Vorwort

Redaktion, Revolutionärer Marxismus 43, Oktober 2011

Die Krise des globalen Kapitalismus geht in die nächste Runde. Eine neue Finanzkrise entwickelt sich, eine weiter globale Rezession droht. Die “systemrelevanten” Banken sollen wieder gerettert werden – und die Massen zahlen.

So weit nichts Neues. Doch auch die revolutionären Alternativen leuchten am politischen Firmament. Im Nahen Osten und in Nordafrika brechen jahrzehntelang “stabile” Diktaturen zusammen, die occupy-Bewegung setzt am 15. Oktober Millionen in Bewegung.

Bringt der Kapitalismus seinen Totengräber hervor? Ja. Aber um dem System das Grab zu schaufeln, braucht es nicht nur Bewegung. Es braucht auch eine politische Führung, eine Partei, ein Programm, eine revolutionäre kommunistisch Organisation und Internationale.

Um diesen Komplex kreisen die Beiträge in dieser Ausgabe des “Revolutionären Marxismus” (RM). Wir veröffentlichen “Thesen zu den Methoden und Grundsätzen der Kommunistischen Organisation” sowie “Thesen zu den ersten Stadien des Parteiaufbaus”, um so unser politisches Verständnis einer revolutionären Organisation wie auch ihre Vorformen darzulegen.

Die Artikel zur Linkspartei, zur DKP und zum autonomen Manifest “Der kommende Aufstand” sind Polemiken – Polemiken, die sich im die Fragen von Programm, Analyse, Strategie und Taktik drehen und den politischen Irrweg falscher Alternativen zum revolutionären Marxismus darlegen – des links-sozialdemokratischen Reformismus der LINKEN, des Stalinismus der DKP und des Autonomismus. Wie jeder Polemik unterziehen sie nicht nur die Irrtümer, Fehler, Unzulänglichkeiten anderer Strömungen einer Kritik – sie helfen den LeserInnen auch, die Politik unserer Strömung genauer zu verstehen.

Schließlich wird dieser RM durch einen Beitrag zur Libyschen Revolution und ihren strategischen und programmatischen Grundfragen wie auch zu einer thesenhaften Darlegung der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Weltlage abgerundet.




Methoden und Grundsätze der kommunistischen Organisation

Liga für die Fünfte Internationale, Revolutionärer Marxismus 43, Oktober 2011

Einleitung

Teil 1 der Thesen legt Lenins Konzeption des Verhältnisses von kommunistischer Partei zur Arbeiterklasse dar, berichtigt einige Missverständnisse von Lenins Streitschrift „Was tun?” und zeigt den praktischen  Nutzen von Lenins Kritik am Ökonomismus (Chwostismus) heute auf. Das Dokument führt darüber hinaus eine neue Untersuchung über den Einklang von Lenins Klassenkonzeption mit der Marxschen Theorie des Warenfetischismus ein. Die Thesen führen die Widersprüche des Klassenbewusstseins auf die materiellen Grundlagen als Wesensbestandteil des Kapitals selbst zurück.

Teil 2 beschäftigt sich mit der Organisation der kommunistischen Partei und weithin unbeachteten Gedankengängen der Komintern-Thesen zur Organisationsfrage von 1921, insbesondere dem Verhältnis von Dezentralisation (Autonomie) von Parteigliederungen und Zentralisation von Führungsfunktionen, der Rolle von Arbeitsteilung in der ArbeiterInnenpartei, von Pflichten von Gliederungen und Einzelmitgliedern sowie mit dem Verhältnis von großen Zentralausschüssen zu Parteivollzugsorganen.

Teil 3 untersucht das Verhältnis von Agitation (wenige Antworten für viele Menschen) zur Propaganda (viele Gedanken für wenige Menschen) im Marxismus und kritisiert die weit verbreitete Ansicht, dass Propaganda nur Ideen darstellt, während Agitation mit dem Aufruf zu Aktionen verbunden sei. Eine andere Unterscheidung ist nötig, um zu zeigen, wie Parteipropaganda, -agitation und -organisationsarbeit sämtlich dazu dienen, die revolutionäre politische Handlung voran zu treiben und zu leiten.

Von der Aufarbeitung einiger Grundsätze der Arbeit einer revolutionären Partei gelangen die Thesen dann in Teil 5 zur Zusammenfassung der Aufgaben für Kleinorganisationen von KommunistInnen  im vorparteilichen Stadium. An dieser Stelle weisen wir auf die bereits 1992 erarbeiteten Thesen der Liga für eine Revolutionäre Kommunistische Internationale „Thesen zu den frühen Etappen des Parteiaufbaus” hin, die auf Deutsch im „Revolutionären Marxismus“ Nr. 21 erschienen und in diesem Heft wieder veröffentlicht sind.

Ein weiterer Ausbau dieser Untersuchungen ist vorgesehen, besonders in Hinblick auf den demokratischen Zentralismus, die Kampagnentätigkeit der Partei, die Taktik der ArbeiterInneneinheitsfront, die antiimperialistische Einheitsfront und das Verhältnis von kommunistischer Organisation zu den Gewerkschaften.

Teil 1: Partei und Klasse

1. Der Marxismus ist laut Lenin „die Lehre vom Klassenkampf” des Proletariats. Mittels Untersuchung des geschichtlichen Werdegangs der Verhältnisse in der menschlichen Gesellschaft, vom Standpunkt der materialistischen Dialektik aus, betont der Marxismus die Zentralität des Klassenkampfs als entscheidender Kraft für einen gesellschaftlichen Wandel.

2.  Der Kapitalismus ist eine Produktionsweise, in der die Erzeugnisse und Dienstleistungen durch Arbeit und die Produktivkräfte einschließlich der menschlichen Arbeitskraft die Form von Waren annehmen. Er ist ein System verallgemeinerter Warenproduktion. In der kapitalistischen Produktionsweise stehen sich zwei unvereinbar  gegensätzliche Gesellschaftsklassen gegenüber: die Bourgeoisie (die Klasse der KapitalistInnen) und das Proletariat (die ArbeiterInnenklasse), die kein anderes Mittel zum Überleben hat als den Verkauf ihrer Arbeitskraft an die KapitalistInnen.

3. Die Ware des Proletariats (ihre Arbeitskraft) ist einzigartig in zentraler Hinsicht. Sie schafft mehr Wert (die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die in der Ware enthalten ist) als für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist. Der Arbeiter empfängt im Lohn nicht den Wert der Ware, die er erzeugt, sondern den Wert der Ware, die konsumiert wird, um seine Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen. Der darüber hinaus gehende Mehrwert ist die Quelle des Profits für den Kapitalisten.

4. Diese Ausbeutung ist die Quelle der ständigen Ausdehnung des Kapitals. Die Konkurrenz zwischen Kapitalen treibt die KapitalistInnen dazu, den Anteil der unbezahlten Arbeit zu Lasten der bezahlten Arbeit in absoluter und relativer Form ausweiten zu wollen. Das wiederum veranlasst die KapitalistInnen, die Arbeitszeit auszudehnen und/oder die Löhne zu kürzen (absoluter Mehrwert) und/oder die Verdichtung der Arbeit zu erhöhen (relativer Mehrwert). Des weiteren drängt das Kapital in Ländern, in denen die öffentliche Wohlfahrtsversorgung für die ArbeiterInnenklasse der Bourgeoisie abgerungen worden ist, auf breiter Front darauf, a) die Schmälerung ihrer Profite mittels Besteuerung durch den Staat, die somit der Arbeiterklasse eine gesellschaftliche Fürsorge erlaubt, abzuwenden und b) die staatlichen Einrichtungen für die Durchdringung von Kapital zu öffnen.

5. Das Proletariat wird durch ständigen Druck durch das Kapital gezwungen, sich zum Widerstand zu vereinigen. Dieser Vorgang, oft nur  teilweise und zersplittert, zeitweilig begrenzt auf den ökonomischen Konflikt zwischen ArbeiterInnen und UnternehmerInnen über Löhne und  Arbeitsbedingungen, manchmal auch auf der Ebene eines verallgemeinerten Kampfes, ist die objektive Grundlage für den Klassenkampf des Proletariats.

6. Als Klasse geformt durch das Wachstum der modernen Industrie und den kapitalistischen Arbeitsprozess ist das Proletariat bereits objektiv eine Klasse an sich. Aber es ist noch keine Klasse für sich. Wenn die ArbeiterInnen einer einzelnen Fabrik oder eines einzelnen Industriezweigs den Kampf gegen ihre AusbeuterInnen aufnehmen, so stellen diese nur „Keimformen des Klassenkampfs” (Lenin) dar. Der Kampf der ArbeiterInnen wird erst dann zum Klassenkampf im strengen Sinn, wenn bei den führenden VertreterInnen der ArbeiterInnenklasse eines Landes das Bewusstsein von Klasse vorhanden ist und ein Kampf begonnen wird, der sich nicht nur gegen einzelne UnternehmerInnen, sondern gegen die gesamte Klasse von KapitalistInnen und deren Regierung wendet. Nur wenn die einzelnen ArbeiterInnen erkennen, dass sie Mitglieder der Klasse als Ganzes sind, nur wenn sie entdecken, dass ihr Alltagskampf gegen die ganze Bourgeoisie und die Regierung geht, wird ein wirklicher Klassenkampf daraus.

7. Es ist die Aufgabe von MarxistInnen, durch Agitation und Propaganda unter der ArbeiterInnenklasse und durch ihre Organisierung den spontanen Kampf von ArbeiterInnen in einen Kampf für die gesamte Klasse zu verwandeln, das heißt, für eine politische Partei mit klaren politischen Zielen, für den gewaltsamen Sturz des kapitalistischen Staates, die Errichtung von Arbeitermacht, die Unterdrückung der Bourgeoisie, die Beschlagnahme allen Eigentums der großen kapitalistischen Konzerne und für die Errichtung einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Nur dieses Ergebnis, die revolutionäre Diktatur des Proletariats, öffnet den Weg zu einer systematischen Auflösung der Spaltung in Klassen, die Abschaffung aller Ausbeutungsformen und die Schaffung einer neuen höheren gesellschaftlichen Produktionsweise (Sozialismus) und schließlich einer Gesellschaft ohne Notwendigkeit irgendeiner Form von aufgetragener Arbeitsteilung oder staatlichem Zwang (Kommunismus).

8. Die proletarische (kommunistische) Partei soll „die Avantgarde, der führende Vortrupp des Proletariats sein für alle Phasen seines revolutionären Klassenkampfes und der späteren Übergangsperiode zur Verwirklichung des Sozialismus, dieser ersten Stufe des Kommunismus.“ (1) Ohne eine solche Partei ist der Sieg unmöglich.

9. Die Formierung einer proletarischen Partei ist das vorrangige Ziel von MarxistInnen, wo, wann und unter welchen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen auch immer. Die Aufgabe umfasst die Verschmelzung des Kommunismus mit der ArbeiterInnenbewegung. Sobald eine solche Partei vorhanden ist, ist es die Pflicht von RevolutionärInnen, unter der Weisung der Partei für die Ausweitung ihres Einflusses, für die Eroberung der Massen und die Organisation von Revolution und Sozialismus zu arbeiten.

10. Die Ausbreitung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse auf der ganzen Welt, das ungeheure Wachstum des Welthandels, die Entwicklung einer internationalen Arbeitsteilung, die Verzahnung von nationalen Ökonomien auf dem Weltmarkt, der gewaltige zahlenmäßige Anstieg der ArbeiterInnenschaft weltweit, das Scheitern und der Niedergang aller Bemühungen, eine postkapitalistische Gesellschaftsordnung innerhalb von Landesgrenzen aufzubauen, all diese Faktoren zeigen, dass das Proletariat eine internationale Klasse ist, die einem internationalen System und Klassenfeind auf Weltebene entgegentritt. Die proletarische Partei muss deshalb eine Internationale sein, eine Weltpartei der gesellschaftlichen Revolution.  Der Wiederaufbau einer solchen Weltpartei ist das „vordringlichste Ziel von Revolutionären rund um die Erde.“ (2)

11. Leo Trotzki argumentierte völlig richtig, dass es absolut falsch und im Kern ein Zugeständnis an nationale Verurteile sei, eine „nationale Organisation als das Fundament und eine Internationale als ein Dach“ (3) zu betrachten. Die proletarische Partei muss im Gegenteil auf internationaler Grundlage gegründet sein. Marx und Engels schufen die kommunistische Bewegung 1847 durch Bildung einer internationalen Organisation. Dasselbe geschah 1864 mit Ausrufung der Ersten Internationale, durch die Zimmerwalder Linke 1915, die der Schaffung der  3. Internationale den Weg ebnete und durch die Gründung der 4. Internationale 1938. In der Periode der Globalisierung zu Anfang des 21. Jahrhunderts ist dieser im Wesentlichen praktische Internationalismus notwendiger denn je.

12. Eine korrekte Konzeption des Verhältnisses von kommunistischer Partei zur ArbeiterInnenklasse ist ein unverzichtbares theoretisches Rüstzeug für die Anleitung zum Handeln der Partei. Ohne das sind schädliche Irrtümer für den proletarischen Klassenkampf unvermeidlich. Ebenso wenig kann eine Partei ohne korrektes Verständnis dieses Verhältnisses die revolutionären Interessen der ArbeiterInnenklasse konsequent vertreten.

13. Opportunistische und/oder sektiererische Irrtümer rühren unausweichlich aus falschem Verständnis dieses Verhältnisses. So bemerkte Trotzki, dass zentristische Gruppierungen, die zwischen proletarischer Revolution und einem bürgerlichen Programm zur Reform des Kapitalismus schwanken, eindeutig das Verhältnis von Partei zur Klasse nicht richtig erkennen können. Er schrieb: „Wenn Zentristen imstande wären, das wechselseitige Verhältnis zwischen den ‚Massen‘ und der Vorhut, zwischen der Vorhut und der Führung, zwischen dem ‚historischen Prozess‘ und der ‚Initiative der Minderheit‘ zu verstehen, dann wären sie keine Zentristen.“ (4)

14. Die Formung des Proletariats als Klasse an sich durch das Kapital ist eine objektive Tatsache. Das Verhältnis Lohnarbeit und Kapital bestimmt die Entwicklung ohne Rücksicht darauf, in wie weit sich das Proletariat seiner Existenz bewusst ist.

15. Nichtsdestotrotz wird das Proletariat nicht einfach durch das Bewegungsgesetz des Kapitals zur Klasse für sich, sondern muss hierzu sein eigenes bewusstes Handeln entfalten. Somit ist der subjektive Faktor – die Wirkung nicht allein von allgemein geschichtlichen und gesellschaftlichen Richtungen, sondern die Denk- und Handlungsweisen von miteinander verbundenen TeilnehmerInnen am Kampf der revolutionären Klasse – ausschlaggebend für die Bestimmung der Führung und des Ausgangs des proletarischen Kampfs.

16. Erfolg oder Fehlschlag dieser subjektiven Bestrebungen sind letztlich nicht durch moralische, physische oder intellektuelle Überlegenheit der geschichtlich handelnden Subjekte bestimmt. Der Grad, in dem ihre Theorie und Praxis die wirklichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Widersprüche begreifen und darlegen, ist dafür ausschlaggebend. Dazu gehört das Erkennen der objektiven Lage, der wirklichen Gelegenheiten und des Potenzials, das der Kapitalismus dem Proletariat wiederholt zu dessen eigener Emanzipation bietet.

17. Die Erkenntnis vom Vorhandensein einer objektiven Wirklichkeit unabhängig von unserem Wahrnehmungsvermögen ist als Materialismus bekannt. Doch alle Versuche, den Materialismus als Leugnung der Fähigkeit zu bewusstem menschlichen Handeln für grundlegende Veränderungen der objektiven Wirklichkeit zu interpretieren, sind notwendigerweise unzulänglich, denn sie leugnen damit den widersprüchlichen Charakter der Wirklichkeit selbst. Sie sind im Kern undialektisch und deshalb – zumal alle Materie in einem ständigen Zustand der Bewegung ist – letztlich unmaterialistisch.

18. Schon 1845 betonte Marx in seinen „Thesen über Feuerbach“: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.

Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“ (5)

19. Es ist ein Verdienst der materialistischen Anschauung, dass die materielle Wirklichkeit unabhängig von unserer Wahrnehmungsfähigkeit besteht, aber alle Versuche, bewusste, menschliche Merkmale einem objektiven Prozess zuzuschreiben oder den Einfluss des menschlichen Handelns auf die Veränderung  der Ergebnisse des objektiven Prozesses zu leugnen, müssen das unabhängige Handeln einer revolutionären Klasse verhöhnen und zunichte machen.

20. Die passive Erwartung einer automatischen, spontanen Umwandlung des ArbeiterInnenbewusstseins von der dumpfen Hinnahme des Kapitals zur revolutionär-kommunistischen Aktion kann das Proletariat nur in die Irre führen. Diese Prozessgläubigkeit ist ein eindeutiges Mittel, um die ArbeiterInnenvorhut davon abzubringen, der Gesamtklasse eine Führung zu geben. Durch Zuweisung eines anorganischen, unpersönlichen historischen Prozesses für jene Aufgaben, die in  Wirklichkeit menschlichen Wesen zufallen, wird der Wille der geschichtlichen Handlungsträger gelähmt und danach getrachtet, die proletarische Vorhut vor dem bestehenden Bewusstsein der nicht klassenbewussten, d. h. bürgerlich beeinflussten Massen der Arbeiterklasse in die Knie zu zwingen..

21. Die Aufgabe einer revolutionären Partei ist es, leidenschaftslos und genau die Gelegenheiten und Gefahren der objektiven Wirklichkeit zu untersuchen und dann kühn unter der ArbeiterInnenklasse jene Schritte zu propagieren, die vom Proletariat unternommen werden können und müssen, um das Potenzial  der widersprüchlichen Lage verwirklichen zu können. Das ist weder ein reiner Willensakt frei von objektiver Bestimmung noch ein  automatischer Prozess unabhängig von menschlichem Handlungsspielraum:

“Der Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft hat zur Voraussetzung das Handeln lebender Menschen, die ihre eigene Geschichte gestalten. Dabei gehorchen sie nicht dem Zufall oder ihrer Lust, sondern dem Einfluss bestimmter objektiver Ursachen. Ihre eigenen Handlungen aber – ihre Initiative, Kühnheit, Aufopferung, oder umgekehrt Dummheit und Feigheit – bilden notwendige Glieder in der Kette der historischen Entwicklung.

Niemand hat die Krisen des Kapitalismus nummeriert und im voraus angemerkt, welche die ‚letzte‘ sein soll. Aber unsere ganze Epoche und vor allein die gegenwärtige Krise gebieten dem Proletariat: nimm die Macht! Zeigt sich jedoch die Arbeiterpartei trotz günstigen Umständen unfähig, das Proletariat zur Machteroberung zu führen, dann wird die Gesellschaft notwendigerweise auf kapitalistischer Grundlage fortleben – bis zu einer neuen Krise oder einem neuen Krieg, vielleicht bis zum vollständigen Zusammenbruch der europäischen Zivilisation.“ (6)

22. Eine proletarische Partei muss also nicht nur Organisatorin, sondern v. a. Strategin der gesellschaftlichen Umwälzung sein.

23. Gelegentlich ist in der Geschichte ein mechanistischer Glaube an den objektiven Prozess und eine Abwertung der Wichtigkeit des klassenbewussten revolutionären Handelns Auslöser für einen schwer wiegenden Opportunismus in der ArbeiterInnenbewegung gewesen.

a) In der revisionistischen Auseinandersetzung der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, der ersten großen Krise des Marxismus, haben Eduard Bernstein und seine Anhänger in dem sich stärkenden opportunistischen rechten Flügel der deutschen Sozialdemokratie, der seine Basis bei den bürgerlichen Intellektuellen in der Partei und den Gewerkschaftsfunktionären fand, die Perspektive entwickelt, dass der Kapitalismus spontan die ökonomischen Krisen beseitigen, die Lebensbedingungen des Proletariats bessern könne und fähig zu einer Umformung zum Sozialismus wäre. Der Zweck der Sozialdemokratie wäre nicht die Lenkung der spontanen Bewegung des Proletariats in eine Klassenbewegung, sondern die Teilnahme an der alltäglichen Bewegung ohne Drang nach revolutionären Zielen: „Die Bewegung ist alles, das Ziel nichts.“ (Bernstein)

b) In den 90er Jahren zielte der ökonomistische Trend zur Nachtrabpolitik (Chwostismus) in der russischen sozialdemokratischen Bewegung auf das spontane ArbeiterInnenbewusstsein als Rechtfertigung für das Aufgeben von Agitation in der Arbeiterklasse für unmittelbare politische Ziele und für die Beschränkung fast ausschließlich auf den ökonomischen Kampf zwischen ArbeiterInnen- und UnternehmerInnenschaft über Löhne und Arbeitsbedingungen.

c) Nach der Spaltung der russischen Sozialdemokraten 1903 übernahm der menschewistische (Minderheits-) Flügel diese falsche Position und behauptete, die ArbeiterInnenpartei könne und dürfe die Revolution nicht organisieren. Konsequent und folgerichtig lehnten die Menschewiki auch den revolutionären bewaffneten Aufstand 1905 ab.

d)1917/1918 verunglimpften die SpitzenfunktionärInnen der 2. Internationale den Bolschewismus und die russische Revolution 1917 als willkürliches Vorantreiben der geschichtlichen Entwicklung durch die Eroberung der Macht, bevor ihrer Meinung nach die objektiven Bedingungen für ArbeiterInnenherrschaft und Sozialismus genügend ausgereift wären.

e) Zentristische Strömungen wie die Sozialistische Arbeiterpartei SAP in Deutschland wandten sich nach der stalinistischen Entartung der 3. Internationale gegen die Formierung einer neuen 4. Internationale und begründeten dies mit dem Bewusstsein der Massen, das vermeintlich nicht bereit sei, einen solchen Schritt anzunehmen, obwohl er notwendig war.

f) Die stalinistische Komintern und ihre nationalen Parteien widersetzten sich der revolutionären Agitation der InternationalistInnen der 4. Internationale in Frankreich zur Zeit der tiefen Gesellschaftskrise 1936. Die französische Kommunistische Partei war gegen einen Generalstreik und Arbeiterselbstschutzorgane gegen den Faschismus mit der Begründung, dass die Krise noch nicht von sich aus zu einer revolutionären Lage zugespitzt sei.

g) 1951 degenerierte die 4. Internationale selbst zum Zentrismus, als ihr Internationales Sekretariat und die Führer der späteren Abspaltung zum Internationalen Komitees das jugoslawische Regime von Tito als spontane Linkswende des Stalinismus feierten. An Stelle des Kampfes für das Programm des revolutionären Kommunismus sah die Internationale nun ihre Rolle in der Unterstützung für Führer des linken Flügels der Sozialdemokratie und des Stalinismus als Ausdruck des historischen Prozesses, der nun als objektivistisches Schema einer spontanen Entwicklung betrachtet wurde. Die Sektionen der Internationale wurden so zu zentristischen Anhängseln des sozialdemokratischen und stalinistischen Reformismus gemacht.

h) Selbst Strömungen, die auf ihre organisatorische Unabhängigkeit von den Apparaten des Klassenverrats eingeschworen sind, erliegen dem Opportunismus, wenn sie das Verhältnis von objektiven Voraussetzungen und ihren subjektiven Aufgaben nicht richtig einstufen. So trat die britische Socialist Workers Party unter Tony Cliff nicht für den Generalstreik während des britischen Bergarbeiterstreiks 1984 ein. Sie argumentierten bei den Bergleuten und deren UnterstützerInnen gegen die Losung, weil die spontane Entwicklung des Klassenkampfs noch nicht die Stufe erreicht hätte, auf der die Forderung durchsetzbar gewesen wäre. Das trug dazu bei, den Willen der Vorhutschichten der ArbeiterInnen zu lähmen, dabei die notwendigen Maßnahmen in Gang zu bringen, um den Klassenfeind zu schlagen.

i) Heute, in den großen internationalen Zusammenkünften von Arbeiterbewegungen und Parteien, die auf den Weltsozialforen auftreten, lehnt die zentristische 4. Internationale den offenen Kampf für die Bildung einer neuen Internationale ab, trotz der Erkenntnis, dass sie selbst keine Weltpartei der sozialen Revolution ist. Sie verlässt sich einmal mehr auf den objektiven Prozess, der die Aufgaben der RevolutionärInnen übernehmen soll.

24. Der gleichrangige, aber entgegen gesetzte Irrtum ist der Subjektivismus. Sein Fehler besteht im Unverständnis, dass die Aufgaben von RevolutionärInnen nicht unabhängig von objektiven Abläufen zu bewältigen sind. Diese im Wesen unmaterialistische, idealistische Konzeption bildet die theoretische Basis für alle Formen von Abenteurertum, Ultralinksradikalität, Sektierertum und Ultimatismus. All dies sind Weigerungen, sich auf taktische Zugeständnisse einzulassen, um das Programm des revolutionären Kommunismus in das Herz der ArbeiterInnenbewegung zu pflanzen. Wegen des im Kern eklektischen und inkonsequenten Wesens des Zentrismus kann eine zentristische Gruppierung oft zugleich objektivistische und subjektivistische Fehler begehen. Die gemeinsame Basis beider Irrtümer bildet ein Missverständnis vom Verhältnis von Partei und Klasse.

a) Vor 100 Jahren weigerte sich die Sozialdemokratische Föderation in Britannien auf Grund von „Prinzipien“, an der Gründung der Labour Party teilzunehmen, obgleich ein schicksalhafter Kampf über den Klassencharakter und das Programm der Partei stattfand.

b) Die Ablehnung der Notwendigkeit für revolutionäre KommunistInnen, in den reformistischen Gewerkschaften zu arbeiten, ist eine subjektivistische Weigerung, einen Kampf mit den ReformistInnen um die Kontrolle über die ArbeiterInnenorganisationen zu führen. Diese Haltung ist nicht weniger schädlich als das opportunistische, objektivistische Verhalten bei der Übernahme des Programms der Gewerkschaftsbürokratie.

c) Eine fehlende Einschätzung der objektiven Lage kann zu unterschiedlichsten Fehlern führen:

Die Politik der Ablehnung des Kampfes bei Wahlen in bürgerlichen Demokratien,

die Weigerung, in bürgerlichen Parlamenten zu arbeiten,

die Ablehnung der Taktik der Einheitsfront zwischen revolutionären und reformistischen ArbeiterInnen,

die Weigerung, die Möglichkeit von legaler Arbeit zu nutzen,

die Politik des individuellen Terrors oder die Politik von vorweg genommenen bewaffneten Aktionen als vermeintliches Revolutionsfanal für die Massen, ohne sie vorher gewonnen zu haben,

die Politik, den Arbeitermassen das revolutionäre Programm als Ultimatum vorzusetzen, und falls es nicht angenommen wird, dem Entzug  der Unterstützung von RevolutionärInnen für den gemeinsamen Kampf der ArbeiterInnenklasse.

Alle diese Fehler kommen aus der idealistischen Uneinsichtigkeit für die wirklichen objektiven Zusammenhänge, die den Klassenkampf ausmachen. Eine revolutionäre Richtung, die diese Irrtümer nicht überwinden kann, wird sich niemals mit den Massen verbinden können, nie das revolutionäre Programm in wirksame Agitation umwandeln und wird unabwendbar zu einer isolierten Sekte degenerieren, die Kämpfe nur als Zuschauer kommentiert, aber von wirklichem revolutionären Handeln getrennt ist.

25. In seiner berühmten Streitschrift „Was tun?“ argumentiert Lenin, dass das Klassenbewusstsein sich nicht spontan im Proletariat vollzieht als Folge des gewerkschaftlichen ökonomischen Kampfes der ArbeiterInnen gegen ihre UnternehmerInnen über Lohn und Arbeitsbedingungen, was Engels „Widerstand gegen die Kapitalisten“ genannt hat. Dies betitelte Lenin als „Nur-Gewerkschafterei“, ein Ringen um die Bedingungen für die Ausbeutung der ArbeiterInnen. Der politischer Ausdruck dieses ökonomischen Kampfes ist laut Lenin Gewerkschaftspolitik, ein reformistisches Trachten nach besseren Bedingungen innerhalb der herrschenden bürgerlichen Produktionsweise: „Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie, sie verläuft eben nach dem Programm des Credo (Programm der Nachtrabrichtung in der russischen Sozialdemokratie – die Redaktion), denn spontane Arbeiterbewegung ist  Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschafterei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie. Darum besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen.“ (7)

26. Dieses Konzept war keine Erfindung von Lenin, keine „avantgardistische“ Revision eines „spontaneistischeren” Marx, sondern leitet sich unmittelbar aus der Marxschen Analyse der Wurzeln der Herrschaft der bürgerlichen Ideologie über die ArbeiterInnenklasse ab.

27. Im Kapital zeigte Marx, wie die formale Gleichheit des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital  – die scheinbare gesetzliche Gleichheit der Parteien im Arbeitsvertrag –  das ausbeuterische Wesen des Kapitals verhüllt. Das ist nichts mehr als die natürliche Ausdehnung der Marxschen Theorie vom Fetischcharakter der Waren im einfachen Warentausch wie dem von gefertigten Gütern hin zum „Austausch” der ProletarierInnen mit den KapitalistInnen, dem Verkauf ihrer Ware, der Arbeitskraft, im Tausch mit dem Lohn. Die scheinbar gleichen Bedingungen des Verkaufs sind nur eine fetischisierte Erscheinungsform, die das wirkliche Ausbeutungsverhältnis verschleiert. Doch die fetischisierte Erscheinungsform hat nichtsdestotrotz eine wirkliche objektive Grundlage: die kapitalistische Produktionsweise, die auf einer verallgemeinerten Warenproduktion und dem Warentausch beruht. Im Fall des Lohnarbeit-Kapital-Verhältnisses ist dieser Warentausch der Lohnvertrag, die Zustimmung des Proletariers, für eine bestimmte Periode für eine Kapitalistin oder einen Kapitalisten zu arbeiten.

28. Marx erklärte, dass seine Entdeckung des Geheimnisses der kapitalistischen Ausbeutung nicht von selbst die objektive Basis der bürgerlichen Ideologie beseitigt. „Die späte wissenschaftliche Entdeckung, dass die Arbeitsprodukte soweit sie Werte, bloß sachliche Ausdrücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Arbeit sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, aber verscheucht keineswegs den gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit. War nur diese besondere Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist, dass nämlich der spezifische  gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt, erscheint, vor wie nach jener Entdeckung, den in den Verhältnissen der Warenproduktion Befangenen ebenso endgültig. als dass wissenschaftliche Zersetzung der Luft in ihre Elemente die Luftform als eine physikalische Körperform fortbestehn läßt.“ (8)

29. Marx‘ wissenschaftliche Entdeckung des Mehrwerts und des Geheimnisses der kapitalistischen Ausbeutung beseitigte also keineswegs die Erscheinungsform der Gleichheit der gesetzlichen Parteien im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital. Reformismus und Gewerkschaftspolitik entstehen scheinbar natürlich aus dieser fetischisierten Erscheinungsform. „Was die Produktenaustauscher zunächst praktisch interessiert, ist die Frage, wie viel fremde Produkte sie für das eigene erhalten, in welchen Proportionen sich also die Produkten austauschen. (…) Die Bestimmung der Wertgröße durch die Arbeitszeit ist daher ein unter den erscheinenden Bewegungen der relativen Warenwerte verstecktes Geheimnis. Seine Entdeckung hebt den Schein der bloß zufälligen Bestimmung der Wertgrößen der Arbeitsprodukte auf, aber keineswegs ihre sachliche Form.“ (9)

30. Auf diese Art legte Marx die tiefsten und grundlegendsten Säulen der bürgerlichen Ideologie in der ArbeiterInnenklasse und ihrer Bewegung bloß. Es gibt auch andere Gründe: die Monopolisierung der Massenkommunikationsmittel durch die KapitalistInnen; das Anwachsen einer Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern, welche die Bourgeoisie mit den Superprofiten aus der Ausbeutung der halbkolonialen Länder zu bestechen versucht; den „einfachen Grund, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische Ideologie, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über  unvergleichlich mehr Mittel zur Verbreitung verfügt.“ (10) Selbst die „Ungleichzeitigheit der Erfahrung”, auf die sich oft die AnhängerInnen von Tony Cliff berufen, spielt eine Rolle, wenngleich ihr Spontaneismus und die kurzsichtige Leugnung der Theorie der Arbeiteraristokratie diese Strömungen theoretisch bloßstellt und dazu beiträgt, eine gültige Beschreibung zu einer wertlose allgemeinen Theorie umwandeln.

31. Aus all diesen Gründen gilt, was Lenin sagte: „Politisches Klassenbewusstsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein diese Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen.“ (11)

32. Im Gegensatz zu den Verleumdungen der ÖkonomistInnen und AnarchistInnen bedeutet dies nicht, dass das Proletariat nur eine klassenbewusste Bewegung unter der Diktatur von bürgerlichen Intellektuellen aufbauen kann. Dieses falsche Verständnis erklärt sich aus einer Missinterpretation von Lenin und Kautskys Kommentar über den geschichtlichen Ursprung der wissenschaftlichen sozialistischen Analyse. Kautsky bemerkte:

“In diesem Zusammenhang erscheint das sozialistische Bewußtsein als das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampf es. Das ist aber falsch. Der Sozialismus als Lehre wurzelt allerdings ebenso in den heutigen ökonomischen Verhältnissen wie der Klassenkampf des Proletariats, entspringt ebenso wie dieser aus dem Kampfe gegen die Massenarmut und das Massenelend, das der Kapitalismus erzeugt; aber beide entstehen nebeneinander, nicht auseinander, und unter verschiedenen Voraussetzungen. Das moderne sozialistische Bewußtsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebensowenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozeß. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz (hervorgehoben von K.K.); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewußtsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dem entsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm ganz richtig, daß es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewußtsein (hervorgehoben von K.K.) seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewußtsein von selbst aus dem Klassenkampf entspränge.” (12)

33. Lenin unterstützte das, stellte aber besonders heraus: “Dies heißt selbstverständlich nicht, daß die Arbeiter an dieser Ausarbeitung nicht teilnehmen. Abar sie nahmen daran nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als die Proudhon und Weitling, mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und soweit daran teil, als es ihnen in höherem oder geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und dieses Wissen zu bereichern. Damit aber den Arbeitern dieses häufiger gelinge, ist es notwendig, alles zu tun, um das Niveau der Bewußtheit der Arbeiter im allgemeinen zu haben; ist es notwendig, daß die Arbeiter sich nicht in dem künstlich eingeengten Rahmen einer ‚Literatur für Arbeiter‘ abschließen, sondern daß sie es immer mehr lernen, sich die allgemeine Literatur zu eigen zu machen.“ (13)

In diesem Zusammenhang ist es die Rolle der Partei, alle Unterschiede zwischen ArbeiterInnen und Intellektuellen in ihren Reihen zu verwischen, durch Forderung an die Intellektuellen, dass sie den Standpunkt der ArbeiterInnen einnehmen, und durch Ermutigung von militanten ArbeiterInnen. eine wissenschaftliche Weltanschauung und ein Programm anzunehmen, das auf der Einsicht in die Wechselwirkung aller Klassen in allen Ländern fußt und die Interessen der ArbeiterInnen nicht nur von heute, sondern auch der Zukunft beachtet.

34. Sobald Lenins Theorie sorgfältig untersucht und verstanden worden ist, können wir sehen, wie falsch die Behauptungen von Tony Cliff seitens der britischen SWP sind, die von den Gründern  des Komitees für eine Arbeiterinternationale Ted Grant und seinem Nachfolger Alan Woods in der „Internationalen Marxistischen Tendenz“ wiederholt wurden, dass, wenn wir Lenins Formulierung akzeptieren, „nur wenig von Marx’” Aussage übrig bliebe, dass „die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst ist.“ Im Gegenteil, Lenins Konzept verneint nicht die Wahrheit von Marx‘ Aussage, sondern füllt sie mit neuem Leben, indem er uns daran erinnert, dass unsere Selbstbefreiung ein bewusstes Handeln sein muss: „Das beweißt, dass jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabminderung der Rolle des ‚bewußten Elements‘, der Rolle der Sozialdemokratie, zugleich – ganz unabhängig davon, ob derjenige, der diese Rolle herabmindert, das wünscht oder nicht – die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter bedeutet.“ (14)

Teil 2: Aufbau der kommunistischen Partei

35. Der erste Grundsatz kommunistischer Organisation ist, dass die Form der Partei den geschichtlichen Aufgaben, „den Bedingungen und dem Zweck ihre Tätigkeit“ (15) angepasst werden muss.

36. Unterschiede in den Kampfbedingungen der einzelnen Länder, unterschiedliche Grade an Legalität und Illegalität, ungleiche Aktivität der Klasse, die spezifischen Verbindungen der ArbeiterInnenklasse mit der Bauern- und Bäuerinnenbewegung, demokratische und nationale Fragen und vor allem die unablässigen Veränderungen der Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft und des proletarischen Widerstandes zwingen die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, die Organisation stets den gegebenen Bedingungen anzupassen. Kein Schema für den Aufbau, keine ideelle Form oder Struktur kann jemals als absolut richtig und unveränderlich betrachtet werden.

37. Dennoch besteht der Ausgangspunkt für KommunistInnen nicht nur in den Ungleichheiten und den Unterschieden der Kampfbedingungen, sondern auch in ihrer Einheit, der grundlegenden Gleichheit der Bedingungen des proletarischen Kampfes in allen Ländern und auf allen Entwicklungsstufen. Daher lässt sich doch eine gemeinsame, übertragbare Basis für die kommunistische Organisierung ausarbeiten.

38. Niemand hat jemals zeigen können, wie eine revolutionäre Klasse ohne die Bildung einer Partei an die Macht kommen kann. Wie jede gesellschaftliche Bestrebung braucht auch der kollektive Kampf des Proletariats eine Führung. Der Aufbau der kommunistischen Partei muss daher auf ihrer grundlegenden Aufgabe aufbauen, die proletarische Revolution anzuleiten.

39. Die Voraussetzung für den Erfolg ist, dass die Partei auf einem revolutionären Programm basiert, dieses stets weiterentwickelt, die Aufgaben der Avantgarde korrekt begreift, eine stabile und effektive Führung aufbaut, einzelne Arbeitsbereiche absteckt und Untergruppen für diese einzelnen Kampfbereiche schult. Diese sollten unter Anleitung  der Führung agieren, gut in gemeinsamen Aktionen kämpfen und es sollte versucht werden, sich so eng wie möglich mit der ArbeiterInnenklasse zu verbinden. Die Organisationsform, die diese Aufgaben am Erfolgversprechendsten zu bewältigen weiß, ist der demokratische Zentralismus.

40. 90 Jahre Entstellung von allen Seiten hat das Konzept des demokratischen Zentralismus in Misskredit gebracht – von Seiten der Bourgeoisie, der ReformistInnen, der AnarchistInnen und SpontaneistInnen, der OpportunistInnen und SektiererInnen aller Art. Dass sie erfolgreich bedeutende Sektionen der proletarischen Avantgarde gegen den demokratischen Zentralismus vereinnahmen konnten, liegt an folgenden zwei Hauptfaktoren:

a. Die durch ihre Klassenlage bestimmte Voreingenommenheit des Kleinbürgertums gegen kollektive Disziplin zugunsten seiner „persönlichen Unabhängigkeit” – selbst das Resultat der kleinbürgerlichen Lebenslage und seiner Angst, zwischen den politischen und sozialen Aktionen der gesellschaftlichen Hauptklassen zerrieben zu werden. Diese Zwischenschicht übt enormen Einfluss auf die besser gestellten Teile der Arbeiterklasse aus und spielt eine  überdurchschnittlich große Rolle bei der Hervorbringung bürgerlicher Ideologie und Kultur.

b. Der kriminelle Missbrauch des Begriffs des demokratischen Zentralismus durch die stalinistische Bürokratie, sowohl in der alten UdSSR als auch aktuell im kapitalistischen China, um den bürokratischen Zentralismus eines totalitäres Regimes zu rechtfertigen, welches alle demokratischen Rechte, alle Debatten und Diskussionen, alle Versuche, die Handlung der Führung den Interessen und Wünschen der ArbeiterInnen unterzuordnen, mit Polizeiterror unterdrückt.

41. Im Gegensatz zu dieser Perversion beinhaltet der demokratische Zentralismus sowohl die volle interne Demokratie und Debatten um strittige Fragen als auch disziplinierte gemeinsame Aktionen zur Durchführung der Parteibeschlüsse. Diese zwei Elemente sind nicht als getrennte, künstlich nebeneinander existierende Faktoren zu betrachten, sondern als wirkliche Synthese aus Zentralismus und ArbeiterInnendemokratie. Der einzige Weg, wie dies erreicht werden kann, ist durch kontinuierliche kollektive Aktivität der ganzen Partei.

42. Bürgerliche Parteien nehmen typischerweise eine Form an, welche auf einer Trennung der Führungsschicht, bestehend aus Funktionären, von einer passiven Basis beruht. Dieses Modell wurde nach und nach von der nicht-revolutionären ArbeiterInnenbewegung,  den SozialdemokratInnen, StalinistInnen und mehr und mehr zentristischen Organisationen übernommen. Formale Demokratie (wo sie überhaupt toleriert wird) ist nicht ausreichend, um die negativen Auswirkungen dieser Trennung zu überwinden. In solchen Parteien wird die zentralistische Disziplin unweigerlich nur von den FunktionärInnen über die Mitglieder ausgeübt, niemals andersherum.

43. Des Weiteren kann Zentralisation nur auf der Basis konstanter gemeinsamer Aktivität, im Kampf der ganzen Partei, von allen Kämpfenden als unabdingbares Mittel begriffen werden, um ihre Arbeit effektiver zu machen und um den Einfluss der Parteiaktion als Ganzes zu verstärken. Formale Demokratie wird aus diesem Grund niemals ausreichen, um wirkliche Solidarität und Zusammenarbeit zu etablieren, die nötig ist, um Zentralismus nicht zu künstlichem Zwang verkommen zu lassen, sondern daraus ein wertvolles Werkzeug für jedes Parteimitglied zu formen.

44. Angesichts der Bürokratisierung der Zweiten Internationale und der Weise, wie ihr Niedergang in Richtung Klassenkollaboration und Sozialchauvinismus durch die Vorherrschaft einer Kaste von FunktionärInnen in ihrer führenden Partei, der deutschen SPD,  beschleunigt wurde, zog die Kommunistische Internationale daraus den Schluss, dass eine Grundvoraussetzung und Basis für effektiven demokratischen Zentralismus die Verpflichtung aller KommunistInnen ist,  Parteiarbeit zu leisten. Dieses Prinzip war nicht nur eine allgemeine Norm, sondern auch von aktueller Bedeutung für die Aufgabe der Komintern, die von der Zweiten Internationale weg brechenden Parteien zu integrieren und zu revolutionieren. Vor allem war dies wichtig gegenüber jenen Parteien, die ihre Zugehörigkeit zur Komintern bekundeten, aber den Transformationsprozess zu einer revolutionären Avantgardepartei noch nicht abgeschlossen hatten.

45. Die Komintern proklamierte daher unzweideutig: „Eine kommunistische Partei soll also in ihrem Bestreben, nur wirklich aktive Mitglieder zu haben, von einem jeden in ihren Reihen fordern, dass er seine Kraft und Zeit, soweit er selbst darüber überhaupt unter den gegebenen Verhältnissen disponieren kann, zur Verfügung seiner Partei stellt und immer sein Bestes für diesen Dienst hergibt.“ (16) Die Bedingungen für die Parteimitgliedschaft waren daher die Verpflichtung zum Kommunismus (Zustimmung zum Parteiprogramm), formelle Aufnahme (evtl. zuerst als KandidatIn), regelmäßige Beitragszahlung, Abnahme der Publikationen der Partei und, „als Wichtigstes”, Teilnahme jedes Mitglieds an der täglichen Parteiarbeit.

46. Um diese Anforderung sinnvoll in die Praxis umzusetzen, muss die Parteiführung versuchen, die zur Verfügung stehenden Ressourcen best möglich auszuschöpfen, die „Kunst“ erlernen, „im proletarischen Klassenkampf alles und alle auszunützen“, durch Aufteilung und Anleitung der Arbeit unter ausnahmslos allen Parteimitgliedern. Nur so können die Bemühungen der Mitglieder dahingehend geleitet werden, mehr ArbeiterInnen und Jugendliche in die revolutionäre Bewegung zu ziehen und dabei „die Führung über die gesamte Bewegung fest in den Händen zu halten, nicht kraft der Macht, sondern kraft der Autorität, also kraft der Energie, der größeren Erfahrung, der größeren Vielseitigkeit, der größeren Fähigkeit.“ (17)

47. Jedes Parteimitglied sollte daher einer kleinen Arbeitsgruppe zugeteilt sein, um die von der Partei auf diese Gruppen aufgeteilte Arbeit mit voran zu bringen. Aufgaben könnten sein: die Verteilung und der Verkauf der Publikationen, Plakatieren, Parteibeschlüsse mit den Mitgliedern und Unterstützern zu diskutieren, Lern- und Diskussionsgruppen organisieren und vorbereiten, individuelle Diskussionen mit Kontakten führen und Propaganda im Stadtteil. Mehr spezialisierte Gruppen sollten für die Beobachtung anderer Parteien und Organisation, OrdnerInnen und Schutz auf Demonstrationen, Spendensammeln, Publikation der Parteizeitung, theoretische Arbeit, Betreuung der elektronischen Kommunikation und, was wir im 21. Jahrhundert hinzufügen können, die Betreuung der Homepage, zuständig sein.

48. Kleingruppen dieser Art sollten auch gegründet werden, um tägliche kommunistische Arbeit am Arbeitsplatz, an Unis und Schulen, in Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, unter der Bauern- und Bäuerinnenschaft und dem Militär zu leisten. Wenn es einer kleinen Gruppe gelingt, mehr AktivistInnen an die kommunistische Bewegung zu binden, kann die Gruppe zu einer Kommission ausgeweitet werden, deren Arbeit von einer kleineren Gruppe koordiniert und geleitet wird.

49. Wo es den KommunistInnen nützlich erscheint, eine breitere Opposition zu formieren, wie z.B. am Arbeitsplatz, um eine Alternative zu den klassenkollaborationistischen BürokratInnen aufzubauen, sollten die KommunistInnen stets ihre eigene Gruppierung bestehen lassen und die Führung der Bewegung anstreben. Während gemeinsame Abkommen für die Aktionen und Kämpfe angestrebt werden, muss die eigene Propaganda der KommunistInnen als kommunistisch bestehen bleiben – in der Verständlichkeit an die LeserInnen angepasst, aber absolut ehrlich in Bezug auf das Programm der Partei und die revolutionären Ziele.

50. Zusätzlich zu der Arbeit in diesen kleinen Gruppen sollten alle Mitglieder verpflichtet sein, an allgemeinen Mitgliederversammlungen aller Parteimitglieder einer bestimmten Gegend teilzunehmen. Diese sollten ebenfalls durch eine kleine damit beauftragte Arbeitsgruppe gut vorbereitet werden.

51. Wenn eine existierende Partei oder ein Teil einer Partei mit dem Reformismus oder Zentrismus bricht und der revolutionären Partei beitreten möchte, ist die Aufgabe nicht, die alte Struktur aufzulösen und sofortige Anpassung an das eigene, für sie unerprobte Strukturmodell zu fordern, was die Arbeit der Partei nur durcheinander bringen würde. Vielmehr muss die kommunistische Führung die bestehende Struktur Schritt für Schritt zu einem effektiven Instrument für den revolutionären Kampf entwickeln.

52. Die Aufgabe der Parteiführung ist nicht nur, die Partei theoretisch, perspektivisch und programmatisch korrekt anzuleiten. Sie muss vielmehr permanent auf die Parteiarbeit  Einfluss nehmen und diese anführen. Dies beinhaltet die Verteilung der Aufgaben auf die Mitglieder, Hilfestellung zur effektiven Bewältigung dieser, sowie die Schulung der GenossInnen in Marxismus und praktischer Arbeit. Außerdem muss dies die schwierige Aufgabe beinhalten, Schwächen und Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen und Fehler aller Teile der Partei – inklusive der Führung selbst – zu analysieren.

53. Ohne Frage ist die Parteiführung ohne die Etablierung eines systematischen Berichtswesens nicht fähig, die Stärken und Schwächen der Parteiarbeit einzuschätzen, eine effektive Leitung für die GenossInnen zu geben, fruchtlose Arbeitsbereiche aufzugeben und neue Initiativen zu starten, um aufkommende Möglichkeiten aufzugreifen und die Arbeit effektiv aufzuteilen. Deshalb ist die Berichterstattung Aufgabe eines jeden Mitglieds, jeder Arbeitsgruppe, jeder Kommission und jeder allgemeinen  Mitgliederorganisation. Die darin einbegriffene Dezentralisation der Verantwortung ist sowohl die logische Konsequenz aus einer zentralisierten Führung, als auch ein wichtiges Korrektiv für diese.

54. Jedes Individuum und jede Gruppe sollte der Parteiorganisation berichten, unter deren Anweisung und Leitung sie arbeitet. Das Ziel ist zeitnahe, kurze und faktische Informationen über die Arbeit der GenossInnen, die Arbeitsumstände, die Erfolge und den Fortgang der zugeteilten Aufgaben, sowie die Einschätzung der Meinungen und „Stimmungen“ der Massen, die Haltung und das Auftreten der GewerkschaftsführerInnen, die Aktivitäten der ReformistInnen, ZentristInnen und kleinbürgerlichen Organisationen bereitzustellen. Die Partei als Ganzes ist ebenso verpflichtet, regelmäßig an die Internationale zu berichten.

55. „Es ist wichtig, die Berichterstattungspflicht so systematisch durchzuführen, dass sie sich als beste Tradition in der kommunistischen Bewegung einwurzelt.“ (18) Die Etablierung eines funktionierenden Berichtswesens ist kein kleines Detail, sondern ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen einer professionellen revolutionären Arbeit und spontaner, unzusammenhängender und amateurhafter Aktivität. Dies gilt umso mehr für die Pflicht der Führungen, effektiv und rechtzeitig an die Partei zu berichten.

56. Wie Lenin mehrfach beobachten musste, ist die Entwicklung der Avantgardepartei von einer spontanen, behelfsmäßigen Organisationsstruktur zu einer professionellen Organisation nicht in einem Sprung zu schaffen, sondern an sich ein harter Kampf gegen Desorganisation, Unerfahrenheit und Amateurhaftigkeit. Dieser Kampf kann nicht zum Erfolg führen, wenn nicht eine bewusste Spezialisierung der GenossInnen in einzelne Arbeitsbereiche erfolgt. Eine wirkliche Arbeitsteilung muss in der Partei etabliert werden.

57. Widerstand gegen diese Art der Aufteilung und Spezialisierung der Arbeit rührt von den Vor-Parteistadien der proletarischen Organisierung her und ist typisch für Sekten und kleine, relativ von der Masse isolierte Propagandagruppen. Die Ansicht, jeder könnte und sollte einen kleinen Teil von allem übernehmen, stammt aus der Kleinproduktion und entspringt daher, – genau wie die Tradition der Sekten allgemein – nicht der modernen Art der Produktion und des Klassenkampfes, sondern der handwerklichen Vergangenheit des Proletariats. Wie der Bedarf an einer revolutionären Organisation überhaupt, ganz zu schweigen von der Notwendigkeit harter Klassenkampfmethoden, kann die Notwendigkeit der proletarischen Avantgarde, ihre Arbeit aufzuteilen, nicht innerhalb der Klassengesellschaft abgeschafft werden. Es ist eine Bedingung für effektive gemeinschaftliche Arbeit – inklusive der Arbeit für die Revolution.

58. So werden einige AktivistInnen der Partei in Agitationsaufgaben spezialisiert werden, andere werden grundlegende Organisationsarbeit übernehmen und viele werden sich in definierten praktischen Aufgabenbereichen spezialisieren. Notwendigerweise weniger werden sich, aufgrund des dafür notwendigen Wissens- und Erfahrungsschatzes auf die Propagandaproduktion (viele Ideen für wenige) und der politischen Leitung der Partei konzentrieren. Die Kunst der revolutionären Führung liegt darin, die richtigen Personen für die richtige Aktivität auszusuchen.

59. Diese Aufteilung der Arbeit verringert in keinem Fall die Pflicht eines/r jeden KommunistIn den Marxismus als theoretisch-wissenschaftliches Werkzeug zu studieren  und die aktuelle Tagespolitik zu verfolgen. Ebenso wenig enthebt es die Führung der Aufgabe, die Schulung der Mitglieder systematisch voranzubringen. Intensive Schulung, Vertrautheit mit der Doktrin des proletarischen Kampfes, Kenntnis des Parteiprogramms und der programmatischen Fehler anderer Gruppen – all dies ist essenziell, wenn Teile der Partei fähig sein müssen, innerhalb ihrer zugeteilten Bereiche die Führung zu übernehmen. Ein Scheitern im Organisieren der Schulung lässt die proletarische Organisation in das sozialdemokratische Modell degenerieren, welches sich aus einer passiven Masse der Mitglieder, welche von einer aktiven, geschulten Funktionärsschicht geleitet wird, zusammensetzt.

60. Besonderes Augenmerk muss darauf gelegt werden, dass die Aufteilung der Arbeit innerhalb der Partei nicht die Unterdrückungsmechanismen des Kapitals in Bezug auf soziale Unterdrückung, sexistische oder rassistische Diskriminierung in der kapitalistischen Arbeitsteilung wiederholt, sondern diese systematisch bekämpft. So muss z.B. die stereotype Zuweisung organisatorischer Aufgaben an Frauen, die mangelnde Anerkennung der intellektuellen Entwicklung von Minderheiten und der Jugend, die systematische Unterordnung der sozial Unterdrückten unter die Mitglieder der dominierenden Nationalitäts- oder Geschlechtergruppe sowie die Bevormundung von ArbeiterInnen durch Intellektuelle aktiv identifiziert und als grundlegend gefährlich für die Entwicklung der proletarischen Partei anerkannt werden.

61. Die proletarische Partei sollte ihre Aktivität primär auf die großen Städte und Zentren der ArbeiterInnenklasse fokussieren. Die Partei sollte ihre Aktivität erst bis in die ländlichen Regionen und Bauernschaft hinein ausbauen, wenn eine gefestigte Basis in den städtischen Zentren geschaffen ist. In jeder Region sollten die Parteigruppen darauf achten, ihre Kräfte nicht zu früh zu zersplittern, womit sie ihren Einfluss verringern und ihre Kader verheizen, sondern primär daran arbeiten, in einer Region tiefe Wurzeln für den Kommunismus zu schaffen und ihre geographischen Einflussgebiete erst auszuweiten, wenn die kommunistische Führung durch den Einfluss der Partei in einer Gegend demonstriert werden kann. Geographische Parteieinheiten sollten nur geteilt werden, wenn sie zu groß sind, um effektive Mitgliederversammlungen zu machen oder wenn die Vielseitigkeit der Aufgaben in einem konkreten Milieu es erforderlich macht.

62. Die Partei sollte eine zu schematische Hierarchie vermeiden. Die Komintern hielt dazu fest: „Um eine möglichst große Zentralisation der Parteitätigkeit zu erreichen, ist es nicht zweckmäßig, die Parteiführung in eine schematisch Hierarchie mit vielen ineinander vollständig untergeordneten Stufen zu zergliedern.“ (19) Stattdessen sollten regionale Komitees die Arbeit der Ortsgruppen in städtischen Zentren und abgelegenen Kleinstädten beobachten und koordinieren. Ortsgruppenkomitees sollten von den Ortsgruppentreffen gewählt werden. Die Mitglieder der regionalen Komitees sollten von Versammlungen aller Mitglieder der Ortsgruppen dieser Gegend gewählt und von der zentralen Parteiführung bestätigt werden. Dieses Prinzip der Wahl von Leitungen sollte gewahrt werden, wo immer es legal möglich ist.

63. Das Zentralkomitee sollte von der ganzen Partei gewählt werden – normalerweise auf einem Jahreskongress durch von den Ortsgruppen gewählte Kongressdelegierte – und sollte der ganzen Mitgliedschaft verantwortlich sein. Zwischen den Kongressen sind die Beschlüsse des Zentralkomitees für alle Mitglieder und Parteiorganisationen bindend. Das Zentralkomitee sollte nach Möglichkeit die ganze Breite der Erfahrungen der Partei abdecken und Mitglieder aus unterschiedlichen geographischen Lagen, Industrien, Aktionsfeldern, Geschlechtern, Altersgruppen, Ethnien und Nationalitäten einschließen. Wichtige vorhandene Meinungen innerhalb der Partei sollten adäquat im Zentralkomitee repräsentiert sein.

64. Ein kleineres Exekutivkomitee sollte durch das Zentralkomitee gewählt werden und für die tägliche Arbeit der Partei verantwortlich sein. Im Idealfall sollte dies Hauptamtliche der Partei beinhalten und fähig sein, sich regelmäßig zu treffen. So weit möglich sollte dies eine politisch homogene Gruppe sein, die die Mehrheitsmeinung der Partei repräsentiert und für deren Umsetzung verantwortlich ist. Die Aufgabe der Leitung ist nicht nur die Entwicklung allgemeiner politischer und programmatischer Stellungnahmen, die Produktion  und Verbreitung der Publikationen und der elektronischen Kommunikation, sondern auch für die Umsetzung angenommener Beschlüsse zu sorgen, die Arbeit anzuleiten und die Partei vor politischen Angriffen zu schützen.

65. Die nationale Partei als Ganzes, sollte unter der Führung einer Weltpartei stehen bzw. eine Sektion einer Weltpartei sein. Ihre Beschlüsse sollten der Zustimmung der internationalen Exekutive der Internationale unterliegen. Beschlüsse der Internationale sollten für die nationalen Parteien bindend sein.

Teil 3: Kommunistische Propaganda und kommunistische Agitation

66. Die Ideen, die von KommunistInnen verbreitet werden, müssen kommunistische Ideen sein. Alle Versuche, nicht-revolutionäre, nicht-kommunistische Programme oder Argumente „für einen taktischen Vorteil” zu verbreiten, um Frontorganisationen oder Wahlplattformen auf nicht-revolutionärer Politik zu schaffen oder um die Ziele der proletarischen Partei vor der Arbeiterklasse zu verschleiern, sind ipso facto opportunistisch und stellen kurzfristige Vorteile über die allgemeinen Interessen der ArbeiterInnenklasse und des Sozialismus.

67. Propaganda ist die Verbreitung einer großen Zahl von Ideen an eine oder wenige Personen. Agitation ist die Verbreitung einer oder weniger Ideen an eine breitere Masse von Personen. Ohne Propaganda: Keine Kader, keine Erneuerung der Leitung, keine fundierte proletarische Meinungsbildung, keine gelebte Demokratie in der Partei. Ohne Agitation: Kein Dialog mit den Massen, keine Wechselbeziehung kommunistischer Ideen mit dem täglichen Kampf der Avantgarde, keine Gewinnung neuer Schichten für die Partei, kein Eindringen der Parteislogans in das Bewusstsein der breiten Massen der Bevölkerung.

68. Es ist ein klares Zeichen des Rückfalls in Opportunismus, die Unterscheidung zwischen Agitation und Propaganda so aufzufassen, dass das Erste einen Aufruf zu konkreter Aktion beinhalten muss, wohingegen letzteres dies nicht muss. Der Grund dafür ist, dass jeder Aspekt der kommunistischen Parteiarbeit, ihrer TheoretikerInnen, ebenso wie ihrer PropagandistInnen und AgitatorInnen, sowohl ein Versuch sein muss, das Bewusstsein der Massen zu erweitern als auch die revolutionäre Aktivität der Massen auszudehnen und zu vertiefen.

69. Die Kampagne gegen die Welthandelsorganisation (WTO) kann hier als Beispiel dienen. Marxistische TheoretikerInnen brachten Analysen zur Rolle der WTO hervor und beleuchteten dabei die betrügerische Natur von „Freihandelsabkommen“. Dabei wiesen sie besonders auf ihren Effekt auf die halbkoloniale Welt hin, um aufzuzeigen, wie sie die Überausbeutung der Halbkolonien durch die imperialistischen Mächte wieder verstärkten und wie dies die allgemeine Natur des imperialistischen Weltsystems als Kapitalismus im Niedergang ausdrücke. In einer Reihe von Artikeln für die Parteipresse und ihre Webseiten erklärten die PropagandistInnen diese Analyse und führten weitere konkrete Beispiele an, um die imperialistische Natur der WTO bloßzulegen und zu zeigen, dass sie nicht reformiert, sondern abgeschafft werden muss. Die ParteiagitatorInnen hingegen bedienten sich primär der gesprochenen Sprache und kurzer Flugblätter. Darin nahmen sie ein bis zwei Beispiele ruinierter KleinproduzentInnen in Afrika und der schrecklichen Bedingungen der Überausbeutung der ArbeiterInnen in Fabriken in Bangladesch und China her, um diese in Kontrast zu den riesigen Profiten der multinationalen Konzerne und der imperialistischen Bourgeoisie als Folge der strengen Handelsvorschriften durch die WTO zu stellen. Sie bezogen sich auf die zu Recht tief sitzende Empörung der ArbeiterInnen und Jugend gegen die Ungerechtigkeit der WTO und des imperialistischen Systems. Alle drei, TheoretikerInnen, PropagandistInnen und AgitatorInnen, unterstützten den Aktionsaufruf der MarxistInnen: beim nächsten Treffen der Welthandelsorganisation kämpferisch für die Abschaffung der WTO und des Kapitalismus selbst zu protestieren.

70. Der Einfluss kommunistischer Agitation und Propaganda zur Erweiterung und Revolutionierung des Bewusstseins und der Aktivität der Massen erfordert die größtmögliche Aufmerksam der Partei. Die Auswahl von Slogans, die Entwicklung von Argumenten und die Annahme von Positionen zu politischen Fragen dürfen nicht zur Routine verkommen, sondern müssen vor diesem Hintergrund bewertet werden. Die Führung muss dafür sorgen, dass die ganze Partei über den Inhalt der Slogans, Forderungen und Positionen der Partei informiert ist.

71. Kommunistische Propaganda und Agitation muss bewusst an das revolutionäre Verständnis anknüpfen und die Entwicklung der ArbeiterInnen fördern, deren Weg zum Klassenbewusstsein und Verständnis von Kommunismus gerade erst beginnt. Das Programm und das Weltbild müssen zugänglich gemacht und revolutionäre Ideen popularisiert werden, ohne sie zu banalisieren oder ihren Horizont zu schmälern. Die Komintern erklärte dazu:

„Die kommunistische Propaganda mit ihren Losungen soll in den verschiedenen Situationen die keimenden, unbewussten, unvollständigen, schwankenden und halbbürgerlichen Revolutionierungstendenzen in seinem Gehirn (dem des Arbeiters – Anm. d. Red.) in dem inneren Ringen gegen die bürgerlichen Tendenzen und Werbungen unterstützen.“ (20)

72. Die Hauptformen der Propaganda und Agitation der proletarischen Partei sind: Produktion und Verteilung der Parteipresse und Flugblätter, Verbreitung der elektronischen Kommunikation, Intervention in den Kämpfen der Gewerkschaften, dem politischen Kampf der ArbeiterInnen und sozialen Bewegungen, Diskussionen mit Individuen (durch  Straßenagitation mit Büchertischen, Postern, Petitionen, Megafonen, öffentlichen Versammlungen). Propaganda darf nicht nur unter der Oberschicht der ArbeiterInnenklasse verbreitet werden – wie von Opportunisten stets bevorzugt – sondern auch unter den schlecht bezahlten, städtischen Armen, der Jugend, Frauen und nationalen und ethnischen Minderheiten. Spezielle Publikationen und Übersetzungen in Sprachen von Minderheiten müssen hierfür produziert werden.

73. Es ist ein Kardinalfehler für die Avantgardepartei, sich selbst mit Propaganda für die Revolution zu befriedigen, während sie sich passiv von täglichen und somit begrenzten Teilkämpfen der ArbeiterInnen fernhält. Es gibt eine Tendenz, welche bereits den russischen SozialdemokratInnen begegnete, als sie begannen, sich von Propagandazirkeln auf offenere Agitation in Fabriken zu konzentrieren, nämlich, dass jene, die in der Periode der Propagandazirkelexistenz politisiert wurden, auf den Kampf der ArbeiterInnen für kleine Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und des Lebensstandards hochmütig herabblickten. Stattdessen müssen KommunistInnen an den Kämpfen der ArbeiterInnen teilnehmen, um sich so eng wie möglich mit dem Leben der Lohnabhängigen zu verbinden und mit den praktischen Fragen beschäftigen, die in der Bewegung aufkommen. Nur durch diesen Weg werden sich die KommunistInnen von den zentristischen und reformistischen Parteien abheben, von „den überlebten sozialistischen reinen Propaganda- und Werbeparteien, deren Aktivitäten sich im Sammeln von Mitgliedern, im Reden über Reformen und im Ausnutzen parlamentarischer Unmöglichkeiten erschöpft“ (21) haben.

Kapitel 4: Kommunistische Organisationen im Vorparteienstadium

74. Eine revolutionäre Partei entsteht durch die Fusion des Kommunismus mit der ArbeiterInnenbewegung. Dort, wo noch keine revolutionär-kommunistische Partei existiert, besteht die erste Aufgabe der KommunistInnen darin, für den Aufbau einer solchen zu kämpfen. Daher ist es dort die Pflicht der KommunistInnen, ihre Kräfte in einer kämpferischen Parteiaufbauorganisation zu vereinen.

75. Diese Fusion von Kommunismus und ArbeiterInnenbewegung kann nicht vonstatten gehen, wenn der Kommunismus bereits durch die Anpassung an bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologien verstümmelt worden ist. Die erste Aufgabe einer kommunistischen Parteiaufbauorganisation, die Vorbedingung ihres Erfolgs bei der Schaffung einer proletarischen Partei, muss daher die Verteidigung des Marxismus vor den unaufhörlichen Versuchen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen IdeologInnen sein, den wissenschaftlichen Sozialismus zu revidieren und somit seines revolutionären Inhalts zu berauben. Daher ist die  Verteidigung des Marxismus mit dem Mittel der Polemik gegenüber allen Varianten des Revisionismus, Reformismus, Zentrismus, Ökonomismus/Chwostismus, Stalinismus, Maoismus, Populismus, Postmodernismus, Syndikalismus, Opportunismus, des Sektierertums und des Anarchismus eine der allerersten Aufgaben der kommunistischen Parteiaufbauorganisation.

76. Nicht minder zentral in den ersten Phasen des Kampfes für eine proletarische Partei und in der Tat ein wichtiger Bestandteil dieses Kampfes ist es, den Marxismus auf die aktuellen Gegebenheiten antworten können zu ertüchtigen, aufzuzeigen, wie er es durch seine logische Überlegenheit schafft, die Massen in ihrem Kampf zu führen. Daher dürfen KommunistInnen – so entscheidend dies auch sein kann – weder nur auf einer abstrakten Ebene den Marxismus verteidigen, noch sich darauf beschränken, ihn bloß vor der revisionistischen Missinterpretation und Falschdarstellung zu beschützen. Wir müssen ebenso ein marxistisches Programm ausarbeiten, weiterentwickeln und eine klare Strategie für die arbeitende Klasse aufstellen.

77. Dieses Programm muss eine marxistische Analyse der globalen kapitalistischen Verhältnisse und eine korrekte Einschätzung der Dynamik der globalen politischen Entwicklungen als Ausgangspunkt nehmen und eine Reihe miteinander verbundener Forderungen, die es vermögen, die täglichen Kämpfe der arbeitenden Klasse und der unterdrückten Völker mit dem Kampf für die soziale Revolution zu verbinden, aufstellen. Sobald die KommunistInnen es geschafft haben, dies in Form eines internationalen Programms auszuarbeiten, besteht die Aufgabe der KommunistInnen in den jeweiligen Ländern darin, ein analoges Programm, spezifisch für die jeweiligen Nationen auszuarbeiten.  In spezifischen Kämpfen, einzelnen Teilen der Industrie und für die unterschiedlichen Sektoren der kämpfenden Massen werden KommununistInnen auch konkret auf die jeweilige Situation fokussierte Aktionsprogramme entwickeln, wobei sie als Ausgangspunkt immer die globale Situation und das vereinende Ziel der proletarischen Weltrevolution zum Ausgangspunkt nehmen werden.

78. Die Verteidigung des Marxismus als Lehre vom Klassenkampf des Proletariats und seine kreative Umlegung auf die aktuellen Gegebenheiten mittels der Weiterentwicklung des revolutionären Programms sind absolute Vorbedingungen für eine kommunistische Parteiaufbauorganisation, um ihr Ziel zu erreichen. Ohne eine gefestigte Grundlage wissenschaftlich sozialistischer Ideen und ohne ein passendes Programm für die aktuellen Bedingungen werden die Fusion der ArbeiterInnenbewegung mit dem Kommunismus und somit auch der Aufbau einer kommunistischen Arbeiterpartei unmöglich sein.

79. Diese Aufgaben bestimmen die Entwicklung einer kommunistischen Parteiaufbauorganisation. Unabhängig davon, ob die kommunistische Gruppe 10 oder mehrere 100 Mitglieder hat, braucht sie eine strenge und bestimmte Prioritätensetzung, um diese Aufgaben zu erfüllen. Das bedeutet, dass es notwendig ist, den Schwerpunkt auf die Produktion und Verteilung eines breiten Angebots an revolutionären Ideen zu legen, die gezwungenermaßen anfangs an nur relativ wenige Menschen gerichtet werden können. Daher wird sich der Großteil der Arbeit der kommunistischen Parteiaufbauorganisation um Propaganda drehen. Die kommunistische Parteiaufbauorganisation ist also eine kämpfende Propagandagruppe. Ihre ersten Aufgaben sind die Ausarbeitung und Verbreitung kommunistischer Literatur, die Organisation regelmäßiger, tiefgehender Diskussionsveranstaltungen für ArbeiterInnen und Jugendliche und das systematische Betreiben individueller Propaganda.

80. Dieser Fokus auf Propaganda, die Verbreitung einer weiten Bandbreite an Ideen unter relativ Wenigen und die strenge Prioritätensetzung sind nicht dazu gedacht, eine kleine Gruppe zu Isolation und Unfähigkeit zu verdammen, sondern diese so schnell und effektiv es die Umstände erlauben zu überwinden.

81. Als Propagandagruppe frühzeitig zu erklären, man sei bereits die ArbeiterInnenpartei wäre eine idealistische Abweichung, ein Fehler der schlimmsten Sorte. Es würde bedeuten, dass die KommunistInnen sich mit der Stärke ihrer Ideen an sich schon zufrieden geben und sich daher selbst als Führung des Proletariats deklarieren, ohne sich zuvor dazu herablassen zu müssen, ihre Lehre mit  den fortschrittlichsten und kämpferischsten Teilen des Proletariats zu verbinden.

82. Dieser Fehler manifestiert sich für gewöhnlich in Form der Deklarierung einer Mini-Massen-Partei. Die Parteiaufbauorganisation versucht hierbei, die Phase der fokussierten Propaganda zu überspringen, entweder, weil sie dazu nicht fähig ist oder aus Ungeduld. Meistens tut diese Organisation dann so, als wäre sie eine Partei, krampfhaft darum bemüht, die UnterstützerInnen der Gruppe von der wirklichen Massenbewegung außerhalb der eigenen Reihen fernzuhalten, um so vor ihnen zu verbergen, dass man selbst keinerlei Einfluss hat und obendrein auch noch klein ist. Durch ihre hauptsächlich oberflächliche, von den realen Klassenkräfteverhältnissen bzw. der politischen Entwicklung losgelöste Agitation, entwickelt die Organisation unvermeidbar vulgäre politische Positionen mit sektiererischen und sogar kultartigen Merkmalen. Derartig abgeschnitten von der breiteren nicht-kommunistischen Arbeiterbewegung kann die revolutionäre Schulung der Mitgliedschaft ab einem gewissen Punkt nicht mehr weitergeführt werden, die Mitgliedschaft kann die Prognosen der Führung nicht mehr auf ihre Richtigkeit überprüfen, bestätigen oder kritisieren und somit auch nicht die Organisation umorientieren. Solch eine Organisation kann daher entweder bei gleichbleibender Mitgliedschaft verknöchern oder eine rasche Fluktuation der Mitglieder haben; beides führt dazu, dass sie nicht in der Lage ist, den Kommunismus mit der tatsächlichen Arbeiterklasse zu verbinden.

