60 Jahre NATO – kein Grund zum Feiern! – Geschichte und Perspektiven einer imperialistischen Kriegsallianz

Peter Lenz/Theo Tiger, Revolutionärer Marxismus 40, März 2009

„Niemals gab es auf der Welt so viele Pazifisten wie heute, da sich in allen Ländern die Menschen gegenseitig töten. Jede historische Epoche bringt nicht nur ihre eigene Technik und ihre eigene politische Form hervor, sondern ebenso ihre spezifische Heuchelei. Früher töteten sich die Völker gegenseitig im Namen der christlichen Lehre von Liebe und Menschlichkeit. Heute beziehen sich darauf nur noch rückwärts gewandte Regierungen. Fortschrittliche Nationen ziehen sich gegenseitig das Fell im Namen des Pazifismus über die Ohren.“ (1)

In der bürgerlichen Geschichtsschreibung wird die Gründung der NATO 1949 als Reaktion auf das Erstarken der Sowjetunion dargestellt und die NATO zum „Verteidigungsbündnis“ verklärt; Verteidigung gegen eine aggressive Sowjetunion, die unvermindert aufgerüstet habe und ihr Einflussgebiet weiter zu vergrößern drohe. Die NATO als bewaffnetes „Friedensbündnis“. In diesem Sinn werden die Feiern zum 60. Jahrestag mit viel Propagandaaufwand betrieben werden.

Andererseits hat sich zum 60. Geburtstag der NATO europaweiter Widerstand gegen die militaristische Jubelfeier angekündigt. Dieser Widerstand ist mehr als berechtigt. Die NATO steht für eine Vielzahl von Kriegen, für atomare Rüstung, aber auch für eine reaktionäre Ausrichtung im Inneren. Die NATO dient seit 60 Jahren der Sicherung des globalen Kapitalismus. Sie steht für Kalten Krieg und imperialistische Globalisierung.

Wir wollen in diesem Beitrag die Ursachen und Ziele der NATO-Gründung, ihre Geschichte und ihre Perspektiven untersuchen. Wir wollen aber auch die Perspektive des Widerstands gegen die NATO-Politik und die programmatischen Fragen zur Zerschlagung dieser imperialistischen Terrororganisation entwickeln.

Der NATO-Gründung gingen mehrere Bündnisse, Erklärungen und Abkommen zwischen den USA, Britannien und der UdSSR voraus. Sie spiegeln in verschiedener Form die Interessenlagen, Stärken und Schwächen der Beteiligten und das globale Kräfteverhältnis wider und verweisen auf die internationalen politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür, dass eine solche Allianz, die alle wichtigen imperialistischen Staaten umfasst, überhaupt ent- und Jahrzehnte weiterbestehen konnte.

Nach einer Darstellung der Gründung der NATO gehen wir auf ihre Rolle im Kalten Krieg ein, um noch einmal zu verdeutlichen, dass es sich hier keineswegs um ein „Verteidigungsbündnis“ handelt, sondern um eine imperialistische Allianz.

Nach dem Sieg im Kalten Krieg hatte für die NATO eine Periode scheinbar unumschränkter Stärke begonnen und die Allianz hat eine Neudefinition ihrer Rolle erfahren. Sie wurde zum globalen Interventionsinstrument unter US-Führung. Doch zugleich offenbaren sich auch zunehmende Risse in der Allianz.

Es ist kein Zufall, dass in der gegenwärtigen Periode, da die Vormachtstellung der USA durch die Wirtschaftskrise, durch die EU-Imperialisten, aber auch durch regionale Mächte wie Russland und China zunehmend in Frage gestellt wird, letztlich auch die Zukunft der NATO zur Disposition steht. Zweifellos mag sie noch für eine ganze Phase die Welt heimsuchen und den USA und ihren Verbündeten als Mittel zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen dienen. Sie wird aber zunehmend auch zur Arena innerimperialistischer Gegensätze zwischen den großen NATO-Staaten.

Schließlich wollen wir uns am Ende des Artikels der Kritik kleinbürgerlicher und reformistischer NATO-Gegner widmen. Der Pazifismus von links- oder kleinbürgerlichen KriegsgegnerInnen, von reformistischen Bürokraten der Arbeiterbewegung war immer ein stumpfes Instrument im Kampf gegen Militarismus, Aufrüstung, Kriegstreiberei. Er ist schon im „Frieden“, also der Phase der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, eine Ideologie, welche die Arbeiterbewegung politisch entwaffnet. Der Pazifismus von gestern ist – siehe die Rolle der GRÜNEN im Balkankrieg, im Krieg gegen Afghanistan usw. – die Ideologie der Vaterlandsverteidiger von heute und morgen.

Nicht durch pazifistische, allgemein menschlich Phrasen, sondern nur durch den revolutionären Klassenkampf gegen Imperialismus und für die sozialistische Weltrevolution können Militarismus und reaktionäre Kriege gestoppt werden. Daher werden wir uns zum Schluss der revolutionären, proletarischen Antwort auf Imperialismus und Militarismus zuwenden.

1. Vom Zweiten Weltkrieg zur Gründung der NATO

1.1. Die USA: Aufstieg einer neuen Hegemonialmacht

Die Epoche der Durchsetzung des Kapitalismus als global vorherrschendes Produktionsverhältnis war bestimmt durch die Vorherrschaft Großbritanniens und seiner entwickelten Industrie auf den Weltmärkten. Diese ökonomische Vorherrschaft wurde begleitet durch ein Bündnissystem europäischer Großmächte unter Vorherrschaft Großbritanniens, das die Welt kolonial aufteilte.

Mit dem Niedergang der ökonomischen Vorherrschaft Britanniens und dem Aufstieg der neuen Wirtschaftsgroßmächte USA und Deutschland wurde dieses von Britannien hegemonisierte Weltsystem erschüttert. Nur auf dem Boden zweier blutige Weltkriege, von Millionen und Abermillionen Toten, blutigen Konterrevolutionen und gescheiterten Revolutionen konnte der Imperialismus als System gerettet werden und eine von einem neuen Hegemon bestimmte Weltordnung etablierte werden. Schon früh zeichnete sich ab, dass der Kandidat für diese Rolle die USA sein würden, die schon vor dem Ersten Weltkrieg zur stärksten und größten Industrienation aufgestiegen waren.

In seiner programmatischen Schritt „Der Krieg und die IV. Internationale“ charakterisierte Leo Trotzki diesen Sachverhalt treffend:

„Der Kapitalismus der Vereinigten Staaten ist dicht an die Aufgaben herangerückt, welche Deutschland 1914 auf den Kriegspfad drängten. Die Welt ist schon aufgeteilt? Soll man sie neu aufteilen! Für Deutschland galt es, ‚Europa zu organisieren‘. Den Vereinigten Staaten fällt es zu, ‚die Welt  zu organisieren‘. Die Geschichte treibt die Menschheit schnurstracks zum Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus.“ (2)

Die Vierte Internationale veröffentlichte im Mai 1940 „Das Manifest zum Imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution“. Es analysiert die Rolle der Vereinigten Staaten, insbesondere deren Verhältnis zum britischen Imperialismus im Zusammenhang einer Kriegsallianz gegen Deutschland folgendermaßen:

„Mit einem x-beliebigen Vorwand und Wahlspruch werden die Vereinigten Staaten in die gewaltige Kollision intervenieren, um ihre Weltherrschaft aufrecht zu erhalten. (…) Ein Krieg im Atlantik würde ein Kampf um das Erbe Großbritanniens sein, auch wenn er sofort gegen Deutschland gerichtet würde.

Der potenzielle Sieg Deutschlands über die Alliierten liegt wie ein Alpdruck auf Washington, Deutschland würde – besonders in Verbindung mit Japan im Osten  – mit dem europäischen Kontinent und den Hilfsquellen seiner Kolonien als Rückhalt, mit all den europäischen Munitionsfabriken und Werften zu seiner Verfügung, eine tödliche Gefahr für den amerikanischer Imperialismus darstellen. Die gegenwärtigen titanenhaften Schlachten auf den Feldern Europas sind in diesem Sinn vorbereitende Episoden auf den Kampf zwischen Deutschland und Amerika.“ (3)

Die USA versuchten seit Ende des Ersten Weltkrieges, Großbritannien und Frankreich als Kolonialmächte zu schwächen. Das amerikanische Kapital sah in Hitler durchaus einen Faktor, den man sowohl gegen den Hauptfeind Sowjetunion als auch zur Schwächung der alten europäischen Imperialismen gebrauchen könne.

Der britische Premier Churchill kalkulierte mit einem Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion, gleichzeitig hatte Großbritannien als niedergehendes Kolonialimperium Angst um seine überseeischen Kolonien. Insofern war die Kriegsallianz zwischen den USA und den alten europäischen Kolonialmächten gegen Deutschland tatsächlich eine Kapitulationserklärung gegenüber den USA. Die Flucht unter den US-Schutzschirm wurde notwendigerweise erkauft durch Zusagen über Entkolonialisierung, d. h. die Öffnung der Kolonialreiche für das US-Kapital und seine politischen Kontrollinstrumente.

1.2. Die UdSSR in der Kriegsallianz

Beide Weltkriege waren ihrem Wesen nach Kriege zwischen großen imperialistischen Allianzen bzw. Mächten um die Neuaufteilung der Welt.

Anders als im Ersten Weltkrieg war dann jedoch mit der UdSSR ein Staat auf den Plan getreten, in dem die Kapitalistenklasse durch eine proletarische Revolution gestürzt worden war. Die frühe Sowjetunion unter Lenin und Trotzki betrieb eine Außenpolitik, die den Interessen der Verteidigung und Ausweitung der Revolution als Teil der Weltrevolution verpflichtet war.

In den 30iger Jahren hatte sich das grundlegend gewandelt (4). Die bürokratische Kaste hatte die politische Macht in der Sowjetunion erobert, die Kommunistische Partei ihres ursprünglichen politischen Inhalts beraubt, das Rätesystem zerstört, die politische Führung der Oktoberrevolution vernichtet und der Arbeiterklasse so aller Möglichkeiten der direkten Machtausübung genommen. Trotzdem nährte sich die Bürokratie – wie ein Schmarotzer von seinem Wirt – von den Errungenschaften der Oktoberrevolution.

Die Politik der herrschenden Kaste war nicht mehr auf die Interessen des internationalen Proletariats, sondern auf die eigene Machterhaltung und die Sicherung des „Sozialismus in einem Lande“ ausgerichtet. In den Moskauer Prozessen wurde alles eliminiert, was im entferntesten nach der Partei Lenins und Trotzki roch. Die bürokratische Oligarchie war nicht nur zu einem absoluten Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes geworden, sie hatte das Land auch einer großen Zahl fähiger Offiziere beraubt und sie durch stalintreue, aber schlecht ausgebildete ersetzt.

„Nach fünf Jahren des Kriechens vor den ‚Demokratien‘ stellte der Kreml eine zynische Verachtung des Weltproletariats zur Schau, indem er ein Bündnis mit Hitler schloss und ihm das polnische Volk zu unterdrücken half; am Vorabend der Invasion in Finnland prahlte er mit schändlichem Chauvinismus und offenbarte eine nicht weniger schändliche militärische Unfähigkeit im folgenden Kampf; er machte lauthals Versprechungen, das finnische Volk von den Kapitalisten zu ‚befreien‘ und kapitulierte dann feige vor Hitler – das war die Darbietung des stalinistischen Regimes in den kritischen Stunden der Geschichte.“ (5)

„Die Schwäche der von Stalin enthaupteten Roten Armee wurde offen vor der ganzen Welt demonstriert. Die zentrifugalen nationalistischen Tendenzen innerhalb der UdSSR haben sich verstärkt. Das Prestige der Kremlführung ist gesunken. Deutschland im Westen und Japan im Osten fühlen sich jetzt weitaus sicherer als vor dem finnischen Abenteuer des Kremls.“ (6)

Es war der Sowjetunion nur unter größten Opfern möglich, die faschistische Armee nach ihrem schnellen Vormarsch gegen eine unvorbereitete und geschwächte Rote Armee von der Einnahme Moskaus und Leningrads abzuhalten. Stalin musste viele Offiziere aus den Lagern zurückholen. Die ArbeiterInnen in den Industrien, die weit ins Landesinnere verlagert wurden, sorgten für notwendige Rüstungsgüter und die Partisanenverbände zermürbten die Wehrmacht. Mit der Schlacht von Stalingrad wendete sich das Blatt endgültig: die Rote Armee rückte westwärts vor und trieb die Faschisten vor sich her.

Erst der Vormarsch der Roten Armee veranlasste die US-Imperialisten zur Eröffnung der von Stalin lange geforderten „zweiten Front“ gegen Nazi-Deutschland. Die Gefahr bestand für sie darin, dass die Sowjetunion sich im Zuge ihres Vormarsches und einer revolutionären Entwicklung in Europa, aber auch anderen Teilen der Welt unbehelligt ausweiten könnte. Seit 1943 waren in vielen Ländern Widerstandsbewegungen gegen den Faschismus im Vormarsch. Die Stalinisten fürchteten aber auch, dass die Arbeiterklasse in der Sowjetunion diese Kämpfe zum Anlass nehmen könnte, ihr eigenes bürokratisches Joch abzuschütteln.

Die Sowjetunion hat das faschistische Deutschland besiegt, erlitt aber durch den Vernichtungsfeldzug der Faschisten hohe Verluste an Soldaten und Zivilisten. Die Niederlage des Faschismus war auch ein wichtiger Impuls für die Arbeiterklassen und die unterdrückten Völker, sich ihrer Kolonialherren zu entledigen.

„Doch letztlich ist das Überleben der Sowjetunion dem heldenhaften Widerstand der großen Masse der Sowjetbevölkerung – mit an die 20 Millionen Kriegstoten – angesichts des Angriffes des deutschen Imperialismus geschuldet. Der Widerstand des Volkes gegenüber dem Faschismus trotz der Tyrannei stalinistischer Herrschaft erklärt sich einerseits aus der ernüchternden Erfahrung mit der faschistischen Gewaltherrschaft im Westen der UdSSR, andererseits durch die relative Schwächung der bonapartistischen Staatsmaschine den Massen gegenüber, welche es ihnen erlaubte, ihre Selbstverteidigung gegen den deutschen Imperialismus verhältnismäßig frei von bürokratischer Unterdrückung (wie etwa in Leningrad) zu organisieren. Auch wenn sich die Eigentumsverhältnisse der UdSSR gegenüber den Attacken des Imperialismus als widerstandsfähig erwiesen haben, so richtete der Krieg dennoch unter den Produktivkräften der Sowjetunion schwere Verwüstungen an. Dies zeigte sich am dramatischsten in einer starken Verknappung der Akkumulation und einem absoluten Rückgang im Umfang der Produktivkräfte. Insgesamt wurden 31.850 Industriebetriebe zerstört, 65.000 Kilometer Eisenbahngleise, 15.800 Lokomotiven und eine halbe Million Güterwagen vernichtet. Die Kohle- und Stahlproduktion fiel in den Jahren 1942/43 um 40-50%. Sie erreichte erst 1946 wieder Vorkriegsniveau. Dazu kam noch die Zerstörung von 4,7 Millionen Häusern, 1.710 Städten und 70.000 Dörfern! In der Landwirtschaft war das Bild genauso düster. 98.000 Kolchosen und 1.876 Staatsgüter waren zerstört. Sieben Millionen Pferde und 20 Millionen Schweine (von insgesamt 23 Millionen!) waren verloren. Im von Nazi-Deutschland besetzten Russland waren lediglich 3% der Traktoren bei Kriegsende übrig geblieben.“ (7)

Ingesamt war die UdSSR für die USA als Alliierter im Kampf gegen die Hegemonieansprüche Deutschlands und Japans genauso wesentlich wie zur Eindämmung der Bedeutung der alten imperialistischen Mächte. Gleichzeitig war klar, dass die Verwüstungen und ökonomischen Probleme in der Sowjetunion und in den von ihr besetzten Gebieten das stalinsche Regime vor schier unlösbare Probleme stellen würden. Die „antifaschistische“ Kriegsallianz war damit der Vorbereiter einer Nachkriegsordnung, die auf dem Doppelspiel einer US-geführten „westlichen“ Allianz einerseits und der kontrollierten Einbindung der Sowjetunion in das weltweite US-bestimmte Machtgefüge andererseits beruhte. Diese Nachkriegsordnung wurde in den Konferenzen von Jalta und Potsdam vorbereitet.

1.3. Von Jalta nach Potsdam

Seit der Oktoberrevolution standen sich Sowjetunion und Weltimperialismus als unversöhnliche Feinde gegenüber. Das konnte auch die Stalinsche Volksfrontpolitik nicht aus der Welt schaffen, da sich die Gegnerschaft der Imperialisten nicht gegen ein bestimmtes Regime richtet, sondern gegen die von der Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsverhältnisse. Aber die Offensive gegen die UdSSR wurde einschränkt durch die inneren Gegensätze zwischen den Imperialisten, durch die generelle Instabilität der Weltordnung nach der Niederlage Deutschlands und Japans und die revolutionären und antikolonialen Kämpfe dieser Periode.

„Es war die Spaltung innerhalb des Weltimperialismus, die seine Fähigkeit zu einer Offensive gegen die UdSSR schwächte. Der Charakter des imperialistischen Krieges selbst – blutige Auseinandersetzungen über die Aufteilung der Weltmärkte – brachte die Alliierten, die so genannten ‚demokratischen‘ imperialistischen Nationen (vor allem Großbritannien und die USA), schließlich dazu, die stalinistische Bürokratie gegen die Achsenmächte zu unterstützen, um so ihre eigenen imperialistischen Ziele zu erreichen.“ (8)

Die Niederlage der deutschen Faschisten und der mit ihnen verbündeten Länder führte am Kriegsende zu breiten antikapitalistischen Mobilisierungen.

„Dies bestätigte das objektiv vorhandene Potential für einen revolutionären Ausgang des Krieges, wie ihn Trotzkis Prognose voraus sah. In den Ländern der Achsenmächte (Bulgarien, Rumänien und Ungarn) zeigten sich nach der Niederlage der deutschen Truppen diese Ausbrüche am deutlichsten. So bemerkte zum Beispiel “The Economist” am 7. Oktober 1944, dass in ganz Thrakien und Mazedonien ‚Soldatenräte gebildet worden sind. Offiziere abgesetzt, rote Fahnen aufgezogen und die Grußpflicht abgeschafft wurden‘. (…)

In Osteuropa trat die Arbeiterklasse in der Tschechoslowakei am stärksten in den Vordergrund, als Fabrikkomitees, Arbeiterräte und Milizen gegründet wurden. Eine Doppelmachtsituation existierte etliche Monate lang in den Jahren 1944 und 1945. Es dauerte ein ganzes Jahr, ehe die Regierung es wagte, die Arbeiterkontrolle in den Fabriken zu beschneiden. Auch in Deutschland gab es weit verbreitete Arbeitererhebungen, insbesondere in Magdeburg und Halle. Es ist – sogar bei bürgerlichen Historikern – mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden, dass die Niederlage Hitlers in Frankreich 1944 für die Arbeiterklasse äußerst günstige Bedingungen hervorgerufen hatte, um die Staatsmacht zu ergreifen.“ (9)

Insgesamt bestand also eine Situation, in der sich die imperialistischen Mächte in ihren Bestrebungen, ja in ihrer Existenz bedroht sahen.

Der imperialistische Block von USA und Britannien war als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, doch er war zugleich nicht allein fähig, diese revolutionären Bewegungen zu zerschlagen. Vielmehr musste er dazu auf die Unterstützung des Stalinismus zurückgreifen.

„Der Imperialismus war gezwungen, sich auf den Kreml und seine bewaffneten Vertreter zu stützen, um die wachsende Zahl der Arbeiterkämpfe einzudämmen. Der Einsatz der Roten Armee zur gewaltsamen Beendigung der Arbeiterkontrolle in den Fabriken war allgemein verbreitet, insbesondere in Polen, Rumänien und Bulgarien. Im besiegten Deutschland und in Österreich litt die Arbeiterklasse noch viel schlimmer. So wurden viele Arbeiterbezirke terrorisiert; Wien wurde drei Tage hindurch geplündert und verwüstet.

Das Fortbestehen des Bündnisses hatte den Effekt, dass ein unmittelbarer Zusammenstoß zwischen Stalinismus und Weltimperialismus aufgeschoben wurde. Diese unheilige Allianz gegen die Arbeiterklasse nahm in Indochina ein besonders schlimmes Ausmaß an, als die Stalinisten in führender Position in den Reihen der Arbeiter und der Bauern mithalfen, deren Avantgarde abzuschlachten und ein politisch gebrochenes Proletariat dem Imperialismus auslieferten (…) In Griechenland machte sich die KP, in Übereinstimmung mit Stalins Anweisungen, eines ähnlichen Verrats schuldig. Die zwischen Stalin und Churchill in Moskau und von allen Alliierten in Jalta getroffenen Abkommen über “Einflusssphären” hatten Indochina und Griechenland dem Imperialismus überlassen und Stalin war entschlossen, diese Abkommen auch einzuhalten.“ (10)

Während der Jalta-Konferenz am 4. Februar 1945 befanden sich die Hitler-Armeen überall in der Defensive oder gar auf der Flucht. Die Sowjetarmee stand weniger als 100 Km vor Ber¬lin. In ganz Europa brachen die Staatsapparate zusammen, so in Rumänien, Frankreich, Ungarn, Italien. Sowohl die US-amerikanischen und britischen Imperialisten als auch die Stalinisten waren beunruhigt.

Die Alliierten waren daran interessiert, die politische Ordnung in Europa u.a. Teilen der Welt vertraglich festzuschreiben und sich ihre Interessensphären zuzuteilen. So kam es u.a. zum „Potsdamer Abkommen“. Roosevelt sah die Festlegungen des Vertrags durchaus positiv.  Für die Kremlbürokratie enthielt es die Verpflichtung, die vereinbarten Einflussgrenzen nicht zu überschreiten und in ihrem Einflussbereich für „Stabilität und Ruhe“ einzutreten.

