die Befähigung von Kommunisten zum Kampf für ihr Programm, mitten in den Massenorganisationen der Arbeiterklasse, die von Reformisten oder Zentristen dominiert sind. Das erfordert eine Einheitsfronttaktik, mit der man an der Seite jener Arbeiter zu kämpfen versucht, die zwar die reformistische oder zentristische Parteiführung anerkennen, aber unausweichlich vor der Notwendigkeit stehen, den Klassenkampf führen zu müssen. Durch Forderungen an solche Führer und den Versuch, die Basis unabhängig von der Führung zu mobilisieren, versuchen Kommunisten, die Massen von ihren Führern über die direkte Erfahrung mit der Sabotage und der Halbherzigkeit jener Führer loszubrechen. Entscheidend für den Erfolg dieser Taktik ist die Erhaltung der politischen Unabhängigkeit als kommunistische Fraktion. Falls sie ihre politische Unabhängigkeit einbüßt, würden die Arbeiter, selbst wenn sie von ihren Führern desillusioniert werden sollten, keine klare Alternative mehr vorfinden. Wie alle Anwendungsarten der Einheitsfront birgt diese Taktik Gefahren in sich, besonders für desorientierte oder unerfahrene Kader. Die Gefahr des Opportunismus entsteht aus der Versuchung, sich durch eine Verwässerung des kommunistischen Programms der Politik der „Wirtspartei“ anzupassen. Ist die Fraktion nicht bereit, sich an begrenzten Kämpfen für nichtrevolutionäre Teilziele zu beteiligen, und hält sie den Arbeitern, die noch nicht gewonnen sind, stattdessen ultimativ das revolutionäre Programm entgegen, so führt dies zur entgegengesetzten Gefahr des Sektierertums. In allen Fällen muss die Fraktion als untergeordnetes Element unter der Disziplin der revolutionären Partei fungieren, die als unabhängige Organisation außerhalb der reformistischen Partei existiert.

Die Taktik des Entrismus

31. Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der Bolschewiki-Leninisten (wie die Trotzkisten sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese Taktik nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Trotzkis Perspektive für die Taktik des Entrismus war: a) Eine ernsthafte Linkswendung der Massen, d.h. eine revolutionäre Gärung, die Spannungen zwischen Basis und Führung heraufbeschwören würde. Der eigentliche Hintergrund der „französischen Wende“ war der Sieg des Faschismus in Deutschland und die gesteigerte Wachsamkeit der französischen Arbeiter gegenüber dieser Gefahr. b) Der Zusammenschluss der sozialdemokratischen SFIO und der französischen KP (unter dem Druck der Massen) zu genau jener Einheitsfront, für die allein die Trotzkisten von 1930 bis 1933 gekämpft hatten. Wegen ihrer geringen Größe und der stalinistischen Verfolgung liefen sie nun Gefahr, davon ausgeschlossen zu werden. c) Eine sich anbahnende revolutionäre Situation zog Arbeiter in die SFIO und zwang deren Führer, der Partei eine gewisse zentristische Färbung zu geben. d) Die Abspaltung des rechten Flügels (der Neo-Sozialisten) und die Eröffnung eines Fraktionskampfes zwischen zentristischen und sogar linkszentristischen Strömungen, z.B. der Gruppe um die von Zyromski und Pivert herausgegebene Zeitung „Bataille Socialiste“ (Sozialistischer Kampf), und der Parteiführung unter Blum schuf ernste Spannungen in der SFIO. Trotzki schloss daraus:

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten  Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme, wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“ (49)

Trotzki war für den Eintritt auf dem vollen Programm der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL) bzw. der IV. Internationale, für eine eigene Zeitung, die auf die Darstellung und Propagierung dieses Programms ausgerichtet war und für ein Aktionsprogramm, das die Hauptaufgaben der kommenden Periode benannte. Er forderte eine besondere Hinwendung zur Jugend. In der Kritik an der reformistischen Führung sollte es kein Pardon geben und keine Vermischung mit linksreformistischen oder zentristischen Elementen.

Die „Wende“ wurde im September 1934 eingeläutet. Die französischen Bolschewiki-Leninisten spalteten sich aber wegen der Entrismustaktik. Eine Gruppe um Pierre Naville denunzierte sie als Kapitulation. Sie spaltete sich von der französischen Sektion ab, trat aber kurz darauf selbst in die SFIO ein. Trotzki kritisierte scharf diese Abspaltung und sagte, Navilles Unnachgiebigkeit sei darauf zurückzuführen, dass er „Angst vor der Perspektive eines harten Kampfes gegen einen mächtigen Apparat“ hätte. Später bemerkte Trotzki, dass Naville trotz seiner scheinbaren Unnachgiebigkeit „das Banner der Organisation, das Programm im Stich gelassen hat. Er hat bereits gemeinsame Anträge mit dem linken Flügel gestellt, wirre opportunistische Anträge, voll vom Wortschwall des sogenannten Linkszentrismus.” (50)

Dieselben Schwächen verriet eine weitere Gruppierung in der französischen Sektion um Raymond Molinier, als die Frage eines endgültigen Kampfes gegen den Ausschluss aus der SFIO auftauchte. Die Trotzkisten waren mit etwa 100 Mitgliedern und einigen jugendlichen Sympathisanten in die SFIO eingetreten. Im Juni 1935 waren ihre Kräfte stark genug, um auf dem Mühlhausener Kongreß gegen Blum auftreten zu können. Ihre Mitgliederzahl wuchs an auf 300 im Sommer 1935. Am stärksten waren sie im Pariser Seine-Bezirk (Seine-Bund), wo ihre prinzipielle Entschließung auf dem Kongreß 1037 Stimmen erhielt, gegen 2370 für Bataille Socialiste und 1570 für Blum und den Parteivorstand. Sie formierten auch eine mächtige Tendenz in der sozialistischen Jugendorganisation, wo die Trotzkisten ebenfalls mitarbeiteten, und gewannen dort schließlich eine Jugendgruppierung unter Fred Zeller, die zuvor den Zentristen Pivert unterstützt hatte. Während dieser Zeit hielten die Trotzkisten ihre volle revolutionäre Kritik nicht nur an Blum und der Führung, sondern auch an Zyromski und Pivert aufrecht.

Von Trotzki mit einem Aktionsprogramm sowie mit Artikeln und Broschüren bewaffnet, die die volle revolutionäre Perspektive und das Programm enthielten, konzentrierten sie ihre Angriffe auf die opportunistische Einheitsfrontpraxis von KPF und SFIO. Sie prangerten deren leere Gesten an. Sie griffen die so praktizierte Einheitsfront als prinzipienlosen gegenseitigen Nichtangriffspakt an und traten für Aktionskomitees und Arbeitermilizen gegen die faschistische Gefahr ein.

Aber die folgenden Ereignisse begannen nun, die Dauer der „französischen Wende“ einzuschränken.

1.) Der Beginn der „Volksfront“-Politik. Die Volksfront wurde am 14. Juli 1935 gebildet und schloss die SFIO, die KPF und eine bürgerliche Partei (die Radikalen) mit ein – eine Linie, die dann auf dem 7. Komintern-Kongreß im Juli/August des Jahres unterstützt und verallgemeinert wurde.

2.) Der Stalin-Laval-Pakt bestätigte: „Stalin billigt die französische Verteidigungspolitik“, d.h. die Wiederaufrüstung. Was zu Anfang als ein französisch-sowjetischer Pakt gegen Hitler begonnen hatte, wurde erweitert zu einer Unterstützung der KPF für die nationale französische Verteidigung. Die Volksfront wurde somit zu einem Träger der sozialpatriotischen Vorbereitung des zweiten imperialistischen Weltkriegs.

3.) Der endgültige Absturz der KI in den Sozialpatriotismus verschärfte die Notwendigkeit der Gründung der IV. Internationale.

4.) Die Blum-Führung beantragte auf stalinistischen Druck hin den Ausschluss der Bolschewiki-Leninisten.

5.) In Brest und Toulon brachen Streiks und Aufruhr aus und zeigten klar das Herannahen proletarischer Massenkämpfe.

Die Trotzkisten hatten mit Pivert und seinen Anhängern in praktischen Fragen wie proletarische Selbstverteidigung und Verteidigung gegen die Parteiführung zusammengearbeitet. Aber sie hatten weder ihre Politik mit dem Linkszentrismus vermengt, noch hatten sie aufgehört, ihn zu kritisieren. Doch angesichts der Notwendigkeit, die Arbeit in der SFIO zu beenden und eine unabhängige Partei aufzubauen, zögerten die Botschewiki-Leninisten. Alle drei Tendenzen in der BL-Führung bekämpften die Ausschlüsse ihrer Mitglieder aus der SFIO unter Berufung auf die Statuten und bezichtigten Blum des „Spaltertums“. Begleitet wurde dies von einer Abschwächung, ja sogar einem Verschweigen der Kritik an den SFIO-Führern und an Pivert. Pivert entlarvte seinen eingefleischten Zentrismus, als er sich weigerte, ein Verlassen der SFIO in Betracht zu ziehen. Gerade als die Ausschlüsse begannen, spaltete er sich vor. Zyromski ab und baute die Tendenz  „Gauche Revolutionnaire“ (Revolutionäre Linke) auf. Dies war dazu gedacht, die Zahl der SFIO-Mitglieder, die zu den BL gingen, in Grenzen zu hatten.

Während dieser Periode zeigten die Bolschewiki-Leninisten, dass sie nicht wussten, wann und wie sie die SFIO verlassen sollten. Sie fingen an, politische Zugeständnisse zu machen, um in der Partei bleiben zu können. Pivert wurde nicht kritisiert, aus Furcht, seine (rein verbale) „Unterstützung“ gegen die Ausschlüsse zu verlieren. Trotzki hob im Dezember 1935 hervor: „Man muss nicht nur wissen, wie man eintritt, sondern auch wie man austritt. Wenn man weiter an einer Organisation festhält, die keine proletarischen Revolutionäre mehr in ihrer Mitte dulden kann, wird man unweigerlich zum elendigen Werkzeug des Reformismus, Patriotismus und Kapitalismus.“ (51)

Alte drei Tendenzen kamen nun überein, dass die Gruppe Bolschewiki-Leninisten (GBL) eine „Massenzeitung“ herausgeben sollte, deren Programm nicht mit dem vollen revolutionären Programm identisch sein sollte. Dies war vielleicht der erste Versuch von vermeintlichen Trotzkisten, eine zentristische Zeitung und Organisation aufzubauen. Aber sogar in diesem Punkt zögerte die Organisation. Der Molinier/ Frank-Tendenz war es vorbehalten die Logik dieser Kapitulation vor dem Sozialpatriotimus zu Ende zu führen. Sie boten Pivert die Herausgabe einer gemeinsamen „Massenzeitung“ an. Dieser weigerte sich. Davon nicht abgeschreckt, brachten sie eine solche Zeitung (La Commune) heraus. Deshalb wurden sie wegen Disziplinbruchs aus der GBL ausgeschlossen. Die Spaltung dauerte bis zum Juni 1936, lähmte die französischen Trotzkisten effektiv und schränkte ihre Interventionsfähigkeit im großen Generalstreik des Sommers 1936 stark ein.

Trotzki fasste die mit der „französischen Wende“ zusammenhängenden Prinzipien der entristischen Arbeit dem Artikel „Lehren des SFIO-Entrismus“ folgendermaßen zusammen:

“1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) … fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“ (52)

32. In den Jahren 1933-1938 gab es auch andere Entrismus-Taktiken, wie z.B. den Eintritt der britischen Trotzkisten in die zentristische ‚Independent Labour Party'(ILP) von 1933 bis 1936 und später in die Labour Party, ferner den Entrismus der amerikanischen Trotzkisten in die Amerikanische Sozialistische Partei (1936-1937) und den Entrismus der belgischen Genossen in die Belgische Arbeiterpartei (POB). In jedem dieser Fälle blieben, soweit Trotzki selbst die Dinge beeinflussen konnte, die taktischen Prinzipien dieselben. Trotzkis Verständnis der entristischen Taktik, wie es beispielhaft in seinen Aussagen zur „französischen Wende“ erscheint, war fest auf die Hinwendung zu einem bedeutenden Teil der Vorhutelemente der Arbeiterklasse gegründet, auf deren Gewinnung für den Kommunismus und die IV. Internationale. Er sah die Entrismustaktik nicht als einen „Umwandlungsprozess“ der sozialdemokratischen Parteien in revolutionäre oder quasi revolutionäre Parteien an. Diese evolutionistische Verzerrung der Entrismustaktik, die heute vielfach anzutreffen ist, geht zurück auf die Verfallsperiode der IV. Internationale in den späten 40er Jahren.