83. Gleichzeitig gibt es noch einen gegenteiligen Fehler, der die Propagandagruppe aufgrund ihrer geringen Größe und ihrer Isolation bedroht und den sie wie die Pest meiden muss: den der passiven Propaganda. Die Geschichte des Niedergangs der 4. Internationale nach dem 2. Weltkrieg zeigt deutlich auf, was passieren kann, wenn man isoliert von der arbeitenden Klasse ist. Jeder Versuch, die praktische Arbeit zu vernachlässigen und den real stattfindenden Kämpfen der Massen den Rücken zu kehren, muss in sektiererisches Hintanstellen der Interessen des Proletariats, einen opportunistischen Kniefall vor der Führung der Massen und meist in eine unglücklichen Kombination dieser beiden Fehler münden.

84. 1983 haben wir geschrieben: „Wir lehnen jeden Versuch, abstrakte Propaganda zu rechtfertigen, entschieden ab. Wir befürworten keine vom Klassenkampf losgelösten Lesezirkel. Unser Programm ist das der Erhebung von Millionen, nicht das der Rettung unserer eigenen Seelen. Wir fokussieren unsere Propaganda auf die Schlüsselthemen des Klassenkampfs, international und national. Wir intervenieren in die Massenorganisationen der arbeitenden Klasse, orientieren uns auf jeden wichtigeren Kampf, auf Streiks, Kampagnen für demokratische Rechte, Kämpfe der Arbeitslosen, Bewegungen für demokratische Reform der Gewerkschaften und auf reformistische Massenparteien.“ (22)

85. Heute würden wir selbstverständlich Massenmobilisierungen gegen die Institutionen des internationalen Finanzkapitals, gegen Krieg, Besatzung und Rassismus, Bewegungen gegen Privatisierungen und neoliberale Attacken aufs Sozialsystem, Versuche neue ArbeiterInnenparteien aus Abspaltungen der Sozialdemokratie zu formieren, den Kampf innerhalb von pan-kontinentale bis globale Bündnisse des Widerstands zu unserer Liste hinzufügen.

86. Ohne eine gefestigte Theorie und ein starkes Programm kann eine kämpfende Propagandagruppe nicht mit ihrer eigentlichen Arbeit beginnen und daher auch nicht überleben. Gleichzeitig kann die Propagandagruppe sich nicht entwickeln und keinerlei Fortschritte machen ohne eine Orientierung auf die real stattfindenden anti-kapitalistischen Kämpfe der arbeitenden Klasse.

87. Das Konzept der kämpfenden Propagandagruppe ist also ein dialektisches. Nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis setzt sie das Programm an erste Stelle. Sie versucht durch ihre Intervention in Kämpfe, die Bewegungen nicht so zurückzulassen, wie sie sie vorgefunden hat, sondern die Erfahrungen der gesamten ArbeiterInnenbewegung zu verallgemeinern, um Taktiken vorzuschlagen, die den Kampf einen weiteren Schritt in Richtung Sieg bringen, wobei sie während dieses Prozesses fortwährend die reformistischen und zentristischen Führungen bekämpft. Auf diese Art und Weise versucht sie, zukünftige Kader heranzubilden, FührerInnen, die kommunistische Politik verstehen, weiterentwickeln und anwenden können. Trotzki schrieb 1934: „Die wahren Initiatoren der Vierten Internationale müssen mit marxistischer Qualität beginnen, um sie danach in Massenquantität umzuwandeln. Eine kleine, aber harte und scharf geschliffene Axt kann selbst schwere Bretter spalten, bearbeiten und formen. Wir sollten daher mit einer Axt aus Stahl beginnen.“ (23)

88. Trotz dieser von der objektiven Realität auferlegten Entwicklungsstufen einer Propagandagruppe, ist es ihr Ziel, diese Phase durch die Formierung einer proletarischen Partei zu überwinden, bzw. wie wir 1983 geschrieben haben, eine „Propagandagruppe zu sein, die versucht, ihre Existenz als Propagandagruppe zu überwinden.“ (24)

89. Dieser Schwerpunkt auf Propaganda verringert jedoch keineswegs die Wichtigkeit von Agitation rund um entscheidende Ziele der ArbeiterInnenklasse in Perioden verschärften Klassenkampfes. Die frühe russische Sozialdemokratie und die Vorläufer der 4. Internationale wussten beide gut um ihre Propaganda-Aufgaben Bescheid. Gleichzeitig sahen sie jedoch auch die Notwendigkeit, in kritischen Phasen der Entwicklung des Klassenbewusstseins, das agitatorische Profil ihrer Propagandagruppen unter den Massen verstärkt zu prägen.

90. Die revolutionären MarxistInnen in Russland bemerkten, dass es aufgrund einer neuen Streikbewegung der FabrikarbeiterInnen in der Mitte der 1890er Jahre notwendig geworden war, über ihre bisherige Orientierung auf die Organisation von Diskussionszirkeln für ArbeiterInnen hinauszugehen. Als sie sahen, wie viele der ArbeiterInnen in den Diskussionszirkeln eine verschlossene Haltung annahmen und dazu neigten, auf die anderen, weniger politisch bewussten streikenden ArbeiterInnen herabzusehen, schrieben Kremer und Martov „Über die Agitation“, welches laut Lenin wertvolle Einsichten enthielt. Diese Schrift schlug vor, die marxistische Propaganda um eine kleinere Anzahl an Ideen, gerichtet an die Masse der sich entwickelnden Avantgarde des Proletariats, zu ergänzen. Obwohl der Chwostismus (Ökonomismus), der immer mehr AnhängerInnen fand, versuchte die Agitation auf rein ökonomische Fragen und Aufrufe zum Handeln zu beschränken, beharrte Lenin darauf, dass sie auch die grundlegendsten politischen Ziele, die Unterdrückung von Juden und anderen religiösen Minderheiten, behandeln sollte und sich somit etwa gegen Angriffe auf Studierende, für eine Republik, eine Agrarrevolution und revolutionäre Erhebungen in den Städten etc. aussprechen sollte. In erster Linie aber betrieben sie Agitation für die Gründung einer neuen politischen Partei, die dann 1898 und 1903 auf 2 Kongressen gegründet wurde.

91. Ein erhöhtes Klassenkampfniveau muss die Propagandagruppe wie eine Alarmglocke dazu aufrufen, ihre Aufgaben etwas breiter wahrzunehmen. Während die internationale linke Opposition vor 1933 eine Fraktion innerhalb der 3. (kommunistischen) Internationale war und daher in erster Linie Propaganda unter den Mitgliedern der kommunistischen Massenparteien betrieb, reorganisierte sie sich nach der deutschen Niederlage 1933 als International Communist League (ICL), um so die ArbeiterInnen offen auf die Notwendigkeit einer neuen Partei, Internationale und einer sozialistischen Weltrevolution anzusprechen.

92. Dies verpflichtete Trotzki dazu, zu versuchen die sektiererischen Charakteristika der ICL, die sich unvermeidlich während der langen Jahre der Isolation und Propaganda gebildet hatten, zurückzudrängen. Daher betonte er immer die Notwendigkeit der kleinen Sektionen, sich an die Massen zu wenden. Zusätzlich zur grundlegenden Propaganda, die die Basis der ICL darstellte, agitierten die Sektionen in Gewerkschaften, in manchen Ländern in den sozialdemokratischen Massenparteien, in anderen traten sie für den Bruch mit ihnen und für die Gründung neuer ArbeiterInnenparteien auf. Die Slogans beinhalteten: einen Generalstreik in Frankreich gegen die Angriffe der UnternehmerInnen, die Bildung von Räten in Spanien, ArbeiterInnenmilizen gegen den Faschismus, eine neue ArbeiterInnenpartei in den USA. Er riet seinen UnterstützerInnen, auch einen Draht zu den am wenigsten Organisierten in der arbeitenden Klasse zu finden, den Arbeiterinnen und der Jugend.

93. In seinem 1938 erschienenen Übergangsprogramm geißelte Trotzki all jene passiven PropagandistInnen, die es nicht vermochten, den Übergang zu einer Periode des verschärften Klassenkampfs zu machen, mitleidslos. Er beobachtete, dass ihre Propaganda sich oft in eine Entschuldigung dafür, dass sie keinen Weg zu den Massen fanden, verwandelt hatte und dass sie das revolutionäre Potenzial der Periode nicht anerkannten: „Sie sind unfähig, Zugang zu den Massen zu finden, und beschuldigen deshalb gern die Massen der Unfähigkeit, sich zu revolutionären Ideen zu erheben.“ Er fügt hinzu: „Wer nicht den Weg zur Massenbewegung sucht und findet, ist kein Kämpfer, sondern toter Ballast für die Partei.“ (25)

94. Die Geschichte zeigt mehrere Wege von einer Propagandagruppe zur Partei auf:

a) Die Gewinnung individueller Mitglieder. Dies ist immer essentiell – nicht zu versuchen, einzelne Individuen zu gewinnen, würde ein Eingeständnis an passive Propaganda und Resignation vor einem Schicksal in Isolation bedeuten. Es ist theoretisch nicht auszuschließen, dass dieser Weg unter gewissen Umständen zu der Gründung einer proletarischen Partei führen kann. Dennoch ist angesichts der Unbeständigkeit des Klassenkampfes nicht zu erwarten, dass die plötzlichen Zuspitzungen des Klassenkampfes darauf warten werden, dass die KommunistInnen ihre ersten Aufgaben abgeschlossen haben, sondern im Gegenteil. Das Tempo des Klassenkampfs wird sich zumeist erhöhen, bevor die KommunistInnen ihre eigenen Kräfte soweit gesammelt haben, um eine Partei zu gründen. Daher kann individuelle Rekrutierung nicht die einzige angewandte Methode sein.

b) Die Fusion mit anderen Propagandagruppen. Dies kann durch eine Spaltung in bestehenden Formationen und durch die Fusion auf Basis eines revolutionären Programms passieren. Wenn diese Organisationen Propagandagruppen und keine Massenparteien sind, ist es notwendig, streng und kompromisslos an programmatische Fragen heranzugehen. Positive Beispiele bietet hierzu Trotzkis Herangehensweise an die deutsche SAP oder den Block der 4; als Negativbeispiel lässt sich die Fusion der spanischen Nin-Anhänger mit der rechten Opposition von Maurin nennen, was in der Formierung der zentristischen POUM resultierte, die den Test der spanischen Revolution nicht bestand.

c) Entrismus. Revolutionäre können dann in eine reformistische oder zentristische Massenpartei eintreten, wenn innerhalb dieser eine Polarisierung stattfindet und nennenswerte Elemente sich unter dem Druck der Ereignisse nach links bewegen und es möglich ist, unter dem eigenen Banner in diese Partei einzutreten und offen für ein revolutionäres Programm zu kämpfen. In programmatischen Fragen dürfen keinerlei Kompromisse eingegangen werden. Das zentristische Konzept des Entrismus, bei welchem revolutionäre Kritik abgeschwächt bzw. vermieden wird, um einflussreiche Positionen in der Partei zu erhalten, ist per se opportunistisch und daher abzulehnen. Während RevolutionärInnen eine entristische Operation durchführen, müssen sie dennoch fortwährend sagen, was ist, den internationalen Prinzipien treu bleiben, einen Angriff der Bürokratie erkennen und mit einer revolutionären Gegenoffensive beantworten; sie dürfen nicht an einer Partei, die keine revolutionären KommunistInnen toleriert, festhalten, sondern versuchen, Kräfte rund um ihr eigenes revolutionäres Programm zu sammeln, welches auch den Kampf für eine revolutionäre Partei beinhaltet; und sie müssen der Jugend, als der Schicht, die am wenigsten durch konforme und skeptische reformistische Propaganda eingelullt wird, die meiste Aufmerksamkeit zuteil werden lassen.

d) Bewegung(en) für eine Arbeiterpartei. Überall dort, wo möglich ist, entweder für die erstmalige Formierung einer neuen ArbeiterInnenpartei oder für den Bruch mit der existierenden Partei einzutreten, müssen KommunistInnen bei ihrer Intervention sehr genau darauf achten, weder opportunistische noch sektiererische Fehler zu begehen. Das bedeutet, die Massenorganisationen, die gegen die Angriffe des Kapitals Widerstand leisten, dazu aufzurufen, sich zu einer neuen Partei ohne programmatische Vorbedingungen zu vereinen und trotzdem ein revolutionäres Programm  konsequent und so klar wie möglich vorzuschlagen. Die Annahme, dass KommunistInnen sich einer neuen ArbeiterInnenpartei nicht anschließen sollen, sofern sie nicht von Anfang an revolutionär ist, ist höchst sektiererisch, da es den Abbruch jeden Kampfes für ein konsistent proletarische Partei bedeutet, indem es die neue Formation der Kontrolle der ReformistInnen überlässt (siehe Lenins Rat an die britischen KommunistInnen bezüglich der Formierung der Labour Party). Ebenso ist die Annahme, jede neue Partei müsse zuerst ein reformistisches oder zentristisches Programm annehmen, um bei den von der bürgerlichen Ideologie durchdrungenen Massen Anklang zu finden, opportunistisch. Wenn solch eine Bewegung im Sieg des Kommunismus und der Etablierung einer wahrhaft proletarischen Partei enden soll, müssen KommunistInnen taktische Flexibilität mit programmatischer Kompromisslosigkeit verbinden.

e) Die Fusion nationaler Propagandagruppen zu einer Internationalen, die Spaltung einer reformistischen Internationalen oder die Kombination beider Möglichkeiten. Das am meisten ausgeprägte Beispiel für diese Methode lieferte die kommunistische Internationale zwischen 1919 und 1924, wo sie in vielen Ländern für die Vereinigung der jeweiligen kommunistischen Parteien eintrat. Dies beinhaltete auch die Erarbeitung strenger Kriterien für den Beitritt in die Komintern, um Abspaltungen der Sozialdemokratie nicht nur auf programmatischer, sondern auch auf praktischer Ebene von den Überbleibseln des Reformismus zu säubern, die Einführung des demokratischen Zentralismus in den nationalen Sektionen und – nicht zuletzt – die Entwicklung der programmatischen und taktischen Einheit der Internationalen insgesamt.

95. Die passende Organisationsform für eine kämpfende Propagandagruppe ist der demokratische Zentralismus. KommunistInnen müssen die kleinbürgerliche Annahme, eine Parteiaufbauorganisation könne darauf verzichten, ablehnen. Die Aufgaben einer Propagandagruppe im ideologischen und praktischen Kampf reduzieren keineswegs die Wichtigkeit der Schlüsselkomponenten des demokratischen Zentralismus: vollkommene Demokratie in der internen Diskussion; Einheit in der Aktion, auch bei der Verbreitung von Propaganda und Ideen; die Verpflichtung aller Mitglieder, kommunistische Arbeit zu leisten. Ohne demokratischen Zentralismus wird ausnahmslos jede isolierte Propagandagruppe zu einem unproduktiven Diskussionsverein degenerieren, der passiv die gerade modernden Ideen verschiedener Bewegungen reflektiert und unfähig ist, entschlossen in kritischen Momenten zu intervenieren, um die Führungskrise des Proletariats offensiv zu lösen.

96. Die Notwendigkeit des Internationalismus in der Praxis trifft auf das Parteiaufbaustadium ebenso wie auf jedes andere zu. Die Gefahr der Nationalzentriertheit und Degeneration ist nicht geringer, sondern größer, wenn die Gruppe klein und ohne Verbindung zu den Massen ist. Das ist der Grund, weshalb Leo Trotzki darauf beharrte, dass jede neue revolutionäre Gruppe „noch am Tag nach ihrer Gründung (…) internationale Verbindungen suchen oder schaffen (muss), eine internationale Plattform und eine internationalen Organisation, da man nur auf diesem Wege herausfinden kann, ob die nationale Politik richtig ist.“ (26)

97. Eine revolutionäre Partei muss überwiegend aus militanten RevolutionärInnen aus der arbeitenden Klasse bestehen. Sie muss die echte Avantgarde der Klasse beinhalten. Solch eine Partei international aufzubauen, ist die Priorität der Liga für die 5. Internationale. Unsere programmatische Arbeit über Stalinismus, sozialdemokratischen Reformismus, Feminismus, Zentrismus, Gewerkschaften, Frauen und Imperialismus ist darauf ausgerichtet, ein solides Fundament für so eine Partei zu bilden. Ohne dieses Fundament wäre alles Gerede um eine Partei sinnlos. Wie wir bereits wiederholt festgestellt haben, wäre jedoch auch das Fundament sinnlos, wenn nicht darauf aufgebaut würde. Unser Programm ist darauf ausgerichtet, ArbeiterInnen zu gewinnen. Passive Propaganda wird dies nicht erreichen. Eine energische Intervention in die tatsächlichen Kämpfe der ArbeiterInnenklasse, eine Ausrichtung unseres Programms und unsere Propaganda darauf und ein aktiver Kampf für den Sieg dieser Kämpfe jedoch werden uns, so gering diese Siege auch sein werden, neue Mitglieder einbringen. Wir sind eine kämpfende, keine passive Propagandagruppe – kämpfend, um unsere derzeitigen Einschränkungen bezüglich unserer Größe und Ressourcen zu überwinden und uns in einen ausschlaggebenden Faktor in Klassenkampfsituationen zu entwickeln.

98. Wir fordern alle revolutionär denkenden AktivistInnen auf, uns zu helfen, dieses Ziel zu erreichen, in dem sie uns kontaktieren, unsere Aktivitäten und Ideen mit uns diskutieren und sich uns anschließen.

Fußnoten

(1) III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, Leitsätze über den organisatorischen Aufbau der kommunistischen Parteien, über Methoden und den Inhalt ihrer Arbeit, in: Die Kommunistische Internationale, Band 2.: 3. Und 4. Weltkongress, Dortmund 1978, S. 106

(2) Grundlegende Prinzipien unseres Programms, S. 17, Schriftenreihe der Gruppe Arbeitermacht Nr. 2, Dezember 1983

(3) Trotzki, Brief an die Redaktion des Prometeo, in: Schriften 3.3. Linke Opposition und Vierte Internationale, Köln 2001, S. 296

(4) Trotzki, Centrist Alchemy or Marxism?, 24. April 1935 (Unsere Übersetzung)

(5) Marx, Thesen über Feuerbach, MEW Bd. 3, S. 5/6

(6) Trotzki, Wohin geht Frankreich, Teil 2 (März 1935), http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/wohinfr2/01.htm

(7) Lenin, Was Tun?, in: Lenin Werke 5, Seite 396

(8) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 88

(9) Ebenda, S. 89

(10) Lenin, Was Tun?, in: Lenin Werke 5, Seite 397

(11) Ebenda, Seite 436

(12) Ebenda, Seite 394/395. Auch wenn Kautsky hier das Hainfelder Programm falsch zitiert, so spricht das letztlich nicht gegen Kautsky, sondern gegen das Programm der österreichischen Sozialdemokratie. Der Herleitung der Entstehung des sozialistischen Klassenbewusstseins tut es überhaupt keinen Abbruch.

(13) Ebenda, Seite 395

(14) Ebenda, Seite 394

(15) III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, Leitsätze über den organisatorischen Aufbau der kommunistischen Parteien, über Methoden und den Inhalt ihrer Arbeit, in: Die Kommunistische Internationale, Band 2.: 3. Und 4. Weltkongress, Dortmund 1978, S. 106

(16) Ebenda, S. 110

(17) Ebenda, S. 109

(18) Ebenda, S. 113

(19) Ebenda, S. 133

(20) Ebenda, S. 115

(21) Ebenda, S. 116

(22) Workers Power, The Death Agony of the Fourth International, Kapital 5, A radical restatement of programme is necessary,

(23) Trotzki, Once More on Centrism, in: Writings 1933/1934, S. 268

(24) Workers Power, The Death Agony of the Fourth International

(25) Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, Seite 129

(26) Trotzki, Brief an die Redaktion des Prometeo, in: Schriften 3.3. Linke Opposition und Vierte Internationale, Köln 2001, S. 296




Thesen zu den ersten Stadien des Parteiaufbaus

Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, 1992, Revolutionärer Marxismus 21 und 43, Oktober 2011

Einleitung

1.1 Die “Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale”(LRKI; 2003 in “Liga für die Fünfte Internationale”umbenannt) bekräftigt ihr generelles Verständnis der Etappen des Parteiaufbaus, wie es in Teil 7 des „Trotzkistischen Manifests“ niedergelegt ist. Das folgende Dokument versucht, die praktischen Aufgaben in den Anfangsstadien des Parteiaufbaus ausführlicher zu erläutern. Die LRKI hat zwar ein internationales programmatisches Fundament für ihre Arbeit vorgelegt, verfügt aber über keine unmittelbare Erfahrung im Parteiaufbau jenseits des Stadiums von kleinen kämpfenden Propagandagruppen. Natürlich verfügen wir für diese Etappen über das unvergängliche Erbe der revolutionären Kommunistischen Internationale, wir können es jedoch noch nicht mit den Ergebnissen eigener Erfahrungen anreichern und anhand dieser weiterentwickeln. Anders verhält es sich hinsichtlich des Gründungsstadiums und des Aufbaus von Propagandagruppen, die nach besten Kräften am Klassenkampf teilnehmen. Wir lassen uns dabei von Trotzkis Theorie und Praxis der 30er Jahre leiten, haben aber auch Lehren aus den negativen Beispielen seiner Epigonen Moreno, Mandel, Healy, Cliff, Lora und Robertson gezogen. Zugleich müssen wir mehr als ein Jahrzehnt eigener Erfahrungen, unsere Erfolge und Misserfolge, kritisch reflektieren.

1.2 Die LRKI ging stets von der zentralen Bedeutung des Programms und der Notwendigkeit, dafür in den Kämpfen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten einzutreten, aus. Aber das Programm kann zum leblosen Fetisch werden, wenn es nicht mit dem Aufbau einer revolutionären Kampforganisation verknüpft wird. Parteiaufbau ist eine sehr konkrete Aufgabe. Er ist eine Kunst, die nicht losgelöst von der Praxis gemeistert werden kann, die aber von wissenschaftlichen Grundsätzen angeleitet sein muss. Wir müssen versuchen, diese Prinzipien zu verstehen und zu systematisieren. Eine revolutionäre Partei lässt sich nicht improvisieren. Die bolschewistische Partei entwickelte sich in drei russischen Revolutionen. Sie erlebte die Generalproben der Revolution von 1905 und Februar 1917, stählte sich und verband sich mit den Massen. Als revolutionäre Partei kann nur eine solche gelten, die vor der Revolution die Gesetzmäßigkeiten verstanden hat, die die Entwicklung der Gesellschaft und die eigene Rolle in dieser Entwicklung bestimmen.

1.3 Die verschiedenen Etappen des Parteiaufbaus kombinieren lediglich Propaganda, Agitation und Organisation in verschiedenen Proportionen. Auch ist keines dieser Stadien eine vollkommen abgeschlossene Einheit. Aufgaben, die in einem späteren Stadium eindeutig den Vorrang haben, können in früheren Stadien nicht in jeder Lage nachgeordnet sein. Bedingungen des verschärften Klassenkampfes oder revolutionärer Ereignisse können es dringend erforderlich machen, dass sich ein kleiner Kaderkern für eine ganze Periode vollständig im Massenkampf engagiert. Aber unter solchen Umständen darf die Organisation nicht den Blick für das reale Kräfteverhältnis verlieren, das sie wieder zur Rückkehr zum Propagandazirkel zwingen könnte, wenn sich die Situation ändert.

1.4 Wenn solche Fortschritte möglich sind, dann kann es auch Rückzüge geben. Eine große Organisation kann zur Rückkehr zu früheren Etappen und zur Wiederholung von entsprechenden Aktivitäten gezwungen sein, sei es aufgrund objektiver Zwänge (größere Niederlagen der Arbeiterklasse) oder eigener taktischer Fehler (einschließlich von Spaltungen). Eine revolutionäre Partei kann daher sowohl Etappen überspringen als sie auch mehrmals durchlaufen. Wenn wir von verschiedenen Stadien des Parteiaufbaus sprechen, dürfen wir nicht annehmen, dass sie in einer korrekten Reihenfolge ohne Sprünge oder Rückzüge durchlaufen werden müssen. Der Wechsel zwischen revolutionären und konterrevolutionären Situationen oder die Existenz längerer nicht-revolutionärer Perioden, die zu raschem Wachstum oder Zusammenbruch, zu Spaltungen oder Fusionen in reformistischen, zentristischen und revolutionären Organisationen führen, bedeutet, dass es keinen evolutionären Weg zum Aufbau einer revolutionären Partei geben kann. Nichtsdestotrotz hat jedes Stadium seine eigenen allgemeinen Merkmale, seine spezifischen Typen von Publikationen und Aktivitäten.

Wesenszüge der leninistischen Partei

2.1 In jeder Aufbauetappe sind gewisse grundlegende Prinzipien der leninistischen Partei anwendbar. An erster Stelle steht das Primat des Programms als grundlegendes Kennzeichen der Organisation: „zuerst das Programm“! Auf Grundlage des Programms sind die Mitglieder imstande, die revolutionäre Festigkeit der Führung zu messen. Auf der Grundlage des Programms schult die Partei ihre Kader und zieht sie zu prinzipienfesten Führern in den Kämpfen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten heran. Das Programm ist eine Landkarte, die die Stationen auf dem Weg zur Arbeitermacht verzeichnet. Es ist die wissenschaftliche Zusammenfassung der Erkenntnisse über die Wesensmerkmale der kapitalistischen Gesellschaft in ihren Hauptformen, der Lehren aus den Siegen und Niederlagen in dem epochalen Kampf der Arbeiter für den Sturz des Imperialismus. Das Programm ist eine Strategie, um im Klassenkampfe durch die Anwendung einer Reihe von miteinander verbundenen Taktiken zu siegen.

2.2 Über die Anerkennung dieses Programms werden Mitglieder für die Partei gewonnen. Parteimitglieder müssen drei Erfordernissen genügen, auf denen auch die Bolschewiki beharrten: Übereinstimmung mit dem Parteiprogramm, den Parteistatuten und der grundsätzlichen Linie der Partei; disziplinierte Aktivität in einer Ortsgruppe oder Zelle; Abführung einer regelmäßigen Summe an die Parteikasse. Der Vollmitgliedschaft sollte eine Periode der Schulung, Ausbildung und Auslese vorangehen. Die Genossen und Genossinnen sollten vor dem Eintritt normalerweise ein Stadium als Unterstützer/Unterstützerin und als Kandidat/Kandidatin mit allen Rechten außer dem Stimmrecht durchlaufen. Die Auslesemerkmale werden von Land zu Land verschieden sein, unter legalen oder illegalen Bedingungen, in Perioden der Niederlage oder des Aufschwungs der Bewegung der Massen. Bei der Auswahl von Genossen sollten wir großes Gewicht auf Eigenschaften wie Loyalität, Einsatz, Aufrichtigkeit und Verständnis der wichtigsten Positionen der Partei legen. Proletarischen Mitgliedern, besonders jenen aus unterdrückten Teilen der Klasse wie Frauen, Schwarze oder Immigranten sollte eine kürzere Prüfungsfrist eingeräumt und eine andere Ausbildung gegeben werden als Mitgliedern kleinbürgerlicher Herkunft. Nichtsdestotrotz darf die Partei keine Undiszipliniertheit oder Sonderrechte, auch nicht bei den prominentesten Arbeiterführern, zulassen. Wir sollten eine Atmosphäre und Umgebung in der Partei zu fördern versuchen, die die Integration von Genossen aus diesen Sektoren erleichtert. Innerhalb der Organisation darf es keine Diskriminierung von Genossen und Genossinnen aufgrund ihrer Herkunft aus einer bestimmten Klasse, ihres Geschlechts, ihrer nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit geben. Alle müssen gleich behandelt werden; jeder/jede ist ein/e Genosse/in.

2.3 Das Ringen der Partei um das Programm in lebendigen Kämpfen befähigt diese, ihr eigenes Programm weiterzuentwickeln und zu bereichern. Das revolutionäre Programm ist keine tote Materie. Es lebt und muss, wie Trotzki sagte, im Licht der Erfahrung, dem obersten Prüfstein menschlicher Weisheit, ständig getestet und korrigiert werden. Nur in diesem Test wird sich die Korrektheit des Programms erweisen und werden seine Irrtümer überwunden werden können. Die Erfahrung der Bolschewiki nach der Februar-Revolution zeigt die zentrale Bedeutung dieses Programmverständnisses, als sich die Partei durch Prüfung und Korrektur ihrer alten Formeln im Feuer des revolutionären Kampfes programmatisch aufrüstete. Der Kampf ohne ein revolutionäres Programm führt entweder in die Niederlage oder verkommt zur Anpassung an die alte Ordnung, gleichgültig wie militant er beginnt. Ein Programm, das nicht auf der Grundlage von Kämpfen ständig weiterentwickelt wird, degeneriert zu einem bloßen Katechismus. Durch die Anpassung und Konkretisierung des internationalen Programms in nationale, lokale, sektorale und konjunkturelle Aktionsprogramme versucht die Partei die Massen für ihr Programm zu gewinnen. Kurz gesagt, die Partei versucht in jedem Stadium für ihr Programm in der Arbeiterbewegung zu kämpfen. Die Form dieses Kampfes hängt jedoch von der Größe der Organisation, ihren ideologischen Aufgaben und der Entwicklung des Klassenkampfes ab. In der imperialistischen Epoche muss eine solche Perspektive Bestandteil des politischen Arsenals jeder Organisation sein, die beabsichtigt, von der revolutionären Idee zur revolutionären Aktion überzugehen.

2.4 Die leninistisch-trotzkistische Partei muss internationalistisch nicht nur in Organisation und Programm sein. Ihre Kader müssen aktive Internationalisten sein, die nationale Vorurteile und Chauvinismus, die typisch für die kapitalistische Gesellschaft sind, bekämpfen. In der imperialistischen Epoche bedeutet das, dass die Partei alle Mitglieder dazu erziehen muss, ihre „nationale“ Arbeit und Kämpfe vom Standpunkt der Weltrevolution aus zu betrachten. In den imperialistischen Ländern bedeutet das, dass Kommunisten danach streben, sich den Standpunkt der Arbeiter und unterdrückten Massen der halbkolonialen Welt und der degenerierten Arbeiterstaaten zu eigen zu machen und „ihr“ imperialistisches Vaterland als Hauptfeind zu betrachten. Es bedeutet, die Kämpfe dieser Arbeiter gegen den Imperialismus zu unterstützen und für die Solidarität der Arbeiter in den imperialistischen Metropolen einzutreten. Zugleich ist es die Pflicht von Internationalisten in der halbkolonialen Welt, darauf zu achten, dass der berechtigte Hass auf den Imperialismus und seine sozialchauvinistischen „labour lieutenants” in den imperialistischen Ländern nicht zu einem Mangel an Verständnis und Solidarität für die dortigen Arbeiterkämpfe führt.

2.5 Ohne starke internationale geschwisterliche Verbindungen, in letzter Instanz ohne demokratisch-zentralistische Organisation, kann sich der Internationalismus nicht fest verankern und dem Druck von Kriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen widerstehen. Nur eine internationale revolutionäre Organisation kann ein wahrhaft internationales Programm und eine revolutionäre Perspektive im Weltmaßstab entwickeln. Sie muss durch innere Schulung, Debatte und internationalen Kaderaustausch einen Zustand erreichen, in dem sich alle Kader zuerst als Mitglieder einer Internationale und dann, daraus abgeleitet, als Mitglieder einer ihrer nationalen Sektionen empfinden.

2.6 Der demokratische Zentralismus ist das organisatorische Grundprinzip, das die Partei befähigt, alle Aspekte ihrer Arbeit auszuführen. Zentralismus bedeutet, dass die Partei mit einem einzigen Willen, mit militärischer Präzision, wo und wann sie in den Kampf eingreift, handeln kann. Ohne eine solche Disziplin hat kein Kader und keine Organisation das Recht, sich bolschewistisch zu nennen. Doch diese Disziplin ist nicht blind, gedankenlos oder mechanisch. Zentralismus ist keine Einbahnstraße von Befehlen aus der Zentrale nach außen. Jede örtliche Zelle bringt nicht nur Information, sondern auch eigene Meinung und Analyse zurück. Die Führung bleibt so mit der Kampffront verbunden, mit den Ansichten und Stimmungen der Vorhut und der Massen. Zugleich können die Kader sich dem breiteren und allgemeineren Horizont der nationalen und internationalen Zentrale unterordnen, provinzielle und nationale Vorurteile überwinden.

2.7 Wiewohl die Zentralisierung lebensnotwendig ist, um die Macht des bürgerlichen Staates zu brechen, kann die revolutionäre Partei die Disziplin einer bürgerlichen Armee nicht nachahmen. Blinder Gehorsam erzieht keine Revolutionäre. Er kann Bürokraten hervorbringen, wie es der Stalinismus durch die Isolierung von Kadern und durch die Auslieferung der Basis an eine allmächtige und sich selbst verewigende Clique oder einen „Führer‘ 50 Jahre lang zeigte. Diese Art Disziplin hat die leninistische Parteikonzeption selbst in Misskredit gebracht, indem der demokratische Zentralismus mit bürokratischem Despotismus gleichgesetzt worden ist. Dagegen stellen wir die möglichst umfassende Anwendung der Arbeiterdemokratie. Die Führung muss von der Mitgliedschaft gewählt und ihr verantwortlich sein. Dies muss regelmäßig nach einer Periode der ausführlichsten Diskussion und auf einer Versammlung der Mitglieder oder ihrer Delegierten geschehen, bei der einzelne Genossen und Gruppierungen das Recht auf Kritik an der scheidenden Führung haben. Die Führung muss in jeder Sektion und international auf der Grundlage von Verantwortlichkeit und Einbeziehung aufgebaut werden. Führungen sind keine Klubs für die politisch Klugen, sondern Instrumente des revolutionären Klassenkampfs und beruhen auf dem Prinzip der Einbeziehung. Mitglieder mit sehr unterschiedlichen Begabungen und Erfahrungen müssen in die Führung einbezogen werden, so dass Organisatoren, Agitatoren, Theoretiker, Autoren, aktive Arbeiter, gesellschaftlich Unterdrückte und die Jugend eingebunden werden können.

2.8 Es muss auch eine Disziplin innerhalb aller Führungsgremien geben. Alle Mitglieder haben das Recht und die Pflicht, Minderheitspositionen vor ein höheres Gremium zu bringen. Dies muss jedoch mit der loyalen Durchführung existierender Beschlüsse einhergehen, damit die Aktion der Partei nicht gestört wird. Eine Abstimmung zu verlieren, sich in der Minderheit zu befinden, ist nicht das größte von allen Übeln. Morgen kann die Praxis beweisen, dass die Minderheit Recht hatte. Die loyale Argumentation auch einer falschen Position kann der Partei helfen, eine korrekte, aber einseitige Position zu verbessern. Die absolute Bedingung für die Partei zur Korrektur eigener Fehler ist loyale Kritik.

2.9 Alle Führer und Mitglieder haben ein allgemeines Appellationsrecht an die Mitgliedschaft, besonders während einer Vorkonferenz-Periode, und ein Fraktions- bzw. Tendenzrecht, wenn sie es in Anspruch nehmen wollen. Wenn solche zeitweiligen internen Gruppierungen auf klarer Plattform gebildet werden, ist es notwendig, dass die Mehrheit breiteste Demokratie und freien Zugang zur Diskussion in den Ortsgruppen und im internen Bulletin gestattet. Niemand darf unterdrückt, einer Zensur unterworfen oder wegen der Äußerung dieser Differenzen bestraft werden. Die Minderheiten müssen sich wiederum loyal zur Organisation verhalten, völlig innerhalb der Disziplin handeln und dürfen sich nicht mit den Feinden der Organisation verschwören. Nur so kann es eine gesunde Diskussion geben. Fraktionen sind aber, wie Trotzki bemerkte, ein „notwendiges Übel” – und nicht wie einige seiner Epigonen (bspw. das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale) glauben, ein Zeichen für die politische Gesundheit einer Organisation.

2.10 Demokratie und Zentralismus sind nicht zu allen Zeiten und örtlichen Gegebenheiten proportional zueinander festgelegt. Während einer Vorkonferenz(-kongress)-Diskussion behauptet sich die Demokratie vor dem Zentralismus, um eine möglichst umfassende Debatte zu ermöglichen. Um Widersprüche zu lösen, müssen sie frei geäußert werden können. Nach einem Kongress, und wo Kampf und Manöver erforderlich sind, überwiegt die zentralisierte Disziplin. Die Partei sollte unter legalen Bedingungen zumindest Bulletins für die Mitglieder produzieren, um die Schulung und interne Debatte zu fördern. Ein Typus sollte rein intern zur freien Aussprache aller innerparteilichen Streitfragen konzipiert sein. Die Mitglieder sollten keine internen Probleme der Gruppe mit Nicht-Mitgliedern erörtern. In einem anderen Bulletintyp sollten Artikel, die (noch) nicht Linie der Organisation sind, Analysen und Beiträge von Sympathisanten oder aus dem Umfeld erscheinen. Unter gewissen Umständen ist es möglich, die Parteipresse für innerparteiliche Debatten zu öffnen. Dies könnte nicht nur in Zeiten relativer Stabilität, wenn die Partei nicht unter starkem Druck des Staates steht oder von feindlichen Kräften innerhalb der Arbeiterbewegung unterdrückt wird, von Nutzen sein. Auch unter schwierigen Umständen, wie sie die Bolschewiki vor der April-Konferenz 1917 erlebt haben, erwies sich dies als nützlich, als eine Spaltung in der Partei vermieden werden musste. Damals wurde die öffentliche Debatte auch als Mittel zur Erzeugung eines unmittelbaren Drucks der Basis gegen den Konservatismus der „alten Bolschewiken” eingesetzt. Wenn eine Partei beträchtlich wächst, ist es oft unvermeidlich, dass einige ihrer internen Zwistigkeiten durchsickern. Unter diesen Umständen wäre es besser, eine loyale und gesunde öffentliche Debatte über die anstehenden Fragen zu führen. Die Partei ist jedoch auf Dauer kein Diskussionsverein. Besonders unter verschärften illegalen Kampfbedingungen sind manche Formen der Demokratie gar nicht oder nur abgeschwächt möglich. Hier erfüllt der Geist des demokratischen Zentralismus seine wichtigste Aufgabe – was Lenin ein völliges genossenschaftliches gegenseitiges Vertrauen unter Revolutionären genannt hat, worunter wir Loyalität verstehen. Das ist ein solidarischer, kollektivistischer, proletarischer Geist, der auf der Haltung „wie kann die Partei vorwärts kommen” fußt. Sie steht in vollständigem Gegensatz zu einer individualistischen, aufgeblasenen Konkurrenzhaltung, dem kleinbürgerlichen Geist. Diese Loyalität und das Vertrauen unter Genossen müssen zur Bekämpfung von jeglicher Cliquenwirtschaft, Subjektivismus und persönlichen Intrigen in der Partei entfaltet werden. Loyalität kann sich nicht auf zynische Diplomatie oder Bevormundung von Führern gegenüber Mitgliedergruppen gründen. Proletarische Loyalität kann nur auf einem demokratischen Geist und einem hohen politischen Niveau beim Herangehen an alle Probleme fußen.

2.11 Der Arbeiter lernt den Geist kollektiver Anstrengung in der proletarischen Umgebung, am Arbeitsplatz, in den Gewerkschaften. Der Parteirekrut kleinbürgerlicher Herkunft muss diese Mentalität in der Arbeiterbewegung und in der Partei selbst lernen. Ein künstlicher „Arbeiterismus“, der Kult mit vermeintlich proletarischen Eigenheiten, ist allerdings keine Lösung dieses Problems. Allzu oft sind es keine Klassencharakteristika, sondern nationale oder lokale, gewerkschaftliche oder ökonomistische Eigenheiten. Von den proletarischen Schichten erfordert der Kollektivgeist nicht bloß die Übernahme der formalen politischen Perspektive, sondern auch der Kampfpraxis der Arbeiterklasse. Das erfordert die Ablehnung der Haltung der Angehörigen der privilegierten Klasse: Arroganz gegen die Werktätigen und Unterwürfigkeit gegen die Bourgeoisie und ihre Agenten. Es bedeutet die Ablehnung der „demokratischen“ öffentlichen Meinung und der moralischen Werte der Ausbeuter. Es bedeutet, die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse zu teilen, ohne das Recht zu befehlen. Der eindeutigste Test für diesen Übergang zum Lager der Arbeiterklasse besteht darin, ob Nicht-Proletarier disziplinierte proletarische Politik zum Mittelpunkt und Zweck ihres Lebens machen und ihr alle beruflichen und persönlichen Interessen unterordnen.

2.12 Wie Lenin in „Was Tun“ zeigte, bedeutet für einen kämpferischen Arbeiter, Berufsrevolutionär zu werden, über die Perspektive eines „Gewerkschaftssekretärs“ (oder eines Betriebsrats) hinauszugehen und die eines „Volkstribuns“ einzunehmen. Das heißt die Idee aufzugeben, dass der Klassenkampf vor allem ein ökonomischer Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen sei; das heißt lokale und nationale Beschränkungen zu überwinden und die Fähigkeiten eines revolutionären Agitators und Propagandisten zu entwickeln. Bei der Aneignung dieser Fertigkeiten haben Arbeiter natürlich Nachteile gegenüber Kleinbürgern und Intellektuellen. Die revolutionäre Organisation muss dies in jedem Stadium des Parteiaufbaus anerkennen und revolutionäre Arbeiter bei der Überwindung dieser Probleme unterstützen. Diese können durch einen Mangel an formaler Bildung, durch Sorge um den Erhalt einer Familie mit niedrigem Einkommen, Schichtarbeit, durch Arbeit in einer Umgebung, deren kulturelles Niveau von den Kapitalisten bewusst niedrig gehalten wird, bedingt sein. Revolutionäre Arbeiter sind für die Organisation auch im Anfangsstadium so wertvoll, da sie ein lebendiges Bindeglied zu den Massen verkörpern. Außerdem besitzen revolutionäre Arbeiter Vorteile gegenüber kleinbürgerlichen bzw. intellektuellen Parteirekruten. Sie sind imstande, viele der kompliziertesten marxistischen Ideen durch eine Erziehungsmethode zu verstehen, die die Analyse der eigenen Ausbeutung und Unterdrückung mit der Entwicklung der Kämpfe gegen sie verknüpft.

2.13 Lenin besteht darauf, dass die Partei zur Hauptsache aus Personen bestehen soll, die in revolutionären Aktivitäten berufsmäßig engagiert sind. Dies bedeutet nicht nur Vollzeit-Funktionäre im engen Sinn, Studenten und Beschäftigungslose, also jene, die ihre meiste Zeit der politischen Arbeit widmen können. Lenin macht klar, dass auch Vollzeit-Arbeiter mit eingeschlossen sind. Aber es schließt diejenigen aus, die nur ihre „Freizeit“ für Politik verwenden wollen. Sobald es die personellen und materiellen Möglichkeiten gestatten, sollte selbst die kleinste revolutionäre Gruppe einen kleinen Apparat mit hauptamtlichen Revolutionären einrichten. Dieser muss eine wichtige Rolle auf der Führungsebene und beim Wachstum in den regionalen und lokalen Gliederungen spielen. Die Anhäufung solcher Berufsrevolutionäre, Kader, die ihre gesamte Zeit der Parteiarbeit widmen, ist unauflöslich mit der Sammlung von Parteikadern im Allgemeinen verbunden. Wenn jedoch die Führung zum Reich einer Vollzeit-Bürokratie wird, bedeutet dies eine große Gefahr für die Partei. Selbst der revolutionärste Funktionärskörper muss unter strenger Kontrolle einer Führung stehen, die in der Arbeiterklasse und anderen unterdrückten Schichten verwurzelt ist und ein hohes Maß an revolutionärem Bewusstsein und Bildung aufweist.

2.14 Die gesamte Aktivität der Partei muss in die Entwicklung von Kadern münden. Ausgangspunkt muss die Einheit von Theorie und Praxis sein. Doch diese Einheit entsteht nicht naturwüchsig, sie muss erkämpft werden. Praxis ohne Theorie und Analyse ist kurzsichtig, opfert die Aufgaben und Errungenschaften von morgen für kurzfristige Erfolge von heute. Von der Praxis isolierte Theorie wird rasch zum byzantinischen Dogmatismus oder ohnmächtigen Skeptizismus. Die Einheit von Theorie und Praxis muss alle Bereiche der Parteiarbeit durchdringen. Praktische Aufgaben müssen analysiert und mit einer Perspektive versehen werden. Ernste Schwierigkeiten, Unzulänglichkeiten und Anwendungsprobleme müssen einer theoretischen Analyse unterzogen werden. Dieser Prozess muss als Methode auch dem jüngsten Parteikader geläufig sein. Es darf zu keiner absoluten Trennung zwischen Denkern und Praktikern kommen, die die Partei in einseitige Interessensgruppen teilt. Jede notwendige Arbeitsteilung muss in überschaubaren Grenzen gehalten werden, sowohl für Einzelgenossen wie für Kollektivorgane. Ein Führungsgremium muss demzufolge „ausgewogen“, muss besetzt sein mit Genoss/inn/en, deren Stärken und Schwächen sich wechselseitig ergänzen und ausgleichen.

2.15 Das demokratische Innenleben und die demokratische Debatte der Partei muss selbst ein ständiger Erziehungsprozess sein. Aus diesem Grund müssen interne Streitfragen so behandelt werden, dass die Mitgliedschaft dabei erzogen wird. Demagogie, das heißt Vorurteile schüren, Unwissenheit ausnützen, Verwirrung stiften oder unsachgemäße Argumentation, hat die entgegen gesetzte Wirkung. Sie zerstört die Kaderentwicklung, die Loyalität, das Vertrauen und letzten Endes die disziplinierte Effektivität der Aktion. Den Gegenpol zur Demagogie bilden Schulung und Ausbildung. Die Kaderausbildung muss vor allem dazu führen, dass Methode und Lehre des klassischen Marxismus in Fleisch und Blut übergehen. Sie muss auf dem Verständnis des dialektischen und historischen Materialismus, der Marxschen Politökonomie, der Formen des Klassenkampfes sowie der Taktiken und Strategie, die in unserem Programm und ihren Vorläufern zusammengefasst sind, fußen. Auf dieser Grundlage muss die Erweiterung von Kenntnissen aufbauen, um die Spezialisierung von Genossen in den verschiedenen Bereichen von Agitation, Propaganda und theoretischer Arbeit zu ermöglichen. Regelmäßige Schulungen für Einzelgenossen und Gruppen oder Sonderschulungen sind wesentlich für die Hebung des Ausbildungs- und Kulturniveaus der Parteikader. Die Unterweisung von Kadern in den Fertigkeiten des Schreibens, Redigierens und Druckens ist genauso lebenswichtig wie die Fähigkeiten zur Agitation und Propaganda (z.B. öffentliches Auftreten). Diese Ausbildung muss mit Praxis verbunden werden, wobei unerfahrene Genossen mit erfahreneren Kadern zusammenarbeiten sollen. Die Kaderausbildung umfasst die Erlangung von handwerklicher bzw. fachlicher Qualifikation, das Erlernen durch Beobachtung und Nachahmungstechniken. Aber Kader sind nicht bloß Autoren oder Interventionisten bei Diskussionsveranstaltungen. Sie sind auch potentielle Führer im Klassenkampf. Als solche müssen sie versuchen, ihre Wurzeln und Aktivitäten in der Arbeiterklasse zu etablieren und zu behaupten. Zu diesem Zweck müssen alle vorgenannten Tätigkeiten durch die Schulung von Kadern in der Arbeiterbewegung ergänzt werden. Lernen wie der Bezug zum Kampf der Massen hergestellt wird, wie in den Massenorganisationen gearbeitet werden kann, ohne als Außenseiter zu erscheinen, lernen wie die unverbrüchliche Treue zu revolutionären Prinzipien mit der praktischen Flexibilität in den Massenorganisationen verbunden werden kann – all das stellt entscheidende Qualitäten des revolutionären Kaders dar.

2.16 Die Kaderschulung und -ausbildung hat für sozial Unterdrückte, spezifisch Diskriminierte und Arbeitergenossen eine besonders wichtige Bedeutung. Mangelhafter Zugang zu Bildung und Beschäftigung, niedriges Einkommen, Zeitmangel aus Gründen auferlegter sozialer Rollenverteilung, Haltungen, die die Fertigkeiten und Fähigkeiten dieser Gruppen abwerten, können Schranken gegen eine aktive Teilnahme in der Partei darstellen. Doch Genossen und Genossinnen, die solchen Schranken gegenüberstehen, sind wichtig für die Partei. Sie können den Prozess fördern, durch den das Parteiprogramm mit den Erfahrungen der Unterdrückten bereichert wird. Durch die Bereitstellung von Mitteln der Kaderisierung sollte die Partei solche Genossen und Genossinnen positiv diskriminieren und auf diese Weise die Entwicklung von Fertigkeiten und Vertrauen fördern. Dies ist notwendig, um die Angehörigen von sozial unterdrückten Gruppen voll an der Organisation teilhaben zu lassen. Die Partei darf es nicht zulassen, dass Kader aus unterdrückten Gruppen ghettoisiert oder auf Aufgaben und Tätigkeiten beschränkt werden, die in ihre sozial stereotypisierten Rollen passen. Alle Genossen sollen so ausgebildet und entwickelt werden, dass sie zu allen Bereichen der Parteiarbeit etwas beisteuern können. Die Partei sollte erkennen, dass die Führungsgremien auf allen Ebenen ihre Qualitäten und Erfahrungen integrieren müssen. Die erfahrensten Genossen müssen Bescheidenheit zeigen und anerkennen, dass auch sie von allen Genossen viel lernen können. Ein neuer Parteirekrut aus den ärmsten Schichten der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen, selbst ein Analphabet, kann aus seiner Erfahrung jedem einsichtigen Führer eine ganze Menge vermitteln.

2.17 Aber auch eine solche „positive Diskriminierung“ zur bewussten Entwicklung von Genossen und Genossinnen aus sozial unterdrückten Gruppen wird nicht von selbst ihre Probleme lösen können. Unter den Bedingungen der Klassengesellschaft ist es selbst für die entwickeltsten Genossen unmöglich, sich völlig von Vorurteilen und diskriminierenden Verhaltensweisen zu befreien. Ein ständiger Kampf muss gegen alle Hindernisse bis zur vollen Integration geführt werden, nicht nur in der Gesellschaft im Allgemeinen, sondern auch speziell in der Partei. Das Recht auf abgeschlossene Treffen für Genossinnen und Genossen aus den unterdrückten Gruppen ist ein Mittel dazu. Diese von der nordamerikanischen Linken entwickelten Treffen sind offen für alle Parteimitglieder einer unterdrückten oder diskriminierten Gruppe. Sie können von Individuen einberufen werden, die meinen, unter Repression und systematischer Diskriminierung zu leiden und die das beste Mittel zur Bewältigung dieses Problems finden wollen. Diese Treffen sollten kein Vetorecht gegen Parteibeschlüsse haben. Dies würde der Mehrheit die Pflicht zur Diskussion und zur Entscheidung über eine Antwort auf das Problem nehmen. Es ist wichtig, die für die diskriminierenden Praktiken verantwortlichen Genossen von ihren Fehlern zu überzeugen statt zu versuchen, der ganzen Mitgliedschaft Entscheidungen aufzuzwingen.

2.18 Jede gesunde Organisation muss Kritik und Selbstkritik üben, gleich ob an Einzelgenossen oder Kollektivorganen. Keine Partei, kein Führungsgremium, kein Mitglied kann wirklich vollkommen fehlerlos sein. Alle sind im Dickicht des Klassenkampfs verschiedenem Druck ausgesetzt und müssen sich neuen Erscheinungen stellen. Dabei machen sie wahrscheinlich eine Reihe von Fehlern. Es ist kein Zeichen von Schwäche oder Dummheit, eigene Fehler einzugestehen und zu versuchen, sie auszuschalten. Die Organisation muss immer bestrebt sein, sich den Erfahrungen der eigenen Klasse, ihrer Führung und Mitgliedschaft kritisch anzunähern. Deshalb ist es unverzichtbar, regelmäßig eine tief schürfende, selbstkritische Bilanz jeder Zelle, Fraktion oder jedes Führungsorgans einer nationalen Sektion und der Internationale zu ziehen. Wir sind keine Stalinisten, die „Selbstkritik“ als Mittel zur Maßregelung von Einzelgenossen durch den Zwang zur Selbstdemütigung benutzen. Der beste Genosse ist nicht der, der „keine Fehler macht“ (der sie in Wahrheit einfach nicht erkennt). Im Gegenteil: der beste Genosse ist der, der ein gutes Beispiel gibt durch das offene Eingeständnis seiner Fehler und die Lehren daraus erörtert und sich anstrengt, sie auszumerzen. Organisationen oder Militante, die die eigenen Fehler nicht kritisieren, sind dazu verurteilt, sie künftig in noch gravierenderer Form zu wiederholen.

2.19 Die Partei muss aus Berufsrevolutionären bestehen, das heißt aus Kadern, deren zentrales Lebensziel die revolutionäre Betätigung darstellt. Nur eine Minderheit von ihnen kann oder soll jedoch bezahlter Parteifunktionär sein. Die Größe des Apparates aus Hauptamtlichen wird von den jeweiligen politischen Bedingungen abhängen. Eine Mehrheit der Parteimitglieder muss aus Militanten bestehen, die in bezahlter Arbeit, in der Produktion stehen, was sie nicht nur in täglichen Kontakt mit Arbeitern bringt, sondern sie auch in die Lage versetzt, die finanziellen Mittel aufzubringen, ohne die die Parteitätigkeit undenkbar wäre. Es ist sehr wichtig zu versuchen, Kader aus der Arbeiterklasse und den unterdrückten Schichten auf allen Führungsebenen zu beteiligen. Sie werden wahrscheinlich weniger kulturelle und formale Bildung haben als kleinbürgerliche Intellektuelle, aber sie werden für die Partei das Ohr am Puls der Klasse und der Unterdrückten haben und unsere Linie diesen Sektoren besser vermitteln können. Dieses Engagement wird wiederum unsere Linie, Einfluss und Organisation verbessern helfen. Wir lehnen das Konzept ab, wonach alle oder eine Mehrheit der Arbeiterführer von ihren Arbeitsplätzen wegzubringen sind, um sie für Vollzeit-Aktivitäten der Partei freizustellen. Dies würde einen nachteiligen Effekt auf unsere Verbindungen zur Klasse haben und den betreffenden Genossen und Genossinnen schaden.

2.20 Jede bolschewistische Organisation muss fähig sein, ihre Arbeit unter Bedingungen der Illegalität zu vollbringen, und die dazu notwendigen konspirativen Maßnahmen beherrschen. Sie muss lernen, offene und verdeckte Arbeit miteinander zu verbinden. Sie muss sich auf den Widerstand gegen die Repression nicht nur seitens des Staates, sondern auch seitens der Faschisten oder der bürokratischen Agenten der Bourgeoisie in den Arbeitermassenorganisationen vorbereiten. Unter allen Umständen, gleichgültig wie demokratisch das jeweilige Land gerade ist, ist es wesentlich, eine Art von illegalem Apparat, ein Sicherheitssystem, Codes usw. zu haben. Jeder Genosse, der staatliche oder unternehmerische Repression erleidet, muss von der Organisation verteidigt werden. Es ist lebensnotwendig, dass der/die wegen seiner Parteizugehörigkeit inhaftierte oder entlassene Genosse/in materielle Hilfe erhält und dass die gesamte nationale und internationale Organisation zur Unterstützung dieses/r Gefangenen im Klassenkrieg zusammenhält. Wenn eine ganze Anzahl von Kadern inhaftiert ist, ist es bedeutsam, Widerstandszellen in den Gefängnissen aufzubauen.

2.21 Die Presse muss der kollektive Organisator für die Parteiarbeit sein. Sie sollte auch aus der kollektiven Arbeit der Partei entstehen und das Medium sein, durch das die Partei einen Dialog mit der unmittelbaren Peripherie und der Klasse im weiteren Sinn führt. Alle Mitglieder sollten danach streben, zur Produktion beizutragen, und alle sollen die Presse verkaufen. Beim Verkauf sollten die Kader zeigen können, dass sie eine profunde Kenntnis der Parteipositionen haben und imstande sind, diese in der Öffentlichkeit zu vertreten. Es ist auch wichtig, dass die Führer diese Aufgabe regelmäßig übernehmen. Spezifische Arbeitsbereiche, Fabriken oder andere Arbeitsplätze, sollen in den Blickpunkt gerückt werden, um über die Presseverkäufe Verbindungen zur Arbeiterklasse zu knüpfen, Informationen zu ihr zu transportieren, aber gleichzeitig auch Informationen von ihr zu erhalten. Wir sollten versuchen, auch ungeschulte und bislang unorganisierte Arbeiter dazu zu bewegen, ihre Gedanken in der Parteipresse durch Interviews, durch Berichte über ihre Probleme und Kämpfe zum Ausdruck zu bringen. Arbeiterkorrespondenzen sollten nicht nur Missstände anklagen, sondern auch eine konkrete Kampforientierung gegen diese angeben. In verschiedenen Perioden, selbst im Stadium des Aufbaus einer kämpfenden Propagandagruppe, kann es notwendig sein, über zwei Typen von Presse zu verfügen: einer eher agitatorisch, periodisch, populär, der andere eher theoretisch und propagandistisch. Letzterer Typus kann auch gemeinsam mit gleichsprachigen Sektionen anderer Länder erstellt werden. Besondere Flugschriften, die sich an spezifische Sektionen von Arbeitern, Bauern oder Bewohner von Elendsvierteln wenden, sind ebenfalls notwendig. Über solche Bulletins sollte die Partei versuchen, Vorfeldstrukturen aufzubauen.

Etappen des Parteiaufbaus

3.1 Im Allgemeinen charakterisieren wir die Stadien des Parteiaufbaus durch die Prioritäten, denen sich die Organisation zuwenden muss und weniger durch die bloße Größe. So kann ein ursprünglicher Kaderkern der Zahl nach größer sein als eine kämpfende Propagandagruppe. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Kaderkern, wenn seine zentrale Priorität die Neuformulierung von Grundprinzipien ist. Nur durch die Erfüllung dieser ideologischen Aufgaben kann man zur Entwicklung einer bestimmten kollektiven Praxis voranschreiten.

3.2 Revolutionäre lassen sich in jedem Stadium des Parteiaufbaus von der Suche nach einem politischen Betätigungsfeld leiten. Dies kann die Form eines Entrismus in eine größere Organisation, einer Beteiligung an einer wichtigen Kampagne, an Einheitsfronten oder einer Konzentration auf bestimmte Gewerkschaften, Parteien usw. annehmen. Wo der geeignetste Brennpunkt für revolutionäre Arbeit ist, müssen Revolutionäre sein. Ohne Forum für revolutionäre Ideen ist die winzige Gruppe zu Stillstand und Spaltung, zu Demoralisierung oder gar Aufgabe des revolutionären Kampf verurteilt. Ohne ein entsprechendes Forum wird unser Ideenstrom versiegen. Zur Suche nach einem solchen Forum gehört ein gewisses Maß an Außenarbeit, selbst für die kleinste revolutionäre Gruppe. Die erste Etappe im Parteiaufbau ist die ursprüngliche Kaderakkumulation, die Sammlung eines Kollektivs, dessen Hauptaufgabe im Schreiben, Veröffentlichen und Zirkulieren von Propaganda besteht. Die Elemente des demokratischen Zentralismus auf dieser Stufe sind kollektive Arbeitsweise und Diskussion sowie die Durchführung von Mehrheitsbeschlüssen. In diesem Stadium ist ein großer Unterschied zwischen „Führung“ und „Mitgliedschaft“ unwahrscheinlich. Eine Keimzelle muss aus Gesinnungsgenossen, Theoretikern und Polemikern gebildet werden, die eine erkennbare ideologische Strömung in der Auseinandersetzung mit opportunistischen und sektiererischen Tendenzen schaffen kann. Theoretische Arbeit und Propaganda für den Marxismus und sein Programm sind ein unauflöslicher Bestandteil des Klassenkampfs. Sie gegenüber „praktischer Arbeit“, Agitation, gewerkschaftlichem oder direktem politischen Massenkampf negativ zu bewerten, ist ein Zeichen von Kleinbürgerlichkeit und Opportunismus. Diese Arbeit ist wesentlich in allen Etappen des Parteiaufbaus. In den Anfangsstadien genießt sie sogar Vorrang, wenn der Parteikern sich anschickt, ein eigenes nationales und internationales Programm zu erstellen. Sie ist auch lebensnotwendig bei allen größeren Wendepunkten des Klassenkampfs, wenn es gilt, die Periode und ihre Aufgaben neu zu bewerten und zu bewältigen. Ebenso wie der geringschätzige Vergleich von theoretischer und propagandistischer mit „praktischer“ Arbeit eine kleinbürgerliche Haltung entlarvt, verrät umgekehrt die Verachtung von Praxis und die absolute Gegenüberstellung von Theorie bzw. Propaganda und praktischer Aktivität im Klassenkampf eine passive sektiererische Einstellung. Sie enthüllt einen Widerwillen, sich den „Tageskämpfen“ zu stellen. Ihr liegt eine Geringschätzung von und ein Mangel an revolutionärem Willen zugrunde.

3.3 Bereits existente oder potenzielle Kader sind die wichtigsten Rekrutierungsziele einer winzigen Gruppe, deren Aufgaben notwendigerweise hauptsächlich auf Propaganda orientiert sind. Solche Kader können an verschiedenen Orten anzutreffen sein, je nach Charakter des Klassenkampfes und der sozialistischen Bewegung in einem Land. Erfahrene kämpferische Arbeiter, kritische Mitglieder zentristischer Organisationen, militante Jugendliche mit frischen Kampferfahrungen und dem Wunsch nach revolutionärer Weltanschauung, linksreformistische oder stalinistische Arbeiter, die zwar von ihren Mutterorganisationen erzogen worden, aber dennoch unzufrieden mit deren prokapitalistischen Aktionen sind, revolutionäre Nationalisten, deren Hoffnungen durch den Verrat ihrer kleinbürgerlichen respektive bürgerlichen Führer betrogen worden sind, sowie Studenten und Intellektuelle, deren intellektuelle Entfaltung durch eine Diktatur verhindert wird – sie alle stellen potenzielle Rekruten für den kleinen Kaderkern dar. Aus welchem Bereich auch neue Mitglieder gewonnen werden, es ist die Aufgabe des revolutionären Kerns, aus diesen Rekruten allseitige Kader zu machen, sogar auf Kosten einer Einschränkung der Erwartungen der rekrutierten Arbeiter und Jugendlichen in Bezug auf agitatorische Arbeit oder der Enttäuschung der literarischen Ambitionen der kleinbürgerlichen und intellektuellen Rekruten, die noch keine „Parteiintellektuellen“ sind, Besitzansprüche auf ihre geistige Arbeit erheben und glauben, dass sie allein alle Antworten besäßen. Alle müssen Kader werden, die imstande sind, einen Teil der Propagandaarbeit der Organisation mit zu tragen.

3.4 Die Hauptaufgabe ist die Erstellung regelmäßiger Theorie und Propaganda. Die wesentlichen literarischen Waffen eines ursprünglichen Kaderkerns, der sich etablieren will, sind ein theoretisches Journal bzw. eine Revue oder eine regelmäßige Folge von umfassenden Broschüren oder auch Büchern, die nicht nur das revolutionäre Erbe des Marxismus gegen Stalinisten, Sozialdemokraten und Zentristen verteidigen, sondern auch fähig zur Erneuerung und Theoriebildung sind. Die Veröffentlichungen müssen die Grundfragen des nationalen und internationalen Klassenkampfes aufgreifen. Sogar als Teil einer bereits existenten internationalen Tendenz, die schon wichtige Strecken zur Wiedererarbeitung des Programms zurückgelegt hat, übernimmt jede hinzukommende nationale Sektion die Verantwortung, in Zusammenarbeit mit den internationalen Gesinnungsgenossen die theoretischen Aspekte des Klassenkampfes im eigenen Land aufzuarbeiten und in der Konsequenz ein Aktionsprogramm zu erstellen. Das befreit den kleinen Parteikern natürlich nicht von der Pflicht zur praktischen Arbeit. Die begonnene Praxis muss darauf ausgerichtet sein, die Fertigstellung dieser wichtigen propagandistischen Aufgaben zu unterstützen und ihr zeitweilig untergeordnet sein, es sei denn dass eine praktische Intervention z.B. in einen revolutionären Massenkampf eine rasche Kaderrekrutierung ermöglicht.

3.5 Wenn sich ein revolutionärer Kern über die Bildung einer Fraktion oder Tendenz in einer zentristischen oder reformistischen Organisation herausschält, ist der Ausgangspunkt wahrscheinlich eine Abrechnung mit deren Taktiken und Methoden und mündet in eine ausführliche Kritik am „Programm“ der betreffenden Organisation. Ein Fraktionskampf mit anschließender Abspaltung einiger Kader ist die optimale Plattform für die Schaffung einer neuen Organisation.

3.6 Der ursprüngliche Kaderkern muss ungeachtet seiner Größe sein polemisches Feuer nicht nur auf die falschen Führer der Massen in der Arbeiterbewegung richten. Besondere Aufmerksamkeit muss auch den zentristischen Möchtegern-Führern gewidmet werden, wenn sie ein ernstes Hindernis für den Aufbau des Kerns einer aktiven Propagandagruppe darstellen, selbst wenn einige der zentristischen Organisationen bedeutungslos für die Massen und ihre Kämpfe sind. Denn es kann sein, dass aus diesen Konkurrenzgrüppchen oder aus Schichten, die deren Ideen kennen, die ersten Mitglieder kommen, die zur Umwandlung des ursprünglichen Kaderkerns in eine kämpfende Propagandagruppe führen.

3.7 Die nächste Etappe, die der kämpfenden Propagandagruppe, setzt viele Aufgaben der vorangegangenen Etappe fort, stellt aber die Durchführung einer weit reichenden und systematischen Propaganda für diese Ideen in den Mittelpunkt. Sie konzentriert sich auf ihre Anwendung in einer Reihe von Schlüsselfragen. Sie befasst sich nicht nur mit der Ausarbeitung eines Programms, sondern mit dem Versuch, Anhänger für dieses Programm zu gewinnen. Für die meisten Kader besteht die Hauptaufgabe nicht in Theoriebildung, sondern vielmehr in Propagandaarbeit. Die Verbreitung und Erläuterung der Positionen einer Propagandagruppe beanspruchen mehr Zeit als deren Zustandekommen.

3.8 Eine regelmäßige Publikation ist Grundvoraussetzung für eine kämpfende Propagandagruppe. Sie sollte jeden Monat oder mindestens alle zwei Monate erscheinen. Ihr Verkauf in den verschiedenen Aktions- und Propagandafeldern ist das Mittel zur Gewinnung von Mitgliedern. Sie muss sich auf die zentralen Aufgaben einer kämpfenden Propagandagruppe ausrichten und ihnen zugeordnet sein. Sie darf sich nicht auf rein theoretische Aufgaben orientieren, aber auch nicht zu weit der Illusion einer populären Massenzeitung hingeben. Sie muss den Gruppenaktivitäten dienen. Für eine größere kämpfende Propagandagruppe muss ein theoretisches Organ die Aufgaben der programmatischen Ausarbeitungen und des ideologischen Kampfes übernehmen. Populäre Massenagitation sollte, falls nötig, für gewöhnlich in Form von Flugblättern oder -schriften erscheinen. Die Zeitung ist in erster Linie ein Instrument zur Propaganda, zur geduldigen Erklärung unserer Ideen für eine (bedauerlicherweise) kleine Anzahl von Leuten.

3.9 Zu den Hauptfähigkeiten der Mitglieder müssen nun Argumentation, Schulung, Polemik gegen andere Gruppen, geduldige Aufklärungsarbeit über die Gruppenpolitik und die Gewinnung von Kadern für die Gruppe gehören. Ein zentrales Propagandaziel ist die Bildung von Schulungs- oder Diskussionszirkeln, in die Kontakte und Sympathisanten einbezogen und aus deren Kreis neue Mitglieder gewonnen werden sollen. Ist das nicht möglich, muss das Hauptmittel die Intervention bei den Veranstaltungen und Aktionen der größeren zentristischen oder reformistischen Gruppen bleiben. Das Ziel der Propagandagruppe ist nicht nur die Rekrutierung von Individuen, sondern ganzer Gruppen durch die Erzeugung von oppositionellen Fraktionen in zentristischen oder auch sektiererischen Gruppen, die sich schließlich abspalten und mit der revolutionären Organisation fusionieren. Wo es eine Tradition bedeutender zentristischer Organisationen gibt, werden die ersten Rekruten aller Wahrscheinlichkeit nach aus ihren Reihen gewonnen. Anderswo müssen andere Rekrutierungsfelder gefunden und ins Zentrum gerückt werden.

3.10 Die kämpfende Propagandagruppe muss sich auch in die bedeutenden Kämpfe der Arbeiterklasse einschalten. Unter normalen Umständen muss eine kämpfende Propagandagruppe erkennen, dass ihre Agitation und zugespitzte Propaganda in Tageskämpfen in erster Linie exemplarischen Charakter hat, das heißt ein Beispiel gibt, wie bei größerer Unterstützung überall zu handeln wäre. Unter außergewöhnlichen Gegebenheiten, wie günstigen lokalen Bedingungen, kann ein Kampf um die Führung möglich sein. Die Gruppe muss Kollektive zur Unterstützung der exemplarischen Arbeit von kämpferischen Arbeitern einsetzen, eine Methode, die den zusätzlichen Vorteil für nicht-proletarische Mitglieder bietet, an proletarischem Leben und Kampf teilzuhaben. Diese Maßnahmen sind ein notwendiges Mittel, um die junge kämpfende Propagandagruppe proletarischer zu machen und sie auf ein nächstes Stadium vorzubereiten, in dem die proletarische Zusammensetzung, ihr Gewicht und Einfluss in der Klasse quantitativ und qualitativ gesteigert werden kann. Das Gruppenziel in diesen Kämpfen besteht darin, die Erfahrungen der Kader im Klassenkampf zu vertiefen, eine kollektive Strategie durch das Lernen von der Arbeiterklasse und anderen unterdrückten Schichten zu entwickeln und die fortgeschrittenen militanten Elemente nach Möglichkeit für die kämpfende Propagandagruppe zu gewinnen. Regelmäßigere und systematischere Arbeitsbereiche von Teilen der Gruppe müssen, wo möglich, organisiert werden: in Gewerkschaften, reformistischen Parteien, Volkskomitees. Die Propagandagruppe sollte niemals der opportunistischen Methode folgen, den Apparat dieser Organisationen hinter dem Rücken der Massen zu übernehmen und dann seine Mittel für Parteizwecke zu missbrauchen, wie es die Stalinisten und Zentristen oft getan haben.

3.11 Wenn die kämpfende Propagandagruppe keinen Arbeiterkader in kämpfenden Massenorganisationen hat, ist sie gezwungen, „von außen“ durch die Förderung von Solidaritätsaktionen und durch Flugblätter zu intervenieren. Aber das ist eine Schwäche, und sobald eine ausreichende Anzahl von Kadern vorhanden und ausgebildet ist, sollte eine „Wende“ zu mehr Agitation, zur Arbeit in und um die Massenorganisationen eingeleitet werden. Die kämpfende Propagandagruppe kann in dieser Etappe versuchen, nicht-industrielle Arbeiter in zentralen oder für den Klassenkampf wichtigen Industrien zu platzieren. Das ist wahrscheinlich am ergiebigsten, wenn die Organisation auch direkt eine Anzahl von Industriearbeitern rekrutiert. Auf dieser Stufe ist das Ziel die Schaffung von Propagandazirkeln, die eine Reihe von Arbeitern anziehen können oder sogar in Betrieben konzentriert sind. Die revolutionäre Tendenz muss die besonderen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung, Integration und Ausbildung von Kadern, wo Armut, lange Arbeitszeiten und schwere Lebensbedingungen herrschen, in den Griff bekommen. Diese Schwierigkeiten wiegen besonders schwer in den ersten Phasen der Umwandlung von einer ideologischen Strömung mit zwei oder drei Mitgliedern in eine kämpfende Propagandagruppe mit 10-20 oder mehr Genossen und Genossinnen. Rekruten mit ausgezeichnetem Ruf als Denker, Kämpfer oder Organisatoren, die in einem wohlhabenderen Land stabile oder selbst Führungskader sein könnten, werden oft durch wirtschaftliche Not und daraus resultierende persönliche und familiäre Krisen aus der politischen Arbeit gerissen.