Wesentlich wurde im Abkommen die Besetzung ganz Deutschlands durch die alliierten Armeen und die Aufteilung der von den faschistischen Armeen eroberten Gebiete beschlossen. Auf der Konferenz wurde eine Übereinkunft erzielt über die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze der gleichgeschalteten Politik der Alliierten in Bezug auf das besiegte Deutschland in der Periode der alliierten Kontrolle.

Das Ziel dieser Übereinkunft bildet die Durchführung der „Krim-Deklaration“ über Deutschland. Der deutsche Militarismus und der Nazismus sollten ausgerottet und Maßnahmen ergriffen werden, die notwendig seien, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens bedrohen könne.

„Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wieder aufzubauen. Wenn die eigenen Anstrengungen des deutschen Volkes unablässig auf die Erreichung dieses Zieles gerichtet sein werden, wird es ihm möglich sein, zu gegebener Zeit seinen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen.“ (11)

Das Abkommen war gleichzeitig ein Instrument gegen all jene, die mit der kapitalistischen Ordnung nach dem zweiten imperialistischen Krieg ein für alle Mal Schluss machen wollten.

Es gab unter Roosevelt die Absicht, mit dem „Morgenthau-Plan“ Deutschland zu entwaffnen und zu deindustrialisieren. Damit wäre der deutsche Imperialismus dauerhaft ausgeschaltet worden. Nur einige Jahre später setzte Truman aber auf die Rekonstruktion des deutschen Imperialismus im europäischen Rahmen, mit Einbindung einer neuen deutschen Armee in die Bündnisstrukturen der USA. Das traf anfangs auf Skepsis bei den europäischen Imperialisten, insbesondere in Frankreich, während Großbritannien eine widersprüchliche Haltung einnahm.

Der Hauptgegner der USA, aber auch der anderen Imperialisten wurde nach der Stabilisierung des stalinistischen Machtbereichs eindeutig die Sowjetunion.

1.4. Die Gründung der UNO

Am 1. Januar 1942 wurde eine „Erklärung der Vereinten Nationen“ von den Vertretern des amerikanischen und des englischen Imperialismus und der Kremlbürokratie unterzeichnet. Die Erklärung wurde am 30.10.1943 in Moskau von den Außenministern derselben Länder bestätigt, die hiermit ihre Absicht bekundeten, „die internationale Sicherheit zu garantieren“.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 beschlossen Roosevelt, Churchill und Stalin die Einberufung einer Konferenz der Vereinten Nationen über die „Weltorganisation“. Diese sollte im Juni des gleichen Jahres stattfinden. Der Sinn des Begriffes „internationale Sicherheit“ der zukünftigen Organisation der Vereinten Nationen, wurde in Jalta definiert.

Dort diskutierten Roosevelt, Churchill und Stalin über die „Wiederherstellung der Ordnung in Europa“, wie es im offiziellen Kommunique hieß.

Roosevelt und Churchill betrachteten die Einnahme von Polen, Bulgarien und Rumänien durch die  sowjetische Armee mit Misstrauen. Trotzdem wollten sie zusammen mit Stalin die „Stabilität“  in Europa und anderen Regionen herstellen.

Die Charta wurde zuerst von 50 Staaten unterzeichnet, später wurden etwa 100 weitere Staaten aufgenommen. Die fünf „ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates“  mussten die Neuunterzeichner als „friedlich“ beurteilen.

Heute sind 192 Staaten Mitglieder der UN-Vollversammlung. Wirklich zu sagen haben sie aber kaum etwas. Durch den Artikel 11 der UN-Charta ist ihnen untersagt, über Aktionen zu bestimmen, die sich auf die „Erhaltung des Friedens oder der Sicherheit“ beziehen. Nur der Sicherheitsrat selbst  kann mit einer Mehrheit von 9 Stimmen (von 15 Mitgliedern) bestimmen, ob es eine Friedensbedrohung, Friedensbruch oder aber eine Aggression gibt. Allein der Sicherheitsrat – unter der Bedingung, dass kein einziges ständiges Mitglied sein Veto einlegt – ist handlungsbefugt. Immer, wenn ein Mitglied seine Interessen oder die Interessen eines befreundeten Staates bedroht sah, hat es sofort von seinem Veto-Recht Gebrauch gemacht.

Die UNO ist von Anfang an ein internationaler Apparat, der von den imperialistischen Ländern, besonders von den USA, und auch von der Kremlbürokratie (und ihren Nachfolgern), beherrscht und eingesetzt wird, um ihre „Ordnung“ in der Welt aufrecht zu erhalten. Daran hat sich auch mit dem Sitz der VR China im Sicherheitsrat (ab 1971) nichts geändert. Seit Gründung der UNO ist ihr Hauptzweck, bewaffnete Interventionen auf den Kreis dieser wenigen Mächte zu beschränken, die niemand zur Rechenschaft ziehen kann, während sie sich in allen Ländern zu Richtern aufspielen können. Sie können ihren Kriegen „völkerrechtliche“ Weihen verleihen oder durch „UNO-Soldaten“ absichern lassen. Wenn notwendig, brauchen die USA nicht einmal das.

1.5. Bretton Woods, IWF und Weltbank

Parallel zu den politischen und militärischen Formierungen wurde die neue machtpolitische Konstellation auch auf ökonomischem Gebiet abgesichert. Das war anhand der Vorkriegsentwicklung und zur Absicherung der Hegemonie des US-Imperialismus notwendig geworden.

Das US-Kapital konnte in der Kriegswirtschaft gewaltige Profite realisieren. In den europäischen und japanischen Wirtschaftsräumen fand das amerikanische Kapital nach dem Krieg Anlagemärkte. Innerhalb eines Jahres, von 1945-1946, stiegen in den USA die privaten Investitionen von 10 auf 30 Mrd. Dollar.

Der Ausgang des Weltkrieges schuf die Bedingungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Unter diesen Umständen gingen die siegreichen imperialistischen Länder daran, ein Währungssystem zu schaffen, das eine ökonomischen Wiederholung der Katastrophe der 1930er Jahre verhindern sollte.

In den frühen 1940er Jahren entwickelten Harry Dexter White in den USA und John Maynard Keynes in Britannien ähnliche Vorstellungen, um dieses Ziel zu erreichen. Sie wollten ein System schaffen, das die uneingeschränkte Austauschbarkeit einer Währung gegen eine andere sicherstellen sollte, den Wert jeder Währung klar und fest bestimmen sollte. Dieses System musste von einer neuen internationalen Institution überwacht werden.

Am 22. Juli 1944 wurde so auf der Konferenz von Bretton Woods von 44 Staaten noch während des Zweiten Weltkriegs ein neues Währungssystem beschlossen. Das System hatte bis zu seinem Zusammenbruch 1973 Bestand. Weltbank und IWF sollten später noch eine wesentlich wichtigere Rolle für den Imperialismus spielen.

Der in Bretton Woods gegründete Internationale Währungsfonds (IWF) nahm 1946 seine Arbeit auf. Hinter ihm stand in erster Linie der US-Imperialismus, der als eindeutiger Sieger aus dem Krieg hervorgegangen war. Der IWF hatte seinen Sitz in den USA, sein Personal bestand in erster Linie aus amerikanischen Ökonomen und dieses wurde regelmäßig mit dem US-amerikanischen Schatzamt ausgetauscht. Als größter Beitragszahler an den IWF hatten die USA auch die meisten Stimmen und in jedem Fall genug, um gegen jede Änderung der IWF-Satzung ihr Veto einzulegen. 1983 drückte US-Finanzminister Donald Regan das so aus: „Der IWF ist im wesentlichen eine nicht-politische Institution. (…) Aber das heißt nicht, dass die politischen und Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten nicht vom IWF bedient würden.“ (12)

In Bretton Woods war das Tauschverhältnis zwischen Gold und Dollar mit einer Unze Gold gleich 35 Dollar fixiert worden. Die USA hatten sich verpflichtet, zu diesem Preis zu kaufen oder zu verkaufen. So lange die wirtschaftliche Vorherrschaft der USA absolut war und genug Goldreserven zur Verfügung standen, um dieser Verpflichtung nachzukommen, gab es wenig Grund für eine IWF-Intervention.

In den Jahren des langen Booms wurde die nahezu uneingeschränkte wirtschaftliche Dominanz der USA jedoch durch Japan und Europa unterminiert. Anfang der 1970er standen dem US-Schatzamt nicht mehr ausreichend Goldreserven zur Verfügung, um den Wert der Dollar-Bestände, die außerhalb der USA gehalten wurden, zu decken. 1971 gaben die USA einseitig ihre Verpflichtung auf, den fixen Wechselkurs zu halten – die Ära freier und von internationalen Institutionen gemanagter Wechselkurse begann.

Wie sollte unter diesen Bedingungen und angesichts zunehmender wirtschaftlicher Krisen eine Rückkehr zu den Entwertungswettläufen der 1930er Jahre verhindert werden? Es schlug die Stunde des IWF.

„Der IWF ist ein imperialistischer Gendarm. Seine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass jede nationale Wirtschaftspolitik den freien Handel und Kapitalverkehr im Interesse der imperialistischen Länder fördert. Ein solches System des offenen Weltmarktes kann nur dazu dienen, den Reichtum und die Macht der Unternehmen in den imperialistischen Länder zu mehren, deren wirtschaftliche Produktivität, Kapitalkonzentration und technologische Überlegenheit es ermöglichen, jede Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen, wenn es keine Barrieren für die Bewegung des Kapitals und von Gütern gibt. Der IWF existiert, um sicherzustellen, dass Länder, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten – und das sind immer die ärmeren Länder -, diese Hilfe mit der Beseitigung dieser Barrieren bezahlen.“ (13)

1.6. Beginn von Atombewaffnung und „Kaltem Krieg“

Am Ende des Zweiten Weltkriegs, im August 1945, warfen die US-Imperialisten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Mit dem Kriegsausgang hatte dieses Kriegsverbrechen der USA wenig zu tun. Es war eine Drohung an die Sowjetunion, aber auch an die anschwellenden revolutionären und antikolonialen Bewegungen in aller Welt. Die vier Jahre, in denen die USA die einzige Atommacht waren, wurden für die Festigung ihrer Hegemonie genutzt. Ab 1949 verfügte jedoch auch die Sowjetunion über Atomwaffen.

In einer Rede im März 1946 in Fulton (Missouri) zeichnete Churchill (er war unmittelbar nach Kriegsende abgewählt worden) ein düsteres Bild von der politischen Lage in Europa und sprach vom „Eisernen Vorhang“:

„Ein Schatten ist auf die Erde gefallen, die erst vor kurzem durch den Sieg der Alliierten hell erleuchtet worden ist. Niemand weiß, was Sowjetrussland und die kommunistische internationale Organisation in der nächsten Zukunft zu tun gedenken oder was für Grenzen ihren expansionistischen und Bekehrungstendenzen gesetzt sind, wenn ihnen überhaupt Grenzen gesetzt sind. (…) Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein ‚Eiserner Vorhang‘ über den Kontinent gezogen.“ (14)

Mit der Niederschlagung der revolutionären und vorrevolutionärer Situationen in Frankreich, Griechenland, Italien und Osteuropa sowie der Befriedung in anderen Ländern in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten sich der imperialistische Block im Westen und der stalinistische Block im Osten Europas stabilisiert und standen sich mit ungeheurer Militär- und Vernichtungsmacht gegenüber.

Die Gefahr eines Dritten Weltkriegs wurde angesichts der atomaren Bedrohung mehr und mehr zum „Kalten Krieg“. Stalinistische Säuberungen auf der einen Seite und antikommunistische Offensive auf der anderen Seite – beides nur zu oft unter dem Vorwand der Bekämpfung der „Agenten“ der anderen Seite – führten zu einem Einfrieren der beiden Blöcke: ideologischen und militärisch, mit einer (fast) undurchlässigen Grenze am „Eisernen Vorhang“.

1947 wurde im US-Senat ein Gesetz verabschiedet, dass das Recht auf Organisierung und Streiks erheblich einschränkte. Eine der Vorschriften des „Taft-Hartly Act“ war, dass Streiks 60 Tage zuvor angekündigt werden mussten und per Gerichtsbeschluss für 80 Tage ausgesetzt werden konnten.

Die McCarthy-Ära (benannt nach dem Senator Joseph McCarthy) war durch einen hysterischen Antikommunismus geprägt. Von 1947 bis etwa 1956 verfolgte die US-Regierung die Kommunistische Partei der USA, ihre Führung, ihre Mitglieder und auch viele angebliche „Sympathisanten“. Sogar imperialistische Strategen wie der stellvertretende Finanzminister Harry Dexter White als auch der Ratgeber Franklin D. Roosevelts, Alger Hiss, wurden als sowjetische Agenten verdächtigt. Für Regierungsmitarbeiter und die Beschäftigten staatlicher Einrichtungen wurden Loyalitätstests eingeführt.

1.7. Die Truman-Doktrin

Der beginnende Kalte Krieg war auch mit der Etablierung einer Rechtfertigungsideologie und diversen Propagandalügen verbunden. Als Aufhänger für seine Doktrin führte der US-Präsident Truman „Hilferufe“ der Bourgeoisie aus Griechenland und der Türkei an. Durch den Befreiungskampf gegen den Hitlerfaschismus waren die bürgerlichen Herrschaftssysteme dort in Bedrängnis geraten.

Im  März 1947 ersuchte er den US-Kongress, der Türkei und Griechenland finanzielle Hilfe zu gewähren. Es ging ihm dabei aber nicht allein um die Stabilisierung der zwei Mittelmeerstaaten, sondern um eine umfassende politische Antwort auf die „Expansionsbestrebungen des Kommunismus“.

„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte muss fast jede Nation zwischen alternativen Lebensformen wählen. Nur zu oft ist diese Wahl nicht frei. Die eine Lebensform gründet sich auf den Willen der Mehrheit und ist gekennzeichnet durch freie Institutionen, repräsentative Regierungsform, freie Wahlen, Garantien für die persönliche Freiheit von politischer Unterdrückung. Die andere Lebensform gründet sich auf den Willen einer Minderheit, den diese der Mehrheit gewaltsam aufzwingt. Sie stützt sich auf Terror und Unterdrückung, auf die Zensur von Presse und Rundfunk, auf manipulierte Wahlen und auf den Entzug der persönlichen Freiheiten. Ich glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie die Geschichte auf ihre Weise selbst bestimmen können. Unter einem solchen Beistand verstehe ich vor allem wirtschaftliche und finanzielle Hilfe, die Grundlage für wirtschaftliche Stabilität und geordnete politische Verhältnisse bildet. Die Welt ist nicht statisch und der Status quo ist nicht heilig. Aber wir können keine Veränderungen des Status quo erlauben, die durch Zwangsmethoden oder Tricks wie der politischen Infiltration unter Verletzung der Charta der Vereinten Nationen erfolgen. Wenn sie freien und unabhängigen Nationen helfen, ihre Freiheit zu bewahren, verwirklichen die Vereinigten Staaten die Prinzipien der Vereinten Nationen.“ (15)

Dies ist der Kern der „Truman-Doktrin“. Die Stoßrichtung der US-Politik wurde klar erkennbar: die Sowjetunion sollte durch die Strategie des „Containment“ (Eindämmung) bekämpft werden, sie sollte kein Hindernis für die Ausdehnung der Herrschaft des US-Imperialismus darstellen.

Truman forderte, dass „jede Nation ihre Wahl in Bezug auf ihre Lebensweise (frei) treffen“ kann. Er sah den Kommunismus als „Verwirrung und Unordnung“ an und definiert ihn als eine „Lebensweise, (die sich) auf den Willen einer Minderheit, der der Mehrheit aufgezwungen wird“ gründet.

Stalin wurde für die „Verletzungen des Jalta-Abkommens in Polen, Rumänien und Bulgarien“ kritisiert, wo die sowjetische Besatzungsmacht „Volksdemokratien“ unter Führung von Kommunisten gebildet hatte. In Jalta sei festgelegt worden, dass jedes souveräne Land, sich ihre Regierung durch eine freie Abstimmung wählt.

Dass die Wirklichkeit ganz anders aussah, focht die Propaganda des Westens nicht an. So hatte die Sowjetunion unter Stalin – anders als die Imperialisten – die Aufteilung der Einflusssphären geradezu peinlich genau eingehalten. In Frankreich, Italien, aber vor allem in Griechenland lehnte der Kreml eine revolutionäre Politik, die zum Sturz der Kapitalistenklasse und zur Errichtung von Arbeiterstaaten hätte führen sollen, entschieden ab. In Italien und Frankreich unterstützten die KPen Volksfrontregierungen und halfen aktiv mit bei der Entwaffnung der Arbeiterklasse, die die Hauptlast im Partisanenkampf gegen den Faschismus getragen hatte. In Griechenland ließ der Kreml die kommunistisch geführten Aufständischen kläglich im Stich und lieferte sie der Konterrevolution der Bourgeoisie aus, die massiv von den Imperialisten unterstützt wurde.

Während der Kreml also seinen Verpflichtungen nachkam und bei der Bekämpfung der Revolution der Arbeiterklasse tatkräftig mithalf, verfolgten die US-Imperialisten und ihre Verbündeten konsequent ihre Klasseninteressen.

Aus dieser „Politik der Eindämmung“ folgte logisch die Gründung der NATO unter Führung des US-Imperialismus als eine Art gemeinsame „Zone der Demokratie“, die man gemeinsam verteidigen oder aber auch gemeinsam erweitern konnte, wenn man es für nötig hielt. Dafür wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der halbkolonialen Welt generell in Frage gestellt, wenn seine Regierungsform oder seine ökonomischen Maßnahmen den Interessen und Vorstellungen der „freien Welt“ nicht entsprachen.

Da für den Imperialismus politische Stabilität stabile wirtschaftliche Verhältnisse in Europa voraussetzte, forcierte die US-Regierung den Wiederaufbau Westeuropas. US-Außenminister George C. Marshall verkündete am 5. Juni 1947 seinen Plan für einen Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft. Auf Grundlage des „Marshall-Plans“ kam es zum europäischen Wiederaufbauprogramm (European Recovery Program, ERP).

Um die ökonomischen Maßnahmen zu koordinieren, gründeten die USA zusammen mit 16 „nicht-kommunistischen“ Staaten Europas am 16. April 1948 den Europäischen Wirtschaftsrat (Organization for European Economic Co-operation – OEEC -, 1961 abgelöst durch die Organization for Economic Co-operation and Development (OECD).

Die US-Regierung richtete ihr Angebot auch an die  UdSSR, die aus nahe liegenden Gründen ablehnte, ebenso die Staaten in ihrem Einflussbereich. Stattdessen initiierte die Sowjetunion im Januar des folgenden Jahres die Gründung des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW bzw. Council for Mutual Economic Assistance, COMECON), dem sich neben der UdSSR Bulgarien, Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei und Ungarn anschlossen. Auch in ökonomischer Hinsicht verfestigten sich somit die Fronten zwischen Ost und West.

1.8. Der Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949

Vertreter der USA, Kanadas, Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens, der Niederlanden, Luxemburgs, Dänemarks, Islands, Italiens, Norwegens und Portugals unterzeichneten am 4. April 1949 in Washington den Nordatlantik-Vertrag. Er trat am 24. August 1949 in Kraft. Natürlich wurde diesem neuen Kriegsbündnis eine schwülstige Präambel vorangestellt:

„ DIE PARTEIEN DIESES VERTRAGS [2]

BEKRÄFTIGEN erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben.

SIE SIND ENTSCHLOSSEN, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten.

SIE SIND BESTREBT, die innere Festigkeit und das Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern.

SIE SIND ENTSCHLOSSEN, ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen.“

Dann kommt der Text zur Sache, wobei aber immer betont wird, dass die NATO ein „Verteidigungsbündnis“ sei:

„Art. 3

Um die Ziele dieses Vertrags besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.

Art. 4

Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind. (…)

Art. 5

Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Von jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.

Art. 6

Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien jeder bewaffnete Angriff

(i) auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf das Gebiet der Türkei oder auf die der Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses;

(ii) auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten oder irgendeinem anderen europäischen Gebiet, in dem eine der Parteien bei Inkrafttreten des Vertrags eine Besatzung unterhält, oder wenn sie sich im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses befinden.“ (16)

Mit diesem Vertrag wurden die drei Westzonen Deutschlands sowie die Westsektoren Berlins Teil des NATO-Verteidigungsgebiets. Auch Teile des Kolonialgebiets der europäischen Imperialisten, sowie die Türkei wurden einbezogen. Trotz aller „Verteidigung von Demokratie und Freiheit“ wurden von Anfang an Diktaturen, wie das Salazar-Regime Portugals problemlos in die „westliche Verteidigungsgemeinschaft“ integriert. Dies sollte sich später in Spanien, Griechenland und der Türkei fortsetzen. In Italien waren NATO-Strukturen offensichtlich in mögliche Putschvorbereitungen gegen nicht-genehme politische Freiheiten verwickelt.

Zwischenresümee 1

• Die NATO entstand als Resultat einer Neuaufteilung der Welt und der Etablierung der Nachkriegsordnung mit den USA als eindeutige imperialistische Führungsmacht.

• Ihre Konstituierung war aber nur durch die Niederlagen und Fehler der Arbeiterbewegung, insbesondere durch die konterrevolutionäre Politik von Stalinismus und Sozialdemokratie möglich.

• Dadurch wurden die revolutionären Möglichkeiten der Periode bis 1948 vertan und der Imperialismus konnte seine Nachkriegsordnung festigen.

• Die NATO dient seither zusammen mit anderen politischen und ökonomischen Institutionen (UN, Bretton Woods-Institutionen) der politischen und militärischen Sicherung dieser Ordnung.