Die so verfälschte Taktik schafft keine revolutionäre kommunistische Tendenz oder Fraktion in der Sozialdemokratie, um damit nach links gehende Reformisten oder subjektiv revolutionäre Elemente zu gewinnen. Stattdessen geht sie an die Bildung einer zentristischen Strömung mit der „Perspektive“, dass diese sich unter dem Druck objektiver Umstände automatisch in eine revolutionäre Richtung entwickeln werde. Nirgendwo in Trotzkis Schriften wird man den Ratschlag finden, Propagandablöcke mit den Zentristen, geschweige denn mit den „linken“ Reformisten zu bilden. Ganz im Gegenteil. Trotzkis politische Unbeugsamkeit während der Entrismustaktik  gegenüber Pivert – einer Figur, die hundertmal weiter links stand als heute ein Bevan oder Benn – ist ein Maßstab für die Degeneration der Nachkriegsepigonen  der IV. Internationale: Pablo, Mandel, Healy und Grant.

Die Perspektive der Entrismustaktik muss die Entfaltung des vollen revolutionären Programms in der reformistischen Partei sein. Um dieses Banner müssen die besten Elemente in der Partei gesammelt werden. Um dies erreichen zu können, muss eine reale Aussicht bestehen, dass die fortgeschrittenen Arbeiter in der reformistischen Partei den Revolutionären aufgeschlossen begegnen  werden. Auf der Grundlage der Arbeiterdemokratie müssen die fortgeschrittensten Elemente bereit sein, eine revolutionäre Minderheit zu dulden, sie anzuhören und gegen die Parteibürokratie zu verteidigen. Die Kommunisten müssen diese Arbeiter mit einem revolutionären Aktionsprogramm und spezifischen Einheitsfront-Forderungen ansprechen. Über Aktionseinheiten zu direkten Fragen und möglicherweise durch Übergangslosungen kann der kommunistischen Taktik und Propaganda Gehör verschafft werden. Auf diese Art kann sich eine revolutionäre Tendenz herauskristallisieren – Arbeiter können vom Linksreformismus und Zentrismus weggebrochen und für den Kommunismus gewonnen werden.

Angesichts der unvermeidbaren Angriffe der Parteibürokratie und der zu erwartenden Kapitulation der falschen „linken“ Führer werden revolutionäre Kommunisten ihr Programm kompromisslos verteidigen und dabei auch den Parteiausschluss nicht fürchten. Kommunisten sind zur Mitgliedschaft in reformistischen Parteien nicht strategisch verpflichtet. Da ihre taktische Absicht die Gewinnung von reformistisch beeinflussten Arbeitern für den Kommunismus ist, werden sie niemals um jeden Preis in der Partei verbleiben wollen – d.h. sie werden keinerlei programmatische Zugeständnisse als Gegenleistung für die Parteimitgliedschaft machen. Wenn die aus der sozialdemokratischen Basis gewonnenen Arbeiter wirklich durchdrungen sind von kommunistischen Ideen, dann können und werden sie bereit sein, den Ausschluss und eine unabhängige Existenz als revolutionäre Organisation ins Auge zu fassen. Man darf ihnen keine krankhafte Angst vor Ausschluss, „Sektierertum“ oder Isolation einimpfen. Eine kommunistische Organisation, die nicht isoliert stehen, nicht gegen den Strom schwimmen und dabei nicht den Weg zurück zu den Massen finden kann, ist keine kommunistische Organisation.

33. Die heute gängige Entrismus-Praxis der „Trotzkisten“ hat sich spätestens seit 1951 von Trotzkis Methode weit entfernt. Der „Theoretiker“ dieses Bruchs mit Trotzkis taktischer Methode war Michel Pablo, Sekretär der IV. Internationale. Pablos Bericht für die 10. Vollversammlung des internationalen Exekutivausschusses der IV. Internationale enthielt den Entrismus „besonderer Art“ (sui generis). Schon der Name verrät den Bruch mit Trotzkis Methode, und Pablo verbarg dies auch gar nicht. Zu Healys Praxis in England merkte er an: „Sie hat sich seither erheblich, man kann beinahe sagen, qualitativ von dem Entrismus unserer Bewegung in den Jahren 1934-1938 wegentwickelt.“ (53)

Pablo sah einen „langfristigen Entrismus“ in allen Ländern vor, deren Arbeiterbewegung von „Reformismus oder Stalinismus“ beherrscht war. Pablo rechtfertigte seine Taktik anfangs mit einer Perspektive von unmittelbar bevorstehenden Kriegen und Revolutionen. Ein objektiver Prozess der Weltrevolution ließe nicht Zeit genug, die reformistischen Parteien zu zerschlagen und sie durch revolutionäre zu ersetzen. Für Trotzki „war es nicht die entscheidende Frage, ob man die Aufgaben des Krieges und der Revolution innerhalb oder außerhalb dieser Parteien anpacken sollte.“ (54) Pablo erkannte den Unterschied zwischen seiner und Trotzkis Konzeption und betonte ihn deutlich: „Wir praktizieren Entrismus, um dort für lange Zeit zu bleiben, und wir verlassen uns auf die Wahrscheinlichkeit, dass diese Parteien unter neuen Bedingungen zentristische Tendenzen hervorbringen werden, was eine ganze Etappe der Massenradikalisierung und des objektiv-revolutionären Prozesses in den jeweiligen Ländern ausmachen wird. Wir wollen den linkszentristischen Reifungsprozeß aus dem Innern dieser Tendenzen heraus vertiefen und beschleunigen und sogar mit den zentristischen Führern um die alleinige Führung dieser Tendenzen ringen.“ (55) Pablo beharrte darauf, dass die Aufgabe der IV. Internationale darin bestünde, „bei der Entwicklung dieser zentristischen Tendenzen zu helfen und ihnen eine Führung zu geben.“ (56)  Die Taktik sollte „jedes Manöver und jede Politik vermeiden, die die Gefahr mit sich bringen, dass wir von den großen Massen in diesen Parteien abgeschnitten werden.“ (57)  Die damit implizierte Selbstaufgabe der trotzkistischen Politik wurde unzweideutig im Bericht der Österreichischen Kommission bestätigt. Österreich war neben Britannien einer der beiden „Sonderfälle“ in der Periode 1944-1947 gewesen, wo der neue Entrismus versuchsweise eingeführt worden war. In Britannien geschah dies unter Pablos direkter Aufsicht und um den Preis der totalen Liquidierung der Revolutionary Communist Party (RCP). In Österreich „werden die Aktivitäten unserer Mitglieder von folgenden Leitlinien geprägt sein: a) wir werden nicht als Trotzkisten mit unserem vollen Programm auftreten; b) wir werden keine programmatischen und prinzipiellen Fragen in den Vordergrund stellen.“ (58)

Anstelle des „alten Trotzkismus“ wurde eine Mischung aus konkreten Reformforderungen und einigen wenigen Übergangslosungen zusammengebraut – und alle bezogen sich auf eine Politik, die für die reformistischen Parteien an der Regierung gedacht war. Als Zusammenfassung dieser entristischen Politik gelangte Pablo zu der Formel: „Die sozialistische Partei an die Macht, um sozialistische Politik anzuwenden!“  Für Britannien lautete die Losung: „Labour an die Macht mit sozialistischer Politik / auf einem sozialistischen Programm!“

Pablos Position, die heute von der Mehrheit der degenerierten Bruchstücke der IV. Internationale praktiziert wird, ist durch und durch liquidatorisch. Damit: meinen wir nicht einfach und ausschließlich die organisatorische Auflösung trotzkistischer Gruppen. Diese Definition des „pabloistischen Liquidatorentums“, die ursprünglich von Pablos Gegnern im Internationalen Komitee (Cannon, Healy, Lambert) stammt, ist grob und irreführend. Der entscheidende Aspekt an Pablos Politik war die politisch-programmatische Liquidierung, die in seiner Fassung des Entrismus begründet lag. Dies geschah trotz der Aufrechterhaltung einer organisatorisch unabhängigen IV. Internationale während der 50er Jahre. Wir lehnen den „Entrismus sui generis“ als Taktik vöIlig ab und betrachten ihn als einen prinzipiellen Bruch mit dem revolutionären Kommunismus.

Die kritische Wahlunterstützung für reformistische Parteien

34. Ein wesentlicher Zweck der Einheitsfronttaktik ist die Loslösung der reformistisch beeinflussten Arbeitermassen von ihren Führern und ihre Vereinigung mit den Kommunisten. Der zentrale politische Anspruch der reformistischen Führer ist die Ausnutzung der bürgerlichen Staatsmacht für die Bedürfnisse der Arbeiterklasse. Deshalb müssen Kommunisten Wege finden, um die Reformisten auf Regierungsebene testen zu können. Auf elementarste Weise ist das die kritische Wahlunterstützung für Kandidaten der bürgerlichen Arbeiterparteien. Lenin hat Zweck und Form dieser Taktik in seinen Ratschlägen an die britischen Kommunisten 1920 erklärt: „Wenn wir nicht eine revolutionäre Gruppe, sondern die Partei der revolutionären KLASSE sind, wenn wir die MASSEN mitreißen wollen (und tun wir das nicht, so laufen wir Gefahr, einfach Schwätzer zu bleiben), so müssen wir erstens Henderson oder Snowden helfen, Lloyd George und Churchill zu schlagen (richtiger gesagt sogar, jene zwingen, diese zu schlagen, denn die ersteren FÜRCHTEN IHREN EIGENEN SIEG!); zweitens der Mehrheit der Arbeiterklasse helfen, sich durch eigene Erfahrung davon zu überzeugen, dass wir recht haben, d.h. sich von der völligen Untauglichkeit der Henderson und Snowden, von ihrer kleinbürgerlichen und verräterischen Natur, von der Unvermeidlichkeit ihres Bankrotts zu überzeugen; drittens den Zeitpunkt näher rücken, zu dem es möglich sein wird, AUF GRUND der Enttäuschung der Mehrheit der Arbeiter über die Henderson mit ernsten Aussichten auf Erfolg die Regierung der Henderson mit einern Schlage zu stürzen …“ (59)

Obwohl Lenin hier nur zu kommunistischen Gruppierungen von einigen  hundert Mitgliedern sprach, die sich noch nicht zu einer gemeinsamen Partei vereinigt hatten, war er kompromisslos in der Form der anzuwendenden Taktik: „Wir würden Wahlagitation treiben, Flugblätter zugunsten des Kommunismus verbreiten und in allen Wahlkreisen, in denen wir keinen eigenen Kandidaten aufstellen, empfehlen, FÜR DEN LABOURISTEN UND GEGEN DEN BOURGEOIS ZU STIMMEN. Genossin Sylvia Pankhurst und Genosse Gallacher irren, wenn sie darin einen Verrat am Kommunismus oder einen Verzicht auf den Kampf gegen die Sozialverräter sehen. Im Gegenteil, dadurch würde die Sache der kommunistischen Revolution ohne Zweifel gewinnen.“ (60)

Gerade die Schwäche der kommunistischen Kräfte und ihre geringe Verankerung in der Arbeiterklasse erforderte die Anwendung dieser Taktik: „Den englische Kommunisten fällt es jetzt sehr oft schwer, an die Masse auch nur heranzukommen, sich bei ihr auch nur Gehör zu verschaffen. Wenn ich als Kommunist auftrete und erkläre, dass ich dazu auffordere, für Henders und gegen Lloyd George zu stimmen, so wird man mich gewiß anhören. Und ich werde nicht nur in populärer Weise erklären können, warum die Sowjets besser sind als das Parlament und die Diktatur des Proletariats besser ist als die Diktatur Churchills (die durch das Aushängeschild der bürgerlichen ‚Demokratie‘ veredelt wird), sondern ich werde auch erklären können, dass ich Henderson durch meine Stimmabgabe ebenso stützen möchte, wie der Strick den Gehängten stützt; dass in dem Maße, wie sich die Henderson einer eigenen Regierung nähern, ebenso die Richtigkeit meines Standpunktes bewiesen wird, ebenso die Massen auf meine Seite gebracht werden und ebenso der politische Tod der Henderson und Snowden beschleunigt wird, wie dies bei ihren Gesinnungsgenossen in Rußland und Deutschland der Fall war.“ (61)

Wie bei allen Spielarten der Einheitsfront bedeutet dies in der Aktionseinheit mit reformistischen Arbeitern angelegte Kompromiss – in diesem Falle die Stimmabgabe für „ihren“ Kandidaten – nicht im mindesten ein Abstrich vom politischen Programm der Kommunisten. Deswegen gibt es keinen Widerspruch zwischen kommunistischer Eigenkandidatur in einigen Wahlkreisen und der Stimmabgabe für Reformisten in anderen. Beide Male dient die ganze Wahl als Träger für die Darstellung des kommunistischen Programms.