3.12 Zur Anleitung einer größeren Gruppe mit breiter gefächertem Aufgabenbereich bedarf es eines klar strukturierten Führungssystems. Ein kleinerer politischer Ausschuss ist immer vonnöten, um nicht nur die Tagesaktivitäten anzuleiten, sondern auch die Publikation(en) herauszubringen. Eine getrennte Redaktion ist erst zu einem späteren Zeitpunkt eine wünschenswerte Arbeitsteilung. Sie muss aber politisch der Leitung unterstehen. Aber eine kleine politische Exekutive reicht nicht aus. Die Gruppe braucht auch ein größeres und souveränes Führungsgremium, einen nationalen bzw. Zentralausschuss. Dieser sollte für die verschiedenen Bereiche und Typen der Gruppenarbeit gelten. Bei der Wahl dieses Organs sollten die verschiedenen Bereiche und Regionen, in denen die Gruppe Zellen oder Ortsgruppen hat, repräsentiert sein. Es soll aus den besten Journalisten, Hauptamtlichen, Theoretikern, Gewerkschaftskämpfern und Aktivisten bei den Unterdrückten bestehen sowie eine angemessene Repräsentanz von Frauen, Jugendlichen und national oder rassisch unterdrückten Minderheiten aufweisen.

3.13 Um den Grenzen einer kämpfenden Propagandagruppe zu „entfliehen“ und zur Etappe einer kleinen Kaderpartei zu gelangen, ist mehr als das organisch tröpfelnde Wachstum durch individuelle Kadergewinnung notwendig. Hierzu müssen ein oder mehrere qualitative Sprünge bewirkt werden. Das könnte z.B. durch die unmittelbare qualitative Expansion der kämpfenden Propagandagruppe in einer revolutionären Situation geschehen. Sie wäre in dieser Situation in die Lage versetzt, sich durch langfristige systematische Propaganda sowie Kaderauslese und -schulung mit den radikalisierten Massen zu verbinden, die die Losungen der Gruppe aufnehmen, ihre Presse unterstützen und deren Aktivisten schließlich in großer Zahl zur Organisation stoßen. So kann die Organisation bekannt und ein bedeutender Bezugspunkt in der gesamten Arbeiterbewegung werden. Andere Arten der Umwandlung stellen die Fusion mit einer weit größeren, nach links gehenden zentristischen Organisation und deren Transformation in eine revolutionäre Vorhutpartei oder eine günstige Abspaltung revolutionärer Elemente aus einer linksreformistischen oder zentristischen Partei dar, woraus sich ein quantitativer und qualitativer Sprung ergibt. Dazu wären verschiedene Arten von Entrismus-Taktiken in linken Parteien anwendbar, darunter auch der volle Entrismus in eine reformistische oder zentristische Organisation mit dem Ziel der Bildung einer großen „revolutionären“ Fraktion oder Tendenz bis zum endgültigen Ausschluss. Andere Einheitsfronttaktiken könnten den Übergang von einer Propagandagruppe zu einer Kaderpartei unterstützen, so z.B. die Schaffung einer größeren revolutionären Tendenz in den Gewerkschaften, den Organisationen der Bauern, Studierenden oder der städtischen Armut bzw. in den Bewegungen der Unterdrückten, in denen die kämpfende Propagandagruppe die Führung erringt und mit einer ganzen Schicht der aktivsten Kämpfer „verschmilzt“ oder sie rekrutiert.

3.14 Die kleine Kaderpartei muss, will sie diesen Namen verdienen, in ihren Reihen zumindest einen repräsentativen Querschnitt der Vorhut der Klassen vereinigen. Sie muss aus den Gewerkschaftsvertretern der Basis, aus den Führern der Gemeindeorganisationen sowie prominenten Repräsentanten der Einheitsfrontkämpfe zusammengesetzt sein. In einer solchen Partei sollte die Arbeit auf die Arbeiterklasse ausgerichtet sein. Die Proletarisierung von Basis und Führung ist notwendig. Nach rund einem Jahrzehnt hatte die SWP/USA die Größe einer kleinen Kaderpartei erreicht und war in der Lage, in Massenkämpfe einzugreifen, ja sogar sie anzuführen, wie zum Beispiel in Minneapolis. Damals drängte Trotzki darauf, den Druck des kleinbürgerlich intellektuellen Dilettantismus in den eigenen Reihen zu überwinden. Er schlug vor, dass jeder Nicht-Arbeiter verpflichtet werden sollte, binnen weniger Monate ein proletarisches Mitglied für die Partei zu werben. Falls ihnen dies nicht gelingen sollte, hätten sie auf den Stand eines Sympathisanten zurückversetzt werden sollen.

3.15 Die revolutionäre Organisation sollte den konzentriertesten und organisiertesten Teilen des Industrieproletariats besonderes Augenmerk schenken: den Schichten, die durch ihr ökonomisches Gewicht und ihren Konzentrationsgrad die schärfsten Feinde der Kapitalisten sind und die Achse der Vorhut der Klasse bilden. Die Arbeiterviertel im Umkreis der Bergwerke und Fabriken sowie die von ihnen geprägten Städte haben sich immer als Kern der Entfaltung und Radikalisierung der Klasse und der potenziellen Herausbildung von Anhängern der revolutionären Partei erwiesen. Die revolutionäre Organisation, die es ernst mit der Proletarisierung meint, muss bestrebt sein, enge Bande mit den Fabriken, Agrarindustrien, Bergwerken und anderen Unternehmen zu knüpfen. Sie muss in diesen Gebieten Zellen aufbauen und eine auf die Arbeiter abgestellte tägliche systematische Agitation und Propaganda betreiben.

Internationale Erfahrungen – Unterschiede in Tradition und Terrain

4.1 Bei der Schaffung einer internationalen demokratisch-zentralistischen Organisation müssen nationale Eigentümlichkeiten beachtet und überwunden werden. Die Brüche in der revolutionären Tradition – der letzte und längste dauert nun schon rund vierzig Jahre – haben die Krise verschärft. Hinzu kommen spezifische nationale Probleme. Die Sichtweise eines Kommunisten aus einem imperialistischen Land mit jahrzehnte- oder jahrhundertelanger ungebrochener Tradition der Legalität und des weitgehend gewerkschaftlichen „Klassenkampfes“ unterscheidet sich von der eines Kommunisten aus einem Land, selbst einem imperialistischen, das Faschismus, Stalinismus, Illegalität und scharfe Repression durchlebt hat. Eine von Sozialdemokratie, Stalinismus oder gar einer bürgerlich „liberalen“ Partei wie den US-Demokraten dominierte nationale Arbeiterbewegung erzeugt andere Vorurteile. Um so mehr diktieren die Bedingungen in jenen Halbkolonien, wo Massenarbeitslosigkeit und -armut die Norm, wo Gesundheits- und Bildungswesen dürftig sind, die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Intelligenz und Arbeiterklasse, zwischen Männern und Frauen. Dasselbe gilt für die stalinistischen Staaten, die noch nach dem alten repressiven bürokratischen Plan organisiert sind, oder wo Regierungen der freien Marktwirtschaft die Lebensbedingungen und Errungenschaften der Massen attackieren oder ethnische Konflikte schüren. Natürlich existieren diese Unterschiede auch zwischen Halbkolonien oder degenerierten Arbeiterstaaten je nach Grad der Wirtschaftsentwicklung, religiösem und kulturellem Hintergrund, der Geschichte der fortschrittlichen Kämpfe von Arbeiterklasse, Bauern und städtischem Kleinbürgertum. Auch können die Hauptfeinde in der Massenbewegung höchst unterschiedlicher Art sein, z.B. große sozialdemokratische Parteien, monolithische stalinistische Regime, klassenübergreifende nationalistische oder religiöse Bewegungen.

4.2 Die Aufgabe einer internationalen revolutionären Organisation liegt im Erkennen dieser Differenzen. Alles, was bei den einzelnen nationalen Arbeiterklassen und den revolutionären Traditionen wertvoll und fortschrittlich ist, muss erkannt und übernommen werden. Zugleich aber muss das kritisiert und abgelehnt werden, was daran schädlich und reaktionär ist. Unser Ziel ist die Herstellung oder besser Wiederherstellung einer wahrhaft internationalen kommunistischen Kultur und weltweiten Praxis. Die Führung muss dabei von den internationalen zentralen Organen (ein häufig zusammentretendes internationales Sekretariat (IS) und ein regelmäßig tagendes internationales Exekutivkomitee (IEK)) übernommen werden, die diesen Verschmelzungsprozess als genauso wichtigen Teil ihrer Arbeit ansehen wie das programmatische Schaffen. Eine starke Vertretung der verschiedenen nationalen Sektionen ist nicht nur auf dem Kongress und im IEK notwendig, sondern auch so weit wie möglich im IS. Zu diesem Zweck muss versucht werden, führende Genossen aus diversen Sektionen periodisch in die Arbeit des IS einzubeziehen, dessen Sitz gezwungenermaßen an ein Land gebunden ist. Zusätzlich müssen IS-Mitglieder die Sektionen regelmäßig besuchen und lange genug bleiben, um wirkliche Erfahrungen mit den jeweiligen Arbeitsbedingungen, den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kader sammeln zu können. Außerdem sollten Revolutionäre dem gesunden Erbe der frühen Komintern nacheifern, als keine Sektion, nicht einmal die Millionen Mitglieder umfassenden Bolschewiki, die Internationale zu beherrschen versuchte; es muss gewährleistet sein, dass keine Sektion mehr als 30% der IEK-Mitgliedschaft stellt.

4.3 Die gemeinsame internationale Erfahrung sollte nicht auf die internationale Führung beschränkt sein. Sie sollte sich auf die nationalen Führungen und, wo möglich, auch auf die Mitgliedschaft erstrecken. Austausch von Genossen, manchmal für längere Perioden, kann bei der Überwindung von Sprachbarrieren helfen und ein lebendiges Band der internationalen Verbindung zwischen allen Sektionen formen. Organisationen in verschiedenen Etappen des Parteiaufbaus können unschätzbare Lehren aus der Geschichte und Erfahrungen von anderen übernehmen. Ihre Kader können durch die Arbeit in anderen Sektionen kurzfristig soviel lernen wie in jahrelanger Tätigkeit in der eigenen nationalen Sektion.

4.4 Die Kader einer internationalen Tendenz, die in verschiedenen Ländern über den Erdball verstreut sind und verschiedene Sprachen sprechen und lesen, dürfen ihre Kenntnisse über die Arbeit der anderen Sektionen nicht zufällig erwerben. Regelmäßige internationale interne Bulletins, Übersetzungen der wichtigsten Artikel und Berichte, aufmerksames Verfolgen der Presse aus allen Sektionen, spezielle Diskussionen in jeder Zelle und Ortsgruppe und regelmäßige nationale Schulungen sind nötig, um einen hohen internationalen Kaderstandard zu wahren.

4.5 Die koordinierten Anstrengungen der internationalen Tendenz können die Anfangsstadien des Parteiaufbaus für die später dazu stoßenden Sektionen modifizieren und abkürzen. Zunächst muss keine neue winzige Gruppierung die theoretisch-programmatischen Aufgaben allein bewältigen, sobald ein internationales Programm und eine internationale Tendenz existieren. Sofern eine andere gleichsprachige Sektion vorhanden ist, muss ein kleiner erster Organisationskern nicht alle seine Anstrengungen auf die Veröffentlichung von ausreichendem Material legen, wie eine isolierte Gruppe. Sogar eine Gruppe, die viel Übersetzungsarbeit zur Aneignung der Schlüsseldokumente der internationalen Tendenz benötigt, genießt den Vorteil eines programmatischen Fundaments. Außerdem können kleinere Organisationen von den vorhandenen Modellen profitieren, wie die Kaderschulung und die Führungsstruktur aufzubauen sind.

4.6 Armut engt den Publikations- und technischen Apparat sowie die Reisefreiheit stark ein. Dies kann und soll durch eine erhebliche Umverteilung der Finanzmittel in der internationalen Tendenz von den größeren Gruppen in den wohlhabenderen (imperialistischen) Ländern zu den Gruppen in den ärmeren halbkolonialen Ländern überwunden werden. In einer Periode massenhafter Klassenkämpfe und großer Gelegenheiten ist es für solche Sektionen lebensnotwendig, alle Arten von politischen und materiellen Zuwendungen zu erhalten. Dies kann ein beträchtliches Wachstum der Organisation an Mitgliedschaft und Einfluss unterstützen. Es gibt jedoch politische Grenzen für diese Hilfe; die notwendige Selbstachtung und das Selbstvertrauen der Genossen in diesen Ländern, die nicht die „Abhängigkeit“ ihrer Bourgeoisie kopieren wollen, müssen respektiert werden. Selbst in der gesündesten Organisation kann trotz internationalistischen Geistes beim Empfänger der Eindruck politischen Drucks durch totale Abhängigkeit vom Geber entstehen. In kranken Organisationen (auch degenerierten „trotzkistischen“) ist dies ein Mittel zur Ausschaltung politischer Opposition, zur Spaltung und Manipulation. Das darf bei uns nicht passieren. Die Unterstützung durch große Summen aus dem Ausland kann außerdem von politischen Gegnern (beispielsweise Lora in Bolivien) für eine Verleumdungskampagne gegen die betreffenden Sektionen ausgeschlachtet werden. Deshalb sollte finanzielle Hilfe zur Beseitigung wirklich unüberwindbarer Hindernisse eingesetzt werden.

4.7 Die Stalinisten und allzu viele „trotzkistische“, das heißt zentristische, internationale Gruppierungen scharen sich um eine dominante „Muttersektion“, in deren Händen die ganze Zentralgewalt der Internationale konzentriert ist und die das permanente Zentrum darstellt. Die Internationale wird zu einer bloßen Ansammlung von Satelliten um die Muttersektion und ist zudem dem obersten Führer dieser Sektion, seinen Ansichten und Plänen untergeordnet und ahmt seine Methoden und selbst seine Launen nach. Gelegentlich versuchen diese führenden Sektionen ihren Einfluss zu verstärken und ihre Rolle damit zu rechtfertigen, dass sie bereits das Zentrum der Weltrevolution verkörpern oder im Begriff sind, diese Position einzunehmen; dass sie auf dem Sprung zur Arbeitermassenpartei sind, oder dass sie gar vor der Machtergreifung im Staat stehen (N. Moreno in Argentinien, G. Lora in Bolivien und G. Healy in Britannien). Stellt schon der isolierte nationale Trotzkismus eine schreckliche Deformation dar, so ist dieser „koloniale Trotzkismus“ noch schlimmer, weil er andere Sektionen zu beherrschen, korrumpieren und manipulieren versucht. Jede gesunde revolutionäre Internationale sollte eine Führung anstreben, die nach Zusammensetzung, Praxis und Tagungsort so international wie nur möglich ist und das internationale Zentrum vom Apparat der größten nationalen Sektion klar trennen.

4.8 Sicherheit und die Aufgaben der legalen und illegalen Arbeit sind in einer internationalen Tendenz eine aktuelle Frage für jede Sektion und auch für das internationale Zentrum. Sektionen aus Ländern mit stabiler, weit reichender Legalität müssen diese für die internationale Tendenz insgesamt ausnützen. Sie müssen Gastgeber für Konferenzen und Treffen sein, Material publizieren, Forschung, theoretische und literarische Arbeit unter Ausnutzung der Quellen der Bourgeoisie (Büchereien usw.) verrichten. Gleichzeitig müssen sie den Umgang mit illegaler, konspirativer Arbeit lernen, in erster Linie, um die Genossen in den Ländern ohne oder mit nur schwachen bzw. kaum einklagbaren demokratischen Freiheiten zu schützen. Die Wiederentdeckung der bolschewistisch-leninistischen Praxis der Verbindung von legaler und illegaler Arbeit ist eine der wichtigen Aufgaben einer internationalen Tendenz. Sie muss auf einer solidarischen Kritik der übernommenen Traditionen beruhen, an Gewohnheiten und Methoden der verschiedenen zentristischen Traditionen, aus denen die Gruppierungen stammen.

4.9 Wenn eine internationale Tendenz das Erbe des Föderalismus, das die degenerierte Vierte Internationale hinterlassen hat, überwinden will, braucht sie nicht nur eine internationale Führung, die das Vertrauen der Sektionen genießt. Sie benötigt auch ein internationales Programm, Perspektiven und taktische Resolutionen zu ihrer Anleitung. Außerdem muss sie auch die gesamte Tendenz in gemeinsame weltumspannende Aktionen und Kampagnen führen. Anfangs wird eine solche Arbeit relativ bescheiden sein. Sie muss stets realistisch bleiben. Sie darf sich nicht in bombastischen Aufrufen oder windigen Kampagnen und Konferenzen ergehen, die niemanden außer ein paar Figuren mobilisieren, die selber rasch durch den Mangel an greifbaren Resultaten enttäuscht werden. Die Mandelisten, Lambertisten und Morenisten sind Altmeister dieser Betrugsmethoden. Die Enthüllung lässt gewöhnlich nicht lange auf sich warten. Aber Ereignisse wie bedeutende Kriege, revolutionäre oder konterrevolutionäre Aktionen oder Krisen in den reformistischen oder zentristischen Weltströmungen bieten sämtlich Gelegenheiten für ein organisiertes internationales Eingreifen. In den Ländern, wo sich Sektionen befinden, können Kampagnen zur Rettung von Gefangenen des Klassenkampfes, für Solidaritätsstreiks und Boykotte anlaufen. Zu internationalen Ereignissen, Kundgebungen und Konferenzen können Abordnungen entsandt werden. Die vorrangige Aufgabe der internationalen Führung und der kooperierenden Sektionen ist die Herausgabe von Propaganda in so vielen Sprachen wie nur möglich, für unser Programm und unsere Organisationen und gegen die zentristischen bzw. reformistischen Konkurrenten.

4.10 Eine weitere Aufgabe der internationalen Tendenz ist die Koordination und der Ausgleich des Wachstums der internationalen Sektionen. Wenn eine oder mehrere Sektionen schnelle und bedeutsame Erfolge erzielt, ist es wichtig, dass alle Sektionen daraus die Lehren ziehen und sie anwenden. Die Inanspruchnahme des„„Prestiges“ dieser Erfolge in anderen Länder ist nicht zu verachten, vorausgesetzt, wir lügen und übertreiben nicht oder „kompensieren“ die Schwächen in einem Land nicht mit dem selbstgefälligen Glauben, dass unsere Genossen im Land X stark sind und wachsen. Wenn umgekehrt eine Sektion schwach ist, stagniert oder sich in der Krise befindet, ist das die Angelegenheit aller Sektionen und der internationalen Führung, die mit Ursachenforschung eingreifen und nach Möglichkeit Abhilfe schaffen müssen. Diese Kritik muss ehrlich und undiplomatisch, aber zugleich kameradschaftlich und konstruktiv sein. Widerstand seitens einer Sektion oder der internationalen Führung gegen Kritik aus nationalem Stolz oder Ansehen heraus ist anti-leninistisch und anti-internationalistisch.

4.11 Mit den koordinierten Aktivitäten der gesamten Tendenz kann man Kader aus anderen Sektionen zum Aufbau neuer Sektionen und zur Formung einer kämpfenden Propagandagruppe freistellen. Die eigene Erfahrung und die von zentristischen und sektiererischen Strömungen besagt aber, dass die „Fallschirmspringereinsätze“ durch Kader von außen und die Erhebung dieser Gruppen zu „nationalen Sektionen“ zum Scheitern verurteilt sind. Zur Verankerung einer Sektion bedarf es eines einheimischen Kaderkerns, der der Landessprache in Wort und Schrift mächtig und in der Entwicklung der eigenen Arbeiterbewegung und Klassenkampfkultur bewandert ist. Andererseits kann eine kleine Belegschaft von „Missionaren“ Kader gewinnen oder der Herausbildung einer Fraktion innerhalb einer zentristischen Organisation assistieren. Die internationale Führung muss solche Unternehmungen sorgfältig und schwerpunktmäßig organisieren. Dabei muss sie die Fähigkeit, Chancen zu erkennen, mit einer langfristigen Planung verbinden, die der Bedeutung der betreffenden Länder Rechnung trägt (zum Beispiel ein größeres imperialistisches Land oder eine an Kämpfen und revolutionärer Erfahrung reiche Halbkolonie). Schließlich muss die gesamte Tendenz die Gewähr bieten, dass im Prozess des Wachstums und der Ausdehnung die zentralen Koordinations- und Kontrollorgane bzw. -apparate ihrer gestiegenen Verantwortung gewachsen bleiben oder das geforderte Niveau erreichen.

4.12 Wenn das Ziel einer kämpfenden Propagandagruppe in jedem Land die Gründung einer revolutionären Partei ist (am ehesten über das Stadium einer kleinen Kaderpartei von einigen tausend Mitgliedern als einer Massenpartei mit mehreren zehn- oder gar hunderttausend Militanten), dann liegt die Aufgabe einer internationalen kämpfenden Propagandatendenz in der Gründung einer neuen „internationalen Partei der Weltrevolution“. Es gibt keine festgelegte Größe, kein organisches Verhältnis zur Arbeitervorhut, die den Zeitpunkt bestimmen, wann eine solche Internationale gegründet bzw. ausgerufen werden kann. Eine besonders kritischer internationaler Wendepunkt (Weltkrieg, Krise, revolutionäre oder vorrevolutionäre Weltlage) kann das Überspringen von Etappen und die „Proklamation“ einer Tendenz notwendig machen, die unverhältnismäßig schwach im Hinblick auf die Aufgaben einer Internationale ist. Aber unter diesen Umständen können die sich überschlagenden Ereignisse, die geballte Aufmerksamkeit der Vorhutkämpfer für die konkurrierenden Banner bzw. Programme eine solche Ausrufung rechtfertigen (Lenin wollte mit Zimmerwald/Kienthal brechen, als der Erste Weltkrieg noch im Gange war, und Trotzki gründete die Vierte Internationale 1938 mit schwachen Kräften). Aber außerhalb dieser Bedingungen kann das langwierige Verfechten unseres Programms gegen den degenerierenden Zentrismus einen „langen Marsch“ erforderlich machen, der eine unabhängig kämpfende internationale Propagandatendenz oder den Eintritt als revolutionäre Fraktion in eine zentristische oder reformistische Internationale mit sich bringen könnte.

Schlussfolgerung

5.1 Wir wissen, dass die obigen Thesen nicht alle Antworten auf Fragen des Aufbaus von revolutionären Massenparteien geben. Sie sind vorläufig und begrenzt auf die Frühstadien des Parteiaufbaus, auf die die trotzkistische Bewegung historisch angewiesen ist. Wir wissen, dass es ganze Dimensionen des Parteiaufbaus gibt, besonders auf der Stufe von Massenorganisationen, die wir nicht ausführlich behandelt haben. Wir ziehen nur eine Bilanz der positiven und negativen Lehren aus dem Kampf für den Aufbau einer revolutionären Internationale seit dem Niedergang der Kommunistischen Internationale in den 20er Jahren. In diesem Sinne sind die Thesen mehr ein Beginn, eine Reihe von Wegweisern als ein Handbuch zum Parteiaufbau.

5.2. Wir sind keine Dogmatiker und wissen, dass wir in der Praxis des Parteiaufbaus noch viel zu lernen haben und unsere Thesen ergänzungsbedürftig sind. Es muss jedoch ein Anfang gemacht werden, um unsere Tendenz weg zu führen von den Irrtümern, die andere Tendenzen zur Auflösung oder in den Niedergang getrieben haben.




Die Krise der Linkspartei und ihre Wurzeln

Hannes Hohn/Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 43, Oktober 2011

Aus weiter Entfernung gilt die Partei DIE LINKE noch immer als Hoffnungsträger der Arbeiterklasse in Europa. Nach ihrer Gründung wurde sie als ein bedeutender Schritt vorwärts begrüßt.

Doch aus der Nähe betrachtet war und ist die Partei keineswegs die herbeigesehnte hell strahlende Sonne am Firmament der europäischen Linken, sondern eher ein erkalteter Gesteinsbrocken, ein Hort reformistischer Öde, wo eigentlich revolutionärer Elan gefragt wäre.

Von den Erfolgen bei der Bundestagswahl zu den Niederungen der Gegenwart

Unmittelbar nach der letzten Bundestagswahl prallte eine Kritik an der Linkspartei noch an den meisten ihrer Mitglieder – einschließlich ihres mehr oder minder linken Flügels – ab. Schließlich kehrte der neue Besen zumindest auf elektoraler Ebene vergleichsweise gut.

Die Linkspartei schaffte es mit einem recht guten Ergebnis in den Bundestag. Landtagswahlen wurden gewonnen. Die Partei wuchs, wenn auch nicht in dem Ausmaß, das manche OptimistInnen gern gesehen hätten.

Doch 2010 war ein Jahr der Wende für die Linkspartei. Oskar Lafontaine trat als Parteivorsitzender zurück. Ohne ihre Galionsfigur wird die Partei öffentlich deutlich weniger wahrgenommen – und wo die neuen Vorsitzenden auftauchen, stellen sie bestenfalls einen müden Abklatsch des alten dar.

Zugleich traten auch die inneren Konflikte, die schon Lafontaines Rücktritt beschleunigt hatten, in und außerhalb der Partei stärker ins Blickfeld.

Zweifellos wurde das durch eine Reihe schlechter Wahlergebnisse beschleunigt.

In Hamburg konnte DIE LINKE im Februar 2011 mit 6,4% ihr Wahlergebnis von 2008 halten. In Sachsen-Anhalt verlor sie „nur„ 0,4% und erhielt im März 2011 23,7%. Aber auch in Baden-Württemberg verlor die Partei trotz einer Massenbewegung gegen Schwarz-Gelb und erhielt gerade 2,8% (verglichen mit 3,1% 2006) – ein schlechteres Ergebnis als in Rheinland-Pfalz, wo die Linke mit 3% ebenfalls den Einzug in den Landtag verfehlte. Das stellt zwar einen Zuwachs von 0,4% gegenüber den letzten Landtagswahlen dar, blieb aber deutlich unter ihrem Ergebnis bei den Bundestagswahlen 2009 (9,4%). Auch in ihrer Hochburg Berlin verlor die Linkspartei zum dritten Mal in Folge bei den Abgeordnetenhauswahlen: von 22,6% (2001) landete sie 2011 bei gerade 11,7% und flog aus dem Berliner Senat – eine deutliche Quittung für ihre „linke” Regierungspolitik.

Doch nicht nur die Wahlergebnisse verschlechterten sich. Die Partei schrumpfte auch deutlich. Bei ihrer Gründung 2007 hatte DIE LINKE insgesamt 71.711 Mitglieder in 16 Landesverbänden. In den Folgejahren stieg die Zahl auf 75.968 (2008) und 78.046 (2009). 2010 schrumpfte die Mitgliedschaft jedoch um fast 5.000 auf 73.658. (1)

Auffällig ist dabei, dass der Niedergang in 13 von 16 Bundesländern, also in Ost und West stattfand. Nur in Nordrhein-Westfalen, Bremen und Hamburg wuchs die Partei. Den größten Rückgang hatte das Saarland zu verbuchen, wo die Anzahl der Mitglieder um 1.302, also rund ein Drittel, fiel.

Wie erklärt sich die Linkspartei die Krise?

Es stellt sich also die Frage, warum die „sozialistische“ Oppositionspartei an Wahrnehmbarkeit, Anziehungskraft und schließlich auch an Mitgliedern verlor? Warum vermochte gerade die scheinbar linkeste und radikalste Fraktion im Parlament von den zahlreichen Fehlern, Schwächen und inneren Konflikten der Regierung nicht zu profitieren?

Die Linkspartei hat dafür zwei, für die bürgerliche Parteienlandschaft durchaus übliche, Erklärungsmuster.

Erstens hätten die Themen den anderen Parteien in die Hände gespielt. Die Auseinandersetzung um die Verlängerung der AKW-Laufzeiten wie der Kampf gegen Stuttgart 21 hätte v.a. die Grünen begünstigt und die Aufmerksamkeit von der Linkspartei abgezogen.

Zweifellos hatten die GRÜNEN als Partei, die aus der Ökologiebewegung und aus dem Kampf gegen die AKWs hervorgegangen ist, noch immer einen Bonus unter der Masse der mobilisierten AtomkraftgegnerInnen. Doch das erklärt nicht, warum es DIE LINKE trotz jahrlanger Kämpfe nicht vermochte, sich politisch-strategisch von den GRÜNEN abzusetzen. Hatte DIE LINKE schon kein grundlegend anderes Programm zum Ausstieg aus der Kernkraft wie überhaupt zur Umweltfrage, so trat sie erst recht nicht als aktivistische Partei auf. Während die GRÜNEN die Spitze der Bewegung stellten und sogar einen gewissen Aktivismus für ihre AnhängerInnen zu bieten versuchten, war und ist DIE LINKE kaum sichtbar.

Es ist daher kein Wunder, dass viele BewegungsaktivistInnen und viele bei Demonstrationen und anderen Aktionen politisierte Jugendliche lieber das grüne Original kleinbürgerlich-reformerischer Umweltpolitik wählten als die reformistisch-dröge Kopie der Linkspartei.

Zweitens hätten die bürgerlichen Medien DIE LINKE gegenüber anderen Parteien „benachteiligt“. Diesen Vorwurf hatte schon Lafontaine erhoben und empirisch belegt. Wir haben keinen Zweifel daran, dass DIE LINKE im privaten wie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und bei den bürgerlichen Zeitungen benachteiligt wird.

Bei den bürgerlichen Medienmonopolen steht sie entgegen aller praktischen Erfahrung immer noch unter „Kommunismusverdacht“. In Talkshows werden VertreterInnen der Linkspartei seltener eingeladen – und dann vorzugsweise, um sie durch eine geballte neo-liberale und anti-sozialistische „Expertenrunde“ zu „entlarven“, ein Geschäft, das den Bürgerlichen durch das oftmals peinlich-dilettantische und unterwürfige Auftreten der LinksparteilerInnen erleichtert wird.

Typisch für das Herangehen der Linkspartei ist freilich, dass sie hinter dieser Benachteiligung keinen Beleg für den strukturell bürgerlichen, pro-kapitalistischen und pro-imperialistischen Charakter der Medienlandschaft erblickt, sondern allen Ernstes hofft, dass die bürgerlichen Medien jemals eine aus der Arbeiterbewegung stammende Partei – und sei sie noch so reformistisch und verbürgerlicht – „gleichbehandeln“ würden.

Drittens gelten die „Uneinigkeit“ und „dummen Äußerungen“ zum Kommunismus, Geburtstagsgrüße an Castro oder Sponsoring für die Freunde der Berliner Mauer bei der „Jungen Welt“ als Faktoren, die die Linkspartei weiter schwächen. Ein Teil davon kann getrost als Legendenbildung des rechten Parteiflügels verstanden werden. Er selbst bedient gern die bürgerliche Skandalpresse, wenn z.B. in rein denunziatorischer Absicht ein „Anti-Semitismus“ in der Linkspartei, genauer beim linken Flügel, behauptet wurde. Hatte die bürgerliche Presse den „Skandal“ aufgegriffen, beklagte der rechte Flügel zu allem Überdruss noch das „schlechte Erscheinungsbild“, das er selbst herbeigeführt hat. Außerdem nutzten sie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern die „schlechte Presse“ auch, um von der eigenen Verantwortung für mangelnde Wahlerfolge abzulenken.

Auch wenn die „schlechte Außendarstellung“, die es ja auch in der Phase des Hypes der LINKEN gab, keine wirkliche Erklärung für ihre Krise ist, so gibt es doch einen rationalen Grund, warum in der Linkspartei immer wider die „Kommunismusfrage“ als „Skandalfrage“ auftaucht. Bei allen Differenzen teilen nämlich linker wie rechter Flügel, „Regierungssozialisten“ wie linke ReformistInnen und insbesondere der stalinistische Traditionsbestand in der Partei die Einschätzung der DDR, Kubas oder der ehemaligen Sowjetunion als „sozialistisch“. Sie ziehen daraus allerdings diametral entgegengesetzte Schlussfolgerungen. Die vorgeblich „Linken“ in der Partei verklären die Staaten des Ostblocks oder Kubas, in denen die stalinistische Bürokratie politisch herrschte und nicht die Arbeiterklasse, als „sozialistischen Versuch“. Sie bestreiten, dass die Arbeiterklasse selbst die Bürokratie hätte stürzen müssen, um den Weg zu einer sozialistischen Entwicklung frei zu machen.

Aber auch der rechte Flügel sieht in diesen degenerierten Arbeiterstaaten im Grunde  sozialistische Gesellschaften, denen es nicht an Arbeiterdemokratie, Räteherrschaft, effizienter demokratische Planung und Internationalismus, sondern an bürgerlich-demokratischem Pluralismus und marktwirtschaftlichen Elementen gemangelt hätte.

Eine solche Geschichtsbetrachtung des Stalinismus und das damit einhergehende Sozialismusverständnis verweist auf jeden Fall darauf, warum die Linkspartei keine längerfristige Perspektive für die Arbeiterklasse zu weisen vermag.

Zweifellos haben diese Faktoren zur Krise Linkspartei beigetragen. Sie erklären ihren elektoralen Niedergang, ihre Mitgliederverluste und ihre geringe Mobilisierungsfähigkeit nicht grundsätzlich. Sie sagen aber sehr viel aus über das politische Verständnis der Partei. Programmatisch hat DIE LINKE, wie wir noch sehen werden, nichts grundsätzlich anderes als die tradierte Sozialdemokratie zu bieten.

Wo sie an der Regierung ist – wie 10 Jahre in Berlin und aktuell in Brandenburg -, versucht sie sich allenfalls in Wahlkampfperioden von der SPD links abzusetzen. Sie gibt dann allenfalls vor, sie hätte in der vorhergehenden Legislaturperiode eine andere als stinknormale bürgerliche Politik auf Kosten der Lohnabhängigen betrieben. In Nordrhein-Westfalen „duldet“ sie die Politik von Rot/Grün – was sich v.a. als eine Geduldsprobe ihrer eigenen Mitglieder und WählerInnen entpuppt.

Wie jede andere reformistische Partei setzt DIE LINKE nicht auf die Mobilisierung der Lohnabhängigen, der Jugend, ihrer Mitglieder und AnhängerInnen, sondern konzentriert sich fast vollständig auf die parlamentarische und mediale Bühne.

Die Partei verlor nicht nur an Wahrnehmbarkeit in der Öffentlichkeit und an Mitgliedern. Sie konnte sich auch als parlamentarische Opposition gegenüber der sozialdemokratischen und grünen Konkurrenz wenig, im Grunde gar nicht profilieren. Im Gegenteil: sie erscheint zunehmend als Anhängsel in der Oppositionsfamilie, als geradezu überflüssig. Und diesen Eindruck verstärkt die Linkspartei durch ihr Handeln. Wer kein anderes Programm, keine anderen Lösungen hat als die anderen Oppositionsparteien, dem fällt natürlich auch im Parlament nichts anderes ein als im Oppositionseinheitsbrei mitzuschwimmen.

Im Folgenden wollen wir die aktuelle Krise der Linkspartei betrachten und ihre Ursachen herausarbeiten. Während in der Linkspartei gern der „Kampf“ um das neue Parteiprogramm, dessen Entwurf ironischerweise fast jede Führungsfigur „mitträgt“, als zentrale Auseinandersetzung vorgestellt wird, gibt es eigentlich keine ernsthafte Bilanz der Arbeit  in Regierung und Opposition, gibt es keine Auseinandersetzung über den Klassencharakter der real existierenden Partei DIE LINKE.

Und erst recht gibt es keine Einschätzung und Bewertung der sozialen Ursachen dieser Politik.

Unserer Meinung nach fehlt gerade das Verständnis der wirklichen Taten an der Regierung und in den Parlamenten, der fehlenden Taten in der Opposition. Doch gerade ihre soziale Verankerung und tiefe Einbindung in das bürgerliche parlamentarische System macht die Politik der Linkspartei aus, während die „Programmdebatte“ nur eine davon abgeleitete Auseinandersetzung darstellt.

Die Bilanz ihrer Regierungsarbeit und parlamentarischen Duldungspolitik

Reformistische oder linke Parteien, die Regierungen führen oder in Koalitionen eintreten, verklären den Charakter ihrer Arbeit gern dadurch, dass sie auf einige große Reformen verweisen, die ihre Regierungsarbeit letztlich rechtfertigen. So wird Willi Brandt regelmäßig mit „Demokratie wagen“ verbunden.

Ein großes „Reformversprechen“, das mit der Partei DIE LINKE in irgendeiner Regierung verbunden wäre, fällt uns beim besten Willen nicht ein. Dafür aber Jahre und Jahrzehnte der Umsetzung von Angriffen auf die Lohnabhängigen.

In Berlin und Brandenburg regiert(e) die Linkspartei in einer Koalition mit der SPD. Die politische Bilanz der Politik der Linkspartei könnte jedoch in beiden Fällen nicht schlechter ausfallen.

In Berlin und Brandenburg wurden unter der SPD/Linken-Regierung alle arbeiterfeindlichen Bundesgesetze und alle staatlichen Ordnungsmaßnahmen wie selbstverständlich umgesetzt: sei es Hartz IV, seien es Abschiebungen von Flüchtlingen, die Zusammenarbeit im Rahmen von Polizeieinsätzen oder die Wahrnehmung der Aufgaben der Überwachungsbehörden der Länder. All das gilt in der Linkspartei als so „selbstverständlich“ und „natürlich“, dass kein Flügel der Partei überhaupt auf die Idee kommt, diese grundlegende Einbindung in die tagtägliche Ausübung der bürgerlichen Staatsgeschäfte – seien sie nur administrativer oder direkt repressiver Art – zu thematisieren oder gar in Frage zu stellen.

Selbst die wenigen, von der Partei als „Reformpolitik“ gefeierten Projekte wie das Berliner Vergabegesetz oder der „öffentliche Beschäftigungssektor“, zeigen, wie feige sich die Partei an die Rahmenbedingungen des Krisen-Co-Managements hält. So wird im Vergabegesetz zwar für Bewerber für öffentliche Aufträge ein Mindestlohn vorgeschrieben – mit 7,50 Euro Stundenlohn aber an der untersten Grenze. Außerdem gilt dies nicht für Subauftragnehmer und schon gar nicht für Altverträge (auch unter „Rot-Rot“ wurden damit weiterhin Lohndumping-Firmen wie die PIN-Post beauftragt). Auch der „öffentliche Beschäftigungssektor“ erwies sich mit seinen 1.300 Euro-Jobs für 40-Stundenjobs, speziell in seinen Kombi-Lohnvarinaten, als Lohndumping-Instrument, das von einer Vielzahl privater Firmen oder „Beschäftigungsgesellschaften“ genutzt wurde.

Problematisiert wird für die LinksparteilerInnen, genauer für die „Linken“ die Regierungsbeteiligung überhaupt erst, wenn „Haltelinien“ für ebendiese überschritten würden. So wäre Regierungsbeteiligung für SozialistInnen ganz in Ordnung, solange diese keinen Sozialabbau betreiben, keine Beschäftigten im Öffentlichen Dienst entlassen, keine ParlamentarierInnen bespitzeln, keine Privatisierungen durchführen.

Diese Liste rein negativer Bestimmungen lässt sich je nach Grad der „Radikalität“ oder des „Realismus“ der jeweiligen KritikerInnen noch verlängern. Entscheidend ist dabei, dass die Übernahme der „normalen“ Geschäfte des bürgerlichen Staates in der LINKEN keineswegs als kritikwürdig, sondern als selbstverständlich gilt.

Das trifft auch auf die Linken in der Linkspartei zu. Diese haben zwar immer wieder Kritik an der Regierungspraxis in Berlin und Brandenburg geübt – grundsätzliche Kritik am bürgerlichen Staat haben sie aber nicht.

Sie fallen damit selbst weit hinter die deutsche Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg zurück, die ihre süddeutschen, rechten Regierungssozialisten noch regelmäßig politisch verurteilte, weil sie sich überhaupt an Regierungsgeschäften beteiligten. In der Linkspartei denkt hingegen niemand daran, solche Kritik zu erheben, ist doch auch der linke Flügel mittlerweile am Mitregieren beteiligt, wenn auch in einer besonders verlogenen und feigen Form, der „Duldung“.

Regiert die Linkspartei in Brandenburg (und davor in Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt), so hat sie sich in Nordrhein-Westfalen auf einen anderen Kurs verständigt, die „Duldung“ einer rot-grünen Landesregierung. Das klingt linker und ist für Grüne und SPD wie für die Linkspartei angenehmer. SPD und Grüne können so weiter fest behaupten, dass sie mit den „Postkommunisten“ keine Regierung bilden würden. Die Linkspartei kann so tun, als hätte sie mit ebendieser Regierung und ihrer Politik nichts zu tun.

Im Grunde ist die „Duldung“, wie sie in Nordrhein-Westfalen betrieben wird, eine Regierungsbeteiligung für politische Feiglinge. Rot/Grün wird gehalten und gestützt – freilich ohne dass die Linkspartei in den Sitzungen der Landesregierung etwas zu sagen hat.

Der praktische Vorteil der ganzen Sache besteht aber für DIE LINKE und deren linken Flügel, der in Nordrhein-Westfalen sogar die Organisation dominiert, darin, dass er sich selbst, den Mitgliedern und AnhängerInnen der Partei vormachen kann, er wäre gewissermaßen in Opposition. Betrug kommt bekanntlich oft von Selbstbetrug – und damit ist die Linkspartei reich gesegnet.

Einher geht diese Politik mit peinlichem Dilettantismus. „Irrtümlich“ stimmte ein Teil der linken Parlamentsfraktion gar für das Budget der Landesregierung, nachdem die Fraktion zuvor beschlossen hatte, sich zu enthalten. Freilich wäre die Linkspartei nicht die Linkspartei, wenn ParlamentarierInnen dies nicht damit entschuldigen würden, dass sie nicht gewusst hätten, worüber gerade abgestimmt wird. Nehmen wir einmal an, dass diese haarsträubende „Erklärung“ stimmt. Daraus lässt sich nur der Schluss ziehen, dass diese Fraktion eine Anhäufung schlafmütziger IdiotInnen und notorischer „DulderInnen“ ist, die es offenkundig für das Natürlichste der Welt halten, einer Regierungsvorlage zuzustimmen, auch wenn sie gar nicht wissen, was diese vorschlägt!

Was diese „linke“ Fraktion von den rechten, überzeugten RegierungssozialistInnen aus Berlin und Brandenburg unterscheiden soll – außer einem größeren Maß an Verlogenheit und Selbsttäuschung – soll verstehen, wer will.

Die Regierungspraxis der LINKEN in Berlin und Brandenburg verdeutlicht natürlich auch, dass Regieren in einer bürgerlichen Regierung immer über die reine Umsetzung von Vorgaben hinausgeht, dass notwendigerweise auch die Lohnabhängigen, Jugendlichen, MigrantInnen, RentnerInnen, Erwerbslosen angegriffen werden müssen, sollen die „Vorgaben“ der herrschenden Klasse nicht offensiv gebrochen werden.

So haben LINKE und SPD im Berliner Senat mehr kommunale Wohnungen privatisiert, als alle anderen Landesregierungen zuvor. So haben SPD und LINKE aufgrund der enormen Verschuldung des Landes den Öffentlichen Dienst von der bundesweiten Tarifentwicklung, die ohnehin schlecht genug ist, abgekoppelt.

So wird in Brandenburg weiter um den Ausbau der Braunkohleverstromung rumgeeiert. Und „natürlich“ wollen die WirtschaftspolitikerInnen der Linken den Standort für das Kapital attraktiv machen, sie locken mit „Wirtschaftsförderung“, also Subventionen für die Profitmacherei, die in Berlin, Brandenburg und anderswo „natürlich“ von den SteuerzahlerInnen, also von den LohnarbeiterInnen bezahlt werden.

In Nordrhein-Westfalen betreibt Rot/Grün im Grundsatz dieselbe Politik, die Linkspartei „gestaltet“ dort allerdings nicht, sondern (er)duldet nur.

Dass DIE LINKE nur in drei Bundesländern mehr oder weniger mitregiert(e), liegt bekanntlich nicht am Willen der Linkspartei, sondern daran, dass entweder der rechte SPD-Flügel (Hessen, Thüringen) oder die Grünen (Saarland) eine Koalition mit der Linkspartei verhindert haben.

Gerade im Saarland wäre eine solche Regierungsbeteiligung entlarvend geworden – auch wenn mache naive Gemüter glauben machen wollten, dass Milch und Honig die Saar stromaufwärts geflossen wären, wenn Oskar das Regierungszepter mitgeschwungen hätte. Sicherlich gibt es in und um die Linkspartei WählerInnen, die trotz der langjährigen Erfahrung mit Lafontaine, einem alles andere als „sozialistischen“ Ministerpräsidenten im Saarland, wirkliche Hoffnungen in eine solche Regierung gesetzt haben. Gerade diese wären umso sicherer durch die Praxis zerstreut worden, hätte die Linkspartei an der Regierung vorgeführt, was v.a. in Berlin geschah.

Für KommunistInnen ist die Regierungsbeteiligung der Linkspartei daher kein Grund zur Klage darüber, dass die Partei „plötzlich“ nach rechts ginge und ihre AnhängerInnen enttäusche. Im Gegenteil, an der Regierung zeigt DIE LINKE viel deutlicher ihr wahres, reformistisches, d.h. letztlich bürgerliches Gesicht. Es ist im Grund sehr viel einfacher, die proletarischen AnhängerInnen einer solchen Partei davon zu überzeugen, dass diese nicht einmal ihre Reformversprechen umsetzt, ja oft nicht einmal umzusetzen versucht, wenn sie an der Regierung ist, also scheinbar über die Macht verfügt, deren Fehlen sie in der Opposition so gern beklagt.

Bevor wir jedoch zur „Oppositionspraxis“ der Linkspartei kommen, wollen wir uns noch kurz einer anderen Form der Übernahme staatlicher Funktionen, von administrativer Verantwortung zuwenden, die bei den Diskussionen um DIE LINKE nur allzu oft unter den Tisch fallen.

Gemeinhin wird nämlich so getan, als wäre die Partei „nur“ in 2-3 Bundesländern in die bürgerliche Exekutivgewalt integriert. Übersehen wird dabei die Einbindung der Partei in die unteren Ebenen des bürgerlichen Staates, die kommunale Verwaltung. Auf ihrer Website macht  DIE LINKE dazu folgende Angaben:

„294 Frauen (84) und Männer (210) sind derzeit mit einem Wahlvorschlag bzw. mit Unterstützung der LINKEN in führende Verwaltungsfunktionen von Landkreisen, Städten, Gemeinden, Ämtern oder Verwaltungsgemeinschaften gewählt worden.

Davon sind 80 hauptamtlich und 214 ehrenamtlich (4 hauptamtliche Landrätinnen/Land-räte, 6 hauptamtliche Oberbürgermeisterinnen/Oberbürgermeister, 49 hauptamtliche Bürgermeisterinnen/Bürgermeister, 21 hauptamtliche Beigeordnete u.a. kommunale Wahlbeamtinnen/Wahlbeamte, 79 ehrenamtliche Bürgermeisterinnen/Bürgermeister, 135 ehrenamtliche Beigeordnete, Ortsteilbürgermeisterinnen/Ortsteilbürgermeister, Ortsvorsteherinnen/Ortsvorsteher u.a.). Außerdem stellen die LINKEN oder linke Listen mehr als 5.700 ehrenamtliche Mandate in kommunalen Vertretungen – zum Beispiel in Ortsteil-Beiräten, Gemeinde- bzw. Stadtvertretungen, Kreistagen oder Regionalversammlun-gen (in dieser Übersicht nicht enthalten). (Stand: 13. Juli 2011)“ (2)

Was treibt DIE LINKE in den „führenden Verwaltungsfunktionen“? Die Frage zu stellen, heißt, sie zu beantworten. Sie übernehmen dort Verantwortung für den Lauf der kommunalen Geschäfte. Wie die KommunalpolitikerInnen aller Parteien fordern sie eine andere, „gerechtere“ Verteilung der Steuereinnahmen zugunsten der Kommunen. Ansonsten verwalten sie die mehr oder weniger große Knappheit. Gemäß diesen „Sachzwängen“ werden auch von den BürgermeisterInnen u.a. „führenden“ FunktionsträgerInnen kommunale Einrichtungen geschlossen, Personal entlassen oder kommunales Eigentum privatisiert.

Jede/r BürgermeisterIn, ja auch hunderte Abgeordnete können davon ein Lied singen. Sie können die „Nöte“ der Regierungsmitglieder und Abgeordneten in Berlin und Potsdam gut verstehen – handeln sie doch im kommunalen Rahmen nicht anders, nur weiter weg vom Rampenlicht der Öffentlichkeit. Aus eigener Erfahrung kennen sie die „Bürde“, Beschäftigte zu entlassen und durch Ein-Euro-Jobber zu ersetzen. Aus eigener Erfahrung „wissen“ sie, dass das mit der „Totalverweigerung“ nicht „so einfach“ ist, dass „man sich nicht (immer!) verweigern könne“.

Hinzu kommt, dass auf kommunaler Ebene die politischen und ideologischen Differenzen noch mehr zu verschwinden scheinen als auf Länder- oder Bundesebene. Rasch finden sich hier PolitikerInnen aller Parteien, echte „PraktikerInnen“, die „für die Menschen da sein“ wollen. Für den Erhalt oder die Rettung der KITA mittels (Teil)privatisierung, für die verkehrsberuhigte Zone lässt sich leicht der „parteiübergreifende“ Konsens finden, verfährt auch ein großer Teil der LinksparteilerInnen nach dem Motto, dass „kommunale Interessen“ über „Parteiinteressen“ zu stehen hätten.

Auf dem Boden der scheinbaren, weil durch und durch bornierten Unschuld des kommunalen Lebens, das sich den großen, insbesondere allen internationalen Themen gern so fern wähnt, gedeiht die Klassenzusammenarbeit, schlägt tiefe Wurzeln nicht nur in der Praxis, sondern auch in der politischen Mentalität. Hier gibt es keine „Haltelinien„ mehr. In der Idylle des lokalen Mikrokosmos erwachsen vielmehr die ganz großen Koalitionen – dort, wo der bürgerliche Staatsapparat durch tausend Fäden, Mandate, Haupt- und Ehrenämter, Ausschüsse und Beiräte mit der Gesellschaft und mit den Parteien verwoben ist.

Die 294 MandatarInnen der Linkspartei, die „führende Verwaltungsfunktionen„ bekleiden, bilden samt der Mehrzahl der 5.700 anderen MandatarInnen – also ca. 8% der Gesamtmitgliedschaft – den Bodensatz ihres staatstragenden Reformismus.

Sie bilden – wie die Funktionäre in den sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften und Betriebräten, die Parlamentsabgeordneten und deren Apparat – eine feste Basis für die Parteibürokratie. Die kommunalen Abgeordneten stellen einen immer größeren Teil der aktiven Parteimitglieder.

Das Ausblenden der kommunalen Ebene und der politischen Praxis eines großen Teils der aktiven Mitglieder der Linkspartei verstellt den Blick auf ihren wirklichen Charakter wie auch auf die Chancen ihrer „Linksentwicklung“. Mögen sich so manche „SozialistInnen“ und „Anti-KapitalistInnen“ in der Linkspartei über diese reale Lage hinwegtäuschen – für eine objektive Darstellung der Linkspartei ist das unmöglich.

Nicht nur die Abgeordneten, Regierungsmitglieder und ihre Apparate sind mit „Mit“regieren oder Dulden beschäftigt. Ein Großteil der aktiven Funktionäre und Mitglieder verbringt seine Zeit v.a. mit der Verwaltung des bürgerlichen Systems auf kommunaler Ebene – natürlich zum „Besten der Menschen“.

Das ist auch Teil der Erklärung, warum es mit der „Oppositionspolitik“ der Linkspartei so dürftig aussieht. Es ist eben eine grobe Täuschung, dass die Masse der AktivistInnen in der LINKEN mit einer grundsätzlich anderen Aktivität befasst sei als die „Regierungssozialisten“. Sie tut das nur mit reinerer, unschuldigerer, oft genug von keiner Kenntnis des Klassencharakters des bürgerlichen Staates getrübten politischen Naivität. Besser wird die Sache dadurch allerdings nicht.

Und in der Opposition?

All das hindert DIE LINKE jedoch nicht zu proklamieren, sie wäre eine andere Partei als SPD und Grüne, sie wäre gar eine Partei der „sozialen Bewegungen“, die den außerparlamentarischen Kampf befördern wolle. Nun stellt niemand in Abrede, dass es viele AktivistInnen der Linkspartei gibt, die in Abwehrkämpfen mitwirken, dass unter den Mitgliedern der Linkspartei der Anteil jener, die an Anti-Krisenbündnissen teilnehmen, ja an manchen Orten diese Bündnisse auch mittrugen, ungleich größer ist als der jeder anderen Partei.

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Politik der Linkspartei in den Mobilisierungen gegen die Krise einen durch und durch reformistischen Charakter hatte. Wie wir im Abschnitt zum neuen Programmentwurf sehen werden – und dieser proklamiert Thesen, die eher links von der realen Praxis der Partei stehen – vertritt die Linkspartei ein bürgerliches, keynesianisches Antikrisenprogramm. Durch steuerfinanzierte Staatsinterventionen und Lohnsteigerungen sollen die Binnennachfrage gesteigert, Arbeit geschaffen und die Umwelt gerettet werden und nebenbei die „produktiven“ Unternehmen, die zur „Wertschöpfung“ beitragen, auch ihren Schnitt machen. Daher gipfeln die Vorschläge der Partei und ihrer „oppositionellen“ Parlamentsfraktion auch regelmäßig darin, dass eine andere, vernünftige bürgerliche Politik von der Regierung gefordert wird.

Dummerweise schwenkten auch SPD und Grüne auf einen, wenn auch verhalteneren Keynesianismus um. Auch sie machten Vorschläge zur „Regulierung der Finanzmärkte“ oder zum „Green New Deal“. Als selbst die Regierung (v.a. die Große Koalition) mit demagogischem Gerede gegen das Finanzkapital herauskam und außerdem sozialpartnerschaftliche Maßnahmen zur Krisenabfederung (ins. die Ausdehnung des Kurzarbeitergeldes) vereinbarte, hatte DIE LINKE nichts Eigenständiges zu bieten. Der Parteivorsitzende Klaus Ernst und andere stellten die Sache zwar so hin, dass die anderen Parteien und gar die Regierung dazu gezwungen worden seien, Teile des Programms der Linkspartei zu übernehmen. Die anderen Parteien, so beklagten sie, würden aber den eigentlichen Urheber und Erfinder dieser oder jener Regierungsmaßnahme nicht öffentlich anerkennen. Dabei vergessen die Helden der Linkspartei freilich zu erwähnen, dass ihr Programm und ihre Vorschläge zur Krisenbekämpfung selbst nur auf dem Mist des Keynesianismus gewachsen sind.

Nicht minder wichtig war, dass die Linkspartei in den Bündnissen gegen die Krise alles daran setzte, Forderungen, die die Gewerkschaftsführungen unter Druck setzen würden, zu blockieren.

Diese Politik war überhaupt kennzeichnend für diese „Oppositionspartei“. Sie kritisiert zwar die Gier des Finanzkapitals, die asoziale Politik der Bundesregierung, ja auch die Verlogenheit und Inkonsequenz von SPD und Grünen, die so taten, als hätten sie mit dem größten Umverteilungsprogramm des letzten Jahrzehnts, der Agenda 2010, nichts zu tun gehabt.

Wenn es jedoch um die Politik der sozialdemokratisch geführten Gewerkschaftsbürokratie ging, blieb und bleibt die Linkspartei stumm. Auf ihren bevorzugten Bündnispartner – die Gewerkschaftsbürokratie – lässt DIE LINKE nichts kommen. Der Grund dafür ist einfach. Erstens ist die Partei DIE LINKE selbst mit der Arbeiterbürokratie verbunden, konstituieren die Abgeordneten, Funktionäre, der Apparat selbst einen Teil dieser reformistischen Bürokratie. Zweitens sind nicht wenige sozialdemokratische Gewerkschafts- und Betriebsratsfunktionäre zur Linkspartei gewechselt oder unterstützen sie.

Diese will die Partei um keinen Preis verprellen, ihnen soll Kritik nicht zugemutet werden. Und die Gefahr, von links kritisiert zu werden, ist auch gering. Das liegt nicht nur daran, dass die Führung der Linkspartei ihre Unzufriedenheit mit der Passivität der Gewerkschaftsbürokratie, ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit und nationalistischen Standortsicherung nicht offen angreifen will. Die Führung der Linkspartei teilt vielmehr im Großen und Ganzen die Politik der Gewerkschaftsführungen und hält sie für alternativlos.

Das ist auch nur folgerichtig für eine Partei, deren FunktionärInnen sich auf kommunaler und Länderebene den Vorgaben des Kapitals beugen. Nur Träumer können erwarten, dass diese auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene plötzlich keine Notwendigkeit zur Klassenkollaboration sehen würden.

Wo es doch Vorbehalte gegen die Politik der Gewerkschaftsführungen gibt, behelfen sich die linken LinksparteilerInnen dann damit, dass auch „die Basis“ nichts anderes wolle, so dass den armen Bürokraten eben nicht viel mehr übrig bliebe, als „das Beste“ im Rahmen der Sozialpartnerschaft herauszuholen.

Nun sind wir weit davon entfernt, die Kampfbereitschaft der ArbeiterInnen in ihrer Gesamtheit in einem übertriebenen Licht darzustellen. Natürlich gab und gibt es auch unter den Lohnabhängigen viele, die durch die Krise in Passivität getrieben wurden, die Angst haben, keine Perspektive sehen oder darauf hoffen, durch etwas Verzicht das Schlimmste verhindern zu können.

Doch erstens wäre die Aufgabe einer sozialistischen Partei, diesen Stimmungen offensiv entgegenzutreten und ein Anti-Krisenprogramm der Arbeiterklasse, das die Kosten der Krise dem Kapital aufbürdet und nicht so tut, als könnten diese „gleichmäßig“ und „gerecht“ verteilt werden, zu konzipieren. Zweitens hätte eine solche Partei eine Kampfperspektive – einschließlich des politischen Massenstreiks bis hin zum Generalstreik, der Schaffung von Aktionskomitees, ihrer Koordinierung usw. – aufzeigen müssen.

Die Linkspartei hat nicht nur all das nicht getan. Sie hat in ihrer Gesamtheit „natürlich“ auch jene Kräfte in den Gewerkschaften, Betrieben, sozialen Bewegungen, die eine solche Richtung befürworteten, eben nicht gegen die Bürokratie unterstützt. Und „natürlich“ hat sie in den Ländern, wo sie mitregiert, auch die Abwälzung der Krisenlasten auf die Massen exekutiert – womit der „Anti-Krisenkurs“ der Linkspartei immer schon äußerst fragwürdig und kompromittiert war. So hätte natürlich auch jeder Gewerkschaftsbürokrat kritische Einwände seitens der Linkspartei leicht damit kontern können, dass die ach so linke Partei selbst die durchaus moderaten Berliner GewerkschafterInnen im Öffentlichen Dienst von rechts angreift.

Nicht minder zweifelhaft, ja in gewisser Weise noch erbärmlicher ist die Politik der Linkspartei in anderen sozialen Bewegungen. In den letzten Jahren mobilisierten die Proteste und Aktionen gegen die Atompolitik der Bundesregierung sowie gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 Hunderttausende. Es waren zwei Massenbewegungen, die sich gegen CDU/FDP-Regierungen und gegen wichtige Fraktionen des deutschen Großkapitals richteten.

Wo blieb dabei die Linkspartei? Konnte sie den Bewegungen ihren Stempel aufdrücken, hat sie eine „linke Perspektive“ im Unterschied zu den Grünen und zur SPD aufgezeigt?

Die Linkspartei unterstützte zwar diese Bewegungen. Politisch blieb sie aber vollständig im Schlepptau der GRÜNEN. Eine eigenständige, unabhängige Politik hatte sie nicht zu bieten.

Im Gegensatz zur SPD war die Linkspartei zwar von Beginn an gegen S 21. Ihre Aktivitäten erstrecken sich auf die „GewerkschafterInnen gegen S 21“ und die „Jugendoffensive“, in der hauptsächlich die SAV für die Linkspartei agierte.

Die Linkspartei war im Stuttgarter K 21-Bündnis vertreten, war aber an den Schlichtungs-Verhandlungen nicht beteiligt. Zu keinem Zeitpunkt haben die VertreterInnen der Linkspartei öffentlich den rechten Kurs der K-21-Führung um Stocker (SÖS) kritisiert, mit dem sie in einer gemeinsamen Stadtratsfraktion sitzen und mit dem sie eine gemeinsame Zeitung – natürlich z.Zt. mit Schwerpunkt S 21 – veröffentlichten.

Genauso wenig kritisierte die Linkspartei den Kurs der IG Metall-Führung in Baden-Württemberg, welche die Gewerkschaft aus jedem Konflikt heraushielt, wenn auch LINKEN-Landesvorsitzender Riexinger als ver.di-Chef von Stuttgart innerhalb der Gremien eine andere Position bezog als die IG Metall. Der Spitzenkandidat zur Landtagswahl, Hamm, war aber IG Metall-Bevollmächtigter in Aalen. Einerseits unterstützte er die „Gewerkschafter gegen S 21“, andererseits beugte er sich dem Diktat des Metall-Bezirksleiters Hoffmann, der selbst offen als Unterstützer für S 21 auftrat, die IG Metall aus dem Konflikt rauszuhalten.

In dieser Lage der doppelten Anpassung – einmal an die Mehrheitsströmung in der Gewerkschaftsbürokratie, also die SPD, zum zweiten an SÖS und damit an die Grünen – konnte die Linkspartei auch nicht mit eigenständigen Positionen wahrnehmbar sein, selbst wenn sie es gewollt hätte.

Die Rolle der Linkspartei in Regierung und Opposition ist also direkt anti-proletarisch, lahm und alles andere als sozialistisch. Sie entspricht auch der strategischen Ausrichtung der Partei auf die Durchsetzung einer „anderen Politik“. Diese Formel ist nichts anderes als die politische Vorbereitung einer Koalition mit SPD und Grünen oder die Duldung einer solchen Koalition als scheinbar „radikalerer“ Zwischenschritt.

Auch wenn die Linken in der Linkspartei so tun, als wäre die Frage nach der Regierungsbeteiligung eine „offene Frage“ für DIE LINKE, als wäre die Frage nach ihrem Klassencharakter offen – so trifft das in Wirklichkeit nicht zu, wie wir schon in früheren Analysen zur PDS und zur Entstehung der Linkspartei gezeigt haben.

Dass DIE LINKE Sozialabbau, wenn auch „sozial ausgewogen“, notwendige, wenn auch „schmerzliche“ Einschnitte usw. mittragen wird, daran sollte niemand zweifeln.

Doch was, so würden AnhängerInnen der Linkspartei einwenden, ist mit der „Friedenspolitik“? Diese rechnet sich die Partei als letztes, unbeflecktes Vorzeigeprojekt ihrer „Opposition“  an. Wie wir bei der Betrachtung des Programmentwurfs sehen werden, sind ihre Vorschläge zur UNO, zur NATO und zur EU usw. aber keineswegs besonders „oppositionell“.

Zu den Revolutionen im Nahen Ostern und in Nordafrika hatte die Linkspartei außer demokratischen Gemeinplätzen nichts zu sagen. Von Solidarität mit Revolutionen, mit Massenbewegungen, die nicht nur den Nahen Osten, sondern die ganze Weltlage auf revolutionäre Weise erschüttern, will DIE LINKE nichts wissen. Daher hat die Partei auch keinerlei Initiative ergriffen, eine Solidaritätsbewegung aufzubauen. Auch zu den Mobilisierungen gegen den Afghanistankrieg u.a. Interventionen hat sie herzlich wenig beigetragen.

Wichtig ist jedoch, dass DIE LINKE die einzige Partei ist, die den Abzug aus Afghanistan und das Ende der Auslandeseinsätze der Bundeswehr fordert. Auch wenn etliche Parteiführer immer erklärten, dass der Abzug nicht als „sofortiger“, sondern als „schrittweiser“ verstanden werden solle, so ist klar, dass die Haltung der LINKEN zu militärischen Interventionen im Ausland, die Ablehnung der Transformation der Bundeswehr zu einer professionelleren Interventionsarmee usw. der wohl letzte mögliche große Stolperstein für eine Koalition auf Bundesebene ist.

Es ist daher kein Zufall, dass die Parlamentsfraktion – angefangen mit Gregor Gysi – diese Frage angehen muss. An der Bereitschaft, sich der deutschen, imperialistischen Außenpolitik letztlich unterzuordnen, ließen der recht Flügel der Partei, aber auch ein großer Teil der keynesianischen Mitte nie Zweifel.

So exponierte sich der Berliner PDS-Vorsitzende Klaus Lederer und Petra Pau, bis heute in der Parteispitze, schon früh für die zionistische Politik Israels. Lederer schaffte es dabei, Grüne und SPD rechts zu überholen und jede noch so kleine Kritik an Israel und seiner Repressionspolitik anzugreifen. Petra Pau hat regelmäßig pro-zionistische und anti-deutsche Demos angemeldet.

In einer Rede zum „Anti-Imperialismus“ – genauer zur Kritik am Anti-Imperialismus – hatte Gysi die Unterstützung Israels und dessen Existenzrecht nicht nur als ein Element der Staatsräson der Bundesrepublik erklärt, sondern zu einer Staatsräson, die DIE LINKE ohne Wenn und Aber zu verteidigen hätte.

Diese Offensive gegen linke und internationalistische Kräfte in der Partei hat die Parlamentsfraktion in diesem Jahr fortgesetzt. Sie fand ihren vorläufigen Höhepunkt im Beschluss der Parlamentsfraktion, jede ernsthafte Solidaritätsaktion mit den PalästinenserInnen zu unterlassen.

Der Klassencharakter der Linkspartei

Schon in früheren Beiträgen im „Revolutionären Marxismus“ (3) und in der „Neuen Internationale“ haben wir den Charakter der Linkspartei als bürgerlicher Arbeiterpartei (4) nachgewiesen. Unter einer bürgerlichen Arbeiterpartei verstehen wir im Anschluss an Lenin und Trotzki eine Partei, die das bürgerliche System verteidigt und sich in ihrem Handeln voll und ganz im Rahmen des bürgerlichen parlamentarischen Systems bewegt – selbst wenn sie das „hohe Ziel“ des „demokratischen Sozialismus“ proklamiert. Der Klassencharakter einer solchen, reformistischen Partei ist grundsätzlich bürgerlich, weil es eben diese kapitalistische, bürgerliche Ordnung ist, auf deren Boden sie sich bewegt und die sie letztlich auch verteidigt – sei es in ihrer Anerkennung des bürgerlichen Staats und Gewaltmonopols, in ihrer Zielsetzung einer „gemischten“ Wirtschaft oder in ihrer tägliche Praxis, wo sie selbst die Geschäfte der herrschenden Klasse in Regierungen und Verwaltung übernimmt.

DIE LINKE unterscheidet sich jedoch – ähnlich der SPD – von anderen bürgerlichen Parteien wie FDP, CDU/CSU oder auch den Grünen, weil sie sich historisch und sozial auf die Arbeiterklasse, genauer auf die Bewegung diese Klasse, auf Gewerkschaften usw. stützt. Daher charakterisieren wie sie als eine bürgerliche Arbeiterpartei. Sie organisiert und repräsentiert bei Wahlen einen überdurchschnittlich großen Teil von Lohnabhängigen – im Fall der LINKEN v.a. lohnabhängige RentnerInnen und Arbeitslose. Durch Reformversprechen und eine soziale wie historische Bindung, der zufolge sie ihren AnhängerInnen als eine Interessenvertretung der Lohnabhängigen oder der „Armen“ oder wenigstens als „kleineres Übel“ erscheint, erweist sich eine solche bürgerliche Arbeiterpartei als eine wichtige Stütze der bürgerlichen Demokratie für die Herrschenden, weil sie – über Wahlen, Mitgliedschaften, v.a. aber die Kontrolle der Gewerkschaften und Betriebsräte – eine Integration der LohnarbeiterInnen in das System schafft, wie es „normale“ offen bürgerliche Parteien, die keine organische Basis in der Arbeiterbewegung haben, nicht gewährleisten können.

Für KommunistInnen ist es daher eine Schlüsselfrage, wie diese organisierten ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen, proletarischen WählerInnen – also wichtige Teile der Arbeiterklasse – von den ReformistInnen gebrochen werden können. Dazu ist erstens ein klares Verständnis dieser Parteien nötig, deren systematische Kritik und Entlarvung, aber auch die Anwendung der Einheitsfronttaktik auf allen Ebenen gegenüber diesen Organisationen.

Zum Verständnis einer solchen, reformistischen bürgerlichen Arbeiterpartei gehört aber auch ein klarer Blick darauf, auf welche Schichten der Klasse sich diese Partei v.a. stützt und welche soziale Schicht sie im Inneren beherrscht.

Die eigentlich soziale Basis der bürgerlichen Arbeiterparteien bildet die Arbeiteraristokratie. Das lässt sich auch mit Blick auf die Linkspartei – wenn auch weniger eindeutig als bei der SPD – zeigen.

Betrachtet man die Mitgliedschaft der Linkspartei, so könnte wohl am ehesten von einer Rentnerpartei gesprochen werden. Zur Zeit der Parteigründung lässt sich sagen:

„Der Anteil der unter 30jährigen liegt bei 4 Prozent, der Anteil der Mitglieder zwischen 31 und 60 Jahren liegt bei 28 Prozent und der Anteil der über 60jährigen bei 68 Prozent.“ (5)

Freilich gehören auch RentnerInnen bestimmten sozialen Klassen an und gerade im Osten handelt es sich dabei v.a. um ehemalige Lohnabhängige, darunter viele einstige Staatsbedienstete.

Mit der WASG hat sich der Charakter der LINKEN als bürgerliche Arbeiterpartei wohl eher noch verstärkt:

„Die WASG verstand sich – im Unterschied zur PDS – hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft auch eher als eine Partei der Arbeiter, vor allem Gewerkschafter und Betriebsräte und der mittleren Angestellten im öffentlichen Dienst. Die Sozialstruktur der Quellpartei PDS hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert: 77 Prozent der Mitglieder waren Rentner, Vorruheständler oder Arbeitslose. Schüler, Studenten und Auszubildende stellten drei Prozent, Arbeiter acht Prozent und Angestellte 18 Prozent.“ (6)

Auch hinsichtlich der Wählerschaft stellt sie fest:

„DIE LINKE hat es geschafft, sich als Partei der Arbeiterschaft, der Gewerkschaften und Arbeitslosen und der subproletarischen Schichten aufzustellen und dabei zugleich ihren Rückhalt in Teilen sozial orientierter Mittelschichten auszubauen.“ (7)

Auch die Wahlen der letzten Jahre belegen, dass DIE LINKE v.a. im Westen aber auch im Osten (trotz ihrer Politik) ihren Anteil unter WählerInnen bei den ArbeiterInnen und Angestellten ausbauen konnte, v.a. aber von Arbeitslosen überdurchschnittlich stark gewählt wird.

Als bürgerliche Arbeiterpartei stützt sie sich jedoch nicht nur auf eine proletarische Wählerschaft und, in geringerem Maße, Mitglieder, sondern hat auch eine gewisse Verankerung in den Massenorganisationen der Klasse. So ist die Verankerung der LINKEN gegenüber der PDS in den Gewerkschaften (darunter auch im Apparat und unter den Betriebsräten) auf Kosten der SPD gestiegen. Ebenso hat sie v.a. im Osten nach wie vor eine Reihe von Massenorganisationen (Volkssolidarität, Arbeitslosen-verbände), die der Linkspartei angelagert sind.

Die Rolle der Bürokratie

Auf Basis ihrer sozialen Stütze in der Arbeiterklasse und v.a. in der Aristokratie beherrscht freilich nicht einfach eine „Arbeiterschaft“ oder eine „Aristokratenschicht“ die bürgerliche Arbeiterpartei, sondern – ähnlich den Gewerkschaften in der imperialistischen Epoche – eine bürokratische Kaste. Die Arbeiterbürokratie ist nicht nur nicht identisch mit der Aristokratie, sondern auch nicht Teil der Arbeiterklasse, sondern ein besonderer Teil der lohnabhängigen Mittelschichten, wie wir im RM 42 nachgewiesen haben (8).