2. Die NATO im Kalten Krieg

2.1. Der Korea-Krieg 1950-53

Der Korea-Krieg wird in der offiziellen Geschichtsschreibung als Beispiel für die aggressive Politik der Sowjetunion dargestellt. Dabei war dieser Krieg eine vollkommen gerechtfertige Reaktion der KoreanerInnen gegen die Unterdrückung durch den japanischen Imperialismus und die Teilung des Landes durch die imperialistische Nachkriegsordnung.

Ende des Zweiten Weltkrieges hatten sowjetische und US-Truppen Korea besetzt. Überall in Korea gab es “Committees of Preparation for National Independence”, überwiegend unter Führung der KP. Am 6. September 1945 wurde eine „Regierung der gesamtkoreanischen Volksrepublik“ ausgerufen.

Die USA verweigerten dieser die Anerkennung und installierten ihrerseits eine Regierung unter dem rechtsgerichteten, in der Bevölkerung verachteten Syngman Rhee. Im folgenden Konflikt kam es zum Krieg in Korea.

Die UNO übernahm die amerikanische Position, die Nordkorea der „Aggression“ gegen den Süden des Landes beschuldigte. Am 25. Juni 1950 forderte der UN-Sicherheitsrat die nordkoreanische Regierung  auf, ihre Armee bis zum 38. Breitengrad zurückzuziehen und verlangte von den Mitgliedsländern der UNO die volle Unterstützung der Resolution und verbot jegliche Hilfe an Nordkorea.

Der Sicherheitsrat empfahl „den Mitgliedern der UNO, der koreanischen Republik jegliche notwendige Hilfe zukommen zu lassen, um die Angreifer zurück zu schlagen und in dieser Region den Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen“. (17)

Am 6. Juli 1950 bevollmächtigte der Sicherheitsrat „das vereinte Oberkommando unter dem Vorsitz der USA, im Laufe der militärischen Aktionen gegen die Kräfte Nordkoreas die Fahne der Vereinten Nationen zu benutzen“. (18)

Diese Entscheidungen des Sicherheitsrates konnten gefasst werden, weil die Repräsentanten Stalins sich enthielten bzw. abwesend waren.

Um eine Revolution im gesamten Korea zu beenden, um direkt in dieser Weltregion Fuß zu fassen, aber auch, um der chinesischen Revolution entgegenzutreten, zettelte der US-Imperialismus den Koreakrieg an, der bis zum 27. Juli 1953 dauerte.

Bis dahin wurden 400.000 Tonnen Bomben allein über der Stadt Pjöngjang abgeworfen, die damals 400.000 Einwohner zählte. Die Angreifer verwendeten auch Napalm und bakteriologische Waffen.

Die USA wollten mit ihrer Kriegführung ein Zeichen setzen gegen alle Nationen und Nationalitäten, die das imperialistische Joch abstreifen wollten. Wäre es nach Generälen wie MacArthur gegangen, wären in Korea und auch gegen China Atomwaffen eingesetzt worden. Das aber wäre der direkte Einstieg in einen 3. Weltkrieg gewesen.

Insbesondere in Westdeutschland wurde der Korea-Krieg als Beweis für die „Aggressionspläne“ der Sowjetunion angeführt. Es kam zu einer Notbevorratungswelle, Ängste vor einem Dritten Weltkrieg wurden geschürt – und so Wiederbewaffnung und NATO-Beitritt legitimiert.

Die politische Bedeutung des Korea-Krieges ging also weit über den Waffengang selbst hinaus. Er diente auch massiv zur ideologischen, anti-kommunistischen Beeinflussung der Bevölkerung in den westlichen Staaten, die in den meisten Ländern auch aktiv von der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbürokratie mitgetragen wurde. Die AFL-CIO in den USA oder der Britische TUC und die Labour Party hatten schon im Krieg aktiv die imperialistischen Ziele „ihrer“ Regierungen unterstützt, am Entwerfen der Nachkriegsordnung mitgewirkt und spielten in Westdeutschland, Japan, Italien u.a. Ländern eine aktive Rolle beim Wiederaufbau der Gewerkschaften und Sozialdemokratischen Parteien im Sinne der Westintegration. Sie halfen aktiv bei der Säuberung der Arbeiterorganisationen von „kommunistischen“ Elementen mit – ob nun Stalinisten oder unabhängige Linke.

Dieser Druck ging so weit, dass er sich nicht nur in der Sozialdemokratie bemerkbar machte (auf die die Volksfrontpolitik der Stalinisten keine Antwort zu geben vermochte), sondern auch in der Degeneration vieler vorgeblich revolutionärer Linker. So passten sich im Koreakrieg sogar vorgeblich trotzkistische Organisationen wie die Vorläufer der Socialist Workers Party (in Deutschland Marx21, in Österreich Linkswende) an den britischen und US-Imperialismus an, indem sie sich weigerten, Nordkorea und die Sowjetunion gegen die imperialistische Aggression zu verteidigen und für den Sieg Nordkoreas einzutreten.

2.2. Die Wiederbewaffnung der BRD

Nach Kriegsende 1945 zogen sich antimilitaristische und antikapitalistische Bekenntnisse durch die Programme und Reden selbst der bürgerlichen Parteien. Es gab trotz der grundlegenden Schwächung der Arbeiterbewegung an der Basis zahlreiche Initiativen, sowohl die Abrechnung mit den Nazis in die eigene Hand zu nehmen als auch in Betrieben und auf lokaler Ebene selbstständige Organe aufzubauen. Diese Bestrebungen gab es in allen Besatzungszonen. In allen Besatzungszonen wurden diese Bestrebungen verboten, bestehende Betriebsräte und Organisationen aufgelöst und durch den Besatzungsmächten genehme Gründungen ersetzt.

Die US-Imperialisten wollten jetzt möglichst schnell eine stabile kapitalistische Wirtschaft in ihrer Besatzungszone. Großbritannien und Frankreich schlossen sich dem an und bildeten die sogenannte „Trizone“. Sie führten eine Währungsreform durch und legten die Grundlage für die Bildung der Bundesrepublik 1949.

Adenauer beschreibt seine Vorstellung über die Sowjetunion auf einer CDU-Kundgebung wie folgt: „Die totalitären Staaten verneinen Recht und Gesetz. (…) Wir kennen ja aus unserer Vergangenheit in Deutschland das System der totalitären Staaten. Wir wissen, welche Gefahr ein großer totalitärer Staat für seine ganze Umgebung mit sich bringt. Die Sowjet-Union ist ein noch viel mächtigerer und viel totalitärer Staat, als es das nationalsozialistische Deutschland gewesen ist.“ (19)

Adenauer formulierte hier eine staatstragende „Totalitarismus-Theorie“, die einerseits am Antikommunismus der Nazis anknüpfte, gleichzeitig aber auch zur Legitimationstheorie der imperialistischen Demokratie wurde.

Alte Nazi-Eliten kamen wieder in Führungspositionen in Wirtschaft und Staatsapparat. Alte Wehrmachtsgeneräle bauten den Kern einer Armee der Bundesrepublik auf, die, eingebunden in die NATO-Strukturen, zur Frontarmee gegen die Sowjetunion aufgebaut werden sollte.

Ihre neue Rolle als „Juniorpartner“ der USA nahmen die deutschen Imperialisten dankbar an. Innerhalb kürzester Zeit lagen die Wirtschaftsstrukturen und ein großer Teil des nicht-militärischen Staatsapparates wieder in den Händen der deutschen Bourgeoisie, allerdings noch unter starker Kontrolle der Besatzungsmächte.

1948 wurde in den Westzonen Deutschlands eine separate Währungsreform durchgeführt. Am 14. August 1949 fanden die Wahlen zum 1. Bundestag statt. 1950 verabschiedete der NATO-Rat die „Vorwärtsstrategie“. Die USA verdreifachten ab August 1950 ihre in Großbritannien stationierten Bomberverbände. Am 7. Februar 1951 billigte die US-Regierung den „Pleven-Plan“ zur Aufstellung einer europäischen Armee.

Auf der vom 10.-14. September 1951 tagenden Außenministerkonferenz der USA, Frankreichs und Großbritanniens in Washington wurde die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte geplant, die in eine europäische Armee eingegliedert werden sollten.

1952 beschloss der Nordatlantikrat die „Strategie der massiven Vergeltung“, die ab 1954 umgesetzt wurde.

Es stellt sich die Frage, warum es der Arbeiterklasse nach 1945 nicht gelungen war, die Wiederaufrüstung und den NATO-Beitritt der Bundesrepublik zu verhindern.

Viele ArbeiterInnen wie auch Kader der KPD in Deutschland wollten nach dem Krieg den Sozialismus. Während der Naziherrschaft und des Krieges waren diese Kader weitgehend abgeschnitten von der exilierten Parteiführung. Im Widerstand gegen Hitler hatten sie durchaus eigenständige Positionen entwickelt.

Doch nach 1945 wurde die Politik der KPD wieder durch die zurückgekehrte Auslandsführung (Gruppe Ulbricht) geleitet und war geprägt von einer Kette von Fehlern, die aus der strategischen, konterrevolutionären Grundkonzeption des Stalinismus folgten:

• Das „Vertrauen“ in die Westalliierten als Repräsentanten der „westlichen Demokratien“ ging einher mit dem Abwürgen selbstständiger Initiativen, die auch aus den Reihen der Basismitglieder gekommen waren. Daher lehnte die KPD 1945 auch den Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als „verfrüht“ ab, weil die Arbeitklasse noch nicht reif genug wäre.

• Die KPD war geprägt durch Gehorsam gegen über Stalin und übernahm seine Volksfrontpolitik, die jeder revolutionären Politik diametral entgegenstand.

Diese falsche, gegenrevolutionäre Strategie erleichterte es den westlichen Imperialisten – unter Ausnutzung der Berlin-Blockade, der Zündung der ersten sowjetischen Atombombe am 23. September 1949 und durch die imperialistische Propaganda im Korea-Krieg -, die KPD in die Defensive zu drängen.

Die stalinistische Unterdrückung der Arbeiterklasse hatte sich natürlich auch im Westen herum gesprochen. Das schwächte auch den Widerstand gegen Remilitarisierung und die Wiederherstellung kapitalistischer Strukturen in den Westzonen.

Antikommunismus und Repression gegen alle Antimilitaristen durch die Adenauer Regierung und die Militärgerichtsbarkeit der Alliierten hatten so leichtes Spiel. In Kassel wurden z.B. Jugendliche –  Mitglieder der FDJ – zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie vorbereitete Sprengladungen der US-Armee an Brücken beseitigt hatten.

Weder Volksbefragung noch die „Ohne-Mich“-Bewegung konnten die Wiederaufrüstung entscheidend behindern.

SPD und DGB, anfangs noch strikt gegen Wiederbewaffnung und gegen die Wiederaufrichtung kapitalistischer Monopole, gaben ihren Widerstand mehr und mehr auf. So stand Mitte der 50er Jahre weder der Bundeswehr noch deren Eintritt in die NATO ein Widerstand entgegen, der dies ernsthaft hätte verhindern können.

2.3. Krisen und Kriege

Die Geschichte der NATO im Kalten Krieg ist geprägt von einer fortschreitenden Stärkung und Aufrüstung der Allianz. Sie fungierte schon damals als Unterstützerin für imperialistische Interventionen außerhalb des Mandatsgebietes. Hier ein kurzer Überblick:

Am 23. Oktober 1954 wurden die „Pariser Verträge“ unterzeichnet, die BRD wird zur Mitgliedschaft in der NATO eingeladen. Der Besatzungsstatus wird aufgehoben. Der NATO-Beitritt der Bundesrepublik erfolgt am 6. Mai 1955 durch die Ratifizierung der Verträge im Bundestag. 1956 wurde die KPD verboten, während fast zeitgleich die ersten Rekruten der Bundeswehr einrückten. Der Kalte Krieg verschärft sich.

Am 16. März 1955 kündigte US-Präsident Eisenhower für den Kriegsfall den Einsatz taktischer Nuklearwaffen gegen militärische Ziele an. Am 19. Mai 1955 wurde als Reaktion der Warschauer Pakt gegründet.

Das US-Hauptquartier in der Bundesrepublik gibt am 13. März 1957 bekannt, dass die US-Streitkräfte mit Nuklearwaffen ausgerüstet werden.

Am 19. September 1958 wurden die ersten US-Mittelstreckenraketen vom Typ Thor in Großbritannien aufgestellt.

Am 31. Oktober 1959 stimmte die Türkei der Aufstellung von US-Mittelstreckenraketen zu. Insgesamt wurde bis 1960 eine US-Staffel mit 26 Raketen aufgestellt. Weitere zwei Jupiter-Staffeln mit 25 Raketen stationierten die USA bis 1960 in Italien.

1956  intervenierten Frankreich und Großbritannien, um die Kontrolle über den Suez-Kanal zu erlangen, der kurz zuvor von Nasser verstaatlicht worden war. Die UdSSR drohte mit militärischen Gegenaktionen, worauf Großbritannien und Frankreich ihre Truppen zurückzogen. Durch die Bombardements musste der Suez-Kanal für den Schiffsverkehr gesperrt werden, er war durch 46 versenkte Schiffe auf unabsehbare Zeit unpassierbar geworden. Aber auch die USA übten Druck aus, da US-Präsident Eisenhower ein Notstandsprogramm in die Wege leiten musste, um die Ölversorgung Westeuropas zu gewährleisten.

Die NATO-Länder Frankreich und Großbritannien waren nach diesen Ereignissen in ihrem militärischen Einfluss weiter geschwächt worden. Die Suez-Krise verdeutlichte, dass die USA und auch die UdSSR die jeweiligen Einflusssphären respektierten.

In Reaktion auf die Politik der UdSSR im Nahen Osten verkündete der amerikanische Präsident 1957 die „Eisenhower-Doktrin“, eine Zusicherung amerikanischer Hilfe an die Staaten der Region  „gegen jedes Land, das vom internationalen Kommunismus kontrolliert wird.“ (20)

Nachdem 1959 die Batista-Regierung in Kuba gestürzt worden war, versuchten die USA durch eine Invasion und mehrere Mordversuche, Castro zu stürzen. 1962 stand die Welt durch die Kuba-Krise ein weiteres Mal kurz vor einem Dritten Weltkrieg. Nach dem Abzug der sowjetischen Atomraketen mussten die USA sich mit dem Status quo auf Kuba zufrieden geben. Das war eine erste schwere Niederlage des US-Imperialismus seit der Errichtung der Nachkriegsordnung, aber auch eine wirksame nukleare Erpressung gegenüber der Sowjetunion, die keinen Atomkrieg als Reaktion auf die Stationierung ihrer Raketen auf Kuba riskieren wollte.

1966 folgte eine Schwächung der NATO durch den zeitweiligen Rückzug der französischen Imperialisten aus den militärischen Strukturen der NATO. Sie beklagten die zu geringe Bedeutung Frankreichs in der Führung der NATO.

„Geografisch und organisatorisch war mit dem Austritt Frankreichs aus der militärischen Organisation eine riesige Lücke in die Verteidigungsstruktur gerissen worden. Eine Tiefe des Raumes, in dem eine flexible konventionelle Verteidigung hätte organisiert werden können, war nicht mehr gegeben. Die vielen Versorgungseinrichtungen, die die USA in Frankreich hatten, mussten zwangsläufig nach vorne, also näher an die potentielle Front verlegt werden. Die für die Verteidigung des Mittelabschnitts verantwortlichen NATO-Oberbefehlshaber konnten mit den französischen Ressourcen, insbesondere über das in Südwestdeutschland stationierte ehemalige französische NATO-Kontingent, nur sehr eingeschränkt disponieren. Die Kräfte konnten allenfalls noch als eine Art strategischer Reserve mit vielen Fragezeichen in die Planungen einbezogen werden.“ (21)

Durch den Austritt Frankreichs erhöhte sich die Bedeutung der BRD als Frontstaat, aber auch als zentrales NATO-Gebiet und verlässlicher US-Verbündeter.

2.4. Vietnam-Krieg und Krise der imperialistischen Nachkriegsordnung

Indochina befand sich Mitte der 60er Jahre seit über 20 Jahren in kriegerischen Auseinandersetzungen, zuerst mit der Kolonialmacht Frankreich (1946-54), dann zwischen dem Norden und dem Süden, von den USA protegiert wurde. 1965 traten die USA in den Krieg ein, wobei sie den von ihnen selbst provozierten „Zwischenfall im Golf von Tonking“ als Anlass nahmen. Der Krieg endete 1975 mit einer Niederlage der USA.

1995 gab die vietnamesische Regierung Zahlen über die Kriegsopfer frei. Demnach waren insgesamt eine Million vietnamesische KämpferInnen und vier Millionen ZivilistInnen auf beiden Seiten im Krieg getötet worden.

Die US-Imperialisten verzeichneten „58.193 Mann als Verluste. Fast 45.000 von ihnen wurde nicht älter als 25, ein knappes Drittel davon war zum Zeitpunkt ihres Ausfalls 20 Jahre alt. Direkt von Feindeinwirkung wie Beschuss, Verwundung, Vermisstenstatus waren 47.000 betroffen. Auf besonders starken Widerstand trafen die Streitkräfte der USA in den Jahren 1967 bis 1969, in denen 39.300 (…) Soldaten fielen. Insgesamt verloren die Vereinigten Staaten nach Kriegsende durch Spätfolgen über 60.000 weitere ehemalige Soldaten durch traumatisch bedingte Selbstmorde. Das bedeutet mehr Tote als im Krieg selbst. Über 40.000 Veteranen wurden während ihrer Dienstzeit in Vietnam heroinsüchtig, 330.000 wurden einerseits wegen der Demobilisierung, andererseits wegen der politischen Lage und der psychischen Spätfolgen, arbeitslos. 1972 saßen über 300.000 Veteranen in Gefängnissen ein, weil sie aus den genannten Gründen straffällig geworden waren und es ihnen nicht gelungen war, wieder in das zivile Leben zurückzufinden.“ (22)

Mit den Niederlagen auf Kuba und in Vietnam, der Schwächung der NATO-Strukturen, dem Einsetzen der Überakkumulationskrise in den 70er Jahren und der Krise des Bretton-Woods-Systems wurden die 1970er insgesamt zu einem Krisenjahrzehnt der US-Hegemonie. Weltweit entwickelten sich Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre revolutionäre oder vorrevolutionäre Situationen auch in NATO-Staaten oder deren Verbündeten (z.B. Portugal, Spanien, Griechenland, Frankreich). In dieser Situation wurden speziell die Sozialdemokraten zu einem wesentlichen Faktor der Stabilisierung des imperialistischen Systems und der konterrevolutionären Lösung dieser Krisen. Spätestens seit dieser Zeit sind sie stolz auf ihre Lakaienposten in den Fluren der NATO. Ihre „große Zeit“ kam in den 70er Jahren, als sie zu Brokern der „Entspannungspolitik“ werden sollten.

2.5. Wettrüsten, Abrüstung, Nachrüstung

Das Rückgrad der NATO im Kalten Krieg bildeten die Atomstreitkräfte der USA, in geringerem Maß auch die Britanniens und Frankreichs. In den 50er Jahren beruhte die NATO-Militärstrategie auf der „Option des atomaren Erstschlags“. Den vorgeblich zahlenmäßig überlegenen konventionellen Truppen des Warschauer Paktes sollte dieser Doktrin zufolge der Einsatz verheerender „taktischer“ Atomwaffen entgegengestellt werden, welche die UdSSR von einem weiteren Vormarsch abschrecken sollten. Tatsächlich diente diese „Erstschlagskapazität“ durchaus offensiven Zielen und wurde von der Sowjetunion mit Recht als unmittelbare Bedrohung gesehen.

Entsprechend antwortete die UdSSR mit der Entwicklung und Aufstellung eines großen Arsenals „strategischer“ Atomraketen. Dies waren zunächst Interkontinentalraketen, später vermehrt atomgetriebene U-Boote als Raketenabschussbasen. In den 1960ern entwickelte sich so ein gewaltiges „Wettrüsten“ auf der Ebene von atomaren Langstreckenwaffen. Der jeweilige Angreifer sollte selbst im Falle eines Erstschlags mit der Vergeltung durch die „totale Auslöschung“ seines Staatsgebietes rechnen müssen. Es gab Berechnungen, wie oft der gesamte Planet mit den vorhandenen Atomwaffen vernichtet werden könne.

Sowohl die ökonomisch-politischen Probleme von Imperialismus und Stalinismus, als auch die wachsende strategische Unsinnigkeit dieser Overkill-Kapazitäten zwangen NATO und Warschauer Pakt am Ende der 60er Jahre zu ersten „Abrüstungsverhandlungen“ (SALT-I zu strategischen Atomwaffen). Tatsächlich wurden Anfang der 70er Jahre gewisse Beschränkungen vereinbart und der ABM-Vertrag zum Verbot von Raketenabwehrsystemen unterzeichnet, der bezeichnenderweise 2002, also nach Ende des Kalten Krieges, von den USA gekündigt wurde.

Die ökonomischen Probleme im Ostblock, die dort in den 70er Jahren einsetzenden Marktreformen und Liberalisierungen wurden gleichzeitig genutzt, um eine allgemeine „Entspannungspolitik“ einzuleiten. Während die UdSSR im Rahmen der „friedlichen Koexistenz“ keinen Finger zur Unterstützung der Revolutionen in Chile oder Portugal rührte, konnte der Imperialismus über seine wirtschaftlichen Hebel in den osteuropäischen Ländern immer mehr an Einfluss gewinnen. Dies wurde gerade auch durch solche Instrumente der „Entspannung“ wie die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) auch auf ideologisch-politischer Ebene verstärkt (z.B. durch den „Helsinki-Prozess“).