Wo Kommunisten kritische Unterstützung gewähren, richten sie konkrete und klar definierte Übergangsforderungen an die Reformisten: Forderungen, die eine Antwort geben auf die dringendsten Bedürfnisse der Massen. Diese Forderungen sind zur Mobilisierung der Arbeiter gedacht, um die reformistische Partei an die Regierung zu zwingen und um den Kampf der Arbeit auch unabhängig führen und organisieren zu können. Revolutionäre müssen die Arbeitermassen darauf vorbereiten, dass die reformistischen Führer sich weigern werden, den Kampf um die Arbeiterinteressen zu führen.  Deshalb muss von Beginn an danach gestrebt werden den proletarischen Kampf der Arbeiterklasse unabhängig zu organisieren. Beide Elemente der kritischen Unterstützung -Forderungen an die Reformisten und Organisierung  des unabhängigen Kampfes zur Verwirklichung diese Forderungen – sind entscheidend, weil, die Regierung einer bürgerlichen Arbeiterpartei (d.h. eine bürgerliche Arbeiterregierung) unweigerlich ein Werkzeug des Kapitals gegen die Arbeiterklasse sein wird. Die Organisierung des unabhängigen Kampfes ist lebenswichtig, um Niederlage und Demoralisierung bei den Massen zu verhindern, wenn sich der reformistische Verrat in der Praxis herausstellt. Gleichzeitig werden die Kommunisten ihr eigenes Programm vorbringen und es den reformistischen Losungen entgegenstellen, auch dort, wo kein Kommunist kandidiert. Um die Arbeiter für eine revolutionäre Alternative zu gewinnen, muss man offen ansprechen (auch für die Dauer der Einheitsfront), wie diese Alternative aussieht.

35. Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung beruht allein auf der Existenz der organischen Verbindung von bürgerlicher Arbeiterpartei und Arbeiterklasse. Sie hängt keineswegs vom Programm oder von den Versprechungen der Reformisten ab. Kommunistische Agitation und Propaganda für die Wahlunterstützung dürfen keiner Interpretation im Sinne einer Unterstützung für Reformisten als strategisches „kleineres Übel“ im Vergleich zu den offen bürgerlichen Parteien Raum geben. Unter bestimmen Umständen (z.B. der Gefahr eines Wahlsieges für offenbürgerliche Parteien, die wesentliche Angriffe auf die Arbeiterbewegung beabsichtigen) kann ein sozialdemokratischer Wahlsieg der Arbeiterklasse einen begrenzten zeitlichen Spielraum verschaffen. Das ist jedoch nur insoweit ein „kleineres Übel“ (oder genauer gesagt, eine weniger unmittelbare Bedrohung), wie das Proletariat diese Atempause dazu ausnutzen kann, sein reales Kampfpotential zu entwickeln. In anderen Situationen wiederum kann eine sozialdemokratische Regierung, wegen ihres Einflusses auf die Gewerkschaften und unter den Massen, die Arbeiterklasse wirksamer angreifen, als eine offen bürgerliche Partei dazu in der Lage wäre. Deshalb basiert unsere kritische Unterstützung nicht auf vorübergehenden taktischen Vor- oder Nachteilen, auch wenn diese an sich wichtig sein mögen. Mit der kritischen Wahlunterstützung wollen wir vielmehr die Arbeiter befähigen, aus den antiproletarischen Aktionen ihrer reformistischen Führer die politischen Lehren zu ziehen. Der Zweck, Reformisten an die Regierung zu bringen, ist genau der sie einem Test zu unterziehen und zu beweisen, dass sie (genau wie die offen bürgerlichen Parteien) Klassenherrschaft und die Staatsmacht der Bourgeoisie erhalten und verteidigen wollen und dass sie deswegen die Arbeiterklasse angreifen.

Kommunisten teilen auch ihre kritische Unterstützung für die bürgerliche Arbeiterpartei nicht auf, indem sie nur den „linken“ Kandidaten, nicht aber den „rechten“ ihre Stimme geben. Bei der Diskussion über die Frage der kritischen Unterstützung für die Labour Party in Britannien durch die ILP im November 1935 bestand Trotzki darauf, dass eine solche Unterstützung nichts mit der Frage von Sanktionen gegen Italien nach dessen Invasion in Abessinien zu tun habe:

„FRAGE: Handelte die ILP korrekt, als sie denjenigen Kandidaten der Labour Party, die für die Sanktionen waren, die Unterstützung versagte?

ANTWORT: Nein. Wirkliche Wirtschaftssanktionen führen zu militärischen Konsequenzen, zum Krieg. Die ILP selbst hat das gesagt. Sie hätte alle LP-Kandidaten unterstützen sollen, d.h. überall, wo die ILP nicht selbst kandidierte. Im ‚New Leader‘ (Neuer Führer) las ich, dass eure Londoner Gruppe übereinkam, nur solche LP-Kandidaten zu unterstützen, die GEGEN die Sanktionen waren. Auch das ist nicht korrekt. Die LP hätte nicht kritisch unterstützt werden sollen, weil sie für oder gegen Sanktionen war, sondern weil sie die Arbeitermassen repräsentiert. ( … ) Die Kriegsgefahr ändert nichts daran, dass die LP eine Arbeiterpartei ist, im Unterschied zur Regierungspartei. Sie ändert auch nichts daran, dass die LP-Führung ihre Versprechen nicht halten kann und das Vertrauen der Massen missbrauchen wird. In Friedenszeiten werden die Arbeiter Hungers sterben, wenn sie sich auf die Sozialdemokratie verlassen; im Krieg werden sie aus demselben Grunde an Kugeln sterben. Revolutionäre unterstützen den Reformismus niemals mit der Begründung, er könne an der Regierung die grundlegenden Forderungen der Arbeiter erfüllen. ( … ) Nein, im Krieg wie im Frieden muss die ILP den Arbeitern sagen: ‚Die LP wird euch täuschen und verraten, aber ihr glaubt uns nicht. Gut, wir werden mit euch gemeinsam diese Erfahrung durchmachen, aber wir werden uns auf keinen Fall mit dem LP-Programm identifizieren.“ (62)

DieBeziehung zwischen bürgerlichen Arbeiterparteien und der Arbeiterklasse kann sehr stabil sein, in einigen Ländern über mehr als ein Jahrhundert hinweg. Die Erfahrung einer oder zweier Amtsperioden, besonders in Zeiten relativer kapitalistischer Expansion, mag nicht genügen, um diese Beziehung aufzubrechen und die Masse der Arbeiter für den Kommunismus zu gewinnen. Dies ändert jedoch nichts an unserer Taktik. Niemals kann die Regierungsübernahme der Reformisten ein strategisches oder notwendiges programmatisches Ziel der Arbeiterklasse sein. Die Taktik sollte im allgemeinen solange weiter angewendet werden, wie die Massen nicht mit ihren reformistischen Führern gebrochen haben – sogar dort, wo Revolutionäre glauben könnten, dass die Arbeiter schon genügend Erfahrungen gesammelt hätten, um sich von ihrer Führung abzuwenden. Dies ist ein Punkt, den wiederum Trotzki betont: „Es wird die Meinung vertreten, die Labour Party habe sich bereits durch vergangene Untaten an der Regierung und durch ihre momentane reaktionäre Plattform genügend entlarvt, z.B. durch ihre Entscheidung in Brighton. Für uns – ja! Aber nicht für die Massen, die acht Millionen, die Labour gewählt haben!“ (63)

Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung ist meistens nur auf bürgerliche Arbeiterparteien mit Massenbasis anwendbar, kann aber unter gewissen Umständen auch gegenüber kleineren reformistischen oder zentristischen Formationen praktiziert werden. Entscheidend ist wiederum die Beziehung solcher Strömungen zur Arbeiterklasse bzw. zu Teilen der Arbeiterklasse. Wo kleine reformistische oder zentristische Gruppen eine wirkliche Linkswendung von Arbeitern oder unterdrückten Gesellschaftsschichten repräsentieren, kann es möglich sein, dass Illusionen in deren unvollständige oder falsche Programme am besten durch die Anwendung der kritischen Unterstützung zerstreut werden können. Eine solche Taktik muss allerdings sehr sorgfältig in ihrem Zusammenhang erwogen werden. Kommunisten müssen jede Tendenz in solchen Formationen bekämpfen, die sich von der Arbeiterklasse abwenden will, weil diese noch die größere reformistische Partei unterstützt.

Im allgemeinen bezieht sich die kommunistische Taktik der kritischen Unterstützung auf die anderen (bürgerlichen) Arbeiterparteien. Es gibt jedoch Ausnahmen – revolutionären Nationalisten, die einen antiimperialistischen Kampf führen, kann unter gewissen Umständen Unterstützung gewährt werden. Trotz der nicht-proletarischen Klassenbasis solcher Parteien gelten (in den Sonderfällen, wo kritische Unterstützung gegeben wird) dieselben Leitlinien auch für diese Variante der Einheitsfront. Keinesfalls unterstützen wir kleinbürgerliche revolutionäre Nationalisten politisch oder unterschreiben gar deren Programm.

Wo reformistische oder zentristische Strömungen ohne nennenswerten Rückhalt in der Arbeiterklasse zur Wahl stehen, muss ihnen frontal entgegengetreten werden. Eine Unterstützung für solche Kandidaten könnte nur als Unterstützung ihrer Politik aufgefaßt werden, was für Kommunisten natürlich niemals in Frage kommt. Das gilt umso mehr für kleinbürgerliche Strömungen, wie z.B. umweltpolitische oder pazifistische Gruppierungen.

Die Arbeiterregierung

36. Der 4. Kongreß der Kommunistischen Internationale stellte fest: in Ländern, wo das Kräfteverhältnis zwischen reformistischen und offen bürgerlichen Parteien die Frage aufwirft, wer die Regierung bilden soll, folgt die Losung einer Arbeiterregierung „unweigerlich aus der gesamten Einheitsfronttaktik.” (64)  Selbst dort, wo dies nicht zutraf, konnte diese Losung „praktisch überall als allgemeine Propagandalosung“ angewendet werden. Die Argumentation dabei muss lauten: die Regierung sollte von den Arbeiterorganisationen kontrolliert werden, sollte in deren Interesse gegen das Kapital handeln und die Arbeiterorganisationen bewaffnen. Dies sind elementare Bestandteile kommunistischer Propaganda.

Der 4. Kongreß vollendete nicht das notwendige Werk der vollständigen Ausarbeitung dieser Losung als Taktik, und danach wurde die wissenschaftliche Diskussion über diese Frage auf dem 5. Kongreß zunächst verunmöglicht und später ganz und gar gestoppt, als die stalinistische KI den Begriff der Arbeiterregierung zugunsten einer offenen Koalition mit der Bourgeoisie, der Volksfront, fallenließ. In den Diskussionen und Thesen des 4. Kongresses finden sich aber die wichtigsten Wesensmerkmale dessen, was für Kommunisten eine wirkliche „Arbeiterregierung“ ausmacht:

„Die vorrangigen Aufgaben einer Arbeiterregierung müssen die Bewaffnung des Proletariats, die Entwaffnung der bürgerlichen und konterrevolutionären Organisationen, die Einführung der Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Umverteilung der überwiegenden Steuerlast auf die Reichen und die gewaltsame Zerschlagung des Widerstandes der konterrevolutionären Bourgeoisie sein.

Eine solche Arbeiterregierung ist nur möglich, wenn sie sich aus dem Kampf der Massen heraus erhebt und von kampffähigen Arbeiterorganen gestützt wird, die von den am meisten unterdrückten Schichten der Arbeitermassen geschaffen worden sind.“ (65)

Diese Beschreibung einer von Kommunisten erstrebten Regierung hat die Funktion eines Einheitsfrontappells an nicht-revolutionäre Arbeiterparteien. Für Kommunisten wird eine solche Regierung der Bourgeoisie den Krieg erklären: „Die Bildung einer wirklichen Arbeiterregierung, d.h. die fortwährende Existenz einer Regierung, die revolutionäre Politik betreibt, muss offenkundig zu heftigen Kämpfen und schließlich zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie führen.“ (66)

Wenn dies aber der kommunistische Inhalt der Losung “Für eine Arbeiterregierung!“ ist, können und werden wahrscheinlich die Reformisten und reformistisch geführten Arbeiter dieser Losung, die als Einheitsfrontangebot gedacht ist, klarerweise einen anderen, nichtrevolutionären Inhalt geben. Der 4. Kongreß der KI befand es darum für notwendig, fünf Regierungstypen zu unterscheiden, denen eine solche Bezeichnung gegeben werden könnte.