Als eine besondere Form lohnabhängiger Mittelschichten sind ihre Pfründe und Privilegien letztlich von der Stärke von Gewerkschaften und bürgerlichen Arbeiterparteien abhängig, entweder direkt in Form von Beiträgen oder über die Parteienförderung, die im Verhältnis zu den Wahlresultaten, also dem Zuspruch durch die Lohnabhängigen steht. Daraus wird der hauptamtliche Apparat bezahlt, der bis in die unteren Chargen auch hunderte Mitglieder in der Linkspartei ausmacht.

Zur Bürokratie gehören auch hauptamtliche Abgeordnete, MitarbeiterInnen in den Stiftungen (die es in den meisten Ländern gibt), hauptamtliche Funktionäre in den Kommunen und Landkreisen samt deren „Mitarbeiterstab“, der tw. vom bürgerlichen Staat finanziert wird.

So wie die hauptberuflichen ParlamentarierInnen bilden auch die Arbeiterbürokraten in den Gewerkschaften und Betriebsräten (o.a. proletarischen Massenorganisationen), die sich zur Linkspartei bekennen, eine Stütze und Teil der Bürokratie, welche DIE LINKE dominiert.

Diese Schicht umfasst hunderte hauptamtliche Funktionäre samt hauptamtlichem Stab. Sie konstituiert die Parteibürokratie, welche DIE LINKE beherrscht und gegen jede Reformierung zu einer revolutionären Partei immunisiert. Dies ist auch der Grund, warum die reformistische, staatstragende Linkspartei nicht revolutioniert werden kann, sondern als bürgerliche Stütze des bestehenden Systems in der Arbeiterbewegung bekämpft werden muss.

 

Tabelle: Abgeordnete in den Parlamenten (Stand: 23. Mai 2011) (9)

                                                      Gesamt       Frauen     Anteil Frauen (%)

Europäisches Parlament                      8               4             50

Bundestag                                         76             41             54

Abgeordnetenhaus Berlin                    22             12             55

Landtag Brandenburg                          25             12            48

Bürgerschaft Bremen                            5              2             40

Bürgerschaft Hamburg                          8              5             63

Landtag Hessen                                   6              3             50

Landtag Mecklenburg-Vorpommern      13              6             46

Landtag Niedersachsen                       10              5            50

Landtag NRW                                     11              6            55

Landtag Saarland                                11              5            45

Landtag Sachsen                                 29            15            52

Landtag Sachsen-Anhalt                       29            13            45

Landtag Schleswig-Holstein                    6              3            50

Landtag Thüringen                                26            15            58

 

Programm und Programmdebatte – Tapezieren im Reformhaus

Nachdem die Fusion von PDS und WASG nur auf Basis „programmatischer Eckpunkte“ stattfand, legte der Vorstand der Linkspartei den Entwurf eines neuen Parteiprogramms vor, der auf dem Rostocker Parteitag im Mai 2010 beschlossen werden sollte. Dieser Termin konnte nicht gehalten werden, der Entwurf wurde daher von einer Programmkommission noch einmal überarbeitet (auch wenn das an seiner Substanz nicht viel änderte). Er liegt nun vor (10) und soll am Erfurter Parteitag 2011 „endgültig“ beschlossen werden.

Diese Verzögerung war kein Zufall, sondern ist verbreitete Praxis bei der Formierung reformistischer oder zentristischer Organisationen. Strategie, Taktik und die politische Methode der Partei bleiben im Ungefähren. So entziehen sie sich einer Überprüfung anhand der Praxis. Kurswechsel und Manöver der Führung bzw. des Apparats sind möglich, ohne mit dem Programm zu kollidieren oder Debatten zu provozieren. Die Verortung der eigenen Politik innerhalb eines historischen Zusammenhangs und innerhalb der Traditionen und Erfahrungen der Arbeiterbewegung wird „umgangen“. Dass DIE LINKE nun ein „richtiges„ Programm erhalten soll, ist zu begrüßen – soweit damit eine wirkliche Diskussion verbunden ist.

Die Programm-Debatte muss vor dem Hintergrund der tiefen Wirtschaftskrise und der daraus folgenden forcierten Angriffe auf die Massen gesehen werden. Wir wollen deshalb in diesem Abschnitt v.a. fragen, wie das Programm die Krise einschätzt, welche Vorschläge es zum Vorantreiben von Widerstand macht und welche historische Perspektive es weist.

Historische Standortbestimmung

Der Programmentwurf versucht (v.a. in den ersten beiden Abschnitten), eine historische Einordnung der LINKEN vorzunehmen. Als allgemeines Ziel wird formuliert:

„Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird.“ (11)

Dieser Anklang an Marx ist allerdings auch schon alles, was mit dessen Vorstellung von Sozialismus/Kommunismus und dem Weg dahin zu tun hat. Anstatt einer Revolution als Vorbedingung zur Entwicklung gen Kommunismus sieht der Programmentwurf einen „längere(n) emanzipatorische(n) Prozess (vor), in dem die Vorherrschaft des Kapitals durch demokratische, soziale und ökologische Kräfte überwunden wird und die Gesellschaft des demokratischen Sozialismus entsteht.“ (12)

Von der Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und dessen Ersetzung durch die Räte-Herrschaft der Arbeiterklasse ist dabei ebenso wenig die Rede wie von der Enteignung der Bourgeoisie als Klasse und der Einführung einer demokratischen Planwirtschaft.

Methodisch nimmt der Programmentwurf eine etwas andere Akzentuierung als in den früheren Programmen der PDS vor. Waren diese reine Minimal-Maximal-Programme, bei denen Tagesfragen mit der Frage des Sozialismus völlig unverbunden waren, so versucht der jetzige Entwurf auf seine Art, einen Zusammenhang herzustellen – durch ein Konzept permanenter Reformen.

Dieses Modell permanenter Reformen, die schließlich zu einer neuen Gesellschaftsqualität führen sollen, blendet aber nicht nur zentrale theoretisch-methodische Fragen aus, es abstrahiert auch vollkommen von historischen Erfahrungen. Das beginnt damit, dass die simple Tatsache, dass es noch nie gelungen ist, durch Reformen den Kapitalismus zu überwinden, ignoriert wird. Es geht damit weiter, dass eine Reihe von Möglichkeiten im 20. Jahrhundert, den Kapitalismus zu stürzen, nicht erwähnt oder falsch interpretiert werden.

„Nach dem Krieg wurden unter dem Einfluss der Siegermächte in Westeuropa bürgerliche Demokratien mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung und in Mittel- und Osteuropa Staaten mit sozialistischem Anspruch aufgebaut. (…)In Westdeutschland blieben, wie in anderen Ländern Westeuropas, sozialistische Neuordnungsbestrebungen nach dem Krieg erfolglos.“ (13)

Warum wurden z.B. in Frankreich und Italien 1944/45 – nachdem die deutschen Faschisten vertrieben, die einheimischen Staatsapparate stark geschwächt, die Arbeiterklasse tw. bewaffnet war und es Elemente von Doppelmacht gab – also revolutionäre oder mindestens vor-revolutionäre Situationen gegeben waren – bürgerliche Demokratien aufgebaut, statt den Kapitalismus zu stürzen? Darauf gibt das Programm keine Antwort. Dabei wäre sie sehr einfach. Die moskautreuen KPen hatten eine rein bürgerlich-demokratische Orientierung. Von „sozialistischen Neuordnungsbestrebungen“ war keine Rede – es sei denn bei der IV. Internationale. Doch dieses Thema ist in der LINKEN seit je ein Tabu.

Auch die kampflose (!) Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung gegen den Faschismus wird verklärt:

„Der Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten, von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, religiös engagierten Menschen und anderen gegen die nun einsetzende nationalsozialistische Barbarei war letztlich erfolglos.“ (14)

Warum war er erfolglos? Lag es nur (wie später im Text suggeriert wird) an der Spaltung der Arbeiterbewegung? Die Autoren des Programmentwurfs scheuen sich auch hier, die falsche Politik von SPD und KPD als Hauptursachen des Desasters zu benennen.

Diese Geschichtsklitterung wird noch durch offensichtliche Lügen wie die folgende ergänzt: „Die Kommunistische Partei war in der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland schwach …“. (15)

Tatsächlich war die KPD schon Ende 1945 wieder eine Massenpartei (1945 hatte sie 75.000 Mitglieder in den Westzonen, 1948 schon rund 300.000). In einigen wichtigen Industriezentren vertrat sie sogar die Mehrheit des Proletariats. Ihre schnelle Erosion ist zwar auch der Repression und dem Anti-Kommunismus geschuldet, mindestens genauso aber der stalinistischen Politik, die sie vertrat. Sie orientierte nicht auf eine sozialistische Umwälzung und die Machtergreifung des Proletariats, sondern auf die Errichtung eines demokratischen, antifaschistischen, gleichwohl aber kapitalistischen Deutschlands, das als Pufferstaat zwischen dem Westen und der UdSSR fungieren sollte. Das bedeutete, dass sich die KPD in der unmittelbaren Nachkriegsphase gegen eine soziale Umwälzung stellte (tw. expliziter als die SPD) und auch die Politik der Besatzungsmächte, die sich ihrerseits gegen jede selbstständige Regung des Proletariats richtete, verteidigte.

Angesichts dessen erweist sich die selbstbewusste Behauptung des LINKEN-Programms, „der unwiderrufliche Bruch mit dem Stalinismus als System“ (16) gehöre zum Gründungskonsens der SED-PDS wie ihrer Nachfolgerin der LINKEN als komplette Selbsttäuschung. Wie das gesamte Programm zeigt, werden wesentliche strategische Elemente des Stalinismus wie die Volksfrontstrategie, die Ablehnung der Räte-Demokratie u.a. Elemente selbstbestimmter Organisation der Arbeiterklasse und der strategische Kompromiss mit dem Imperialismus („friedliche Koexistenz“ als Strategie anstelle der Förderung der Weltrevolution) in ihrem konterrevolutionären Wesen nicht verstanden und tw. unverändert weitergeführt, z.B. bei der volksfrontartigen Bündnispolitik, die auf den Einschluss bürgerlicher Kräfte setzt.

Geschichte

Das Programm der LINKEN versucht, die grundlegenden Brüche in der Arbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts nicht zu erklären und zu bewerten, sondern zu verkleistern.

„1914 spaltete die Haltung zum Krieg die deutsche Sozialdemokratie. Die SPD-Führung befürwortete die Politik der nationalistischen Abgrenzung und stimmte schließlich für den Krieg. Der europäische Zusammenhalt der Arbeiterschaft für den Frieden wurde aufgegeben. Gegen diese verheerende Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie leisteten neben vielen anderen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Widerstand, den sie mit dem Leben bezahlten. Die deutsche Revolution von 1918/19 war eine sozialdemokratische Revolution, die mit Hilfe der sozialdemokratischen Führung niedergeschlagen wurde. Gegensätzliche Haltungen zur Revolution in Deutschland und später auch zur Sowjetunion vertieften die Spaltung der Arbeiterbewegung. Die USPD, die KPD und linkssozialistische Bewegungen gehören heute ebenso zum Erbe der LINKEN wie die Geschichte der Sozialdemokratie.“ (17)

Dieser Passus trieft nicht nur vor einer unverschämten Entstellung der Revolution von 1918/1919, er ist auch insofern eine Zumutung, als die Linkspartei auch noch das revolutionäre Erbe der Arbeiterbewegung reformistisch eingemeinden will. Die LINKE stützt sich eben auf alle – auf Luxemburg und ihre Schlächter – und verwischt so deren Spuren.

Entscheidend ist dabei aber auch, dass der historische Verrat der Sozialdemokratie 1914 für DIE LINKE offenkundig keinen qualitativen Bruchpunkt in der Geschichte dieser Partei darstellt, nämlich ihr vollständiges und unwiederbringliches Übertreten in das Lager des Reformismus und Sozial-Chauvinismus. Seit 1914 ist der Klassencharakter der SPD klar bürgerlich. Sie steht fest auf dem Boden der Verteidigung der kapitalistischen Eigentumsordnung – trotz ihres Festhaltens an einem sozialistischen „Endziel“, das jedoch für die reale Politik der Partei keine praktische Bedeutung hat, sieht man davon ab, dass sich so die eigenen AnhängerInnen und die Arbeiterklasse insgesamt leichter über die Niederungen der sozialdemokratischen Zugeständnisse an die Kapitalisten hinwegtrösten lassen.

Was an der SPD gegenüber anderen bürgerlichen Parteien besonders bleibt, ist der Umstand, dass sie historisch und sozial aus der Arbeiterbewegung stammt und sich auf die Arbeiterklasse stützt, dass sie eine bürgerliche Arbeiterpartei ist. Noch heute dominiert die SPD trotz ihres Niedergangs die Gewerkschaften und über sie die Arbeiterklasse. Daher braucht es besonderer Taktiken, einschließlich Forderungen an die sozialdemokratischen Führungen in der Partei und in den Gewerkschaften, um die Lohnabhängigen von der SPD zu brechen.

Die behauptete Kontinuität der SPD seit ihrer Gründung bis in die 70er Jahre und darüber hinaus dient der Linkspartei dazu, die historische Spaltung zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus zu negieren. Das ist vom Standpunkt der reformistischen Politik der Linkspartei verständlich und auch folgerichtig, denn sie will vom unversöhnlichen Gegensatz von reformistischer, also bürgerlicher Arbeiterpolitik und kommunistischer Politik nichts wissen.

Programmatische Methode

Beim Programmentwurf fällt allgemein auf, dass er zwar viele Forderungen hat, dass aber vollkommen unklar ist, welchen Stellenwert sie für die Praxis und die Strategie der Partei haben. Dieses Manko ist jedoch durchaus typisch für reformistische Organisationen. Schließlich will die Parteiführung nicht gern an den eigenen Versprechen gemessen werden. Sie will freie Hand haben und sich nicht mit Forderungen ihrer Mitglieder und AnhängerInnen konfrontiert sehen, welche die Erfüllung der Versprechen einfordern und Rechenschaft verlangen könnten. Das trifft umso mehr zu, wenn die LINKE in Koalitionsverhandlungen geht oder sich an Regierungen beteiligt. Für solche Fälle sind allgemeine soziale Formeln der Bürokratie angenehmer, weil sie immer in die eine oder andere Richtung ausgelegt werden können.

Konkret kommt diese Haltung in der Frage der Beteiligung an bürgerlichen Regierungen zum Ausdruck. Die Regierungsbeteiligungen der LINKEN bzw. der PDS haben immer gezeigt, dass sie letztlich nicht zu „sozialerer“ Politik führen, sondern zur Verwaltung des Kapitalismus und seiner Krise unter linkem Logo. Diese Tatsachen führten zu massiver Kritik an der LINKEN und bescherten ihr tw. dramatische Verluste bei Wahlen und stießen viele AktivistInnen ab.

Wer nun im Programmentwurf eine klare Position zur Regierungsfrage erwartet hatte, sieht sich jedoch enttäuscht. Was wir finden, ist lediglich eine Kompromissformel, die – wie bisher – „linken“ Regierungsprojekten keine Steine in den Weg legt. Statt einer klaren Absage an jede Beteiligung an einer – bürgerlichen! – Regierung sieht das Programm auch weiterhin eine solche vor, wenn es sich um eine Regierung handelt, die keinen Sozialabbau usw. betreibt. In der Praxis bedeutet diese Formel, dass die eigene Sozialabbau-Politik dann damit begründet wird, dass es ja ohne die LINKE noch viel schlimmer gekommen wäre. Trotz der „linken“ Formulierung öffnet also auch das neue Programm jeder Regierungsbeteiligung Tür und Tor.

Die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen ist allerdings durchaus Ausdruck der reformistischen Gesamtstrategie der LINKEN. Da sie die Revolution, den Klassenkampf bis hin zum Sturz des Kapitalismus und zur Machtergreifung der Arbeiterklasse ablehnt, bleibt ihr nichts weiter übrig, als die Institutionen und Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft zu nutzen, um gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen.

Insgesamt offenbart der Entwurf ein Programmverständnis, das methodisch im Reformismus und Stalinismus wurzelt. Es ist vom Programm-Typ ein Minimal-Maximal-Programm, d.h. der Sozialismus als „historisches Endziel“ steht – trotz der scheinbaren Verbindung durch einen  längeren „transformatorischen Prozess“ – unverbunden neben (oft durchaus richtigen) Alltagsforderungen. Die Kämpfe um höhere Löhne, gegen Sozialabbau, Hartz IV usw. sind aber nicht mit dem Kampf um den Sozialismus verwoben. Der Sozialismus ist als Losung im Grunde hier nichts anderes als das Amen in der Sonntagspredigt.

Der zentrale Mangel des hier vorgeschlagenen Programms besteht also darin, dass es kein Programm von Übergangsforderungen ist. Ein solches „Übergangs-Programm“ würde die Alltagskämpfe mit der Perspektive der Machtergreifung der Arbeiterklasse verbinden. Diese Verbindung käme allerdings nicht etwa dadurch zustande, dass Forderungen wie „Gegen Entlassungen! Für Verstaatlichung!“ usw. einfach mit der Losung „Für Sozialismus!“ ergänzt werden. Die Verbindung käme z.B. dadurch zustande, dass die Selbstorganisation der Klasse gefördert wird, dass die Klasse sich eigene Machtpositionen und -organe im Betrieb, im Stadtteil und letztlich in der Gesellschaft erkämpft. Solche Forderungen sind z.B. jene nach Arbeiterkontrolle über Produktion, Verteilung, Verstaatlichung, Sicherheitsstandards usw.; es sind Forderungen nach Streikkomitees, die von der Basis direkt gewählt und ihr verantwortlich sind; es sind Forderungen zur Schaffung von Streikposten, Arbeitermilizen, Preiskontrollkomitees usw. bis hin zu Räten und einer Arbeiterregierung, die sich auf die Mobilisierungen und Kampforgane der Klasse stützt.

Diese – und nur diese – Übergangsmethodik würde programmatisch das repräsentieren, was Marx über den Sozialismus sagte: dass er die „wirkliche Bewegung“ ist und nicht etwa nur eine „Vision“ oder „Utopie“, wie es DIE LINKE gern formuliert. Diese Elemente fehlen im Programmentwurf völlig. Konkret bedeutet das aber, dass die Arbeiterklasse in ihrem Kampf über das, was sie als Führungen und Strukturen vorfindet, nie hinaus kommt; es bedeutet, dass das Proletariat völlig den reformistischen Parteien, den Gewerkschaftsapparaten, den Betriebsräten, dem Parlamentarismus ausgeliefert bleibt.

Das Fehlen von Übergangsforderungen bedeutet, dass die Klasse sich in ihrem Kampf bürgerlichen Strukturen und Ideen unterordnet. Gemäß den „ProgrammiererInnen“ der LINKEN soll also die gesellschaftliche Dynamik zur Überwindung des Kapitalismus in den Bahnen der alten Gesellschaft, also zu den Bedingungen der Bourgeoisie erfolgen. Daran ändern auch ein paar Volksentscheide oder ein bisschen mehr „Mitbestimmung“ nichts.

Methodisch wurzelt all das letztlich in einer undialektischen Sichtweise von Geschichte und Klassenkampf. Das Prinzip des Minimal-Maximal-Programmes entspricht der Vorstellung von gesonderten, nicht miteinander verbundenen Etappen der Revolution bzw. des historischen Prozesses allgemein. Wie im Stalinismus, der die Revolution auf die demokratische Phase beschränkte, geht es auch der LINKEN um begrenzte Reformen. Dass selbst diese objektiv oft eine Dynamik Richtung Sozialismus haben, dass selbst die Umsetzung grundlegender bürgerlich-demokratischer Aufgaben im imperialistischen Zeitalter nur durch das Proletariat und unter dessen Führung errungen und durch den Sturz der Bourgeoisie gesichert werden können, bleibt der LINKEN ein Buch mit sieben Siegeln.

Der mechanischen Vorstellung separater Entwicklungsetappen steht Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution konträr gegenüber. Trotzkis Ideen bewahrheiteten sich positiv in der Russischen Revolution und negativ – indem die Stalinisten jede revolutionäre Möglichkeit in das Prokrustesbett ihres Etappen-Modells zwängten und so die Weiterführung der Revolution verhinderten.

Das marxistische Programm-Verständnis geht vom aktuellen Stand des (internationalen) Klassenkampfes aus und unterbreitet Vorschläge, wie der Klassenkampf – wie also Aktion, Bewusstsein und Organisierung – voran gebracht werden kann. Das impliziert auch, konkret zu benennen, welche Kampfformen, welche Konzepte, welche Organisationen und Führungen den Kampf behindern, schwächen oder falsch orientieren und wie die Klasse den Einfluss dieser Faktoren überwinden kann.

Nicht so das Programm der LINKEN! Hier wird die zentrale Frage, warum der Widerstand gegen die Auswirkungen der Krise hierzulande bisher so schwach war, erst gar nicht gestellt. Die Führungen der Gewerkschaften haben fast nichts getan, um einen effektiven Kampf gegen die Krise zu organisieren. Im Gegenteil: Die Spitzen von DGB, IGM oder ver.di haben das Krisen-Management, d.h. die Abwälzung der Kosten auf die Massen, unterstützt.

Die LINKE schweigt nicht nur dazu, sie hat auch keinen einzigen Vorschlag, wie die Gewerkschaften dazu gebracht werden könnten, den Kampf zu organisieren. Diese komplette Kritiklosigkeit gegenüber der Gewerkschafts-Bürokratie ist ein grundlegender Mangel des Programm-Entwurfs und offenbart zugleich, dass dieses Programm als Orientierung im Kampf ungeeignet ist. Selbst viele Forderungen, die in die richtige Richtung weisen, nützen im Endeffekt wenig, wenn kein Weg gezeigt wird, wie diese Ziele auch zu erreichen sind.

Ein Hauptproblem der LINKEN (und davor schon der PDS) ist die Orientierung auf Wahlen und den bürgerlichen Parlamentarismus. Was sagt das neue Programm dazu? Nichts! Kein Wort dazu, wie DIE LINKE den außerparlamentarischen Kampf auf den Straßen oder gar im Betrieb beleben will. Doch nicht nur das. Der Programmentwurf macht auch ganz klar, dass selbst eine zukünftige, „sozialistische“ Gesellschaft grundsätzlich nur eine parlamentarische wäre – „aufgepeppt“ mit mehr betrieblicher Mitbestimmung und Volksbegehren.

Damit verbleibt DIE LINKE vollständig im Rahmen sozialdemokratischer Vorstellungen (und tw. der stalinistischen Volksfrontstrategie). Auch einem Rätesystem wird so indirekt eine komplette Absage erteilt. Zwar beruft man sich bisweilen gern auch mal auf Marx, doch von dessen Staatstheorie, die gerade davon ausgeht, dass der bürgerliche Staatsapparat zerbrochen und durch einen proletarischen räteartigen Halbstaat nach dem Modell der Pariser Kommune ersetzt werden muss, will man nichts wissen. Nicht nur der Marxismus auf theoretisch-programmatischer Ebene, sondern auch der reale Klassenkampf – und nicht zuletzt das Scheitern des Stalinismus – haben aber gezeigt, dass ein der Form nach bürgerlicher Staatsapparat absolut ungeeignet ist, sozialistischen Zwecken zu dienen. Auch an diesem Widerspruch ist das stalinistische System gescheitert.

Im 3. Abschnitt des Programmentwurfs wird versucht, die Kardinalfrage jedes Programms – die Frage von Revolution oder Reform – zu beantworten. Dort heißt es:

„DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“ (18)

Diese unklare Formulierung verschleiert im Kern nur, dass die Linkspartei eine Revolution nicht für relevant hält. Ihre Konzeption – und das wird auch an vielen anderen Formulierungen sehr deutlich – geht im Grunde davon aus, dass verschiedene Reformen in einem längeren historischen Prozess letztlich einen qualitativ anderen Gesellschaftszustand herbeiführen. Wenn das ginge, wäre das großartig – nur es geht eben nicht. So bleibt das Programm auch jeden Verweis darauf, wo sich ein solcher qualitativer Effekt von Reformpolitik schon einmal eingestellt hätte, schuldig. Während DIE LINKE sozusagen die Revolution für ein „Nebenprodukt“ von Reformen hält, besagt die historische Erfahrung, dass es eher andersherum war. Gerade im Gefolge von Revolutionen – erfolgreichen wie der russischen von 1917 und oft selbst nach gescheiterten wie der deutschen von 1918 – war die Bourgeoisie in vielen Ländern gezwungen, der Arbeiterbewegung soziale und politische Zugeständnisse zu machen.

Das im Programm-Entwurf dargelegte Konzept entspricht durchaus dem schon seit Jahren wiederholt in der LINKEN vertretenen „Hegemonie-Konzept“. Dieses sieht die graduelle Verschiebung der öffentlichen Meinung nach links vor, bis die „neoliberale Dominanz“ gebrochen wäre. Davon abgesehen, dass der Neoliberalismus (v.a. neben dem Keynesianismus) nur eine Spielart bürgerlicher Ideologie und kapitalistischen Krisenmanagements ist, übersieht die Hegemonie-Vorstellung (wie auch das ganze vorliegende Programm), dass es im Klassenkampf wie im Klassenverhältnis und auch in der Ideologie keine kontinuierliche Entwicklung, keinen ungebrochenen Trend geben kann. Das ist allein schon aufgrund der zyklischen Schwankungen der kapitalistischen Wirtschaft und der Krisen des Kapitalismus unmöglich.

Zudem ist das Hegemonie-Konzept ein idealistisches Konstrukt, indem es die Erringung der Vorherrschaft auf ideellem Gebiet vom realen Klassenkampf und der Dynamik der materiellen Verhältnisse abkoppelt. Dadurch, dass DIE LINKE nicht die Zuspitzung des Klassenkampfs und das Offenbarwerden des Klassenantagonismus als Grundlagen der Umwälzung auch des Bewusstseins des Proletariats als wesentlich annimmt, soll ihrer Meinung nach „nur“ oder vor allem der Ideenkampf die Ideen und in Folge die Gesellschaft ändern.

Antworten auf die Wirtschaftskrise

Die Einschätzung der Dimension der weltweiten Wirtschaftskrise im Programmentwurf hebt sich positiv von den Analysen etwa der GRÜNEN oder von attac ab, welche die Krise v.a. auf Probleme im Finanzsektor zurückführen. Der Programm-Entwurf der LINKEN stellt fest:

„Der neoliberale Kapitalismus führt dazu, dass sich über einer stagnierenden Realwirtschaft eine gewaltige Finanzblase aus Geldvermögen und Schulden aufbläht. Steigende Gewinne und die Umverteilung der Einkommen zugunsten von Kapitalbesitzern und Besserverdienenden bewirken einen riesigen Überschuss an weltweit anlagesuchendem Kapital.“ (19)

Und weiter: „Die tiefe Weltwirtschaftskrise, die im Jahr 2008 begann, ist die Krise einer Wirtschaftsordnung, die allein für den Profit produziert und für die Bedarf nur dann existiert, wenn er sich als zahlungskräftige Nachfrage geltend macht. Eine Konjunkturkrise, eine Strukturkrise und die Krise der internationalen Finanzmärkte haben sich zur schwersten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise seit 1929 zugespitzt. Mit dieser Krise ist ein globales Modell an seine Grenzen gelangt, das die Entwicklung des Kapitalismus in den vergangenen drei Jahrzehnten geprägt und getragen hatte.“ (20)

Allerdings verweisen diese Passagen auch auf die verkürzte Annahme, dass nur der Neoliberalismus „an seine Grenzen gelangt“ sei. Im Abschnitt „Die Weltwirtschaftskrise am Beginn des 21. Jahrhunderts“ wird dieser Gedanke noch vertieft:

„Die neoliberale Politik hat durch Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung die Wurzeln für die gegenwärtige Krise gelegt.“ (21)

Das Programm stellt nicht die Frage, warum sich riesige Kapitalmengen im spekulativen Finanzsektor aufhäufen. Zwar wird von einer Strukturkrise gesprochen – doch was genau ist damit gemeint? Offensichtlich nicht die ökonomischen Grundstrukturen des Kapitalismus.

Tatsächlich wurzelt die jetzige Krise nicht im Neoliberalismus, der im Zuge der Globalisierung allerdings bestimmte Tendenzen noch verstärkt und beschleunigt hat. Die Krise wurzelt in den schon seit den 1970ern aufgestauten und ungelösten Verwertungsproblemen des Kapitals. Fallende Profitraten, infolge dessen stärkere Rationalisierungen, die wiederum zur immer stärkeren Ersetzung lebendiger Arbeit durch Maschinerie führten und also immer größere Überkapazitäten schufen, prägten die ökonomische Entwicklung der letzten Jahrzehnte.

In der Krise ist insofern nicht nur der Neoliberalismus, sondern der Kapitalismus insgesamt. Dieses Fazit enthält das Programm jedoch nicht. Insofern verwundert es nicht, dass alle politischen Schlussfolgerungen darauf hinauslaufen, den Leib des Kapitalismus vom „Geschwür“ des Neoliberalismus zu befreien, um dem kapitalistischen Organismus zu neuer Vitalität zu verhelfen. Dieses Ansinnen ist mit der Vorstellung verbunden, die wuchernde Finanzbranche zu stutzen und die „gesunde“ und „produktive“ Realwirtschaft zu stärken. Für DIE LINKE bedeutet das konkret, die großen exportorientierten Kapitale zu „bremsen“ – zugunsten der binnenmarktorientierten kleinen und mittleren Unternehmen, d.h. zum Vorteil der weniger entwickelten, unproduktiveren Kapitale.

Dieses Konzept ist mit diversen politischen und ökonomischen Maßnahmen verbunden, durch welche DIE LINKE eine Umverteilung von oben nach unten fördern, soziale Systeme und Errungenschaften sichern sowie die demokratischen Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung und der Beschäftigten stärken will. Wir wollen hier nicht näher auf diese verschiedenen Vorschläge eingehen. Sie sind im Grunde auch nicht neu.

Methodisch ist allen diesen Maßnahmen gemein, dass sie a) die ökonomischen Grundlagen und Funktionsweisen des Kapitalismus (Privateigentum, Konkurrenz, Gewinnstreben, Warenproduktion, Lohnarbeit) nicht angreifen und b) die bürgerlichen politischen Herrschaftsstrukturen (Parlamentarismus, Staatsapparat) nicht infrage stellen, sondern nur modifizieren wollen. Die Grundfrage, welche Klasse herrscht, wirft das Programm überhaupt nicht auf – allenfalls in der Weise, dass die Dominanz der neoliberalen Abzocker und Shareholder gebrochen werden soll. Alle anderen Kapitalisten, die „nur“ ganz „normal“ Profit machen wollen (und müssen!), können weiter mit der Ausbeutung von Lohnarbeit fortfahren – wenn sie dabei nur nicht „über die Stränge schlagen“.

Wirtschaftspolitik

In einem Punkt lehnen sich die Programm-AutorInnen im Abschnitt IV etwas weiter aus dem Fenster – und sind hier durchaus linker als früher:

„Die privaten Banken sind für den Spekulationsrausch der vergangenen Jahre und die entstandenen Milliardenverluste wesentlich verantwortlich. Private Banken müssen deshalb verstaatlicht, demokratischer Kontrolle unterworfen und auf das Gemeinwohl verpflichtet werden. Durch strikte Regulierung ist zu gewährleisten, dass der Bankensektor in Zukunft wieder seinen öffentlichen Auftrag erfüllt: die zinsgünstige Finanzierung wirtschaftlich sinnvoller Investitionen insbesondere auch kleiner und mittlerer Unternehmen, die Abwicklung des Zahlungsverkehrs und Bereitstellung eines kostenlosen Girokontos für jedermann, sichere Anlage privater Ersparnisse.“ (22)

Grundsätzlich ist der Forderung nach Verstaatlichung der Banken natürlich zuzustimmen. Doch die zentrale Frage ist dabei die der Kontrolle. Was bedeutet „demokratische Kontrolle“ – Kontrolle durch das Parlament, durch Wirtschaftsvertreter, durch die Gewerkschaftsbürokratie? Offenbar glaubt man, dass eine Kontrolle durch einen solchen Filz von „Spezialisten“ und Bürokraten, die meist selbst als Anteilsinhaber ein Interesse an hoher Profitabilität der Banken und Fonds haben, unabhängig, objektiv und effizient wäre.

Doch „Kontrollinstanzen“ solcherart gab und gibt es bereits zuhauf: Bankenaufsicht, Aufsichtsräte, die Bundesbank, Kartellämter, Steuerbehörden usw. usf. Bekanntlich haben sie die Krise weder geahnt noch verhindert.

Eine effektive Kontrolle wäre nur möglich, wenn sie durch Organe der Arbeiterklasse, die direkt von der Basis bestimmt und kontrolliert würden, erfolgte. Gerade das ist im Programm jedoch nicht vorgesehen.

Das im Programmentwurf vorgeschlagene Banken-Konzept offenbart aber noch einen weiteren wesentlichen Fehler, der auch allen anderen wirtschaftspolitischen Ideen anhängt. DIE LINKE stellt sich die Wirtschaft als eine Art Mechanismus vor, den man durch verschiedene politische Maßnahmen nach und nach verändern und verbessern kann. Diese Ansicht übersieht zwei wesentliche Dinge: Erstens ist die kapitalistische Wirtschaft nicht einfach eine bestimmte Struktur, eine Art Mechanik, sondern ein Herrschaftsverhältnis, ein Klassenverhältnis. Jede Änderung in der Struktur der Wirtschaft verändert natürlich auch dieses Klassenverhältnis. Oder andersherum: Veränderungen im Wirtschaftsorganismus sind ohne den Kampf zwischen Kapital und Lohnarbeit nicht möglich.

Die Krise bzw. die „Anti-Krisen-Maßnahmen“ der Regierungen zeigen überdeutlich, dass der Staat nicht die Verantwortlichen für die Krise, also die Bourgeoisie, ja noch nicht einmal die größten Abzocker, die Finanzhaie, zur Rechenschaft zieht. Im Gegenteil: Die Kosten werden den Massen aufgehalst, das Finanzkapital wurde für seine Verluste entschädigt – ohne enteignet zu werden – und seine Stellung gegenüber dem industriellen Kapital und dem Staat ist stärker denn je. Diese Reaktion des Staates zeigt auch die reale und berechtigte Angst von Wirtschaft und Politik, dass der Zusammenbruch des Finanzsektors einen Erdrutsch auslösen könnte – und würde! – der die gesamte Wirtschaft mit sich reißt und die Grundfesten des kapitalistischen Systems erschüttert.

D.h., dass jede wirkliche Veränderung oder Verbesserung nur auf Kosten des Profitmachens der Bourgeoisie möglich ist. Daher müssen die Kapitalisten und ihr Staat solchen Versuchen massiven Widerstand entgegen setzen.

Die Vorstellung der LINKEN, durch Gesetze, Reformen, mehr Demokratie usw. – also durch das Bewegen vieler Stellschräubchen und Hebelchen – die Mega-Maschine Kapitalismus grundsätzlich zu ändern und dazu zu bringen, Profit zu machen und gleichzeitig das Wohlergehen der Menschheit zu sichern, ist nichts als eine reine Wunschvorstellung. Ohne die Verfügungsgewalt des Kapitals zu brechen, es also zu enteignen, ist eine andere Wirtschaft undenkbar. Ohne den Sturz der Bourgeoisie und die Zerschlagung ihres Staatsapparates, ohne die Machtergreifung der Arbeiterklasse sind selbst die grundlegenden Ziele der Linkspartei nicht erreichbar.

Die hier dargelegten ökonomischen Reform-Vorstellungen der LINKEN sind auch deshalb illusorisch, weil sie verkennen, dass auch die kapitalistische Ökonomie innere Gesetzmäßigkeiten hat, die man nicht einfach modifizieren oder partiell außer Kraft setzen kann.

Ein Beispiel: Wenn eine (verstaatlichte) Bank „demokratischer Kontrolle unterworfen und auf das Gemeinwohl verpflichtet“ ist, wenn sie „strikt reguliert“ ist, um u.a. „die zinsgünstige Finanzierung wirtschaftlich sinnvoller Investitionen“ zu gewährleisten, dann heißt das natürlich auch, dass diese Bank nicht zugleich im spekulativen Bereich, wo es meist höhere Renditen gibt, aktiv sein kann. Die Folge wäre, dass diese Bank gegenüber anderen Banken wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten würde. Über kurz oder lang wäre sie nicht konkurrenzfähig. Andere private Banken könnten u.U. billigere Kredite anbieten, um die verstaatlichte Konkurrenz zu ruinieren.

Um diesem Problem zu entgehen, wäre es entweder notwendig, den Kapitalismus weltweit zu stürzen oder wenigstens – vorübergehend – ein staatliches Außenhandelsmonopol zu errichten, um die Konkurrenz des Weltmarktes auszuschließen bzw. deren Wirkungen zu begrenzen. Doch diese Probleme stehen nicht auf der programmatischen Agenda der LINKEN. Schon daran zeigt sich, dass ihre Wirtschaftreformen v.a. national gedacht sind. Stalins Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ lässt grüßen!

Ein weiterer zentraler methodischer Fehler des Programmentwurfs besteht darin, nicht zu verstehen, dass die Zurückdrängung des kapitalistischen Wertgesetzes nur möglich ist, wenn ein anderer Mechanismus an dessen Stelle tritt: die gesellschaftliche Planung. Dieser Begriff taucht im Programm jedoch gar nicht auf. Stattdessen wird eine „gemischte“ Wirtschaft als Ziel postuliert – nicht nur im Kapitalismus, sondern auch für eine nachkapitalistische Gesellschaft.

Im Abschnitt „Eigentumsfrage und Wirtschaftsdemokratie“ wird gesagt: „Eine entscheidende Frage gesellschaftlicher Veränderung ist und bleibt die Eigentumsfrage.“ (23)

Gleich danach folgt die Präzisierung, welche Eigentumsstruktur der LINKEN vorschwebt: ein Nebeneinander verschiedener Eigentumsformen – inklusive des Bekenntnisses zum privaten Unternehmertum. Worin also besteht die Änderung der Eigentumsverhältnisse, die der Linkspartei vorschwebt?

„Wir wollen eine radikale Erneuerung der Demokratie, die sich auf wirtschaftliche Entscheidungen erstreckt und sämtliche Eigentumsformen emanzipatorischen, sozialen und ökologischen Maßstäben unterwirft.“ (24)

Kurzum: Das Privateigentum an Produktionsmitteln wird befürwortet, seine unvermeidlichen „negativen Konsequenzen2, also die kapitalistische Konkurrenz, sollen jedoch wegreformiert werden. Wie soll das möglich sein? Indem der bürgerliche Staat „emanzipatorische, soziale und ökologische Maßstäbe“ setzen soll!

In Wirklichkeit verdeutlicht das nur, dass die Linkspartei die Eigentumsfrage nicht verstanden und sie auf eine reine Reformfrage reduziert hat.

Für MarxistInnen hingegen ist es selbstverständlich, dass nur der revolutionäre Sturz des Kapitalismus einen Übergang zu anderen Eigentumsverhältnissen überhaupt ermöglicht, dass auf die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus eine dem Sozialismus/Kommunismus vorangehende Übergangsperiode (Diktatur des Proletariats) folgt. Diese Übergangsgesellschaft ist vom widersprüchlichen Nebeneinander nachkapitalistischer Strukturen (z.B. Planung, gesellschaftliches Eigentum) und Resten des Kapitalismus (Traditionen, Lebensweise, Reste von Privateigentum, Einfluss des noch bestehenden kapitalistischen Weltsystems) gekennzeichnet – freilich nicht, um ein friedlich-schiedliches „Nebeneinander“ dieser gegensätzlichen Formen zu sichern, sondern um die Reste des Privateigentums zurückzudrängen und durch eine gesellschaftliche Planung zu ersetzen.

Die Entwicklung der Übergangsgesellschaft gen Kommunismus hängt wesentlich davon ab, ob a) der Prozess der Weltrevolution weitergetrieben werden kann und b) die innere Entwicklung dadurch gekennzeichnet ist, dass die nichtkapitalistischen Elemente sich gegen die alten Strukturen immer weiter durchsetzen. Während a) für die LINKE als Problem offenbar nicht existiert, gibt sie bei b) eine klar unmarxistische Antwort. Für sie ist eine „gemischte„ Wirtschaft auch für den Sozialismus prägend.

Bezüglich der Stellung der Beschäftigten schlägt das Programm vor:

„Die Beschäftigten müssen realen Einfluss auf die betrieblichen Entscheidungen bekommen. Wir setzen uns dafür ein, dass Belegschaften ohne Lohnverzicht an dem von ihnen erarbeiteten Betriebsvermögen beteiligt werden. In wichtigen Fragen, etwa wenn Massenentlassungen oder Betriebsschließungen geplant sind, muss es Belegschaftsabstimmungen geben.“ (25)

Wohlgemerkt: Das Programm skizziert hier eine Zukunftsperspektive und meint nicht nur Reformen innerhalb des Kapitalismus!

Da wird sich die Arbeiterklasse aber freuen, wenn sie künftig Anteile an einem Betrieb haben kann, der demnächst womöglich über die marktwirtschaftliche Wupper geht. Doch auch für diesen Fall hat das Programm eine beruhigende Antwort parat: Die ArbeiterInnen können darüber abstimmen, wer zuerst entlassen wird!

Imperialismus

In einer Frage dürfen wir auf das neue Programm der LINKEN besonders gespannt sein – v.a. in der Frage Israels und des antiimperialistischen Kampfes. Immerhin gibt es innerhalb der LINKEN zwischen eher „traditionellen“ Anti-ImperialistInnen und pro-israelischen Antideutschen (BAK Shalom) einen offenen Widerspruch.

Daneben sorgte vor einigen Monaten auch Gregor Gysi für Zündstoff, als er in einer Grundsatzrede einen Kniefall vor der „deutschen Staatsräson“ zelebrierte, das Existenzrecht Israels – also eines Staates, der seit Jahrzehnten in der Region als Kettenhund des Imperialismus agiert und dessen Gründung, Existenz und Politik auf der Unterdrückung und Vertreibung der PalästinenserInnen fußen – verteidigte und jeder Form von bewaffnetem Widerstand gegen den Imperialismus eine klare Absage erteilte.

Was sagt der Programmentwurf dazu? Nichts! Kaum ein Wort zur Frage Israels, kein Wort zur Frage des Widerstands gegen den Imperialismus! Statt dessen behilft es sich mit der Hoffnung auf die gescheiterte, utopische Zweitstaatenlösung und Appellen an den „Frieden“.

Doch keine klare Antwort sagt in diesem Fall mehr als tausend Worte! Die einzigen „konkreten“ Vorschläge dazu kommen aus der alten Mottenkiste des Reformismus: Abrüstung, Entwicklungshilfe, Verbot von Angriffskriegen usw. Doch wie, bitte schön, soll das ohne Klassenkampf und letztlich ohne Sturz des Kapitalismus möglich sein?!

Beim alten Universal-Slogan, dass die UNO als Konfliktlöserin wirken solle, befällt sie immerhin selbst ein gewisser Zweifel, der sich in der Forderung, dass die UNO demokratisiert werden müsse, ausdrückt. Dass die UNO natürlich auch nach einer „Demokratisierung“ ein Organ kapitalistischer Staaten ist und zudem unter der Dominanz des Imperialismus bliebe, ficht die Friedensengel der LINKEN aber nicht an.

Die Widersprüchlichkeit und Realitätsfremdheit des Programmentwurfs kommt am krassesten in den Passagen zur EU zum Ausdruck. Auf mehreren Seiten werden sämtliche frommen Wünsche der Linkspartei an eine reformierte EU zusammengetragen. Demokratisch, ökologisch, sozialstaatlich und friedlich soll es zugehen (26) – und  das alles auf dem Boden des Kapitalismus!

Auch zum Weltimperialismus hat das Programm Bedeutsames mitzuteilen. Ein neuer Imperialismus entstehe in einem entdemokratisierten Raum. Mächtige Fraktionen der Machteliten der Vereinigten Staaten hätten deren globale Vorherrschaft zum Ziel. Auch die EU würde zunehmend aggressiv, um in der weltweiten Auseinandersetzung um Macht, Einfluss und natürliche Ressourcen ihre Stellung auszubauen. Kriege, einschließlich präventiver Angriffskriege, würden führenden Kräften der USA, der NATO und der EU wieder als taugliche Mittel der Politik gelten.

Wir fragen uns: Was ist der „neue Imperialismus“, der „entsteht“? Wodurch unterscheidet er sich vom „alten“? Stimmt Lenins Imperialismustheorie – oder ist sie überholt? Was ist ein „entdemokratisierter Raum“? Wer sind die „mächtigen Fraktionen“ und “Machteliten“? Könnte es sich bei ihnen eventuell um die Bourgeoisie handeln? Warum gelten Kriege „wieder als taugliche Mittel der Politik“? War es schon einmal anders?

Fragen über Fragen, auf die das Programm keine Antworten gibt. Hier gilt offenbar das Motto: Wenn wir schon nicht für Klarheit sorgen können, wollen wir wenigstens Verwirrung stiften.

Stattdessen hält die LINKE umso entschlossener und sturer an den vorgeblichen Heilmitteln der bürgerlichen Ordnung fest, um Frieden usw. zu schaffen. Was tun gegen imperialistischen Krieg? Den Krieg ächten? Durch wen? Durch die Vereinten Nationen, die endlich reformiert und gestärkt werden müssen! (27)

Gemeinsam für einen Politikwechsel und eine bessere Gesellschaft

So ist Abschnitt V des Programmentwurfs überschrieben. Es ist kein Zufall, dass hier nur vom Wechsel der Politik die Rede ist und nicht etwa von Klassenkampf. Unter Politik versteht DIE LINKE auch gemäß dem neuen Programmentwurf v.a. die Ausnutzung der Spielräume bürgerlicher Demokratie und ein „linkes“ Krisenmanagement in Form der Beteiligung an bürgerlichen Regierungen. Mobilisierungen dienen eher Wahlkampfzwecken und als politisches Druckmittel, nicht jedoch dazu, eine gesellschaftliche Kraft aufzubauen, die im Alltag des Klassenkampfes eigene Kampf- und Machtorgane aufbaut und eine über den Kapitalismus hinausgehende Dynamik entwickeln kann.

Diese reformistische Orientierung soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden. Beispiel Afghanistan-Krieg: Die Linksfraktion im Bundestag protestierte geschlossen und medienwirksam gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und wurde deshalb des Saales verwiesen. Eine richtige und entschlossene Aktion! Doch als in derselben Woche in Berlin eine bundesweite Protestaktion zum gleichen Thema stattfand, kamen nur einige dutzend Linkspartei-GenossInnen dorthin. Diese fatale Mobilisierungsschwäche wird in der Partei jedoch kaum diskutiert und auch das Programm enthält keinen Vorschlag, wie das Problem behoben werden könnte.

Beispiel politischer Streik. Der Programmentwurf fordert richtigerweise die Legalisierung politischer Streiks bzw. des Generalstreiks. Doch mit der juristischen Behandlung dieser Frage ist das Problem für die LINKE auch schon erledigt – als ob sich die Fragen, wie, wozu und von wem politische (Massen-)Streiks organisiert werden, von selbst beantworten würden. Das Programm macht weder klar, dass ohne politischen Massenstreik bzw. Generalstreik die derzeitigen – und umso mehr die kommenden – massiven Angriffe von Staat und Kapital kaum abgewehrt werden können; es macht v.a. auch keine Aussage dazu, wie solche Kampfmaßnahmen gegen die Bremser im Gewerkschaftsapparat durchgesetzt werden könnten; es zeigt weder Mittel noch Methoden auf, wie solche generellen Mobilisierungen vorbereitet und organisiert werden könnten.

Dass politische Massenstreiks bzw. ein Generalstreik objektiv auch die Machtfrage im Land aufwerfen würden, ahnen die „Vordenker“ der LINKEN offenbar nicht – oder besser: sie wollen es nicht wissen.

Ein Linksschwenk?

Bürgerliche Politiker und Medien stellten fast unisono einen „Linksruck“ der Linkspartei fest, der sich auch im Programmentwurf niederschlagen würde. Die Absicht dieser „Analysen“ ist leicht zu durchschauen: Sie sollen die LINKE als „radikal“ und „unseriös“ bei den WählerInnen madig machen. Zugleich soll die SPD davor gewarnt werden, mit der LINKEN zu koalieren. Gleichwohl teilen auch viele Linke innerhalb und außerhalb der Linkspartei die Einschätzung vom „Linksschwenk“. Trotzdem sind diese Einschätzungen falsch. Warum?

Erstens kann der Charakter eines Partei-Programms natürlich nicht v.a. daran gemessen werden, wie viel „linke“ Positionen darin enthalten sind oder ob es linker ist als das vorherige Programm, was z.T. sogar zutrifft. Der Maßstab muss sein, wie viel das Programm leistet, um den Klassenkampf wirklich voran zu bringen und welche historische Perspektive es zeichnet. Wir glauben, mit dieser Kritik deutlich gezeigt zu haben, dass der Programm-Vorschlag des Parteivorstands der LINKEN sich a) methodisch von früheren Programmen nicht unterscheidet und b) überhaupt keine, sehr ungenügende oder gar falsche Vorschläge unterbreitet, wie der Klassenkampf weiterentwickelt werden kann.

Das Programm ist tw. „linker“ als frühere Programme, sicher ist es auch linker als die politische Praxis der LINKEN, v.a. in den von ihr gestellten Landesregierungen und Kommunalgremien. Doch das ändert nichts daran, dass es insgesamt reformistisch – und noch nicht einmal linksreformistisch – ist; es ändert nichts daran, dass es an der Grundorientierung auf Parlamentarismus festhält; es ändert nichts daran, dass es an der Illusion der schrittweisen Reform des Kapitalismus und an der Ablehnung einer revolutionären Strategie und des Marxismus festhält.

Es ist v.a. ein Ausdruck des Flügels um Lafontaine und Ernst und des (v.a. westdeutschen) gewerkschaftlichen Milieus der Partei. Das erklärt auch die offene Kritik am Entwurf aus den Reihen der „Realos“ um Bartsch oder Ramelow, dem Mitregierer-Flügel und dem Gros des ostdeutschen (alten PDS)-Apparates.

Für MarxistInnen und alle klassenbewussten ArbeiterInnen und Linken kann es nur eine Position zu diesem Programm geben: ein klares Nein! Die Alternative zu jedem reformistischen Programm ist nicht ein linkeres, sondern ein revolutionäres!

Mit dem Programm-Entwurf wird der Versuch unternommen, das Reformhaus der LINKEN etwas zu verschönern und für das Publikum attraktiver zu machen. Doch wer genau hinsieht, wird feststellen, dass die Tapete die Risse in den Wänden nicht verbergen kann. Die Stockflecken des morschen Mauerwerks schlagen überall durch. Und am Dachschaden und den bröckelnden Fundamenten ändert auch eine neue, rötlich funzelnde Wandlampe nichts!

Die Linken in der Linkspartei zum Programm

Der reformistische Nonsens, der sich in den provisorischen Programmen wie im neuen Entwurf findet, trübt freilich keineswegs die Begeisterung der „Parteilinken“ für die „Verbesserungen“, ja für das Programm selbst. Das trifft insbesondere auch auf Christine Buchholz zu, ihres Zeichens Mitglied im „trotzkistischen“ Netzwerk Marx 21 und ebenso wie Sarah Wegenknecht Mitglied der Redaktionskommission des Parteivorstandes, der den endgültigen Entwurf erarbeitete:

„Die Art und Weise, wie die Debatte gelaufen ist, stimmt mich da sehr zuversichtlich: Wir haben am Wochenende eine konstruktive Diskussion gehabt, nach der es weder Sieger noch Besiegte gibt. Ich persönlich bedaure z.B., dass unsere ‚Haltelinien‘ geschwächt sind, andere kritisieren andere Punkte – aber die Richtung stimmt.” (28)

Der von Anfang bis zum Ende reformistische, auf eine Verbesserung des Kapitalismus im Rahmen des „demokratischen Sozialismus” abzielende Text lässt auf 44 Seiten immerhin eine klare Stoßrichtung erkennen, die Wesen und Praxis der Linkspartei entspricht. Zur Regierungsfrage heißt es dort:

„Parlamentarische Opposition wie auch das Wirken in Regierungen sind für DIE LINKE Mittel politischen Handelns und gesellschaftlicher Gestaltung. Der Kampf für die Verbesserung der Lage von Benachteiligten, die Entwicklung und Durchsetzung linker Projekte und Reformvorhaben, die Veränderung der Kräfteverhältnisse und die Einleitung eines Politikwechsels sind der Maßstab für den Erfolg unseres politischen Handelns.“ (29)

Und weiter: „DIE LINKE strebt dann eine Regierungsbeteiligung an, wenn wir damit eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen erreichen können. So lässt sich die politische Kraft der LINKEN und der sozialen Bewegungen stärken und das bei vielen Menschen existierende Gefühl von Ohnmacht und Alternativlosigkeit zurückdrängen. Regierungsbeteiligungen sind konkret unter den jeweiligen Bedingungen zu diskutieren und an diesen politischen Anforderungen zu messen.“ (30)

Diese Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung kann natürlich auch die SPD unterschreiben. „Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen“ hat schließlich noch jede/r bürgerliche PolitikerIn versprochen. Gegenüber solchen Allerweltsversprechen kümmert der Klassencharakter einer Regierung erst gar nicht.

Dass eine Regierung, die sich auf das bürgerliche Parlament und den bürgerlichen, bürokratischen Staat stützt, immer – auch ganz ohne jeden Sozialabbau übrigens! – eine Regierung des Kapitals ist und sein muss, von dieser Grunderkenntnis des Marxismus findet sich nicht nur bei der Linkspartei, sondern auch bei der „Sozialistin“ Buchholz keine Spur. Der große Malstrom der Parteilinken, die AKL, auf die wir weiter unten eingehen, gibt sich zwar etwas kritischer als Buchholz und mahnt „Nachbesserungen“ beim Text an – eine grundsätzliche Kritik gibt es aber natürlich auch von ihnen nicht.

Buchholz, Frontfrau von Marx21 und „Sozialistin von unten“, geht nicht einmal so weit. Vielmehr stimmt sie eine Debatte, die bei solchen bürgerlichen Positionen endet, so „zuversichtlich“, dass sie auch dem „Ergebnis“ zugestimmt hat.

Dass der „neue Entwurf“ keinen Schritt vorwärts brachte, war von einer Linkspartei, die von Beginn an fest auf dem Boden von Kapitalismus und bürgerlicher Demokratie steht, bei nüchterner Betrachtung nicht zu erwarten. Bemerkenswert ist vielmehr, dass es der LINKEN nicht nur an der Regierung an „Haltelinien“ mangelt, sondern auch der Parteilinken, wenn es um die Schönrederei solcher Texte und die weitere Anbiederung an die Parteispitze geht.

Programmverständnis

Lehrreich ist freilich, wie in der Linkspartei „Programmdebatten“ betrieben werden. Der Inhalt ist Nebensache. Hauptsache, es gibt weder Sieger noch Besiegte, nachdem Marxismus und Sozialismus offenkundig längst auf der Strecke geblieben sind. Wenn es um Grundsatzfragen geht, schachern alle Fraktionen der Partei wie auf einem Jahrmarkt. Und sollten sich die „DenkerInnen“ der verschiedenen Strömungen nicht einigen können, so geht der muntere Schacher eben weiter. Die politische Praxis der Partei wird davon ohnedies nicht tangiert. Schließlich ist auch den naiveren Gemütern in der LINKEN bewusst, dass das Programm nicht als Richtschnur eigenen Handelns oder gar als verbindlich missverstanden werden soll.

Daher folgt dem Programmschacher sicher bald der eigentlich wichtige Schacher, der in einer Parlamentspartei die Gemüter allemal mehr erhitzt als „Programmfragen“ – der Postenschacher.

Die Antikapitalistische Linke (AKL) – insgesamt zufrieden

Nicht viel anders verhält sich die AKL. „Im großen und ganzen bin ich zufrieden”, so äußerte sich Tobias Pflüger, seines Zeichens anti-militaristische Vorzeigefigur und Vorstandsmitglied der Linkspartei zum Programmentwurf in der Jungen Welt vom 30.5.11. Wie schon Buchholz moniert auch Pflüger einige Punkte und mahnt Verbesserungen an.

„Die Forderung nach einer besseren Legitimation des Sicherheitsrates ist missverständlich und problematisch. Der UN-Sicherheitsrat legitimierte in einer noch nie da gewesenen Weise den Libyen-Krieg, die von der UN mitverantwortete Militärintervention in der Elfenbeinküste war sehr parteiisch. Wir müssen dagegen eine UNO fordern, die demokratisiert und nicht militarisiert wird. Da findet der Parteitag sicher noch einen Konsens.” (31)

Diese Kritik wirft ein bezeichnendes Licht auf die strategischen Vorstellungen der „Linken” in der Partei. Die Kritik an der UNO kommt über radikalere Gemeinplätze nicht hinaus. Die Institution der UNO als „Weltgemeinschaft”, in der unterdrückende, imperialistische Nationen vorgeblich gleichberechtigt mit den unterdrückten Nationen an einem Tisch sitzen und der Welt „Gerechtigkeit” verschaffen sollen, wird erst gar nicht in Frage gestellt.

Die Dominanz der UNO durch die imperialistischen Großmächte erscheint Pflüger nicht als notwendiges Resultat einer imperialistischen Weltordnung, sondern bloß als Ergebnis fehlender Demokratisierung.

SAV – eine grundlegende Kritik?

Die linkeste Haltung zum Entwurf nimmt die SAV ein. Anders als AKL, die „Sozialistische Linke” und Marx21 kritisiert die SAV etliche Passagen des Entwurfs scharf und lehnt die Zustimmung der Parteilinken Buchholz und Wagenknecht zu den Formelkompromissen in der Regierungsfrage ab. In einem ausführlicheren Beitrag „Zum zweiten Entwurf für das Parteiprogramm der LINKEN” charakterisiert Heino Berg den Entwurf folgendermaßen:

„Die Überarbeitung bestätigt zwar den antikapitalistischen Grundtenor des unter anderem von Oskar Lafontaine vorgelegten 1. Entwurfes gegen das seit Monaten anhaltende publizistische Sperrfeuer des rechten Parteiflügels, verwässert jedoch wichtige Schlüsselpositionen sozialistischer Gesellschaftsveränderung. In der Regierungsfrage, also beim Lackmustest für deren Glaubwürdigkeit, schleift der neue Entwurf weitere Hürden für eine Regierungskoalition mit prokapitalistischen Parteien. Dagegen sind beim Erfurter Parteitag Änderungsanträge notwendig.” (32)

Wie wir in unserer Auseinandersetzung mit dem Programmentwurf gezeigt haben, können wir deutlich sehen, dass es selbst mit einer größeren Zahl von Änderungsanträgen nicht möglich wäre, seinen grundlegenden Charakter zu ändern. Genau dabei endet aber der linke Touch der Kritik von Heino Berg. Im Grunde anerkennen nämlich auch er und die SAV den angeblich „antikapitalistischen Grundtenor” des 40seitigen Entwurfs. In Wirklichkeit sind es 40 Seiten reformistischer Strategie, Einschätzung, Verklärung und Programmatik.

Doch genau davor, den Charakter des Programms klar zu charakterisieren, scheut auch Berg zurück. Statt die für MarxistInnen grundlegende Frage nach dem Klassenstandpunkt, den das Programm vertritt, aufzuwerfen und zu beantworten, schwadroniert Berg trotz aller „Aufweichungen” vom einer angeblich grundsätzlich richtigen „anti-kapitalistischen Stoßrichtung”.

Wir haben oben gezeigt, dass das reformistische Programm – wie die reformistische Politik selbst – einen bürgerlichen Charakter hat. Der neue Programmentwurf der Linkspartei verteidigt keinen revolutionären Klassenstandpunkt des Proletariats, sondern den Standpunkt bürgerlicher Reformpolitik. Er verteidigt das bestehende parlamentarische System, lehnt die grundlegenden Lehren des Marxismus und der revolutionären Arbeiterbewegung ab, stellt den Sozialismus als eine „gemischte Wirtschaft” dar usw. usf.

Folgerichtig tritt das Programm der Linken – und umsomehr die Partei selbst – für Beteiligung an bürgerlichen Regierungen (ob nun mit oder ohne Versprechen, keinen Sozialabbau durchzuführen) ein. Die Haltung der Reformisten in der Linkspartei zur Regierungsfrage ist hier durchaus folgerichtig, weil ihr im Grunde links-bürgerliches keynesianisches Reformprogramm zu seiner Verwirklichung tatsächlich eine Regierung braucht, die sich auf die Institutionen des bürgerlichen Staates stützt. Es gehört zum immer wiederkehrenden Schicksal solcher Reformpolitik, dass – die reformistische Partei einmal an der Regierung – selbst bescheidene Reformen oft nur Abfallprodukt radikalerer Kämpfe sind, wohingegen die Reformisten an der Regierung selbst ihr bürgerliches Programm nicht ernsthaft umzusetzen versuchen. Sollten sie es doch probieren, werden sie von der herrschenden Klasse und ihrem Staat rasch in die Schranken gewiesen.

Das Elend der SAV besteht aber – wie im Grund das aller „linken” Kritiker in der Linkspartei – darin, so zu tun, als könnten die rechten, bürgerlichen Prämissen des Programms beliebig mit „Anti-Kapitalismus” verbunden oder verbessert werden.

Genau darin besteht die Gemeinsamkeit von Marx21, AKL, KPF und SAV. Werden ein paar weitere Haltelinien eingezogen, einzelne Positionen klarer ausgesprochen, so würden die Differenzen fast zur Gänze verschwinden.

Allesamt leugnen sie den bürgerlichen Charakter nicht nur des Programms der Partei DIE LINKE, sondern auch der Partei selbst. Wie wir gezeigt haben, ist die Linkspartei eine „besondere” bürgerliche Partei, eine bürgerliche Arbeiterpartei, die sich aufgrund ihrer sozialen Verankerung, ihrer Rolle in Bewegungen, ihrer historischen Wurzeln auf die Arbeiterklasse stützt, und Teil einer, wenn auch ideologisch bürgerlich geprägten, Arbeiterbewegung ist.

Insofern unterscheidet sie sich von CDU, FDP, GRÜNEN (nicht jedoch von der SPD). Sie unterscheidet sich insofern, als RevolutionärInnen gezwungen sind, besondere politische Taktiken anzuwenden, um die proletarische Basis, linke AktivistInnen, GewerkschafterInnen usw. in den gemeinsamen Kampf zu ziehen und letztlich von dieser Partei zu brechen. Warum? Weil DIE LINKE letztlich ein Instrument zur politischen Bindung der Arbeiterklasse an den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft, letztlich eine Partei zur Verteidigung der bestehenden Verhältnisse ist.

Um diese ArbeiterInnen von der Linkspartei (wie auch von der SPD und der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie) zu brechen, ist die Anwendung der Einheitsfronttaktik zweifellos unerlässlich. Doch diese wird letztlich ihrer revolutionären Qualität vollständig beraubt, geht sie nicht auch mit einem offenen, unversöhnlichen Kampf gegen die reformistische Theorie, Strategie, Programmatik und Praxis dieser Partei einher. Halbheiten helfen hier nicht weiter. Unklarheit über den Charakter der Linkspartei und ihre Politik, hilft letztlich der Parteiführung und Bürokratie – nicht den Linken.

Fußnoten

(1) http://www.die-linke.de/partei/fakten/mitgliederzahlendezember2010/

(2) http://www.dielinke.de/politik/kommunal/fuerlinksimamt/

(3) Vergleiche dazu: Martin Suchanek, WASG/PDS, Neue Sozialdemokratie oder neue Arbeiterpartei, in: Revolutionärer Marxismus 36, Dezember 2006 und Martin Suchanek, Wer hat Angst vor der Linkspartei?, in: Revolutionärer Marxismus 40, März 2009

(4) Zur Herleitung des Begriffs sowie zur Taktik gegenüber dem Reformismus vergleich diesen unserer internationalen Strömung: LRKI, Thesen zum Reformismus – Die bürgerliche Arbeiterpartei, Schriftenreihe der Gruppe Arbeitermacht Nr. 4 (=Zeitschrift der Gruppe Arbeitermach Nr. 9), März 1987

(5) Oskar Niedermayer, 2007, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2007. Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr.11. Berlin, Freie Universität Berlin 2007) www.polwiss.fuberlin. de/osz/dokumente/PDF/ AHOSZ11.pdf. S. 15.

(6) Hildebrand, Wer ist die neue Linkspartei, in: http://www.transform-network.net/de/journal/ausgabe-022008/artikel/wer-ist-die-neue-linkspartei.html

(7) Ebenda

(8) Markus Lehner, Arbeiterklasse und Revolution, Thesen zum marxistischen Klassenbegriff, in: Revolutionärer Marxismus 42, Oktober 2010, S. 74-76

(9) http://www.die-linke.de/partei/fakten/abgeordneteindenparlamenten

(10) unter http://die-linke.de/programm/programmentwurf/

Zitate aus dem Programmentwurf beziehen sich auf diesen Text.

(11) Programmentwurf, Seite 5

(12) Ebenda, Seite 6

(13) Ebenda, Seite 8

(14) Ebenda, Seite 8

(15) Ebenda, Seite 8

(16) Ebenda, Seite 9

(17) Ebenda, Seite 8

(18) Ebenda, Seite 18

(19) Ebenda, Seite 14

(20) Ebenda, Seite 15

(21) Ebenda, Seite 16

(22) Ebenda, Seite 24

(23) Ebenda, Seite 19

(24) Ebenda, Seite 19

(25) Ebenda, Seite 20

(26) Ebenda, Seiten 37/38

(27) Ebenda, Seite 39

(28) Christine Buchholz in der Tageszeitung Junge Welt vom 24.05.11

(29) Programmentwurf, Seite 43

(30) Programmentwurf, Seite 43

(31) Pflüger in Junge Welt vom 30.5.11.

(32) Heino Berg, Ein programmatischer Rückschritt. Zum zweiten Entwurf für das Parteiprogramm der LINKEN, http://www.sozialismus.info/index.php?name=News&sid=4308&ds=print.htm




DKP – Kommunismus oder Stalinismus?

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 43, Oktober 2011

Einleitung

Auf dem 19. Parteitag im Oktober 2010 verabschiedete die DKP das „Aktionsorientierte Forderungsprogramm – Politikwechsel erkämpfen“ (1) und eine politische Resolution (2) als Analyse der Weltlage. In unserem folgenden Beitrag werden wir uns hauptsächlich auf diese Dokumente beziehen. Mit welchem Programm tritt die größte Organisation links von der Linkspartei an? Welche Taktiken und Forderungen schlägt sie für den Klassenkampf vor und welche Perspektiven weist die DKP?

In den letzten Jahren pflegte die DKP eine „kritische“ Nähe zur LINKEN. Es gab Kandidaturen auf den Listen der Linkspartei, aber keinen Eintritt. Nach der Niedersachsenwahl 2009 und einem Disput mit einer DKP-Landtagsabgeordneten machte der Bundesvorstand der LINKEN jedoch Front gegen die DKP.

Die Berichte vom Parteitag zeigen, dass es eine gegensätzliche Diskussion zweier Lager in der DKP um den künftigen Kurs gab. Dies spiegeln auch einige sehr knappe Abstimmungsergebnisse wider. So ging es einer „Gruppe 84“ um die Stärkung des öffentlichen Profils der DKP und eine schärfere Auseinandersetzung mit der LINKEN, während ein anderer Flügel mit dem Systemziel „Wirtschaftsdemokratie“ um das „Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung“ (ISW) in München die DKP programmatisch weiter Richtung LINKE schieben will.

Eine weitere wichtige Differenz beider Flügel besteht darin, dass der rechte Parteiflügel eine neo-kautskyanische Ultra-Imperialismustheorie vertritt, der zufolge die Globalisierung zu einer nachhaltigen Neuformierung des globalen Kapitals geführt hätte. Dieser wäre heute durch „transnationale Konzerne“ bestimmt, die nicht nur global agierten, sondern auch ihrer national-staatlichen Bindung z.B. an US-Imperialismus oder den deutschen Imperialismus entwachsen seinen.

Der linkere Minderheitsflügel der Partei, der sich u.a. um die Berliner DKP formiert, in der SDAJ relativ stark sein dürfte und in einigen Fragen am Parteitag Achtungserfolge erringen konnte, gibt sich „orthodoxer“ und hält daran fest, dass es nicht nur eine imperialistische Weltordnung, sondern auch verschiedene imperialistische Mächte gibt, die miteinander in einen verschärften Konkurrenzkampf getreten sind.

Die folgende Passage aus dem Forderungsprogramm verdeutlicht diese Konfrontation. Der Vorstand kommt zu dem Schluss:

„Innerparteiliche Demokratie verlangt auch die Fähigkeit, neue Entwicklungen zu erkennen, darzustellen, zu diskutieren, Korrekturen vorzunehmen, notwendige Kritik und Selbstkritik zu berücksichtigen.“ (3)

Dies wird auch bei den Augenzeugenberichten von Delegierten auf dem Parteitag deutlich. So werden Versuche, „die Meinungsverschiedenheiten in der Partei begrifflich auf zwei Strömungen zu reduzieren und womöglich strömungsmäßige Organisierung zu fördern“ (4), zurückgewiesen. Die  allgemeinen Anträge – etwa zur Gewerkschaftsarbeit – konnten leider nicht behandelt werden. Bedauerlich ist die „geringe Anzahl von ArbeiterInnen unter den Delegierten. Sorgen macht mir das deutlich gestörte Verhältnis zwischen DKP und SDAJ“ (5).

Diese innere Auseinandersetzung soll jedoch wieder in „Einheit“ umgesetzt werden. Daher wurde auch eine Kompromisskandidatin, Bettina Jörgensen, zur neuen Parteivorsitzenden gewählt. Keine der beiden „Strömungen“ will sich als wirkliche, offen deklarierte politische Fraktion mit eigener Plattform deklarieren. Das wird zwar nicht zum Verschwinden der Differenzen führen – wohl aber dazu, dass sie nicht politisch klar bestimmt werden.

Bei allen Unterschieden, die im Vorfeld und beim Parteitag sichtbar wurden, darf freilich nicht übersehen werden, was allen Strömungen in der DKP gemeinsam ist. Das kommt programmatisch in den beiden vom Parteitag verabschiedeten Dokumenten zum Ausdruck, das zeigt sich darin, dass beide Flügel wieder einmal einem reformistischen Programm zugestimmt haben, einem Forderungsprogramm, das die Partei wieder vereinen soll. Im Programm finden wir dann verschiedene Aktionsfelder und Zielvorgaben für die lokalen Parteigliederungen.

Im folgenden werden wir uns daher mit besonders mit diesen Beschlüssen beschäftigen, weil sie die grundlegenden Schwächen der DKP verdeutlichen. Wir werden dabei auch zeigen, dass der linke Flügel im Grund nur eine etwas linkere reformistische Strömung ist, die mit der grundsätzlichen Methode der DKP in keinster Weise gebrochen hat.

Als Arbeitermacht haben wir die DKP bislang als „links-reformistische“ Kraft eingeordnet, deren Hauptfelder „volksfrontartige“ Projekte wie die Friedensbewegung, Sozialforen und Attac darstellen, in denen die DKP sich pazifistischen und kleinbürgerlichen Führungen anpasst bzw. unterstellt. Die DKP ist Teil der Europäischen Linken (Beobachterstatus) und kooperiert oft mit der LINKEN in Deutschland.

Für uns als revolutionäre KommunistInnen muss die Auseinandersetzung mit dem Reformismus einen zentralen Platz einnehmen. Besonders in der BRD ist es der Reformismus in SPD, Gewerkschaften und der Linkspartei, der große Teile der organisierten Klasse bestimmt und somit den „Hauptfeind“ in den eigenen Reihen darstellt. Wenn es „richtungsweisende“ Diskussionen in der DKP gibt, wäre es sicher interessant, wie die eigene Politik gegenüber dem Reformismus reflektiert wird und wie die DKP sich vorstellt, dessen Herrschaft zu brechen.

Programm und Resolution

In „Aktionsorientierte Forderungsprogramm – Politikwechsel erkämpfen“ und in der „politischen Resolution“ gibt es zunächst eine Beschreibung/Analyse verschiedener Politikfelder. Die Angriffe von Kapital und Staat werden benannt und auch die derzeitig wichtigsten Gegenbewegungen. Oft wird der Aufbau breiter Allianzen und Bündnisse über alle sozialen und politischen Grenzen hinweg propagiert und dass die DKP die ArbeiterInnenklasse darin vertreten soll. Nach der Beschreibung der Situation folgt meist ein Forderungsmix, der Minimal- und Maximalforderungen kombiniert.