Die sich verstärkenden zentrifugalen Tendenzen in den degenerierten Arbeiterstaaten führten Ende der 70er Jahre zum Gegensteuern durch den anti-restaurationistischen Flügel der Bürokratie. Deutlichstes Zeichen dafür war die Ersetzung der alten taktischen Mittelstreckenraketen in Osteuropa durch die moderneren SS 20-Raketen. Mit diesen Waffen konnten die taktischen Erstschlags-Raketenrampen der NATO in Westeuropa zielgenau präventiv zerstört werden. Dies wurde von den NATO-Strategen als direkte „Kriegserklärung“ angesehen. Genauso wurde der sowjetische Einmarsch 1979 in Afghanistan gesehen, der die dortige Volksfrontregierung retten sollte. Endgültig war der Kalte Krieg mit den Ereignissen in Polen Anfang der 80er Jahre wieder voll entbrannt, die „Entspannung“ war vorbei.

Auf der anderen Seite kamen mit Reagan und Thatcher in den USA und Britannien wieder die offenen Kalten Krieger ans Ruder. Längst hatte man auch in der NATO während der 70er Jahre einen Strategiewechsel, weg von der „Abschreckung durch wechselseitige Vernichtung“, geplant.

So entwickelte der Pentagon-Berater Colin S. Gray die Option eines „führbaren Atomkriegs“ unter dem Motto „Victory is possible“. Eine Kombination von modernen Lenkwaffensystemen, zielgenauen Mittelstreckenraketen und einem Raketenabwehrsystem (SDI) sollte den atomaren Überraschungsschlag möglich machen: mit der sogenannten „Enthauptungsstrategie“ (einem Vorläufer der späteren „chirurgischen Schläge“) sollten die Kommando- und Kommunikationsstruk-turen des Warschauer Pakts zerschlagen werden, um dann den Rest mit konventionellen Mitteln erledigen zu können. Grays Konzept nahm den Tod von Millionen Menschen, insbesondere in Europa, in Kauf.

Als Kompromiss mit den „Entspannungspolitikern“ wurde die neue Strategie in die Form des „Doppelbeschlusses“ gefasst, der von der NATO am 12.12.1979 getroffen wurde. Einerseits wurden Verhandlungen zur Begrenzung der Mittelstrecken in Europa angeboten, andererseits wurde für den Fall des Scheiterns dieser Verhandlungen die Stationierung von Pershing II-Raketen und von Cruise Missiles angedroht. Wie nicht anders zu erwarten, scheiterten die Verhandlungen. Die NATO-Unterhändler hatten eine solches auch bewusst provoziert, z.B. sie darauf bestanden, die französischen und britischen Mittelstreckenraketen aus dem Verhandlungspaket heraus zu nehmen, also nicht als gegen den Warschauer Pakt gerichtete Waffen zu zählen.

In ganz Europa fanden Massenproteste gegen die offensichtlich immer aggressivere NATO-Strategie zur Führbarkeit von Atomkriegen statt. Der Höhepunkt in Deutschland war der Protest der 500.000 im Hofgarten in Bonn am 22.10.83. Insgesamt protestierten an diesem Tag 1,3 Millionen Menschen in der Bundesrepublik. Nur einen Monat später stimmte der Bundestag der Stationierung zu – bis Ende 1983 waren bereits 9 der 108 geplanten Pershing II u.a. in Mutlangen einsatzbereit.

Nur wenige Jahre danach zwangen die wachsenden ökonomischen Probleme der UdSSR den wieder auf „Entspannung“ getrimmten Gorbatschow zu einem Einknicken gegenüber dieser aggressiven NATO-Politik. Gorbatschow schlug bereits 1985 Verhandlungen zu den Mittelstreckenraketen in Europa vor. Wie in Afghanistan musste die UdSSR auch hier den Rückzug antreten. Am 8.12.1987 wurde mit dem INF-Vertrag der Abbau aller Mittelstreckenraketen in Europa zwischen der UdSSR und den USA vereinbart. Die Niederlage der UdSSR im Kalten Krieg begann sich eindeutig abzuzeichnen.

Doch auch das Ende des Kalten Krieges bedeutet mitnichten, dass die USA auf ihr gewaltiges Atomwaffenarsenal verzichteten. Bis heute wurde jegliche Initiative zur atomaren Abrüstung vom Pentagon brüsk abgewiesen. Stattdessen werden neue Atomstrategien ausgedacht: einerseits soll weiterhin mit Mininukes Atomkrieg im „taktischen“ Rahmen möglich sein; andererseits sollen durch „Raketenschirme“ andere Atommächte ihrer Abschreckungsmacht beraubt werden. Weiterhin ist es ein Hauptanliegen der US-Sicherheitspolitik, die unumschränkte Atommacht Nummer eins zu sein, die missliebige neue Atommächte mit allen Mitteln zu verhindern trachtet.

2.6. Zwischenresümee 2

• Der Kalte Krieg wie die Nachkriegsordnung sind untrennbar mit der Funktion der NATO zur Sicherung der imperialistischen Gesamtinteressen unter US-Vorherrschaft verbunden.

• Der Kalte Krieg und die Festigung des Stalinismus in Osteuropa, der Sowjetunion und China kosten zwar wichtiges Territorium für den kapitalistischen Weltmarkt. Die Rolle der herrschenden Bürokratenkasten bedeutet jedoch nicht nur eine Ausschaltung jeder Arbeiterdemokratie im Inneren und damit langfristig Stagnation, sondern aufgrund der Politik der „friedlichen Koexistenz“ eine Stabilisierung der Weltordnung durch die Anerkennung des „Status quo“ mit den Imperialisten.

• Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie verschmelzen eng mit dem bürgerlichen Staatsapparat und werden zu aktiven Verteidigern der NATO und der dahinter liegen imperialistischen Interessen im Namen der „Verteidigung der Demokratie“.

• Durch die Kubanische Revolution, den Vietnamkrieg und die antikapitalistischen und anti-imperialistischen Massenbewegungen wird diese Vorherrschaft des Imperialismus auch im Kalten Krieg massiv herausgefordert und mit der Niederlage in Vietnam und durch die Bewegungen nach 1968 in Frage gestellt. Die US-Vorherrschaft bekommt ökonomische wie auch politische Risse. Vietnam demonstriert, dass der Gigant besiegt werden kann.

• Für das Überleben der reaktionären Ordnung und ihrer Institutionen sind daher nicht nur die bis zur äußersten  Konsequenz getriebene reaktionäre und mörderische Praxis von NATO und anderen imperialistischen Institutionen zentral. Auch die internationale Rolle der bürgerlichen, imperialistischen Agenturen in der Arbeiterbewegung – Sozialdemokratie und Stalinismus – ist ein wichtiger Teil zur Verteidigung der globalen Ordnung gegen revolutionäre Kämpfe der Arbeiterklasse und der Befreiungsbewegungen.

• Nachdem diese ihre konterrevolutionäre Schuldigkeit getan haben, reagieren die Imperialisten durch eine geänderte NATO-Strategie unter Reagan – eine Offensive gegen die ökonomisch ohnedies angeschlagene Sowjetunion und die Arbeiterbewegung. Die Friedensbewegung und die von ihren Führungen geschürten pazifistischen Illusionen und die gesamte „Abrüstungspolitik“ erweisen sich als utopische Konstruktionen, die in die Niederlage führen und die Umsetzung der Hochrüstungspolitik nicht stoppen können.

3.1. Der Zusammenbruch des Stalinismus und die NATO

Der Verfall und der Zusammenbruch der stalinistischen Bürokratien Ende der 80er Jahre bedeutete auch das Ende des Warschauer Pakts. Dieser hatte der Bürokratie viele Jahrzehnte als atomarer Schutzschild gegen den US-Imperialismus gedient, wie auch als Mittel zur Unterdrückung sozialer und politischer Aufstände in der DDR 1953, in Ungarn 1956 und in der CSSR 1968. Die „gewendeten“ Regime Mittel- und Osteuropas suchten den Anschluss an den Westen, verließen den Warschauer Pakt, am Ende standen nur die Vertreter der GUS-Staaten mit dem Erbe der sowjetischen Rüstung und mehr als 20.000 Atomsprengköpfen.

Der Westen und somit auch die NATO standen als Sieger da, die stalinistische Bürokratie war durch die ArbeiterInnen Osteuropas besiegt worden, aber diesen mangelte es zugleich an einer politischen Führung, die die Klasse zu einer erfolgreichen politischen Revolution hätte führen können.

So konnte der Imperialismus im Bund mit den restaurationistischen Kräften innerhalb und außerhalb der Staatsbürokratie den Sieg davon tragen und bürgerlich restaurationistische Regierungen etablieren, die den Kapitalismus wieder einführten und die Länder in den kapitalistischen Weltmarkt reintegrierten. Die DDR wurde direkt ins Staatsgebiet der BRD inkorporiert.

Bezüglich der NATO-Mitgliedschaft eines „vereinigten“ Deutschlands gab Gorbatschow dem westdeutschen Imperialismus rasch freie Hand, 1990 war das erste ehemalige Mitglied des Warschauer Paktes in die NATO „eingetreten“. Die stalinistische Bürokratie ließ sich im Gegenzug den Abzug ihrer Truppen aus der DDR bezahlen, die Aufgabe der vormaligen Frontlinie brachte ihr 14 Mrd. D-Mark – ein Schnäppchen für die BRD und die NATO.

So rasch, wie der westdeutsche Imperialismus die DDR übernahm, so rasch zerfielen auch die UdSSR und später Jugoslawien.

Ähnlich wie in der DDR markiert das Jahr 1989 in ganz Osteuropa und der Sowjetunion die Todeskrise des Stalinismus, der Herrschaft der bürokratischen Kaste über die degenerierten Arbeiterstaaten.

Dahinter stand eine grundlegende ökonomische Krise der bürokratisch gelenken Planwirtschaften, die seit den 1970er Jahren in eine Periode der Stagnation eingetreten waren, als sich die Herrschaft der Bürokratie zunehmend als absolutes Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte dieser Länder erwies. Planwirtschaft ohne politische Herrschaft der Arbeiterklasse, ohne demokratische und offene Diskussion über Prioritäten, Ziele, Organisation und Umstrukturierung der Produktion im Interesse der ProduzentInnen, also der Gesellschaft, ist letztlich zur Stagnation und zum Untergang verdammt.

Die Rezepte der Bürokratie, dieses Problem zu lösen, verschlimmerten die Situation mittel- und langfristig. Etliche Staaten verschuldeten sich zunehmend am Weltmarkt (z.B. Polen, Jugoslawien, Rumänien). Auch die DDR musste mehr und mehr für Devisenbeschaffung aufwenden. Andererseits öffneten die Bürokratien die Planung immer mehr „marktwirtschaftlichen Anreizen“ oder sicherten diese überhaupt nur indirekt über das Banken- und Kreditsystem (z.B. Jugoslawien). Umgekehrt waren auch die strikt „reformfeindlichen“ Bürokratien keineswegs in der Lage, eine Alternative zu bieten, sondern wirtschafteten gleichermaßen ab.

Die Herrschaft der Bürokratie erwies sich als gesellschaftliche Sackgasse. Die Einheit der Kaste selbst zerfiel entlang politischer, sozialer und nationaler Linien.

Zugleich erwies sich die Arbeiterbewegung als unfähig, selbst eine politische Alternative zur stalinistischen Planwirtschaft und zur kapitalistischen Restauration durchzusetzen – trotz heroischer Massenkämpfe wie in Jugoslawien in den 80er Jahren, in Rumänien oder bei den Massenbewegungen in vielen anderen Ländern.

Die antibürokratischen Massenbewegungen wurden daher rasch demobilisiert oder deren Führungen gemeinsam mit großen Teilen der Bürokratie in die kapitalistische Restauration inkorporiert.

Zugleich nahm in vielen Ländern der Nationalismus zu. Der westliche Imperialismus stürzte sich geeint auf die neuen Märkte, predigte überall Volk, Nation und Unabhängigkeit. Freiheit und Demokratie und Marktwirtschaft stand über allem – die Konterrevolution erfasste alle Staaten Mittel-, -Ost und Südosteuropas, wenn auch generell unter dem Banner der demokratischen Konterrevolution.

Dieser politisch-ökonomische Siegeszug des Westens wurde 1990 noch durch den ersten Irakkrieg unter US-amerikanischer Führung ergänzt. Offiziell wurde das Emirat Kuwait von der irakischen Besatzung sogar unter UN-Mandat befreit. Diktator Saddam Hussein hatte den Nachbarn aufgrund verkaufter Schuldscheine in Milliardenhöhe besetzt und hatte bis dahin – wie zuvor bei seinem siebenjährigen Krieg gegen den Iran – meist Rückendeckung durch den US-Imperialismus.

Die wichtigsten Truppensteller der imperialistischen Aggression waren NATO-Staaten, der größte Geldgeber war der NATO-Staat BRD. Hier konnte sich der westdeutsche Imperialismus noch ein letztes Mal von seinen militärischen Pflichten freikaufen.

US-Präsident Bush sen. brachte die Neuausrichtung des US-Imperialismus im Begriff „New World Order“ (NWO) zum Ausdruck – der neuen Epoche US-amerikanischer Herrschaft. Als neue Bedrohungen wurden damals die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, „asymetrische Kriege“ in „failed states“ und der globale Terrorismus genannt, damals meist im Zusammenhang mit kolumbianischen Drogenbaronen. Gleichzeitig wurde den neu entstehenden osteuropäischen Staaten und der zerfallenden UdSSR deutlich gemacht, dass die NATO unter US-Führung die einzig verbliebene „Sicherheitsmacht“ auf dem Globus ist. Der US-Imperialismus wurde „Weltpolizist“ zur Durchsetzung seiner Interessen, dafür mussten auch die internationalen imperialistischen Institutionen verändert werden.

3.2. Osterweiterung und neue strategische Ausrichtung

Während der 90er Jahre veränderte sich der politische Charakter der NATO grundlegend vom „nord-atlantischen“ Verteidigungsbündnis zur global handelnden präventiven Eingreiftruppe des US-Imperialismus und seiner Verbündeten. Was als „New World Order“ begann, mündete in einer neuen strategischen Erklärung der NATO im Jahre 1997 in Madrid, in der die NATO von nun an die gesamte Welt als Einsatzgebiet betrachtet, diese Einsätze auch ohne UN-Mandat führen kann und sich für diese Einsätze den Einsatz von Nuklearwaffen vorbehält.

Als Bedrohungsszenarien wurden ethnische Konflikte benannt, der Zerfall staatlicher Strukturen (failed states) und die Notwendigkeit einer „asymetrischen“ Kriegführung. Dabei geht die NATO davon aus, das es immer weniger Kriege mit klar überschaubaren Fronten geben wird und sich die Kampfhandlungen eher in Städten und Regionen abspielen werden, wofür die NATO flexible und schnell einsetzbare Kampftruppen braucht. Natürlich widerspiegelt diese Argumentation eine gewisse imperialistische Logik. Die Zahl der Staaten, die einen konventionellen Krieg gegen die USA/NATO-Truppen führen könnten, war arg geschrumpft und der Widerstand gegen Imperialismus und Krieg wird viel eher in den Städten bekämpft werden können als in der Wüste.

In diesen Jahren waren es die Konflikte in Ex-Jugoslawien, um Nagorny Karabach zwischen Armenien und Aserbeidschan und die blutigen Kämpfe in Tschetschenien, welche von den imperialistischen Politikern gern als Beispiele heran gezogen wurden. Dort herrschte Bürgerkrieg, hierauf musste sich auch die NATO vorbereiten. Der gescheiterte UN-Einsatz von Somalia 1992 zeigte auf, welche Einsätze der UN u.a. imperialistischen Institutionen bevor standen, solche Einsätze sollten unter „robustem“ Mandat geführt werden – dies bedeutet Kampfeinsatz.

Den mittel- und osteuropäischen Staaten stand eine Phalanx imperialistischer Institutionen gegenüber. Die neuen Staaten wurden sofort anerkannt, bekamen Sitze in UNO und OSZE. IWF und Weltbank lockten mit Reformprogrammen, die NATO und die EU (EG) mit Mitgliedschaften. Bis 2008 sind Polen, Ungarn, Tschechien, Bulgarien, Rumänien, Lettland, Litauen, Estland, Slowakei und Slowenien NATO-Mitglieder geworden. Bis Frühjahr 2009 sollen Kroatien, Mazedonien und Albanien folgen, mittelfristig die Ukraine und Georgien.

Die NATO hat einen Großteil der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten und Staaten der ehemaligen UdSSR aufgenommen und dehnt das Einflussgebiet bis in den Kaukasus und Zentralasien aus. Dabei besteht eine enge Kooperation zwischen der USA und der EU, welche beide über die Einflusssphären der NATO ihre Interessen umsetzten, die USA mit der Einkreisung der militärischen Regionalmacht Russland und die EU außerdem zur politisch-ökonomischen Unterwerfung neuer EU Mitglieder. Beide Mächte haben gemeinsame Interesse an den ehemaligen sowjetischen zentralasiatischen Republiken und wollen dort die Vorherrschaft Russlands brechen.

Diese strategische Ausrichtung steht für den umfassenden NATO-Angriffskrieg, sobald eine Bedrohung benannt ist. Für diesen Krieg müssen alle NATO-Mitgliedsstaaten ihre militärischen Einheiten reformieren, die Truppen auf schnelle internationale Kriegseinsätze vorbereiten. Explizit geht es um die Fähigkeit, dass die NATO binnen fünf Tagen weltweit Truppen in Stärke von bis zu 60.000 Soldaten stationieren und diese mit Luft- und Marinekräften zu kombinieren.

Die „Nato Response Force“ (NRF) wurde endgültig 2003 beschlossen und mit ihr auch Aufrüstungsverpflichtungen für die NATO-Staaten. Mit IWF-Krediten konnten dann amerikanische Rüstungsgüter verkauft werden und auch die EU begann, eigene rüstungspolitische Entscheidungen zu treffen. Seit der Einführung des Euro 2002 und der EU-Osterweiterung tritt auch die EU als geopolitischer Akteur auf, gestützt auf den größten kapitalistischen Binnenmarkt unter deutsch-französischer Führung. Sowohl, was die militärischen Kräfte (Flottenverbände, Eingreiftruppen, Kommunikationsstrukturen, Waffensysteme) als auch, was die politische Entscheidungsfähigkeit betrifft, ist die EU aber gegenüber dem US-Imperialismus weiterhin klar unterlegen. Sicherheits- und außenpolitisch steckt der ökonomische Riese EU noch in den Kinderschuhen, wie insbesondere die Sezessionskriege des ehemaligen Jugoslawiens zeigten.

3.3. Jugoslawienkrieg und die Besetzung des Kosovo

Entgegen den Friedensversprechen der US-amerikanischen und europäischen Imperialisten folgten den „Ende der Block-Konfrontation“ Jahre des blutigen Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien. Am Ende wurden die Sezessionskriege durch einen offiziellen NATO-Angriffskrieg unter US Führung und mit deutscher Beteiligung beendet. Der Vielvölkerstaat löste sich auf in Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien sowie dem besetzten Kosovo.

Nach der kapitalistischen Wiedervereinigung war die Regierung Kohl/Genscher auch beim Zerfall Jugoslawiens Vorreiter der westlichen imperialistischen Mächte mit der Anerkennung der Teilrepubliken Sloweniens und Kroatiens 1991. Ohne Absprache mit den Verbündeten war das Ende des Balkanstaates eingeläutet.

Deutsches und österreichisches Kapital standen bereit, um in die neuen Halbkolonien zu fließen und unterstützten die nationalistischen Regierungen im kurzen Kampf gegen die jugoslawische Armee. Die verschiedenen imperialistischen Staaten verfolgten hierbei keine einheitliche Strategie. Ein neuer Wettlauf um nicht erschlossene Märkte war entbrannt, die gewendeten Regime bekamen allerlei Zuwendungen der imperialistischen Staaten, je nachdem, wie viele Investitions- und Verwertungsmöglichkeiten das westliche Kapital in Aussicht hatte.

In Ex-Jugoslawien war die blutige Saat von Nationalismus und Rassismus nach 1990 voll aufgegangen. Ethnische Säuberungen durch Kroatien gegen die Serben in der Kraijna, Angriffe serbischer faschistischer Milizen auf muslimische Städte und Dörfer – die bürgerlichen Versprechungen von Demokratie, Freiheit und Wohlstand für alle nach 1990 zerplatzten in einem  blutigen Bürgerkrieg in der Mitte Europas.

Zur vollständigen Zerschlagung Jugoslawiens war der bosnische Bürgerkrieg nur ein Zwischenschritt, für die weitere Ausrichtung der NATO aber entscheidend. Der gescheiterte Einsatz der UN-Blauhelme in Bosnien-Herzegowina gehört zu den schändlichsten Kapiteln der heuchlerischen UN-Politik. Für lange Zeit wird der Name Srebrenica beispielhaft sein für gescheiterte UN-„Missionen“. Der Krieg richtete sich „unter Beobachtung der UN“ unbeeindruckt und verstärkt gegen die muslimischen Regionen, Kroatien und Serbien wollten Gebiete von Bosnien abspalten und hatten zum einen den Westen und zum anderen Russland im Rücken. Mitten in Europa wurde erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder ein offener Stellvertreterkrieg geführt. Der UN-Einsatz in Bosnien war gescheitert und täglich konnte die Weltöffentlichkeit die gewollte Ohnmacht der europäischen Staaten mitverfolgen, ebenso wie die Errichtung von Internierungslagern in Bosnien und das fortgesetzte Töten.

Im Abkommen von Dayton wurde schließlich die Teilung von Bosnien-Herzegowina festgeschrieben, Kroaten und Serben bekamen ihre autonomen Teilrepubliken, die seither eher den benachbarten Staaten Kroatien und Serbien unterstellt sind und nicht dem „souveränen“ Bosnien.