Die erste Möglichkeit ist die „liberale Arbeiterregierung.” Damit war die Regierung einer Labour Partei gemeint, die nicht einmal behauptet, sozialistisch zu sein. Dies traf für Australien zu und war für Britannien zumindest wahrscheinlich. Als „sozialdemokratische Arbeiterregierung“ bezeichnete die KI eine Regierung der Sozialdemokratie, wie etwa in Deutschland. Diese beiden Typen waren Regierungen von bürgerlichen Arbeiterparteien und in Wirklichkeit verbrämte Koalitionen mit der Bourgeoisie. Solche Regierungen wurden von der Bourgeoisie geduldet, um revolutionäre Offensiven abzuwehren. Kommunisten können solchen Regierungen keine politische Unterstützung geben. Die Komintern erkannte dies, sah aber auch, dass „sogar solche Regierungen objektiv zur Beschleunigung des Desintegrationsprozesses der bürgerlichen Macht beitragen können.“ (67)  Als Repräsentanten der Arbeiter an die Regierungsmacht gekommen, hätten solche Parteien gezwungen sein können, weiter zu gehen als beabsichtigt und dabei die Erwartungen und Forderungen ihres proletarischen Anhangs zu fördern. Dadurch könnte die Desillusionierung der Massen in reformistische Parteien beschleunigt werden, da eine solche Regierung zwangsläufig mit der Bourgeoisie paktieren würde, wo immer dies nötig ist.

Die dritte Möglichkeit ist eine Regierung von Arbeitern und armen Bauern (damals auf dem Balkan, in Polen und der Tschechoslowakei möglich), und die vierte eine Arbeiterregierung, an der Kommunisten beteiligt sein könnten (z.B. die Regierungsform der Einheitsfront). Beide Regierungsformen könnten von Kommunisten unterstützt werden: „Kommunisten sind bereit, mit jenen Arbeitern gemeinsame Sache zu machen, die noch nicht die Notwendigkeit der proletarischen Diktatur erkannt haben – mit Sozialdemokraten, Mitgliedern christlicher Parteien, parteilosen Syndikalisten usw. Wir sind also bereit, unter gewissen Umständen und mit bestimmten Garantien, eine nicht-kommunistische Arbeiterregierung zu unterstützen. Die beiden Typen 3 und 4, an denen Kommunisten sich beteiligen können, stellen nicht die Diktatur des Proletariats dar, sie sind nicht einmal eine historisch unvermeidbare Übergangsstufe dazu. Aber wo sich so etwas formiert, kann dies zum wichtigen Ausgangspunkt für den Kampf um die Macht werden.“ (68)

Die fünfte mögliche Form der Arbeiterregierung ist jene, in der die Kommunisten selbst die Regierung bilden. Das ist die einzig “reine” Form der Arbeiterregierung und wurde von der Komintern mit der Diktatur des Proletariats gleichgesetzt.

Die von der Komintern formulierte Typologie der Arbeiterregierungen ist heute freilich etwas anachronistisch. Die alten „liberalen Labour Parteien“ und die sozialdemokratischen Parteien sind einander näher gerückt und haben dadurch die beiden Typen der bürgerlichen Arbeiterregierung miteinander verschmolzen. Außerdem hat die bürokratische Degeneration der Sowjetunion und ihre konterrevolutionäre Politik seit dem 2. Weltkrieg die Möglichkeit einer weiteren Form der Arbeiterregierung geschaffen: die „bürokratische Arbeiterregierung“, d.h. eine Regierung, die unter außergewöhnlichen Umständen, nachdem sie die Arbeitervorhut politisch zerschlagen hat, die Bourgeoisie auf bürokratische Weise enteignet und die grundlegenden ökonomischen Strukturen der proletarischen Diktatur einführt – Planwirtschaft und Staatsmonopol des Außenhandels. Obwohl dies eine (wenn auch entartete) Form der Diktatur des Proletariats ist, kann sie der revolutionären Sache nicht dienen und kann deswegen von Kommunisten nicht propagiert oder gefordert werden. Die spezifischen Maßnahmen einer solchen Regierung gegen das Kapital können jedoch verteidigt werden.

37. Die auf dem 4. Kongreß der KI angenommenen Thesen zur Arbeiterregierung tragen die Zeichen des sich schon 1922 entwickelnden und die spätere Degeneration der Komintern begleitenden Konflikts. Sinowjew wollte z.B. die Arbeiterregierung direkt und ausschließlich mit der Diktatur des Proletariats gleichsetzen. Eine solche Auslegung, die „Arbeiterregierung“ einfach zu einem anderen Wort für „Diktatur des Proletariats“ macht, beraubt die Losung ihrer Anwendungsmöglichkeiten in der Einheitsfrontpolitik. Sinowjews Gebrauch der Losung konnte sich beispielsweise nur ultimativ gegen eine sozialdemokratische Regierung richten. Ein solcher Ultimatismus kann sich aber leicht in sein opportunistisches Gegenteil verkehren. Stalin und Bucharin setzten die „Arbeiter- und Bauernregierung“ mit dem überholten und deshalb reaktionären Konzept der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ gleich. Indem sie den entscheidenden Punkt, dass eine solche Regierung ihrem politischen Inhalt nach eine bürgerliche sein würde, verwischten, stellten Stalin und Bucharin die Bildung einer solchen Regierung in China als programmatische Notwendigkeit hin. In Wahrheit aber wäre sie, wie Trotzki erklärte „ein Haupthindernis auf dem Weg zur sozialistischen Revolution“ (69) und somit eine Verfälschung der Taktik der Arbeiterregierung.

Die Gefahr bei solchen unpräzisen Formulierungen wie in den betreffenden Komintern-Thesen steckte am offensichtlichsten in den Typisierungen 3 und 4 der Arbeiterregierung. An solchen Regierungen können Kommunisten beteiligt sein oder auch nicht. Die Bedingungen, unter denen Kommunisten in solche Regierungen eintreten konnten, waren durch die Komintern streng festgelegt: nur nach Zustimmung der Komintern, nur wenn die kommunistischen Regierungsmitglieder unter strengster Parteikontrolle und in engstem Kontakt mit den revolutionären Arbeiterorganisationen standen und schließlich nur, wenn den Kommunisten völlige Unabhängigkeit und das Recht auf offene Kritik eingeräumt worden war. Nicht spezifiziert war dagegen die Haltung in dem Fall, wo diese Bedingungen nicht gegeben waren oder wo aus anderen Gründen Kommunisten nicht diesen Arbeiterregierungen angehörten. Innerhalb eines Jahres nach dem 4. Kongress sollten Meinungsverschiedenheiten über die Haltung zu den von SPD und USPD dominierten Landesregierungen in Deutschland und über die Bedingungen, unter denen Kommunisten diesen Regierungen beitreten könnten, verheerende Folgen für die KPD haben.

38. Die korrekte Anwendung der Taktik der Arbeiterregierung ist aus der Praxis der Bolschewiki in Rußland in den Monaten zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution zu ersehen. Als die Bolschewiki forderten „Alle Macht den Sowjets!“, forderten sie in der Konsequenz eine auf die proletarische Kampforganisationen gestützte Regierung, d.h. mit einem späteren Begriff: eine Arbeiterregierung. Ausgehend von diesem allgemeinen Aufruf (Alle Macht den Sowjets!) konnten die Bolschewiki in der damaligen Situation die Zusammensetzung der Arbeiterregierung, die sie forderten, auch schon genauer konkretisieren. Lenin schrieb im September 1917: „Ein Kompromiss ist unsererseits die Rückkehr zu der Forderung, die wir bis zum Juli stellten: Alle Macht den Sowjets, eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki.” (70) Ihre politischen Aufgaben werden dabei äußerst klar benannt: sofortiger Friedensschluß, Arbeiterkontrolle über die Produktion, Vergesellschaftung aller Banken, Verteilung des Landes an die Bauern und der Einsatz der bewaffneten Staatsmacht (d.h. der Sowjetmiliz) zur Niederschlagung des bürgerlichen Widerstandes gegen diese Maßnahmen.

Mit der Gewinnung der Arbeiter für die Erkenntnis, dass dies die notwendigen Mindestforderungen waren, steigerten die Bolschewiki den Druck auf die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, dieses Programm zu übernehmen. Kombiniert mit der Forderung „Brecht mit der Bourgeoisie!“ und angesichts der Weigerung der Menschewiki, sich auf die Sowjets zu stützen und ein solches Programm durchzuführen, zerstörte dieser Druck die menschewistische Mehrheit in den Sowjets. Als die Macht schließlich den Sowjets zufiel, bestand die folgende Sowjetregierung aus jenen politischen Parteien, die bereit waren, sich auf die Rätemacht zu stützen und die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen – aus den Bolschewiki und den Linken Sozialrevolutionären.

Die Bolschewiki haben die Rolle der Sowjets bei der Machteroberung nicht fetischisiert. Nach den Julitagen, als die Bolschewiki von den Sowjets isoliert waren, ließen sie die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ fallen.

Stattdessen sah Lenin zunehmend in den Fabrikräten eine mögliche Organisationsform als Machtbasis für die Arbeiterregierung. Die Sowjets rückten erst wieder in den Mittelpunkt der bolschewistischen Propaganda, als sie nach dem Kornilow-Putsch redemokratisiert wurden.

Während des Kornilow-Putsches waren die Bolschewiki bereit, eine bürgerliche Arbeiterregierung mit der Waffe in der Hand bedingungslos gegen die Reaktion zu verteidigen. Sie verzichteten aktuell auf den Sturz Kerenskis und boten den Menschewiki und Sozialrevolutionären ein militärisches Bündnis an, weil es in diesem Augenblick darum ging, einem gefährlicheren Feind Schaden zuzufügen. Ihre Absicht war dabei nicht nur, den Fortgang der militärischen Vorbereitungen für die proletarische Revolution zu gewährleisten, sondern weit grundlegender, die Menschewiki vorerst noch an der Regierung zu halten, so dass deren Bankrott und Klassenverrat der Mehrheit der Arbeiterklasse klar vor Augen geführt werden konnte. Genau diese Unterstützung erwies sich als die Schlinge um den Hals der Kerenski-Regierung. Sie ebnete einer Form der Arbeiterregierung den Weg, die tatsächlich die Diktatur des Proletariats war.

39. Die bolschewistische Anwendung der Taktik der Arbeiterregierung besagt im Kern folgendes:

1.) Ein Aktionsprogramm mit Sofortmaßnahmen, die zum einen die Bedürfnisse der Arbeiter artikulieren und andererseits die Notwendigkeit der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse im gesamten Staat betonen, muss aufgestellt werden.

2.) Die Losung für eine Regierung zur Durchführung dieses Aktionsprogramms, für eine Arbeiterregierung, wird man anfangs zumeist algebraisch einbringen müssen, d.h. ohne die Zusammensetzung einer solchen Regierung genau zu definieren. Dies wird in der Mehrzahl der Fälle erst im weiteren Verlauf der revolutionären Entwicklungen möglich werden.

3.) Die Arbeiter- und Bauernparteien werden aufgerufen, mit der Bourgeoisie zu brechen und eine Regierung zu bilden, die sich auf die Verteidigung und Unterstützung durch die Kampforgane der Arbeiter gründet.

4.) Solange die Reformisten von den Massen unterstützt werden, verteidigen Kommunisten sie gegen die Reaktion, aber sie geben ihnen keinerlei politische Unterstützung und bleiben jederzeit vollkommen unabhängig.

5.) Sollten die Reformisten eine auf Räteorgane gestützte Regierung bilden, werden Kommunisten sie bedingungslos gegen die Reaktion verteidigen. Solange eine solche Regierung die Sowjetdemokratie achtet, werden Kommunisten sich gegen diese Demokratie nicht bewaffnet erheben.

6.) Die Kommunisten wahren stets ihre programmatische und organisatorische Unabhängigkeit, sowie ihre Absicht zur Machtergreifung im Staat, sobald die Arbeitervorhut und hinter ihr die Mehrheit der Arbeiterklasse von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt worden sind.