Klassenkampf und Reformismus

Richtigerweise erkennt die DKP an, dass während der Wirtschaftskrise das Kapital reaktionäre Lösungen wählt. Also steht die Frage, wie sich die Klasse und ihre Organisationen wehren sollen. Zu den Gewerkschaften stellt die DKP fest:

„Es wird viel davon abhängen, ob sich die Gewerkschaften in dieser Situation von Illusionen über Sozialpartnerschaft und Komanagement verabschieden, und stattdessen energischere Aktionen für ihre eigenen Forderungen nach Rücknahme der Rente mit 67, einem existenzsichernden Mindestlohn von mindestens 10 Euro/Stunde (…) entwickeln“. (6)

Natürlich betreiben die Gewerkschaftsführungen eine Politik der Sozialpartnerschaft und des Co-Managements. Es stellt sich aber die Frage, ob die Spitze darüber wirklich bloß Illusionen hegt? Vielmehr ist es doch so, dass die Spitze diese Illusionen in die Mitgliedschaft trägt. Diese Politik der Gewerkschaftsführungen hat ihre soziale Basis in der ins System integrierten Gewerkschaftsbürokratie, die sich ihrerseits auf die Arbeiteraristokratie stützt. Diese Klassenlage ist die Basis für eine Politik, die durchgehend seit 1914 in Deutschland und international für Klassenverrat verantwortlich ist. Die Tatsache, dass die Sozialdemokratie die Gewerkschaften bestimmt, wird so beschrieben:

„Ausdrücklich unterstützen wir das Prinzip Einheitsgewerkschaft auch gegen die nach wie vor anhaltenden Tendenzen zu einer sozialdemokratischen Richtungsgewerkschaft. Wir setzen uns für die einheitliche betriebliche Interessenvertretung ein, die auf einer demokratisch erarbeiteten Grundlage wirkt. Um den großen Herausforderungen im Kampf für den Erhalt sozialer Rechte und Leistungen wirksam zu entsprechen, ist es zwingend, breite Bündnisse zu schaffen, ohne jedwede Ausgrenzung.“ (7)

Während die schon 100 Jahre andauernde Herrschaft der Sozialdemokratie nur als „anhaltende Tendenz“ beschrieben wird, beschwört die DKP die Einheit auf demokratischer Grundlage im betrieblichen Kampf. „Einheit“ bedeutet hier die Akzeptanz der reformistischen Führung, eine Ablehnung jedes politischen Richtungskampfes in den Gewerkschaften. Dies ist klassische reformistische und stalinistische Schule. Der Begriff „Tendenz“ lässt darauf schließen, dass eigentlich mit den betrieblich-gewerkschaftlichen Kämpfen alles in Ordnung ist und nur etwas Verknüpfung mit den „sozialen Bewegungen“ nötig wäre, um die „sozialdemokratische Tendenz“ abzuschwächen. Indem die Klassenanalyse von reformistischen Führungen abgelehnt wird, verzichtet die DKP auch auf den programmatischen Kampf gegen die „Illusionen“.

Die abstrakte Gegenüberstellung zur „Einheit“ der Gewerkschaften ist politisch hohl. Gegen den Reformismus werden keine prinzipiellen Taktiken zu dessen Überwindung formuliert. Schließlich befindet sich die DKP ja am Ende auf gleicher programmatischer Grundlage.

Hier wird allein eine „Verteidigungsperspektive“ auf demokratischer Grundlage erörtert, keine Perspektive, wie in die Offensive zu kommen sei.

Es fehlt jede Analyse, warum die DGB-Gewerkschaften nichts getan haben, wie ihre direkte Funktion als Co-Manager aussieht und wie von der Basis dagegen angekämpft werden kann. Im Kern bedeutet die Einheits-Vorstellung der DKP, Verzicht auf Protest und Widerstand gegen den Reformismus und „demokratische“ Unterordnung unter die Führung. Vor allem lehnt die DKP seit Jahrzehnten die Formierung einer organisierten, anti-bürokratischen Opposition, eine klassenkämpferische Basisbewegung ab, die die Gewerkschaften der Bürokratie entreißen soll; die nicht nur für eine andere, klassenkämpferische Führung eintritt, sondern die auch die Gewerkschaften umgestalten soll, dass die Bürokratie als abgehobene Kaste von „Gewerkschaftsbeamten“ zerbrochen wird. Eine solche Strömung würde für alle Funktionäre Rechenschaftspflicht und jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit durch ihre Mitgliederbasis einführen; sie würde für alle hauptamtliche Funktionäre verlangen, dass ihr Entgelt auf einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn begrenzt wird.

All diese arbeiterdemokratischen Forderungen sind der DKP fremd. Sie fordert solche Maßnahmen nicht und kein einziger ihrer Funktionäre im Apparat hat je solche Prinzipien für sich anwenden wollen. Vielmehr verteidigt sie ihre politische Unterordnung unter die Gewerkschafts- und Betriebsratsbürokratie.

Dafür gibt es bei der DKP auch praktische Beispiele wie z.B. bei Daimler Berlin-Marienfelde, als ein DKP-Vertrauenskörperleiter den Ausschluss der oppositionellen „Alternative“-KollegInnen forderte. So  kämpfen Teile der DKP für die „Einheit“, indem sie praktisch die Kritik am reformistischen Kurs der IG Metall im Betrieb blockieren und damit letztlich dem Daimler-Management in die Hände spielen. Dieser Fall zeigte aber auch Risse auf. So forderte der DKP-Landesverband Berlin den Parteiausschluss des DKP-Betriebsrats. Eine richtige Forderung, die von der Gesamtpartei freilich scharf kritisiert wird. In dem gegen die Gruppe Arbeitermacht und den Artikel „Nach den Betriebratswahlen“ aus dem Jahr 2010 gerichteten Beitrag wettert die DKP-Zeitung UZ:

„In diesem Artikel, der sich mit den oppositionellen Betriebsratslisten beschäftigt, sie zu ‚zum Sammel- und Ausgangspunkt für eine klassenkämpferische Basisbewegung in den Betrieben und Gewerkschaften‘ hochstilisiert und die Produktionsarbeiter zu den Opfern des Ausverkaufs des ‚IG-Metall-Apparats‘ erklärt, heißt es unter anderem: ‚Hier verliert also der IG-Metall-Apparat die Kontrolle über einen – vorerst kleinen – Teil ihrer Kerntruppen. Diese AktivistInnen sind ein wichtiges Potential für eine oppositionelle Basisbewegung. Um dieses Potential zu nutzen, sind mehrere Dinge nötig: Die KollegInnen und Kollegen müssen gegen den Apparat verteidigt werden. Hier ist die Gewerkschaftslinke gefordert. Linke Apparatschiks, wie der VK-Leiter von Daimler-Marienfelde, der als DKP-Mitglied die Repression vorantreibt, müssen in der Linken geächtet werden!‘

In diesem Zusammenhang veröffentlichen wir den Beschluss der 10. Tagung des Parteivorstands der DKP vom 27./28. März 2010 in Essen, die sich mit diesem Thema beschäftigt hat: Der Parteivorstand der DKP bekräftigt die Aussagen der Erklärung des Sekretariats in der UZ vom 19. März 2010 ‚für starke und kämpferische Betriebs- und Personalräte‘, die sowohl auf historischen und aktuellen Erfahrungen sowie dem Parteiprogramm beruht.

Das Bekenntnis der DKP und ihrer Mitglieder zur Einheitsgewerkschaft ist Ergebnis der Lehren aus der Geschichte der Weimarer Republik, an deren Ende die Machtübertragung an die Faschisten auch wegen der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung nicht verhindert werden konnte. Es ist auch Konsequenz aus politischen Fehlern in der Frühzeit der BRD. Es ist keine Frage politischer Konjunktur und auch nicht davon abhängig, ob andere gegen das Prinzip der Einheitsgewerkschaft verstoßen oder nicht. Starke und einheitlich handelnde Betriebs- und Personalräte sind eine der Voraussetzungen für die Abwehr der Absichten von Kapital und Kabinett, die Lasten der Krise auf die Arbeitenden, die Rentner und die Jugend abzuwälzen. Als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter setzen sich die Mitglieder der DKP für die Stärkung der Listen der Einheitsgewerkschaften und für Persönlichkeitswahlen ein.

Das auch dort, wo in Belegschaften, Vertrauenskörpern und Betriebsräten sozialpartnerschaftliche und standortegoistische Positionen noch dominierend sind. In der Diskussion mit den Kolleginnen und Kollegen, auf Gewerkschafts- und Betriebsversammlungen führen sie einen konstruktiven Streit zur Durchsetzung klassenkämpferischer Positionen. Die Unterstützer einer zur IG Metall konkurrierenden Liste zu den Betriebsratswahlen bei Daimler in Berlin Marienfelde durch den Landesvorsitzenden und Teile des Landesvorstandes der DKP Berlin sowie im ‚Berliner Anstoß‘, die Zeitung der DKP-Landesorganisation Berlin, verstößt gegen Tradition und beschlossene Politik der DKP.“ (8)

Zustimmen können wir DKP-Führung nur beim letzten Halbsatz – die Verteidigung einer klassenkämpferischen Opposition – und sei es auch nur eine Keimform davon, gehört nicht zur Tradition der DKP, die selbst den IG-Metall-Apparat nur in Spiegelstrichen als solchen bezeichnen will. In Verteidigung des „Berliner Anstoß“ hält demgegenüber Rainer Perschewski fest:

„Faktisch haben wir heute bürgerlich-sozialdemokratisch geführte Richtungsgewerkschaf-ten mit einer Praxis, die tägliche Kleinarbeit verabsolutiert und objektive Interessen der Arbeiterklasse außer Acht lässt“. (9)

Neben diesem Zitat, das klar im Widerspruch zur „Tendenz“ weiter oben steht, finden wir noch manches Richtige, wie z.B. „dass die Einheit schon längst von der Betriebsratsmehrheit“ und deren Kollaboration mit der Geschäftsführung gebrochen wurde und nicht durch die „Alternative“-KollegInnen bei Daimler Berlin-Marienfelde.

Allerdings bleibt Perschewskis Kritik auch auf halbem Wege stehen. Eine grundsätzliche Umkehr von der tradierten DKP-Politik fordert auch er nicht. Das würe nämlich bedeuten, dass nicht die „Einheit“ der Gewerkschaften den Ausgangspunkt kommunistischer Gewerkschaftspolitik bilden kann, sondern die Umwandlung zu Instrumenten des Klassenkampfes. Das heißt aber, Kurs zu nehmen auf ihre Eroberung durch eine klassenkämpferische Führung. Dazu ist der Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition heute, in einer Situation, da revolutionäre KommunistInnen eine verschwindende Minderheit in den Gewerkschaften sind, ein entscheidende politische Taktik.

Die Frage, ob wir eine eigen Kandidatur oder eine Kandidatur als oppositionelle Liste gegenüber der Kandidatur auf der Gewerkschaftsliste vorziehen, ist eine taktische Frage, eine Frage des Kräfteverhältnisses. Generell sind wir dafür, dass in den Gewerkschaften des DGB politische Fraktionen offen auftreten können – und nicht so wie heute die verlogene „politische Neutralität“ gilt, die nur eine Mittel ist zur Sicherung des politischen Monopols der nicht deklarierten sozialdemokratischen Mehrheitsfraktion in den Gewerkschaften.

Die grundsätzliche Ablehnung eines Fraktionsrechts, des Aufbaus einer organisierten bundesweiten Opposition bedeutet im Grunde nur die stillschweigende oder offene Akzeptanz der sozialdemokratischen Führung – eine Position, die auch die Linken in der DKP letztlich teilen, auch wenn sie, wie im Falle Marienfelde, bereit sind, „Ausnahmen“ zu machen.

Die DKP-Führung fühlt sich daher mit ihrer Politik in der DKP auf sicherem Grund, weil auch die Opposition ihren Prämissen nichts entgegenzusetzen weiß.

In dieser Diskussion im Vorfeld des 19. Parteitages finden wir vom Parteivorstand meist nur Phrasen über Einheitsgewerkschaft und die Ablehnung der „RGO“-Politik durch die ultra-linken Periode der DKP. Sicher ist es richtig, die sektiererische KPD-Politik in der Weimarer Republik zu verurteilen, doch die DKP „überwindet“ diesen Fehler der stalinisierten KPD, indem sie ihn durch einen neuen ersetzt.

Die RGO-Politik bedeutete im Kern, eigene „rote“ Gewerkschaften zu gründen, d.h. dem politischen Kampf gegen den Reformismus auszuweichen, indem man sich von den reformistischen Massengewerkschaften, also auch von der Masse der ArbeiterInnen selbst, isolierte.

Die DKP will demgegenüber richtigerweise in der Massengewerkschaft DGB verbleiben, lehnt es jedoch ab, darin einen politischen Kampf gegen den Reformismus zu führen.

Die von der Komintern unter Führung von Lenin und Trotzki erarbeitete Politik zeichnete sich dadurch aus, dass sie den politischen Kampf um die Massen bei den Massen führen wollte. Die RGO-Politik entfernte sich von den Massen, die DKP entfernt sich vom politischen Kampf.

Über das Programm der Gewerkschaft finden wir dann bei der DKP auch wenig. Oft werden die objektiven Verhältnisse als Grundlage erwähnt, als wenn sich daraus schon ein Programm ergeben würde – Ökonomismus als Lösung?

Wenn die DKP nicht darauf zurück fallen will, muss sie schonungslos die politische Ausrichtung der herrschenden politischen Kräfte analysieren und daraus ableiten, inwieweit die Gewerkschaften derzeit eine klassenkämpferische Taktik anwenden – und wenn nicht, wie das geändert werden kann. Beschwören der „Einheit“ oder falsche „Lehren aus der Weimarer Republik“ helfen uns nicht bei der Analyse der größten ArbeiterInnenorganisation 2011 – des DGB.

Warum wohl haben die Einheitsgewerkschaften den Kampf gegen die Agenda 2010, die Rente mit 67, die Bankenrettung usw. nur halbherzig betrieben? Nicht wegen der Illusionen, sondern weil „ihre SPD-Genossen“ ja regierten!

2003 war die DKP Teil der Novemberdemo gegen die Agenda 2010-Pläne, welche dann vom DGB mit einer Großdemo im April 2004 wieder beerdigt wurde. Seitdem hat die DKP sich fast vollständig aus der Gewerkschaftslinken zurückgezogen und marschiert brav neben der LINKEN-Fraktion. Beide zusammen ordnen sich der SPD-Herrschaft unter, dürfen gegebenenfalls auch mal den linken Flügel einnehmen (zusammen mit Antifa und Zentristen). Solange sie dem Vorstand folgen, dürfen sie weiterhin als nützliche Idioten dabei sein. Nur Teile der gewerkschaftlichen Linken verhalten sich solidarisch zu oppositionellen Gruppen oder Listen. Nur wenige arbeiten aktiv an einer strategischen Opposition zur SPD – die DKP tut zumindest beides nicht.

Obwohl die DKP richtigerweise allen Ortsgruppen und Gliederungen die Empfehlung gibt, sich aktiver an der Betriebsarbeit zu beteiligen, um die Betriebe herum soziale Bündnisse/Foren aufzubauen, so fehlt doch komplett mit welcher Taktik gegen den „Hauptfeind“, die organisierte Sozialdemokratie, gekämpft werden muss.

Dies war schon die Politik der stalinistischen Satellitenparteien: im Titel den Kommunismus und im Programm Kollaboration mit dem Reformismus und dem Kleinbürgertum. 2006 von der „Rifundazione“ in Italien unter Ministerpräsident Prodi sogar in der Regierung eines imperialistischen Staates exekutiert, so wie zuvor schon die PCF in den 80er Jahren in Frankreich. Davon ist die DKP zwar weit entfernt, aber in der Praxis des Kampfes gegen die Agenda 2010-Politik der SPD hatte die DKP keine Opposition in den Gewerkschaften entgegen zu setzen.

Über die Aktivität und den Widerstand sozialer Bewegungen gegen die Krisenpolitik von Kapital und Staat schreibt die DKP:

„Anders als es manche zunächst erwartet hatten, hält sich der Widerstand dagegen und der Kampf für einen demokratischen Ausweg, für gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale und politische Alternativen jedoch nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in anderen Ländern bislang in Grenzen“. (10)

Hier stellt sich die Frage, von wem sich die DKP konkret mehr erwartet hatte – von der mit Abwrackprämie, Kurzarbeit und Standortsicherung? Und wenn ja, wurden mehr betriebliche Kämpfe erwartet oder von der DKP genutzt? Fakt bleibt, dass die offiziellen Bemühungen um einen „Abwehrkampf“ derzeit ungenügend sind. Doch was schlägt die DKP für die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zur Überwindung dieses Zustands vor?

„In den Gewerkschaften ist dafür zu wirken, dass sie sich zum Kern einer solchen außerparlamentarischen Bewegung entwickeln. Das Eintreten der Gewerkschaften gegen die Aushöhlung und für eine Einlösung des ‚Sozialstaatsprinzips‘ des Grundgesetzes muss unterstützt werden“. (11)

Die DKP schlägt somit vor, das System der Klassenkollaboration, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war – den westdeutschen Sozialstaat – zu verteidigen. Nur dass selbst dafür die reformistischen Führungen bekämpft werden müssen, ist ihr nicht klar. Schließlich haben die Gewerkschaften gegen die Agenda 2010, gegen die Rente mit 67 usw. außer wenigen formalen Protesten nichts getan. Sie haben ihre Vorstellung vom „Sozialstaat“ immer mehr den Vorstellungen des Kapitals angeglichen.

Stellt sich noch die Frage, welches Verhältnis die deutschen Gewerkschaften eigentlich zur außerparlamentarischen, zur „linken“ Bewegung haben? Derzeit sind die Gewerkschaften sehr weit davon entfernt, so etwas wie ein Kern der außerparlamentarischen Bewegung zu sein. Im Gegenteil:  die Gewerkschaften sind fester Bestandteil der parlamentarischen Ordnung. Etliche führende Mitglieder sitzen für die SPD im Parlamente, ein paar auch für die Linkspartei, die Grünen und die Union. Wenn die DKP dafür wirken will, dass die Gewerkschaften das ändern, muss sie auch hier einen Kampf aufnehmen – gegen die parlamentarische Hörigkeit der DGB-Gewerkschaften.

Wie gemeinsam kämpfen?

Wie jede linke Organisation stellt sich auch die DKP die Frage, wie mehr Menschen mobilisiert werden können, wie dem faulenden Kapitalismus eine Alternative entgegen gestellt und wie er überwunden werden kann.

„Ein Politikwechsel ist nur möglich, wenn sich dafür Bündnisse, Allianzen verschiedener sozialer und gesellschaftlicher Kräfte, in denen die Arbeiterklasse die entscheidende Kraft sein muss, formieren, die zudem über den einzelnen Anlass hinaus mittel- bzw. langfristig arbeiten und für eine soziale und demokratische Wende in der Entwicklung der BRD und EU-Europas eintreten“. (12)

Abgesehen davon, dass hier eine Perspektive nur für Europa entwickelt wird, finden wir hier die Bündnisvorstellungen und können diese auch anhand der konkreten Politik der DKP bewerten.

Mit „verschiedenen sozialen Kräften“ sind tatsächlich klassenübergreifende Bündnisse gemeint. Als „anti-monopolistische“ Partei integriert dieser Volksfrontansatz das Kleinbürgertum und auch Teile des Kapitals, die „Nicht-Monopolisten“.

Für uns KommunistInnen sollen Bündnisse – Aktionseinheiten und Einheitsfronten – der Einigung der Arbeiterklasse gegen das Kapital dienen. Daher richtet sich die Einheit nicht an irgendeine „soziale Breite“, sondern an Organisationen der Arbeiterbewegung. Wir richten sie an Gewerkschaften, Organisationen und Parteien der Arbeiterklasse (auch die reformistischen!), Erwerbslosenorganisationen u.a. Organisationen der Arbeiterklasse.

Natürlich heißt das nicht, dass wir nicht-proletarischen Organisationen dabei verwehren zu mobilisieren, aber das Ziel der Einheitsfront ist primär die Herstellung der Klasseneinheit, nicht eine klassenübergreifenden Allianz.

Zweitens geht es bei der Einheitsfront darum, in der Aktion, um die Festlegung gemeinsamer Ziele und Kampfmethoden, ohne dabei die politischen Differenzen zu verwischen oder auf die Kritik an reformistischen „Partnern“ zu verzichten. Daneben sollen Bündnisse aber auch durch innere Propagandafreiheit gekennzeichnet sein, damit auch der politische Feind in den eigenen Reihen bekämpft werden kann.

Die Methode Lenins bezüglich der Einheitsfront zielte genau auf die Einheit der Klasse, der verschiedenen Sektoren und Schichten in der Aktion. Dies bedeutet aber bei Lenin nicht, dass die KommunistInnen dann die politische Herrschaft des Reformismus akzeptieren, im Gegenteil: sie müssen die Einheitsfront nutzen, um den Reformismus vor seiner Basis zu entlarven und für ein revolutionäres kommunistisches Programm zu kämpfen.

So gehen KommunistInnen in Bündnisse und bieten ihre Zusammenarbeit auch an, um ihr Programm und ihre Forderungen zu verbreiten. Erst wenn dies erfolgreich war, wenn die Avantgarde der Klasse und der sozialen Bewegungen ein revolutionäres Programm erarbeitet hat, dann kann sie auch anderen sozialen Kräften – wie dem Kleinbürgertum – ein Angebot zur Zusammenarbeit machen, wobei diese anderen Kräfte das revolutionäre Programm und die Führung der Arbeiterklasse akzeptieren müssen.

Die bundesdeutsche Realität in punkto Einheitsfronten ist allerdings oft ein Hohn auf Lenins Vorstellung. In fast allen Bündnissen, Aktionseinheiten und Mobilisierungen ist die Herrschaft des Reformismus und der kleinbürgerlichen Ideologien ungebrochen, u.a. weil sie von den diversen Linken oft gar nicht bekämpft wird.

Die Bündnispraxis der DKP

Aktuell sind für die DKP die Friedens- und Sozialforen-Bewegung sowie Attac die Hauptinterventionsfelder ihrer Bündnisarbeit. Allen gemeinsam ist die Ferne zu einem revolutionären Programm oder einer kämpferischen Praxis. Ebenso ist die organisierte Arbeiterklasse dabei nicht die bestimmende Kraft. Bei den Sozialforen erlebten wir in den letzten Jahren eine immer schärfere Wendung nach rechts. Gewerkschaftsbürokratie, Linkspartei und Kleinbürgerliche bestimmen das Bild. Es ist lange her, als ein Sozialforum aktiv gegen Hartz IV mobilisierte (ein Sternmarsch 2005 in Erfurt). Diese Bewegung ist in Deutschland weder wirklich angekommen, noch hat dies die sozialen Bewegungen befördert. 2009 wurde beim Sozialforum in Hitzacker (nur 500 TeilnehmerInnen!) aktiv für einen „new green deal“ eingetreten und der ehemalige DKP-Grande Hugo Braun (heute attac ko-kreis) versprach sich davon einen „Weg zum Sozialismus“. Bei den Sozialforen ist der aktive soziale Widerstand verebbt. Nur einzelne Erwerbsloseninitiaven werben für das „Bedingungslose Grundeinkommen“, andere für die „Zivilgesellschaft“, für Vernunft und Gerechtigkeit. Die Gewerkschaftsführung schickt stets einen „linken“ Bürokraten zur Finanzierung und zum Abnicken zum Forum. Die Basis wurde eigentlich fast nie gesichtet. Die „Gesandten“ werben dann noch für ein, zwei gewerkschaftliche Aktionen und reisen dann meist zum nächsten Termin.

Gegen diese Politik fällt nicht nur der DKP nichts ein. Auch verschiedene zentristische Organisationen hängen sich entweder an die Bürokraten und Kleinbürger oder verzichten ganz auf eine Intervention oder Vorschläge fürs Sozialforum.

Die Friedensbewegung

Ähnliches kann auch über die Friedensbewegung gesagt werden. Neben einem plakativen Pazifismus und einer völkerrechtlichen Moral gibt es dort keine Methoden und Taktiken gegen Militarismus und Imperialismus. Hier ist die DKP eine führende programmatische Kraft. Das drückt sich darin aus, dass die DKP das pazifistische Programm übernommen hat. Zum Thema Krieg gibt es folgende Passagen aus dem Parteiprogramm und den Dokumenten vom letzten Parteitag:

„Der von ihnen (die USA, d. Verf) dominierte aggressive Militärpakt NATO setzt sich rigoros über das Völkerrecht hinweg, souveräne Staaten, die sich nicht seinem Diktat beugen, werden bombardiert oder okkupiert.“ (13)

„Unser Ziel ist die völlige Auflösung der NATO, die Entmilitarisierung Deutschlands und der Europäischen Union. Weder Deutschland, weder die USA, noch die EU-Staaten werden von irgendeinem Land der Welt militärisch bedroht.“ (14)

Entscheidend ist aber, dass der Imperialismus andere Staaten bedroht, wie im ersten Zitat erwähnt. Dabei muss auch klar sein, warum der Imperialismus das tut. Der bekannte Ausspruch von Karl Liebknecht „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ und der revolutionäre Defätismus der Bolschewiki und der frühen KPD hat auch heute noch Bestand – die Frage ist nur, ob als Programm oder nur als Phrase.

Imperialistische Staaten, die auf Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung über die Arbeiterklasse und unterworfene Völker herrschen, brauchen das Militär, um diese Herrschaft zu sichern und auszubauen. Dafür brauchte es nie eine sonderliche Bedrohung. Das stehende Heer ist Erfindung des bürgerlichen Staates zur Umsetzung direkter Klasseninteressen und -herrschaft gegen das Proletariat. Das Gewaltmonopol, die bewaffneten „Arme“ des Staates, all dies dient letztlich dazu, um die Klassenherrschaft durchzusetzen. Was die Hauptbedrohung für die Imperialisten ist, dürfte  auch klar sein: ein revolutionäres und militantes Proletariat.

Diese Zusammenhänge finden in der Friedensbewegung zwar Erwähnung, aber wenig Umsetzung in konkrete Politik. Stattdessen beruft sich die Friedensbewegung, quasi als letzter Apostel der bürgerlichen Rechte auf das Völkerrecht und die Beschaffenheit der UNO, die anscheinend für den Schutz und für den Frieden Verantwortung tragen soll. Somit ist dann auch das Bündnis geschaffen für diejenigen, die einen „gerechten“ Krieg unter UN-Mandat propagieren wie Grüne, SPD und die Linkspartei. Ihnen wird zumindest nicht offen widersprochen. Diese tw. krude Mischung innerhalb der Bewegung ist dann für Kundgebungen verantwortlich, bei denen die kirchlichen Pazifisten als radikalste KriegsgegnerInnen auftreten können und die akademische Intelligenz sich beklagt, dass die von der Bundeswehr ausgebildeten afghanischen Soldaten danach ja gegen die Besatzung kämpfen würden.

Als ein weiteres Beispiel zitieren wir hier aus dem „Aktionsprogramm Friedenspolitik“ des Bundesausschusses „Friedensratschlag“:

„Die privatwirtschaftlich organisierte Rüstungsindustrie ist am Gewinn interessiert und kennt weder Moral noch politische Verantwortung. Die hoch gefährliche Rüstungsindustrie muss verstaatlicht und gezielt auf die Produktion nützlicher ziviler Güter umgestellt werden (Konversion). Der Staat als 100-prozentiger Abnehmer der produzierten Waffen und militärischen Geräte trägt auch die Verantwortung für die Umstellung der Rüstungsproduktion bei Erhalt der Arbeitsplätze.“ (15)

Wären wir besonders spitzfindig, würden wir die Frage stellen, wie denn eine „moralische“ und „politisch verantwortungsvolle“ Rüstungsindustrie im Kapitalismus aussehen könnte, oder warum es denn mit der Moral bei einer kapitalistischen Profitwirtschaft nicht so hinhaut. Noch interessanter ist aber, wie denn eine Verstaatlichung konkret aussehen, durch wen sie durchgesetzt würde. Dazu finden wir nichts.

Ebenfalls ist unklar, welcher Staat denn 100%-Abnehmer der produzierten Waffen sein würde – ist es ein imperialistischer Staat. Dann unterstützt diese Forderung implizit eine Aufrüstung, bis dieser Staat dann „freiwillig“ auf zivile Produktion umstellt? Solche Fragen nicht zu beantworten oder sie offen zu lassen, heißt, den Klassencharakter des Staates nicht zu erkennen und diesen – bewusst oder unbewusst – als „neutralen“ Verwalter darzustellen, der nur „bessere, vernünftigere“ Ziele benötigt. Warum auch ausgerechnet dieser Staat die Produktion neu ordnen soll, erscheint schleierhaft. Schließlich ist dieser Staat auch Organisator von Niedriglohn und Arbeitslosigkeit. Mit keinem Wort wird die Arbeiterklasse benannt, die eine solche Neuordnung organisieren könnte. Weitere Ziele sind die „Delegitimierung der NATO“ sowie der Austritt Deutschlands aus der NATO. Mit dieser – an sich richtigen – Forderung wird allerdings suggeriert, dass der deutsche Imperialismus ohne NATO-Mitgliedschaft friedlicher wäre. Doch der Klassencharakter und die Klasseninteressen ändern sich nicht in Abhängigkeit von Mitgliedschaften in Bündnissen.

Mit dieser Aushöhlung jeglichen marxistischen Staatsverständnisses integriert die Friedensbewegung Teile des Kleinbürgertums, pazifistische Gruppen und besonders Teile der Grünen.

Damit wird die Illusion aufrecht erhalten, dass der „demokratische Staat“ neutral wäre und es nur an der politischen Ausrichtung der Exekutive läge, ob ein kapitalistischer Staat auch mal die Rüstungsindustrie verstaatlichen würde. Doch unterstellen wir, er würde dies unter dem Druck einer Bewegung tun – was durchaus möglich wäre -, so würde sich daraus sofort die Frage ergeben, wer den bürgerlichen Staat zur Konversion, zum Umstellung von Rüstungsproduktion o.ä. zwingt? Unsere Antwort darauf ist, dass die Forderung nach Verstaatlichung dieser Industrien mit dem Kampf um Arbeiterkontrolle verbunden werden muss. Doch genau davon will die DKP nichts wissen.

Wer Illusionen in den bürgerlichen Nationalstaat hegt, der hegt sie folgerichtig auch gegenüber auf internationaler Ebene. Das Völkerrecht und die UNO gelten als moralische, demokratische Instanzen, welche globale Friedenspolitik gewährleisten könnten. Wenn also DKP, SPD, Grüne und die Linkspartei Militäreinsätze nur mit UN-Mandat fordern, ordnen sie sich der bürgerlichen Grundorientierung der Bewegung und damit den Klasseninteressen der Bourgeoisie unter.

Die lange Geschichte des Sozialchauvinismus von SPD und Grünen aufzuzählen, ist hier müßig, bei der LINKEN lohnt ein Blick darauf. Aus dem „Nein“ zum Afghanistan-Krieg wurde eine teilweise Enthaltung zu Einsätzen im Sudan. Ein „Ja“ zu UNO-Einsätzen wurde noch nicht gefordert, aber vielleicht gibt die Situation in Nordafrika und Arabien die Möglichkeit für die LINKE, endlich für einen „guten“ Krieg zu stimmen.

Dies alles ist integrierbar in die jetzige Friedensbewegung. Außer Pazifismus und Zustimmung zu UN/NATO-Kriegen zu frönen, hat dieses Sammelsurium nie eine aktivistische antimilitaristische Praxis bedeutet. Stattdessen wurde die Bewegung zum Wahlhelfer für Reformisten und Kleinbürgerliche (zuletzt 2002 vor dem Irakkrieg) und die Ferne zur Arbeiterklasse oder zur Jugend wird bei jedem Ostermarsch deutlich.

Als akademisches Vehikel dient dabei attac ebenso wie als Bindeglied zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen. Dort ist auch die DKP gut integriert, teils durch ehemalige AktivistInnen oder über Sozialforen und die Friedensbewegung. Wie in den anderen Bündnissen ist die DKP auch bei attac weit davon entfernt, dort revolutionäre Positionen zu vertreten. Stattdessen wird auch bei attac eine kleinbürgerliche und reformistische Führung akzeptiert und gestützt.

Die „antimonopolistische“ Bewegung

Die Methode hinter der Überschrift und die daraus resultierende Taktik stellen eine der entscheidenden Deformationen des wissenschaftlichen Sozialismus durch den Stalinismus dar. Zu dieser Methode (der Volksfront) schreibt die DKP:

„Im Parteiprogramm der DKP haben wir hervorgehoben, dass der Weg, antimonopolistische Forderungen durchzusetzen, antikapitalistische Positionen mehrheitsfähig und durchsetzungsfähig zu gestalten, nicht einfach und geradlinig ist, sondern einen langen Arbeits- und Kampfprozess erfordert.“ (16)

Und weiter: „Aktionseinheits- und Bündnispolitik, die Schaffung von gesellschaftlichen Allianzen verlangt von uns die kreative politische Anwendung der Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus, die Fähigkeit des Zuhörens und das Auseinandersetzen mit anderen Positionen, aber auch die Fähigkeit von anderen zu lernen.“ (17)

Wenn wir die Volksfront-Taktik als klassenübergreifend bezeichnen, so wird das hier besonders im Begriff „antimonopolistisch“ deutlich. Dadurch sollen möglichst breite Teile des Kleinbürgertums wie auch nicht-monopolistische Kapitale für die antikapitalistische Bewegung gewonnen werden. Schließlich presst das Monopolkapital auch aus diesen Schichten Profit, so dass nach stalinistischer Vorstellung diese Schichten auch ein gemeinsames Interessen am „anti-monopolistischen“ Kampf gegen das Proletariat teilen würden.

Dieser Taktik folgend, erlitt die Arbeiterklasse weltweit stets große Niederlagen, welche hier darzustellen zu viel Raum einnehmen würde. Aber beispielhaft soll hier an den gescheiterten Kampf gegen den Faschismus in den 1930ern erinnert werden, insbesondere an die Ergebnisse der Volksfrontpolitik in Frankreich und Spanien.

Natürlich wird es für das Proletariat in einer revolutionären Situation wichtig, wie das Kleinbürgertum, die Mittelschichten reagieren. Deswegen sollte die revolutionäre Partei auch stets ein Programm entwickeln, welches möglichst breite Teile des Kleinbürgertums integrieren kann.

Doch das Angebot der Volksfront à la DKP ist gleichzusetzen mit der Preisgabe des politischen Kampfes in einem Bündnis – des Kampfes um die politisch-revolutionäre Führung, während die persönliche, postenbezogene Führung durchaus erreicht werden mag. Die DKP sucht stets das „Einende“. Diesem „Minimal-Konsens“ wird dann fast jede politische Kritik geopfert – mehr noch: die gesamte Ausrichtung und die Aktionsmethoden werden auf eine harmlose und für den Klassengegner letztlich ungefährliche Richtung justiert.

Statt Blockaden, Streiks u.a. wirksamen Aktionen gibt es nur Demonstrationen und symbolische Aktionen. Statt der Orientierung auf die Arbeiterklasse, die zu gewinnen unumgänglich ist, um eine quantitativ starke Bewegung zu formieren, die auch die Kraft hat, Streiks und Blockaden überhaupt durchzuführen, passt man sich dem Kleinbürgertum und den Mittelschichten an. Das Fatale dabei ist, dass selbst dort, wo die DKP eine führende Rolle in der Bewegung spielt, sie auch keine andere Politik vorschlägt oder umsetzt als attac oder die Grünen.

In der Praxis ist die DKP in diesen Bewegungen nicht bemerkbar. Die GenossenInnen treten allein im Namen der Bewegung auf, schützen kleinbürgerliche und reformistische Positionen und agieren als deren Anhängsel.

Zuletzt war dies auch bei den Protesten gegen S21 sichtbar. Als „antikapitalistische Plattform“ (zusammen mit autonomen, libertären Kräften) wollten sie nicht nach außen auftreten. Stattdessen waren sie brav im K21-Bündnis unter ihrem ehemaligen Genossen und nun-mehrigen Sprecher der GegnerInnen von Stuttgart 21, Stocker, aktiv und traten nicht in Opposition zu den Grünen, welche die Bewegung mit der Schlichtung demobilisierten.

Ihre Praxis und ihr Programm verdeutlichen, wie weit die DKP von einer kommunistischen Politik entfernt ist, wie dominant reformistische und kleinbürgerliche Vorstellungen sind. Wie und warum KommunistInnen in Bündnisse gehen und welche Politik sie dort verfolgen sollten, wollen wir hier kurz anhand von Zitaten aus Beschlüssen der Komintern zwischen dem 3. und 4. Weltkongress darlegen:

„Das Problem der Einheitsfront ergibt sich aus der Notwendigkeit, ungeachtet der aktuell unvermeidlichen Spaltung der politischen Organisationen, die sich auf die Arbeiterklasse stützen, dieser die Möglichkeit der Einheitsfront im Kampfe gegen die Kapitalisten zu sichern. Wer diese Aufgabe nicht begreift, für den ist die Partei eine Propagandagesellschaft und nicht eine Organisation der Massenaktionen (…)

Hätte die Kommunistische Partei nicht radikal und unwiderruflich mit der Sozialdemokratie gebrochen, so wäre sie niemals zur Partei der proletarischen Revolution geworden. Würde die Kommunistische Partei nicht nach organisatorischen Wegen suchen, um in jeder Situation aufeinander abgestimmte, gemeinsame Aktionen der kommunistischen und nichtkommunistischen (darunter auch sozialdemokratischen) Arbeitermassen zu ermöglichen, so würde sie damit nur ihre Unfähigkeit offenbaren, auf Grund von Massenaktionen die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern.“ (18)

Und weiter: „Wir haben, abgesehen von allen anderen Erwägungen, das Interesse, die Reformisten aus ihren Zufluchtsstätten herauszuholen und sie neben uns vor der kämpfenden Masse aufzustellen. Bei richtiger Taktik können wir dabei nur gewinnen. Der Kommunist, der davor zaudert oder sich fürchtet, ähnelt einem Schwimmer, der Thesen über die beste Schwimmtechnik akzeptiert, aber nicht riskiert, sich ins Wasser zu stürzen. Indem wir mit den übrigen Organisationen ein Abkommen treffen, erlegen wir uns selbstverständlich eine gewisse Aktionsdisziplin auf. Doch kann es hier keine absolute Disziplin geben. In dem Augenblick, da die Reformisten den Kampf zum Schaden der Bewegung oder im Gegensatz zur Lage und zur Stimmung der Massen zu bremsen beginnen, wahren wir uns als unabhängige Organisation stets das Recht, den Kampf bis zum Ende und ohne unsere zeitweiligen Halbverbündeten zu führen.“ (19).

Wenn wir beim letzten Bild verweilen, so müssen wir heute feststellen, dass die Volksfront-Methode es geschafft hat, den Schwimmer in die Wüste zu stellen. Diese leninistische Begründung der Einheitsfront zeigt nochmals deutlich auf, was eine kommunistische Partei zu tun hat – den politischen Gegner innerhalb der Klasse zu schlagen und die Masse für ein revolutionäres Programm zu gewinnen – wozu sonst wäre sie auch da?!

Programm und Perspektiven der DKP

Damit wären wir beim Hauptproblem angekommen: Das „Aktionsorientierte Forderungsprogramm“ als Ergänzung zum Programm von 2006 ist kein revolutionäres Programm. Es ist ein links-reformistisches Minimal-Maximal-Programm mit einigen zivilgesellschaftlichen und kleinbürgerlichen Fallen und einer Volksfront-Methode.

So sind diese Dokumente auch nicht geeignet, eine konkrete Perspektive zu weisen – weder zur Zerschlagung des Kapitalismus noch zur Organisierung der Klasse oder für den Kampf gegen die Angriffe von Kapital und Staat. Am Ende der „Politischen Resolution“ heißt es:

„Ohne eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird es keine Demokratie, keinen Frieden, keine Zukunftslösungen im Sinne der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land und international geben. Der Kapitalismus muss überwunden werden!“ (20)

Wenn am Ende auf Demokratie und Frieden verwiesen wird, kommt dies schon Grünen-Programmen der 80er nahe. Mit dem Überwinden des Kapitalismus ist die DKP zwischen attac (Eine andere Welt ist möglich) und den Autonomen (Kapitalismus abschaffen) angekommen. Einige Absätze zuvor wird erwähnt, dass die DKP mit der Arbeiterklasse für eine sozialistische Gesellschaft kämpfen will. Zumindest wird auf vergesellschaftete Produktionsmittel verwiesen – allerdings auch auf eine „öffentliche“ Kontrolle, bei der unklar bleibt, welche Rolle die Arbeiterklasse dabei einnimmt. Keine Rede ist vom Aufbau von Arbeiterräten, von der Organisierung der Massen in Räten und Komitees in Betrieben, Stadtteilen und Schulen. Stattdessen wird von einem anzustrebenden „revolutionären Prozess“ gesprochen, um ein System „jenseits der kapitalistischen Profitwirtschaft“ aufzubauen. Zunächst, sozusagen als „mittelfristiges Ziel“, reicht aber ein „Politikwechsel“.

Wir finden in der Resolution auch ein Beispiel dafür, wie die DKP sich das Eintreten für den Marxismus vorstellt. Danach gehört es zu den eigenen Aufgaben, „für einen stärkeren Einfluss des Marxismus und die Entwicklung von Klassenpositionen in Bewegungen und Gesellschaft zu wirken. Dazu wird die DKP besonders die sozialen Menschenrechte wie das von der UN-Vollversammlung 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschlossene Recht auf Arbeit propagieren.“ (21)

Ob und vor allem für welche Klassenpositionen die DKP wirkt, lässt sich in der Praxis ihres Eingreifens in der Friedensbewegung, in attac usw. sehen. Die DKP vertritt dort reformistische und versöhnlerische Positionen gegenüber Bürokratie und Kleinbürgertum. Welche Form von „Marxismus“ das ist, hatte schon Rosa Luxemburg erkannt. Bei ihr hieß das „Revisionismus“. Der Marxismus ist keine Wissenschaft der Menschenrechte, sondern des revolutionären Kampfes des Proletariats. Der Marxismus will kein abstraktes „Recht auf Arbeit“, er zielt auf die Aneignung der Produktionsmittel und die Selbstverwaltung der Arbeit durch die ProduzentInnen und KonsumentInnen – das ist die historische Klassenposition, die von keiner UN-Vollversammlung umgesetzt werden wird.

Dieses Programm lässt nur zwei Perspektiven für die DKP offen: entweder die Unterordnung unter die Politik der LINKEN oder als „linkes“ Anhängsel in den sozialen Bewegungen und in den Gewerkschaften. Als kommunistische Partei ist diese DKP nicht wahrnehmbar.

In den Bewegungen ist die LINKE inzwischen stärker präsent. Gemeinsame Wahlantritte waren nicht zum Vorteil der DKP, sondern fügten ihr Niederlagen bei Kommunalwahlen zu (speziell in NRW). Vor allem verfügt die DKP über keine Taktik gegenüber der LINKEN. Eine Ursache für dieses Manko ist eine oberflächliche, ja falsche Einschätzung der LINKEN:

„Noch ist offen, wohin sich „Die Linke“ entwickeln wird; dies wird auch davon abhängen, wie sich die linken Kräfte außerhalb dieser Partei entwickeln und organisieren“. (22)

Die LINKE hat auch 5 Jahre nach ihrer Gründung noch immer kein Parteiprogramm – dies ist das Einzige, was in gewissem Sinne „offen“ ist. Klar ist aber, wohin die Reise gehen wird. In Berlin und Brandenburg exekutiert(e) die LINKE bürgerliche Regierungspolitik an der Seite der SPD. Auch in NRW stimmten manche Abgeordnete mit der rot/grünen Minderheitsregierung, obwohl sie nachher nicht wissen wollten, worum es ging. Insgesamt soll die neue Führung Lötzsch/Ernst den angestrebten Kurs von Gysi/Lafontaine weiterführen – die LINKE soll regierungstauglich sein. Neben den ostdeutschen Landesverbänden sind es v.a. die Gewerkschaftsfunktionäre, Ex-SPDler und Grüne, die diesen Weg eingeschlagen haben. Die innerparteiliche Opposition ist schwach und versucht, mit den Phrasen Lafontaines Abstimmungen zu gewinnen. Dünner könnte das Eis für die „Linken“ in der Linkspartei gar nicht sein. Die verschiedenen linken Strömungen, ob Kommunistische Plattform (KPF), die AKL, die sozialistische Linke etc. dienen zum Teil zentristischen Organisationen, um in der LINKEN anzukommen oder stellen einfach nur innerparteiliche Seilschaften dar (KPF). So schaffen es sogar die Ex-LinksrucklerInnen (heute Marx21) in den Bundestag. Eines haben alle diese Strömungen gemeinsam: sie nehmen nicht den politischen und programmatischen Kampf gegen den traditionell reformistischen Flügel auf, der heute die Partei führt. Es gibt kein Verständnis, als gemeinsame Fraktion zu kämpfen wie es auch keine Bewegung von „außen“ in die Partei hinein gibt, welche die linkeren Kräfte nutzen könnten.

Inzwischen ist auch klar, dass die Bewegung von 2004/05 um die Fusion und die Gründung der WASG im Westen merklich abgenommen hat. Während dieser Zeit gelang es durchaus, AktivistInnen aus dem Erwerbslosenbereich, den „Globalisierungsgegnern“ und der „radikalen Linken“ für die WASG und die Formierung der Linkspartei zu gewinnen. So war die Frage der Regierungsbeteiligung stets ein umkämpftes Thema in dieser Phase. Aber keine Partei oder Organisation war willens oder in der Lage (bei manchen auch beides), eine innerparteiliche sozialistische und klassenkämpferische Strömung/Fraktion aufzubauen. Die meisten Organisationen versuchten nur, ihr Schäfchen ins Trockene zu bekommen. Dazu ordneten sie sich dem Linksreformismus von Ernst und Co. unter.

Das Netzwerk Linke Opposition (NLO) war zu dieser Zeit eine der wenigen Strukturen, welche versuchten, die Fusion auf einem reformistischen Programm zu bekämpfen und eine klassenkämpferische und sozialistische Perspektive zu weisen. Die meisten Linken, darunter die SAV, lehnten das ab und verschwanden nach einiger Zeit in die Linkspartei.

An diesen Prozessen nahm und nimmt die DKP erst gar nicht teil. Stattdessen gibt es für die DKP „keine Alternative“ zur Zusammenarbeit mit der Linkspartei, auch aufgrund einer weiteren „Rechtsentwicklung“ in der Gesellschaft, welche wiederum eine stärkere Einheit aller „Linken“ erfordere. Wenn wir das zu Ende denken, können wir nur hoffen, dass Deutschland von rechtspopulistischen/extremen Wahlerfolgen wie in den Niederlanden, Belgien, Ungarn, Schweden etc. verschont bleibt. Nach der DKP-Methode würden wir dann wahrscheinlich keine Alternative zur Zusammenarbeit mit allen „Demokraten“ haben – auch hier schlägt wieder die stalinistische Volksfront durch.

Natürlich haben wir einen zunehmenden Rassismus in Deutschland. Eine antifaschistische Gegenwehr lässt sich aber nicht durch eine Unterwerfung gegenüber dem Reformismus erkämpfen, sondern allein durch die aktive Mobilisierung in der Arbeiterklasse gegen Standortnationalismus und für damit die einhergehende Überwindung der Spaltung entlang ethnischer, rassischer und nationaler Linien in der Klasse.

Da die DKP sich in der Erbfolge der KPD sieht, wäre gerade aus dem Kampf gegen den Faschismus einiges zu lernen gewesen. Allerdings hat die „Reflektion“ der Politik der KPD mal gerade zum Gegenteil ihrer Taktik geführt. Vertrat die KPD in ihrer ultra-linken Periode die These vom „Sozialfaschismus“ gegenüber der SPD und betrieb offen eine sektiererische Spaltung der Gewerkschaften, so hat die DKP diese Methode aus der ultralinken „3. Periode“ des bürokratisch-zentristischen Stalinismus zwar abgelehnt, sie aber nur durch eine reformistische ersetzt. Indem die DKP weder in den Gewerkschaften noch gegenüber der LINKEN offen den Reformismus und Standortnationalismus bekämpft, orientiert sie nicht auf eine „antifaschistische Einheitsfront“, sondern vielmehr auf eine „Zivilgesellschaft gegen rechts“.

Eine solche Politik muss auch Risse in der eigenen Partei zur Folge haben. Wie wir in der Einleitung lesen konnten, war der 19. Parteitag wohl ein umkämpfter mit zwei fast gleich großen Lagern. Während beiden gemeinsam ist, dass sie die DKP und die „linke Bewegung“ allgemein in einer Krise sehen, gibt es Widersprüchliches zur Frage der Gewerkschaften und wohl auch zum Wirken als DKP nach außen. Neben diesen Widersprüchen scheint es auch auf anderen Ebenen Probleme in der politischen Arbeit und Analyse zu geben. Dazu finden wir im Forderungsprogramm:

„In der DKP müssen wir unsere Organisationsstrukturen überprüfen, inwieweit sie auf Landes- bzw. Bezirksebene den politischen Anforderungen entsprechen. Das heißt, wir müssen mindestens sichern, dass auf der Ebene der Bundesländer oder Regionen in den Bundesländern politisch-analytisch gearbeitet wird“. (23)

Wenn die analytische und programmatische Arbeit vor Ort, also in den Bundesländern, Regionen und Kommunen schon angemahnt werden muss, dann lassen sich daraus schon einige Schlüsse ziehen. Es ist diese grundlegende Debatte, die gegenüber stalinistischen und ex-stalinistischen Parteien immer wieder geführt werden muss: Was bedeutet eigentlich demokratischer Zentralismus?

In der Tradition der bolschewistischen Partei hatte der demokratische Zentralismus zwei entscheidende Elemente. Dazu gehörte das Verständnis als „Organisation der Berufsrevolutionäre“ sowie die Einheit der Hauptbegriffe Demokratie und Zentralismus. Das erste Element, die Notwendigkeit einer politischen Organisation mit gemeinsamem Programm und gemeinsamer Praxis, ist auch bei der DKP entwickelt. Allerdings ist der Weg dorthin problematisch.

Wenn in dem Zitat anscheinend der Mangel an regionaler und kommunaler Analyse beklagt wird, dann wäre doch interessant, wie die DKP vor Ort zu ihrer Politik findet. Dabei dürften wir uns wohl dem Schreckgespenst der stalinistischen Partei nähern, in der die Führung ohne Rückkopplung, ohne Transparenz oder Diskussion mit der Basis bestimmt und ausführen lässt. Diese Führung betont auch stets, wie wichtig die „Einheit“ der Partei ist, v.a. um möglichem Widerspruch von unten den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Ein grundlegender Anspruch jeder politischen Organisation müsste sein, dass die Mitglieder vor Ort die dortige politische Situation analysieren können und Perspektiven für die Praxis entwickeln. Natürlich können das nicht sofort alle Mitglieder. Besonders neuere GenossInnen brauchen auch eine „Eingewöhnungszeit“ – aber dies ist wohl nicht das Problem der DKP. Hier scheint es vielmehr so zu sein, dass die lokalen und regionalen Strukturen diese Arbeit immer weiter eingestellt haben, es kaum einen analytischen Austausch gab. Vielleicht ist dem Vorstand der DKP aber auch bei der Diskussion mit der Berliner DKP um den Sachverhalt bei Daimler-Marienfelde aufgefallen, dass vorherige Diskussionen wichtig wären.

Bei der Einheit von Demokratie und Zentralismus geht es v.a. um die volle demokratische Diskussion nach innen und um die geschlossene Einheit nach außen. (Demokratischer) Zentralismus bedeutet dabei die demokratische Wahl der Führungen und das gemeinsame Vertreten der Mehrheitsbeschlüsse nach außen, wie Demokratie (im Zentralismus) auch Wähl- und Abwählbarkeit aller Führungen und Strukturen gewährleisten muss. Der leninistische demokratische Zentralismus sicherte den Mitgliedern der Partei auch Rechte, sich innerhalb der Partei zu organisieren. Tendenzen und Fraktionen haben das volle Recht auf die politische Agitation innerhalb der Partei, solange sie sich unter die Disziplin der Partei stellen. Solange diese Tendenzen und Fraktionen allein um die politische Mehrheit in der Organisation kämpfen, ohne die Organisation zu schädigen, muss dies ein demokratisches Recht aller RevolutionärInnen sein – nicht so in der DKP o.a. Parteien aus stalinistischer Tradition.

Die Bolschewiki beschlossen 1922 ein – als außerordentlich und zeitweilig verstandenes – Fraktionsverbot. Daraus machte Stalin später ein „leninistisches“ Prinzip, ein organisatorisches Dogma der Partei. Nach dieser Methode „Fraktionsverbot“ agieren noch heute alle Parteien dieser Tradition, mit der Folge, dass keine wirkliche Diskussion über Programm, Methode und Taktik stattfindet und politische Differenzen notwendig als undurchsichtiges Gekungel an der Spitze ausgetragen werden oder von vornherein zu Spaltung oder Ausschluss führen. Dies war nie die Tradition der Bolschewiki. Dies entstellt aber bis heute den Begriff der kommunistischen Partei.

Dabei gäbe es viel zu diskutieren in der DKP. Hier einige Möglichkeiten: Wie stehen die KommunistInnen zu den sozialdemokratischen Führungen der Gewerkschaften und v.a., sehen sie diese überhaupt als politische Gegner? Welche Forderungen entwickeln KommunistInnen gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise? Reicht eine „Wirtschaftsdemokratie“ mit „öffentlicher“ (d.h. des bürgerlichen Staates), „demokratischer“ Kontrolle oder geht es beim Kampf gegen Entlassungen um Betriebsbesetzungen, Generalstreik und Arbeiterkontrolle? Wie entsteht umfassender Frieden in der Welt? Brauchen KriegsgegnerInnen einen akademischen Pazifismus mit Forderungen an die UNO und an das Völkerrecht? Oder machen wir uns Liebknechts Ausspruch „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ und die Methode der anti-imperialistischen Einheitsfront zur Grundlage unseres Kampfes gegen Militarismus und Imperialismus? Wie stehen wir zur Linkspartei? Ist das eine Option für eine klassenkämpferische Linke oder nicht? Ist ihre Entwicklung offen für eine Transformation in Richtung Antikapitalismus? Kann dieses Ziel durch eine Dauermitgliedschaft der „revolutionären“ Linken (strategischer Entrismus) von innen erwirkt werden? Oder durch eine strategische Orientierung auf sie von außen durch die DKP? Wann und wie unterstützen wir diese Partei und wann nicht?

Wie lange wollen KommunistInnen noch die reaktionären Regime von Gaddafi, Assad oder Ahmadinedschad rechtfertigen? Die Demonstrationen in Syrien, die bewaffneten Aufstände des libyschen Volkes richten sich gegen die reaktionären kapitalistischen Machthaber. Ob diese nur Handlanger des Imperialismus oder zumindest formell „Anti-Imperialisten“ waren, ist eine Sache – doch die Unterstützung eines demokratischen und revolutionären Kampfes muss von proletarischen InternationalistInnen sicher gestellt sein, ohne dass diese ein Jota von ihrer Warnung vor den pro-imperialistischen Elementen innerhalb der Kräfte einer wirklichen Volksrevolution, die als politische, demokratisch-bürgerliche begonnen und einstweilen den sozialen Rahmen des halbkolonialen Kapitalismus noch nicht gesprengt hat, abstreichen dürfen.

Apropos Internationalismus – auch dort wäre eine Diskussion angemessen. Werden das Europäische Sozialforum (ESF), die Europäische Linkspartei, der linke Flügel der Gewerkschaftsbürokratie, sowie attac und andere NGOs als die internationalistische Perspektive für KommunistInnen bewertet oder nicht? Und wenn wir schon dabei sind: Brauchen wir nicht eine kämpfende Internationale gegen Imperialismus, (halb-)koloniale und stalinistische DespotInnen? Dazu finden wir nämlich auch nichts in den Dokumenten.

Stalinismus

Das trifft letztlich die gesamte Partei. Auch wenn die DKP heute eine „kritische“ Haltung zu den „Fehlern“ der Sowjetunion unter Stalin einnimmt und nur wenige aus der Partei jeden Schwenk der „Generallinie“ diverser Politbüros verteidigen, so hält die Partei an entscheidenden Grundlagen des stalinistischen Reformismus fest: Konzept des Aufbaus des Sozialismus in einem Land – und damit entschiedene Ablehnung der Notwendigkeit, die sozialistische Revolution zu internationalisieren; Möglichkeit des friedlichen Übergangs zum Sozialismus und damit Ablehnung der Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und dessen Ersetzung durch einen qualitativ anderen, proletarischen Rätestaat, der im Zuge der Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft tatsächlich absterben kann; Beibehaltung eines bürokratischen inneren Parteiregimes ohne Fraktionsrechte, wenn auch in einer „milderen“, eher sozialdemokratischen Form. Es zeigt sich dabei auch, dass der Übergang von einer „traditionellen“ stalinistischen Partei zu einer sozialdemokratisierten DKP ein fließender ist – nicht zuletzt, weil es keinen qualitativen Unterschied zwischen Stalinismus und Sozialdemokratismus gibt. Beide sind letztlich Spielarten des Reformismus, bürgerlicher Arbeiterpolitik. Auch ideengeschichtlich stellt der Stalinismus keine Kontinuität des Leninismus dar, sondern einen entschiedenen Bruch, eine Wiederaufnahme von Grundkonzepten des Menschewismus, wie Trotzki unter anderem in dem hervorragenden Artikel „Bolschewismus und Stalinismus“ zeigte (24).

Es ist daher kein Wunder, dass die DKP insgesamt jeden klaren Bruch mit ihrer stalinistischen Vergangenheit ablehnt. Das müsste nämlich zur Erkenntnis führen, dass die Bürokratie und die Parteien der Bürokratie in den degenerierten Arbeiterstaaten Osteuropas, der Sowjetunion, Chinas oder auch Kubas Parteien der politischen Herrschaft einer Bürokratenkaste waren und sind. Diese Parteien waren keine kommunistischen, sondern konterrevolutionäre Parteien, deren Herrschaft es zu stürzen galt oder in Kuba und Nord-Korea zu stürzen gilt, soll die Arbeiterklasse zur bewussten politischen herrschenden Klasse werden. Ansonsten werden die Bürokratien dieser Länder letztlich den Weg ihrer Schwesterparteien in Osteuropa und Asien beschreiten: die Arbeiterklasse noch mehr von „ihrem Staat“ entfremden (so weit das in Nordkorea überhaupt noch möglich ist), die Restauration des Kapitalismus vorbereiten oder sie wie in China gar selbst politisch anführen.

Natürlich ist eine Solidarität mit diesen Ländern nötig gegen den Imperialismus – sei es gegen die Blockade Kubas, sei es gegen Kriegsdrohungen wie im Falle Nordkoreas. Doch das muss Hand in Hand gehen, mit einer unversöhnlichen Feindschaft zur herrschenden Bürokratie und einer revolutionären Opposition gegen diese.

Von all dem ist bei der DKP nichts, aber auch gar nichts zu bemerken. Kuba gilt allen Flügeln der Partei umstandslos als sozialistisch, so wie früher die DDR als großes Vorbild hingestellt wurde. Teile der DKP sehen selbst in China heute noch einen „sozialistischen Staat“, keinen neuen, aufstrebenden Imperialismus.

Gerade an China zeigt sich übrigens auch, dass die Frage des Stalinismus und seiner Charakterisierung eine brandaktuelle Frage ist. Es zeigt letztlich, welche Vorstellung von „Sozialismus“, von „Befreiung“ in der DKP tief verankert ist.

Der „linke Flügel“ der Partei ist gerade bei dieser Frage alles andere als „links“, sondern versucht vielmehr seine Kritik am rechten Parteiflügel durch eine Heroisierung bestimmter, vorgeblich „revolutionärer“ Phasen des Stalinismus, der DKP oder auch der KPD nach 45 zu untermauern. Daher fällt gerade dieser unangenehm durch die offene Verteidigung der stalinistischen Bürokratie und ihrer Verbrechen an der Arbeiterklasse auf – sei es die Niederschlagung des Arbeiteraufstandes 1953 oder die Glorifizierung der Berliner Mauer als „anti-faschistischen Schutzwall“.

Wir laden alle GenossenInnen der DKP dazu ein, mit uns diese Diskussionen zu führen. Gerade Diskussionen über Programm, Methode und Taktik sind heute wichtiger denn je im internationalen Kampf für den Sozialismus. Wir wollen aber vorweg schicken – ohne einen vollständigen theoretischen, programmatischen, strategischen und taktischen Bruch mit dem Stalinismus kann es keine Neubegründung revolutionärer Arbeiterpolitik geben.

Exkurs: Die SDAJ, die Jugendorganisation der DKP

Die „Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend“ (SDAJ) ist die Jugendorganisation der DKP, obwohl zumindest auf der Webseite der SDAJ zum Verhältnis beider Organisationen wenig zu finden ist. Lediglich Hinweise auf gemeinsame Aufrufe und Aktionen stehen dort. Auch warum eine Artikel der „Geschichtskommission“ der DKP auf dieser Seite veröffentlicht ist, wird zumindest nicht begründet. Das stalinistische Verständnis vom Verhältnis Partei und Jugend ähnelt durchaus dem sozialdemokratischen, welches, z.B. bei den Jusos zu finden ist, in extremer Form auch beim MLPD-Jugendverband Rebell. Hier bestimmt die Partei die Jugendorganisation organisatorisch und politisch. Ähnlich der Situation in der Erwachsenenpartei ist hier wenig Raum für Diskussion oder Analyse. Stattdessen bestimmt die Partei, wo und wie die Jugendorganisation zu arbeiten hat.

Beim Bericht vom UZ-Pressefest finden wir bei der SDAJ zumindest den Programmpunkt „Warum in die DKP eintreten?“ Dies lässt darauf schließen, dass beide Organisationen wohl ein enges Verhältnis haben dürften.

Diese Art von Jugendorganisation ist meist nur in einzelnen Bereichen aktiv. Darauf fokussiert nämlich die Partei die Jugendarbeit. Natürlich treten auch wir für ein politisch enges Verhältnis der revolutionären Partei zur Jugendorganisation ein, bei allerdings organisatorischer Unabhängigkeit der Jugend – siehe dazu z.B. auch Lenin aus dem Jahr 1916:

„Es kommt oft vor, dass Vertreter der Generation der Erwachsenen und Alten es nicht verstehen, in richtiger Weise an die Jugend heranzutreten, die sich zwangsläufig auf anderen Wegen dem Sozialismus nähert, nicht auf dem Wege, nicht in der Form, nicht in der Situation wie ihre Väter. Das ist einer der Gründe, warum wir unbedingt für die organisatorische Selbständigkeit des Jugendverbandes eintreten, nicht nur deshalb, weil die Opportunisten diese Selbständigkeit fürchten, sondern auch dem Wesen der Sache nach. Denn ohne vollständige Selbständigkeit wird die Jugend nicht imstande sein, sich zu Sozialisten zu entwickeln und sich darauf vorzubereiten, den Sozialismus vorwärts zu führen.“ (25)

Derzeit ist die SDAJ an die reformistische Programmatik der DKP gebunden, ebenso an ihre Volksfront – Methode gegenüber Reformisten und kleinbürgerlichen Kräften. Dementsprechend muss die SDAJ in den Gewerkschaften, den Friedensbündnissen oder den sozialen Bewegungen die gleiche Taktik umsetzen wie die DKP – sicher ein grundlegendes Hindernis für eine sozialistische Organisation. In der Praxis bedeutet das: keine Kritik am in der Elternpartei herrschenden Reformismus, stattdessen Unterordnung unter kleinbürgerliche Ideologien und Strömungen, im Jugendbereich besonders gegenüber Autonomen bzw. dem Antifa-Spektrum. Für die SDAJ wäre daher die Forderung nach einer organisatorischen Unabhängigkeit ein erster wichtiger Schritt, um wieder eine revolutionäre Theorie und Praxis entwickeln zu können.

Das Programm der SDAJ

In ihrem „Zukunftspapier“ aus dem Jahr 2000 legt die SDAJ ihre programmatischen Analysen und Schwerpunkte fest. Hier wollen wir v.a. darauf hinweisen, was fehlt bzw. bewusst ausgeklammert wird. Sicher richtig sind verschiedene Beschreibungen über die Lage der Jugend und ihre Probleme im Kapitalismus.

Für eine Jugendorganisation ist es natürlich wichtig, wie sie heute über Sozialismus und Revolution mit Jugendlichen spricht oder wie sie z.B. den Kampf gegen den Faschismus zu einem revolutionären antikapitalistischen Kampf machen kann. Ebenfalls sollte es Pflicht jeglicher Organisation sein, darüber zu sprechen, was der „real existierende Sozialismus“ war und wie heutige SozialistInnen sich dazu verhalten.

Im „Zukunftspapier“ finden wir dazu gar nichts, was natürlich nicht heißt, dass die SDAJ dazu keine Position hat. Dabei ist diese Frage, wie der „real existierenden Sozialismus“ und die  stalinistische Bürokratie charakterisiert werden, eine sehr wichtige, wenn wir für den Sozialismus in der Zukunft kämpfen wollen. Weitere Fragen wären u.a.: Wie richtig ist z.B. die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“? Warum wurde die Komintern aufgelöst? War der Ostblock sozialistisch?

Dies sind legitime und gerechtfertigte Fragen, die viele Jugendlichen auch stellen, wenn sie sich mit Sozialismus, Kommunismus und Revolution beschäftigten. Natürlich gibt es dazu Positionen der SDAJ – es sind die Positionen der DKP. Damit aber stellt sich auch die SDAJ ohne eigene Begründung in den Chor derer, die z.B. die Kampagne der Jungen Welt zum Mauerbau unterstützen.

Bei der Begründung des Sozialismus gibt es dann Kapitel unter der Überschrift „Materielle Voraussetzungen“ oder „Der Weg zum Sozialismus führt nur über den Klassenkampf“. Die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus sind gegeben – immerhin, aber ob aus diesem Kapitel zu schlussfolgern ist, dass nur entwickelte imperialistische Staaten zum Sozialismus gelangen können oder auch andere, bleibt schleierhaft. Ohne Klärung dessen würde die SDAJ-Programmatik gerade bei Kautsky nach dem 1. Weltkrieg aufhören. Schließlich wurde aufgrund der „mangelnden“ materiellen Voraussetzungen in Russland die Oktoberrevolution durch diesen Cheftheoretiker der 2. Internationale als Abenteurertum abgelehnt. Das hinderte freilich jene, welche  die Kautsky-These unterstützten, später oft nicht daran, den Aufbau des „Sozialismus in einem Land“, wie ihn Stalin verkündete, trotz der mangelhaften Grundlagen zu unterstützen!

Beim Klassenkampf-Kapitel wird auch nicht erwähnt, dass es für den Erfolg der Revolution schon einer revolutionären Massenpartei bedarf, die sich in der Revolution auf die Räte und Organe der Arbeiterklasse stützen muss, wie auch der Begriff „Räte“ nirgends zu finden ist. Ist die Antwort der SDAJ auf die Frage einer Räterepublik diejenige, dass die Volkskammer schon der Ausdruck der proletarischen Herrschaft war?

Die SDAJ bleibt nebulös. Hier wird „klar“, wie sich die SDAJ zum Stalinismus verhält oder was für sie heute revolutionäre Politik wäre – alles ist sehr allgemein gehalten. Wenn jemand etwas Konkretes wissen möchte, kann man ja bei der DKP nachfragen.

In ihrer Praxis agiert die SDAJ sehr nah am autonomen Antifa-Milieu. Dies tut sie nach ähnlicher Methode wie die DKP gegenüber den kleinbürgerlichen Führungen in der Friedensbewegung – ohne jegliche Kritik. Speziell mit Antifa-Gruppen wird gern die „Einheit“ gesucht. Solange sich die Partner in solchen Bündnissen gegenseitig den „revolutionären“ und „klassenkämpferischen“ Stempel aufdrücken, sind alle zufrieden. Dabei unterschreibt die SDAJ zur Not auch jeden libertären Unsinn – Hauptsache, sie darf mitmachen. So entstehen dann auch seltsame volksfrontartige Projekte, in denen alle dabei sein dürfen, solange es einen verschwommenen Minimalkonsens gibt. Natürlich ist es richtig, gerade im Jugendbereich Angebote zu machen, welche auf Aktion und Politisierung zielen, ohne die Jugendlichen mit all zu viel Politik-Kauderwelsch zu nerven. Das heißt aber, dass man als politische Organisation auch nicht verheimlichen sollte, wer man ist, für welches Programm man steht oder warum die eine Forderung aufgestellt wird und die andere nicht.

So ist die SDAJ-Berlin in der KIDZ-Plattform (Kinder des Zorns) gemeinsam mit autonomen Gruppen aktiv. Einmal im Monat können dort linke Jugendliche Infos über aktuelle oder historische Themen bekommen, ebenso über Mobilisierungen etc. So weit, so gut. Dies betreiben die SDAJ und die autonomen Gruppen aber anstelle des Aufbaus einer antikapitalistischen Plattform in der Bildungsbewegung, welche zwar schon irgendwie für richtig gehalten wird, aber aktuell – seit zwei Jahren (!) – abgelehnt wird. Stattdessen wird eine Plattform wie KIDZ betrieben. Dies wollten die beteiligten Gruppen sogar anstelle der Arbeit im Bildungsbündnis „Bildungsblockaden einreißen“ (BBE) machen, für dessen Auflösung – als „Pause“ bezeichnet – sie im Frühjahr 2011 in Berlin eintraten. Der Intervention von REVOLUTION war es geschuldet, dass BBE nicht nur den Protest der GEW in Berlin unterstützte, sondern sich auch für eine bundesweite Wiederbelebung der Proteste und Bündnisse einsetzte, wie z.B. auf der Konferenz in Köln (16./17.7.11) geschehen.

Ähnlich der Politik der DKP scheut auch die SDAJ den Konflikt mit dem Reformismus. Entweder, es wird – wie von KIDZ – möglichst vermieden, überhaupt in Kontakt mit reformistischen Gruppen zu kommen oder auf Bildungsstreik-Konferenzen nicht offen gegen diese gekämpft.

Ausblick

Schließlich versucht die SDAJ, ihre Politik natürlich in eine revolutionäre Tradition zu stellen: manch Slogan über Kommunismus, viele Che-Motive oder Solidarität mit Kuba sind Beispiele dafür. Revolutionäre Phraseologie gehört zum Handwerk. Bei der SDAJ ersetzt sie aber häufig auch Programm und Taktik. Während Kuba und die DDR bzw. der Ostblock als Sozialismus gefeiert werden und sie sich gern in die Tradition der antifaschistischen WiderstandskämpferInnen stellt, ist zugleich kein revolutionäres Programm zur Machtergreifung des Proletariats vorhanden. Es gibt keine Vorstellung von der Bedeutung und die Forderung nach Räten für den revolutionären Kampf. Anstelle von Räten und Arbeiterkontrolle finden wir Phrasen à la demokratischer, gesellschaftlicher Kontrolle. Ebenso wenig gibt es Parolen zur Verteidigung von Streiks und für Streikposten im besonderen wie Arbeiterselbstschutzorgane/-milizen im allgemeinen. Doch was bringt das Schwelgen von der französischen „Resistance“, wenn heute noch nicht mal für Selbstverteidigungsstrukturen der AntifaschistInnen agitiert wird?!

Eines der wesentlichen Merkmale des Reformismus und speziell dessen linkerer Spielarten besteht darin, die Verantwortung für die eigene Weigerung, für revolutionäre oder militante Forderungen einzutreten, auf das rückständige Bewusstsein der Klasse und der unterdrückten Schichten zu schieben – getreu dem Motto „Die sind noch nicht so weit.“ oder „Die verstehen das noch nicht.“

Die SDAJ, im Gefolge der DKP, betreibt eine links-reformistische Politik. Sie hat keine Perspektive gegenüber dem Reformismus, d.h. kein Programm und keine Taktik für den Kampf um die Führung der Klasse bzw. der Jugend. Auch die SDAJ hat einen Minimal-Maximal-Forderungsmix statt eines Übergangsprogramms. Damit versucht sie, möglichst „anschlussfähig“ an andere, nichtproletarische Kräfte zu sein. So passiert es schon mal, dass beim Kampf gegen den Militarismus der Ausstieg der BRD aus der NATO die radikalste Forderung ist. Wie denn die Jugend und die Arbeiterklasse heute die Rüstungskonzerne enteignen und zerschlagen könnten, warum Krieg mit dem Generalstreik beantwortet werden sollte und wieso KommunistInnen immer für die Niederlage ihres imperialistischen „Heimatlandes“ kämpfen sollten – dies alles spielt keine Rolle.