Mit dem US-geführten Angriffskrieg von 1999 hat die NATO ihre Transformation zur weltweit eingreifenden direkten Kampftruppe ohne UN-Mandat vollzogen, den Erklärungen und strategischen Bestimmungen folgte nun die Tat: der Krieg gegen Rest-Jugoslawien und die Besetzung des Kosovo.

Offiziell fügte sich die Rechtfertigung für den Angriff gut in die Rhetorik der 1990er. Die Unterdrückung der AlbanerInnen im Kosovo diente als Rechtfertigung zum Angriff der NATO-Staaten zur „Befreiung“ und schließlichen Besetzung des Landes, zuerst durch die NATO, später durch die EU.

Die albanische Untergrundarmee UCK, ursprünglich eine pro-albanische, hoxaistische Organisation, wurde von den USA u.a. Imperialisten zum Verbündeten und im Krieg und bei der folgenden Besatzung umgepolt. Auch solche Methoden gehören zur asymetrischen Kriegführung.

Wir wollen hier nicht auf die „Holocaust“ Argumentationen der damaligen rot-grünen Bundesregierung eingehen, sondern vielmehr auf den Begriff „humanitäre Intervention“. Unter diesem Begriff predigte Außenminister Joschka Fischer (GRÜNE) das Hohelied des ersten deutschen Angriffskrieges seit 1945 und auch zahlreiche NATO-Spitzen und Wissenschaftler begründeten diesen neuen Begriff als „friedenssichernden und -erzwingenden“ Einsatz. Krieg wurde neu definiert, und zwar als Beendigung einer Bedrohung, die festgestellt werden muss – um dann potenzielle Opfer vor dem potenziellen Krieg durch einen militärischen Einsatz zu schützen, eine Art vorsorgliche imperialistische Schutzhaft.

Der Einsatz in Ex-Jugoslawien wurde im Nachhinein von der UNO abgesegnet. Bis zum Krieg hatten Russland und China dies verhindert. Die NATO hatte ihren ersten Kampfeinsatz in Europa nach 1990 und zerschlug somit den letzten Teil des ehemaligen Vielvölkerstaates Jugoslawien.

Seit 1999 dient Kosovo neben Bosnien der NATO als Standbein auf ehemals jugoslawischem Staatsgebiet. Von Unabhängigkeit oder Selbstbestimmung der KosovarInnen kann keine Rede sein. Das Kosovo bleibt ein NATO- bzw. EU-Protektorat.

Speziell die deutsche Rhetorik beim Krieg von 1999, die „humanitäre Mission“ der Bundeswehr zum Schutz der unterdrückten Minderheit war die imperialistische Ideologie (nicht nur) der „Berliner Republik“, sondern auch der US-Außenpolitik unter Clinton. War die Regierungspartei Bündnis90/die Grünen noch mit dem Ziel der Abschaffung der NATO in den Bundestagswahlkampf 1998 gezogen, so sollte nun Deutschland „Verantwortung“ übernehmen und in einer „humanitären Intervention“ helfen – das ist „grüner“ Imperialismus.

In diese Zeit fällt auch der Startschuss für den Aufbau europäischer Sicherheitsstrukturen. Ohne die USA wäre ein Krieg auf dem Balkan nicht möglich gewesen. Nun setzte sich die EU das Ziel, solche Einsätze bald selbst durchführen zu können. Am Anfang wurde dies auch von den USA unterstützt, sie hofften auf Entlastung und keine weiteren Einsätze in Europa, damit die amerikanischen Truppen ausschließlich den globalen US-Interessen dienen könnten.

Doch der Jugoslawienkrieg ab 1990 zeigt die kommenden Perspektiven: Angriffskrieg nach selbst definierter Bedrohungslage, verschiedene Bündnispartner zur Durchsetzung imperialistischer Interessen, weitere Aufrüstung und Herausbildung zweier imperialistischer Blöcke, USA und EU.

Der Kosovo stellte 1999 den Abschluss der Kriege im Gefolge des Zusammenbruchs des Stalinismus dar. Seit dem 11.9. 2001 trat eine neue Rechtfertigungsideologie in den Vordergrund.

3.4. Die NATO und der „Krieg gegen den Terrorismus“

Mit den Anschlägen vom 11.9.2001 auf das WTC und das Pentagon trat der erste „Bündnisfall“ in der NATO-Geschichte ein. Die USA definierten drei abgestürzte Flugzeuge als feindlichen Angriff, als Krieg. Somit waren die NATO-Verbündeten zur Militärhilfe verpflichtet. In Art. 5 des Washingtoner Vertrags der NATO gilt der Bündnisfall, wenn ein Mitgliedsland von außen, d.h. von einer anderen, „fremden Armee“ angegriffen wird und Kampfhandlungen auf dem Territorium des Mitgliedsstaates stattfinden.

Nach dem 11.9. gelten nun abgestürzte Flugzeuge als militärische Kampfhandlung, die Toten wurden als „Kriegsopfer“ bezeichnet. Was fehlte, war ein „Gegner“. Dieser wurde in Person Bin Ladens und seiner Gruppe Al-Qaida nachgereicht. Sie wären eine „terroristische“ Vereinigung, welche sich in Afghanistan aufhalten würde und den Schutz der dortigen Machthaber, der „Taliban“ genießen würden.

Krieg gegen „Terrorismus“ ist keine neue Vokabel des US-Imperialismus, schon Bush sen. führte unter diesem Motto Krieg in Kolumbien. Damals sollten die Drogenkartelle von Medellin militärisch besiegt werden und Mittel für die Bekämpfung der FARC bereitgestellt werden. Das waren die „Terroristen“ der frühen 90er.

2001 war der Gegner nun der globale „islamistische Terrorismus“, welcher sich der Vernichtung aller christlichen „Kultur“ und des Staates Israel verschrieben hätte. Diese „Fundamentalisten“ würden die Selbstmordattentäter ausbilden, die dann als „Schläfer“ mitten unter uns sind – binnen kürzester Zeit wurde ein rassistisches Feindbild zusammen gebastelt. Dieses dient bis heute für jeden Krieg nach außen, genau wie für jede Repression nach innen als Legitimation.

Der US-Imperialismus rief den globalen „Krieg gegen den Terrorismus“ aus. Zur Bekämpfung dieser Gefahr müssten alle Mittel eingesetzt werden, vor allem alle militärischen Mittel. Bin Laden und Al Qaida passten dabei perfekt in das Bild der asymetrischen Kriegsführung und zu den neuen Anforderungen, auf die sich USA und NATO seit 1990 vorbereitet hatten. Al Qaida war eine international tätige terroristische Vereinigung, ihr Wirken konnte allen islamisch geprägten Staaten angehängt werden.

Der US-Imperialismus ließ nur eine Fragestellung zu – seid ihr mit oder gegen uns? Bush jun. präsentierte der Weltöffentlichkeit seine intimen Kenntnissen von „Gut und Böse“, die verbündeten imperialistischen Partner konnten nur ihre „bedingungslose Solidarität“ (Ex-Kanzler Schröder) erklären, Pakistan musste unter der Drohung, selbst in die „Steinzeit zurückgebombt zu werden“, schleunigst seinen Luftraum für die US-Luftwaffe öffnen. Zu diesem Zeitpunkt bekam der US-Imperialismus freie Hand. Ein Jahrzehnt Konterrevolution und Wirtschaftswachstum hatte die Weltmacht gestärkt. Nach Aussagen der US-Strategen Cheney und Wolfowitz war es nun Zeit für eine „Pax Americana“. Im „Cheney Report“ von 2000, eine generelle strategische Analyse für Präsident und Stab, wurden die wichtigsten Ziele zur Durchsetzung einer „Pax Americana“ genannt:

• Strategische Unterwerfung und Kontrolle aller Erdölregionen der Erde, d.h. des persischen Golfes, Zentralasiens und der Küsten Afrikas (speziell der Westküste);

• Dabei dienen alle US-kontrollierten Institutionen wie NATO und IWF, zur Durchsetzung eines globalen Regimes unter US-Führung;

• Weitere strategische Kontrolle über die imperialistischen Konkurrenten EU und Japan und Eindämmung und Kontrolle der Regionalmächte Russland, China und Indien.

Ideologisch begleitet wurde der imperialistische Feldzug durch allerlei rassistisches „Werte“-Geschwätz, hier die glitzernde Demokratie und Freiheit und dort die reaktionären Islamisten mit ihrer Unterdrückung und Armut. Von Huntingtons „Kampf der Kulturen“, der bürgerlichen „akademischen“ Hetzschrift zum Krieg gegen den islamischen Raum, bis zu „betroffenen“ ehemaligen Frauenrechtlerinnen wie Alice Schwarzer, die jeden Rassismus gegen den arabischen Mann unterstützt – brachten Bourgeoisie und Staat alles in Stellung für den „Krieg gegen den Terrorismus“.

Schon 2001 verkündete US-Präsident Bush, dass „niemand wisse, wie lange ein solcher Krieg gehen würde“ – der perfekte imperialistische Krieg, immer kann ein neuer Gegner in einem neuen Staat auftauchen. Waren es gestern die Taliban in Afghanistan und Saddam Hussein im Irak, so sind es heute die Hizbollah im Libanon oder die Hamas im Gaza-Streifen und morgen vielleicht der Iran oder der Nordwesten Pakistans.

Die erste NATO-Mission zum „Krieg gegen den Terrorismus“ heißt bis heute „Operation enduring freedom“. Dies soll soviel wie „einsetzende Freiheit“ heißen, hat aber seit 2001 das Gegenteil eingeläutet, nämlich permanenten Krieg mit wechselnden Gegnern. In die erste Mission des neuen Jahrtausends ging die imperialistische Allianz noch geschlossen: in den Krieg gegen Afghanistan, gefolgt bzw. begleitet von der bis heute andauernden NATO-Besatzung durch die ISAF-„Schutztruppe“.

Offizielles Ziel ist es, die Al Qaida-Führer zu töten oder zu verhaften, die islamistischen Taliban zu stürzen und dem Volk „Demokratie und Freiheit“ zu bringen. Die GRÜNEN-Fraktionsvorsitzende Roth meinte damals gar, der Krieg würde für die Frauenrechte geführt.

3.5. 2001: Angriffskrieg und Besetzung Afghanistans

Ähnlich dem vorhergehenden Angriffskrieg gegen Jugoslawien fand der US-Imperialismus willige örtliche Milizen. In Afghanistan war es die „Nordallianz“. Diese hatte bis 1993 in Kabul geherrscht, konnte sich bis 2001 aber nur noch in einigen entlegenen tadschikischen Provinzen halten. Ihr Führer war im August 2001 von den Taliban getötet worden, nachdem dieser erfolglos im Westen um finanzielle und militärische Unterstützung angefragt hatte. Binnen kürzester Zeit befand sich der afghanische Luftraum unter US- und britischer Kontrolle. Die Taliban hatten dem nichts entgegen zu setzen, nachdem Pakistan seinen Luftraum dem Imperialismuszur Verfügung gestellt hatte. Viele Jahre lang hatten wichtige Kreise in Pakistan, u.a. der Geheimdienst ISS die Taliban im Nachbarland unterstützt, und sich so auch die Kontrolle über den Nachbarn gesichert. Ebenfalls unterstützten die reaktionären islamisch-sunnitischen Gruppierungen Pakistans den Taliban-Staat und sahen diesen als Leitbild an – gerade auch gegenüber der schiitischen islamischen Republik Iran, die 2000 sogar Kriegsdrohungen aus Afghanistan erhielt.

Die Nordallianz, welche zumeist aus Tadschiken, Turkmenen und Usbeken bestand, wurde massiv aufgerüstet. Noch vor Ende des Jahres war Kabul von den Taliban „befreit“ und der US-Imperialismus feierte den ersten „Sieg“ gegen den Terrorismus. Während des Krieges wurden auch die beiden Spielarten des westlichen Imperialismus vorgeführt, die auch die nächsten Jahrzehnte bestimmen werden: einerseits der „gut oder böse“-Angriffskrieg mit einem Regierungswechsel als Zielvorgabe, andererseits der „humanitäre“ Einsatz zur Friedenssicherung mit gleichzeitiger Politikberatung und zivilem „Regime Change“ – „geschmückt“ mit Schulneubauten und der Einweihung von Brunnen.

Ganz praktisch besteht auch heute noch eine Spaltung der beiden Afghanistan-Einsätze, einmal der OEF-Kriegseinsatz von USA und GB besonders im Süden und Osten des Landes und der ISAF-Schutztruppeneinsatz anderer NATO-Staaten. Dabei kommt den ISAF-Truppen der Job einer militärisch-zivilen Pioniertruppe zu, zum einen mit Patrouillen-, Aufklärungs- und Kampfeinsätzen und zum anderen durch Ausbildung afghanischer Soldaten und der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung in den Städten des Landes.

Besonders der deutsche Imperialismus rühmte seinen Afghanistan-Einsatz immer als „humanitäre“ Mission, bei der es um Wiederaufbau und Herstellung von Staatlichkeit und Infrastruktur gehe und weniger um einen direkten Kampfeinsatz. Diese Heuchelei wurde durch die Zunahme der Kämpfe im Jahr 2008 ad absurdum geführt. Inzwischen spricht selbst Kriegsminister Jung von einem „Kampfeinsatz“. Auch die Besatzungstruppen befinden sich im offenen Krieg gegen den afghanischen Widerstand.

Im Jahr 2008 starben in Afghanistan mehr US-Soldaten als im Irak. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn auch der neue US-Präsident Obama mehr Einsatz der Verbündeten in Afghanistan fordert. Gerade aufgrund der Nachbarstaaten Iran und Pakistan ist Afghanistan strategisch unverzichtbar für den US Imperialismus – in Pakistan herrscht in vielen Regionen schon heute Bürgerkrieg. Dieser US-Vasall droht im Bürgerkrieg zu versinken, schon heute gibt es gemeinsame Militäraktionen mit den USA speziell im Nordwesten Pakistans und in Waziristan.

Während die USA mit Pakistan einen wichtigen Stützpunkt in der Region verlieren könnten, bedrohen sie weiterhin die Regionalmacht Iran. Militärisch ist der Iran eingekreist: von US-Truppen in den Golfstaaten, im Irak und in Afghanistan.

Seit 2001 besetzt die NATO Afghanistan als Protektorat. Ein neuer Präsident wurde eingesetzt und die ISAF-Truppen sind in den wichtigsten Regionen und Städten stationiert. Sie schützen dort jene lokalen Autoritäten, die Präsident Karsai unterstützen, bilden eine neue afghanische Armee und Polizei aus und sichern den westlichen Unternehmen den Marktzugang. Ähnlich dem Kosovo übernehmen die Besatzungstruppen eine Reihe der staatlichen Aufgaben, wobei in einigen Apparaten Teile der örtlichen Elite mitwirken dürfen und somit alle „modernen“ Aspekte staatlicher Unterdrückung lernen sollen, neue Foltermethoden ebenso wie die steuerliche Erfassung der Bevölkerung.

Auch in den angrenzenden Staaten baut die NATO Stützpunkte, z.B. die Bundeswehr einen Flughafen in Usbekistan, also auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR. Diese Staaten Zentralasiens liegen im Fokus des Imperialismus. Speziell die Förderung der Gas- und Ölreserven von Turkmenistan bringt die westlichen Staaten untereinander in Konkurrenz, aber vor allem gegenüber Russland und China. Dort tummeln sich NATO-Berater, OSZE-Teams oder EU-Gesandte, um diese Staaten dem Imperialismus unterzuordnen. Welch verheerende Auswirkungen das hat, zeigte zuletzt Georgien, als sein nationalistische Präsident Sakaschwilli mit Unterstützung der USA einen Angriffskrieg gegen die abtrünnigen Provinzen Süd-Ossetien und Abchasien führte.

Der Afghanistan-Einsatz ist heute wieder das wichtigste Schlachtfeld für den US-Imperialismus. Doch dieser erste „Sieg“ droht nun zu einer kompletten Niederlage zu werden. Sollte dies geschehen, wäre die Position der USA in Zentralasien entscheidend geschwächt. Damit wäre auch der NATO-Einsatz gescheitert, der erste Einsatz in Zentralasien. In Afghanistan sind die USA und die EU gezwungen, gemeinsam den Widerstand zu unterdrücken. Eine gemeinsame Niederlage wäre auch eine strategische Niederlage gegenüber den Regionalmächten Russland, China, Indien und Iran. Während in Afghanistan die beiden imperialistischen Blöcke aneinander gekettet sind, fand der zweite imperialistische Angriffskrieg seit 2001, der Irakkrieg 2003, in veränderter Formation statt. Diesen Krieg führte das imperialistische Bündnis, in der Form der NATO nicht gemeinsam; es kam zu einer ersten politischen Spaltung innerhalb der NATO.

Diese Geschehnisse sind Anfang einer neuen Entwicklung innerhalb der NATO: dem Aufstieg der EU (unter der Führung Berlin-Paris) als international konkurrierender imperialistischer Block gegenüber den USA.

3.6. Irakkrieg und politische Spaltung des Bündnisses

Für den 11.9.01 hatten die USA den „Bündnisfall“ für sich reklamiert und konnten danach Krieg und Besatzung Afghanistans organisieren. Im Falle des Iraks 2003 war die Situation komplizierter. Am Ende der monatelangen Kriegsdrohungen gegen das Regime von Saddam Hussein stand die „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA und Großbritanniens, inklusive Italien, Spanien, Australien, Portugal, Polen, Südkorea oder auch El Salvador und Honduras – insgesamt ca. 40 Staaten.

Innerhalb der imperialistischen Staaten hatte es zuvor in UNO, NATO und EU starke politische Differenzen gegeben, an deren Ende sich eben die „Koalition der Willigen“ und andererseits die „Achse Paris – Berlin – Moskau – Peking“ gegenüber standen. Erinnert werden darf hier an die pazifistischen Wutreden eines Joschka Fischer auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2003 an die Adresse von Verteidigungsminister Rumsfeld und an den „Nein zum Irakkrieg“-Wahlkampf von Schröder 2002.

Gemeinsam mit Frankreich führte Deutschland einen kleinen imperialistischen Block, welcher zwar innerhalb von EU und NATO in der Minderheit war, aber durch das strategische Bündnis mit Russland und China die USA in der UNO blockieren und so auch die NATO lahmlegen konnte.

Das deutsche „Nein“ zum Irakkrieg war nur ein taktisches Nein, praktisch konnten die US-Truppen alle deutschen Stützpunkte für den Krieg nutzen, der Aufbau einer internationalen Allianz gegen den US-Angriffskrieg offenbarte jedoch eine Spaltung innerhalb der imperialistischen Staaten auf. Zwei NATO-Staaten scherten auch praktisch aus der militärischen Disziplin aus: Belgien sperrte seinen Hafen Antwerpen und die Türkei verweigerte die Eröffnung einer Front im Norden des Irak.

Die Geschichte dieses Krieges ist schnell erzählt. Nach vielen Tagen von „embedded“-Berichterstattung aus Panzern in der einsamen Wüste ist Bagdad erreicht, der Luftraum ist ab dem ersten Tag unter US-Kontrolle. Von Massenvernichtungswaffen, Elitesoldaten und Häuserkampf ist nichts zu sehen, stattdessen gibt es den Sturz eines Denkmals des Diktators und dessen Ende am Strick des Imperialismus. Jenseits dieses Glitzersieges entwickelte sich jedoch ein heftiger Widerstandskampf gegen die Besatzung, gepaart mit Bürgerkrieg – in bald sechs Jahren Krieg und Besatzung wurden mehr als 650.000 IrakerInnen getötet.

Aus der „Koalition der Willigen“ rekrutierten die USA Besatzungstruppen für den Irak. Am Anfang waren neben der USA und Großbritannien auch Polen, Italien und Südkorea beteiligt. Der irakische Staat wurde in Besatzungszonen aufgeteilt. In der US-Propaganda wurden Vergleiche zum Wiederaufbau Deutschlands und Japans nach dem 2. Weltkrieg gezogen, der Irak sollte in „Demokratie und Wohlstand“ geführt werden. Im Gegensatz zu den historischen Beispielen wurden im Irak die alten Eliten nicht übernommen. Die USA kooperierte mit den vormals politisch unterdrückten Bevölkerungsgruppen, den Schiiten im Süden und den Kurden im Norden. Schnell war die schiitische Bevölkerungsmehrheit auch politisch vorherrschend, verschiedene Organisationen mit der SCIRI an der Spitze erhoben Machtansprüche.

Während George Bush als „Kriegsgewinner“ seine zweite Wahl 2004 gewann, entwickelte sich im Irak zum einen ein Bürgerkrieg unter den Bevölkerungsgruppen und zum anderen der Widerstandskampf gegen die imperialistische Besatzung. Vom „Sieg“ der Invasoren 2003 war bereits 2005 nichts mehr zu sehen, die Besatzer verloren ganze Städte und Regionen an aufständische Milizen und führten nun innerhalb des Irak Krieg. Sowohl lokale sunnitische Milizen, wie auch schiitische Milizen (besonders die Al-Sadr Miliz) griffen offen die Stützpunkte der Besatzer an, führten untereinander Krieg und trieben die US-geführten Streitkräfte an den Rand  einer militärischen Niederlage.

Während dieser Zeit verließen die meisten anderen Besatzungsmächte, speziell die europäischen Staaten (Spanien, Italien, Polen) den Irak. Die USA mussten 2007 ihre Truppen um 35.000 SoldatInnen aufstocken, die USA veränderten auch ihre Besatzungstaktik. USA und Großbritannien zogen ihre Truppen aus den Städten und den umkämpften Regionen ab, verschanzten sich in hochgerüsteten Forts, Kampfhandlungen in Städten werden vermieden, stattdessen bombardiert die Luftwaffe aufständische Städte und Regionen. Großbritannien hat seinen Abzug für Ende des Jahres angekündigt, vom neuen US-Präsidenten Obama wird ebenfalls ein Abzugsplan erwartet, welcher dem US-Militär einen relativ friedlichen Abzug und Militärstützpunkte im Irak sichert.