Nur das Aufeinanderprallen realer Gesellschaftskräfte kann der Forderung nach einer Arbeiterregierung einen genauen „arithmetischen“ Inhalt geben. Somit lautete im Jahre 1917 vor dem 2. Sowjetkongress die korrekte Losung „Alle Macht den Sowjets!“, auf dem 2. Kongreß jedoch lautete die korrekte Forderung: „Für eine Regierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären!“

40. Die Forderung nach der Bildung einer auf Sowjets oder anderen proletarischen Kampforganen basierenden Regierung ist wohl ein zentrales Element für die Taktik der Arbeiterregierung, muss aber immer dem politischen Programm untergeordnet sein. Sowjets können genauso eine reaktionäre wie eine revolutionäre Mehrheit haben, da sie nur Vertretungsorgane sind. Ihre Existenz an sich bietet keinerlei Gewähr. Das zeigt sich in negativer Form bei der deutschen Revolution von 1918. Damals lag die Macht in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, und wie in Russland im Februar 1917 überließen sie die Macht ihren reformistischen Führern. Die von Ebert und Scheidemann ausgerufene Regierung war (nach dem Scheitern des Versuches, im Verein mit Prinz Max von Baden die Monarchie zu retten) eine auf die Arbeiterräte gestützte republikanische Regierung. Der Form nach war sie eine Arbeiterregierung. Doch ihr politischer Inhalt war der einer bürgerlichen Regierung, d.h. ein verstecktes Bündnis mit der Bourgeoisie, um die revolutionäre Offensive des Proletariats aufzufangen und letzten Endes zu zerschlagen. Die SPD-Führer nutzten ihren Einfluss in den Räten, um ihre Machtbasis auf das bürgerlich-parlamentarische Gremium der Weimarer Nationalversammlung zu verlagern. Damit brachten sie ihre Regierungsform in Einklang mit ihren politischen Inhalten und Absichten.

1919 gebrauchten die Reformisten in einem nun offenen Volksfrontbündnis mit bürgerlichen und aristokratischen Elementen ihre bürgerliche Staatsmacht zum weißen Terror und zur Liquidierung der revolutionären Arbeitervorhut, begünstigt durch deren Isolation von der großen Mehrheit der Arbeiter.

Der Kapp-Putsch im März 1920 enthüllte sowohl die Beweglichkeit wie auch die Schranken des Reformismus, wenn er an die äußerste Grenze seiner Manövrierfähigkeit zwischen den Klassen getrieben wird. Die mobilisierten und teilweise bewaffneten Arbeiter hielten Ebert, Scheidemann und Noske an der Regierung, als die bürgerliche Armee sie stürzen wollte. Als Legien jedoch eine „Arbeiterregierung“ vorschlug (worunter er eine bürgerliche Arbeiterregierung verstand), um einer Wiederholung des Staatsstreiches vorzubeugen, erkannten die SPD-Führer, dass sie dadurch unter einen zu großen Druck von seiten der Arbeiterklasse kommen würden. In einer solchen Lage zu verkünden, die Arbeiterräte sollten die Grundlage der Regierung sein, würde bei den Arbeitern Erwartungen wachrufen, von denen die SPD wußte, dass sie sie weder erfüllen konnte noch wollte. Mit diesen Aussichten konfrontiert, ging die SPD lieber ein neues Bündnis mit der Bourgeoisie ein. Sobald die neue Regierung fest im Sattel saß, wurde die Reichswehr aufgeboten, um die Arbeiterräte zu entwaffnen.

Als Legien jenen Vorschlag machte, war die KPD kategorisch gegen die Bildung einer solchen Arbeiterregierung und stellte dem die Notwendigkeit der Revolution entgegen. Dies half der SPD aus der Klemme und war letzten Endes eine sektiererische Antwort. Welchen Wert die korrekte Handhabung der Taktik der Arbeiterregierung damals hätte haben können, dürfte klar sein. Die Propagierung eines politischen Programms für eine solche Regierung, die Legalisierung der bewaffneten Arbeiterräte, die Demobilisierung und Auflösung der Freikorps, ein sofortiges Bündnis mit Sowjetrussland, Opposition gegen die Versailler Reparationsleistungen usw., hätte Legiens Absichten bezüglich einer solchen Regierung durchkreuzen können. Zugleich hätte eine wohlwollende Unterstützung für die Idee einer Regierung der Arbeiterparteien und die bedingungslose Verteidigung einer solchen Regierung gegen die Reaktion die KPD näher an die Massen herangebracht und außerdem den Druck auf die Reformisten, kein Bündnis mit der Bourgeoisie zu schließen, verstärkt. Hätte die SPD dies trotzdem getan, so wären die Arbeiter dann besser auf unabhängige Verteidigungsmaßnahmen vorbereitet gewesen, als die Reformisten versuchten, sie zu demobilisieren und zu entwaffnen.

Unter den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist Deutschland ein weitaus typischeres Beispiel für die Kontrolle des Reformismus über die Arbeiterklasse als Rußland. Darum müssen Revolutionäre die Lehren aus der deutschen Erfahrung ziehen. Insbesondere muss ein Unterschied gemacht werden zwischen Verteidigung und politischer Unterstützung einer Regierung. Kommunisten sind bereit, reformistisch geführte Regierungen falls nötig mit der Waffe in der Hand gegen die Reaktion zu verteidigen, gleichgültig, ob sie formell auf bürgerlich- konstitutionellen Strukturen basieren (bürgerliche Arbeiterregierung), oder ob sie sich formell auf Arbeiterorganisationen stützen (Arbeiterregierung). Politische Unterstützung kann im Gegensatz dazu nur eine Arbeiterregierung erhalten, die den Weg der Revolution einschlägt, d.h. als eine „wirkliche Arbeiterregierung“ handelt. In Übereinstimmung mit der Linie der Komintern und der IV. Internationale erwarten wir von bürgerlichen Arbeiterparteien oder Zentristen nicht, dass sie sich fähig zeigen, eine solche Regierung zu bilden. Doch wie das Übergangsprogramm erklärt: „… man kann nicht im voraus prinzipiell die theoretische Möglichkeit ausschließen, dass unter dem Einfluß von ganz außergewöhnlichen Umständen (Krieg, Niederlage, Finanzkrach, revolutionärer Massendruck usw.) die kleinbürgerlichen Parteien, einschließlich der Stalinisten, weiter gehen auf dem Weg zum Bruch mit der Bourgeoisie, als sie selbst wollen.“ (71)

41. Trotzki sah diese schwache, theoretische Möglichkeit, dass die Sozialdemokraten oder Stalinisten unter außergewöhnlichen Umständen „wirkliche Arbeiterregierungen“ bilden könnten, die mit der Bourgeoisie in wichtigen Fragen brechen. Seine Epigonen haben dies zu einer Position verzerrt, die aus einer Regierung, die aus solchen Parteien besteht bzw. sie mit einschließt, eine „Arbeiterregierung“ macht. Da wird unterstellt, eine KP/SP-Regierung in Frankreich sei eine Arbeiterregierung, und dies etwa nicht im Sinne einer bürgerlichen Arbeiterregierung (siehe Pierre Lamberts IV. Internationale – IK). Da wird behauptet, die Bildung einer Arbeiterregierung durch die britische Labour Party sei nicht nur sehr gut möglich, sondern auch strategisch notwendig (britische WSL). Beides ist feigster Opportunismus. Wir weisen eine solche mißbräuchliche Verwendung des Begriffs „Arbeiterregierung“ weit von uns. Der Sinn der Thesen des 4. Kongresses der Komintern ist klar folgender: „Arbeiterregierung“ bezieht sich auf eine Regierung, die antritt, um die Bourgeoisie zu entwaffnen, die Maßnahmen zur Beseitigung der bürgerlichen Kontrolle über die Produktion einleitet und die, um diese Politik durchzusetzen und zu verteidigen, die Arbeiterklasse mittels ihrer eigenen Organisationen bewaffnet und jenen Organisationen gegenüber verantwortlich ist.

In diesem Sinne beziehen wir uns auf die Forderung nach einer Arbeiterregierung, womit wir den Vorschlag meinen, die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen und offensiv voranzubringen. Dies steht im Einklang mit den Prinzipien der Einheitsfront, dass Kommunisten und Nicht-Kommunisten die Reihen schließen, sogar auf Regierungsebene. Alle anderen Regierungsformen von Reformisten oder Zentristen müssen korrekt als „bürgerliche Arbeiterregierungen“ bezeichnet werden. Ob man die Arbeiterregierung direkt fordert, hängt völlig von den Umständen ab.

Außer in revolutionären Krisen, in denen sich die Machtfrage unmittelbar stellt, fordern Kommunisten die Arbeiterregierung im Sinne einer Propagandalosung für eine wirkliche, revolutionäre Arbeiterregierung. Gleichzeitig fordern wir von den reformistischen Parteien an der Regierung, dass sie konkrete Schritte zum Bruch mit der Bourgeoisie und für die Interessen der Arbeiter unternehmen.

Anmerkungen

1) Leon Trotsky: The Struggle Against fascism in Germany. (New York 1971) S.284

2) ebenda, S.158

3) Karl Marx: Kapital Bd. 1. MEW 23, S.562

4) W.l. Lenin: Was tun? LW 5, S.396

5) Trotsky: a.a.O., s.159

6) Lenin, zitiert nach: On Scientific Communism  (Moskau 1967) S.490

7) Friedrich Engels: ebenda

8) Trotsky: The Crisis in the French Section (New York 1977) S.45

9) Trotsky: On Britain. (New York 1973) S.154

10) ebenda, S. 161

11) A. Bordiga war Wortführer der kommunistischen, abstentionistischen Fraktion der Sozialistischen Partei Italiens. Seine Leitsätze über den Parlamentarismus stellten den Wahlboykott als revolutionäres Prinzip auf und wurden vom 11. WK der Komintern zugunsten einer Vorlage Trotzkis und Bucharins abgelehnt. Bucharin bemerkte allerdings während der Debatten, dass „dieser prinzipielle Antiparlamentarismus uns viel sympathischer ist als der opportunistische Parlamentarismus.“ (vergl. Leitsätze der Kommun. Internat. über die Rolle der Kommun. Partei, den Parlamentarismus, die Gewerkschaften und Betriebsräte, die Arbeiterräte Revolutionäre Flugschriften Nr. 5, European Underground Press Syndikate, Marburg o.J.)

12) D. Rjazanov: Karl Marx and Friedrich Engels (New York 1973) S.150

13) Marx/Engels: Articles on Britain. (Moskau 1971) S.394

14) Lenin, LW 31, S.20

15) Lenin: British Labour and British Imperialism. (London 1969) S.97

16) J. Degras (Hrsg.)- The Communist International: Documents. (London 1971) Bd. 1, S.243

17) ebenda S.248

18) Theses, Resolutions and Manifestos of the Communist International. (London 1980) S.302

19) Trotsky: The First Five Years of the Communist International. (New York 1953) Bd. 2, S.91-94

20) Degras: a.a.O., S.313/14

21) ebenda, S.341

22) ebenda, S.342

23) Trotsky: The Third International After Lenin. (New York 1970) S.129

24) Trotsky: The First Five Years of the Communist International. Bd. 2, S.94

25) The Struggle Against Fascism in Germany. S.394

26) Trotsky: The Third International After Lenin. S.75

27) Trotsky: Writings 1933-34. (New York 1972) S.55

28) Trotsky: The Struggle Against Fascism in Germany. S.139

29) ebenda, S. 138

30) Wir verwenden hier die amerikanische Schreibweise „labor“, um diese ursprünglich mit Bezug auf die USA entwickelte Taktik von der britischen „Labour Party“ zu unterscheiden.

31) Lenin: British Labour and British Imperialism. S.77

32) Engels an F.A. Sorge ; 7.‘ Dez. 1889 (MEW 37, S. 320/21)

33) T. Draper- American Communism and Soviet Russia (New York 1960) S.36

34) J. Cannon- The First Ten Years of American Communism. (New York 1973) S.59

35) Eine endgültige Einschätzung der Position der Komintern in dieser Periode können wir an dieser Stelle allerdings nicht geben, da uns hierfür kein ausreichendes Material zur Verfügung steht.

36) Cannon: The Left Opposition in the USA, 1928 – 31.(New York 1981) S.106

37) Trotsky: Writings 1932. (New York 1973) S.95

38) Trotsky: The Transitional Programme. (New York 1977) S.190

39) ebenda, S.82/83

40) ebenda, S. 108

41) Founding of the Socialist Workers Party. (New York 1982) S.241

42) Trotsky: Writings 1932. S.96

43) Fabier, eine brit. reformistische, vor allem bei Intellektuellen verbreitete Strömung.

44) Lenin: Collected Works. (Moskau 1966) Bd.31, S.199

45) ebenda

46) Lenin: British Labour and British Imperialism. S.271

47) zitiert nach M.Woodhouse und B.Pearce: Essays in the History of Communism in Britain.