Trotz manch „traditionell kommunistischen“ Anspruchs beweist die SDAJ wie die DKP, dass sie keine leninistische Methode verwenden, weder in der Programmatik noch in der Funktionsweise der kommunistischen Jugendorganisation und der Partei.

Historischer Exkurs: Fragmente des KPD-Programms bis 1956

Dabei scheuen sich weder SDAJ noch DKP, sich in die Tradition der deutschen KPD zu stellen – quasi als Bewahrer des Kommunismus in der BRD. Wir wollen hier nicht auf die stalinistische Tradition mit dem Höhepunkt Anfang der 30er Jahre eingehen, sondern auf die Programmatik der KPD bis zu ihrem Verbot 1956. In dieser Erbfolge sieht sich die DKP und mit Ihr die SDAJ. Dies verdeutlicht auch, wo ihre links-reformistischen und kleinbürgerlichen Taktiken und Methoden herkommen.

Die folgenden Zitate stammen aus der Sammlung „KPD 1945-1968 Dokumente“ der „Edition Marxistische Blätter“ von 1989. Am 11.6.46 erschien ein Aufruf der KPD an das „schaffende Volk in Stadt und Land“. Darin wird beschrieben, was die nächsten Aufgaben sind und was diese mit Sozialismus zu tun haben könnten.

„Mit der Vernichtung des Hitlerfaschismus gilt es gleichzeitig, die Sache der Demokratisierung Deutschlands, die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung, die 1848 begonnen wurde, zu Ende zu führen, die feudalen Überreste völlig zu beseitigen und den reaktionären altpreußischen Militarismus mit allen seinen ökonomischen und politischen Ablegern zu vernichten. Wir sind der Auffassung, dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland.“ (26)

Wenn die „Kommunistische“ Partei schon der Meinung ist, dass besser niemand für den Sozialismus kämpfen soll, dann braucht sich auch keiner zu wundern, wenn der Partei nicht die Massen und Herzen zuströmen. Interessant ist weiterhin, dass sich die KPD quasi als Vollender der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 in Position bringt, völlig ungeachtet der Tatsache, dass dieses 1848 von der preußischen Monarchie gezähmte und ab 1914 gegen imperialistische Konkurrenten und das eigene organisierte Proletariat wild gewordene Bürgertum grade seinen zweiten imperialistischen Weltkrieg hinter sich gebracht hatte.

Mit dieser Analyse fungierte die KPD als Statthalter des Kreml in Deutschland, wie auch viele andere „kommunistische“ Parteien nur als Verhandlungsmasse mit der jeweiligen bürgerlichen Regierung dienten. Die KPD stellte viele zehntausende Mitglieder (1956: 85.000) und mehr als ein Drittel der Betriebsräte in der BRD, ebenso die Jugendorganisation FDJ. Doch diese Partei hatte 1933 eine schwere Niederlage erlitten – und es gab keine ausreichende Analyse, sie zog keine Lehren daraus, schon gar keine revolutionären. Stattdessen gab es nur eine weitere schroffe – diesmal opportunistische – Wendung in der Taktik. Wie auch die stalinistischen Manöver davor waren aber auch diese nur zum Schaden der Partei.

In ihrem Bundestagswahlprogramm von 1953 steht folgendes über die „Regierungsabsichten“ und Vorschläge der KPD:

„Für eine Koalitionsregierung deutscher Patrioten

Zur Rettung des Friedens und zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands müssen die Adenauer-Parteien geschlagen und die Adenauer Regierung gestürzt werden. In Wahrnehmung der berechtigten Interessen der Bevölkerung fordert die KPD die Bildung einer Koalitionsregierung deutscher Patrioten, die im Auftrag des deutschen Volkes handelt, die eine deutsche Politik der Verständigung und der Wiedervereinigung Deutschlands, des Friedens, der Demokratie (betreibt)

Die KPD erklärt, dass sie jede Regierung unterstützt und an jeder Regierung teilzunehmen bereit ist, die diese Grundforderungen des Volkes vertritt.“ (27)

Wer denn unter diesen „Patrioten“ zu verstehen ist, wird in Band 1 erklärt: „Deshalb schließen sich dem Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft die Angestellten und Beamten, die Freischaffenden, die Handwerker und Kleinhändler, die kleineren und mittleren Unternehmer sowie ein bedeutender Teil der westdeutschen Industriellen und Kaufleute an, das heißt, die Mehrheit der nicht am Krieg und an der Kriegsproduktion interessierten Menschen, deren Existenz durch die Maßnahmen der westlichen Besatzungsmächte und Adenauers und durch die Politik der Kriegsvorbereitung bedroht ist.“ (27)

Prägnanter wurde das Konzept der Volksfront, die Unterordnung unter andere Klasseninteressen selten formuliert. Nach einem imperialistischen Krieg das Bündnis mit dem Industriekapital zu suchen, spottet jeglichem „Kommunismus“! Da werden Koalitionen der „Patrioten“ angeboten und natürlich dient sich die KPD jeglicher Regierung an – in Anlehnung an die Volksfront-Regierungen in Spanien und Frankreich in den 1930ern, die gescheitert waren und die revolutionären Möglichkeiten vergeben haben.

Es ist daher kein kommunistisches Erbe, dessen sich DKP und SDAJ rühmen. Es ist ein Teil der reformistischen und stalinistischen Hinterlassenschaften der Geschichte. Es ist die Unterordnung des Proletariats unter die Interessen des Bürgertums, es ist die Liquidation revolutionärer Analyse und Methode. „Gestern Patrioten, heute Pazifisten“, könnte ein flapsiger Slogan für diese Orientierung heißen.

Die KPD hatte zwar das „K“ im Namen und war sogar eine Massenpartei. Doch weder die KPD noch im Nachtrab die DKP oder auch die MLPD haben ein revolutionäres Erbe vertreten oder selbst hinterlassen, auf das sich KommunistInnen heute stützen könnten. Am ehesten können wir noch aus den Anfangsjahren der KPD Rückschlüsse ziehen – einer Partei mit Flügeln und Auseinandersetzungen und ständiger Diskussion mit der zu dieser Zeit, also bis Mitte der 1920er, noch revolutionären Komintern.

Für unsere Periode müssen wir den Aufbau einer revolutionären, kommunistischen Partei und Internationale voran bringen – dies ist objektiv die wichtigste Aufgabe für die nächsten Jahre. In Deutschland besteht die Möglichkeit, mit dem Erbe der DKP oder MLPD zu brechen nur, wenn diese reformistischen und sektiererischen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Erst dann kann der Begriff „kommunistische Partei“ tatsächlich mit dem wissenschaftlichen und politischen Erbe von Marx und Engels, von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wieder belebt werden.

Fußnoten

(1) Aktionspolitisches Forderungsprogramm: „Politikwechsel erkämpfen!,

http://www.dkp-online.de/Parteitage/19pt/

(2) Politische Revolution, http://www.dkp-online.de/Parteitage/19pt/

(3) Aktionspolitisches Forderungsprogramm, Seite 5

(4) Wie weiter nach dem Parteitag?, Stimmen von Delegierten, Dietrich Lohse, Kiel, http://www.dkp-online.de/Parteitage/19pt/

(5) Ebenda

(6) Politische Resolution, Seite 6

(7) Forderungsprogramm Seite 2

(8) Verteidigt die Einheitsgewerkschaft – es gibt keine vernünftige Alternative zu ihr

Zu den Betriebsratswahlen und Grundsätzen kommunistischer Gewerkschaftsarbeit, http://www.dkp-online.de/wsg/

(9) „Im Grundsatz für Einheitslisten“, R. Perschewkski

(10) Politische Resolution, 1. Absatz von „Gemeinsame Gegenwehr ist nötig“

(11) Politische Resolution, „Gemeinsamer Widerstand ist nötig“, 6. Absatz

(12) Pol. Resolution, „Widerstand entwickeln – Kräfte zusammenführen“, 2. Absatz

(13) Programm 2006, „Tendenz zur Aggression“, 3. Absatz

(14) Forderungsprogramm „Militarisierung und Kriegspolitik beenden“, 1.Absatz

(15) www.ag-friedensforschung.de/bewegung/schwerpunkte2011.html

(16) Forderungsprogramm, 1. und 2. Absatz

(17) Ebenda

(18) Trotzki: 5 Jahre Komintern

(19) Ebenda

(20) Politische Resolution

(21) Politische Resolution, „Aufgaben und Orientierungen der DKP“

(22) Politische Resolution, „Krise des Parlamentarismus – Gefahren und Chancen“

(23) Forderungsprogramm, „Kommune-Stadtteile-Kreise-Bundesländer“

(24) Trotzki, Bolschewismus und Stalinismus, in: Aufstieg und Fall des Stalinismus, Broschüre der Gruppe Arbeitermacht, Berlin, Oktober 2009

(25) JUGEND¬INTERNATIONALE [Notiz], in: LW 23, 1. Auflage, Berlin/O., 1957, S. 164

(26) KPD 1945-1968 Dokumente, Band 1, Seite 139

(27) KPD 1945-1968 Dokumente, Band 2, Seite 16

(28) KPD 1945-1968 Dokumente, Band 1




Revolte im Gemüsebeet – Eine Kritik an „Der kommende Aufstand“

Hannes Hohn, Revolutionärer Marxismus 43, Oktober 2011

Anfang 2011 sorgte die deutsche Übersetzung der Broschüre „Der kommende Aufstand“ für Furore. Per Internet und Kopierer verbreitete sich das Pamphlet in der linken und alternativen Szene wie ein Lauffeuer. Selbst im bürgerlichen Feuilleton wurde es breit behandelt. Schon in Frankreich, woher die Autoren (die anonym bleiben und sich „Unsichtbares Komitee“ nennen) stammen, verbreitete sich das Büchlein, das dort 2007 unter dem Titel „L´insurrection qui vient“ rasend schnell.

Der Grund für diese schnelle Verbreitung ist v.a. darin zu suchen, dass die von den Autoren sehr grundsätzlich gemeinte Kapitalismus-Kritik auf eine Stimmung traf und trifft, die sehr direkt damit konfrontiert ist, dass die „negativen“, krisenhaften Aspekte des Kapitalismus immer deutlicher zutage treten und auch in den imperialistischen Metropolen immer mehr Menschen ins soziale Abseits gedrängt werden. „Die Zukunft hat keine Zukunft mehr“, beschreiben die Autoren diese Situation im Vorwort.

Motivation und Ausgangspunkt ihres politischen Manifests waren, wie sie selbst sagen, die „Feuer vom November 2005, (die) unaufhörlich ihre Schatten auf jedes Bewußtsein“ werfen. Diese Feuer waren v.a. die Aufstände der (überwiegend immigrantischen) Jugendlichen in den Banlieus von Paris u.a. französischen Großstädten.

Ein Blick auf die Klassenkämpfe der letzten Jahre in Frankreich – wie auch in Europa und weltweit – zeigt, dass die vom „Unsichtbaren Komitee“ registrierten Feuer immer höher aufflammen und die tiefe Krise des Kapitalismus immer greller beleuchten. Kein Wunder, dass das Interesse der Menschen, die sich sozialen Angriffen gegenüber sehen oder in Streiks, Protesten, Blockaden aktiv waren, für Schriften, die politische Analysen und Antworten versprechen, groß ist. Das erklärt zum erheblichen Teil die Wirkung des „Kommenden Aufstands“.

Die Autoren haben sich „zu Schreibern der Situation gemacht“. Sie meinen, es „reicht aus, das zu benennen, was einem unter die Augen kommt, und dabei nicht der Schlussfolgerung auszuweichen.“ Wir wollen sehen, wie sie die Situation beschreiben, welche Schlussfolgerungen sie ziehen und welchen Aufstand sie kommen sehen.

In sieben „Kreisen“ behandeln die Autoren bestimmte Seiten der (französischen) bürgerlichen Gesellschaft, bevor sie in den letzten vier Kapiteln darauf eingehen, wie wir uns „finden“ und uns „organisieren“ müssen, um den „Aufstand“ durchzuführen. Zweifellos: ein großer Anspruch, dem das Komitee gerecht werden will!

Erster Kreis

Thema ist hier das bürgerliche Individuum, die „Personalisierung der Masse“ . Die Autoren beschreiben den Wahn, die Illusion, die Konkretisierung der „Individualität“ im Kapitalismus. Sie sehen sie kritisch, als instrumentalisiert von Herrschaft. „Die Suche nach sich selbst, mein Blog, meine Wohnung, der letzte angesagte Scheiß (…) was es an Prothesen braucht, um ein Ich zusammenzuhalten.“ Und weiter: „Es sollen wohl abgegrenzte, wohl getrennte Ichs aus uns gemacht werden, zuordenbar und zählbar nach Qualitäten, kurz: kontrollierbar (…)“. So weit, so treffend.

Doch es bleibt bei der Feststellung, dass die Persönlichkeit im Kapitalismus verbogen ist, dass die individuelle Freiheit zum großen Teil eine Farce ist. Das ist nicht neu, da wird nur Altbekanntes eingekreist.

Zugleich begegnen wir schon beim ersten Kreis einem methodischen Problem, das sich durch das gesamte Manifest zieht. Die Autoren denunzieren den verlogenen Charakter der bürgerlichen Freiheit – sie bleiben aber eine Antwort darauf schuldig, warum die bürgerliche Gesellschaft immer wieder den Ruf nach „Freiheit“ hervorbringt, was den zwieschlächtigen Charakter dieser „Freiheit“ ausmacht.

Daher bleiben auch wichtige, spannende Fragen außen vor: Was ändert sich an den Bedingungen, in die „das Ich“ gezwungen ist? Welche Freiheiten bietet die bürgerliche Gesellschaft auch? Denn anders, als es unsere Autoren etwas eindimensional sehen, bietet der Kapitalismus im Vergleich zu vorhergehenden Klassengesellschaffen auch reale Freiheiten und Lebensmöglichkeiten, von denen frühere Generationen nur träumen (vielleicht auch albträumen) konnten.

Bezeichnend für die Analyse unserer Autoren ist, dass bei ihnen die sozialen Differenzierungen der „Ichs“ überhaupt keine Rolle spielen, von Klassenverhältnissen oder der Frage, wie sich die Klassenlage(n) verändern, ganz zu schweigen. Immerhin gehört die Mehrheit derer, die in den Vorstädten Barrikaden bauen, die ihre Schulen und Unis bestreiken, die gegen die Angriffe von Staat und Kapital protestieren, zur Arbeiterklasse. Wie ist die Lage des Ichs als „doppelt freier Lohnarbeiter“?

Unsere Autoren umkreisen ihr Thema, ohne den Kern der Sache zu begreifen. Sie verstehen offenbar nicht, dass der Kapitalismus aufgrund des Fetischcharakters der Warenproduktion für die Masse der ausgebeuteteten LohnarbeiterInnen nicht anhand des Offenbaren einfach durchschaut werden kann. Ihre Illusionen in die „Freiheit“ fußen auf den Illusionen des bürgerlichen Rechtshorizonts, auf den verschleierten Lohnarbeits- und Ausbeutungsbeziehungen im Kapitalismus. Unsere Autoren beschreiben die Lage des „Ichs“, sie kritisieren dessen Konstitution, doch sie verhelfen niemandem zu einem wirklichen Verständnis der widersprüchlichen gesellschaftlichen Beziehungen, in denen das „Ich“ sich befindet.

Hinzu kommt außerdem, dass die Freiheiten – also die demokratischen Rechte – der Masse der Bevölkerung in der bürgerlichen Gesellschaft nie „automatisch“ zustande gekommen sind. Sie mussten vielmehr erkämpft werden durch gesellschaftliche Massenbewegungen, v.a. durch die Arbeiterbewegung, aber auch die Frauenrechtsbewegung, Bewegungen der Unterdrückten (wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA usw.); ja diese demokratischen Freiheiten mussten oft genug mit revolutionären Mitteln erkämpft werden – sei es in den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts oder als „Nebenprodukt“ der proletarischen Bewegungen z.B. nach der Novemberrevolution 1918.

Für einen großen Teil der Menschheit sind diese Freiheiten bis heute nicht existent. Der Kapitalismus in seiner Niedergangsepoche zeigt außerdem zunehmend die Tendenz, diese Freiheiten weiter einzuschränken.

Genau darin besteht ja auch ein Aspekt der Perfidie der „Freiheit“ – einerseits wird ihr realer Zuwachs in Form immer größerer Warenmengen, immer größeren Reichtums zur Schau gestellt, andererseits werden die realen Möglichkeiten der Masse der Bevölkerung in jeder Hinsicht immer mehr eingeschränkt. Das führt uns jedoch im Unterschied zu den Autoren des „Kommenden Aufstands“ dazu, dass der Kampf für diese demokratischen Rechte ein wichtiger Bestandteil auch des Klassenkampfes, ja des revolutionären Kampfes – siehe die Massenbewegungen im Nahen Osten und Nordafrika – ist. Es reicht daher nicht, den imaginären Charakter der Freiheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft zu denunzieren, sondern es gilt zugleich, den Kampf um die Verteidigung und Ausweitung realer demokratischer Freiheit gegen die herrschende Klasse mit Kampf um den revolutionären Sturz der bestehenden Ordnung zu verknüpfen.

Zweiter Kreis

Dieser Teil trägt den Titel „Unterhaltung ist ein Grundbedürfnis“, befasst sich jedoch weniger mit der Unterhaltung, sondern u.a. mit Immigration und Entfremdung.

Gleich zu Anfang erfahren die verdutzten LeserInnen, dass es keine „Frage der Immigration“ gebe. Begründet wird diese These u.a. mit Aussagen wie: „Wer wächst noch da auf, wo er geboren wurde? Wer wohnt noch da, wo er aufgewachsen ist?“ usw. usf. So richtig der Verweis auf die allgemeine Tendenz der Globalisierung, der Dynamisierung des Lebens ist, so falsch ist die Ansicht, dass es ein spezielles Problem der Immigration deshalb nicht gebe, weil diese Tendenz alle betrifft.

Schließlich findet diese Tendenz nicht im luftleeren Raum, sondern im Rahmen einer imperialistischen Weltordnung statt, nicht in einem grenzüberschreitenden System, sondern auf dem Boden eines Systems von Nationalstaaten. Und spätestens diese sortieren Menschen nach Herkunft, Geburtsland usw. dergestalt, dass die rassistische Unterdrückung von MigrantInnen zunimmt. Und natürlich sind dabei v.a. die Armen oder Lohnabhängigen besonders betroffen, die als billige und entrechtete Arbeitskräfte Objekt imperialistischer Überausbeutung sind.

Die Missdeutung des wichtigen gesellschaftlichen Problems der Immigration verwundert umso mehr, als gerade die Revolten migrantischer Jugendlicher in Frankreich die schwärende rassistische Wunde des demokratischen Frankreich offenbarten. Wir fragen uns, wie weltfremd ein Komitee von Schreibern sein muss, um zu einer solchen Fehleinschätzung zu kommen?! Natürlich – und das zeichnet den gesamten Text aus – sind die Autoren somit auch außerstande, konkrete Antworten zu geben, wie die besondere Unterdrückung von MigrantInnen bekämpft und wie deren tw. isolierter Widerstand mit den Kämpfen der Jugendlichen und der ArbeiterInnen verbunden werden kann.

Weiter wird im zweiten Kreis die allgemeine Entfremdung der Menschen im Kapitalismus dargestellt. „Wir wurden unserer Sprache enteignet durch die Schule, unserer Lieder durch die Hitparade, unseres Fleisches durch die Massenpornographie, unserer Stadt durch die Polizei, unserer Freunde durch die Lohnarbeit.“ Gewiss doch, aber auch das ist nur eine Seite der Medaille. Bei aller Instrumentalisierung von Schule, Kultur usw. für die Herrschafts- und Verwertungszwecke der bürgerlichen Gesellschaft übersehen die Autoren den Doppelcharakter der zivilisatorischen Errungenschaften des Kapitalismus. Wie auch die Lohnarbeit nicht nur Quelle von Mehrwert und also Profit ist, sondern auch einen Gebrauchswert, also praktischen Nutzen hat, so verhält es sich auch insgesamt mit der Gesellschaft. Schule indoktriniert nicht nur, sie vermittelt auch Wissen und Fähigkeiten. Sicher, Konkurrenz untereinander und kapitalistische Arbeitsorganisation sind keine Freundeskreise von Beschäftigten, doch gerade seine Konzentration in der modernen industriellen Produktion konstituiert auch das Proletariat als Klasse, bietet auch einen Boden für ihre kollektive Aktion und Machtentfaltung als Klasse.

Wo die Autoren nur Negativa, nur Probleme sehen, erkennen MarxistInnen auch die Chancen, die Bedingungen für den Befreiungskampf des Proletariats. Wo das „Unsichtbare Komitee“ nur soziale Verwerfungen beklagt, erkennt der Dialektiker auch die widersprüchlichen Bedingungen, aus denen heraus sich eine neue Gesellschaft entwickeln kann. Wo die Verfasser nur die Negation im Auge haben, sehen RevolutionärInnen die Möglichkeit und Notwendigkeit der Aufhebung des Kapitalismus im Kommunismus.

Dritter Kreis

Dieser Teil behandelt einen zentralen Fragenkomplex: die Arbeit, die ArbeiterInnen sowie die Frage, welche soziale Rolle die Arbeiterklasse spielen kann.

Genaues, d.h. Analysen oder wenigstens Fakten über die Arbeitswelt erfahren wir natürlich auch hier nicht. Das grundsätzliche Manifest ist hier – wieder einmal – grundsätzlich oberflächlich. Gleichwohl glauben sich die Autoren auf ihrem theoretisch sehr schwankenden Grund zu sehr sicheren Schlussfolgerungen in der Lage.

So präsentieren sie uns die wunderliche Feststellung, dass in Frankreich „die industrielle Macht stets der staatlichen unterworfen“ war. Für MarxistInnen ist der Staat vor allem einmal das Machtinstrument der herrschenden Klasse, für unser Komitee aber wedelt der Schwanz mit dem Hund, d.h. der Staat dominiert das Kapital. Wie aber erklären sie sich dann, dass z.B. jede bürgerliche Verfassung das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln – auch gegenüber dem Staat – garantiert? Nach Ansicht der Autoren wäre Frankreich also eine Art staatskapitalistisches Land – und Grönland liegt am Äquator.

Ebensolche Verwirrung ärgert uns auch beim Versuch des Komitees, Arbeit im Kapitalismus zu definieren. „Der Begriff der Arbeit umfasste schon immer zwei gegensätzliche Dimensionen: Eine Dimension der Ausbeutung und eine Dimension der Teilnahme.“ Wenn Arbeit Produktionstätigkeit ist, dann steht die Frage, was produziert wird. Im Kapitalismus ist Arbeit Quelle von (Tausch)wert und Gebrauchswert. D.h. Arbeit ist einerseits ein nützlicher, (lebens)notwendiger Prozess der Auseinandersetzung mit der Natur, andererseits ein Ausbeutungsprozess zur Erzeugung von Profit. Unsere Autoren verwirren die ganze Sache nun dadurch, dass sie Äpfel mit Birnen vergleichen. Die Ausbeutung der Arbeit, d.h. deren einer Nutzen, wird auf eine Zweck-Ebene gehoben mit der „Teilnahme“. Wenn Teilnahme aber einen Nutzen hätte, der nicht die Gebrauchswertschaffung wäre, dann doch wohl offenbar den, dass ArbeiterInnen gemeinsam am Produktionsprozess  teilnehmen – so wäre es einfach eine Tautologie: Teilnahme, um teilzunehmen. Wenn die Verfasser unter „Teilnahme“ Kooperation im Arbeitsprozess verstehen, ist das zunächst korrekt, verliert aber jeden Sinn, weil Kooperation bezeichnet, wie ein Arbeitsprozess organisiert ist, während die Ausbeutung v.a. darauf verweist, zu welchem Zweck er erfolgt. Wer aber Form und Zweck nicht auseinander halten kann, dessen Analysen gegenüber sollte man mehr als skeptisch sein.

Doch flugs folgt auf diesen theoretischen Galimathias die forsche Folgerung, dass „die Arbeiter der marxistischen Rhetorik, welche die Dimension der Teilnahme leugnet, ebenso“ gleichgültig “begegnen wie der Rhetorik der Manager, welche die Dimension der Ausbeutung leugnet.“

Wir wissen nicht, welche Art Marxismus unsere Experten kennen, der Marxismus, der von Marx kommt, jedenfalls leugnet nicht, dass Produktion unter „Teilnahme“ von LohnarbeiterInnen stattfindet. Auch die Annahme, dass „die Arbeiter“ den Argumenten der Manager gleichgültig gegenüberstehen würden, ist – leider – ein Märchen. Wie anders wäre der durchaus weit verbreitete Glaube vieler ArbeiterInnen an Standortdenken, nationale Vorurteile usw. zu erklären?

Nach dem Missverständnis über die Arbeit tischen uns die Verfasser gleich den nächsten Unfug auf. „Die Arbeit hat restlos über alle anderen Formen der Existenz triumphiert, genau zu der Zeit (?), in der die Arbeiter überflüssig geworden sind.“ Was sind die „anderen Formen der Existenz“, die offenbar keine Arbeit darstellen?!

Wenn damit eine Existenz gemeint sein soll, die sich nicht aus Arbeit nährt, sondern von der Aneignung der Arbeit anderer, so fällt uns hier die des Kapitalisten ein. Warum die Arbeit gar „restlos“ über diese andere Form der Existenz „triumphiert“ haben soll, verstehe wer will. Doch gerade das behaupten die Autoren mit obigem Satz, auch wenn sie es wahrscheinlich selbst nicht wissen. Denn letztlich fassen die Autoren Kapital und Arbeit damit nicht als ein Widerspruchsverhältnis, sondern setzen die beiden identisch – womit sie natürlich auch die revolutionäre Lösung dieses Widerspruchs notwendigerweise aus dem Blick verlieren müssen.

Im selben Satz wird auch ohne jeden Beleg die kühne These aufgestellt, die „Arbeiter (sind) überflüssig geworden“. Die Entwicklung der Produktion sei so weit fortgeschritten, „dass sie die Menge an lebendiger (…) Arbeit, auf beinahe nichts reduziert (hat).“

Dumm nur, dass die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten – bei allen Schwankungen – weltweit nicht sinkt, sondern steigt. Derzeit beträgt die Zahl der Erwerbstätigen in den OECD-Staaten 526,6 Millionen. Im Jahr 2000 waren es erst 489,1 Millionen, 1990 erst 439 Millionen. Von diesem Trend ist auch Frankreich nicht abgekoppelt. Von der absoluten Zahl abgesehen, ist das soziale Gewicht der Arbeiterklasse noch zusätzlich dadurch gewachsen, dass der Anteil der Wertschöpfung des industriellen Bereichs am gesellschaftlichen Gesamtprodukt steigt.

Dass im Kapitalismus tendenziell lebendige Arbeit durch Maschinerie ersetzt wird (steigende organische Zusammensetzung des Kapitals) wissen wir schon seit Marx. Doch daraus folgt eben nicht eine absolute Abnahme der Zahl der ArbeiterInnen: Erstens, weil neue Branchen neue Beschäftigung anziehen bzw. schaffen; zweitens, weil durch Arbeitslosigkeit, prekäre oder Teilzeitarbeit zwar die Arbeitszeit pro Beschäftigten, nicht jedoch die Zahl der Beschäftigten selbst sinkt oder zwangsläufig sinken muss.

Aber all das interessiert unsere Autoren sowieso nicht wirklich. Auch bezüglich der Organisation und der Differenzierung der Arbeit werden einfach Behauptungen aufgestellt, ohne dass auch nur der Hauch eines Beweises oder empirische Belege vorhanden wären.

„In den Unternehmen teilt sich die Arbeit immer offensichtlicher in hochqualifizierte Arbeitsplätze (…) und in entqualifizierte Arbeitsplätze“. Das ist nicht neu und wurde schon von Lenin dargestellt, als er auf die Herausbildung einer besonderen, relativ privilegierten Schicht innerhalb der Arbeiterklasse hinwies: die sich v.a. aus der Facharbeiterschaft rekrutierende Arbeiteraristokratie. Zu der durchaus interessanten Frage, ob sich das quantitative Verhältnis zwischen diesen Beschäftigtengruppen verschiebt, erfahren wir im Manifest nichts.

Über die „unteren“ Arbeiterschichten heißt es dort: „Diese flexible, undifferenzierte Arbeitskraft, die von einer von einer Aufgabe zur nächsten wechselt und nie lange in einem Unternehmen bleibt, kann sich nicht mehr zu einer Kraft verdichten. Dies, weil sie nie im Mittelpunkt des Produktionsprozesses steht, sondern wie pulverisiert ( ist)“. „Der Leiharbeiter ist die Figur dieses Arbeiters“.

Natürlich entspricht die Lage vieler LeiharbeiterInnen dieser Beschreibung. Viele andere jedoch sind sehr wohl im Kernbereich der Produktion tätig – und zwar als gut ausgebildete Fachkräfte. Sicher ist diese Situation in Deutschland stärker ausgeprägt als in Frankreich oder anderswo, doch eine solche Generalisierung, wie sie unsere Autoren hier vornehmen, geht am Kern der Sache vorbei und bleibt – völlig unbewiesen – pure Behauptung.

Darüber hinaus bietet das Manifest – obwohl es hier richtigerweise einen Wandel der Struktur der Arbeiterklasse feststellet – auch hier keine Perspektive für die LeiharbeiterInnen. Es beklagt lediglich, dass sie „keinen Beruf mehr“ haben, sondern ausschließlich „Fähigkeiten, die er bei seinen Einsätzen verkauft“. Die AutorInnen beschreiben hier auf einer abstrakten Ebene die Notwendigkeit von allen Lohnabhängigen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, schaffen es jedoch nicht, die spezifischen Probleme von LeiharbeiterInnen herauszuarbeiten. Für das Kapital bietet Leiharbeit den großen Vorteil von Flexibilität. Kündigungsschutz und andere gewerkschaftlich erkämpfte Rechte sind weitgehend ausgehebelt. Die Lösung für dieses Problem muss u.a. der Kampf um die Eingliederung in die sogenannten „Stammbelegschaften“ beinhalten. Übersieht man diese politischen Forderungen macht man es sowohl den KapitalistInnen als auch den GewerkschaftsbürokratInnen nur leicht, die „Stammbelegschaften“ gegen die LeiharbeiterInnen auszuspielen.

Bemerkenswert – und für die Bewertung des gesamten Pamphlets wichtig – ist an diesen Aussagen, welche Rolle dem Proletariat zugeschrieben wird. Die „undifferenzierte Arbeitskraft (…) kann sich nicht mehr zu einer Kraft verdichten.“  Über den anderen Teil der Klasse und dessen Möglichkeiten, sich „zu einer Kraft zu verdichten“, wird gleich gar nichts gesagt. Doch der gesamte Text lässt keinen Zweifel darüber zu, wie die Autoren zur Arbeiterklasse stehen. Sie bedauern sie mehr oder weniger als ausgebeutete Schicht, sehen sie jedoch nicht als jene Klasse, die nach wie vor durch ihre Zahl, durch ihre Konzentriertheit und Organisiertheit, durch ihre enge Verbindung mit den modernen Produktivkräften das entscheidende Subjekt jeder größeren sozialen Veränderung – eine revolutionäre Klasse ist.

Sie verkennen zudem, dass die Tendenzen der Differenzierung und der Atomisierung, der vielfältigen Spaltungen der Klasse durch Staat und Kapital bewusst erzeugt und dafür genutzt werden, um die Kampfkraft der Arbeiterklasse zu schwächen und sie zu spalten. Sie sehen überhaupt nicht, dass es eine zentrale Frage des politischen Kampfes ist, diese Spaltungen zu überwinden. In letzter Instanz ist das nur im Klassenkampf möglich. Gerade dafür gibt es aber im gesamten Text des „Kommenden Aufstands“ keinen einzigen Vorschlag. Das ist umso bemerkenswerter, als es gerade in Frankreich in den letzten Jahren zahlreiche Klassenkämpfe gab, in denen die Gewerkschaften und die Lohnabhängigen, v.a. des Öffentlichen Dienstes, im Transportsektor (Bahn) oder bei den Raffinerien, eine entscheidende Rolle spielten.

Diese Kämpfe werfen allerdings auch die Frage auf, warum die millionenstarken Proteste und Streiks bisher keinen durchschlagenden Erfolg hatten und Kapital und Regierung ihre Macht behalten konnten. Auf die Frage, welche reformistischen Führungen und Konzepte die Mobilisierungen letztlich ausverkauften und deren Zuspitzung verhinderten, erhalten wir ebensowenig irgendeine substantielle Auskunft.

Am Schluss des dritten Kreises lassen die Autoren die Katze aus dem Sack: „Sich darüber hinaus und gegen (sic!) die Arbeit zu organisieren, kollektiv vom Regime der Mobilisierung zu desertieren, (…) ist die einzige Art, die zu überleben.“ Nicht die Veränderung der Arbeitswelt, nicht deren grundsätzliche Umwandlung infolge und im Zuge einer sozialistischen Revolution, nicht die Aufklärung, Mobilisierung und Organisierung des Proletariats – und v.a. dessen „schwere Bataillone“ in den industriellen Zentren – ist das mutige Ansinnen des Manifests. Sein ärmliches „Credo“ ist das Desertieren, die Flucht aus der Arbeit und der Arbeitswelt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit ist nicht so etwas wie ein Streik, ganz zu schweigen von einer Produktionskontrolle durch die ArbeiterInnen gemeint.

Diese Orientierung ist gleich in mehrfacher Hinsicht absurd. 1. versetzt sie die Bourgeoisie nicht gerade in Schrecken, denn diese hat allemal genug Arbeitslose, die arbeiten müssen, um leben zu können, um ein paar vom kommenden Aufstand träumende Aussteiger ersetzen zum können. 2. würde die Aussteiger-Perspektive überhaupt nur einen Sinn machen und sozialen Druck erzeugen, wenn sie massenhaft befolgt würde und nicht nur individuell. Doch wie das erreicht werden könnte, welche politischen und organisatorischen Implikationen das hätte – selbst vor dieser Frage, die sich unser Komitee stellen müsste, wenn es wenigstens seine eigenen Ideen ernst nehmen würde, ergreift man die Flucht. 3. werden die meisten Lohnabhängigen (und umso mehr Arbeitslose) die Flucht-Vorschläge unserer „akademischen“ Sozialrevoluzzer als bitteren Scherz empfinden, wenn sie daran denken, sich und ihre Familien durchzubringen. Denn: gerade weil der Kapitalismus alles verwertet – also Alle ohne Geld ein Niemand sind -, was die Autoren seitenweise selbst beklagen, sind sie eben gezwungen, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen.

Das politisch-methodische Fazit des „Kommenden Aufstands“ ist jedenfalls klar: Nicht Kampf mit und um die Arbeiterklasse, sondern Flucht von und aus ihr heißt das Rezept! Wohin die Flucht führen soll, werden wir noch sehen.

Vierter Kreis

In diesem Teil beschreiben die Autoren näher, was ihre Auffassung von „Widerstand“ ist. Es heißt dort:

„Die erste Geste, damit etwas mitten in der Metropole hervorbrechen kann, damit sich andere Möglichkeiten eröffnen, besteht darin, ihr Perpetuum Mobile zu stoppen. Das ist es, was die thailändischen Rebellen verstanden haben, die Umspannwerke hochgehen lassen. Das ist es, was die Anti-CPE verstanden haben, die die Universitäten blockierten, um dann zu versuchen, die Wirtschaft zu blockieren. Das ist es auch, was die im Oktober 2002 streikenden amerikanischen Hafenarbeiter verstanden haben, die für den Erhalt von 300 Arbeitsplätzen zehn Tage lang die wichtigsten Häfen der West-Küste blockierten. Die amerikanische Wirtschaft ist von den kontinuierlichen Flüssen aus Asien derart abhängig, dass sich die Kosten der Blockade auf eine Milliarde Euro am Tag beliefen. Mit zehntausend Leuten kann man die größte Wirtschaftsmacht ins Wanken bringen. Hätte die Bewegung noch einen Monat länger gedauert, wäre es laut mancher ‚Experten‘ zu einer ‚Rückkehr der USA in die Rezession und einem wirtschaftlichen Albtraum für Süd-Ost-Asien‘ gekommen.“

Diese Passage lohnt, genauer betrachtet zu werden, weil sie viele Fehler der politischen Methode des „Kommenden Aufstands“ fokussiert.

Erstens zeigt dieser Abschnitt, v.a. der richtige Verweis auf die soziale Kraft des Proletariats in Gestalt der streikenden amerikanischen Docker, dass – entgegen der sonstigen Intention des Textes – die Arbeiterklasse auch heute noch (in Wahrheit heute umso mehr) die entscheidende Macht ist, das System ins „Wanken“ zu bringen oder gar zu stürzen.

Zweitens verrät der Text aber eben auch das Unverständnis der Autoren vom Klassenkampf. Da wird ein Streik in einem strategischen Sektor der Wirtschaft der USA oder die Blockaden von Unis, Schulen und des Verkehrs in Frankreich auf eine Stufe gestellt mit der Sprengung eines Umspannwerkes in Thailand. Streiks wie Massenbewegungen sind immer Aktionen, die eine bestimmte Form von Organisation von Massen und ihre Bewußtseinsbildung implizieren. So spielten bei den amerikanischen Dockern wie bei der Anti-CPE-Bewegung in Frankreich Gewerkschaften bzw. betriebliche u.a. Basisstrukturen sowie tw. die Linke eine zentrale Rolle, während die Sprengung eines Umspannwerkes durch „Rebellen“ – also die geheime Aktion einer kleinen Verschwörergruppe oder gar eines Einzelnen – etwas ganz anderes ist. Wie „effektiv“ und politisch „sinnvoll“ solche Anschläge sind, zeigte sich 2011 in Berlin, als irgendwer (vielleicht animiert durch die Lektüre des „Kommenden Aufstands“?) eine zentralen Kabelbaum kappte. Der Ausfall von Zügen, das Erlöschen des Lichts im OP-Saal und das Steckenbleiben im Fahrstuhl hat die Leute jedoch nicht zum Aufstand und auch nicht zu antikapitalistischen Einsichten geführt, sondern nur deren verständliche Wut über ein paar Idioten angefacht.

Drittens. Mit „zehntausend Leuten“  kann man eine Wirtschaftsmacht tatsächlich  „ins Wanken“ bringen – doch kippen wird sie nicht. Auch nicht, wenn der Streik in den West-Küsten-Häfen der USA noch länger gedauert hätte. Was unsere Autoren unterschätzen, ist ganz einfach, dass die Wirtschaft nicht einfach zusammensackt, wenn so und so viele Milliarden Schäden durch Streiks entstehen. Was wäre denn geschehen, wenn der Streik auch nur ein paar Tage länger gedauert hätte? Ganz einfach: der US-amerikanische Staat hätte die Nationalgarde, eventuell die Army und auf jeden Fall einige tausend Streikbrecher eingesetzt, um die Häfen wieder in Gang zu bringen. Die Möglichkeiten, die Absicht, den rechtlichen Rahmen und die Medien dazu hat der Staat.

Was unsere Autoren vergessen, ist, dass Klassenkampf immer auch einen politischen Kampf darstellt, dass der Konflikt einiger Sektoren immer auch ein Gesamt-Klassenverhältnis widerspiegelt.

Viertens zeigt sich in diesem Zitat, dass das Komitee keine Ahnung davon hat, wie ein Klassenkampf gewonnen werden kann respektive, warum er verloren gehen oder mit einem Kompromiss enden kann. Wenn der erwähnte Docker-Streik oder die Bewegung gegen CPE wirklich erfolgreich sein soll, dann muss der Kampf über einzelne Sektoren ausgedehnt werden und zu Massen- oder Generalstreiks führen, um Staat und Kapital zum Nachgeben zwingt. Und auch nur solche  Massenaktionen werfen wirklich die Machtfrage auf – ohne sie jedoch automatisch zu lösen.

Solche Massenaktionen sind aber nicht durchführbar, ohne dass starke Parteien oder Gewerkschaften sie vorbereiten, ausrufen und organisieren. In den USA gibt es noch nicht einmal eine reformistische Arbeiterpartei und die Gewerkschaftsbe-wegung ist schwach, zersplittert und oft nicht gerade sehr kämpferisch; in Frankreich dagegen gibt es gleich mehrere reformistische Parteien (KP, SP), Gewerkschaften (CGT, CFDT, FO u.a.) sowie einige linke Organisationen, die über einigen Einfluss verfügen (z.B. die NPA).

Während in den USA der Hafenstreik nicht zu größeren Solidaritätsaktionen anderer Bereiche führte, war die Bewegung gegen CPE u.a. in den letzten Jahren eine landesweite, die mehrfach mit Generalstreiks verbunden war und tw. sehr militant geführt wurde. Trotzdem hat auch sie Regierung und Kapital nur „ins Wanken gebracht“, aber nicht gestürzt. Warum?

Wir wollen hier – im Unterschied zum Komitee, das nur über das „Wanken“ schwärmt, ohne zu sagen, wie daraus ein Stürzen werden könnte – zwei zentrale Gründe dafür anführen, warum die Bewegung nicht weiter ging. Zum einen fehlte der Bewegung eine Kampfführung, welche die Bewegung bewusst weiter führen wollte und dafür einen Plan hatte. Die refomistischen Spitzen von KP, SP und Gewerkschaften waren nur daran interessiert, Druck aufzubauen, um Zugeständnisse zu erzwingen und zugleich ihre Rolle als Führer und Unterhändler zu legitimieren, um die Bewegung dann wieder zu demobilisieren. Jedem Kampf um die Macht oder gar für Sozialismus weichen sie aus. Warum lassen die Massen das zu? Weil sie über keine alternativen Führungen und Organisationen verfügen, weil sie über keinen alternativen Plan für den Kampf oder gar für die Machtergreifung verfügen. Genau darum geht es aber für all jene, die den Kapitalismus nicht nur bekämpfen, sondern ihn auch besiegen wollen: um ein revolutionäres Programm und eine darauf gegründete revolutionäre Arbeiterpartei und -internationale.

Dieser Schlussfolgerung auf über 80 Seiten Text nicht einmal nahe gekommen zu sein, ist ein  Hauptmanko des „Kommenden Aufstands“.

Die Kreise fünf bis sieben

Auch aus Platzgründen wollen wir auf diese Abschnitte nicht näher eingehen, jedoch einige Bonmots zitieren, die verständlich machen, warum „Der kommende Aufstand“, obwohl er politisch eine sehr dünne Suppe bietet, doch einige schmackhafte Häppchen enthält und von vielen Leuten verschlungen wird.

Zur Ökologie – gemeint ist die ökologische Bewegung – lesen wir sehr treffend: „Das gegenwärtige Paradox der Ökologie ist es, das sie unter dem Vorwand, die Erde zu retten, lediglich das Fundament dessen rettet, was aus ihr dieses verödete Gestirn gemacht hat.“ Das zu lesen, wäre für alle Grünen sinnvoll.

Oder: „Die Abgeschmacktheiten der Weihnachtsmärkte lassen sich mit immer mehr Wachleuten und Stadtpolizeistreifen bezahlen.“ Oder: „Das Abendland, das ist heute ein GI, der in einem Abraham M1 Panzer nach Falloudja rast und volle Pulle Hardrock hört.“

Ja, als Feuilleton hat der Text seine Reize, als politisches Pamphlet, als das er sich – schon nach dem Titel – versteht, ist er allenfalls aufreizend, jedoch nicht erhellend. Wir sehen das v.a. auch in den Schlusskapiteln, die mit „Auf geht´s!“, „Sich finden“, „Sich organisieren“ und „Aufstand“ überschrieben sind.

„Sechzig Jahre der Befriedung, ausgesetzter historischer Umwälzungen (…) demokratischer Anästhesie und Verwaltung der Ereignisse haben in uns (…) geschwächt (…) den parteilichen Sinn für den laufenden Krieg.“

Ein Hoch auf die Geschichtsschreibung! Die letzten 60 Jahre, also die gesamte Menschheitsgeschichte seit 1947, grob gesagt also seit Konstituierung der Nachkriegsordnung, können die Autoren bloß als „Stillstand“ der Geschichte fassen. Allein eine kurze Erinnerung an den französischen Mai ‘68 führt dieses Zerrbild jedoch ad absurdum. Der Befriedung ging damals bekanntlich eine revolutionäre Situation voraus. Die mögliche historische Umwälzung wurde nicht „ausgesetzt“, sondern es war die aktive Rolle der reformistischen Führung der französischen Arbeiterklasse, allen voran der Verrat der KP, der zur Niederlage der Revolution führte. Den 12 Millionen, die sich am Generalstreik beteiligten, mangelte es damals nicht am „parteilichen Sinn für den laufenden Krieg“, sondern an einer revolutionären Führung, die sie zum Sieg hätte führen können. An „parteilichem Sinn“ mangelte es auch nicht den damals rasch entstandenen trotzkistischen und maoistischen Gruppierungen, wohl aber fehlte all diesen zentristischen Organisationen ein klares revolutionäres Programm, eine Strategie und Taktik, mit der sie den Einfluss des Reformismus brechen und die Führung der Massenbewegung hätten erlangen können.

Noch viel absurder wird die „Zusammenfassung“ der Nachkriegsgeschichte, wenn wir die vielen großen Umwälzungen vor Augen halten, die Siege von Befreiungsbewegungen, Arbeiterkämpfe, Revolutionen einerseits wie imperialistische Interventionen, strategische Angriffe auf die Lohnabhängigen, Konterrevolutionen andererseits. Sie übten immer einen nachhaltigen Einfluss aus: auf die Bewusstseinsentwicklung und Kampffähigkeit, in Phasen des Niedergangs und des Aufschwungs, bei Radikalisierung oder bei der Befriedung oder gar bei Demoralisierung und Resignation.

Gemeinsam war all diesen Phasen jedoch, dass sie immer auch mit dem Kampf verschiedener politischer Klassenkräfte innerhalb der Bewegungen der Unterdrückten und Ausgebeuteten einhergingen; gemeinsam ist den verschiedenen Phasen, Kämpfen, Bewegungen auch, dass sie von nicht-revolutionären (reformistischen, nationalistischen, stalinistischen) Kräften dominiert und geführt wurden.

Die Gretchenfrage ist daher, wie dieser Zustand überwunden werden kann – und dazu gelangt das Manifest zu einer durchaus überraschenden – und bezeichnenden – Schlussfolgerung:

„Es ist vergeblich, auf legalem Wege gegen die vollendete Implosion des legalen Rahmens zu protestieren. Entsprechend muss man sich organisieren.“

Falsch daran ist erstens, dass der legale Rahmen verschwunden wäre. Im Gegenteil: Zumindest in den imperialistischen Zentren ist er der Normalfall der Form bürgerlicher Herrschaft. Noch absurder ist, anzunehmen es wäre „vergeblich“, auf legalem Wege zu kämpfen. Nicht nur, dass fast jede Form von Protest und Widerstand sich im legalen Rahmen bewegt oder zumindest darin beginnt (Demonstrationen, Streiks); es ist einfach Unsinn, zu behaupten, legale Kämpfe würden nichts bringen. Die Geschichte des Klassenkampfes kennt tausende Beispiele dafür, wie „ganz legal“ Staat und Kapital bestimmte Zugeständnisse und Erfolge abgerungen wurden.

Richtig ist sicher, dass Kämpfe und Kampfmethoden oft den legalen Rahmen überschreiten müssen, wenn sie Erfolg haben wollen – zudem der Klassengegner bei Bedarf als erster auf die Demokratie, auf die Verfassung usw. pfeift. Doch auf legale Mittel von vornherein zu verzichten, heißt auch, von vornherein auf zwei wesentliche Faktoren im Kampf zu verzichten: auf die Massen und alle legalen – also die Mehrzahl aller – Kampfmethoden in „normalen“ Situationen, also in nicht-revolutionären Momenten. In der Endkonsequenz bedeutet die uns hier empfohlene „Taktik“ für alle solche Situation – Verzicht auf den Klassenkampf überhaupt!

Nach diesem Ruf an die Massen „Kämpft nicht!“ folgt der Rat „Organisiert Euch nicht!“ Ein, angesichts der Kapitelüberschriften, seltsam anmutender Rat – und doch geht es genau darum.

„Es gibt keinen Grund“, beginnt die nächste Empfehlung, „sich (…) zu engagieren, in dieser oder jener Sackgasse der radikalen Linken“, denn „alle Organisationen, die vorgeben, die gegenwärtige Ordnung anzufechten, haben selbst wie Marionetten die Form, Sitten und die Sprache von Miniaturstaaten.“ Was immer das heißen soll, können wir nur ahnen. Wissen können wir allerdings, dass wir dieser Pauschalverurteilung von in jeder Hinsicht sehr unterschiedlichen linken Strukturen gegenüber äußerst argwöhnisch sein sollten – wie gegenüber jeder Pauschalisierung. Außerdem vergessen unsere neunmalklugen Linken-Kenner, dass diese bösen linken Gruppen immerhin oft eine sehr aktive Rolle in jenen Kämpfen spielen, welche unser kritisches Komitee so gut findet, weil diese mitunter das System ins „Wanken“ bringen. Sollen sie selbst mit diesem Widerspruch herumschlagen.

Mit der kategorischen Ablehnung linker Organisierung geht hier die Weigerung einher, sich ernsthaft mit den Diskussionen innerhalb der „radikalen Linken“ auseinanderzusetzen. Wenngleich man auch viele Momente linker Politik kritisieren kann – unter ihnen sowohl Sektierertum als auch Opportunismus – so ist es doch billig, sich gar nicht erst auf eine Diskussion einzulassen.

Damit ignorieren die AutorInnen grundlegende Aufgaben linker Politik im Verhältnis zu Bewegungen. Denn Proteste wie jene gegen den CPE beginnen und werden, solange sie sich im Rahmen bürgerlicher Verhältnisse bewegen und nicht zu einer revolutionären Lösung kommen, ab einem bestimmten Punkt auch wieder zu Ende gehen. Die Aufgabe von revolutionärer Politik verstehen wir dabei nicht nur darin, in solchen Bewegungen aktiv mitzuarbeiten und sie mit aller Kraft aufzubauen, sondern vor allem darin, ein langfristiges politisches und organisatorisches Angebot zu machen, um in- wie außerhalb konkreter Bewegung den Aufbau einer kommunistischen Partei voranzutreiben. Das Komitee hat jedoch eine andere Logik: In letzter Instanz gilt es – so oft sie auch in radikaler Wortwahl bestehende Kämpfe wertschätzen – sich von solchen Protesten fernzuhalten, um alternative Inseln aufzubauen, die jedoch das Bestehende unangetastet lassen.

Nach diesen politischen Einschätzungen wundert es uns nun nicht mehr, dass unsere Helden des „Kommenden Aufstands“ sich – wie alle wirklichen Gutmenschen – von der Welt verlassen fühlen: „Wir gehen aus von einem Punkt der extremen Isolation, der extremen Ohnmacht. Alles ist (daher) aufzubauen im aufständischen Prozess.“

Sicher, auch wir gehen davon aus, dass die historische Kontinuität der revolutionären Arbeiterbewegung in jeder Hinsicht seit Jahrzehnten – genauer seit dem Zerfall der revolutionären IV. Internationale Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre – abgerissen ist. Wir gehen deshalb davon aus, dass eine neue, die Fünfte Internationale aufgebaut werden muss. Wir wissen, dass das viel theoretische und organisatorische Arbeit erfordert und die Verbindung von revolutionärer Politik mit realen Klassenkämpfen.

Doch wir beginnen dabei keinesfalls beim Punkt Null. Wir verfügen über die praktischen Erfahrungen und die theoretischen Errungenschaften von rund 150 Jahren Klassenkampf, Marxismus und kommunistischer Bewegung. Vor allem aber können und müssen wir an real vorhandene Kämpfe, Strukturen und Organisationen anknüpfen – das bedeutet Kooperation im Klassenkampf genauso wie politischen Kampf gegen Bürgerliche aller Couleur, gegen Reformismus, Zentrismus usw.

Wer, wie das „Unsichtbare Komitee“ von einer „extremen Ohnmacht“ spricht, der muss in einer  anderen Welt leben – in einer Welt, in der sich niemand wehrt, in der es keine Proteste und Kämpfe gibt. Ob Kampf gegen CPE, Proteste gegen Sparpakete, Widerstand gegen imperialistische Besatzung oder die revolutionären Aufstände in der arabischen Welt – wer glaubt, daran nicht anknüpfen zu können oder zu wollen, der kann sich nur noch selbst aufknüpfen.

Doch schauen wir, was die Autoren uns als ihre organisatorischen Vorschläge unterbreiten. Klar ist jedenfalls, dass alle vorhandenen Organisationen nichts taugen. „Ihr wiederholter Verrat (…) hat sie am meisten von der Verbindung zu ihrer Basis entfremdet.“ Das ist richtig, wirft aber die Frage auf, warum das so ist bzw. wer oder was dafür verantwortlich ist. Wir würden sagen: der Reformismus. Das Komitee meint dazu – nichts. Doch wie immer ziehen sie aus einer dürftigen Analyse einen umso deftigeren Schluss: „Nichts von den Organisationen erwarten“, oder – als Krönung des individuellen Widerstands – einen „konsequenten Austritt“ vollziehen.

Hier stolpern unsere antikapitalistischen Helden in die erstbeste Falle der Reformisten. Die sind nämlich immer sehr froh darüber, wenn niemand Forderungen an sie stellt, sich keine/r in ihre Bürokraten-Belange mischt oder ihnen gar das Handwerk legt. Auch die stille Hoffnung des Komitees, dass alle aus den bürokratischen Massenorganisationen austreten, wird sich nicht erfüllen. Erstens wäre das nach über hundert Jahren vorherrschenden Reformismus schon lange passiert und zweitens muss es offenbar ein paar gute Gründe für Millionen Lohnabhängige geben, trotzdem – freiwillig – in Gewerkschaften Mitglied zu sein. Doch es fällt uns schon schwer genug, dem Komitee das ABC erklären zu müssen, wir wollen nicht auch noch die Tinte analysieren.

Erwähnt sei aus dem Abschnitt „Sich finden“ nur noch ein schlagendes Beispiel dafür, wie politische Blindheit sich mit Frechheit paart: „Alle Milieus (gemeint sind hier Organisationen, d.A.) sind konterrevolutionär, da ihr einziges Anliegen der Erhalt ihrer miesen Bequemlichkeit ist.“

Das große Zauberwort, mit dem alle Fragen, wie man sich organisieren muss, gelöst werden, ist der Begriff „Kommune“. Natürlich wird darunter nicht etwa das verstanden, was die Kommune historisch ursprünglich war, ein in sich demokratisches, aber in der Funktion (allerdings nur aufgrund der Dominanz von RevolutionärInnen darin) revolutionäres Kampf- und Machtorgan des Proletariats, zuerst in der Pariser Kommune von 1871, später dann u.a. in den Sowjets in der Russischen Revolution von 1917. Nein, natürlich verstehen unsere AutorInnen das darunter, was sie darunter verstehen wollen. Auch hieran zeigt sich ihre durchaus idealistische und unhistorische Methode. Sie jonglieren mit Begriffen, die ihnen in ihrem Ungeschick dann auch noch ständig aus den Händen rutschen.

Trotz vieler Worte wird nie ganz klar, was eine Kommune für sie wirklich ist, wie sie entsteht und nach welchen Prinzipien sie arbeitet. Die Kommune-Konzeption des Komitees ist – wohlwollend ausgedrückt – etwas schillernd. Immerhin erfahren wir aber u.a., dass „Jeder wilde Streik (…) eine Kommune, jedes kollektiv besetzte Haus (…), die Aktionskomitees von 68“ usw. eine Kommune sind. Unterm Strich: jede kollektive oppositionelle Struktur kann also eine Kommune sein. Bezeichnend ist allerdings schon, dass ein wilder Streik eine Kommune sein kann, ein organisierter aber nicht!

Nun ist es aber so, dass die wirklich effektiven Streiks meist Massenstreiks- oder Generalstreiks (z.T. politische) waren. Gerade die sind aber eben fast immer keine wilden Streiks und können es auch gar nicht sein. Doch das ficht unsere, offenbar außerhalb jeder historischen Erfahrung denkenden, Kommune-Experten nicht an.

Zur Funktion der Kommune erfahren wird dann u.a. auch: „Der Anspruch der Kommune ist es, für alle so viel Zeit wie möglich freizumachen.“ Mit Zeit ist hier v.a. die Zeit, „die frei von lohnabhängiger Ausbeutung“ ist, gemeint. Daher ist auch der Abschnitt „Sich organisieren“ mit dem Slogan „Sich organisieren, um nicht mehr arbeiten zu müssen“ untertitelt.

„Die Kommune ist die elementare Einheit der Realität der Partisanen.“ Nur, wer von Partisanenkampf oder Bürgerkrieg nicht die geringste Ahnung hat, kann glauben, dass das kleinbürgerliche Puppenstuben-Modell der autonomen „Kommune“ des Komitees die elementare Einheit von irgendetwas sein kann, schon gar nicht des bewaffneten Kampfes.

Die systemsprengende Kraft der Kommune soll sich gerade dadurch entfalten, dass diese a) nicht die Mehrheit, sondern immer nur die Minderheit organisiert; dass sie b) fern von der Arbeiterklasse existiert als eine Kommune von Arbeitslosen, was nicht despektierlich gemeint ist, sondern nur darauf verweist, dass c) diese Kommune eben wenig oder keine Möglichkeiten hat zu streiken oder die Produktion zu kontrollieren und umzugestalten.

Wer wirklich glaubt, dass diese Art von „Kommune“ eine geeignete Struktur ist, um einen „kommenden Aufstand“ vorzubereiten oder gar durchzuführen, der glaubt auch, aus Heringsbrühe wird Wein, wenn sie nur in Flaschen gefüllt wird.

Was tut eine solche Kommune mit ihrer gewonnenen Zeit? „Plündern, anbauen, herstellen“, gibt eine Zwischenüberschrift die Richtung an. Wenn einzelne Habenichtse sich was klauen, um leben zu können, ist das in Ordnung. Wenn eine ganze Klasse, wenn Millionen diese Alternative wählen, kann das aber nicht funktionieren. Aber dem Komitee geht es ja, wie wir inzwischen gemerkt haben, auch gar nicht um die Gesellschaft – es sei denn als Gegenstand, die Misere zu beklagen – sondern um die „Befreiung“ jener Minderheit von „aufgeklärten Antikapitalisten“, die sich in einer Kommune organisieren wollen und können, die containern gehen, um sich zu ernähren – nicht, weil sie es müssen, sondern weil sie es als „alternativ“ ansehen. Der arme Schlucker in der „Dritten Welt“, der wirklich im Abfall wühlen muss, um zu überleben, hätte ganz sicher eine sehr andere Ansicht von einer „alternativen“ Lebensweise als unsere Aufständler.

Die Ausgestaltung der selbstgewählten lumpenproletarischen Mini-Idylle nimmt überhaupt breiten Raum bei der Vorbereitung des “Kommenden Aufstands“ ein. „Wie können wir die betonierten Räume in städtische Gemüsegärten verwandeln, wie das Cuba tat“? Die Versorgungsnot, die v.a. der Unfähigkeit der kubanischen Stalinisten, eine Planwirtschaft zu organisieren, geschuldet ist, wird von unseren kleinbürgerlichen Weltverbesserern noch als Tugend hingestellt.

Die Kommune müsse „Auf Dauer die Fähigkeit erlangen, sich (ihre) grundlegende Versorgung selbst zu schaffen …“. Während man im Garten Unkraut zupft, wird überlegt, wie man hernach noch den Kapitalismus ausreißt.

Über die Funktionsweise der Kommune erfahren wir u.a.: „Die Versammlung ist nicht für die Entscheidung gemacht, sondern für das Palaver, für das freie, ziellos (sic!) ausgeübte Wort.“ Nein, das ist kein Scherz, das ist ernst gemeint! Sollte eine Bewegung oder Organisation tatsächlich nach diesem Rezept handeln, wäre das tatsächlich ein Schuss ins eigene Knie. Jeder Klassenkampf, ja das Leben überhaupt würde verunmöglicht, wenn Menschen (und umso mehr Gruppen) keine Absprachen treffen würden, die natürlich auch eine Verbindlichkeit haben müssen.

In der politischen Praxis erleben wir oft genug „Libertäre“, die mit ihrer Konsens-und-Anti-Beschluss-Orientierung jede Bewegung und jede Aktion ruinieren. Dabei ist es natürlich nicht etwa so, dass dann etwa keine Beschlüsse gefasst würden, sie werden nur ohne Öffentlichkeit, ohne Mehrheit, ohne demokratische Legitimation von einem selbsternannten informellen Klüngel getroffen.

Zur Frage der Strategie, dazu, was der kommende Aufstand nun genau ist, kommen die Autoren an keiner Stelle des nicht ganz kurzen Textes. Für MarxistInnen jedenfalls sind Revolution und Aufstand nicht dasselbe. Aber auch das hat das Komitee von seinem politischen Wolkenkuckucksheim aus „übersehen“.

Immerhin verweist wieder eine Zwischenüberschrift auf so etwas wie „Strategie“. Es gelte nämlich, lesen wir da, „Alle Hindernisse umzustürzen, eins nach dem anderen.“ Wenn das überhaupt etwas bedeuten kann, dann das: Vorwärts in kleinen Schritten, nach und nach, oder – um es mit Hegel zu sagen – Anhäufung von Quantitäten. Damit ist indirekt der qualitative Sprung einer Revolution ausgeschlossen. Die Autoren können sich zwar nicht genug über die traditionellen Strukturen, Milieus, Organisationen usw. erregen – was ihnen aber selbst strategisch einfällt, ist auch nichts anderes als – Reformismus. Hier fällt uns ein, wie einst Lenin treffend die Anarchisten nannte: Liberale mit Revolver.

Es überrascht nicht, dass die hier präsentierte Aufstands- und Kommune-„Konzeption“ völlig von der Realität des Klassenkampfes und von der Dynamik der sozialen und wirtschaftlichen Prozesse im Kapitalismus abgekoppelt ist. Nach dem Motto „Ich will, also bin ich“ stellen die Autoren Widerstand und Organisation als reinen Willensakt dar. Schon in jenen Passagen, wo es um die Ausnutzung oder Nichtausnutzung der Demokratie und der Legalität geht, war es ihnen völlig egal, unter welchen objektiven Bedingungen man zu kämpfen gezwungen ist, dass es davon abhängig also sehr unterschiedliche Formen und Methoden des Kampfes – legale wie illegale – geben kann und muss.

Bezeichnend für die Substanz der Ansichten des Komitees ist auch, dass es die Widersprüche in seiner eigenen Argumentation überhaupt nicht bemerkt. Einerseits wird fast enthusiastisch über Streiks, Proteste, Blockaden usw. geschrieben, wie z.B.: „Es liegt meist an den sozialen Bewegungen, den Ablauf des normalen Desasters zu unterbrechen.“ Andererseits finden wir Sätze wie diese: „Alle Bündnisse sind da überflüssig, wo man sich verbündet, die Organisationen sind immer da zuviel, wo man sich organisiert.“ Ja, was nun?! Hier liebt unser Komitee das Feuer, nur gegen den Rauch hat es was.

Und – natürlich – wird an keiner Stelle analysiert, was genau an der Art der Organisation, an der Kampftaktik oder an den Bündnispartnern etwa falsch ist. So genau nimmt man´s da nicht, insofern ist die „radikale“ Kritik an Organisationen, Bündnissen usw. nichts als eine hohle Geste.

Im letzten Abschnitt „Aufstand“ wird – wer hätte das auch erwartet?! – nichts über den Aufstand gesagt, nichts darüber, wie er von wem wie vorbereitet und durchgeführt wird. Der Marxismus spricht vom Aufstand als eines sehr spezifischen Akts einer Revolution, er spricht vom Aufstand als einer „Kunst“ (Lenin), der den Punkt der direkten Übernahme der Macht markiert. Von unserem aufständischen Komitee erfahren wir dazu gar nichts. Ihr „Kunstverstand“ besteht allenfalls darin, eventuell zu ahnen, dass es wohl Noten und Instrumente geben könnte …

Fazit

Was ein politischer Text taugt, muss daran gemessen werden, was er zur Weiterentwicklung des Verständnisses von Kapitalismus, Arbeiterklasse, Widerstand und Klassenkampf beiträgt. Er muss v.a.  daran gemessen werden, was er konkret vorschlägt, um die vorhandenen Kämpfe, Programme, Führungen, Taktiken usw. zu verbessern.

Was „Der kommende Aufstand“ an Analyse, an Theorie, an Empirie bringt, geht gegen Null. Lediglich ein Übermaß an – verständlichem – Abscheu gegen den Kapitalismus kann ihm positiv attestiert werden. Das ist für 80 Seiten jedoch etwas wenig!

Insoweit er überhaupt Handlungsorientierungen gibt, laufen die allesamt nur auf eines hinaus – auf Desertion! Verlasst die Organisationen, meidet Bündnisse, flieht die Betriebe, haltet euch von der Arbeiterklasse fern, verhindert Beschlüsse, ignoriert Mehrheiten! Das sind die „Ratschläge“, um einen „kommenden Aufstand“ vorzubereiten.

Das gesamte Verständnis von Widerstand, Organisation – oder besser: Nichtorganisation -, von  Kommunen entlarvt sich auf jeder Seite des Pamphlets als kleinbürgerlich, individualistisch. Soweit es auch anarchistisch und autonomistisch ist, dann ist es ein Anarchismus und Autonomismus der billigsten Sorte. Von Marxismus haben die Autoren sowenig Ahnung wie der Hering von der Wüste. Allenfalls einige Versatzstücke glauben sie verstanden zu haben – davon, dass der Marxismus auch eine Wissenschaft vom Klassenkampf ist, haben sie nichts begriffen.

Das – angesichts des schmalen Inhalts – erstaunlich breite Interesse am „Kommenden Aufstand“ zeugt v.a. vom Interesse an Ideen, die sich auf sehr grundsätzliche Art gegen den Kapitalismus wenden.

Das ist aber nur ein Grund für seinen Erfolg. Die eigentliche Ursache ist darin zu finden, dass die aktuelle Krise des Kapitalismus zu einer Verelendung, ja tendenziellen Deklassierung von Teilen der Bevölkerung, v.a. der Jugend führt. Mehr und mehr verunmöglicht die herrschende Gesellschaftsordnung einem Teil der Ausgebeuteten, sich selbst als LohnarbeiterInnen zu reproduzieren, sie werden selbst in den imperialistischen Ländern zu „prekär“ oder oft überhaupt nicht Beschäftigten. Ein Teil dieser Schicht bildet ein überausgebeutetes, oft migrantisches (Sub)proletariat, ein anderer sinkt mehr und mehr Richtung Lumpenproletariat ab.

Zugleich ist auch ein immer größerer Teil der Intelligenz – v.a. die studentische Generation – von sozialem Abstieg bedroht. Die reformistischen Parteien und Gewerkschaften bieten keine Perspektive, ergehen sich in Halbheiten, Kompromissen oder in direkter Zusammenarbeit mit Staat und Kapital bei den Angriffen auf die Massen.

Die AutorInnen des „Kommenden Aufstands“ gehören dieser Intelligenz an und erblicken das zukünftige Heil in den spontanen Revolten des Subproletariats und verwandter Klassen (deklassiertes Kleinbürgertum und Lumpenproletariat). So berechtigt diese „Aufstände“ sind – so sehr sind sie begrenzt. Die Autoren idealisieren und fetischisieren jedoch diese „Brüche“.

Für die AutorInnen des „Kommenden Aufstandes“ ist die sozialistische Revolution kein bewusster Akt der Befreiung, der einer politischen Vorbereitung und Organisierung bedarf, sondern letztlich ein automatischer Prozess, den es nur zu konstatieren gilt, dessen „natürliche“ Entfaltung allenfalls frei vom störenden Einfluss der „Organisationen“ zu machen ist. Dabei übersehen sie, dass der Kapitalismus ein Gesellschaftssystem ist, das sich nicht nur mittels eines Repressionsapparates an der Macht hält, sondern seine Existenz auch durch eine Verschleierung seiner wahren Ausbeutungsverhältnisse absichert.

Sie begreifen daher auch den Charakter historischer Krisenperiode nicht, die die Zusammenbruchstendenz des Kapitalismus und die Notwendigkeit seiner revolutionären Überwindung zum Ausdruck bringen. Diese Notwendigkeit kann jedoch nur durch eine bewussten, revolutionären Akt – die proletarische Weltrevolution – Wirklichkeit werden, sie kann nur zum Sieg und endgültigen Durchbruch dringen, wenn es eine bewusste revolutionäre Kraft, eine kommunistische Partei und Internationale gibt, die die Arbeiterklasse zur Errichtung ihrer Herrschaft und zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft führen kann.

Damit glauben sie zugleich auch, alle strategischen und taktischen, programmatischen und organisatorischen Probleme jeder wirklich revolutionären proletarischen Bewegung und Organisation zu „lösen“ – indem sie diese einfach negieren. Das dialektische Verhältnis von Reform und Revolution wird in der Entsagung an jede Reform (freilich, wie wir gesehen haben, auch an jede wirkliche Revolution) „gelöst“. Der Kampf um demokratische und effektive Kampfstrukturen, Massenorganisationen usw. wird durch die Absage an jede Organisationsform „gelöst“. Der reformistischen oder zentristischen Partei wird nicht der Kampf um eine revolutionäre Kampfpartei entgegengestellt, sondern die politische Enthauptung und Atomisierung der Arbeiterklasse wird als der „revolutionären“ Weisheit letzter Schluss präsentiert.

Doch jene, die praktisch gegen den Kapitalismus, seine Auswirkungen und seine diversen Agenturen kämpfen – ob in Palästina oder in Afghanistan, in Libyen oder Ägypten, in Athen oder in Madrid – diese Millionen brauchen andere Antworten darauf, wie sie ihre Kämpfe effektiv führen können, welche Taktiken, welche Organisationen, welche Führungen, welche Programme und welche Bündnispartner sie brauchen. Auf die Ratschläge von kleingärtnernden Revoluzzern können sie dabei getrost verzichten!

 




Die libysche Revolution und ihre Perspektiven

Martin Suchanenk, Revolutionärer Marxismus 43, Oktober 2011

Die Vertreibung Gaddafis, der Sieg der Aufständischen und die gleichzeitige Intervention der NATO – scheinbar auf Seiten des unterdrückten Volkes – haben nicht nur die Komplexität der aktuellen Weltlage verdeutlicht; sie haben auch eine politische Verwirrung der Linken offenbart, die für kommende Krisen und Kämpfe Schlimmes befürchten lässt.

Nach monatelangen Kämpfen fiel Ende August die libysche Hauptstadt Tripolis. Die Rebellen erlangten in kurzer Zeit die Kontrolle über die Millionenstadt. Der von Gaddafi und seinem Regime angekündigte erbitterte Endkampf blieb aus. Die Masse der Bevölkerung lehnte nicht nur die Unterstützung des bankrotten Regimes ab – sie begrüßte den Sieg der Aufständischen. Einzig in den wohlhabenderen Stadtteilen um Gaddafis Residenz hielt der Widerstand der Getreuen des alten Regimes einige Tage an.

Zweifellos war der Sieg der Rebellen durch das Eingreifen der NATO massiv begünstigt worden. Zweifellos hatte die NATO – getrieben von Frankreich und Großbritannien unter bedeutender militärischer und diplomatischer Beihilfe der USA – eine entscheidende Rolle gespielt, ohne die Gaddafi nicht so schnell gestürzt worden wäre, ja ohne die es zu einer blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes hätte kommen können, wie sie heute in Syrien droht.

Dass Großmächte auf der Seite von revolutionären Massenbewegungen und Aufständischen gegen bonapartistische Diktaturen eingreifen, ist selten – allerdings ist es auch nich einzigartig in der Geschichte des Kapitalismus und in der imperialistischen Epoche. Selbstverständlich geht es ihnen dabei darum, ihre eigenen imperialen Interessen zu verfolgen.