3.7. Perspektiven für den Irak und Afghanistan

Nach fast einem Jahrzehnt des „Kriegs gegen den Terrorismus“ stellt sich die Lage für die beiden vom Imperialismus angegriffenen und besetzten Staaten höchst unterschiedlich dar. Während im Irak eine Allianz aus bürgerlichen schiitischen und kurdischen Eliten seit Jahren mit der Besatzungsmacht kollaboriert und jetzt gemeinsam mit Obama die „Machtübergabe“ zelebrieren wird – um als politisch, ökonomisch und militärisch US-kontrollierte Halbkolonie zu existieren -, findet in Afghanistan ein offener Krieg gegen die Besatzungsmächte statt, der sich in den letzten Jahren dramatisch verschärft hat und weiter verschärfen wird.

Seit geraumer Zeit drängt die USA die NATO-Verbündeten, mehr Aufgaben in Afghanistan zu übernehmen. So musste auch Deutschland sein Kontingent erhöhen und neue Einheiten wie die Tornado-Luftaufklärer in den Osten Afghanistan, an die iranische Grenze verlegen, aber auch Truppeneinheiten für die schnelle Einsatztruppe der ISAF stellen. Allerdings war es für die NATO-Verbündeten einfacher, Präsident Bush zu widersprechen. Innerhalb der EU setzte sich der Kurs von Deutschland und Frankreich zum Irakkrieg durch. Jetzt wird Obama von allen NATO-Staaten alle Konzentration auf diesen Einsatz fordern. In Afghanistan entscheidet sich der Krieg des US- Imperialismus im Mittleren Osten. Verlieren die USA die Kontrolle über Afghanistan, könnte dies den Anfang weiterer Niederlagen in dieser Region einläuten.

Somit stehen auch die europäischen NATO-Staaten in der imperialistischen Pflicht. Eine Niederlage der US-geführten Invasion wäre auch das Ende der „ISAF-Schutztruppe“ und des Marionettenregimes mit Präsident Karsai an der Spitze. Es liegt daher im Interesse von USA und EU, Afghanistan weiter besetzt zu halten – zum einen, um dort einen Stützpunkt in Zentralasien zu haben; zum anderen, um den immer währenden „Krieg gegen den Terrorismus“ weiter führen zu können.

Die Lage in Afghanistan wird auch entscheidend sein für weitere imperialistische Angriffskriege in der Region. Eine Niederlage in Afghanistan erschwert mögliche Angriffe gegen den Iran und trägt zur weiteren Destabilisierung Pakistans bei.

Bei diesen Aufgaben befindet sich das imperialistische Bündnis in einer tiefen Krise. Seit dem Irakkrieg ist der – wenn auch hürdenreiche – Aufstieg des EU-Imperialismus unter der Führung Deutschlands und Frankreichs eine geostrategische Tatsache. Die EU formiert sich als global handelnder imperialistischer Akteur – nicht mehr nur auf ökonomischem Gebiet, sondern auch in der Außen- und Kriegspolitik. Gleichzeitig steuert das imperialistische Bündnis in die schwerste Weltwirtschaftskrise seit den 30er Jahren zu. Die Situation 2009 ist Ergebnis des ungebremsten Imperialismus seit 1990. Auf Konterrevolution folgten Krieg und Neuordnung der Welt, neue innerimperialistische Konkurrenz, Aufrüstung, Ausbeutung und Unterdrückung der halbkolonialen Staaten und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit.

3.8. Konflikte innerhalb der NATO und Aufstieg des EU-Imperialismus

Natürlich gab es in der Geschichte der NATO auch schon Konflikte vor dem Irakkrieg 2003, zum Beispiel im Rahmen des zeitweiligen Austritts Frankreichs aus der Allianz. Für die aktuelle Situation sind aber speziell die Entwicklungen der letzten 10-20 Jahre entscheidend, insbesondere der Aufstieg des EU-Imperialismus.

Wie bereits erwähnt, führte die „Nein“-Kampagne von Deutschland und Frankreich 2003 zur politischen Spaltung der NATO. Gemeinsam mit Belgien und Luxemburg widersetzten sich Deutschland und Frankreich dem Willen der USA, deren Kontrolle über die NATO wurde erstmals  herausgefordert.

Dieser, sich gern als „Kerneuropa“ betitelnde Block, stimmte auch in der UNO gegen die Vorhaben der USA und bildete mit Russland und China einen gemeinsamen Block. Dieser Konflikt brachte auch die politischen Unterschiede in der EU deutlich zu Tage: unter der Führung von Großbritannien und Italien formierten sich die US-treuen EU-Mitglieder, welche die politische Führung durch Deutschland und Frankreich ablehnten. Viele dieser Staaten haben bilaterale Abkommen mit den USA in den Bereichen Sicherheitspolitik und Rüstung und sind wie Britannien ökonomisch von US-Investoren und dem US-Markt abhängig. Das Scheitern im Irak und der wachsende Widerstand in diesen Ländern (Spanien, Italien) gegen Krieg und Besatzung ließ diesen Block zerbröckeln. Selbst der „höfische“ Verbündete Großbritannien übte offen Kritik am Irakeinsatz, räumt seine Besatzungszonen (Basra) und kündigte den Abzug an.

Trotz dieser offenen Konflikte innerhalb der EU konnten Deutschland und Frankreich ihren Kurs einer imperialistischen EU fortsetzen, konnten mit Euro-Einführung und gemeinsamer Militär -und Rüstungspolitik wichtige Schritte für den EU-Imperialismus durchsetzen.

Die EU hat ihre imperialistischen Ziele in der Agenda von Lissabon klar formuliert. Ziel ist es, bis 2010 der profitabelste Wirtschaftsraum der Welt zu sein, attraktiv für ausländisches Kapital und mit der höchsten Ausbeutungsquote der imperialistischen Blöcke. Auch wenn dieses Ziel nur in Ansätzen erreicht wurde, so war und ist es eine klare Kampfansage an die bisherige Hegemonialmacht USA.

Die EU hat sich durch verschiedene Erweiterungsrunden bis an die Grenzen Russlands ausgeweitet. Osteuropa und die Balkanstaaten sind heute ökonomisch unterworfene halbkoloniale Staaten innerhalb der EU. Während der ökonomische Prozess den Euro als Konkurrenzwährung zum US-Dollar weltweit positioniert hat und europäische Großkonzerne und deren Interessen in Konkurrenz zur USA in Zentralasien, Afrika und Nahen und Mittlerem Osten auftreten, ist der politische Prozess einer imperialistischen EU mehrfach ins Stocken geraten. Dazu trugen neben den Sonderinteressen der nationalen Bourgeoisien auch der Widerstand der französischen, niederländischen und zuletzt der irischen Arbeiterklasse und Jugend gegen eine neoliberale und imperialistische EU bei.

Aktuell ist auch der „Reformvertrag“ – die Verfassung durch die Hintertür – durch das „Nein“ Irlands gescheitert. In Erinnerung sind noch die Hasstiraden der europäischen politischen Elite auf das Abstimmungsergebnis, welches die EU erneut lähmt. Ziel dieser Verträge ist die imperialistische Ausrichtung der EU, sowohl in der politischen Zielrichtung, wie auch in der politischen institutionellen Struktur.

Der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Rüstungspolitik in den Kernbereichen Luftwaffe, Marine und Aufklärung (Satellitensystem) ist eine klare Kampfansage an die vorherrschenden anglo-amerikanischen Konzerne. Die Konkurrenz von Boeing und Airbus ist dafür beispielhaft. Die EU definiert stellvertretend für deren dominierende imperialistische Staaten geo-politische Ziele. Dazu gehört vor allem die politisch-ökonomische Unterwerfung der angrenzenden Regionen und Kontinente. An erster Stelle steht der Mittelmeerraum. Wer denkt, dass die EU sich hier nur Gedanken über Fischfangquoten macht, wird überrascht sein. Der Mittelmeerraum ist der geostrategische Zugang zur Welt, insbesondere die angrenzenden „Regionen“ Afrika und Vorderasien sind das Hauptinteresse der EU. Es geht um die beste Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Afrikas in Konkurrenz zu den USA und China. Diese imperialistische Tradition muss von der EU gesichert werden, daher sind auch „sichere Seewege“ (Stichwort: Kampf gegen Piraten) ein taktisches Ziel der EU-„Verteidigungs“politik. Die EU hat die ganze Welt zu ihrem Einsatzgebiet erklärt.

Noch im Jugoslawienkrieg waren die europäischen Mächte nicht in der Lage, gemeinsame Kontingente aufzustellen, sie waren abhängig von der NATO-Führungsmacht USA. Zu dieser Zeit gab es auch Kreise in den USA, die eine begrenzte gemeinsame europäische Militärpolitik befürworteten, um die USA zu entlasten. Als Konsequenz des Jugoslawienkriegs beschlossen die führenden EU-Staaten die Aufstellung gemeinsamer Truppen. Somit sollte die EU in der Lage sein, Konflikte in Europa in ihrem Interesse zu beenden. Ergebnis ist eine EU-Interventionstruppe (ERF), die bis zu 60.000 SoldatInnen innerhalb von 20 Tagen weltweit in den Krieg schicken kann. Davon sind aktuell einige Unterstufen erreicht – gemeinsame Truppenteile von Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande, Dänemark u.a. in der Größenordnung von ca. 10.000 SoldatInnen.

Die EU hat auch die ersten Einsätze in Europa und in Afrika hinter sich, neben den Protektoratsaufgaben in Mazedonien auch die „Wahlbeobachtungs-Mission“ im Kongo. Ebenso nimmt sie eine führende Rolle bei den „UNO“-Einsätzen im Libanon und im Tschad ein. Die Interventionen der EU im Georgienkrieg, die aktuellen Verhandlungen im Gaskonflikt zwischen Russland und der Ukraine unter EU-Aufsicht und die massiven politischen Interventionen von Frankreich und Deutschland im Gaza-Krieg zeigen heute sowohl das gestiegene Gewicht der EU gegenüber den USA, wie auch die fortwährenden Schwächen des europäischen Bündnisses. Die sehr aktive Rolle der EU 2008 war auch einer aktiven imperialistischen Macht Frankreich geschuldet, die offen ihren Führungsanspruch aufzeigte. Obwohl die französische Ratspräsidentschaft durch das irische Nein keine institutionellen Erfolge verbuchen konnte, gelang es ihr, verstärkt als geopolitischer Akteur aufzutreten, speziell in Afrika und in Vorder- und Zentralasien.

Im Gaza-Krieg 2009 betrieben dann auch Frankreich und Deutschland keine gemeinsame Intervention, was sich auch in der EU-Position widerspiegelte. Weiterhin geschwächt bleibt die EU-Kommission gegenüber dem Ministerrat und deren Präsidentschaft. Der Außenbeauftragte Solana ist bei weitem kein EU-Außenminister, sondern vielmehr davon abhängig, ob er mit Sarkozy und Merkel Außenpolitik machen darf.

Während sich die EU ökonomisch in vielen Aspekten auf Augenhöhe mit den USA befindet und die anstehende Weltwirtschaftskrise speziell für die USA eine Bedrohung ihrer Führung bedeutet, ist die EU institutionell und militärisch noch weit entfernt von einem „gemeinsamen“ Imperialismus. Jede Stufe zur Formierung des EU Imperialismus bedeutet eine weitere Unterwerfung unter die deutsch-französische Führung, Unterwerfung unter die Profitinteressen und die Marktbeherrschung der deutschen und französischen Multis und einen weiteren Ausbau einer EU Bürokratie. Diese Bürokratie dient natürlich den verschiedenen nationalen Bourgeoisien zur Durchsetzung ihrer gemeinsamen Interessen gegen die europäische Arbeiterklasse, zu Sozialabbau, Privatisierung, Repression und Militarisierung in der EU. Aber diese Bürokratie ist eben nur Spiegelbild verschiedener nationaler Interessen. So dient sie sowohl zur Kompromissfindung der verschiedenen bourgeoisen Interessen, wie auch zur direkten Durchsetzung der Führungsmächte.

Nach verschiedenen Abstimmungsniederlagen waren die Agitatoren des EU-Imperialismus schnell mit dem Begriff eines „Kerneuropas“ unterwegs. Dieses sollte entschlossen voran gehen und wenn kleinere Nationen dies nicht wollten, müssten sie auch nicht länger Mitglied sein, die Führung der EU durch ein „Kerneuropa“ soll auch institutionell abgesichert werden. Das Konsensprinzip im Ministerrat wird zugunsten einer Mehrheit der bevölkerungsstärksten Staaten abgeschafft; praktisch bedeutet dies, ohne Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien geht nichts in der EU. Sollten diese zentralen institutionellen Vorhaben der EU nicht durchgesetzt werden, droht dem Projekt EU-Imperialismus ein jähes Ende, die EU-Institutionen blieben gegenüber den Nationalstaaten zurück, die Formierung einer imperialistischen EU wäre gescheitert.

Die Aufstellung eigener Truppen der EU hat die NATO geschwächt. Die EU betreibt in diesen Bereichen Militärpolitik ohne direkte Kontrolle der USA und bietet der UNO Einheiten für Einsätze wie im Libanon oder gegen die „Piraterie“ an – die EU, so scheint es, braucht die NATO nicht mehr. So kam es innerhalb der letzten Jahre auch immer wieder zu innerimperialistischen Kontroversen über die Ressourcenverteilung zwischen NATO und EU, über die Höhe der Rüstungsetats und mögliche „notwendige“ Aufrüstung der verschiedenen nationalen Streitkräfte.

Die EU hat durch Rüstungsprojekte in allen Militärsektoren erste Schritte zum Aufbau eines militärisch-industriellen Komplexes unter europäischer Führung begonnen, mit gemeinsamer Ausrüstung, einer gemeinsamen „Armee“ und vor allem einem gemeinsamen Interesse: nämlich die Vorherrschaft der USA und Großbritanniens in diesem Bereich anzugreifen und zu brechen.

Innerhalb der EU haben sich die imperialistischen Interessen von Frankreich und Deutschland durchgesetzt. Auch wenn diese wie bei der „Mittelmeerunion“ aufeinander prallen, gibt es doch derzeit keinen Herausforderer innerhalb der EU, um die Vorherrschaft von Paris und Berlin zu brechen; ökonomisch wäre dazu auch kein Staat in der Lage und die politischen Repräsentanten der anderen EU Staaten haben sich zumindest alle auf Verfassung und Reformvertrag eingeschworen und haben keine politische Alternative zum Aufbau eines EU-Imperialismus.

Im Fall einer weiteren Stärkung der EU wird das den Charakter der NATO grundlegend ändern. Die NATO wäre nicht mehr das einzige westliche imperialistische Militärbündnis, die EU würde als vollwertiger Konkurrent global auftreten. Über Frankreich verfügt die EU schon heute über eine atomare Bewaffnung sowie Flugzeugträger als entscheidende Systeme imperialistischer Kriegführung. Schon heute tritt die EU innerhalb der UNO als Truppensteller auf, im Tschad und im Libanon – auch dort in Konkurrenz zur NATO. Während die NATO nach dem Irakkrieg politisch geschwächt war, konnte die EU durch Schwächung des transatlantischen Bündnisses eigene globale Machtansprüche anmelden, meist durch die Repräsentanten der Führungsmächte Deutschland und Frankreich. So ist die EU heute als Repräsentant im „Nahostquartett“ vertreten, ebenso in den Verhandlungen mit Nordkorea und auch ein ständiger Sitz für die EU im UN-Sicherheitsrat wurde gefordert.

Die NATO wird ihren Charakter verändern, aber deswegen nicht ihre zentrale Rolle als imperialistische Agentur verlieren, schließlich verabreden hier die USA und die EU als imperialistische Blöcke zum einen ihre gemeinsamen Interessen zur ökonomischen und militärischen Unterwerfung der Halbkolonien, sowie auch gegen aufstrebende Regionalmächte wie China, Russland und Indien; aber genauso treten hier auch die offenen innerimperialistischen Widersprüche zu Tage. In der NATO bricht schon heute die Konkurrenz der Blöcke auf, gerade wenn es um die Staaten Zentralasiens geht. Hier besteht ein Wettbewerb zwischen EU und USA, der sozusagen unter der Schutzhülle der NATO ausgetragen wird. Dies war sehr gut beim Georgienkrieg zu beobachten, bei dem sich USA und die EU gleichermaßen aufdrängten und die EU am Ende den Zuschlag zur imperialistischen „Beobachtung und Sicherung“ bekam.

Die zunehmende Konkurrenz zwischen den USA und der EU zeigt sich auch in anderen internationalen imperialistischen Agenturen, wie der UNO, der Weltbank oder dem IWF. Gerade unter den Auswirkungen der kommenden Weltwirtschaftskrise wird das imperialistische Bündnis vor Konflikten stehen, in denen zum einen die imperialistischen Staaten vereint antreten müssen, in denen die widerstreitenden Interessen der Bündnispartner jedoch zugleich deutlicher hervortreten werden. Die Geschichte zweier imperialistischer Weltkriege ist Zeugnis dieser wechselhaften „Allianzbildung“ in der imperialistischen Epoche.

Immer deutlicher wird, dass die NATO keine Agentur eines einheitlichen „Super-Imperialismus“ oder eines „Empire“ ist, sondern eine widersprüchliche Bündnisstruktur, die einmal gemeinsam handeln kann, in deren Rahmen sich Konflikte noch auf politischer Ebene austragen lassen, die jedoch auch zunehmend mit der Eindämmung ihrer inneren Widersprüche überfordert ist.

4. Das Scheitern der kleinbürgerlichen Kämpfe gegen die NATO und ihre Ursachen

Die Geschichte der NATO ist auch eine Geschichte des Widerstandes gegen diese imperialistische Allianz. In vielen westlichen Ländern – insbesondere auch in der Bundesrepublik – haben sich riesige Massenbewegungen gegen die westliche Allianz gebildet. Trotz der Mobilisierung Hunderttausender, wenn nicht von Millionen, sind sie jedoch gescheitert.

Die Bewegung gegen die Wiederbewaffnung nach dem 2. Weltkrieg hat es nicht geschafft, die Aufstellung von „Streitkräften“ der Bundeswehr oder den Beitritt zur NATO zu verhindern.

Ende der 50er Jahre formierte sich die Bewegung gegen die Atombewaffnung und es entstand die Ostermarschbewegung, die bis heute mehr oder weniger ritualisiert Jahr für Jahr ihre Demos abhält. Aber schon in den 50er und 60er Jahren blieb diese Bewegung trotz einer wachsenden Teilnehmerzahl politisch schwach und isoliert.

Wurden diese Aktionen am Beginn noch von der SPD führend mitgetragen, so verdeutlicht die Hinwendung der Godesberg-SPD zur Akzeptanz der NATO als „Verteidiger von Freiheit und Demokratie“ die Niederlage dieser Bewegung. Erst mit dieser Wende machte sich die SPD „regierungsfähig“. Eine ähnliche Wende zu dieser Form des „Internationalismus“ wird heute auch von DER LINKEN als Vorbedingung zur Regierungsfähigkeit auf Bundesebene verlangt. Ironischerweise bezeichnen ja SPD-Vertreter heute die formelle Ablehnung der NATO durch die Linkspartei als „Nationalismus“.

Die Ostermärsche wurden zum politisch harmlosen Ritual, in dem sich die reformistischen „Friedensfreude“ aus der SPD-Linken und den Gewerkschaften (seit den 70er und 80er Jahren auch aus der DKP) folgenlos betätigen konnten.

Erst der Widerstand gegen die Notstandsgesetzgebung und die Solidarität mit Vietnam führte zu einer Protestbewegung, die weit in Gewerkschaften und SPD hinein reichte. Es war der Krieg des NATO-Landes USA, der viele junge Menschen veranlasste, sich politisch zu betätigen.

Zahlreiche neue Gruppierungen entstanden, in denen sich Tausende organisierten. Die Staats- und NATO-tragende Rolle der SPD eröffnete den Raum für eine Anti-Kriegsbewegung, die nicht nur Jugendliche, sondern auch Teile der Arbeiterklasse in Opposition zum Imperialismus brachten.

4.1. Die verhängnisvolle Rolle des linken Stalinismus

Ganz richtig erfassten viele in dieser Bewegung aktiv Gewordene die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Organisationen, um diesem System wirksamen Widerstand entgegensetzen zu können.

Aber die Organisationen, die auf „marxistisch-leninistische“ Politik, in Deutschland zumeist den Maoismus, sprich eine scheinbar radikalere, linkere Spielart des Stalinismus bauten, haben dabei kläglich versagt.

Vieler ihre Führer sind heute im bürgerlichen Sumpf versackt und gehören teilweise zu den reaktionärsten Apologeten von Angriffskriegen des Imperialismus und unterscheiden sich nur in Nuancen von der Kriegstreiberei der „antideutschen“ Strömungen.

In den siebziger Jahren haben die maoistischen Führer die chinesische Außenpolitik zur Anleitung  ihres Handelns gemacht. Die Sowjetunion sei demnach ein „staatsmonopolistischer Kapitalismus“, Sozialimperialismus und „sozialfaschistisch“ gewesen. Wurde anfangs noch von zwei Supermächten ausgegangen, deklarierte man schließlich die Sowjetunion als „Hauptfeind der Völker“. Folglich sollten sich auch die Staaten der „Zweiten Welt“ gegen sie verbünden. Die schlimmsten Auswüchse dieser Theorie verlangten gar einen Burgfrieden zwischen Proletariat und Bourgeoisie in der „Zweiten Welt“ und das Bündnis mit den USA.