 (London, 1975 S.180. Für eine vollständige Analyse siehe Workers Power Nr. 35.)

48) Founding of the Socialist Workers Party. S.217

49) Trotsky: Writings, Supplement 1934-40. (New York 1979) S.494

50) Trotsky: Writings 1934-35. (New York 1974) S.393

51) Trotsky: The Crisis in the French Section. S.116

52) ebenda, S.125/26

53) Towards a History of the Fourth International. (New York 1974) Teil 4, Bd. 1, S.32

54) ebenda, S.35

55) ebenda

56) ebenda, S.36

57) ebenda

58) „Bericht der Österreichischen Kommission“ in: International Information Bulletin. (New York 1951)

59) Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus. LW 31, S.72

60) ebenda, S.75

61) ebenda

62) Trotsky: Writings 1935-36. (New York 1977) S.199

63) ebenda

64) Degras: a.a.O., S.425

65) ebenda, S.426

66) ebenda

67) ebenda, S.427

68) ebenda

69) Trotsky: The Transitional Programme. S.134

70) Lenin: LW 25, S.314

71) Trotsky: The Transitional Programme. S.135




Thesen zur Wahltaktik

Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale, 1986, veröffentlicht in: Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

1. In der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus stellte das Parlament ein Forum dar, in dem die politischen Führer des Bürgertums und ihre Verbündeten die Politik ihres Staates erörterten und entschieden. In ihren Kämpfen um die Vorherrschaft gegen historisch reaktionäre Klassen und fremde Konkurrenz konnte das Bürgertum oft nicht umhin, die Unterstützung von niedrigeren Klassen anzufordern. Die Mehrheit der Nation bestand hauptsächlich aus Bauern und Proletariern. Die Bourgeoisie mobilisierte die Massen wohl unter dem Banner von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, stellte aber sicher, daß es keine politische Machtteilung mit untergeordneten Klassen gab.

2. Die Entfaltung des Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft erweckte die unterdrückten Klassen zu politischem Kampf auf eigene Rechnung, oft unter den Parolen der Demokratie, und beflügelte somit die Auseinandersetzung um das allgemeine Wahlrecht. Dieser Kampf war fortschrittlich, und wo er erfolgreich war, haben Kommunisten ihn gegen reaktionäre Attacken verteidigt. Dort aber, wo die Bourgeoisie das Wahlrecht zugestehen mußte, änderte sich auch die Funktion des Parlaments. Die wirklichen Entscheidungsprozesse wurden aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit ausgelagert auf die miteinander verflochtenen Domänen Staatsbürokratie und Privatkapital. Aus dem Parlament wurde in erster Linie eine demokratische Fassade für die fortwährende Diktatur der Bourgeoisie. Der Pseudocharakter der bürgerlich-parlamentarischen „Demokratie“ ist verstärkt worden durch eine Reihe von Grenzpflöcken gegen die Repräsentanz der Massen.

Die Wahlsysteme sind allgemein zugunsten der Bourgeoisie konstruiert. Dies geschieht über die geografische Aufteilung der Parlamentssitze, über “Wahlprozentklauseln”, unterhalb derer Kandidaten ausgeschaltet werden, über Finanzbürgschaften für Kandidaten, das System der „einfachen Mehrheit“ oder indem großen Teilen, bspw. Arbeitsimmigranten, das Wahlrecht vorenthalten wird. Kombinationen aus diesen Einschränkungen können sogar dazu führen, daß sich eine Wählerminderheit eine Sitzmajorität sichert. Kommunisten sind gegen solche schiefen Repräsentationsverhältnisse des “Volkswillens” die unvermeidlich zu Lasten der Arbeiterklasse gehen. Wir sind für ein System von proportionaler Vertretung, die einen genauen Ausdruck der Vielfalt von politischen Meinungen in der Masse der Bevölkerung geben. Kommunisten treten für demokratische Reformen des bürgerlich-demokratischen Systems ein (Verhältniswahlrecht, Abschaffung des Zweikammer-Systems, des Präsidialamtes oder der konstitutionellen Monarchie, parlamentarische Kontrolle der Vollzugsorgane, angemessene Diäten, durchgängiges und allgemeines Wahlrecht usw.).

Solche Reformen können niemals ein Parlament in ein Instrument zur Erringung des Sozialismus verwandeln. Aber die Erfahrungen mit den bürgerlichen Versuchen, sich einer „Demokratisierung“ zu widersetzen, und mit der Unfähigkeit eines „demokratischen“ Parlaments, die reale Staatsmacht, nämlich die „bewaffneten Spezialeinheiten“, herauszufordern, kann ein wichtiger Bestandteil des Kampfes sein, der die Arbeiterklasse von ihren Illusionen in die bürgerliche Demokratie befreit.

3. Parlamentarische Demokratie entstand auf der Grundlage eines heranreifenden Klassenkampfes der ersten Kapitalmächte. Deren Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert zu imperialistischen Mächten ließ die Auspressung von Extraprofiten aus der kolonialen Welt zu. Ein Teil dieses ungeheuren Reichtums wurde von den imperialistischen Mächten dazu verwendet, Zugeständnisse an ihre einheimische Arbeiterklasse zu machen. Aber selbst diese mußte sich die Arbeiterklasse erkämpfen. Dieser in die parlamentarische Ebene getragene Kampf war ein wichtiges Instrument zur politischen Organisierung der Arbeiterklasse.

Aber im Zuge der reformistischen Degeneration der Parteien der Zweiten Internationale, die hieran führend beteiligt waren, wurde der Kampf um Zugeständnisse zum beherrschenden Moment ihrer politischen Praxis. Der Konzessionsspielraum des Kapitals und der Parlamentarismus der eigenen politischen Führer verstärkten die ideologische Dominanz der bürgerlichen Demokratie in den Arbeiterklassen der Metropolen.

4. Die von den Extraprofiten abhängige parlamentarische Demokratie konnte nicht auf die Kolonialsphäre ausgedehnt werden. Genauso wenig konnte sie auf Dauer selbst in den imperialistischen Kernländern aufrechterhalten werden. Niedergehende untergeordnete Imperialismen wie Spanien und Portugal und die geschlagenen Imperialisten nach dem Ersten Weltkrieg mußten sich des Luxus‘ der Demokratie entledigen, um durch Steigerung der Ausbeutungsrate mit den rivalisierenden Kapitalen konkurrieren zu können. In ähnlicher Form haben sogar die Parlamente in den reichsten Imperialismen sich mit einer im wesentlichen dekorativen Rolle abgefunden, indem sie die gesetzliche Handhabe zu ihrer eigenen Kaltstellung in Kriegs? oder sozialen Krisenzeiten geschaffen haben.

5. Nichtsdestotrotz gilt: Solange das Proletariat und seine Bundesgenossen unter den Unterdrückten und Ausgebeuteten Illusionen in das Parlament hegen, müssen Kommunisten ihre Verantwortung gegen die Verbreitung dieser Illusionen wahrnehmen. Dies kann durch die Entwicklung von Taktiken geschehen, die die Massen in den Stand setzen, durch eigene Erfahrung den schwächlichen und scheinheiligen Charakter der bürgerlichen Demokratie zu durchschauen. Die grundlegenden Prinzipien für die parlamentarische Strategie und Taktik wurden von der Kommunistischen Internationale in der revolutionären Phase der ersten vier Kongresse niedergelegt.

6. Ausgangspunkt der kommunistischen Parlamentstaktik sind die Parlamentswahlen, die dem Proletariat und den Unterdrückten scheinbar die Gelegenheit bieten, über das Schicksal der Nation zu entscheiden. Wahlen erzeugen einen relativ höheren Grad an politischen Aktivitäten als sonst. Das erlaubt Kommunisten, sich mit ihrer Propaganda an ein breiteres Publikum als sonst zu wenden. Das kommunistische Programm kann im Kontext einer breiteren Diskussion über die Taten vergangener Regierungen und die Erwartungen an künftige Regierungen präsentiert werden. Der elementarste Grundsatz für Kommunisten ist die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Kontrolle durch die Arbeiterklasse. Demzufolge können Kommunisten unter keinen Umständen zur Unterstützung für Parteien aufrufen, die sich auf die Bourgeoisie stützen oder sie repräsentieren. Gleichermaßen sind Parteien oder Bewegungen, die sich als „nicht klassengebunden“ bekennen (z.B. grüne oder ökologische Parteien) in Wahrheit getarnte bürgerliche Parteien, und ihre Kandidaten sind keiner Unterstützung wert. Wo es möglich ist, sollten Kommunisten kandidieren und die Tribüne, die sich in einer Wahl bietet, voll ausnutzen. Das Manifest der Partei muß das kommunistische Programm enthalten, zugeschnitten auf die spezifische Zeit und den Ort und in die Form eines Aktionsprogramms gebracht sein. Daraus resultiert, daß die Ausarbeitung eines solchen Programms die Vorbedingung für die kommunistische Kandidatur ist. Die Partei muß außerdem über die organisatorischen und personellen Kräfte für eine konsequente Kampagne in der Arbeiterklasse verfügen.

7. Der Zweck einer kommunistischen Wahlkampagne ist vor allem die Gewinnung von Anhängern für die Sache des Kommunismus und die Organisierung derselben, sowie den Einfluß der Kommunisten in der Arbeiterklasse zu vergrößern. Dem stets untergeordnet ist die Erringung von Parlamentssitzen. Die Kampagne selber muß die Notwendigkeit der direkten Arbeiteraktion herausstreichen, um damit selbst die elementarsten Ziele zu erlangen, und die Unmöglichkeit betonen, das Parlament zur Niederzwingung der Bourgeoisie und zum Sturz des Systems zu nutzen. Nur wenn Sitze auf dieser Grundlage gewonnen werden, bedeuten sie einen Sieg und können als sicheres Fundament für kommunistische. Taktik auf parlamentarischer Ebene dienen. Darum treten Kommunisten auch nicht aus Angst vor einer „Spaltung der Arbeiterstimmen“ von einer Eigenkandidatur bei Wahlen zurück. Das Ausfindigmachen und die Organisierung von frischen Rekruten für die Sache des Kommunismus sind ein höheres Gut als die Wahl eines nichtkommunistischen Abgeordneten für ein Betrugsparlament. Daher ist es trotz allem normalerweise ratsam, in den reformistischen Wahlhochburgen zu kandidieren, da dies in der Regel Regionen mit hohem Arbeiteranteil sind, wo es größere Chancen gibt, die klassenbewußtesten Arbeiter zu erreichen.

8. Ziel der Taktik im Parlament ist die Aufdeckung seines wahren Zwecks und Charakters als Quasselbude zur Verschleierung der Operationen des bürgerlichen Staates. Kommunisten wollen das Parlament als Plattform benutzen, um ihr Programm der Revolution der breitestgefächerten Zuhörerschaft zu erklären. Außerdem sollten Kommunisten die öffentliche Bloßstellung der Absichten und der Klasseninteressen ansteuern,die hinter den fraktionellen Vorschlägen der herrschenden Klasse und ihrer Agenten stecken, wie sie sich in den Parlamentsdebatten und in der Gesetzgebung niederschlagen. Und drittens müssen kommunistische Abgeordnete versuchen, gegen besonders arbeiterfeindliche Gesetze zu arbeiten und sie hinauszuzögern. Hingegen müssen sie Gesetzesreformen im Interesse der Arbeiterklasse oder der unterdrückten Teile der Gesellschaft unterstützen. Die parlamentarischen Privilegien müssen ausgenützt werden, um das Parlament anzugreifen, um der Heuchelei der bürgerlichen Ideologie die Maske vom Gesicht zu reißen, um die Lage der Ausgebeuteten und Unterdrückten darzustellen: das ist das Markenzeichen der kommunistischen Taktik im Parlament.

9. Wo aus Kräftemangel Kommunisten nicht imstande sind, selber zu kandidieren, wo aber andere, nichtkommunistische Arbeiterkandidaten antreten, kann unter Umständen, im Einklang mit den kommunistischen Prinzipien, eine Einheitsfront in Form einer kritischen Wahlunterstützung angeboten werden. Entscheidendes Kriterium ist dabei das Verhältnis des nichtkommunistischen Kandidaten zur Arbeiterklasse und den Unterdrückten, aber nicht die Plattform seiner Partei. Zwar können Nichtkommunisten Wahlversprechen mit arbeiterfreundlichen Maßnahmen machen und dadurch Unterstützung bei der Arbeiterklasse erlangen, aber die Erfordernisse des kapitalistischen Systems schränken die Möglichkeit, solche Versprechungen auch einzuhalten, ein – auch da, wo sie ernst gemeint sind. Kommunisten müssen die Arbeiterklasse davor warnen und die Widersprüche zwischen Reformisten und ihrer Arbeiterbasis ausnutzen, wenn solche Versprechen nicht erfüllt werden.