Für eine Bewertung und politische Positionierung ist jedoch entscheidend, ob dieses Eingreifen und die immer stärkere Unterordnung der Führung der Aufständischen – des „Nationalen Rettungsrates“ in Bengasi – gleichbedeutend damit war, dass die revolutionäre Erhebung der Massen des libyschen Volkes selbst ihren fortschrittlichen und berechtigten Charakter verloren hat.

Ein Teil der deutschen und internationalen Linken hat diese Thesen vertreten oder vertritt sie auch heute. Ihr zufolge wäre nicht nur der Rettungsrat, sondern der gesamte Aufstand, wären die Rebellen samt ihrer Anhängerschaft bloße Werkzeuge der westlichen imperialistischen Mächte, allen voran der USA. Ein Teil dieser Linken zog daraus den Schluss, dass Gaddafi gegen den Aufstand verteidigt werden musste. Andere wiederum gingen so weit, zu bestreiten, dass überhaupt eine Revolution, ja überhaupt eine Massenbewegung und ein Volksaufstand in Libyen stattgefunden hätten und die gesamte Bewegung nur eine Gruppierung gedungener Reaktionäre samt einem Fußvolk nützlicher Idioten gewesen sei.

Dieser Strömung zufolge bestünde ein grundlegender Unterschied zwischen der demokratischen Bewegung in Ägypten oder Bahrain einerseits und Libyen oder auch Syrien andererseits. Einmal handle es sich um eine zu unterstützende Volksbewegung gegen reaktionäre Diktaturen, das andere Mal um reaktionäre Proteste gegen „fast noch“ anti-imperialistische und „soziale“ Regime, deren Wohltaten die Untertanen partout nicht ausreichend zu würdigen wussten.

Im folgenden Beitrag wollen wir uns daher zuerst mit den Triebkräften der libyschen Revolution auseinandersetzen. Wir werden in diesem Zusammenhang noch einmal den politischen, reaktionären Charakter der Gaddafi-Diktatur herausarbeiten müssen, weil es gerade in der deutschen Linken – insbesondere in der neo-stalinistischen Tageszeitung „Junge Welt“ (JW) – nicht wenige gibt, die den Kampf gegen eine brutale, totalitäre Diktatur offenkundig nur dann für legitim halten, wenn er sich nicht gegen vermeintliche „Anti-Imperialisten“ richtet. Dabei wird nicht nur der repressive, polizeiliche Charakter, sondern v.a. der Klassencharakter solcher Regime – deren Verteidigung der Interessen der libyschen und z.T. ausländischen Ausbeuterklasse – geflissentlich übersehen oder verharmlost.

Außerdem werden wir auf die Strömungen in der Aufstandsbewegung eingehen, die hier auch gern als undifferenzierte Masse betrachtet wird. Wir werden zeigen, dass es sich dabei in Libyen um eine genuin revolutionäre Krise handelte, die – bei aller Besonderheit des Landes – Teil der revolutionären Welle war und ist, die den ganzen Nahen Osten und Nordafrika erschüttert.

Sodann werden wir uns mit den Gründen für das militärische Eingreifen der Imperialisten beschäftigen, ihren politischen und ökonomischen Interessen, wie auch der zunehmenden inner-imperialistischen Konkurrenz, die sich in der Libyen-Politik der verschiedenen Mächte abzeichnet.

Wir werden uns in diesem Kontext auch mit anderen Revolutionen und Kriegen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, wo imperialistische Mächte auf Seite der fortschrittlichen Kräfte intervenierten, ohne dass deshalb der fortschrittliche Charakter eines Kampfes geändert worden wäre.

Im letzten Abschnitt gehen wir auf die Situation seit dem Fall Gaddafis und auf die Perspektiven der libyschen Revolution ein. Wir werden dabei aufzeigen, dass – im Gegensatz zu vielen Einschätzungen – der Ausgang der libyschen Revolution noch nicht entschieden, sondern der Kampf vielmehr in ein neues Stadium getreten ist.

Ursachen des Aufstandes

Im Januar 2011 fanden auch in Libyen die ersten Demonstrationen gegen das Regime statt. Sie waren eindeutig von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten inspiriert, die Ben Ali und Mubarak zum Abdanken gezwungen hatten – auch wenn noch keinesfalls klar war, ob die entstehende Bewegung „nur“ demokratische Reformen oder die Beseitigung des Regimes selbst zum Ziel haben würde. Spätere Anführer des Aufstandes in Bengasi versuchten jedenfalls noch Anfang Februar, bei Gaddafi für Reformen Gehör zu finden. DIE ZEIT berichtet von einer Unterredung mit Abdul Ghoga, dem ersten Chef der späteren „Übergangsregierung“ der Aufständischen:

„Sie forderten in ihrer Gegenrede Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine Verfassung. Die junge Generation wolle stärker einbezogen werden in die Entwicklung ihres Landes. Sie brauche Wohnungen, eine gute Ausbildung und Arbeitsplätze. Gadhafi habe verwundert reagiert. Anders als sonst üblich habe er nicht ständig arrogant in die Luft gestarrt, sondern intensiv zugehört. Trotzdem wischte er ihre Forderungen am Ende vom Tisch. ‚Alles, was das Volk braucht, ist Essen und Trinken‘, sagte er. Niemand in Libyen sei scharf auf derartige Freiheiten, solche intellektuellen Diskussionen seien nicht gefragt.“ (1)

Diese Episode – wie sehr sie auch aus der Sicht der Aufstandsführer verzerrt wiedergeben sein mag – wirft ein bezeichnendes Bild auf das Verhältnis des „Revolutionärsführers“ zu seinem Volk und illustriert die tieferen Ursachen der Revolution.

Zweifellos wurde die Revolution von den Bewegungen in den Nachbarländern ermutigt. Sie teilten mit den LibyerInnen Jahrzehnte massiver Unterdrückung und der Vorenthaltung demokratischer Rechte.

Gaddafi stand seit dem von ihm geführten Militärputsch 1969 an der Spitze des Landes und stürzte die reaktionäre Monarchie. Politisch gab sich der „Revolutionsführer“ als „Panarabist“ und „islamischer Sozialist“ und wandte sich zeitweilig der „Afrikanischen Einheit“ zu.

Diese buntscheckigen ideologischen Aushängeschilder wie seine „anti-imperialistische“ Ausrichtung bis in die 1990er Jahre dürfen jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass Libyen unter Gaddafi immer eine Diktatur war, die sich auf den staatlichen und halbstaatlichen Repressionsorgansapparat stützte und aufgrund der großen Rohstoffeinnahmen des Landes einen gewissen sozialen Ausgleich in der Bevölkerung herstellen und traditionelle Eliten des Landes einbinden konnte.

Dabei verfügte das Regime nicht nur über eine 120.000 SoldatInnen starke Armee (ca. 50.000 Heer, 20.000 Luftwaffe, 8.000 Marine plus ca. 25.000 Wehrpflichtige). Hinzu kam eine ca. 40.000 Männer und Frauen starke Reserve, die „Volksmiliz“. Darüber hinaus hielt sich Gaddafi, der seit 1979 offiziell keine Staatsämter mehr innehatte, auch ihm bzw. seinen engsten Vertrauten unterstellte paramilitärische Einheiten als persönliche, von Stammesführern, Befehlshabern der Armee u.a. Teilen der herrschenden Cliquen des Landes unabhängige bewaffnete Macht, auf die er sich im Ernstfall verlassen konnte.

Gaddafi spielte den scheinbar über allen besonderen Interessen stehenden „Landesvater“ und „Revolutionsführer“, eine im Grunde klassisch bonapartistische Führungsrolle, die ihm und seinem Clan neben etlichen Feinden auch geschätzte 80 Milliarden Dollar Vermögen einbrachte.

Gaddafis Wende

Ende der 1990er machte das Gaddafi-Regime, das sich bis dahin als „anti-imperialistische“ Macht gefallen hatte, eine politische Kehrtwende um 180 Grad. Es schloss sich der „Koalition der Willigen“ im Krieg gegen den Irak an. 2004 wurde Tony Blair als erster westlicher Staatsgast seit Jahrzehnten in Tripolis empfangen, bald gefolgt von Gerhard Schröder.

Mit der veränderten politischen Ausrichtung ging natürlich auch ein dramatischer Wandel der Wirtschaftsbeziehungen einher. Alle imperialistischen Staaten hofften, mit Gaddafi ins Geschäft zu kommen, sich Bohrrechte zu sichern und Wirtschaftsabkommen zu schließen. So sprang schon beim Blair-Besuch 2004 ein 550 Millionen Pfund schweres Abkommen zwischen Shell und der libyschen Regierung heraus.

“Für die EU und die USA ist das in jeglicher Hinsicht verwaiste Libyen ein Idealfall. Die Ölproduktion soll von 1,6 Millionen Barrel pro Tag auf 3 Millionen im Jahr 2012 angekurbelt werden. Gleichzeitig sollen die Ölreserven, die achtgrößten der Welt, erschlossen werden. Chevron Texaco und Mathon/Conoco Phillips haben bereits 2005 ihre Schürfrechte gesichert. Auch die China National Oil hat sich erfolgreich um Suche von Gas auf einer Fläche von 40.000 Quadratkilometer Offshore beworben.

Das altmodische libysche Bankensystem soll mit Hilfe aus dem Ausland auf internationalen Standard gebrach werdent. 5 Milliarden Dollar sind nötig, die Infrastruktur des Landes zu verbessern.” (2)

Letztlich kauften sich v.a. französische und italienische Konzerne in die libysche Öl-Wirtschaft ein. So unterschrieb die italienische ENI 2007 einen Vertrag, der ihr Zugriff zu Öl- und Gasvorkommen bis 2047 sichert im Gegenzug für veranschlagte Investitionen von 28 Mrd. Dollar.

Libyen wurde auch zu einem gern gesehenen Käufer europäischer Waffentechnik und wurde außerdem zur Sicherung der EU-Außengrenzen vor afrikanischen Flüchtlingen ausgerüstet – was Gaddafis Regime auch zuverlässig und ohne große humanitäre Skrupel besorgte.

“Die Mittelmeerregion zwischen Libyen und Italien gehört zum Operationsgebiet der EU-Migrationspolizei Frontex (Europas Borderline). Laut deren Jahresbericht von 2009 haben die mit Ausrüstung und Personal anderer Mitgliedsstaaten ausgeführten Missionen eine drastische Reduzierung von Ankünften auf italienischem Festland bewirkt. 2010 sind die Zahlen nach Angaben von Frontex erneut stark zurückgegangen unter immensen Opfern auf Seiten der Flüchtlinge: Allein im Frühjahr 2009 sind Hunderte Flüchtlinge auf teils ungeklärte Weise vor der libyschen Küste ertrunken.

Auch Deutschland ist an den Missionen beteiligt. Im Juni 2009 wurden etwa 74 Migranten von einer deutschen Hubschrauberbesatzung geortet. Die Koordinaten wurden daraufhin an die maltesische und von dort an die italienische Küstenwache übermittelt, die schließlich die libyschen Kollegen informiert hatten.

Die Situation in libyschen Flüchtlingslagern wird in zahllosen Berichten von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Das Land hat kein Asylsystem, ein Recht auf Schutz vor Verfolgung existiert nicht. Laut Amnesty International wird an Flüchtlingen auch die Todesstrafe vollstreckt.” (3)

Das tut der Gemeinsamkeit der Interessen von EU und Libyen freilich keinen Abbruch, wie der tschechische EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle und die schwedische EU-Innenkommissarin Malmström EU erklärten:

“’In wichtigen Bereichen wie Handel, Energie, Sicherheit und Entwicklung des afrikanischen Kontinents haben wir gemeinsame Interessen‘, erklärt Füle den Grund der Reise. ‚Eine ausgewogene Zusammenarbeit mit Libyen in allen Migrationsfragen ist ein wichtiges Anliegen der EU‘, ergänzt Malmström.” (4)

Daher wurde im Oktober 2010 ein weiteres Abkommen mit Libyen abgeschlossen, das auch eine umfassende Modernisierung der Überwachungstechnik des Landes vorsah. Italiens Ministerpräsident Berlusconi brachte es auf seine üblich zynische Art auf den Punkt: „Wir werden mehr Gas und Benzin aus Libyen bekommen und weniger illegale Einwanderung.“ (5)

Doch die Tendenz zur Öffnung und Privatisierung erstreckte sich keineswegs nur auf die Öl-Industrie, sondern ging eindeutig weiter – hin zu einer umfassenden neoliberalen Umstrukturierung des Landes, an der sich nicht nur westliche Investoren zu bereichern hofften, sondern bei der auch viele Günstlinge des Gaddafi-Regimes auf eine Zukunft als „echte“ Kapitalisten hofften.

“Während EU-Konzerne also begannen, in Libyen ‚gute‘ Geschäfte zu machen, lockerten auch die USA schrittweise ihre Sanktionen und strichen Libyen 2006 endgültig von der Liste der den Terror unterstützenden Staaten. Nun konnten also die Geschäfte richtig losgehen, insbesondere auch, weil Gaddafi im Laufe der Jahre auf einen neoliberaleren Kurs umschwenkte und alles tat, um ausländische Investoren anzulocken. Insbesondere wurde der vormals strikt nationalisierte Energiesektor für ausländische Firmen geöffnet. Von 2000 bis 2010 wurde zudem ein Drittel der Staatsbetriebe privatisiert und laut Regierungsangaben vom April 2010 sollte in den Folgejahren ‚100 Prozent der Wirtschaft der Kontrolle privater Investoren übergeben werden.‘ Kein Wunder also, dass der Internationale Währungsfonds Gaddafi noch Ende 2010 hervorragende Noten für seine Wirtschaftspolitik ausstellte. In einem Bericht hieß es: ‚Der Ölsektor profitiert weiter vom Bekenntnis zu ausländischen Direktinvestitionen.‘ Weiter lobte der Bericht die ‚zahlreichen wichtigen Gesetze […] zur Modernisierung der Wirtschaft‘ sowie die ‚Bemühungen, die Rolle des Privatsektors in der Wirtschaft zu vergrößern.’” (6)

Libyen und die internationale Arbeitsteilung

Libyen war immer in die globale kapitalistische Arbeitsteilung eingebunden. Der Rohstoffreichtum und die geringe Bevölkerungszahl von nur 6 Millionen erlaubten jedoch eine relativ bessere soziale Stellung für die kleine einheimische Arbeiterklasse und die Mittelschichten als z.B. in Ägypten. Es war auch die Basis für die weit verbreitete Vetternwirtschaft und Korruption zur Einbindung der traditionellen Eliten. All das führte dazu, dass eine rückständige, parasitäre Sozialstruktur auch unter Gaddafi nicht nur nicht bekämpft, sondern reproduziert wurde – weil so auch die soziale Basis des Regimes reproduziert wurde.

Die andere Seite dieser Medaille war, dass der Großteil der Arbeit auf den Ölfeldern und im Dienstleistungsbereich von ArbeitsmigrantInnen – v.a. aus Ägypten (rund 1,5 Millionen) – verrichtet wurde, die im Land immer entrechtet waren.

Es gab keine Organisationsfreiheit auf gewerkschaftlicher Ebene. Im staatlich kontrollierten Dachverband General Trade Union Federation of Workers (GTUFW) durften nur libysche Staatsbürger Mitglied sein. Das Tarifrecht war den staatlichen Vorgaben untergeordnet, das Streikrecht durch eine Zwangsschlichtung praktisch außer Kraft gesetzt.

“Das Arbeitsgesetz verlangt, dass sich die Klauseln von Tarifverträgen im Einklang mit dem nationalen wirtschaftlichen Interesse befinden“. (7)

Und weiter:

“Abschnitt 150 des Arbeitsgesetzes besagt, dass ein rechtmäßiger Streik nur dann möglich ist, wenn sämtliche Vermittlungs- und Schiedsverfahren ausgeschöpft wurden, und Abschnitt 176 sieht im Falle eines Verstoßes gegen diese Bestimmung eine einmonatige Haftstrafe oder eine Geldbuße vor. Die gesetzlichen Bestimmungen ermöglichen im Falle eines kollektiven Konfliktes die Einleitung eines obligatorischen Schiedsverfahrens auf Antrag lediglich einer der Parteien oder der staatlichen Behörden, und der daraus hervorgehende Schiedsspruch ist für beide Parteien bindend. Die IAO hat festgestellt, dass dieses System ein Verbot praktisch aller Streiks bzw. deren rasche Beendigung ermöglicht.” (8)

Ein großer Teil der produktiven ArbeiterInnen war unter Gaddafi von jeder gewerkschaftlichen Vertretung ausgeschlossen, wobei es auch deutliche Abstufungen in der Behandlung der migrantischen ArbeiterInnen nach Herkunft gab. Unter der Überschrift: „Wanderarbeitskräfte von Gewerkschaften ausgeschlossen” berichtet der IGB für 2010:

“Der wirtschaftliche Boom Libyens hat dazu geführt, dass verstärkt Arbeitskräfte aus dem Maghreb, Afrika südlich der Sahara und Asien ins Land geholt wurden. Nach Schätzungen kommen über ein Fünftel der Beschäftigten aus dem Ausland. Diejenigen aus dem Maghreb werden meist recht gut behandelt, während Migranten aus den Ländern südlich der Sahara und verstärkt auch aus Asien oft die niedrigen Arbeiten verrichten. Während des Jahres mussten Hunderte von nepalesischen und indischen Beschäftigten von ihren Regierungen in die Heimat zurückgeholt werden, weil sie überhaupt kein Geld mehr erhielten, und etwa 200 Beschäftigte aus Bangladesch streikten zwei Wochen lang, weil Löhne nicht ausbezahlt wurden und sie von Vorgesetzten verprügelt wurden. Ausländische Arbeitnehmer dürfen weder eigene Gewerkschaften gründen noch ein Gewerkschaftsamt bekleiden, und die offiziellen Gewerkschaften scheinen nichts zu unternehmen, um sie zu unterstützen oder sie zu organisieren.” (9)

Die enorme Abhängigkeit von Öl und Gas zeigt sich nicht zuletzt darin, dass rund 70% des Bruttoinlandsprodukts in diesem Bereich geschaffen werden. Darauf basierte der “soziale Ausgleich” im Land, der jedoch in den letzten Jahren – nicht zuletzt auch aufgrund der oben dargestellten und vom Regime vorangetriebenen neoliberalen Reformen – immer ungleicher ausfiel und mit einer erschreckend hohen Arbeitslosigkeit verbunden war.

„Ob gewollt oder ungewollt, diese ‚Wirtschaftsreformen‘ trugen sicherlich nicht zur Verbesserung der sozialen Situation im Land bei. Generell ist von der Sozialpolitik, die zumindest am Anfang der Gaddafi-Ära eine wichtige Rolle spielte, wenig übrig geblieben: ‚Libyen ist das reichste nordafrikanische Land. […] Aber dies spiegelt sich nicht in der wirtschaftlichen Situation des durchschnittlichen Libyers wider […] Die Arbeitslosenquote beträgt überraschende 30% und die Jugendarbeitslosigkeit 40-50%. Das ist die höchste in Nordafrika. […] Auch andere Entwicklungsindikatoren zeigen, dass wenige der Petrodollars zum Wohlbefinden der 6,5 Millionen Libyer ausgegeben wurden. Das Bildungsniveau ist geringer als im benachbarten Tunesien, das über wenig Öl verfügt, und die Analphabetenrate ist mit 20% überraschend hoch. […] Vernünftige Wohnungen sind nicht zu bekommen und ein generell hohes Preisniveau belastet die Haushalte noch zusätzlich.“ (10)

Die Angaben zur Arbeitslosigkeit variieren je nach Quelle zwischen 20 und 30% der Bevölkerung, unter der Jugend bis zu 50%!

Wenn also das „Sozialsystem“ Libyens von deutschen Linken gern als „vorbildlich“ hingestellt wird, so darf das nicht über dessen ökonomische Grundlagen und fortschreitende Erosion hinwegtäuschen. Libyen entwickelte sich auch unter Gaddafi auf wirtschaftlichem Gebiet ähnlich wie die Petro-Monarchien am Golf. Eine relativ kleine einheimische Bevölkerung wird durch die Deviseneinnahmen aus dem Ölgeschäft alimentiert, wobei dem Staat dabei die Grundrente (also die Einnahmen für die Verpachtung von Grund und Boden) zukommt, während der industrielle und kommerzielle Profit aus Förderung, Verarbeitung und Handel bei den großen multi-nationalen Konzernen bleibt. Im Grund ist Libyen also ein Rentierstaat, ein Staat, der auf der Grundrente aus dem Öl- und Gasgeschäft beruht.

Die Verteilung dieser Staatseinnahmen organisierte die Gaddafi-Clique auf Basis von Korruption und Vetternwirtschaft. Die tradierten „Clanstrukturen“ wurden auf dieser wirtschaftlichen Grundlage unwillkürlich reproduziert und eingebunden, weil sie über den Zugang zu den staatlich verteilten Außenhandelseinnahmen mit entscheiden. Dabei kamen die tradierten FührerInnen der Clans nicht nur besser weg, sie hatten auch die Kontrolle darüber, wer was aus „ihrem“ Clan erhielt.

Von einer fortschrittlichen Umwälzung der Sozialstruktur des Landes unter Gaddafi kann also keine Rede sein – und sie war auf Grundlage seiner bonapartistischen Herrschaft auch weder vorgesehen noch möglich.

Wohl aber haben sich über Jahrzehnte die inneren Widersprüche des Regimes zugespitzt. Die soziale Verteilung wurde immer ungleicher. Vor allem die Jugend hatte und hat in Gaddafis Libyen höchstens die Perspektive, sich in ein abstoßend korruptes System einzugliedern. Dass dies immer weniger Leuten gelang, beweist die wachsende Armut, die v.a. im Osten des Landes ein Massenphänomen ist.

Wir sehen also, dass die „Besonderheiten“ Libyens nicht Resultat einer qualitativ besseren, fortschrittlicheren Politik Gaddafis sind, sondern vielmehr das Ergebnis der besonderen Stellung Libyens als halb-koloniales Land im Rahmen einer internationalen imperialistischen Arbeitsteilung. Die Abhängigkeit des Landes von der kapitalistischen Grundrente hat das Regime nicht nur nicht beseitigt, sondern das gesamte bonapartistische System Gaddafis baute darauf auf.

Diese bürgerliche, staatskapitalistische Diktatur mit zunehmend neoliberalen Elementen, die v.a. darauf zielten, die Günstlinge des Regimes von parasitären Beamten zu echten, vom Staat getragenen Eigentümern zu machen, hat über vierzig Jahre versagt, das Land trotz seines Rohstoffreichtums qualitativ zu transformieren. Libyen blieb ein Rohstofflieferant für den globalen Kapitalismus. Von einer Veränderung der Produktionsstruktur konnte keine Rede sein.

Ebenso wurden tradierte, vorkapitalistische Strukturen – die vielfach zitieren „Clans“ – als Verteilungsmechanismus und Stütze des Regimes reproduziert und inkorporiert. Und schließlich musste sich dieser „anti-imperialistische“ Staat in einem repressiven bonapartistischen Regime die adäquate Herrschaftsform geben – eine bizarre Mischung aus plebiszitären Elementen, korporatistischen, ständischen Formen und seinem „Revolutionsführer“; eine Mischung, die ihrer Form nach durchaus dem italienischen Faschismus ähnelte.

Zentrale Aufgaben der bürgerlichen Revolution sind ungelöst

Für uns ist entscheidend, dass in Libyen wie in allen anderen Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas zentrale Fragen der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht gelöst waren und sind. Es war daher nicht nur nicht verwunderlich, sondern für jeden vorausschauenden Beobachter eigentlich logisch, dass sich die libysche Revolution um grundlegende demokratische Aufgaben entzünden würde.

Das gilt umso mehr, als sich die großen Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Umwälzung für MarxistInnen nicht in der Frage der politischen Form (bürgerliche Diktatur versus bürgerliches Parlament) erschöpfen, sondern grundlegende gesellschaftliche Aufgaben beinhalten wie die Beseitigung aller vorkapitalistischen, wenn auch heute funktional in den Kapitalismus eingepassten Strukturen (Clansystem, Vetternwirtschaft), die Landfrage, die Frage des Besitzes von Grund und Boden, die Unabhängigkeit vom Imperialismus, die Frage nach der Sicherung und Gewinnung bürgerlich-demokratischer Rechte …

Zweitens lehrt die Erfahrung seit Beginn des 20. Jahrhunderts, dass diese demokratischen Aufgaben nicht von der Bourgeoisie – auch nicht von jener der halbkolonialen Welt – gelöst werden können. Gaddafi ist hier nur ein weiteres unrühmliches Beispiel dafür, dass eine „anti-imperialistische“ bürgerliche Diktatur keine einzige große Frage der bürgerlich-demokratischen Umwälzung auch nur voranbringen konnte.

Wie der große Revolutionär Leo Trotzki in der „Theorie der permanenten Revolution“ gezeigt hat, können diese Probleme nur unter Führung des Proletariats gelöst werden, ist „der Sieg der demokratischen Revolution nur durch die Diktatur des Proletariats denkbar“ (11):

„In Bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, dass die volle und wirkliche Lösung der demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als Führer der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.“ (12)

Für proletarische RevolutionärInnen, für die internationale Arbeiterbewegung war es daher eine unbedingte Klassenpflicht, den Ausbruch der libyschen Revolution ohne Wenn und Aber zu begrüßen und deren Kampf zu unterstützen. Natürlich war immer klar, dass bewusste proletarisch-revolutionäre Kräfte im Land praktisch nicht vorhanden waren, dass selbst Ansätze für eine unabhängige Arbeiterbewegung kaum existierten.

Doch: Wie sonst sollte sich überhaupt eine solche Kraft formieren, wenn nicht im Kampf gegen das Gaddafi-Regime, das über 40 Jahre hinweg hauptverantwortlich war für die Erstickung und Liquidierung praktisch jeden oppositionellen politischen Lebens? Welche günstigere Bedingung konnte und kann es geben, dass sich eine solche Kraft bildet, wenn nicht in einer revolutionären Krise einschließlich all ihrer „Gefahren“?! Wie sonst sollten die schwachen revolutionären Kräfte weltweit, wie sollte die Arbeiterbewegung, wie sollten die Massen und v.a. die fortschrittlichsten Teile der Revolution in Ägypten und Tunesien politisch Einfluss erlangen, wenn nicht durch die entschlossene Unterstützung des Kampfes gegen Gaddafi?!

Nur so konnte und kann der Einfluss anderer politischer Kräfte – sei es des Imperialismus, sei es „nationaler“ und religiöser bürgerlicher und kleinbürgerlicher Kräfte – zurückgedrängt werden.

Hier hat ein Großteil der deutschen und internationalen Linken kläglich versagt! Sie haben wie z.B. Castro und Chavez die „Nichteinmischung“ in die libysche Revolution gepredigt, also praktisch dafür argumentiert, dass Gaddafi freie Hand haben sollte bei der Niederschlagung des Aufstands.

Eine solche Politik war und ist nicht nur zynisch, weil sie sich mit der staatlichen Repression solidarisiert – sie war und ist auch hoffnungslos, weil sie verunmöglicht, politischen Einfluss auf die Massen zu gewinnen, weil sie verunmöglicht, eine revolutionäre Kraft aufzubauen.

Eine Volksrevolution

Obige Darlegung erklärt, warum die Lage auch in Libyen überreif war für den Ausbruch einer Revolution. Es ist eine obskure und reaktionäre Verschwörungstheorie, die Entwicklung des Aufstandes heute – nach den UN-mandatierten Bombardements – so hinzustellen, als wäre das von Beginn an ein US-gesteuertes Manöver gewesen, um Gaddafi zu Fall zu bringen.

Diesen „Analysen“ widerspricht sogar die Sicht Gaddafis am Beginn der Revolution, also im Januar/Februar 2011. Er wittert zwar „das Ausland“ hinter den sich ausbreitenden Aufständen – doch in erster Linie „Islamisten“ und „Al Quaida“. Der Grund dafür war ganz einfach. Gaddafi will seinen damaligen Freunden Berlusconi, Sarkozy und dem Westen klar machen, dass er gewissermaßen den „Krieg gegen den islamischen Terrorismus“ an vorderster Front führt, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen seinem Regime und jenem Mubaraks gebe, dass er für die reaktionären Zwecke Frankreichs, Italiens u.a. imperialistischer Mächte noch gebraucht werde. Ohne ihn drohe das Chaos, versucht Gaddafi noch Anfang März seine Freunde in der EU zu schrecken:

„Sie werden die Immigration haben, Tausende von Leuten  werden Europa von Libyen aus überschwemmen. Und niemand wird mehr da sein, um sie aufzuhalten. Sie werden Bin Laden an ihren Toren haben. Es wird einen islamischen Djihad auf Ihrem Nachbarufer im Mittelmeer geben. Sie werden die amerikanische Sechste Flotte angreifen, es wird Piraterieakte hier vor Ihren Toren geben.“ (13)

Er hoffte so auf die stillschweigende Zustimmung des Westens, das Volk zu massakrieren. In Wirklichkeit hat die Entwicklung in Libyen nichts mit Verschwörungen des Westens, der Islamisten oder sonst wem zu tun. In Libyen fand wie in vielen Staaten eine Volksrevolution statt – eine revolutionäre Erhebung gegen jahrzehntelang allmächtig scheinende Despoten.

Ihre tieferen Ursachen haben wir oben dargelegt. Sie verbanden sich mit den Auswirkungen der globalen Krise des Kapitalismus. In vielen Ländern führten sie zu Inflation, zu massiven Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln, die besonders die unteren Schichten und die Arbeiterklasse, aber auch lohnabhängige Mittelschichten (Staatsbedienstete, mittlere Angestellte) und das Kleinbürgertum trafen. Diese größer werdende Not und die grassierende Arbeitslosigkeit führten zur Rebellion. Diese musste aufgrund des diktatorischen und repressiven Charakters dieser Regime unwillkürlich dazu führen, dass die Forderungen nach Demokratie – Demonstrations- und Rederecht, Koalitionsrecht – in den Mittelpunkt praktisch aller Bewegungen rückten und in der Forderung nach Rücktritt oder Sturz der jeweiligen Despoten kulminierten.

Die Revolutionen nahmen also den Charakter von „Volksrevolutionen“, einer breiten Mobilisierung aller politisch unterdrückten Schichten der Nation an, von den ArbeiterInnen und Armen über Mittelschichten und Kleinbürgertum bis hin zu Teilen der Elite. (14)

Innerhalb weniger Tage erhoben sich im Januar und Februar 2011 Hunderttausende. Am 15. Februar versammelten sich DemonstrantInnen nach Aufrufen im Internet in verschiedenen Städten Libyens zu Protestmärschen, bei denen Parolen gegen „die korrupten Herrscher des Landes“ gerufen wurden. Für den 17. Februar wurde von der Opposition um Abdul Hakim Ghoga ein Tag des Zorns ausgerufen; es kam zu Demonstrationen in allen großen libyschen Städten. Selbst in Tripolis, wo die Repression an größten war, demonstrierten Tausende. Dutzende Demonstranten kamen ums Leben. Augenzeugenberichten zufolge gingen Gruppen von bewaffneten Söldnern gezielt und schwer bewaffnet gegen die Bevölkerung vor, Spezialeinheiten der Polizei schossen von Dächern aus in die Menge. Auch Panzer sollen gegen Zivilisten eingesetzt worden sein.

“Die Antwort des durch die Revolutionen in seinen Nachbarstaaten verängstigten Regimes war es, das Feuer auf die Protestierenden zu eröffnen. Der Zyklus von Tötungen, Begräbnissen und weiteren Tötungen entwickelte sich zu einem landesweiten Aufstand. Die Ereigniskette, die in Tunesien und Ägypten den Erfolg errang, schien wieder am Werk: kleine Proteste, die sich in Massendemonstrationen verwandeln, das Verjagen der Sicherheitskräfte von der Straße, eine handlungsunfähige Armee, eine entscheidende Welle von Massenstreiks, die Trennung der Regimes von ihren alten Diktatoren.

Gebäude der Staatssicherheit wurden von wütenden Menschenansammlungen zerstört, Polizeireviere niedergebrannt und einer von Gaddafis Palästen angezündet. Millionen von Menschen gingen auf die Straße und trieben das Regime in die Enge, Teile der Landesarmee lösten sich auf oder gingen zu den Aufständischen über. Als es sich herumsprach, dass Gaddafi die Flucht ergriffen hatte, setzten sich Massen von Menschen in Bewegung, um den Grünen Platz in der Hauptstadt Tripolis zu besetzen. Dann gab das Regime seinen Anhängern, seinen Schergen und loyalen Truppen, freie Hand, um die Bewegung zu zerschlagen. Das Ausmaß und die Brutalität der Unterdrückung beschleunigten noch den Kollaps von Teilen des Regimes. Libysche Diplomaten gesellten sich zu der Revolte, Gruppen von Armeeoffizieren veröffentlichten Stellungnahmen, in denen sie die Truppen zur Befehlsverweigerung aufriefen, und ganze Städte und Dörfer riefen die Revolution aus.” (15)

Es war die brutale Reaktion des Regimes, die dazu führte, dass die libysche Revolution einen anderen Verlauf nahm als jene in Ägypten oder Tunesien. Die Staatsmacht unter Diktator Gaddafi versuchte – ähnlich dem syrischen Präsidenten Assad – mit allen Mitteln, die Opposition in Blut zu ertränken.

Die Bewegung nahm also rasch die Form des Bürgerkriegs, des bewaffneten Aufstands an. Teile der Sicherheitskräfte und der Armee wechselten die Fronten. Bengasi, die bedeutendste und größte Stadt Ostlibyens, fiel am 20. Februar in die Hände der Aufständischen. Weitere Städte folgten, so dass nach etwa einwöchigen Kämpfen praktisch die gesamte Kyrenaika (Nord-Ost-Libyen) von den Rebellen kontrolliert wurde.

“Aufschlussreich ist eine Analyse der ‚Stiftung Wissenschaft und Politik‘ (SWP), nach deren Angaben sich die Aufständischen im Wesentlichen aus vier Gruppen zusammensetzen würden: Teile der ehemaligen Elite, die inzwischen übergelaufen seien; den Stämmen, von denen mittlerweile sich ein Großteil gegen Gaddafi gewendet habe; den Muslimbrüdern, die vor allem in der ‚urbanen Mittelschicht‘ Unterstützung fänden; sowie ‚arbeitslose oder unterbeschäftigte junge Männer‘, deren Angriffe auf Polizeistationen ‚der entscheidende Impuls für den Aufstand‘ gewesen seien. Trotz der Gründung einer Übergangsregierung könne von einer einheitlichen Oppositionsbewegung keine Rede sein, so die weitere Einschätzung: ‚Die Aufständischen sind eine lose Koalition verschiedener Gruppen, deren Zusammenhalt spätestens mit dem Sturz Gaddafis gefährdet sein dürfte.‘ Nach dem Sturz Gaddafis stünde Libyen vor schwierigen Problemen: ‚Für die Mehrheit der politischen Akteure wird es aber weniger um die Grundlagen des libyschen Staates, sondern vielmehr um die Neuverteilung der Ressourcen gehen.“ (16)

Mit anderen Worten: Wir haben es mit einer demokratischen Revolution zu tun, unter deren Banner unterschiedliche Klassen ihre Ziele verfolgen. Während in Tunesien und Ägypten der Ansturm der Bewegung in den wichtigsten Städten des Landes dazu führte, dass die Armee die Präsidenten und ihre Regierungsclique zum Abdanken gezwungen waren, um den Staat selbst vor den Massen zu retten und um zu versuchen, mit halbherzigen „demokratischen“ Reformen den Forderungen nach bürgerlicher Demokratie die Spitze zu nehmen, entwickelte sich in Libyen die Situation anders.

Gaddafi war fest entschlossen, nicht Tunesiens Ben Ali ins Exil zu folgen und beantwortete die demokratischen Forderungen der Massen mit Repression. Diese reagierten mit einem Aufstand, der von den Bewegungen in Tunesien und Ägypten inspiriert war und von der Jugend – darunter viele Arbeitslose, untere Schichten des Kleinbürgertums und aus der kleinen libyschen Arbeiterklasse – getragen wurde.

Ein zweiter entscheidender Unterschied bestand darin, dass die Bewegung in Libyen die Hauptstadt nicht in Besitz nehmen konnte und so das alte Regime noch immer über das administrative Zentrum des Landes verfügte, während die Bewegungen in Ägypten und Tunesien in der Hauptstadt ihr Zentrum hatten. Daher entwickelte sich auch eine Situation der Doppelmacht im Land, die sich dann territorial manifestierte.

“Es handelte sich um einen Massenaufstand von Millionen Menschen. Die Bevölkerung nahm in den befreiten Gegenden alle Staatsfunktionen in die eigenen Hände, auch die Verwaltung der Gefängnisse, der Polizei und der Gerichte. Basisräte organisierten die Lebensmittelverteilung entsprechend den Bedürfnissen der Menschen, eröffneten TV- und Radiosender, brachten revolutionäre Zeitungen heraus. Volkskomitees übernahmen wichtige Einrichtungen der Daseinsvorsorge wie Elektrizitätswerke, Häfen und andere. Alle wichtigen befreiten Groß- und Kleinstädte werden von diesen revolutionären Räten verwaltet. Beobachter, auch westliche Journalisten, bezeugen die Effizienz und große Energie dieser Räte und die entspannte ‚Freiheitsatmosphäre‘ in den Aufstandsgebieten.” (17)

Diese „Freiheitsatmosphäre“ beschrieben auch andere Zeugen. Beispielsweise berichtet der libanesische Trotzkist Jamal Jaber von einem Besuch in Bengasi im Juni 2011:

“Liberty Square (Platz der Freiheit, vor dem 17. Februar Tribunal Square) ist zum Forum geworden, auf dem verschiedene politische und gesellschaftliche Ansichten ausgedrückt werden. Nach 17.00 Uhr treffen sich die Menschen, um Al-Jazeera auf dem riesigen Bildschirm zu sehen, während Teilnehmer jeden Alters öffentlich Lieder, Gedichte und Reden zu politischen oder religiösen Themen darbieten. Große Transparente erinnern an die Entschlossenheit der RebellInnen, ganz Libyen zu befreien und eine Teilung des Landes abzulehnen („Nein zum Tribalismus“; „weder östlich [Region] noch westlich noch tribalistisch – national!“; „Freies Tripolis „). Graffiti preisen den Aufstand und die Märtyrer. Zwei Poster von Che und Bob Marley schmücken den Kiosk von zwei jungen Zigarettenverkäufern und zeugen von den vielfältigen Inspirationen dieser Revolution durch die Jugend. Paradoxerweise finden sich auch die Flaggen der USA und der Europäischen Gemeinschaft dort, um daran zu erinnern, dass die Freiheit der LibyerInnen zu einem großen Teil von der Unterstützung dieser Regierungen abhängt, die jedoch nicht die Volksaufstände in Tunesien, Ägypten oder gegen die anderen Diktaturen der Region unterstützt haben. Unter den Ständen der verschiedenen Organisationen befindet sich auch die Palästinensisch-Libysche Freundschaftsgesellschaft mit den Portraits der 108 Opfer des israelischen Luftangriffs auf eine Boeing der Libysch-Arabischen Fluggesellschaft am 21. Februar 1973. Anderswo auf dem gleichen Platz findet sich ein großes Transparent mit der Aufschrift: ‚Palästina und Libyen: Eine Revolution für die arabische Nation‘ sowie zahlreiche Banner, die den Kopf von Gaddafi zwischen einem Davidstern, der Israel symbolisiert, und einem Hakenkreuz, das den Nazismus darstellt, zeigen. Während die legale Presse unter Gaddafi auf die des Regimes beschränkt war, stellen die mehr als 65 verschiedenen Tageszeitungen, Wochenzeitungen oder Monatszeitschriften, die jetzt in Bengasi erscheinen können, eine der Haupterrungenschaften der Revolution dar.

Die Rolle der Jugend

In Libyen wie in den anderen arabischen demokratischen Aufstandsbewegungen hat die Jugend eine Führungsrolle gespielt. Sie war es, die die ersten friedlichen Demonstrationen gegen das Gaddafi-Regime startete und die StudentInnen Bengasis neben Rechtsanwälten und MenschenrechtsaktivistInnen einbezog. Auf dem Liberty Square verteilen zahlreiche Jugendorganisationen ihre Flugblätter und verkaufen ihre Publikationen – eine beträchtliche Überraschung für mich, der Libyen unter dem alten Regime kannte.“ (18)

Diese revolutionäre Bewegung litt natürlich immer an mehreren Defiziten: Erstens an einer schwachen Arbeiterklasse, zumal es nicht gelang, die Masse der migrantischen LohnarbeiterInnen – v.a. die 1,5 Millionen aus Ägypten – voll in die Bewegung zu ziehen.

Zweitens wurde der Kampf rasch zu einem Bürgerkrieg und die Aufständischen drohten, nach einer ersten Phase brutal und vernichtend geschlagen zu werden. Es war klar, dass sie militärisch unterlegen waren, zumal sich Gaddafi auf seine „Spezialeinheiten“ und weit überlegene Ausrüstung stützen konnte.

Dieses Defizit hätten die Aufständischen nur durch die Unterstützung durch andere arabische und nordafrikanische Länder – v.a. durch Waffen und Freiwillige einschließlich  ausgebildeter Soldaten aus Ägypten – sowie die materielle Hilfe der gesamten internationalen Arbeiterbewegung wettmachen können.

Drittens litt die Bewegung an der politischen Schwäche ihrer Führung. Das ist nicht verwunderlich. Jahrzehnte einer reaktionären Diktatur haben es äußerst schwer gemacht, dass sich im Untergrund revolutionäre, proletarische Strömungen entwickeln konnten. Auch diese müssen einen Anschub und Hilfe durch die internationale Arbeiterbewegung und die Revolution in Ländern wie Ägypten erhalten, wo die Arbeiterbewegung trotz unbestreitbarer Schwächen deutlich weiter entwickelt ist.

All das ändert jedoch überhaupt nichts am revolutionären und heroischen Charakter der libyschen Revolution. Es sind aber Schwächen, die sich die imperialistischen Mächte zunutze machen, um die Revolution zu enthaupten und Libyen wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Besonders deutlich drückte sich das von Beginn an bei der Führung des Aufstands aus:

“Die Volksräte bildeten einen landesweiten Übergangsrat, den Transnational National Council (TNC), dem die führende Rolle in der Revolution zufiel. Es sind jedoch zwei Flügel, die innerhalb des TNC wirken. Einerseits die im Volk verankerte revolutionäre Leitung aus zentralen Wortführern des Aufstandes, zum anderen die ehemaligen hochrangigen Regimestützen, die eine Interimsregierung mit Hilfe des Westens anstreben. Die Gründung des TNC war ein Kompromiss zwischen diesen beiden Flügeln. Eine der Bedingungen für sein Zustandekommen war, dass er dem Westen die Garantie gab, die von Gaddafi unterzeichneten Ölverträge zu erfüllen.” (19)

Die Entwicklungen der letzten Monate haben dazu geführt, dass der TNC immer mehr von den westlichen Imperialisten, also den NATO-Staaten eingekauft wurde. Aber das heißt noch lange nicht, dass damit die libysche Revolution aufgehört hätte, eine Revolution zu sein.

Einer solchen Analyse liegt der Fehler zugrunde, die bürgerliche Führung einer Massenerhebung mit der in sich widersprüchlichen Bewegung selbst zu identifizieren.

Sie führt zweitens dazu, den berechtigten Charakter der Revolution, den berechtigten Charakter ihres Aufstehens gegen eine Despotie zu leugnen. Den libyschen Massen mangelt es zweifellos an Bewusstheit. Sie hatten und haben zweifellos politische Illusionen in die bürgerliche Demokratie oder in noch reaktionärere ideologische Formen.

Aber wir haben weiter oben gezeigt, dass diese Massen zugleich durch eine reaktionäre bürgerliche Diktatur nicht nur despotisch unterdrückt waren. Diese hat auch jede grundlegend fortschrittliche Entwicklung im Land blockiert – einschließlich der Bildung unabhängiger Klassenorganisationen und von Bewusstsein der Arbeiterklasse.

Die grundlegende Frage, die sich hier stellt, lautet: Haben und hatten die libyschen Volksmassen trotz mangelnden Bewusstseins, das Recht zu revolutionärer Empörung, zum Aufstand? Oder hätten sie zuvor eine politische Führung bilden, ein politisches Bewusstsein entwickeln müssen, das einen fortschrittlichen Ausgang des Kampfes sichert, dass es den Imperialisten u.a. reaktionären Kräften verunmöglicht, die Illusionen und Hoffnungen der Massen auszunutzen?

Wer solche Forderungen an eine Revolution, an die Unterdrückten stellt, müsste sich im Grunde gegen JEDE Revolution stellen. Für MarxistInnen ist nicht die politische, bewusstseinsmäßige Reife der unterdrückten Massen das Kriterium, das erst den Kampf gegen die Unterdrückung rechtfertigt. Es ist vielmehr die Unterdrückung durch das Gaddafi-Regime, die herrschende libysche Klasse und ihren Apparat, die die Revolution rechtfertigt. Für uns ist es letztlich die Revolution selbst, die erst die Revolutionierung des Bewusstseins der libyschen Massen, die klassenmäßige Differenzierung innerhalb der Revolution, die Schaffung einer proletarischen Avantgarde ermöglicht.

Doch dazu müssen sich MarxistInnen an die Seite der Revolution stellen. Ansonsten erhalten – und verdienen – sie kein Gehör bei den Massen.

Gründe für die Intervention der Imperialisten

Die Entwicklung in Libyen – das dürfen wir nicht vergessen – war von den Imperialisten keineswegs inszeniert worden. Im Gegenteil, sie waren überaus beunruhigt. Der drohende Sturz eines weiteren Diktators durch revolutionäre Gewalt war ein Horrorszenario, nicht nur, weil mobilisierte und bewaffnete Massen schwerer zu kontrollieren sind als ein „gelenkter“ Übergang, wie er in Ägypten angestrebt wird, sondern auch, weil das ein explosives Vorbild für andere arabische Länder gewesen wäre.

Gaddafis Weigerung, dieselbe Rolle zu spielen wie die ehemaligen Verbündeten und imperialistischen Büttel Mubarak oder Ben Ali, bedeutet aber auch, dass er für einen größer werdenden Teil der Herrschenden dieser Welt „untragbar“ geworden war. Untragbar nicht deshalb, weil der ehedem gern gesehene Staatsgast plötzlich ganz anders geworden wäre, sondern weil ihm die Sicherung imperialistischer Interessen in „seinem“ Land und dessen dauerhafte Befriedung nicht mehr zugetraut wurden.

Daher machten USA, Britannien, Frankreich, die noch wenige Wochen zuvor von den Demonstrationen, vom „arabischen Frühling“ überrascht worden waren, jetzt ihrerseits eine Kehrtwende.

Die einstigen Geschäftsfreunde Gaddafis, die ihm die brutale Sicherung der EU-Außengrenzen anvertraut hatten, entdeckten nun ihr Herz für die „Demokratie“, vollzogen ihrerseits eine 180-Grad-Wende und ließen sich das Eingreifen durch die UNO mandatieren.

Die libysche und arabische Revolution wieder in den Griff zu bekommen – das einte alle Imperialisten, auch solche wie Deutschland, das sich im UN-Sicherheitsrat enthalten hat. Es einte auch China und Russland mit den westlichen Mächten.

Frankreich, Britannien und die USA stellen sich jedoch mit ihrem Eingreifen an die vorderste Front. Das hängt v.a. damit zusammen, dass diese imperialistischen Staaten am meisten an politischem Einfluss im Nahen Osten und Nordafrika zu verlieren haben.

Zweifellos ging und geht es auch um die Sicherung der existierenden und vermuteten Öl- und Gasreserven des Landes. Es wäre aber zu kurz gegriffen, im Kampf um eine Neuverteilung der libyschen Ölreserven das Hauptmotiv zu erblicken. Schon unter Gaddafi hatten sich die westlichen Konzerne den Großteil der Schürfrechte unter den Nagel gerissen – allen voran die italienische ENI, die Verträge bis 2047 über 28 Mrd. Euro abschloss. Einen besseren Vertrag wird ein Großkonzern des schwächelnden italienischen Imperialismus kaum erhalten. Auch Frankreich und Britannien werden v.a. darauf bedacht sein müssen, die Konzessionen Gaddafis zu behalten.

Und selbst die USA wissen ein Lied davon zu singen, dass eine Neuverhandlung von Verträgen selbst mit dem gefälligsten Büttelregime nicht immer zum gewünschten Resultat – sprich zu guten Verträgen für US-Konzerne – führt. So gingen z.B. in Afghanistan wichtige Verträge der Regierung Karsai an China, obwohl sich diese imperialistische Macht an Besatzung und Besatzungskosten nicht beteiligt.

All das erklärt, warum zahlreiche imperialistische Regierungen den Übergangsrat als neue Außenvertretung Libyens drängen, die Wirtschaftsverträge der Gaddafi-Ära einzuhalten.

Die imperialistische Intervention muss vielmehr im Rahmen größerer, geostrategischer Fragen und der Gefahr betrachtet werden, die von der libyschen Revolution ausging und angesichts der Schwierigkeiten, ein „gefälliges“ Regime zu errichten, weiter ausgeht.

Unterschiedliche Interessen

Frankreich sieht Nordafrika als traditionelle – und eine seiner letzten – Einflusssphäre(n), wo es tonangebend ist. Durch die enge Bindung an Ben Ali und Gaddafi war der französische Imperialismus zu Beginn 2011 massiv diskreditiert und drohte, jede Chance auf Einflussnahme auf die veränderten Bedingungen in Nordafrika und im Nahen Osten zu verlieren.

Die USA und ihr Hauptverbündeter Britannien sind am engsten mit der bestehenden imperialistischen Ordnung der gesamten Region verbunden. Auch sie fürchteten angesichts ihrer anfangs zögerlichen Haltung, weiter an Boden zu verlieren.

Das erklärt umgekehrt, warum sich China, Russland und Deutschland im Weltsicherheitsrat der Stimme enthielten. Ihre imperialistischen Interessen waren andere. Sie wissen um die enormen Risiken dieser Politik – beginnend mit den militärischen Problemen eines möglichen „zweiten Irak“.

Sie wissen, dass die militärischen Probleme keineswegs die Hauptschwierigkeit der Politik der USA, Frankreichs, Britanniens darstellen. Das eigentliche Problem ist der wirtschaftliche Niedergang dieser imperialistischen Staaten, v.a. der USA. Ihre Fähigkeit, eine Neuordnung der Welt zu organisieren, steht daher zunehmend auf tönernen Füßen.

Das zeigt sich auch, wenn die Frage nach dem längerfristigen Ziel für die Zeit nach der Intervention gestellt wird.

Gemeinsam ist den USA, Britannien und Frankreich nur eines: das Kriegsziel „Befriedung und Stabilisierung“ der Lage, das Ziel, einen möglichst großen Einfluss auf die Neuordnung des Landes zu erringen – eine gemeinsame Vorstellung, wie eine politische Neuordnung des Landes aussehen soll, gab und gibt es letztlich nicht. Eine solche wird es wohl auch nicht geben.

In den nächsten Wochen werden sich die unterschiedlichen Interessen der imperialistischen Mächte deutlicher herausschälen. Wir werden in den nächsten Monaten eine Verschärfung der inner-imperialistischen Kämpfe um Einfluss in Libyen wie überhaupt in der Region beobachten können, wobei auch China, Deutschland und Russland sowie Regionalmächte wie die Türkei versuchen werden, sich als die „besten Freunde des neuen Libyens“ zu präsentieren.

Die Massen und die Rolle des TNC

Der eigentliche Grund für die UN-Resolution im März und die NATO-Intervention war, als Verteidiger der Massen, der Demokratie, des „arabischen Frühlings“ zu erscheinen und so der Bewegung die Spitze zu nehmen.

Die Entscheidung des UN-Sicherheitsrats, eine Flugverbotzone über Libyen einzurichten und Militärschläge gegen das Land zu legitimieren, stieß bei den arabischen Massen auf Zustimmung.

Wie die Aufständischen in Bengasi interpretieren sie die UN-Resolution als eine Unterstützung ihres Kampfes. Genau darin lag und liegt aber die tragische Illusion, die noch dadurch genährt wird, dass die Arabische Liga und die UNO dieses Mandat gaben. Dabei ist die Arabische Liga wenig mehr als ein Instrument pro-imperialistischer, reaktionärer Potentaten, die „bestenfalls“ tönerne Resolutionen verabschieden, seit Jahrzehnten jedoch nichts zuwege bringen, wenn es z.B. um die Befreiung des palästinensischen Volkes geht.

Die UNO ist ein Instrument des Imperialismus, eine Fassade, welche die „Weltgemeinschaft“ repräsentieren soll. Mandate und Beschlüsse, die irgendeine praktische Geltung haben, gibt es nur, solange sie den Interessen der Großmächte dienen.

Ein Eingreifen der USA, Frankreichs, Britanniens konnte sich auf ein „humanitäres“ Mandat und ungewöhnlich große Zustimmung durch die arabischen Massen stützen. Es ist unvermeidlich, dass diese Illusionen an der harten Realität und dem Zynismus der imperialistischen Politik – siehe nur Bahrain oder Palästina – zerbrechen.

Auch in Libyen hat die verstärkte Intervention der Großmächte dazu geführt, dass sie jetzt in einer vergleichsweise günstigen Position sind, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen.

Aber schon im Krieg zeigte sich, dass die USA, Britannien und Frankreich durchgehend daran interessiert waren, die Aufständischen an der kurzen Leine zu zügeln, sie möglichst von ihrer „Unterstützung“ abhängig zu halten.

So wurde das Waffenembargo gegen Libyen nicht aufgehoben. Das führte dazu, dass die Rebellen ihre militär-technische Unterlegenheit, v.a. den Mangel an schweren Waffen gegenüber den Truppen des Regimes bis zum Ende des Krieges beibehielten. Die meisten schweren Geräte wie Panzer, die sie sich im Laufe der Zeit aneigneten, stammen aus den Beständen des Regimes, von übergelaufenen Einheiten oder wurden erobert. Wenn sie Waffen erhielten, so eher leichtes Gerät und logistische Unterstützung.

Der Grund dafür liegt nicht darin, dass die NATO dem Rettungsrat in Bengasi nicht getraut hätte – selbst wenn es unter der TNC-Führung im Zuge der letzten Monate wichtige Konflikte gab.

Der eigentliche Grund liegt darin, dass sie eine „unkontrollierte“ Bewaffnung der Rebellenarmee zumindest einschränken wollten, dass sie fürchteten und bis heute fürchten, dass hunderttausende bewaffnete LibyerInnen eben auch eine Gefahr für jede zukünftige reaktionäre Stabilisierung sind.

Das zeigt sich auch darin, dass die Imperialisten bezüglich ihrer Kriegsziele immer wieder gewissen Schwankungen unterlagen. Zwar sprachen v.a. Frankreich, USA und Britannien davon, dass ihr Ziel ein Regimewechsel sei, doch gab es zugleich auch immer wieder Gerüchte über „Geheimverhandlungen“ von Repräsentanten der Aufständischen und des Gaddafi-Regimes, die von „Dritten“ – z.B. Südafrika, der Türkei oder westlichen Geheimdienstlern – hinter den Kulissen vermittelt wurden. Lange war auch unklar, ob der Westen wirklich das Regime in Tripolis stürzen wollte oder eher auf eine dauerhafte de facto-Teilung des Landes hinarbeitete.

In jedem Fall zeichnet aber sich eine Konstante in der Kriegsstrategie und Nachkriegsplanung ab: den libyschen Staatsapparat in wesentlichen Teilen intakt zu halten. Darin hatten die Imperialisten aus dem Irak gelernt, wo nach der Invasion die Strukturen der Baath-Partei wie des irakischen Repressionsapparats weitgehend zerstört wurden und alsbald das Fehlen zuverlässiger irakischer Staatsorgane zu einem Problem für die imperialistische Besatzung wurde.

In dem Artikel „NATO’s ‚Conspiracy‘ against the Libyan revolution” weist Gilbert Achcar darauf hin, dass es es die Führung der Rebellen, der TNC, war, der alle Avancen von NATO-Vermittlern ablehnte, mit einem Teil des Gaddafi-Regimes eine “Ordnung ohne den König der Könige”, also Gaddafi, auszuhandeln. Warum?

„Die Hauptsorge der von Briten ausgearbeiteten NATO-„Road Map“ ist es, eine Wiederholung der katastrophalen, US-geführten Handhabung der Lage im Irak nach der Invasion zu vermeiden. Dort war die Bush-Administration mit der Alternative konfrontiert, das Gros des baathistischen Staates zu inkorporieren oder ganz zu zerschlagen. Sie entschied sich für letztere Option, die von Ahmed Chalabi und den Neo-Konservativen befürwortet worden war, die sich von der Blaupause eines abgespeckten pro-US-amerikanischen Klientelstaates leiten ließen. Die Road Map für Libyen ist folgerichtig von jenen Szenarien inspiriert, die im Irak vom CIA favorisiert, von der Administration jedoch abgelehnt wurden. Wie Mitchell erläutert, basiert es auf der ‚Empfehlung, dass Libyen nicht dem Beispiel des Irak folgen sollte, die Armee aufzulösen, was von einigen Offizieren als strategischer Fehler betrachtet wurde, der dazu betrug, den Aufstand unter den sensiblen und instabilen Bedingungen nach Saddam Husseins Sturz anzufachen.“ (20)

Schließlich hielt der Westen den Übergangsrat auch finanziell an der kurzen Leine. Zwar wurden in den ersten Monaten seit Aufstandsbeginn die libyschen Auslandskonten gesperrt und praktisch von den Staaten in Beschlag genommen, deren Banken sie verwalteten – doch der Revolution des libyschen Volkes wollte sie der Westen keineswegs frei Haus zur Verfügung stellen. So musste der Übergangsrat um jede Finanzhilfe bitten, während die Milliarden Gaddafis weiter eingefroren waren und auch heute erst zum Teil frei gegeben wurden.

Die politische Taktik im Bürgerkrieg

Der Bürgerkrieg markierte eine Zuspitzung des Kampfes gegen das Gaddafi-Regime. Auch das Eingreifen der NATO – vorgeblich auf Seiten des Volkes – änderte den grundsätzlich gerechtfertigten Charakter des Kampfes nicht.

Tatsächlich gab es schon früher wichtige Kriege und Revolutionen, wo imperialistische Mächte aus Eigeninteresse die fortschrittliche Seite unterstützten, ohne dass dies dem progressiven Charakter dieses Kampfes Abbruch tat.

Diese trifft z.B. auf den Spanischen Bürgerkrieg zu, wo proletarische RevolutionärInnen verpflichtet waren, den Kampf für die sozialistische Revolution mit dem gleichzeitigen Kampf gegen die francoistische Konterrevolution zu verbinden. Das implizierte natürlich auch gemeinsame Aktionen mit dem republikanischen Lager – ohne der „anti-faschistischen“ Bourgeoisie und der Volksfront politische Unterstützung zu geben; es  implizierte natürlich auch, Waffenlieferungen von Seiten der stalinistischen Sowjetunion anzunehmen, wie auch von den vorgeblichen westlichen Verbündeten der Republik (Britannien und Frankreich) zu fordern, selbst wenn es wahrscheinlich war, dass solche durch die Schergen der Volksfront und durch die StalinistInnen gegen revolutionäre KommunistInnen eingesetzt wurden.

Dazu Trotzki: „Ich würde Caballero (den Führer der Volksfront im April 1937) mit allen erdenklichen Mitteln gegen den Faschismus unterstützen, gleichzeitig würde ich aber der kommunistischen Partei anraten, nicht in die Regierung einzutreten, sondern Caballero gegenüber eine kritische Position zu bewahren.“ (21)

Und an anderer Stelle: „Man muss den republikanischen Truppen mit allen zur Verfügung stehenden Kräften helfen, aber der Sieg Caballeros über Franco würde bei weitem noch nicht den Sieg der Revolution bedeuten.“ (22)

Schließlich konkretisiert Trotzki seine kategorische Feststellung noch einmal anhand folgender Frage, was die ArbeiterInnen bezüglich eines Munitionsschiffs an Negrin, was bezüglich eine Munitionsschiffs an Franco tun sollten, das von einem imperialistischen Land ausliefe.

„Nehmen wir ein Beispiel: zwei Schiffe voll Waffen und Munition fahren von Frankreich oder den Vereinigten Staaten ab: das eine für Franco, das andere für Negrin (damaliger Regierungschef der Volksfront, Anm.d.A.). Welches sollte die Haltung der Arbeiter sein? Beide Transporte zu sabotieren? Oder nur den für Franco?“ (23)

Trotzki dazu ganz kategorisch: „Wir sind nicht neutral. Wir werden das Munitionsschiff für die Negrinregierung durchlassen. Wir machen uns keine Illusionen: von je zehn Kugeln werden neun gegen Faschisten abgehen, mindestens eine aber gegen unsere Genossen. Aber von den für Franco bestimmten würden alle zehn gegen unsere Genossen abgehen. Wir sind nicht neutral. Wir lassen das Schiff mit der Munition gegen Franco nicht durch. Natürlich, wenn ein bewaffneter Aufstand in Spanien begonnen hätte, so würden wir versuchen, das Munitionsschiff in die Hände der aufständischen Arbeiter zu leiten. Wenn wir aber nicht so stark sind, dann wählen wir das kleinere Übel.“ (24)

Trotzkis Position hat nichts mit einer politischen Unterstützung der Volksfront und deren Bestreben gemein, die spanische Revolution auf ein bürgerliches Stadium zu beschränken. Aber als revolutionärer Politiker betont er, dass das Proletariat nicht gleichgültig sein darf gegenüber den Bedingungen, die dazu führen, dass die spanische Revolution zu einer sozialistischen werden kann. Solange die Avantgarde nicht die Arbeiterklasse – geschweige denn die bäuerlichen und kleinbürgerlichen Massen – auf ihre Seite gezogen hat, muss sie den Sieg der republikanischen Kräfte befürworten, herbeizuführen trachten, um so Zeit zu gewinnen, eine revolutionäre Partei aufzubauen bzw. deren Einfluss zu vergrößern.

Ein Sieg Francos hätte das unmittelbare Ende der Revolution bedeutet, hätte jede Chance auf ein Weitertreiben der Revolution, den Bruch der Massen mit der Volksfront und den reformistischen Verrätern – den Stalinisten und Sozialisten – aber auch den Anarchisten zunichte gemacht.

Eine Analogie gab es im Bürgerkrieg in Libyen. Ein Sieg der Aufständischen unter Führung des Übergangsrats bedeutet natürlich nicht den endgültigen Sieg der Revolution, sondern nur, dass eine bestimmte Etappe im Kampf – der Sturz der reaktionären Despotie Gaddafis – erreicht ist. Eine Niederlage der Aufständischen hätte hingegen die vollkommene Liquidierung der Revolution bedeutet.

Doch der spanische Bürgerkrieg ist sicher nicht die einzige – wahrscheinlich nicht einmal die beste Analogie – zur Lage in Libyen. Ein besseres historisches Beispiel ist der Chinesisch-Japanische Krieg. Dieser wurde bekanntlich von Seiten Tschiang Kai-schek’s geführt, des Schlächters des Proletariats in der chinesischen Revolution. Trotzdem war Trotzki ganz kategorisch dafür, „selbst den Henker Tschiang Kai-schek“ (25) gegen den japanischen Imperialismus zu unterstützen.

Nun kämpfte aber China im späteren Krieg mit Japan unter dem Henker nicht allein, sondern wurde vom US-amerikanischen Imperialismus unterstützt. In der trotzkistischen Bewegung tauchten auch Fragen auf, ob Waffenlieferungen durch imperialistische Mächte an die bürgerlich-nationalistisch geführte Bewegung Chinas unterstützt werden könnten. Trotzki dazu:

„Wir können nicht die Bourgeoisie mit den notwendigen Hilfsmaßnahmen zugunsten Chinas betrauen. Doch je nachdem, ob Australien an der Seite Japans oder an der Seite Chinas in den Krieg einträte, fiele unsere Politik jeweils anders aus. Natürlich blieben wir in beiden Fällen schärfste Gegner der Regierung. Aber während wir jede materielle Hilfe an Japan mit allen Mitteln boykottiert haben, würden wir im umgekehrten Fall der Regierung vorwerfen, sie helfe China unzureichend, lasse ihren Verbündeten im Stich usw.“ (26)

Auch hieraus geht ganz eindeutig hervor, dass Trotzki von einer holzschnittartigen Vorstellung weit entfernt war, dass jedes Eingreifen des Imperialismus automatisch zum dominierenden Faktor in einem Krieg würde. Ganz ausdrücklich erklärt er, dass ein Kriegseintritt Australiens die Unterstützung Chinas nicht obsolet machen würde, dass diese weiter notwendig und gerechtfertigt wäre. Das trifft im Übrigen auch auf die Rolle der USA zu, die China im Krieg massiv militärisch und durch BeraterInnen unterstützt hatte.

Bezüglich des Aufstandes eines unterdrückten Volkes gegen eine Diktatur und den folgenden Bürgerkrieg besteht dabei kein grundlegender Unterschied:

„Nehmen wir an, dass morgen in der französischen Kolonie Algerien unter dem Banner der nationalen Unabhängigkeit ein Aufstand ausbricht und dass die italienische Regierung aus ihren eigenen imperialistischen Interessen heraus Waffenlieferungen an die Rebellen vorbereitet. Welche Haltung sollten die italienischen Arbeiter in diesem Falle einnehmen? Ich habe bewusst als Beispiel einen Aufstand gegen ein demokratisches imperialistisches Land gewählt, wobei die Intervention auf Seiten der Aufständischen von einem faschistischen Land ausgeht. Sollten die italienischen Arbeiter die Schiffsladungen mit Waffen an die Algerier aufhalten? Mögen die Ultralinken diese Frage zu bejahen wagen. Jeder Revolutionär würde gemeinsam mit den italienischen Arbeitern und algerischen Aufständischen eine solche Antwort empört von sich weisen. Selbst wenn im faschistischen Italien zur selben Zeit ein Generalstreik der Seeleute ausbräche, sollten die Streikenden zugunsten der Schiffe, die den aufständischen Kolonialsklaven Waffen bringen, eine Ausnahme machen; andernfalls wären sie nichts weiter als erbärmliche Gewerkschaftler, keine proletarischen Revolutionäre.

Gleichzeitig wären die französischen Seeleute und Hafenarbeiter, selbst wenn gerade kein Arbeitskampf anstünde, verpflichtet, die Verschiffung jeglicher Munition, die gegen die Rebellen eingesetzt werden soll, zu blockieren. Nur eine solche Politik seitens der italienischen und französischen Arbeiter stellt die Politik des revolutionären Internationalismus dar.

Bedeutet dies jedoch, dass die italienischen Arbeiter in diesem Falle ihren Kampf gegen die faschistische Regierung abschwächen? Nicht im Geringsten. Der Faschismus leistet den Algeriern nur ‚Hilfe‘, um seinen Gegner Frankreich zu schwächen und seine eigenen Räuberklauen nach dessen Kolonie auszustrecken. Dies vergessen die revolutionären italienischen Arbeiter keinen Augenblick. Sie rufen die Algerier auf, ihrem trügerischen ‚Verbündeten‘ nicht zu trauen, und setzen gleichzeitig ihren unversöhnlichen Kampf gegen den Faschismus, den ‚Hauptfeind im eigenen Land‘ fort. Nur auf diese Weise können sie das Vertrauen der Rebellen gewinnen, den Aufstand unterstützen und ihre eigene revolutionäre Stellung stärken.“ (27)

Wir müssen an diese Stelle festhalten, dass – entgegen der Interpretation der Gaddafi-Freunde – die Revolution weiter einen breiten, von den Massen getragenen Charakter hatte. Das bezeugen u.a. Berichte aus den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten wie in Bengasi (siehe oben).

Das zeigte sich aber auch darin, dass die RevolutionärInnen nie Probleme hatten, genug Freiwillige zu finden, dass sich ihre Milizen v.a. aus ZivilistInnen rekrutierten, aus der Masse der Bevölkerung.

Hinzu kommt, dass die besser ausgerüsteten Gaddafi-Truppen niemals nur durch das NATO-Bombardement aus der Luft vertrieben worden waren, sondern weil der Kampf am Boden die Sympathie und Unterstützung der Zivilbevölkerung hatte.

Schließlich zeigt sich das im Misstrauen, das die NATO immer gegen die Rebellen und die Fähigkeit ihrer Führung hegte, die Massen zu kontrollieren. Das ist auch der Grund, warum sie keine schweren Waffen erhielten.

Schließlich verdeutlicht v.a. der Fall von Tripolis die breite Unterstützung des Aufstands. Wäre – wie Gaddafi und etliche seiner „westlichen“ Freunde“ behaupten – das Volk hinter ihm gestanden oder wäre es wenigstens von der Drohung durch aufständische Gräueltaten an der Masse der Bevölkerung der Hauptstadt eingeschüchtert gewesen: warum hat Gaddafi diese dann nicht bewaffnet, warum wurden nicht wenigstens ein paar tausend ZivilistInnen in die „Verteidigung“ der Hauptstadt einbezogen? Warum fand das despotische Regime keine Unterstützer? Warum liefen stattdessen vorgebliche Verteidiger, Angehörige der Armee, über, als die Aufständischen anrückten, und öffneten ihnen den Zugang zur Hauptstadt?

Nach dem Sturz Gaddafis kamen zahlreiche „Erklärungen“ in Umlauf, die den offenkundigen Widerspruch der AnhängerInnen Gaddafis lösen sollten, die einerseits behaupteten, dass die Rebellen wenig AnhängerInnen hätten und nur gedungene Banden wären, zum anderen keine Antwort darauf zu geben vermochten, warum diese in der Hauptstadt nur auf wenig Widerstand trafen. Die Erklärungen können getrost als Verschwörungstheorien abgetan werden, die einfach das Offenkundige bestreiten sollen.

Bemerkenswert ist allerdings, dass sowohl die NATO-Seite wie auch die AnhängerInnen des alten Regimes daran interessiert waren, die Rolle der Rebellen bei der Befreiung von Tripolis herunterzuspielen: die UnterstützerInnen Gaddafis, weil sie darin eine Rechtfertigung der Herrschaft des gestürzten Despoten sehen; die NATO, weil auch sie daran interessiert ist, den Massencharakter der Revolution und die Rolle der libyschen KämpferInnen herunterzuspielen, um so ihr Anrecht auf die Bestimmung der Nachkriegsordnung zusätzlich zu legitimieren, die Rebellen als chaotischen, undisziplinierten Haufen hinzustellen, dem die Kontrolle über das Land nicht anvertraut werden dürfe.

Ein interessanter Bericht eines Genossen der britischen “Socialist Workers Party” (SWP) weist in eine andere Richtung:

„Tripolis ist nicht von Rebellen von außerhalb befreit worden. Vielmehr begann am 20. August ein Volksaufstand im Inneren der Stadt, in einer Reihe von Bezirken. Am Mittag des 21. August war der staatliche Sicherheitsapparat in mehreren Stadtteilen vollständig besiegt worden und schwankte in anderen. Am Abend des 21. August erreichten die ersten Brigaden der Rebellen die Stadt und kämpften sich durch die restlichen Stadtteile.

Die Haupttriebkraft der Revolution war zu jedem kritischen Zeitpunkt die Teilnahme der Massen – sei es beim ursprünglichen Aufstand in Bengasi und der Stadt Zintan im Westen oder sei es in Tripolis.

Heute werden die Straßen von Tripolis von den einfachen Leuten kontrolliert. Jeder Nachbarschaftsbezirk hat ein Volkskomitee, das sich aus bewaffneten Ortsansässigen zusammensetzt. Sie kontrollieren die Zugänge und Ausgänge dieser Bezirke, kontrollieren Fahrzeuge und agieren de facto als die Autorität auf der Straße, da die Polizei abwesend ist (und jetzt erst begonnen hat, wieder zu kommen).