Der Kommunistische Bund Westdeutschlands (KBW) forderte im Endstadium seines Verfalls ein „blockfreies Europa“ und stellt schließlich 1981 fest: „In Deutschland gibt es zwar Finanzkapital und dessen Herrschaft, es gibt auch Kapitalexport, aber einen deutschen Imperialismus gibt es nicht“ (H.G. Schmierer in: Kommunismus und Klassenkampf 6/81, S.29).

Zurecht sind diese Organisationen weitestgehend zerfallen. Allerdings haben sie in fast ebenso verheerender Form wie die herrschenden stalinistischen Bürokratien die revolutionären Antworten des Marxismus auf die imperialistische Bedrohung diskreditiert. Antiimperialistische Politik muss sich heute auch von diesen Karikaturen des „Anti-Imp“-Populismus distanzieren.

4.2. Bellizismus und Menschenrechtsimperialismus der GRÜNEN

Die GRÜNEN, entstanden aus Teilen der Umweltbewegung, Alternativen Listen und Teilen der maoistischen Organisationen, gaben sich ein „Anti-Kriegs“-Image (besonders durch die Gründungsmitglieder Bastian und Kelly). Es dauerte aber kaum ein Jahrzehnt, bis diese Partei, einhergehend mit heftigen Fraktionskämpfen, zu einem ideologischen und auch personellen Eckpfeiler der militärpolitischen Bestrebungen des BRD-Imperialismus und der NATO wurde.

Wesentliche Merkmale dieser Entwicklung sind:

• Aggressionskriege aus „humanitären Gründen“, sogenannte „humanitäre Interventionen“ seien erlaubt, ja sogar notwendig. Dieser „Menschenrechts-Imperialismus“ spielte eine wesentliche Rolle in der Begründung des Jugoslawien-Krieges.

• Eingeschränkte Souveränität von halbkolonialen Staaten; zunächst wurde hier der Begriff der „Failed states“ benutzt, der eine zentrale Rolle auch im „Krieg gegen den Terrorismus“ spielt;

• Heute haben wir es mit einer Art „vorgelagerter Vaterlandsverteidigung“  zu tun, die im Namen der Verteidigung von „Werten“ der „abendländischen Zivilisation“ agiert. Erinnern wir uns an Truman, der im Namen der „freien Welt“ den Kampf gegen die „kommunistische Bedrohung“ führte. Bei den Protagonisten des Imperialismus ist dies nichts Neues.

Mit  den GRÜNEN gelang es, einen Großteil der kleinbürgerlichen Oppositionsschichten wieder ins bürgerliche Lager zu ziehen, um dann als mitregierender Partner eine treibende Rolle für den Bellizismus der rot/grünen Regierungen zu spielen.

4.4. DGB und DIE LINKE

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben der DGB und seine Einzelgewerkschaften aufgrund der Dominanz der SPD immer wieder deren Pro-NATO-Kurs mitgetragen oder jedenfalls die Kritik auf SPD-verträgliches Niveau begrenzt.

Hinzu kommt, dass die DGB-Gewerkschaften und zuvorderst die IG-Metall zur Rüstungsindustrie eine zwiespältige Haltung einnehmen. Neben pazifistisch geprägten Erklärungen und Aufrufen der Gesamtorganisation wird gegenüber der Rüstungsindustrie selbst ein „weicher Kurs“ gefahren. Wenn es um die eigentliche Produktion geht, fordern auch IGM-Betriebsräte in Rüstungsbetrieben mehr Aufträge.

Zugleich gibt es aber es durchaus Beschlüsse, Unterschriftensammlungen, Teilnahme an Demonstrationen, die sich gegen Kriegseinsätze, Aufrüstung der Bundeswehr o.a. militaristische Projekte richten. Was fehlt, sind Aktionen gegen den Krieg oder die Bereitschaft, das Mittel des politischen Streiks gegen Kriege einzusetzen. Das war so gegen die Remilitarisierung, gegen die Nachrüstungsbeschlüsse, gegen den Jugoslawien-Krieg, gegen den Afghanistan-Krieg.

Im seinem Grundsatzprogramm führt der Deutschen Gewerkschaftsbund 1996 an:

„Die Gewerkschaftsbewegung setzt sich dafür ein, dass die Menschenrechte universelle Geltung gewinnen. Soziale, ökonomische und ökologische Konflikte müssen auf zivilem Wege ohne militärische Gewalt gelöst werden.“ (23)

Ganz ähnlich argumentiert die Partei DIE LINKE. Die Ablehnung von Kriegs- und Bundeswehreinsätzen im Ausland, die Forderung nach „Auflösung der NATO“ unterscheidet DIE LINKE – wie ihre Vorläufer WASG und PDS – von allen anderen Bundestagsfraktionen. Es ist gerade diese Haltung, die sie in den Augen der herrschenden Klasse trotz aller Bekenntnisse zur Marktwirtschaft, zum Grundgesetz und ihrer Umsetzung neoliberaler Angriffe in Landesregierungen ungeeignet macht, auf nationaler Ebene mitzuregieren.

Bekanntlich gibt es durchaus gewichtige Teile der Linkspartei, die durch ihr Bekenntnis zur „Solidarität mit Israel“ oder „Nachdenken“ über UN-mandatierte „Friedensmissionen“ wie in Darfur auch diese Position schleifen wollen. Die Mehrheit der Parteiführung und der Parlamentsfraktion hält jedoch noch an einem, wenn auch durch und durch pazifistischen, „Friedenskurs“ bei.

„Die Linke ist der Meinung, dass das Militärbündnis NATO überwunden werden muss, um Frieden zu schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind heute zwei Wege in der öffentlichen Debatte: Entweder die NATO wird aufgelöst – wie es die Linke vorschlägt – und durch ein regionales, nichtmilitärisches Sicherheitssystem ersetzt, oder die NATO wandelt sich selbst in einem tief gehenden Prozess in eine echte, ebenfalls nichtmilitärische Sicherheitsorganisation um. Davon ist sie heute weit entfernt. Der globale Machtanspruch der NATO ist abzulehnen. Die globalen ordnungspolitischen Vorstellungen und Ziele der NATO laufen auf Ausbau und Sicherung der westlichen Hegemonie hinaus, um deren Interessen auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Einseitige Interessendurchsetzung anstelle eines Interessenausgleichs schafft Spannungen, permanente Instabilitäten, Konflikte und Kriege – gerade die jüngste Eskalation im Kaukasus-Konflikt zeigt das. (…)

Die Linke setzt sich dafür ein, der UNO als einzigem globalen System kollektiver Sicherheit endlich die zentrale Funktion einzuräumen, die sie laut UNO-Charta haben müßte: die materielle Ausübung des globalen Gewaltmonopols. (…)

Wie die UNO dieses Recht wahrnehmen und welche Fähigkeiten sie dafür benötigen wird, darüber ist zu diskutieren. Wer eine gestärkte UNO will, kann sich dieser Auseinandersetzung nicht entziehen. Auch wenn das UNO-System viele Widersprüche birgt, ist es für die friedliche Lösung alter und neuer globaler Fragen alternativlos.

Das bedeutet auch, sich für eine institutionelle Reform der UNO einzusetzen. Im Mittelpunkt muß der UN-Sicherheitsrat stehen. Er ist deutlicher Ausdruck der strukturellen Machtasymmetrie innerhalb der UN-Strukturen, die beseitigt werden muß, um die Autorität und Glaubwürdigkeit der UNO wiederherzustellen.“ (24)

Ganz ähnlich argumentiert auch die „Friedensbewegung“, deren politische Hauptbestandteile links-sozialdemokratische Gewerkschafter, Linkspartei und DKP sind:

„Um unsere Vision einer friedlichen Welt zu erreichen, lehnen wir militärische Antworten auf globale und regionale Krisen ab – sie sind Teil des Problems und nicht der Lösung. Wir weigern uns, unter dem Terror von Atomwaffen zu leben, und widersetzen uns einem neuen Rüstungswettlauf. Wir müssen die Militärausgaben reduzieren und die dadurch frei werdenden Ressourcen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse einsetzen. Alle ausländischen Militärstützpunkte sind zu schließen. Wir lehnen alle militärischen Strukturen ab, die für Militärinterventionen genutzt werden. Wir müssen die Beziehungen zwischen den Völkern demokratisieren und demilitarisieren und neue Formen der friedlichen Zusammenarbeit einrichten, um eine sicherere und gerechtere Welt zu schaffen. (…) Wir glauben daran, daß eine friedliche Welt möglich ist.“ (25)

In diesen Aufrufen finden sich einige wesentliche Grundfehler des Reformismus und der von ihr geführten „Friedensbewegung“ wieder.

a) wird ohne jede Analyse, ja oft wider eigene Beschreibungen und besseres Wissen der innere Zusammenhang von militärischen Strukturen, Bündnissen, Allianzen und den ökonomischen und politischen Interessen der kapitalistischen Staaten und der dortigen Kapitale getrennt. So wird dem „militärischen Einsatz“ gern eine nicht näher definierte „zivile Konfliktlösung“ entgegengestellt, ohne dass die Klasseninteressen der Konfliktparteien zur Kenntnis genommen werden. Daher kann in solchen Aufrufen auch immer wieder die UNO als angebliche „zivile“ Alternative zur NATO oder gar zur Politik der Großmächte ins Feld geführt werden.

Dabei wissen die AutorInnen solcher Texte sehr genau, dass die UNO imperialistische Krieg offen proklamiert hat, dass sie Embargos gegen halbkoloniale Staaten wie den Irak verhängte, die zum Tod 100.000er führten, um nur einige Verbrechen dieser imperialistischen Institution zu nennen. DIE LINKE geht hier im „Reformeifer“ gar so weit, nahezulegen, dass die NATO allen Ernstes zu einer „echten nicht-militärischen Sicherheitsorganisation“ werden könne.

In den pazifistischen Aufrufen wird zwar nicht unbedingt die ökonomische Grundlage von imperialistischen Interventionen, von Bündnissen wir der NATO geleugnet. Es wird aber unterstellt, dass auf dieser Grundlage – des kapitalistischen Weltsystems zumal in seinem imperialistischen Stadium – eine andere, nicht von Interessen der Großmächte geprägte Politik, eine Politik, die nicht auf die Durchsetzung ihrer Interessen mit Waffengewalt, Militärbündnissen (unter welchem Vorwand auch immer) möglich wäre.

Hier liegt der erste Betrug und analytische Fehler, der – teils aus „echter“ Überzeugung von bürgerlichen Theorien, teils sogar wider besseres Wissen – proklamiert wird.

Dabei ist es genau diese Sicht, die es den Reformisten und Pazifisten im Ernstfall ganz einfach ermöglicht, von der „Friedensposition“ und vom Pazifismus zur Vaterlandsverteidigung oder zum Unterstützer imperialistischer Kriegszüge umzuschwenken.

Im obigen Zitat der Linken (und auch der Gewerkschaften) ist das schon angelegt. So setzen sich die Gewerkschaften für die „universelle Geltung der Menschenrechte“ ein. DIE LINKE will „Interessensausgleich“ statt „einseitiger“ Durchsetzung. Doch was passiert, wenn sich ein Staat partout weigert, die „Menschenrechte zur Geltung“ bringen zu lassen? Was passiert, wenn sich einer dem „Interessensausgleich“ widersetzt?!

DIE LINKE setzt sich dafür ein, „der UNO als einzigem globalen System kollektiver Sicherheit endlich die zentrale Funktion einzuräumen, die sie laut UNO-Charta haben müßte: die materielle Ausübung des globalen Gewaltmonopols.“ Damit hat sie schon eine Brücke zu den „humanitären“ Begründungen der jüngsten Kriege gebaut, von der sie sich vorgeblich absetzen wollte.

Wer vom Klassencharakter der jeweiligen Kriege nicht reden will, landet also flugs dabei, den Klassencharakter der imperialistischen Institutionen wie der UNO zu verklären, diese als „alternativlos“ hinzustellen und ansonsten steif und fest zu behaupten, dass „Krieg kein Mittel der Politik“ sein dürfe.

b) Gewerkschaftsbürokratie, DIE LINKE, DKP und die pazifistische Friedensbewegung haben nicht nur eine falsche Analyse, die eine Brücke zum Übergang zur Unterstützung imperialistischer Kriege bietet.

Auch wenn sie „hart“ bleiben, also „humanitäre“ Interventionen ablehnen, so macht sich das Fehlen jeder Klassenanalyse darin bemerkbar, dass als Alternative zur militärischen Intervention nicht die Unterstützung des Widerstandes, der Klassenkampf gegen die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Kriegsziele des Imperialismus vorgeschlagen wird.

Vielmehr basteln die reformistischen Führungen der Friedensbewegung dann an allerlei „Konfliktlösungsmodellen“, Ideen zur Verbreitung der „Zivilisation“ und der Handels- und sonstigen Wirtschaftsinteressen „unserer“ Wirtschaft herum, die die herrschende Klasse, oder jedenfalls einen Teil davon überzeugen sollen, dass sich „Frieden“ für die Verfolgung ihrer Geschäftsinteressen mehr auszahlt als „kostspielige“ Kriege.

Daher wird die politische Harmlosigkeit vieler Aufrufe der „Friedensbewegung“ auch dadurch gerechtfertigt, dass so auch „liberale“ Pfarrer, ja selbst „kritische“ Offiziere der Bundeswehr mitmachen könnten.

Kurzum, die reformistische Friedensbewegung will keine Klassenpolitik, keine Mobilisierung der Arbeiterklasse und der Jugend gegen den Imperialismus, sondern eine Volksfront, eine klassenübergreifende Front aller Klassen, die sich aus „Vernunftgründen“ und nicht aufgrund ihres Klasseninteressens dem gemeinsamen Anliegen anschließen sollen.

c) Die bürgerliche, reine „Friedenspolitik“ ist daher regelmäßig Betrug und zudem unwirksam. Um die avisierten, wenn auch selten wirklich überzeugbaren „bürgerlichen Partner“ zu finden, verzichtet die reformistische Bewegung erstens auf die Solidarität mit den Befreiungsbewegungen, mit dem Widerstand gegen die imperialistischen Besatzer. Zweitens verzichtet sie auch gern auf klare Minimalforderungen, um die Druck aufgebaut werden könnte. So finden sich z.B. in fast allen Aufrufen die Forderung nach „Abschaffung der NATO“. Zweifellos ein richtiges Ziel. Doch wer soll das tun? Ein offensichtlicher Weg dazu, der noch gar keine große revolutionäre Überzeugung verlangt, wäre der Austritt auf dem Bündnis (wie aus allen anderen militärischen Pakten). An einer solchen unmittelbaren Forderung, die sich direkt an und gegen die Bundesregierung richten würde, an der alle ParlamentarierInnen der Linkspartei oder der SPD sofort gemessen werden könnten, für die sofort eine konkrete Kampagne initiiert werden könnte, wollen aber weder Linkspartei noch linke Gewerkschaftsbürokratie oder die von ihnen ausgehaltenen, selbsternannten „Sprecher“ der Friedensbewegung wie der „Kasseler Ratschlag“.

Drittens lehnt die „Friedensbewegung“ Klassenkampfmethoden gegen die NATO, gegen die Bundeswehr – politische Streiks, Blockaden usw. usf. – ab. Das Problem zeigt sich dann aber regelmäßig, wenn es große politische Demonstrationen gibt, wie z.B. gegen den NATO-Doppelbeschluss. Über eine Million demonstrierten – die Raketen wurden trotzdem stationiert, weil sich die imperialistische Bourgeoisie durch Proteste, die letztlich nur symbolisch sind, von keinem zentralen politischen Ziel abbringen lässt. Die Friedensbewegung hatte aber mit friedlichen Massendemos ihr taktisches Arsenal ausgeschöpft und war aufgrund ihrer Führung nicht bereit, weiter zu gehen.

Viertens kann die NATO, kann jede Form imperialistischer Kriegspolitik, von Aufrüstung bis zum Vernichtungskrieg nur durch den Klassenkampf gegen die eigenen, herrschende Klasse bekämpft werden. Es gibt daher – anders als die Friedensbewegung durch ihre Trennung von Politik und Militär/Krieg – keinen vom Klassenkampf getrennten, „separaten“ Friedenskampf. Unser  Friedenskampf heißt Klassenkampf, heißt Kampf gegen das kapitalistische, imperialistische Weltsystem. Dieser Kampf kennt eine Alternative zur lächerlichen Hoffnung auf „Reformen“ der UNO oder gar der NATO, er kennt eine Alternative zum Beschwören eines „friedlichen Zusammenlebens“, ohne die Klassen- und Herrschaftsverhältnisse zu bekämpfen, die den Krieg erst hervorbringen.

Diese Alternative ist der revolutionären Sturz des bestehenden Systems und die Errichtung der Herrschaft der Arbeiterklasse: die proletarische Weltrevolution!

5. Revolutionäre Strategie im Kampf gegen die NATO!

Eine revolutionäre Strategie im Kampf gegen die NATO darf nicht, wie die Reformisten und Pazifisten von Illusionen oder falschen Hoffnungen auf „friedfertige“ Fraktionen der herrschenden Klasse ausgehen. Sie muss von einem Verständnis der imperialistischen Weltsystems als politischer und ökonomischer (und damit auch militärischer) Gesamtheit ausgehen.

Es reicht dabei natürlich nicht, sich damit zu begnügen, nur das Wesen des Imperialismus und des Kapitalismus darzustellen. Es ist auch notwendig, die Hauptcharakteristika der gegenwärtigen Periode zum Ausgangspunkt zu machen.

Die aktuelle Lage markiert einen Wendepunkt in der historischen Entwicklung. Wir haben es nicht nur mit einer historischen Krise der Globalisierung, der letzten Periode der imperialistischen Entwicklung zu tun, sondern überhaupt mit einer historischen Krise des Kapitalismus. Die beginnende Weltwirtschaftskrise prägt die gesamte Weltlage.

Ein für das Verständnis der Entwicklung der NATO und damit auch der imperialistischen Mitglieder zentraler Aspekt ist, dass wir – neben einer fortgesetzten Kooperation gegen gemeinsame Rivalen und die unterdrückten, halbkolonialen Länder und Nationen – einer Periode zunehmender Rivalität, verschärfter Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten und sich formierenden Blöcken entgegengehen.

Wir gehen einer Periode entgegen, die die Frage von Krieg, Konterrevolution und proletarischer Revolution, von Sozialismus oder Barbarei direkt aufwerfen wird.

Das ist der Grund, warum allen Hoffnungen auf „Friedensprogramme“, die UNO, „Abrüstungskonferenzen“, allen „Friedensbeschwörungen“ der imperialistischen Staaten eine klare Absage erteilt werden muss.

• Gegen alle imperialistischen Allianzen! Gegen den deutschen, österreichischen und den EU-Imperialismus!

RevolutionärInnen treten für den gemeinsamen Kampf aller Kräfte der Arbeiterbewegung und der Unterdrückten gegen alle imperialistischen Allianzen und Bündnisse – ob NATO, WEU, Shanghai-Club – ein. Für die Auflösung von NATO und WEU! In Deutschland und allen anderen Ländern, die Mitglied in NATO oder WEU sind, treten wir für den sofortigen Austritt aus diesen Bündnissen ein! Für den Austritt Österreichs aus der NATO-Initiative Partnership for Peace!

• Abzug aller imperialistischen Kriegs- und Besatzungstruppen und ihrer Verbündeten!

Wir bekämpfen alle Interventionen, Kriege, Truppenstationierungen der BRD, der NATO, der EU, der USA, Russlands oder sonstiger imperialistischer Staaten – egal, ob mit oder ohne Rückendeckung der UNO. Wir treten für den sofortigen Abzug aller im Ausland stationierten Truppen ein! Wir lehnen alle Kriegseinsätze wie in Afghanistan, aber auch alle anderen imperialistischen Intervention sei es zur „Friedenssicherung“, zur „Überwachung“ von „Friedensabkommen“ oder Wahlen, (wie im Libanon oder in Afrika) oder unter dem Vorwand der Bekämpfung der Piraterie (wie am Horn von Afrika) ab.

• Solidarität mit dem Kampf der unterdrückten Nationen und Völker gegen NATO-Krieg und Besatzung!

Anders als die Pazifisten und Reformisten gehen wir davon aus, dass der Kampf gegen imperialistische Intervention – einschließlich des Bürgerkriegs, des bewaffneten Aufstandes oder nationalen Verteidigungskrieges – legitime Formen des Kampfs unterdrückter Nationen oder halb-kolonialer Staaten sind. Diese verdienen die Solidarität und Unterstützung der Arbeiterklasse aller Länder, v.a. der imperialistischen, einen reaktionären Krieg führenden Staaten. Daher treten wir z.B. in Afghanistan für die Niederlage der NATO und der Bundeswehr in Afghanistan und den Sieg des Widerstandes ein, auch wenn wir mit den Taliban und vielen anderen islamistischen oder nationalistischen Widerstandsgruppen politisch nichts gemein haben und diese auf politischer Ebene bekämpfen. Das gleiche gilt im Konfliktfall zwischen den EU-Truppen – inklusive den österreichischen Soldaten – und der Rebellenbewegung im Tschad.

Neben der Solidarität mit dem Widerstand ist der Kampf gegen die Kriminalisierung des Widerstands hier eine zentrale Aufgabe jeder Anti-Kriegsbewegung, die diesen Namen verdient! Weg mit dem Verbot von Befreiungsbewegungen und aller Organisationen, die Widerstand gegen den Imperialismus leisten! Weg mit den EU-Terrorlisten, weg mit allen Paragraphen zur Kriminalisierung des Widerstandes wie 129 a/b in der Bundesrepublik!

• Keinen Menschen, keinen Cent für die Bundeswehr! Kampf dem zunehmenden Militarismus!