Der widersprüchliche Charakter solcher Parteien erlaubt den Einsatz der Einheitsfront ihnen gegenüber. Diese Taktik kann angewendet werden, wo Vertreter von organisch mit der Arbeiterklasse verbundenen Organisationen kandidieren, bspw. reformistische Parteien oder Gewerkschaften, wo keine derartige Partei existiert. Kritische Unterstützung heißt, die Arbeiter zur Stimmabgabe für diese Kandidaten aufzurufen, aber auf Grundlage der Kritik an ihrem Programm. Das kommunistische Programm, das sei noch einmal betont, ist das Fundament kommunistischer Propaganda in Form von Forderungen an die Kandidaten. Nicht nur die Überlegenheit dieses Programms im Vergleich mit dem reformistischen muß erklärt werden, sondern es muß auch nachgewiesen werden, daß die reformistische Partei in der Vergangenheit nicht einmal ihre begrenzten Versprechen eingelöst hat.

Aber solche Argumente überzeugen die Arbeitermassen wahrscheinlich nicht davon, „ihre“ Partei zu verlassen. Auch die notwendigen Klassenaktionen, um die Partei an ihre aktuellen Versprechen zu binden und Nahziele zu erreichen, müssen herausgekehrt werden. Im Einklang mit den Prinzipien der Einheitsfront marschieren die Kommunisten unter eigenem Banner für das Aktionsprogramm und schonen weder in der Kritik noch durch Warnungen vor ihnen die nichtkommunistischen Parteien und Kandidaten, bieten aber ehrlich an, mit den Nichtkommunisten „vereint zu schlagen“ durch Stimmabgabe für deren Kandidaten und gemeinsames Vorgehen in laufenden Kämpfen. So können Nichtkommunisten in der Praxis auf die Probe gestellt werden. In Perioden relativer Klassenruhe hat diese Taktik einen wichtigen Anwendungsbereich, sogar für kleine Propagandagruppen, in der Schulung von Kadern und der Rekrutierung neuer Kräfte auf der Grundlage eines Verständnisses der Einheitsfrontmethode.

10. Wo etablierte reformistische Parteien bestehen, und Kommunisten für eine Eigenkandidatur nicht stark genug sind, kann eine solche kritische Unterstützung wiederholt und über einen längeren Zeitraum notwendig sein. Nichtsdestotrotz darf diese Taktik nicht zur Routine, zur automatischen Unterstützung für nichtkommunistische Kandidaten werden. Ein solch wiederholter Gebrauch dieser Taktik darf nicht zur Strategie werden, eine lange Anwendung darf nicht dazu verkommen, daß wir glauben, nur die „Erfahrung mit einer Regierung der Arbeiterpartei könnte die Arbei-terklasse vom Reformismus losbrechen“ und die Errichtung einer solchen Regierung sei daher strategische Notwendigkeit für das Proletariat.

Die Anwendung der Taktik muß stets auf einer konkreten Analyse der gegenwärtigen Situation fußen. Ein Austausch bürgerlicher Regierungen ist niemals die kommunistische Lösung für eine die Arbeiterklasse bedrohende Krise. Leere Parolen wie „stürzt“ eine bestimmte unpopuläre Regierung, bevor die Arbeiterklasse so weit ist, ihre eigene Regierung – gestützt auf ihre Kampforganisationen – durchzusetzen, bedeuten, daß man gefährliche Illusionen über die Potenzen von nichtkommunistischen Parteien zur Verteidigung und Ausweitung von Arbeiterinteressen ausstreut. Dem ähnlich können Forderungen nach einer reformistischen Partei an der Regierung „auf einem sozialistischen Programm“ oder – was aufs gleiche hinausläuft – daß die „linken“ Reformisten einen Kampf darum führen sollen, niemals kommunistische Losungen sein.

Wer ebenso die Unterstützung der Arbeiterklasse für eine nichtkommunistische Partei auf der Ebene des „kleineren Übels“ gegenüber einer offen bürgerlichen Partei gutheißt, impliziert die gefährliche Schlußfolgerung, daß solche Parteien an der Regierung notwendigerweise eine Form von Verteidigung gegen bürgerliche Angriffe böten. Die Wahl einer bürgerlichen Arbeiterregierung könnte zwar eine geplante Attacke der bürgerlichen Parteien vereiteln; das wird aber nur vorübergehend sein, falls die Arbeiterklasse nicht das Aktionsprogramm der Kommunisten annimmt, das als Forderungspaket an die bürgerlichen Arbeiterparteien von Grund auf bei der kritischen Unterstützung gestellt werden muß.

11. Wo Wahlen von der Bourgeoisie benutzt werden, um einen Ausbruch von Arbeitermilitanz zu ersticken, müssen Kommunisten die Vordringlichkeit von direkten Aktionen, um Kampfesforderungen durchzusetzen, verfechten. Das kann entweder Wahlboykott oder kritische Unterstützung von militanten, nichtkommunistischen Vertretern des Kampfes (aus Streikkomitees, Aktionsräten etc.) gegen etablierte Parteien heißen. Die Boykott-Taktik kann in Situationen angewandt werden, wo die Teilnahme an Wahlkampagnen die Arbeiterklasse effektiv von Kämpfen abhalten würde, in die sie aktiv eingegriffen hat (z.B. verallgemeinerte revolutionäre Aufstände, die die bürgerliche Ordnung zu sprengen drohen), oder wo die Massen die konterrevolutionäre Absicht der Parlamentswahlen klar durchschauen können, z.B. Rußland 1905 oder Spanien 1931. Enthaltung hingegen ist geboten, wo kein Kandidat auf prinzipienfester Grundlage unterstützt werden kann. Wo bspw. kein Arbeiterkandidat, und sei es von einer reformistischen Partei, antritt, können Kommunisten der Arbeiterklasse nicht raten, für den „sympathischsten“ Kandidaten oder einen Kandidaten einer bürgerlichen Partei, der von Arbeiterorganisationen unterstützt wird, zu stimmen. In einer solchen Situation kann die Mobilisierung anläßlich der Wahlen am ehesten erreicht werden durch die Propagierung der Abgabe von ungültigen Stimmzetteln, um die Arbeiteropposition gegen alle Kandidaten zu registrieren. Unter besonderen Umständen kann dies genutzt werden, um den Grad an Unterstützung für das Aktionsprogramm der kommunistischen Organisation einzuschätzen.

12. Die kritische Wahlunterstützung kann auch angewendet werden bei Kandidaten, die unterdrückte Gruppen wie bspw. ethnische Minderheiten vertreten. Kriterien dürfen hier nicht nur das Verhältnis des Kandidaten zur Gruppe sein, sondern auch die angegebenen Kampfziele und -methoden. Wo eine Unterstützung auf prinzipienfester Grundlage möglich ist (d.h. wo sie nicht den historischen Interessen des Proletariats zuwiderläuft), kann auch die Entscheidung für ein Einheitsfrontangebot an die Unterdrückten auf Kosten der Einheitsfront mit der reformistischen Arbeiterklasse prinzipienfest sein – ungeachtet des nichtproletarischen Charakters des Kandidaten. Solche Entscheidungen können nur im Lichte besonderer Umstände gefällt werden, wie der politischen Bedeutsamkeit der Kampagne und der Möglichkeit, die Anhänger des Kandidaten in Richtung Kommunismus zu beeinflussen.

13. Kommunisten unterstützen nichtkommunistische Parteien auf der Grundlage von deren Verhältnis zur Arbeiterklasse oder den Unterdrückten kritisch, ohne Rücksicht auf Persönlichkeit oder Privatmeinung des Kandidaten. Wir unterscheiden bei der Unterstützung nicht „linke“ gegenüber „rechten“ Kandidaten.

14. Aus demselben Grund unterstützen wir keine zentristischen Kandidaten kritisch, weil etwa ihre Plattform besser wäre als die anderer Kandidaten.

Zentristen sind für uns jene Gruppen, die zwischen revolutionären und reformistischen Positionen schwanken. Solche Schwankungen sind lebensgefährlich in der Klassenführung, besonders unter Bedingungen einer gesellschaftlichen Krise, wo zentristische Formationen oft entstehen. Typischerweise jedoch enthält die Plattform des Zentrismus Elemente des kommunistischen Programms. Deshalb kann sie als qualitativ besser gegenüber der Plattform der Reformisten erscheinen. Das ist eine Illusion; die Überlegenheit des kommunistischen Programms liegt nicht in der individuellen Wünschbarkeit jeder einzelnen Forderung, sondern in der zusammenfassenden Wirkung aller Forderungen als Strategie zur Eroberung der Macht. Eine Partei mit einer Wahlplattform, die nur Teile der Revolutionsstrategie enthält und diese mit Strategieteilen der Reform, d.h. der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie einschließt, würde die Arbeiterklasse ins Verderben, zur Spaltung in entscheidenden Kampfmomenten führen.

Aber wo zentristische Kandidaten einen echten Bruch von bedeutenden proletarischen Klassenkräften mit dem Reformismus und eine Annäherung an die Sache des Kommunismus verkörpern, kann eine Wahlunterstützung für solche „Kandidaten des Kampfes“ mit kommunistischen Prinzipien vereinbar sein. Dies gilt gleichermaßen für Kandidaten, die gegen offen reaktionäre Konkurrenten antreten, wie für solche gegen die „offiziellen“ Kandidaten der reformistischen Parteien. Wo Zentristen dies nicht repräsentieren, selbst wenn sie ein gewisses Maß an Wahlunterstützung genießen, oder wo sie nichts außer sich selbst vertreten, gewähren wir keine derartige kritische Unterstützung. Ihre Kandidatur ist Ablenkung und eine Sackgasse für die Klasse, und es ist die Pflicht von Revolutionären in solchen Situationen, die Einheitsfront mit den Arbeitermassen zu schmieden und nicht die Zentristen zu unterstützen.

15. Hinsichtlich ihres Klassencharakters sind stalinistische Parteien – genau wie sozialdemokratische – bürgerliche Arbeiterparteien. Sie sind weder besser noch schlechter als die Sozialdemokratie. jede Entscheidung, ob auch stalinistische Kandidaten kritisch unterstützt werden, muß auf der Grundlage ihres Verhältnisses zur Arbeiterklasse getroffen werden. In Ländern, wo sie nicht mehr als eine Sekte sind, sollten sie nicht unterstützt werden. Im oben angeführten Sinne kritisch unterstützt sollten sie dort werden, wo sie, wie z.B. in Italien, die dominante Arbeiterpartei sind. Wo die Anhängerschaft in der Arbeiterklasse sich ungefähr gleich auf sozialdemokratische und stalinistische Parteien verteilt, müssen Kommunisten feststellen, welche enger verbunden mit den bestorganisierten und bewußtesten Elementen der Arbeiterklasse ist, und müssen auf deren kritische Unterstützung drängen. Dies kann sich ohne Frage in unterschiedlichen Wahlempfehlungen in verschiedenen Regionen niederschlagen. Wo keiner Partei eindeutig der Vorzug zu geben ist, können Revolutionäre die Arbeiter zur Stimmabgabe für die reformistische Partei ihrer Wahl aufrufen.

Wo es die Entwicklung des Klassenkampfes auf lokaler oder nationaler Ebene möglich macht, könnten Kommunisten für demokratische, verantwortliche und wirklich repräsentative Konferenzen der Arbeiterorganisationen eintreten. Deren Ziel ist Debatte und Entscheidung der Frage, welcher Kandidat der Arbeiterparteien in den bürgerlichen Wahlen unterstützt werden sollte, verbunden mit der Forderung an die reformistischen Arbeiterparteien, rivalisierende Kandidaturen zurückzuziehen. Propaganda und Agitation für solch eine Taktik sollte es Kommunisten ermöglichen, die Reformisten herauszufordern und sich auf die Gefühle der Arbeiter zur Einheit gegen die kapitalistischen Parteien zu beziehen. Dies würde die Kommunisten in den Stand setzen, diejenigen reformistischen Führer, in die die Arbeiterillusionen am stärksten sind, auf die Probe zu stellen; und zwar durch die Stärkung der reformistischen Position gegenüber den kapitalistischen Parteien – bis dahin, sie auf die Höhe der Regierungsbänke zu hieven. In all solchen Konferenzen würden Kommunisten für ihr eigenes Aktionsprogramm eintreten und, wo immer es möglich ist, ihre eigenen Kandidaten für die Annahme vorschlagen.