Es gibt eine Reihe Kräfte, die um die Führung der Revolution kämpfen. Diese schließen ein: 1.) Die revolutionären FührerInnen in Tripolis, die die Bewegung hier vom ersten Tag an, seit dem Februar bestimmen, oft mit wenig direktem Kontakt zur NATO; 2.) Revolutionäre aus Tripolis, die außerhalb der Stadt agierten, sei es in Bengasi, Tunesien oder noch weiter entfernt und die jetzt zurückkehren; 3.) Islamistische Strömungen, die vom Klerus geführt werden; 4.) Der in Bengasi ansässige und US-gestützte Nationale Rettungsrat (National Transitional Council; NTC) und vor allem sein Exekutivkomitee; 5.) Die militärischen Kräfte in Tripolis, die ihrerseits in zwei Fraktionen gespalten sind, eine unter dem Kommando des Ex-Islamisten Abdel Hakim Belhaj und die andere unter Kontrolle ehemaliger Al Kaida-Figuren. Belhaj, der eingekerkert und gefoltert worden ist aufgrund der Zusammenarbeit der USA mit Gaddafi, hat einen gewissen Rückhalt im Osten Libyens und soll von Quatar unterstützt sein. 6.) Rund 40 Brigaden der Rebellen aus dem ganzen Land.” (28)

Diese Darstellung der verschiedenen Strömungen und Kräfte in der Führung der Revolution zeigt den politisch heterogenen, widersprüchlichen Charakter und das Ringen verschiedener Strömungen und Klassen um den Fortgang der libyschen Revolution. Diese ist mit dem Sturz Gaddafis nicht beendet, sondern in ein neues, entscheidendes Stadium getreten.

Die Hauptgefahr besteht nun darin, dass die imperialistischen Unterstützer und Sieger über den Übergangsrat versuchen, eine reaktionäre, mehr oder minder demokratisch bemäntelte Nachkriegsordnung zu schaffen.

Das zeigte sich darin, dass der Übergangsrat gleich nach dem Sieg über Gaddafi versuchte, die Milizen zu entwaffnen und „zuverlässige“ bewaffnete Kräfte in die Polizei zu integrieren.

Zweitens ringt er darum, von der „internationalen Gemeinschaft“ anerkannt zu werden und so die Außenbeziehungen des Landes vollkommen zu monopolisieren. Hier kommt ihm entgegen, dass alle bedeuteten Mächte der Welt den Übergangsrat anerkannt haben und ihren Einfluss auf ihn geltend machen wollen.

Wiewohl er fest in der Hand der Imperialisten ist, ist er keineswegs monolithisch und sitzt auch nicht fest im Sattel. Das deutet nicht nur obiges Zitat an. Auch die ständigen Rücktrittsabsichten von Teilen des Rates, das Gezerre, ob er nicht überhaupt zurücktreten solle, zeigen, dass es sich um keine fest verwurzelte Kraft handelt. Der Übergangsrat bildet nicht eine Art Quasi-Regierung aufgrund seiner eigenen Verankerung. Er ist eher Resultat eines instabilen Gleichgewichts widerstrebender Kräfte, deren innere Gegensätze mehr und mehr zutage treten werden.

Der Sieg über Gaddafi hat außerdem auch reaktionäre Kräfte unter den Aufständischen ermutigt. So kam es zu einer Reihe gezielter, rassistischer Angriffe auf SchwarzafrikanerInnen bis hin zu Massakern an diesen. Auch wenn der Übergangsrat diese verurteilt hat, so hat er wenig getan, um diesen entgegenzutreten.

Das lässt sich nicht nur mit der Machtlosigkeit des Übergangsrats erklären. Es hängt auch damit zusammen, dass diese rassistischen Angriffe auch dazu angetan sind, den Ruf nach „Ordnung“, sprich nach Entwaffnung alle Milizen und des gesamten Volkes zu legitimieren, um diese Militärgewalt in die Hände einer „ordentlichen“, zentralisierten bürgerlichen Repressionsmacht zu übergeben.

Darin liegt ein Schlüsselproblem des Übergangs, der Befriedung der Lage für die Imperialisten und ihre Unterstützer. Der Bürgerkrieg hat die bürokratischen und militärischen Staatsstrukturen des Landes zersetzt, zum Teil zerstört. Vielerorts sind Gegenmachtstrukturen entstanden, welche real die Macht ausüben, z.T. mit tradierten Strukturen verbunden.

Zweifellos haben diese den Mangel, dass ihnen das Potenzial ihrer eigenen, selbst geschaffenen Strukturen, deren embryonaler räteartiger Charakter wie auch der große Vorteil der Bewaffnung des Volkes nicht bewusst ist. Daraus ergibt sich die große Gefahr, dass diese entweder abgeschafft und durch bürokratische Staatsstrukturen ersetzt oder eingemeindet werden, ohne dass den Massen ihre politische Enteignung überhaupt deutlich wird.

Insofern läuft den Massen die Zeit davon. Andererseits gibt es mehrere wesentliche Fragen, die zugespitzt werden müssen:

a) Wem gehört das Land, wem gehören die Bodenschätze, die bisher der Gaddafi-Apparat kontrollierte und an die Imperialisten verkauft hatte? Nun wollen die internationalen Großkonzerne – in erster Linie jene des Westens, aber auch Chinas und Russlands – diese noch direkter kontrollieren.

b) Wer bestimmt die politische Zukunft des Landes? Ist es der Übergangsrat, der sich möglichst als Übergangsregierung halten will, bis ein neuer libyscher Staatsapparat etabliert, die Eigentumsfrage gelöst, die Herrscher des „neuen Libyen“ aus den alten Herrschaftsschichten rekrutiert sind?

c) Daher nehmen demokratische Forderungen eine Schlüsselrolle ein, um die Massen nun zu mobilisieren – insbesondere jene nach Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung unter Kontrolle von Räteorganen der ArbeiterInnen, Bauern und städtischen Massen.

d) Damit eng verbunden ist die Frage, welche gesellschaftliche Kraft die bewaffnete Gewalt ausübt. Die Imperialisten und der Übergangsrat wollen die bestehenden Milizen, die schwer kontrollierbaren Jugendlichen und Freiwilligen entwaffnen – das kann sogar die dauerhafte Stationierung von ausländischen Truppen zur „Friedenssicherung“ beinhalten sowie von privaten Sicherheitsdiensten zur Absicherung der Rohstoffvorkommen und ihrer Ausbeutung. Daher sind die Forderungen nach sofortigem Abzug aller imperialistischen Truppen und Berater Schlüsselfragen – ebenso wie die Ablehnung der Entwaffnung durch den sich re-konstituierenden libyschen Staatsapparat. Aber auch das System von Milizen, die von der Bevölkerung nicht kontrolliert werden, ist problematisch, weil es diese nicht den proletarischen und halb-proletarischen Massen, sondern diversen Warlords, Clanführern, Islamisten oder anderen bürgerlichen oder klein-bürgerlichen Interessengruppen unterordnet – bis hin zur Gefahr von pogromistischen Banden.

Daher müssen die Milizen, die bewaffneten Einheiten unter die Kontrolle von Räten der Arbeiterklasse, der Bauern, der Armen gestellt werden. Die Milizen aus v.a. jugendlichen KämpferInnen aus dem „einfachen Volk“ müssen den Räten in den Stadtteilen unterstellt werden. Nur so können sie ihre revolutionäre Aufgabe erfüllen und eine vorwärtstreibende Rolle spielen als bewaffneter Arm der weiteren libyschen Revolution.

e) Welche Perspektive hat die Masse der Bevölkerung? Wie kann die Jugend Beschäftigung finden? Wie können die sozialen Probleme der Massen gelöst werden? All das verweist darauf, dass die Lösung der demokratischen Aufgaben untrennbar mit dem Kampf um eine sozialistische Umwälzung des Landes verbunden ist.

f) Wie kann die Arbeiterklasse zur führenden Kraft werden? Auch wenn die libysche Arbeiterklasse relativ klein ist, so ist sie eine wichtige soziale Kraft. Doch sie verfügt über keine Partei, keine Organisation. Die nun gewonnen demokratischen Freiheiten müssen genutzt werden, um unabhängige Gewerkschaften, Klassenorganisationen – vor allem aber, um eine revolutionären Arbeiterpartei zu propagieren und aufzubauen. Eine solche Partei muss zur entschiedensten Kraft der libyschen Revolution werden. Die Partei vermag, gestützt auf ein revolutionäres Aktionsprogramm, die Klasse zu führen und nicht-proletarische Massen für ein Programm der permanenten Revolution zu gewinnen.

Unmittelbar nach dem Sturz Gaddafis, den wir unzweideutig als Sieg begrüßten und begrüßen, haben wir ein Forderungsprogramm (29) präsentiert, das der libyschen Revolution eine Perspektive weist und in Grundzügen auch heute noch gültig ist.

Die Führungskrise der libyschen Revolution wird sich nur lösen lassen, wenn sich die bewusstesten und fortschrittlichsten KämpferInnen um ein Programm von Übergangsforderungen gruppieren und Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei in Angriff nehmen:

Keine Unterstützung für den Nationalen Übergangsrat! Macht die Revolution permanent mit dem Ziel, die bürgerliche Regierung durch eine Arbeiterregierung zu ersetzen! Keine Entwaffnung der Milizen! Lokale Komitees der Aufständischen müssen zu Räten der ArbeiterInnen, der Jugend und KämpferInnen werden!

Migrantische ArbeiterInnen, wie jene aus den Ländern südlich der Sahara, müssen verteidigt werden! Harte Strafen für alle, die sich an ihnen vergehen, oder alle, die Racheakte unter den Clans entfachen wollen!

Für den Aufbau unabhängiger Gewerkschaften! Kampf für eine unabhängige und revolutionäre Verfassungsgebende Versammlung. Veröffentlichung und Aufhebung aller Verträge und Abkommen des Nationalen Übergangsrates und des Gaddafi-Regimes mit der NATO, der EU und den Imperialisten! Angesichts der Tatsache, dass Libyen ein Staat ist, der sich weitgehend aus der Grundrente aus seinen Ölvorkommen finanziert, ist es entscheidend, dass über seine Einkünfte demokratisch entschieden wird – durch Arbeiterräte. Keine Übergabe des Ölreichtums an die imperialistischen Konzerne – seien sie US-amerikanischer, europäischer oder chinesischer Herkunft!

Auflösung der Überreste der nationalen Armee und Polizei! Für Volksmilizen, die demokratisch geleitet und organisiert werden durch Revolutionsräte! Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, die demokratisch über die Zukunft des Landes bestimmt – unter Kontrolle dieser Räte!

Alle NATO-Spezialkräfte raus aus Libyen! Nein zu allen NATO-Basen im Land! Ausländische Banken und Regierungen müssen die eingefrorenen Gelder an das libysche Volk übergeben! Keine Privatisierungen! Arbeiterkontrolle über die Öl-Förderungen und über alle Industrien, den Finanzsektor und große Dienstleistungsbereiche! Konfiskation des Vermögens von Gaddafi! Für ein massives Bauprogramm von öffentlichen Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern!

Verbindet Euch mit der tunesischen und ägyptischen Revolution – mobilisiert die Massen zur Unterstützung der Kämpfe in Algerien, Syrien und Palästina gegen Diktatur und Besatzung! Für eine libysche Arbeiterrepublik als Teil Vereinigter Sozialistischer Staaten Nordafrikas!

Aufbau einer revolutionären Partei in Libyen als Teil einer neuen Arbeiterinternationale!

Fußnoten

(1) Die Zeit, 2. März 2011, http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/gadhafi-bengasi-uebergangs-rat

(2) Alfred Hackensberg, Buhlen um Libyen, 27.07.2007., http://www.heise.de/tp/artikel/25/25819/1.html

(3) Matthias Monroy, Lizenz zum Töten?, 26.10.2010, http://www.heise.de/tp/artikel/33/33538/1.html

(4) Ebenda

(5) Ebenda

(6) Wagner, Libyen-Krieg: Die Machtfrage ins Ausland verlagern http://imi-online.de/download/Ausdruck2_2011_01wagner.pdf

(7) ITUC-Survey Libyen: http://survey07.ituc-csi.org/getcountry.php?IDCountry=LBY&IDLang=DE

(8) Ebenda

(9) http://survey.ituc-csi.org/Libya.html?lang=de

(10) Wagner, Libyen-Krieg: Die Machtfrage ins Ausland verlagern, http://imi-online.de/download/Ausdruck2_2011_01wagner.pdf

(11) Trotzki, Theorie der Permanenten Revolution, EVA 1975, S: 159

(12) Ebenda, S. 158

(13) Gaddafi in einem Interview für die französische Nachrichtenagentur AFP am 5. März, zitiert nach: Bernhard Schmid, Die Propaganda des zu Ende gehenden Gaffadi-Regimes: „Wir bleiben an der Macht, oder Ihr werdet mit Flüchtlingen überschwemmt“, auf www.labournet.de

(14) Wir verwenden hier und in anderen Texten zur Revolution im Nahen Osten und Nordafrika den Begriff „Volksrevolution“ im Sinne von Marx, wie er ihn z.B. im Brief an Kugelmann bezüglich der Lehren der Revolution von 1848 und der Pariser Kommune verwendet, und von Lenin, wie er ihn in „Staat und Revolution“ übernimmt. Entscheidend ist dabei, dass dabei unter „dem Volk“ die breiten, unterdrückten Massen verstanden werden, also nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch die Bauern, die unteren Schichten des Kleinbürgertums oder der lohnabhängigen Mittelschichten der Gesellschaft. Entscheidend ist dabei, dass diese Schichten als aktive, kämpfende Elemente in der Revolution auftreten, die zumindest unbewusst versuchen, ihr durch ihre Aktionen, ihren Elan eine Richtung zu geben. Lenin grenzt den Begriff dabei bewusst von bürgerlichen „Revolutionen“ und Regimewechseln ab, wo bürgerliche Kräfte nicht die Führer der Revolution stellten, sondern wo sich die aktiven, mobilisierten Elemente auf Schichten des entstehenden Bürgertums, der Intelligenz und des aufgeklärten Kleinbürgertums beschränkten, die Masse der Bevölkerung – Bauern, ArbeiterInnen usw. – aber auf eine passive Rolle verwiesen wurden.

(15) Simon Assaf, Revolution am Scheideweg, Marx 21, http://marx21.de/content/view/1407/32/

(16) Wagner, Libyen-Krieg: Die Machtfrage ins Ausland verlagern, www.imi-online.de/download/Ausdruck2_2011_01wagner.pdf

(17) Simon Assaf, Revolution am Scheideweg, Marx 21, http://marx21.de/content/view/1407/32/

(18) Jamal Jaber, Impressions of the new Libya

(19) Simon Assaf, Revolution am Scheideweg, Marx 21, http://marx21.de/content/view/1407/32/

(20) Gilbert Achcar, „NATO’s ‚Conspiracy‘ against the Libyan revolution“

(21) Trotzki, Revolutionäre Strategie im Bürgerkrieg, in: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, Bd. 2, S. 246

(22) Trotzki, Ist in Spanien ein Sieg möglich, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, Bd. 2, S. 249

(23) Trotzki, Antworten auf einige Fragen, die spanische Lage betreffend, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, Bd. 2, S. 274

(24) Ebenda, S. 274

(25) Trotzki, Die Verteidigung der Sowjetrepublik und die Opposition, Schriften 1.1., S. 81

(26) Trotzki, Brief an australische Genossen, Schriften zu China 1.2., S. 902

(27) Trotzki, Lernt denken. Ein freundschaftlicher Rat an gewisse Ultralinke

(28) A thoroughgoing popular revolution, veröffentlicht in: International Viewpoint, http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article2308

(29) Gaddafi am Ende: Wie kann die Revolution permanent werden?, Stellungnahme der Liga für die Fünfte Internationale vom 22. August 2011, in: Neue Internationale 162, September 2011, S. 17




Resolution zur Weltlage

Internationales Exekutivekomitee der Liga für die Fünfte Internationale, September 2011, Revolutionärer Marxismus 43, Oktober 2011

1. Die Welt durchlebt eine ausgedehnte Stillstandsphase, die Erholung von 2010 klingt ab und es droht die Wiederkehr der Rezession. Eine weitreichende  Kreditklemme, Rettungsschirme für Banken und Industrien, eine Staatsschuldenkrise auf den Anleihemärkten mit Milliardenspekulationen treiben ein Land nach dem anderen zu verzweifelten Einsparmaßnahmen, gerichtet gegen die Arbeiterklasse und die Armen. Aber all dies hat die Krise nicht bereinigt – im Gegenteil.

2. Diese historisch lange Krise bestätigt die Voraussage der Liga für die 5. Internationale, dass wir in eine weitere historische Krise des kapitalistischen Weltsystems geraten sind, ähnlich wie sie die Jahrzehnte zwischen den beiden Weltkriegen geprägt hat. Es ist daher kein Zufall, dass Regierungen und Wirtschaftsinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds die Errungenschaften der ArbeiterInnen, Bauern und Armen der Nachkriegsperiode zunichte machen wollen. Aber in Europa, Nord- und Südamerika und nun auch im Nahen Osten wehren sich die Massen.

3. Ihnen ist der Entwicklungsweg der Wirtschaften des westlichen Europa verwehrt. Die verschiedenen arabisch-afrikanischen und lateinamerikanischen „sozialistischen“ nationalistischen Regime haben Privatisierungen, Marktwirtschaft und neoliberaler Politik den Weg bereitet gemacht. Die Führungen von Gewerkschaften und Arbeiterparteien haben sich kräftig nach rechts gewendet und sich offen dem Kapitalismus angebiedert.

4. Selbst heute wagt es kaum jemand von ihnen, dem Kapitalismus offen entgegen zu treten, eine alternative Gesellschaft vorzuschlagen und über einzelne Abwehrkämpfe hinauszugehen. Doch nur die Umwandlung von Defensiv- in Offensivkämpfe würde es ermöglichen, jenes System zu stürzen, das Milliarden ins Elend stürzt. Doch auf jedem Kontinent nehmen nun ArbeiterInnen, in der Regel mit einem großen Anteil Jugendlicher und junger ArbeiterInnen, die Herausforderung an. Die alten FührerInnen, die den Widerstand bremsen und verraten, müssen ersetzt werden!

5. Die Gewerkschaften und alle Widerstandsorganisationen der ArbeiterInnen, der Jugend, Frauen und BäuerInnen müssen in echte Kampforganisationen umgewandelt werden. Revolutionäre Parteien müssen aus den besten AktivistInnen geformt und international verbunden werden. Diese historische Krise muss die letzte sein! Die geschichtliche Gelegenheit muss ergriffen werden, um eine revolutionäre Masseninternationale wieder zu erschaffen, die die Auswirkungen der Niederlagen der 1980er und 90er Jahre überwinden und dem Kapitalismus endgültig den Garaus machen kann.

Die Weltwirtschaftslage

6. Der gewaltige Einbruch der Aktienmärkte im August, die Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA und die fortgesetzten Turbulenzen im Herbst 2011 deuten insgesamt darauf hin, dass wir wieder an der Schwelle zu einer Weltwirtschaftskrise stehen. Nach der globalen Rezession 2008/2009 erholte sich die Weltwirtschaft zwar, konnte dies jedoch nur vor dem Hintergrund von Rettungsmaßnahmen für das Finanzkapital und staatlichen Konjunkturprogrammen gewährleisten. Dies führte im Gegenzug zu einem massiven Anstieg der Staatsschulden und einer Vergesellschaftung der Verluste in unerhörtem Ausmaß.

7. Die kurzlebige Aufschwungperiode der Weltwirtschaft löste jedoch nicht die grundlegenden Probleme des Kapitalismus. Während der Krise wurde nicht nur nicht genug Kapital vernichtet, um eine neue Ausdehnungsphase des Weltkapitalismus unterfüttern zu können – es wurde das genaue Gegenteil bewirkt. Die Intervention des Großkapitals diente zur Rettung von Finanzkapital, den Großbanken und Fonds, aber auch den großen Industriemonopolen und reproduzierte somit die bestehende Überakkumulation.

8. Das Resultat der Rezession hat zu einer Periode wachsenden Ungleichgewichts der Wirtschaftsentwicklung geführt. Die aufstrebenden BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China) und Deutschland sowie einige andere eng verbundene Staaten (z.B. Skandinavien) haben sich industriell stark ausdehnen können. Aber diese Ausweitung war nur die Kehrseite der Beinahe-Stagnation bzw. des Niedergangs von USA, Japan und weiten Teilen der Europäischen Union und – schlimmer noch – bei einer Reihe von Halbkolonien.

9. Gerade jene Mittel zur ‚Rettung‘ der Weltwirtschaft und zur schwachen Erholung haben die Wurzeln für die Wirtschaftskrise nicht berührt und leiten eine neue weltgeschichtliche Periode ein: eine Periode der Krise des kapitalistischen Weltsystems. Die Überakkumulation von Kapital hängt wie ein Damoklesschwert über der Weltwirtschaft:

  • Die staatlichen Maßnahmen retten das Finanzkapital und heizen deren Operationen weiter an. Dies bläst die Spekulation auf Weltebene weiter auf und zieht nun auch Staats-, wie private, v.a. Bankschulden in den Sog, ebenso die Rohstoff- und v.a. auch die Lebensmittelmärkte.
  • Dies wiederum untergräbt die Mittel der traditionellen imperialistischen Rezepte zur Verhütung weiterer Zusammenbrüche auf den Finanzmärkten.
  • Die spekulativen Wellen, die die Warenmärkte überschwemmen, und die Politik der Zinslockerung durch die Staatsbank der USA, aber auch der Europäischen Zentralbank, um ihre Ökonomien anzukurbeln und so ihre Märkte für chinesische und andere Exporteure zu erhalten, erhöhen den inflationären Druck auf die Halbkolonien und China gewaltig und zielen in Richtung Aufwertung ihrer Währungen.

10. In der ersten Hälfte von 2011 verstärkten sich die Anzeichen für eine Verlangsamung der Weltwirtschaft, angeheizt durch die massiven Kürzungsprogramme in Südeuropa, Britannien und den USA sowie der Schuldenlast, die viele Länder zunehmend drückt. Der Tsunami und die Kernreaktorkatastrophe in Fukushima bewirkten, dass die japanische Wirtschaft weiter in der Stagnationsklemme steckt. Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass ein dritter Schub von Zinslockerung in den USA und internationale Absprachen zwischen USA, China  und Europa die globale Rezession hinauszögern. Doch die Mittel zur Ankurbelung der Weltwirtschaft sind äußerst beschränkt und funktionieren höchstens als Zeitgewinn, verschärfen im Grunde aber die Probleme. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Maßnahmen ähnliche Wirkungen wie 2008-10 erzeugen, zumal sie Hand in Hand mit ungeheuren Einschnitten bei den Staatsausgaben gehen und so enormen Rückbau von Staatsverträgen und Soziallohn bedeuten. Wir werden folglich bestenfalls Stillstand, wahrscheinlich allerdings einen Wirtschaftsabschwung im kommenden Jahr erleben, der möglicherweise eine noch schlimmere weltweite Rezession als die jüngste einleitet.

11. Die Entwicklung der USA war der Schlüssel zum Verständnis des vorübergehenden Aufschwungs der Weltwirtschaft nach der globalen Rezession. Die Hebung des US-Verbrauchs verschaffte zeitweise den Exportländern Zuwächse. Aber genau diese Auswirkungen, die eine Erholung zuließen, sind nun mehr oder weniger erschöpft. Der US-Dollar hat sich als Leitwährung weiter abgeschwächt. Eine Rezession in den USA und ein Rückgang der US-Einfuhren werden Länder wie China, Indien, Brasilien und deren Industrien empfindlich treffen, die auf eine hohe Kapazitätsauslastung angewiesen sind, um den nötigen Profit zu realisieren. Auch diese Länder zeigen Anzeichen, dass ihr Höhepunkt im Wirtschaftszyklus überschritten ist. Der Anstieg der Inflation – und hier v.a. der Anstieg der Verbraucherpreise für Lebensgüter der Arbeiterklasse – sind weitere Zeichen dieser Entwicklung und zugleich Ausdruck der Politik von Zinslockerungerungen (Quantitative Easing).

12. Ein Hauptmerkmal der Wiederbelebung war, dass große Teile der halbkolonialen Welt weiterhin unter massiven inflationären Tendenzen und Schuldenlasten litten, d h. ihr Stillstand und weiterer Rückgang sind im Rahmen dieser „Wiederbelebung“ für imperialistische Länder festgeschrieben. Das betrifft weite Teile Afrikas, aber auch geostrategisch bedeutsame und bevölkerungsstarke Länder wie Pakistan.

Wachsende Risse innerhalb des Kapitals und zwischen imperialistischen Staaten und Blöcken

13. Wir haben die neue Periode seit 2008 korrekt als historische Krise des Gesamtsystems analysiert und betont, dass es sich nicht nur um eine „normale“  Wirtschaftskrise handelte, sondern dass die Krise weitere Attacken auf die Arbeiterklasse, die Armen, das Kleinbürgertum der ganzen Welt sowie die weitere Ausplünderung der Halbkolonien zur Folge haben muss. Sie verschärft aber ebenso die Spaltungen zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse. Dies zeichnet sich nun in Differenzen in der Wirtschaftspolitik fast aller imperialistischer Staaten und v.a. den vermehrten Rissen und Konflikten zwischen den imperialistischen Mächten ab.

14. Die Kämpfe zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen, insbesondere Finanz- und Industrie(export)kapital, sind Auseinandersetzungen zwischen Monopolen, die in entgegensetzte Wirtschaftsrichtungen streben. Das Finanzkapital braucht die spekulative Investition, was eine anti-inflationäre Politik und Währungsstabilität erfordert, damit das investierte Geld nicht entwertet wird. Diese Politik kann aber nur betrieben werden, wenn überschüssiges fiktives Kapital, das sich in den vorhergehenden Perioden und in der spekulativen Jagd nach Waren und Währungen angehäuft hat, verteidigt wird.

15. Das Industriekapital und die Exportnationen wollen ihre Herstellungskapazitäten erhalten. Sie brauchen eine Politik der Anreize und befürworten auch zu einem gewissen Grad antizyklische Maßnahmen. Doch auch diese Politik fordert letztlich den Schutz überzähligen Kapitals. Zwar wird die Notwendigkeit, größere Mengen von Kapital zu vernichten, von allen anerkannt, aber natürlich soll es nicht das eigene sein. Während der Rezession bedeutete dies, dass nach staatlichen Eingriffen gerufen wurde, jetzt erheben sich Stimmen für staatlichen  Schutz gegen Konkurrenten.

16. Die globale Rezession und ihre Nachwehen haben allgemein bewiesen, dass sich das Finanzkapital auf Kosten von kleineren und schwächeren Kapitalteilen und erst recht gegenüber der gesamten Gesellschaft behauptet hat. Innerhalb des Finanzkapitals wiederum haben sich die Gewichte – wenn auch nicht geradlinig – zu Gunsten der zinsträchtigen Sphäre verlagert. Dieser Wandel muss zur Kenntnis genommen werden, um die Politik der maßgebenden imperialistischen Regierungen in der Krise verstehen zu können.

17. Aber die Erkenntnis dieser Spaltungen fördert gleichermaßen das Verständnis für die Politik der ArbeiterInnenbürokratien und den Aufstieg von populistischen und nationalistischen Bewegungen während und seit der Krise. Die verschiedenen Fraktionen des Kapitals haben sich v.a. mit Hilfe ihres Medienmonopols als „Opfer“ der Krise präsentieren können und haben ihre Rolle als Profiteure des Systems in den Hintergrund gedrängt. Sie rügen die Politiker, „nicht auf die Märkte zu hören und die Wirtschaft zu vernachlässigen.“ Finanzspekulanten wie Warren Buffett stellen sich als große „Sparer“ dar, die nun so tun, als sei ihre Sorge um die zukünftigen eigenen Profite identisch mit der Sorge der Kleinverdiener um ihre Ersparnisse. Wen also machen sie für die Krise verantwortlich? Die Konkurrenz fremder Staaten (z.B. Deutschland bzw. China), Subventionen für weniger erfolgreiche andere Kapitalfraktionen (die Industrie) und den Staat, der viel zu viel Geld für Fürsorge, „gescheiterte Existenzen“ wie Arme und Einwanderer hinauswirft. Damit wird die ideologische Basis gelegt, wie und warum Kapitalfraktionen sich mit aufkeimenden reaktionären Massenbewegungen wie der Tea Party in den USA arrangieren und sie gar aufbauen können und wie reaktionäre konservative Parteien sich einen massenhaften Anhang von KleinbürgerInnen und Mittelschichten verschaffen können, da diese Schichten selbst schwer unter den Druck der Krise geraten sind.

18. Die Industriekapitalisten und einige Sektoren des Finanzkapitals fordern eine Politik, die die Nachfrage nach ihren Produkten sichert. Sie beklagen sich über „Spekulanten“ und „einseitige Politik“, v.a. nach angloamerikanischem Modell. Das dient mehreren Zwecken. Erstens lädt es die Schuld für die Krise auf eine „falsche Politik“ ab und will selbst vom System und seinen inneren Widersprüchen ablenken. Zum anderen wird mit dem Finger auf andere, v.a. ausländische Kapitalfraktionen gezeigt und damit die Tatsache verschleiert, dass alle große Industriemonopole selbst Hauptinvestoren an den Finanzmärkten und  engstens mit den Großbanken verbunden sind. Sie richten sich auch an den „ehrlichen“ Produzenten, an das Kleinkapital und die Bauernschaft und sogar den hart arbeitenden Proletarier und die hart arbeitende Proletarierin. Sie versuchen sich als Investoren hinzustellen, deren Hauptziel nicht der Profit ist, sondern die Produktion sinnvoller Güter; sie wollen glauben machen, sie hätten Verständnis für die Sorgen und Probleme aller Menschen, die etwas Nutzbringendes schaffen wollen. Mit Hilfe dieses ideologischen Vorstoßes wollen sie Teile des Kleinbürgertums und der Mittelschichten sowie die ArbeiterInnenaristokratie und -bürokratie auf ihre Seite gegen die ausländische Konkurrenz und die vermeintlichen „Privilegien“ anderer Sektoren des Kapitals ziehen. V.a. in Europa, aber auch den USA oder Brasilien haben die Gewerkschaften unter ihren bürokratischen Führungen willfährig auf diese demagogischen Argumente reagiert und sich mit den Bossen der Großindustrie zusammengetan, um „ihre“ Firmen und „ihre“ Arbeitsplätze zu retten oder um wenigstens Schlimmeres zu verhindern. In den USA bedeutete dies, Obama und die Demokratische Partei praktisch für Nichts zu unterstützen. In Europa wurde dieser Kurs durch die reformistischen sozialdemokratischen Parteien gesteuert, im Wesentlichen unterstützt durch die Linksreformisten wie Union de Gauche oder die Linkspartei.

19. Anders als die populistischen, reformistischen sowie die extrem rassistischen bzw. offen faschistischen Kräfte behaupten, die die Lösung der Krise v.a. in einer ‚richtigen‘ bürgerlichen Politik sehen, müssen wir betonen, dass das Chaos und die Desorientierung der herrschenden Klasse, die Schwäche der bürgerlichen Ideologie, der Mangel an Vertrauen und Orientierung, die Halbherzigkeit der Maßnahmen ein notwendiges Resultat der Systemkrise sind, der die herrschende Klasse nicht auf den Grund gehen will und kann. Eine ernsthafte Prüfung würde nämlich offenbaren, dass sie keine Antwort auf die Krise hat – zumindest keine, die die Gesellschaft vorwärts bringen könnte. Sie würde auch offenbaren, dass die wirkliche Lösung der Krise nur darin liegen kann, das akkumulierte Vermögen der Gesellschaft dem Privateigentum entschädigungslos zu entreißen und den hoch vergesellschafteten Produktionsprozess weltweit bewusst demokratisch zu planen.

20. Natürlich haben jetzt auch die diversen selbsternannten Antikrisenstrategen des bürgerlichen Lagers, kleinbürgerliche Reaktionäre, reformistische Politiker und Gewerkschaftsbürokraten, Hochkonjunktur und verkünden, mit ihren Vorschlägen wäre die Krise und ihre Ursachen zu meistern. Aber alle neoliberalen und keynesianischen Weisheiten oder eine Mixtur aus beiden können mit dem Problem der Überakkumulation von Kapital auf Weltebene nicht fertig werden. Mit ihren Konzepten gibt es kein Entrinnen vor den wachsenden Spaltungen, Ungleichheiten und Konkurrenzsituationen auf der Welt. Die wachsenden Widersprüche sind allgegenwärtig und spitzen die innerimperialistischen Risse und Konflikte zu, denn die globale Überakkumulation des Kapitals kann nur durch eine massive Vernichtung von Kapital gelöst werden. Daher geht der Kampf zwischen den großen Monopolen und ihren Staaten um eine Neuaufteilung der Welt, ausgelöst durch den Niedergang v.a. der bisherigen Führungsmacht USA und dem Aufstieg anderer Mächte.

21. Allerdings hat die wirtschaftliche Ausdehnung von China, der übrigen BRIC-Länder oder Deutschland und dessen verbundenen Staaten die ökonomischen Verhältnisse keineswegs stabilisiert, sondern das Zentrum der Wirtschaftsschwerkraft verschoben. Sie haben den US-Imperialismus weiter untergraben. Die Herabstufung der Währung der immer noch größten Wirtschaft der Welt durch Standard and Poors drückt dies aus. Die künftige Funktion des Dollar als erste Reservewährung der Welt wird in der nächsten Etappe in Frage gestellt.

Der US-Imperialismus

22. Der US-Imperialismus ist von inneren Widersprüchen befallen. Noch ist er die einzig reale Weltmacht und will überall herrschen. Er ist der Weltsheriff des Imperialismus. Aber die „Kosten“ dieser Weltherrschaft drücken ihn immer stärker. Seine industrielle Basis dünnt aus. Die USA haben sich immer noch nicht von der Krise erholt und nicht das Vorkrisenniveau in der Produktion erreicht. Ihre globalen militärischen Interventionen zeigen nicht die gewünschte Wirkung. V.a. in Afghanistan hat sich auch nach einem Jahrzehnt von Besatzung und Krieg keine neue, von den USA geführte Ordnung etabliert, sondern es läuft auf eine Art Regierungsbeteiligung der Taliban hinaus. Auch der Einfluss in Pakistan, und damit dieser Eckpfeiler seiner Politik in Mittelost, ist erheblich geschwächt. Dagegen wächst der chinesische Einfluss in Asien. Die Revolutionen in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten haben den Kontrollgriff der USA gelockert, eine „Stabilisierung“ im imperialistischen Sinn ist nicht in Sicht. Die Frage der Anerkennung Palästinas in der UNO wird die USA weiter vor den Augen der Massen als äußerst demokratiefeindlichen Imperialismus bloßstellen, falls Frankreich und Britannien sich im UN-Sicherheitsrat nicht ihrem Veto anschließen.

23. Die durch das Patt zwischen Präsident und Kongress nahezu gelähmte US-Politik in der Schuldenrahmenfrage hat die tiefen Risse auch innerhalb der herrschende Klasse enthüllt und darüber hinaus die Schwäche des US-Imperialismus auf die globale Tagesordnung gesetzt. Obama steht als schwacher Präsident da, vor den Augen der Weltöffentlichkeit offenbart sich der Niedergang der USA. Dieses Szenario ermutigt die Regierungen Chinas und Russlands, die US-Regierung und den Kongress als Hauptbedrohung für die Stabilität der Weltwirtschaft anzuprangern, ohne dass diese darauf reagieren können. Wichtiger noch zeigt der „Kompromiss“ zwischen Obama und der Republikanischen Partei in der Schuldenfrage und der offene Streit innerhalb der Kapitalistenklasse der USA und der Staatsbank über eine Neuauflage der Nullzinspolitik, dass sich die Fraktionsbildungen innerhalb der herrschenden Klasse eher noch verschärfen.

24. Im nächsten Jahr wird sich die US-Politik vornehmlich mit den Wahlen und inneren Angelegenheiten beschäftigen, was die USA weiter schwächen wird.

25. Obamas Politik und somit jene der Demokratischen Partei hat einen Teil seiner Anhängerschar enttäuscht und ihren Gegnern, die sich in Form der reaktionären Tea Party-Bewegung formiert haben, Auftrieb gegeben. Die Gefahr, dass er die Wahlen verlieren könnte, die größeren Schwierigkeiten bei der Suche nach Unterstützung für eine Wahlkampagne wie vor 4 Jahren, aber auch die drohende Rezession werden den Präsidenten, die Partei und die Verbindungen zu den AnhängerInnen, den Gewerkschaften und den Gemeinschaften der Unterdrückten (Schwarze, Latinos) vor eine Zerreißprobe stellen. Dies könnte neue Interventionsmöglichkeiten eröffnen, um den ArbeiterInnen, der Jugend und den unterdrückten Schichten anzubieten, mit der Demokratischen Partei zu brechen und eine eigene Arbeiterpartei in den USA aufzubauen.

China

26. Die USA haben in der Krise als imperialistische Macht an Boden eingebüßt. Dafür hat sich China trotz aller bestehenden oder steigenden Ungleichgewichte zwischen Stadt und Land nicht nur als wachsende Wirtschaft und Exportweltmeister etabliert, sondern hat auch imperiale Ansprüche angemeldet. Seine Wirtschaft hat sich umfassend gewandelt, stellt technologisch hochwertigere Waren her und exportiert v.a. selbst mehr und mehr Kapital, um seine künftige Weltgeltung zu untermauern. Der Kapitalexport wird wahrscheinlich dem Warenexport in naher Zukunft den Rang ablaufen. China versucht nicht nur, seine wirtschaftliche Stellung in den imperialistischen (USA, Europa) wie halbkolonialen Ländern systematisch auszubauen, sondern schickt sich auch an, seinen militärischen Horizont zu erweitern, obwohl es noch lange dauern dürfte, ehe es das US-amerikanische Niveau erreicht hat. Auch politisch-diplomatisch pocht China auf mehr Einfluss in internationalen Gremien. Das ist in Hinblick auf den Kurs bedeutsam, der den Dollar als Leitwährung durch ein „Währungskorbsystem“ ablösen will. Dieses Bestreben ist natürlich diktiert von der Notwendigkeit, dem Aufwertungsdruck auf die eigene (unterbewertete) Währung, den Yuan, entgegen zu wirken. Gleichzeitig ist es Ausdruck der Furcht vor einem Zusammenbruch des Dollars und die damit zusammenhängenden verheerenden Folgen für die chinesische Ökonomie.

27. Neben Russland scheint China der einzige mächtige Staat zu sein, der eine klare politische Strategie verfolgt, der mit einer Stimme in der Weltpolitik spricht und über ein stabiles Regime verfügt, das Wirtschaftswachstum gewährleistet. Doch die Abhängigkeit von Weltwirtschaft und zyklischen Krisen, die kapitalistischen Gesetzen gehorchen, erschüttert auch die innere Entwicklung Chinas. Sie führt hier ebenso zu Spannungen innerhalb der Kapitalistenklasse, wenn ein neues Finanzkapital sich als zunehmend gewinnende Klassenfraktion erhebt. Eine Wirtschaftskrise wird auch in China eine Riesenwelle von Firmenzusammenbrüchen und Konzentrationsprozessen bewirken.

28. Schon in der jüngsten Periode war die soziale Unruhe in China beträchtlich. Durch eine Krise wird sie immer explosivere Formen annehmen. Auf dem Land und in den Städten werden Abermillionen Bauern und Bäuerinnen und v.a. WanderarbeiterInnen davon bedroht sein. Auch die Spannungen zwischen den Nationalitäten werden zunehmen. In einer solchen Situation kann sich die vermeintliche Stärke des Landes, die Diktatur der KP Chinas, ins Gegenteil verkehren. Das Defizit an bürgerlicher Demokratie sowie an Formen der Regulierung von Klassenstreitigkeiten kann sogar ökonomische oder politische Teilkämpfe zu einem brisanten Pulverfass machen. Die arabische Revolution und ihr Ruf nach Demokratie und Freiheit sind im letzten halben Jahr in China nicht ohne Anklang geblieben. Angesichts einer möglichen allgemeinen sozialen und politischen Protestbewegung wird auch die Einheit der alleinigen Partei einer schweren Zerreißprobe unterzogen, denn in ihr sind noch die „Gewinner“ der kapitalistischen und imperialistischen Politik als bedeutende Teile der neuen herrschenden Klasse und eine große Zahl von proletarischen und armen Mitgliedern vereint, die auf die „Verliererseite“ der Entwicklung gedrängt worden sind. Schon jetzt spiegeln sich die Fragen des Regelwerks an industriellen Beziehungen in der Debatte um neue Arbeitsgesetze in China wider.

29. Die Klassenkämpfe in China setzen die Frage von gewerkschaftlicher Massenbewegung und demokratischen Forderungen (Demokratie, Landfrage, Nationalitätenfrage) auf die Tagesordnung und damit die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die eine Strategie der permanenten Revolution vorschlägt.

Europäische Union

30. Die Europäische Union hat sich in ihren Teilen seit Ausbruch der Krise unterschiedlich entwickelt. Deutschland, Skandinavien, Österreich, Polen und die Niederlande haben den Abwärtstrend auffangen können. Die südeuropäischen Länder Griechenland und Portugal hingegen, aber auch Irland, sind immer tiefer in den Strudel der Rezession geraten, womit sich ihr halbkolonialer Abhängigkeitsstatus von den führenden EU-Mächten verstärkt hat. Spanien und Italien stehen unter erheblichem Druck. Die Spekulationswellen gegen ihre Ökonomien könnten zu massiv werden, um sie durch Stützungskäufe vor dem Ruin zu retten. Die Schulden einer Reihe von europäischen Ländern müssen wahrscheinlich zumindest teilweise abgeschrieben werden.

31. Nicht nur die Schwächen der Europäischen Union, der EZB und der Eurozone, haben die Krise aufgedeckt, sondern v.a. die Tatsache, dass eine Reihe von europäischen Staaten nunmehr der direkten politischen Diktatur imperialistischer Agenturen wie der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds unterstehen, die ihnen Kürzungsprogramme verordnen. Die Wirkweise des Euro hat einen deutlichen Schub wirtschaftlicher Machtfülle v.a. zugunsten Deutschlands in Gang gebracht. Dieser Machtzuwachs zeigt sich anhand der verbesserten Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft und einiger anderer auf Kosten der schwächeren und stärker von der Krise geschüttelten Länder. Auch der Vorsprung von Deutschland vor Frankreich, von Italien und Spanien ganz zu schweigen, hat sich ökonomisch vergrößert. Der deutsche Imperialismus ist also wirtschaftlich gestärkt aus der Krise hervorgegangen.

32. Zugleich hat die Krise auch die politischen Risse innerhalb der EU vertieft und den Mangel an einer langfristigen Strategie Deutschlands und Frankreichs erkennen lassen, was wiederum ein Spiegelbild der Konflikte innerhalb der Kapitalistenklasse und einer gegen die EU gerichteten Strömung aus dem Spektrum der schwächeren Kapitalfraktionen und des Kleinbürgertums ist. Diese Differenzen wurden deutlich demonstriert in den unterschiedlichen außenpolitischen Zielsetzungen in Bezug auf die Haltung zum Einsatz in Libyen.

33. V.a. vom Standpunkt des deutschen Imperialismus aus muss die gegenwärtige Krise dazu genutzt werden, aus der inneren Schwäche Europas und der Eurozone aktiv den eigenen Vorteil zu ziehen. Kurzzeitig aber drängen die inneren Konflikte der deutschen herrschenden Klasse auf eine Lösung, und dies wird möglicherweise eine Veränderung des Regierungskurses in Deutschland mit sich bringen, da Kanzlerin Merkel aufgrund ihrer Passivität und zögerlichen Entschlusskraft stärker unter Druck kommt.

34. Spannungen und Spaltungen werden also in kurzer Frist in Europa weiter steigen. In Deutschland und Frankreich, aber auch in Spanien und Italien, geraten die Regierungen in heftigen Zugzwang. Die französischen Präsidentschaftswahlen könnten das Ende von Sarkozys Amtszeit bedeuten. Zapatero könnte gleichfalls von einem konservativen Kabinett abgelöst werden. In Deutschland muss die Regierung sich stärker auf ein Arrangement mit SPD und Grünen einlassen; vielleicht gibt es sogar vorgezogene Neuwahlen, wenn die FDP weiter an Stimmen verliert.

35. Die Eurozone wird sich in der nächsten Periode drastisch verändern müssen, um die EU fit dafür zu machen, als ernsthafter politischer Konkurrent in den Ring um die Vorherrschaft in der Welt gegen USA und China steigen zu können. Daraus ergeben sich für die EU vier Optionen:

a) Es könnte zum einem Integrationsschub hin zu einer deutschen Vorherrschaft mit Frankreich als Juniorpartner des deutschen Imperialismus und einem föderativen Block um beide Staaten anstelle einer ausgreifenden Staatenföderation kommen. Ein solches Szenario, das natürlich nicht sofort entstehen könnte, würde einen grundlegenden Wandel im Kräfteverhältnis der globalen Mächte mit sich bringen. Je wahrscheinlicher dies werden sollte, desto konkreter stellt sich die Frage nach der britischen Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union.

b) Wenn es zu einem Zusammenbruch der Eurozone käme – ob daraus der Zusammenbruch der EU insgesamt resultiert, steht auf einem anderen Blatt – ergäbe sich in jedem Fall eine noch nicht dagewesene Umgestaltung Europas. Sie würde enorm reaktionäre Konsequenzen haben: Wiedererrichtung von Grenzschlagbäumen, Protektionismen und die Kappung von eingespielten Wirtschaftsverbindungen. Der ganze Kontinent würde von einer nationalistischen Welle überspült werden.

c) Die Schaffung eines Kerneuropas könnte ein zeitweiliges Resultat oder Teil einer Entwicklung aus den beiden vorgenannten Optionen sein. Ein Ausschluss einiger Länder aus der Eurozone könnte sich als notwendig erweisen, um einen schlagkräftigeren und einheitlicheren imperialistischen Block als Variante des ersten Szenarios zu formieren oder könnte die Weiterentwicklung einer Neuordnung als engere Föderation um Deutschland herum nach dem Zusammenbruch der Eurozone bedeuten.

d) Die EU verbleibt im gegenwärtigen Zustand, wenigstens für einige Zeit. Das würde wiederum Deutschland als wirtschaftlicher Führungsmacht in die Hände spielen, andererseits aber die Weltrolle der EU und ihrer imperialistischen Mitglieder global schwächen und würde auf Dauer wieder zu den drei eben genannten Alternativen führen.

36. In allen Fällen ist eine Umwandlung, Anerkennung und Kodifizierung einer politischen Machtkonzentration in den Händen der großen imperialistischen Staaten und Bourgeoisien, v.a. Deutschlands vorgesehen. Politische Gräben müssten dabei überwunden und die militärische Kooperation verstärkt werden. Dazu müsste aber auch eine pro-europäische Ideologie in die Köpfe von zumindest Teilen der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse eingepflanzt werden. Diese Aufgabe wird natürlich dadurch erschwert, dass die hauptsächliche Krisenbewältigungspolitik der EU immer mehr Angriffe auf die Arbeiterklasse verlangt. Es gibt jedoch auch Teile des Kapitals, die mit der Ideologie von einem „sozialen Europa“ mit dem Hintergedanken spielen, Elemente einer keynesianischen Strategie einzuführen, von denen sie glauben, sie könnten auf gesamteuropäischer Ebene, aber nicht mehr im nationalen Rahmen angewandt werden.

37. Aber keine dieser  kapitalistischen Überlegungen dient den Interessen der Arbeiterklasse. Was sie braucht, ist ein Europa des Widerstands gegen Kapitalismus und Krise, ein Europa für die ArbeiterInnen. In der jüngsten Vergangenheit haben wir in Europa mehr Widerstandsbewegungen erlebt als in irgendeinem anderen imperialistischen Block. In Griechenland und Frankreich sind vorrevolutionäre Situationen entstanden. In Portugal, Spanien, Italien, ja sogar in Britannien fanden Demonstrationen von Hunderttausenden statt. Die nächste Runde von Attacken wird scharfe Klassenauseinandersetzungen nicht nur von oben zeigen, sondern auch massenhaften Widerstand dagegen und dadurch möglicherweise eine Verbreiterung bestehender Bewegungen. Massenhafte Besetzungen, militante Streiks bis hin zu Generalstreiks, Verbindungen von Kämpfen und ein gemeinsamer europaweiter Widerstand werden auf der Tagesordnung stehen. Das wiederum heißt: offensiv der Forderung nach einer ArbeiterInnenregierung Nachdruck verleihen, die auf den Organen einer solchen Bewegung fußt, und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa als einzig fortschrittliche Alternative zur imperialistischen Integration des Erdteils propagieren.

Weitere Kandidaten für eine Neuaufteilung der Welt

38. Japan, obgleich immer noch zweitgrößte Wirtschaft der Welt, stagniert schon lange. Der Tsunami und die atomare Katastrophe von Fukushima haben das weitere Zurückfallen noch beschleunigt. Der kürzliche Regierungswechsel ist bereits der sechste in den letzten Jahren. Dies zeigt nur, dass die japanische Ökonomie festgefahren ist und alle „Ankurbelungsmaßnahmen“ in den letzten 20 Jahren nur in der Aufstauung eines gewaltigen Schuldensees mündeten. Aber die ArbeiterInnenbewegung ist äußerst schwach seit den Niederlagen gegen den neoliberalen Kurs in den 80er Jahren. Doch künftig könnte die Grundlage für eine Wiederbelebung und neue Radikalisierung der ArbeiterInnen- und Studentenbewegung gelegt werden.

39. Russland ist gestärkt aus den letzten Entwicklungen hervor gegangen, hat jedoch wirtschaftlich großen Nachholbedarf und hinkt im Vergleich mit den übrigen Kontrahenten weit nach. Russland verfügt allerdings über ein hochgradig staatskapitalistisches System, das ein bonapartistisches Regime unter dem als Präsident wahrscheinlich wieder gewählten Putin nur dürftig demokratisch bemäntelt. Unter allen Ländern mit imperialistischen Ambitionen hat Russland die schwächste und kleinste „radikale Linke“. Selbst die linken ReformistInnen zählen nur einige Hundert. Gewerkschaften und ArbeiterInnenbewegung sind politisch sehr schwach und oft unfähig zum Kampf. Dies resultiert aus den demoralisierenden Auswirkungen der kapitalistischen Restauration, der Repression und den nationalen und ethnischen Spaltungen, die vom Staat geschürt werden. Grundlegend für diese Entwicklung ist jedoch die extreme Atomisierung der Gesellschaft als Folge des Stalinismus und der kapitalistischen Restauration. Diese Lähmung muss in Zukunft überwunden werden.

40. Indien hat in der vergangenen Periode eine rasante Kapitalentwicklung durchlaufen. Dennoch treten Ungleichheiten in der Entwicklung noch krasser zu Tage als in China. Diese Ungleichheiten haben sich nicht zu einer Umgestaltung des gesamten Wirtschafts- und Verkehrssystems und des sozialen Gefüges in großem Stil verdichtet. Darin spiegelt sich der weiterhin halbkoloniale Charakter des indischen Kapitalismus wider. Die USA und Indien verstärken zur Zeit ihr Bündnis gegen den wachsenden chinesischen Einfluss in Pakistan, auf Sri Lanka und im gesamten südasiatischen Raum.

41. Die einsetzende Inflation trifft die indische Bevölkerung sehr hart. Populistische Massenbewegungen haben ebenso Zulauf wie der regionale Kampf der Naxaliten. Ein Abschwung, ja selbst schrumpfende Wachstumsraten der indischen Wirtschaft würden die politische Lage noch explosiver machen.

42. Wie Russland und Indien ist auch Brasilien ein Sieger der weltwirtschaftlichen Umbrüche. Der Staat versucht nun, zur lateinamerikanischen Kontinentalmacht aufzusteigen. Er schwankt zwischen Kollaboration mit den USA und dem Aufbau einer eigenen Einflusssphäre. Die Ausweitung des brasilianischen Kapitalismus erleichterte es der Regierungspartei PT, Teile der ArbeiterInnenklasse einzubinden. Dies inkludiert nicht nur die aristokratischen, sondern auch die ärmeren Sektoren. Es brachte ihr bei den letzten Parlamentswahlen das beste Ergebnis der PT-Geschichte. Ihre Kandidatin Dilma setzte sich gegen die Rechte trotz einer Schmutzkampagne als neue Präsidentin durch.

43. Aber in der kommenden Periode werden sich auch die Widersprüche im brasilianischen Kapitalismus offenbaren und außerdem die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und ArbeiterInnenbewegung zuspitzen – innerhalb der Gewerkschaft CUT, möglicherweise auch in der PT.  Gleichzeitig gibt es bedeutende zentristische Organisationen in Brasilien, die Nutzen aus dieser Lage ziehen könnten. Brasilien ist wahrscheinlich der Schlüssel zur weiteren Entwicklung Lateinamerikas.

Die halbkoloniale Welt

44. Für die meisten anderen Länder der halbkolonialen Welt, mit einzelnen Ausnahmen in Lateinamerika, waren die Auswirkungen der Krise verheerend. Seither befinden sie sich zumeist im Zustand der Stagnation. Inflation und Preiserhöhungen haben die Länder empfindlich getroffen, selbst jene, die einen klaren Zuwachs des Bruttoinlandprodukts verzeichnen konnten wie Sri Lanka.

45. In den Halbkolonien ist eine dramatische Verelendung der Bevölkerung als Ergebnis von Inflation und v.a. von Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln vor sich gegangen.

46. Die Lebensmittel sind Spielbälle von Spekulanten geworden. Zugleich haben sich die imperialistischen Länder und Staaten wie Saudi-Arabien immer mehr bäuerliches Land in den Halbkolonien einverleibt. Die lokalen Produzenten wurden von ihrem Land vertrieben, und die Anbauflächen für Lebensmittel zum heimischen Verbrauch verkleinern sich. Die Landflucht wächst und damit der Zuzug in städtische Slums. Die noch produzierten Nahrungsmittel werden exportiert, manchmal sogar durch die Beschäftigten der Länder oder Konzerne, den neuen Grundbesitzern, als letztes Mittel gegen den Hungertod. Das führt nicht nur zu Preissprüngen und Enteignungen der einheimischen Bauernschaft, sondern auch zu Engpässen in der Lebensmittelversorgung in einer zunehmenden Zahl halbkolonialer Staaten mit der Konsequenz von Unterernährung und Hunger. Somalia und Kenia bieten nur einen Vorgeschmack auf weit schlimmere Hungerkatastrophen, die demnächst auch woanders um sich greifen werden, nachdem die Verarmung, der Landraub und die Folgen des Klimawandels dies vorantreiben.

47. Pakistan ist ein Land, wo sich alle Folgen der globalen Krise bemerkbar machen. Es ist das Zentrum des globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Die USA führen ihren „Krieg gegen den Terror“ auf pakistanischem Boden. Dies drückt gleichermaßen die Vorherrschaft der USA und die Willfährigkeit des pakistanischen Staats und seiner herrschenden Klasse aus.  Zugleich erhöhen sich die Spannungen mit China, das hier um Einfluss bemüht ist. Nicht nur der Krieg, auch die Wirtschaftskrise mit fortwährender Stagnation und Umweltschäden drehen immer mehr an der Abwärtsspirale des Landes. Das wird anhalten. Im letzten Jahr ist zudem die Gewalt von religiösen Sekten angewachsen wie zuletzt in Karachi. Aber auch Arbeitskämpfe haben unter widrigsten Umständen zugenommen. Diese Ereignisse weisen auf extrem reaktionäre Gefahren in dieser Situation und andererseits auf fortschrittliche Anzeichen und ein revolutionäres Potenzial hin. Der Kampf für eine neue ArbeiterInnenmassenpartei wird entscheidend sein.

48. Sri Lanka ist immer noch geprägt von dem konterrevolutionären Sieg der chauvinistischen Rajapakse-Regierung. Dieser Zustand wird durch die nationalistische Politik der Opposition aus UNP und JVP noch verschlimmert. Sri Lanka zieht imperialistische Investitionen aus den USA und Europa an. Auch China und Indien wollen mehr Einfluss in Sri Lanka. Das Wirtschaftswachstum ist jedoch begleitet von einer weiteren Verelendung und Entrechtung der tamilischen Bevölkerung, von massivem Inflationsanstieg und schlimmsten Formen der Ausbeutung in den ökonomischen Freihandelszonen.

Die revolutionäre Welle in Nahost

49. Die Wirtschaftskrise wird in den kommenden Monaten überall zu spüren sein. Der globale Kampf um die Neuaufteilung der Welt wird alle Großmächte dazu zwingen, ihre inneren Probleme anzugehen wie auch den internationalen Konkurrenzkampf zu verschärfen. Es wird auch neue Bündnisse in diesem Prozess geben. Aber die Attacken auf die ArbeiterInnenklasse und die Armen müssen auch vermehrten Widerstand hervorrufen.

50. Die Revolutionen in Nordafrika und Nahost sind Vorboten einer Wende der politischen Weltlage. Ein bedeutender Auslöser dieser Bewegungen waren die Auswirkungen jener Maßnahmen, die den Ländern von den ImperialistInnen auferlegt wurden, um die Weltwirtschaft anzukurbeln.

51. Sie waren die Ursache für die massive Verarmung. Zusätzlich griff in all diesen Ländern, trotz sonstiger Unterschiede, eine hohe Arbeitslosigkeit der Jugend um sich. Ein Gemisch aus Hoffnungslosigkeit und Zorn entlud sich schließlich.

52. Die Revolutionen in Nordafrika und Nahost mündeten auch in einen Sturz von Regierungen, die Jahrzehnte lang stabil schienen. Sie offenbarten jedoch zugleich sehr deutlich die Führungskrise. Natürlich intervenierten die imperialistischen Mächte, allerdings nicht mit einheitlicher Strategie, und versuchen nun, pro-imperialistische Regierungen in Ägypten, Libyen und Tunesien zu errichten. Zur selben Zeit ließen sie die blutige Unterdrückung und Zerschlagung von demokratischen Massenbewegungen etwa in Bahrain und Syrien zu.

53. Selbst in Israel ist die Lage nicht mehr stabil. Dort hat eine soziale Massenbewegung fast eine halbe Million Menschen gegen die Regierung auf die Beine gebracht, und der Antrag der palästinensischen Regierung vor der UNO auf Anerkennung eines eigenen Staates dürfte Israel und die USA weiter schwächen. Eine fortgesetzte massenhafte Unterdrückung der PalästinenserInnen könnte die Entstehung einer dritten Intifada-Bewegung auslösen.

54. Die Schlüsselaufgaben für Nahost und Nordafrika aber bleiben: a) die Vollendung der demokratischen Ziele der Revolution, einschließlich voller Rechte zur Bildung von Gewerkschaften, Parteien, Pressefreiheit und für eine verfassunggebende Versammlung, b) ein Nein zu jeglicher imperialistischer Einmischung und Truppenstationierung, Enteignung der imperialistischen Besitzungen, c) Verstaatlichung der Banken und Finanzinstitutionen und der großen Firmen, ihre Verwaltung unter ArbeiterInnenkontrolle und die Aufstellung eines Plans zur Bedürfnisbefriedigung der Armen, ArbeiterInnen und Bauern und zur Sicherung von Beschäftigung, d) der Aufbau von ArbeiterInnen-, Bauern- und Soldatenräten, e) die Zerschlagung des staatlichen Unterdrückungsapparats, die Auflösung der Polizei und deren Ersetzung durch eine Arbeitermiliz, f) die Errichtung einer ArbeiterInnen- und Bauernregierung, die Rückhalt bei Räten und Milizen hat und die die Forderungen der demokratischen Revolution durchsetzt und einen Plan aufstellt, die Wirtschaft neu aufzubauen, g) und schließlich die Schaffung eines Bundes von ArbeiterInnenstaaten in Nahost und Nordafrika.

55. Die Imperialisten und die verschiedenen bürgerlichen und reaktionären Kräfte wollen die Revolution entgleisen lassen. Ihnen stellen sich aber mehrere Hindernisse in den Weg. Dazu müssen sie zunächst die revolutionären Massen auf längere Sicht demobilisieren. Es ist eine Sache, sie in eine Allianz mit falschen Freunden zu locken, aber eine andere, ihnen ihre Fähigkeit zu rauben, sich wieder zu erheben, sich gegen die falschen FührerInnen und Imperialisten zu wenden, d.h. den konterrevolutionären Ausgang abzuschließen und zu stabilisieren.

56. Wir sind jedoch noch nicht so weit. In den nächsten Monaten kann der Protest in anderen Teilen der arabischen Region neu aufflammen. Der Sturz Gaddafis bedeutet auch, dass der libysche Staatsapparat an Zusammenhalt verloren hat. Einer der nächsten Konfliktherde wird der Versuch des Übergangsrates und der Imperialisten sein, die Aufständischen zu entwaffnen. Ähnlich sieht sich das Assad-Regime in Syrien immer noch einem entschlossenen Widerstand ausgesetzt, trotz der blutigen Massaker an den oppositionellen Kräften.

57. Selbst wenn die ImperialistInnen zeitweilig eine ‚demokratische‘ Konterrevolution herbeiführen könnten – wie wollen sie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen für eine dauerhaft stabile soziale Lage und die Einbindung größerer Teile der Gesellschaft schaffen?

58. Alle Revolutionen haben allerdings auch die Führungskrise der Arbeiterklasse und der Massen verdeutlicht. Sie zu überwinden, wird zur Schlüsselfrage. Nicht zuletzt kommt dem Ausgang der ägyptischen Revolution die tragende Rolle zu. Ägypten ist nicht nur das Land mit dem zahlenmäßig größten Proletariat der Region. Dort sind auch Kräfte der ArbeiterInnenbewegung, Gewerkschaften, Betriebsorganisationen und eine sozialistische Linke unter Einschluss zentristischer und reformistischer Gruppierungen vorhanden, die vor die Aufgabe gestellt sind, eine neue revolutionäre ArbeiterInnenpartei aufzubauen, die als Pol und Ansporn für die gesamte Region dienen könnte.

Die Führungskrise

59. Mit Eintritt in eine neue Phase der globalen kapitalistischen Krise, eine neue weltgeschichtliche Periode müssen wir auch dringlich eine Bilanz der Entwicklung der ArbeiterInnenklasse u.a. Klassen ziehen.

60. Wir meinen das Auftauchen von Massenvolksbewegungen, die das Schlachtfeld betreten haben, d.h. die Revolutionen in Nah- und Mittelost und Nordafrika. Revolutionäre Massenbewegungen führten zum Sturz von Diktatoren, aber sie werden ihr revolutionäres Potenzial nur einlösen können, wenn die Arbeiterklasse an die Spitze der Revolution gelangt. Es ist tragisch, dass die Krise der proletarischen Führung von einem Teil der internationalen Linken – reformistischen, stalinistischen und rechtszentristischen Gruppierungen – falsch interpretiert worden ist, um ihr Etappenkonzept von Revolution zu untermauern. So tragen sie eher zum Problem als zu dessen Lösung bei.

61. Darüber hinaus hat ein Teil der Linken international geleugnet, dass eine revolutionäre Entwicklung und eine Erhebung gegen das reaktionäre Gaddafi-Regime oder das Regime in Syrien überhaupt stattgefunden hat. Sie behaupten, dass diese revolutionären Massenströmungen nur Erfindungen der Imperialisten (insbesondere der USA) seien. Diese „Linken“ ziehen die mutmaßlich „antiimperialistischen“ bürgerlichen Diktaturen dem Kampf um Befreiung mit allen „Risiken“ und „Ungewissheiten“ vor – einschließlich der unvermeidlichen Intervention von „außen“. ArbeiterInnen und Unterdrückte dürfen das nie vergessen oder jenen vergeben, deren Politik ein reines Echo von Linksbonapartisten wie Hugo Chavez, der kubanischen Bürokratie oder der russischen und chinesischen Imperialisten darstellt.

62. Die arabischen Revolutionen sind ein Lackmustest für alle politischen Organisationen in der aktuellen Periode. Wir müssen uns auf jene Kräfte beziehen, die mit Unterstützung für die Revolutionen und mit Opposition gegen die imperialistische Intervention geantwortet haben und eine Etappentheorie der Revolution ablehnen. Gleichzeitig kritisieren wir ihre eigenen Schwächen (z.B. den Glauben der morenistischen UIT und LIT an den objektiven geschichtlichen Prozess).

63. Natürlich verkörpern Führungsfragen nicht nur eine Frage des Nahen und Mittleren Ostens oder Nordafrikas. Während und nach der Rezession verhinderten die großen Gewerkschaftsdachverbände und reformistischen Parteien entweder Massenwiderstand oder warfen ihn aus der Bahn. Allgemein gesprochen, haben sich die reformistischen Massenparteien und die wichtigsten Föderationen der Gewerkschaftsbewegung in den letzten Jahren nach rechts bewegt. Sie befürworten eine Politik des „Sozialkompromisses“ und der Klassenzusammenarbeit. Als Resultat der Tiefe der Systemkrise selbst hatten sie in einer Reihe von Ländern Erfolg mit einer gewissen Einbindung in die Regierungspolitik.

64. Nichtsdestotrotz haben wir auch im vergangenen Zeitraum beobachtet, dass diese Führungen auch gezwungen wurden, für partielle und begrenzte Aktionen zu mobilisieren, sich selbst an die Spitze der Massenbewegungen stellen mussten (wie z.B. die CGT und Intersyndical in Frankreich). Dies spiegelt wider, dass sie durch die Massen zur Mobilisierung genötigt werden. Dies verdeutlicht auch, dass trotz der äußerst reformistischen und vollständig ungeeigneten Strategien der reformistischen Parteien- und Gewerkschaftsführungen die systematische Anwendung der Einheitsfronttaktik ihnen gegenüber eine Schlüsselfrage für die nächste Periode darstellt. Jede Organisation – wie immer „revolutionär“ sie sich präsentiert – die diese Notwendigkeit gegenüber den ReformistInnen zurückweist oder sie nur auf die „linken“ unter ihnen eingrenzen möchte (die oft nicht die Masse der Klasse anführen) versagt bei dieser täglichen Notwendigkeit.

65. Nicht nur die reformistischen Parteien gingen nach rechts. Auch die populistischen Bewegungen – besonders die „bolivarischen“ um Chavez, Morales und Correa – marschierten in die gleiche Richtung. Dies gilt nicht nur für ihre konterrevolutionäre internationale Politik, Gaddafi u.a. reaktionären Regimes gegen deren eigene ArbeiterInnenschaft und Jugend Rückhalt zu verschaffen. Es gilt auch für „ihre“ Länder selbst, wo sie sich nach rechts und gegen unabhängige Klassenkampfströmungen in der Arbeiterbewegung wandten.

66. Der Marsch nach rechts trifft auch für die kubanische Bürokratie zu, die derselben internationalen Linie wie Chavez folgt, deren marktsozialistische Wirtschaftspolitik aber auch die verbleibenden Elemente der Planwirtschaft untergräbt und in ähnlich verheerende Konsequenzen münden wird wie die jugoslawischen Wirtschaftsreformen der 1980er Jahre. Dies wird jedoch in nächster Zeit die Alternative – proletarische politische Revolution oder soziale Konterrevolution – auf die Tagesordnung stellen.

67. In Nepal sind die MaoistInnen immer tiefer in die Widersprüche ihrer eigenen Etappentheorie verstrickt. Das wird unausweichlich Auswirkungen auf die maoistischen Organisationen weltweit und besonders in Indien haben, schafft aber auch eine gute Gelegenheit für revolutionäres Eingreifen.

68. Schließlich haben wir auch in einer Zahl asiatischer Länder wie Indien, Thailand usw. Massenbewegungen gegen Vetternwirtschaft und Korruption erlebt, was die Relevanz demokratischer Fragen in der gegenwärtigen Periode veranschaulicht, von denen wir in den kommenden Jahren mehr erleben werden.

69. Die im vergangenen Zeitraum emporkommenden linksreformistischen Parteien haben sich auf der Seite der herrschenden Ordnung geschlagen, indem sie die GewerkschaftsbürokratInnen und RechtssozialdemokratInnen vor revolutionärer Kritik in Schutz nahmen, dem Aufbau klassenkämpferischer Basisorganisationen entgegentraten und internationale Versammlungen wie das ESF zu inhaltsleeren Veranstaltungen verkommen ließen, obgleich sie wenigstens koordinierten Widerstand hätten initiieren können.

70. In der zurückliegenden Phase haben auch syndikalistische Kräfte keine Alternative zur bürokratischen Kampfführung angeboten. Denn obwohl jene Kräfte wie die SUD in Frankreich im letzten Jahr die Generalstreiklosung populär gemacht haben, stellt ihre Anti-Partei-Haltung – sie reicht von offener Feindseligkeit gegen alle politischen Parteien (Teile der SUD) bis zur Passivität in dieser Frage (Cobas in Italien) – ein Haupthindernis für den Aufbau antikapitalistischer Parteien in Italien und Frankreich dar.

71. In jüngster Vergangenheit beobachteten wir auch das Entstehen größerer, sich nach links bewegender zentristischer Parteien und Bündnisse in Europa (NPA, Linksblock, Antarsya) und Lateinamerika (PSOL) sowie das Wachstum etablierter zentristischer Organisationen in Brasilien und Argentinien (auch aufgezeigt in einer halben Million Stimmen für die „Linksfront“ aus PTS, PO und IS (UIT-Sektion) bei den argentinischen Vorwahlen). Eine Reihe unter ihnen ist in eine tiefe Krise geschlittert – wie die NPA und der Linksblock – wegen der rechtszentristischen Natur der Politik ihrer Führungsriegen.

72. Die letzten Jahre jedoch liefen nicht auf ein Entstehen größerer, nach links orientierter zentristischer Organisationen hinaus. Ein Grund dafür lag im Vermögen der Imperialisten und ArbeiterInnenbürokratien, die Krise in einer Anzahl von Ländern zu verwalten und die ArbeiterInnenklasse und den Widerstand zu spalten. Der andere lag jedoch in einem Sektierertum, das den Massenorganisationen den Rücken zukehrte (am deutlichsten abzulesen am zunehmenden Einfluss des autonomen Milieus), oder politischer Anpassung an den Linksreformismus bzw. einer Kombination aus beiden Faktoren.

73. Doch wir können davon ausgehen, dass die globale kapitalistische Krise die ArbeiterInnenbewegung gründlich durchrütteln, in Spaltungen, Umgruppierungen und Schwenks von rechts nach links und umgekehrt führen wird. Das birgt auch Chancen, neue ArbeiterInnen- und antikapitalistische Parteien aus der Taufe zu heben, aber auch das Erscheinen linkszentristischer Kräfte, die für beständig revolutionäre Politik gewonnen werden können und müssen.

Zusammenfassung

74. In den zurückliegenden Monaten zeigte die weltwirtschaftliche Tendenz, dass die kurzfristige Aufschwungsperiode nach der globalen Rezession an ihr Ende gelangt ist und ein neuer weltweiter Abschwung droht.

75. Die imperialistischen Bourgeoisien zeigten sich unfähig, die Krise ihres eigenen Systems zu lösen. Ihre „Lösungen“ – enorme Stützung der Banken, was in Schuldenkrisen mündete, das Schnüren drastischer Sparpakete, scheinen zu einer neuen Rezession in den USA und einer Strukturkrise der Europäischen Union und ihrer Währung zu führen. Das hat eine wachsende Zahl Regierungskrisen in immer mehr imperialistischen und großen halbkolonialen Staaten heraufbeschworen – in den USA, Japan, den meisten europäischen Ländern, Britannien und Indien. Rechtskräfte erstarkten in mehreren Ländern – die Tea-Party-Bewegung in den USA, die rassistischen, rechtspopulistischen Parteien in Westeuropa, faschistische oder halbfaschistische Parteien in Osteuropa und in Halbkolonien sowie die sektiererischen Pogrome in Pakistan.

76. Weiter können wir erwarten, dass der Abschwung, wenn nicht der katastrophale Niedergang im Gefolge einer neuen Rezession – potenziell schärfer als die letzte – sicherlich zu massiver Zuspitzung der Angriffe auf die arbeitende Klasse, die Armen, aber auch große Teile des Kleinbürgertums und der Mittelschichten führen wird. Im Gegenzug wird sich die Führungskrise in den großen Gewerkschaftsverbänden, zwischen reformistischen Parteien und der ArbeiterInnenklasse und innerhalb der zentristischen Organisationen zuspitzen.

77. Die Revolutionen in Mittelost und Nordafrika haben ein Stadium erreicht, wo die proletarische Führungskrise auch dort immer offensichtlicher wird, auch wenn schwer vorstellbar ist, wie der Imperialismus im Moment eine längerfristige Neu-Ordnung errichten kann.

78. Wir gehen davon aus, dass dies zu einer politischen Explosion in Palästina, zunehmenden Konflikten und Auseinandersetzungen in Ägypten, Libyen und anderen Ländern führt.

79. Darüber hinaus werden wir auch die Auswirkungen der Krise und eine heftige Eskalation des Klassenkampfs in den meisten Halbkolonien erleben. Kurzum, wir treten in ein neues Stadium der globalen Krise und Klassenkämpfe.