Wo solche Konferenzen wirklich repräsentativ und demokratisch sind, können sie bessere Möglichkeiten für kommunistische Propaganda und Agitation eröffnen als durch die AufstelIung eines kommunistischen Kandidaten durch den Gebrauch der bürgerlich-demokratischen Kanäle. Daher würden Kommunisten – unter der Bedingung, daß solche Konferenzen wirklich demokratisch und repräsentativ sind, ihre eigenen Kandidaten von den bürgerlichen Wahlen zurückziehen, wenn dies von der Konferenz beschlossen würde, und würden kritisch den von der Konferenz bestimmten „Arbeiterkandidaten“ unterstützen.

16. Nur konsequente kommunistische Politik ist voll auf unabhängige proletarische Politik; alle nichtkommunistischen Strömungen repräsentieren bewußt oder unbewußt die Kollaboration mit der einen oder anderen Fraktion der Bourgeoisie und ihrem Staat. Die grundlegende kommunistische Forderung an solche Strömungen lautet deshalb : „Brecht mit der Bourgeoisie!“. Die Existenz einer Volksfront, d.h. ein tatsächlicher oder beabsichtigter Pakt mit offen bürgerlichen Parteien, ändert nichts an der kommunistischen Wahltaktik. Wo Kommunisten nicht kandidieren können, unterstützen wir die Arbeiterparteien mit Massenbasis innerhalb der Volksfront und fordern sie zugleich auf, die bürgerlichen Kandidaten von ihren Listen zu streichen. Der Kampf zum Ausschluß bürgerlicher Kandidaten kann von Revolutionären genutzt werden, um den Charakter der Volksfrontpolitik der bürgerlichen Arbeiterparteien und die Notwendigkeit der organisatorischen und politischen Unabhängigkeit des Proletariats zu beleuchten. Wenn sich die. reformistischen Parteien weigern, mit den bürgerlichen Kandidaten zu brechen, rufen wir die Arbeiter zur alleinigen Stimmabgabe für die Kandidaten der bürgerlichen Arbeiterpartei auf, auch wenn dies letzten Endes ein Aufruf zur „aktiven Enthaltung“, d.h. dazu, den Stimmzettel ungültig zu machen, bedeutet.

17. Wegen ihrer relativen Armut können imperialisierte Länder selten bürgerlich-demokratische Parlamente auf gesicherter Grundlage aufrechterhalten. Doch aus der zutiefst ungleichzeitigen Entwicklung und den vielschichtigen Abstufungen des Klassenkampfes ergibt sich eine ganze Palette von Möglichkeiten. Die am weitesten entwickelten Länder weisen viele Klassenstrukturmerkmale der Metropolen auf, darunter auch die parlamentarische Demokratie, während die Länder auf dem niedrigsten Entwicklungsstand unter direkter kolonialer Kontrolle ohne politische Rechte für ihre Einwohner verbleiben können. Kommunistische Taktik muß an diese grundsätzlichen Erscheinungen anknüpfen. Abgesehen von konjunkturellen Problemen, denen so eine Gesellschaft gegenüberstehen mag, ist die Entwicklung unabhängigen Klassenbewußtseins innerhalb der Arbeiterschaft und von unabhängigen Klassenorganisationen das grundlegende Ziel kommunistischer Propaganda und Agitation. Selbst in den unterentwickeltsten Gesellschaften ist Schutz und Ausbau der proletarischen Unabhängigkeit von fremden Klassenkräften eine Vorbedingung für jede Taktik.

18. Das kennzeichnende Merkmal des Klassenkampfes in imperialisierten Ländern ist die ständige Bedeutung der klassischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution, vor allem Landfrage und nationale Souveränität. Diese nationalen Aufgaben lenken aber nicht von dem vorrangigen Kampf der Arbeiterklasse gegen Kapitalismus und für Sozialismus ab. Dies rührt von der weltumspannenden Entwicklungsebene der Produktivkräfte und des Klassenkampfes her. Die kommunistische Antwort auf die Fragen der bürgerlich-demokratischen Revolution lautet: Historisch fortschrittliche Elemente wie Sturz der Fremdherrschaft, Beseitigung von vorkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformationen und die Beteiligung der Mehrheit des Volkes am politischen Leben sind nur gewährleistet durch die Schaffung eines Arbeiterstaates im Bündnis mit den unterdrückten Schichten in Stadt und Land sowie durch die Ausbreitung der Revolution über Nationalgrenzen hinweg. Dies erfordert einen Kampf gegen die Repräsentanten des nationalen und ausländischen Kapitals.

19. Infolgedessen kehren Kommunisten auch in diesem Kampf nicht die Errichtung eines „unabhängigen“ bürgerlichen Parlaments zur Errettung der Nation hervor. Sie treten für die strategische Alternative der Rätemacht und -demokratie in der Arbeiterklasse und der Bauernschaft ein. Wo es aber verbreitete Illusionen in die parlamentarische Demokratie gibt, wäre es steriles Sektierertum, sich darauf zu beschränken, immer wieder nur die Vorzüge von Räten gegenüber dem Parlament anzupreisen. Wo kein Parlament vorhanden ist, knüpfen Kommunisten an demokratischen Illusionen an, indem sie die Formierung einer souveränen verfassunggebenden Versammlung mit nur einer Kammer und freie Wahlen hierzu unter der Kontrolle von Arbeiter- und Bauernorganisationen fordern.

Wo Kommunisten kandidieren können, treten sie für die Schaffung einer Arbeiter- und Bauernregierung ein. Diese muß sich vor den Kampforganen der Arbeiter und Bauern verantworten, sich auf diese stützen und muß sich auf ein Programm zur Enteignung von Großkapital und Großgrundbesitz sowie zur Bewaffnung der Arbeiter und Bauern gegen die kapitalistische Konterrevolution verpflichten.

Wo Kommunisten nicht selber kandidieren können, es aber organisch mit der Arbeiterklasse verbundene Parteien gibt, z.B. sozialdemokratische oder stalinistische, in die bedeutende Teile der Arbeiterklasse Illusionen haben, kann die Taktik der kritischen Wahlunterstützung nach denselben Kriterien wie in den imperialistischen Ländern angewendet werden. Das kommunistische Aktionsprogramm wäre die Grundlage für die Programmkritik an den Reformisten oder Zentristen; seine Forderungen würden an deren Kandidaten gestellt und in der Generalforderung „Brecht mit der Bourgeoisie!“ gipfeln.

20. Wegen der Spätentwicklung und der daraus resultierenden unvollendeten Klassendifferenzierung wird die Iden-tifikation von Parteien und spezifischen sozialen Klassen in imperialisierten Ländern oft mißinterpretiert. Zudem kön-nen despotische Regimes die offene Formierung von politischen Parteien und die aktive Beteiligung der Massen am politischen Leben unterbinden. Unter solchen Umständen müssen Kommunisten mit einer Reihe von Einheitsfronttaktiken arbeiten, um an weitverbreitete Illusionen in nichtproletarische politische Kräfte anzuknüpfen.

21. Obwohl die kritische Wahlunterstützung eine Variante der Einheitsfronttaktik ist, hebt sie sich durch die Verquickung mit der Regierungsfrage von anderen Anwendungen der Einheitsfront in den imperialisierten Ländern ab. Obschon prinzipientreue Einheitsfronten zwecks direktem, gemeinsamem Vorgehen gegen einen gemeinschaftlichen Feind sogar mit „nationalbürgerlichen“ Elementen bspw. im Zusammenhang mit einem nationalen Befreiungskampf, theoretisch möglich sind, kann dies nicht auf die Regierungsebene ausgedehnt werden. Dort kann es kein gemeinsames Interesse von Bourgeoisie und Proletariat geben.  Anders als bei den bürgerlichen Arbeiterparteien des imperialistischen Lagers sind Parteien in den imperialisierten Ländern nicht an soziale Kräfte gebunden, die sie zur Ergreifung von antikapitalistischen Maßnahmen zwingen könnten. Eine kritische Wahlunterstützung für eine Partei, die die Bourgeoisie repräsentiert, ist von daher ausgeschlossen. Aufgrund seiner Existenzbedingungen kann aber das städtische und ländliche Kleinbürgertum der imperialisierten Hemisphäre revolutionäre Massenbewegungen entfachen. Auch wenn sie an ein bürgerliches Programm gekettet sind, müssen solche Bewegungen unter Umständen selbst für bürgerliche Ziele (Neuaufteilung von Land oder Vertreibung einer Kolonialmacht) revolutionäre Methoden aufbieten. Kommunisten können darum auch Parteien, die organisch mit solchen kleinbürgerlichen Mobilisierungen verbunden sind, kritisch bei Wahlen unterstützen, um die Verbindung zu solchen Bewegungen herzustellen. Es ist aber zu erwarten, daß soziale Krisen von einer Größenordnung, die vonnöten wäre, um solche kleinbürgerliche Bewegungen zu erzeugen, ebenfalls die Entwicklung von proletarischen, allerdings nichtkommunistischen Kräften mit sich bringen würden. Es wäre eindeutig die Pflicht von Kommunisten, sich auf diese Kräfte statt auf das kleinbürgerliche Potential zu orientieren, falls nötig, mit Hilfe der Taktik der kritischen Wahlunterstützung. Die kommunistische Anwendung dieser Taktik mit Blick auf kleinbürgerliche Bewegungen muß mithin als Ausnahme angesehen werden. Zugleich eröffnet die Taktik der Arbeiter- und Bauernregierung fraglos die Möglichkeit von Bündnissen mit den Vertretern solcher Kräfte nach den Wahlen.

22. Wo tyrannische Regimes die volle Entwicklung von national organisierten politischen Parteien blockieren, oder wo reaktionäre Wahlgesetze kleine politische Parteien an einer Kandidatur hindern, dürfte der Vorschlag für einen „Wahlblock“ von verschiedenen politischen Parteien und Gruppierungen wohl am Platze sein. Entscheidendes Kriterium für die Teilnahme an solchen Blocks ist die Freiheit kommunistischer Kandidaten zur Propaganda und Kritik an anderen Flügeln des Blocks, wo dies geboten ist. Ohne diese Rechte ist ein solcher Block bloß eine Plattform für nichtkommunistische Propaganda und Kandidaten. Kommunisten sollten in dem Fall nicht beitreten. Die Taktik der  kritischen Wahlunterstützung für die Kandidaten des Blocks wäre eine gangbare Alternative (die Bedingungen dafür vgl. These 19).

23. Zu den Präsidentschaftswahlen: Die genaue Rolle von Präsidenten und ihre Vollmachten sind von Staat zu Staat verschieden, aber im allgemeinen ist das Amt als Gegengewicht zur vom Volk gewählten Versammlung konzipiert. Die bloße Existenz des Präsidentenamtes ist ein Indiz für den latenten Hang des bürgerlichen Staates zum Bonapartismus. Wie im Fall der „konstitutionellen Monarchie“ ist dieses Amt mit der Befugnis bedacht, das Parlament außer Kraft zu setzen, wenn die Gefahr droht, daß seine Wahlbasis, das Volk, dieses Organ trotz aller Vorsichtsmaßregeln dazu veranlassen könnte, Positionen einzunehmen, die den Interessen der Bourgeoisie und ihres Staates abträglich sind. Die Präsidentschaft widerspricht also dem parlamentarischen System insofern, wie letzteres eine gewisse Ausdrucksform des Volkswillens darstellt. Im Zusammenhang mit der Bildung eines parlamentarischen Systems sind Kommunisten neben der Forderung nach einer revolutionären Konstituante auch gegen die Schaffung einer Präsidialrepublik. Wo wir unterlegen sind und das Präsidentenamt zum etablierten Bestandteil des Staatswesens geworden ist, müssen Kommunisten dennoch an den Illusionen in das Amt ähnlich wie beim Parlament anknüpfen. Die besondere Funktion, die dem Präsidentenamt zukommt, ändert daran nichts.

Wie bei Parlamentswahlen ist die wirksamste Methode eine kommunistische Kandidatur für das Präsidentenamt gestützt auf ein Aktionsprogramm, mit dem das Präsidentenamt den Kampforganen der organisierten Arbeiterklasse unterstellt wird. Wo eine solche Kandidatur unmöglich ist, kann die kritische Unterstützung für andere Kandidaten mit organischen Verbindungen zur organisierten Arbeiterklasse greifen. Notwendigerweise werden in der Kampagne auch Forderungen nach der Unterordnung des Präsidenten unter die gewählte Versammlung und die Aufhebung aller bonapartistischen Befugnisse neben den Forderungen aus dem Aktionsprogramm, über die auch ein nichtkommunistischer Kandidat kritisch unterstützt werden kann, eine Rolle spielen.