Die Bundeswehr ist nicht nur Teil der NATO, sie ist eine imperialistische Armee. Wir bekämpfen deren Umstrukturierung zur Eingreiftruppe. Wir lehnen jede Zustimmung zum Verteidigungshaushalt und zur Finanzierung der Bundeswehr ab. Alle Abgeordneten der Arbeiterbewegung müssen ihre Zustimmung dazu verweigern! Wir lehnen auch halbherzige und illusorische Losungen wie Rückführung der Bundeswehr auf Verteidigungsaufgaben ab, weil sei suggerieren, dass es so etwas wie „gerechtfertige“ Verteidigungsvorhaben des deutschen Imperialismus geben könnte. Gleiches gilt natürlich auch für das Bundesheer in Österreich

Aber wir haben auch nicht die Illusion, dass die Bundeswehr einfach „abgeschafft“ werden könne. Sie muss – wie der bürgerliche Staatsapparat insgesamt – zerbrochen, zerschlagen werden.

Auch wenn wir das Recht auf Wehrdienstverweigerung verteidigen, so lehnen wir dieses als Mittel zur Bekämpfung des Militarismus ab. Vielmehr ist es notwendig, auch in der Armee den Kampf gegen die bürgerliche Disziplin und das Kommando zu führen – durch die Organisierung der Grundwehrdienstleistenden und einfachen Soldaten, um so die Kommandostruktur zu schwächen und zu unterminieren.

Am dem Schulen und Unis, in der Öffentlichkeit sind Propaganda, Aufklärung und Aktionen zur Entlarvung der „Friedensabsichten“ der Bundeswehr, die Organisierung der Jugend in einer anti-militaristischen, revolutionären Jugendbewegung notwendig!

Wir fordern außerdem die entschädigungslose Enteignung der Rüstungsindustrie unter Arbeiterkontrolle und die Umstellung auf zivile Produktion ohne jede Entlassung und bei Umschulung der Beschäftigten bei vollen Bezügen.

• Methoden des Klassenkampfes gegen imperialistischen Krieg, NATO und Militarismus!

Großdemonstrationen sind wichtige Sammlungspunkte des Widerstandes und der Solidarität im Kampf. Aber allein sind sie eine sehr eingeschränkte Waffe, die letztlich kein Projekt der Herrschenden stoppen wird.

Wir treten für den Aufbau einer Massenbewegung der Arbeiterklasse und der Jugend ein, die Methoden des Klassenkampfes Streiks, Blockaden, Besetzungen anwendet – sei es zur Verhinderung des Nachschubs für Auslandstruppen oder gegen die Propagandaoffensive der Bundeswehr an Schulen.

Vor allem aber heißt das, dass der Kampf gegen NATO, Imperialismus und Militarismus nur im Rahmen einer Gesamtstrategie des proletarischen Klassenkampfes im Rahmen eines revolutionären Programms von Übergangsforderungen, das eine Brücke weist von den aktuellen Verteidigungskämpfen zum Kampf für die sozialistische Revolution, möglich und effektiv ist.

Die Rezession wird die Konkurrenz um Profite, Ressourcen und Märkte weiter verschärfen, die immensen Verluste der nationalen Bourgeoisien lassen verstärkte Angriffe von Staat und Kapital auf die Arbeiterklasse und die Jugend für die nächsten Jahre erwarten, wie auch den weiteren Zusammenbruch kompletter Volkswirtschaften.

Innerhalb der imperialistischen Mächte ist schon heute der Wettlauf entbrannt, wer die Hauptlasten der Krise tragen muss und wie sie am besten auf die Halbkolonien abgewälzt werden können und natürlich auch, wer am meisten von der Krise profitieren könnte. Es stellt sich die Frage des Endes der US-amerikanischen Vorherrschaft und des Aufstiegs der EU zur Weltmacht.

Gemeinsam werden USA und EU ihre Institutionen zur politischen, ökonomischen und militärischen Unterdrückung gegen alle Ausgebeuteten und Unterdrückten einsetzen: ob NATO, IWF oder Weltbank. Gemeinsam werden sie vielleicht eine neue „Weltfinanzagentur“ zur Knebelung und Kontrolle aller Schuldner ausarbeiten, genau wie sie gemeinsam Angriffskriege und Sanktionen mithilfe von NATO, UNO und EU beschließen können.

Dieser internationalen imperialistischen Zuspitzung müssen alle InternationalistInnen und AntiimperialistInnen weltweit ihren Widerstand entgegen setzen! Wir müssen diese Krise und die mögliche militärische Niederlage des „Kriegs gegen den Terrorismus“ in einen Sieg über den Imperialismus umwandeln, in einen Sieg über Krieg, Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung. Anstelle der imperialistischen „Anarchie“ der Konkurrenz um Weltmacht müssen wir die „Gesellschaft der freien Produzenten“, die Gesellschaft gleicher und freier Menschen aufbauen. Für diesen Kampf brauchen wir eine revolutionäre antiimperialistische internationale Organisation – eine neue Weltpartei der sozialistischen Revolution, eine neue Fünfte Internationale, welche gemeinsam mit den unterdrückten halbkolonialen Völkern und der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Staaten die Herrschaft der Bourgeoisie bricht und damit die Menschheit vor einer neuen Epoche imperialistischer Kriege bewahrt.

Fußnoten

(1) Leo Trotzki 1917: Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus

(2) Trotzki

(3) Trotzki

(4) Zu unserer Analyse der bürokratischen Konterrevolution und ihren Ursachen vergleiche: Revolutionärer Marxismus 32, 2001

(5) “Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution)

(6) Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution).

(7) „Die Expansion des Stalinismus nach 1945“, RM 32, 2001

(8) Ebenda

(9) Ebenda

(10) Die Expansion des Stalinismus nach 1945“, RM 36, 2001

(11) Quelle: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 13-20

(12)    http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/ Nachkriegsjahre_vertragPots-damerAbkommen/index.html

(13) RM 30, IWF-Krisenverwalter für den Imperialismus

(14) Churchill

(15) Rede von US-Präsident Harry S. Truman am 12. März 1947 vor beiden Häusern des Kongresses

(16) http://www.staatsvertraege.de/natov49.htm

(17) http://www.un.org/documents/sc/res/1950/scres50.htm

(18) Ebenda

(19) Zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Wiederbewaffnungsdiskussion

(20) Boesch, Joseph, Schläpfer, Rudolf, Weltgeschichte 2, Vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Orell Füssli Verlag, Zürich 1997, S. 257 )

(21) „Geschichte der NATO“, http://www.gerline.de/wb/pages/1970–1980.php)

(22) Angaben nach Wikipedia

(23) Gewerkschaftsbeschlüsse zitiert nach: Friedensbewegung und 11.September- Friedensbewegung und Gewerkschaften – Teamwork gegen Kriegseinsätze-Gewerkschafter gegen Krieg von Anne Rieger,

http://www.frieden-und-zukunft.de/netzwerk/IGM/Artikel-Rieger-Friedensforum-03-02.htm.

(24) Diskussionspapier zu den Themen NATO und Militäreinsätze von der Bundestagsfraktion der Linkspartei im November 2008)

(25) Aufruf: Nein zum Krieg – Nein zur NATO- Aufruf wurde am 5. Oktober 2008 auf einer internationalen Konferenz der Friedensbewegung in Stuttgart beschlossen




Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg – Die Strategie Lenins und der Bolschewiki

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 40. März 2009

Unser Programm des Kampfes gegen imperialistische Kriege und Allianzen der Großmächte wie die NATO beruht nicht auf konjunkturellen Einschätzungen oder einer moralischen Empörung gegen Ungerechtigkeit.

Für die Positionsbestimmung von MarxistInnen ist vielmehr die objektive historische Bedeutung des Krieges entscheidend, der Klassencharakter der kämpfenden Parteien und Staaten und ihrer Kriegsziele.

Daraus ergibt sich für uns eine allgemeine Ablehnung jeder Intervention, welche die Stellung der herrschenden Klasse auf Kosten der unterdrückten Völker in verarmten Ländern und der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern stärkt.

Das war immer auch die Theorie und Praxis des Marxismus in seiner geschichtlichen Entwicklung. So bekämpften bereits Marx und Engels Strömungen in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, welche die Interessen „ihrer“ nationalen Bourgeoisie auch zum Interesse der Arbeiterklasse erklärten (siehe z.B. den Konflikt zwischen Marx und Lassalle zur Frage des Sardinischen Krieges 1859). Von besonderem Interesse ist für uns als RevolutionärInnen die Programmatik, die von den Bolschewiki, der Partei der russischen Oktoberrevolution und Initiatorin der Kommunistischen Internationale, ausgearbeitet wurde. Obgleich das theoretische Fundament einer Haltung gegen Kriege im Interesse der Bourgeoisie bereits von Marx, Engels u.a. kommunistischen Theoretikern formuliert wurde, entwickelten Lenin und die Bolschewiki diese Herangehensweise für Kriege in der – Anfang des 20. Jahrhunderts beginnenden – imperialistischen Epoche weiter.

Eine Aufarbeitung der Programmatik der Bolschewiki gegen den imperialistischen Krieg ist besonders deswegen wichtig, da heute zahlreiche Pseudo-Kommunisten die Lehre des authentischen Marxismus entstellen und prostituieren (1). Im Namen des „Kommunismus“ und des „Marxismus“ wird von zahlreichen Gruppierungen – angefangen von der post-stalinistischen „Europäischen Linkspartei“ über Parteien wie die griechische KKE oder die deutsche DKP bis hin zum Zentrismus a la CWI – eine Politik verfolgt, die in Wirklichkeit in der Tradition der verschiedenen reformistischen und zentristischen Flügel der früheren Sozialdemokratie steht (2).

Krieg und proletarischer Klassenkampf

In der marxistischen Bewegung war die Haltung zu Kriegen von Beginn an eine zentrale Frage. So war die Gründung der III. (Kommunistischen) Internationale (Komintern) im März 1919 das Ergebnis jahrelanger Kämpfe der revolutionären Kräfte unter Führung der bolschewistischen Partei unter Lenins Führung gegen den offenen Verrat der Sozialdemokratie bei Ausbruch des I. Weltkrieges 1914. Damals versagten die meisten Parteien der Zweiten, sozialdemokratischen, Internationale darin, gegen den imperialistischen Krieg zu kämpfen oder sie traten sogar offen für die Verteidigung ihres imperialistischen Vaterlandes ein (3).

Die III. Internationale knüpfte dabei an die Tradition des linken Flügels innerhalb jenes Teils der II. Internationale an, der sich gegen den Krieg aussprach und suchte bereits vor ihrer Gründung Kontakt zu revolutionären Kräften, die illegale Arbeit gegen den Krieg leisteten. Sie konnte sich dabei neben den russischen Bolschewiki auf den linken Flügel innerhalb der deutschen Sozialdemokratie um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht sowie die Bremer Linksradikalen ebenso stützen wie auf den Kampf des österreichischen „Aktionskomitees der Linksradikalen“, die polnischen linken Sozialdemokraten um Karl Radek und Leo Jogiches, die bulgarischen Tesnjaki („Engherzigen“) und die serbische Sozialdemokratie um Dimitrije Tucovi und Dusan Popovi u.a.

Partei und Klasse

Die führende und für die künftige Orientierung der Komintern prägende Rolle kam jedoch den russischen Bolschewiki unter der Führung von Wladimir Iljitsch Lenin zu. Die Bolschewiki verstanden Kriege als ein notwendiges Resultat der von Klassengegensätzen geprägten kapitalistischen Gesellschaft. Der Kampf gegen reaktionäre Kriege war daher für sie Teil einer allgemeinen, übergeordneten Strategie des Klassenkampfes, den MarxistInnen stets mit dem Ziel der sozialistischen Revolution verknüpften. Daher zeichnete sich die Arbeit der Bolschewiki zur Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen reaktionäre Kriege durch die gleiche, auch in allen anderen Bereichen des Klassenkampfes umgesetzte, Herangehensweise aus. Wir wollen daher kurz das Verständnis der Bolschewiki vom Verhältnis Klasse – Partei – Klassenkampf – Revolution skizzieren.

Die Bolschewiki hatten am Beginn der Epoche des Imperialismus Anfang des 20. Jahrhunderts zuerst verstanden, das Verhältnis von Partei und Klasse und die Rolle der Partei im Klassenkampf unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus korrekt zu definieren und praktisch anzuwenden (4). Dieses Verständnis stützt sich auf das von Lenin in seinem Buch „Was tun“ dargelegte Konzept des Hineintragens revolutionären Klassenbewusstseins ins Proletariat. Lenin erkannte, dass die Arbeiterklasse als ausgebeutete und unterdrückte Klasse nicht spontan zu einem revolutionären Bewusstsein und einem Verständnis der strategischen und taktischen Aufgaben der Revolution gelangen konnte. Dazu  bedarf es vielmehr eines organisierten Kerns von sozialistischen RevolutionärInnen, einer bewussten Vorhut, die auf Basis des Marxismus eine wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus und des Klassenkampfes erarbeiten und ein Programm für die Revolution mit den entsprechenden Strategien und Taktiken entwickelt. Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, revolutionäre Ideen in die Klasse hineinzutragen. Das revolutionäre Klassenbewusstsein kann daher nicht spontan, von selbst entstehen. Vielmehr ist es die zentrale Aufgabe der Vorhut, der Klasse zu helfen, alle unterentwickelten, spontanen Vorformen des Politischen „auf das Niveau der Bewusstheit zu heben” (5) durch einen “erbitterten Kampf gegen die Spontaneität”. (6)

Auf dieser Grundlage verwirklichte Lenin ein Konzept der Partei, welches diese als Organisation des Kampfes auf der Grundlage einer marxistisch-wissenschaftlichen Programmatik sah – und zwar des Kampfes auf allen Ebenen, des wirtschaftlichen, des politischen und des ideologischen. Damit verbunden war sein Verständnis, dass die Partei nur dann ein revolutionäres Klassenbewusstsein in das Proletariat hineintragen kann, wenn es gleichzeitig auch immer die Verfälschungen und Verzerrungen der unter dem Banner des „Sozialismus“ marschierenden revisionistischen, pseudo-sozialistischen Kräfte aufdeckt und bekämpft.

Daraus ergab sich auch das bolschewistische Verständnis der Revolution. Revolutionen können nur dann siegreich enden – also den Kapitalismus stürzen und die sozialistische Gesellschaft errichten -, wenn durch sie die Staatsmacht der Kapitalistenklasse zerschlagen und die Konterrevolution in einem Bürgerkrieg niedergerungen wird. Daraus ergibt sich, dass der scharfe Aufschwung des Klassenkampfes, die Entstehung einer revolutionären Situation – Entwicklungen, die oft spontan entstehen – nur die Voraussetzung für die Machteroberung der Arbeiterklasse ist. Der Sieg der Revolution ist jedoch nur möglich, wenn eine Vorhutpartei das Proletariat auf Grundlage eines klaren Programms, einer klaren Strategie und klaren Taktiken durch alle Wendungen und Rückschläge des Klassenkampfes hindurch zum bewaffneten Aufstand führt. Nur eine revolutionäre, organisierte Führung ist die Gewähr für den Sieg im Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie. Kurz: Eine revolutionäre Situation entsteht meist spontan, der Erfolg der Revolution kann jedoch nur durch eine bewusste Führung gesichert werden.

Aus diesem Grundverständnis des Wesens der Revolution ergab sich auch das Konzept der Partei. Die Aufgabe der Partei ist die Führung der Klasse im Klassenkampf auf allen Ebenen:  der wirtschaftlichen, der politischen und der ideologischen. Diese Führung erfordert Klarheit und Initiative auf den Gebieten der Propaganda, der Agitation und der Organisation: es gilt also eine stetige „Umkehrung der Praxis zur Theorie und der Theorie in die Praxis“. (7)

Führung beinhaltet daher auch, dass die Avantgarde die Klasse stets über das tatsächliche Kräfteverhältnis, über die Absichten der herrschenden Klasse sowie über die Gefahren der Politik der falschen Führungen der Arbeiterklasse – der reformistischen bzw. zentristischen Kräfte – aufklärt. Diese Aufklärung ist deshalb so wichtig, da deren falsche Politik die Entwicklung des Klassenbewusstseins in eine revolutionäre Richtung erschwert und somit ein  Hindernis darstellt. Es kann daher keine „friedliche Koexistenz“ mit Reformismus und Zentrismus geben – sie müssen politisch bekämpft werden.

Jene Linken, die gern von der „linken Familie“ träumen, eine offene Kritik am Reformismus und Zentrismus ablehnen und dabei die Klassengegensätze zwischen revolutionärem und revisionistischem Marxismus verwischen, erinnern wir an Lenins Warnung vor „jenen falschen Freunden (…), die sie von der ernsten revolutionären Erziehung ablenken durch inhaltslose revolutionäre oder idealistische Phrasen und durch philisterhaftes Wehklagen über die Schädlichkeit und Nutzlosigkeit einer scharfen Polemik zwischen den revolutionären und den oppositionellen Richtungen“. (8)

Kriege und der Charakter der imperialistischen Epoche

Lenin und die Bolschewiki verstanden die imperialistische Epoche als Weiterentwicklung des Kapitalismus, als sein letztes Stadium, der Epoche der Verschärfung seiner Gegensätze und somit seines Niederganges. Zusammengefasst definierten die Bolschewiki Kriege in der Epoche des Imperialismus folgendermaßen:

„Dieser Krieg ist aus den Bedingungen einer Epoche hervorgegangen, in der der Kapitalismus sein höchstes Entwicklungsstadium erreicht hat; in der bereits nicht nur der Export von Waren, sondern auch der Export von Kapital die wesentlichste Bedeutung hat; in der die Kartellierung der Industrie und die Internationalisierung des Wirtschaftslebens beträchtliche Ausmaße erreicht hat; in der die Kolonialpolitik zur Aufteilung fast des ganzen Erdballs geführt hat; in der die Produktivkräfte des Weltkapitalismus über die engen Schranken der nationalstaatlichen Gliederung hinausgewachsen und die objektiven Bedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus völlig herangereift sind.“ (9)

Wir haben Lenins Charakterisierung des Imperialismus an anderer Stelle ausführlich erörtert und belassen es hier mit dieser kurzen Zusammenfassung. Wir wollen an dieser Stelle nur auf jene Aspekte eingehen, die die Frage des Krieges betreffen (10).

Lenin betonte in seinen Arbeiten zum Imperialismus, dass in der Epoche der massiven Verschärfung der ökonomischen Gegensätze es auch zu einer Verschärfung der politischen Gegensätze sowohl zwischen den Staaten als auch den Klassen kommt und kommen muss. Somit – dies haben die letzten 100 Jahre anschaulich gezeigt – zeichnet sich die Weltpolitik durch eine Tendenz zu Kriegen, Militarismus, Rassismus und Reaktion aus. Lenin fasste dies folgendermaßen zusammen: „Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion.“ (11) Dies wirkt sich auf alle politischen Ebenen aus: „Sowohl in der Außenpolitik als auch gleicherweise in der Innenpolitik strebt der Imperialismus zur Verletzung der Demokratie, zur Reaktion.“ (12)

MarxistInnen gingen immer davon aus, dass Kriege nicht in der Machtgier einzelner Gruppen oder Personen wurzeln, sondern im System des Kapitalismus und der Klassenherrschaft. Lenin betonte daher, dass MarxistInnen in ihrer Propaganda immer auf diesen Zusammenhang von Krieg und Klassenherrschaft verweisen müssen und Kriege erst mit der Beseitigung der Klassengesellschaft verschwinden werden.

„Das revolutionäre Proletariat muß unermüdlich gegen den Krieg agitieren und dabei immer daran denken, daß Kriege unausrottbar sind, solange sich die Klassenherrschaft überhaupt hält.“ (13)

In der Epoche der Verschärfung der Gegensätze des Kapitalismus und seines Niedergangs ergibt eine verstärkte Tendenz in Richtung Reaktion und Krieg, wenn auch durch formell demokratische Staatsformen und „friedliche“ und „demokratische“ Motive der Kriegsführung getarnt. Schon Marx und Engels wiesen auf die ökonomische Expansionsdynamik des Kapitalismus und deren Koppelung an kriegerische Intervention zur Gewinnung neuer und Absicherung bestehender Märkte hin. Lenin und andere marxistische TheoretikerInnen bekräftigten diese Analyse und schlossen aus den Erfahrungen des frühen 20. Jahrhunderts, dass Kriege im imperialistischen Kapitalismus einen permanenten und verschärften Charakter haben. Im Zeitalter des Imperialismus, in dem wir uns seit über 100 Jahren befinden, verschärft sich die Konkurrenz zwischen den Konzernen und zwischen den kapitalistischen Staaten; daher nimmt auch die Auspressung und Unterwerfung der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker zu. Es kommt daher unausweichlich immer wieder zu Krisen und Kriegen. In seinem Imperialismus-Buch hielt Lenin 1916 fest:

„(…) das sind Ergebnisse des modernen Monopolkapitalismus im Weltmaßstab. Und diese Ergebnisse zeigen, daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind.“ (14)

Im gleichen Sinn hielt auch die Berner Konferenz der Bolschewiki im Februar 1915 kategorisch fest: „Im Kapitalismus, und besonders in seinem imperialistischen Stadium, sind Kriege unvermeidlich.“ (15)

Während also Lenin und die Bolschewiki die Unvermeidlichkeit von Kriegen im Kapitalismus allgemein und in der imperialistischen Epoche im Besonderen betonten, versäumten sie auch nicht, die Unterschiede zwischen den kapitalistischen Entwicklungsperioden herauszustreichen. Im Gegensatz zu Kriegen in vorkapitalistischen Epochen und in der Frühphase der kapitalistischen Entwicklung zeichnen sich imperialistische Kriege vor allem durch folgende Punkte aus: 1. durch ihren verallgemeinerten Charakter (bis hin zum Weltkrieg) als Resultat der Aufteilung der Welt unter den Großmächten; 2. durch die Massenschlächterei der industriellen Kriegsführung; 3. im Falle von inner-imperialistischen Kriegen zwischen Großmächten durch die massive Vernichtung des Kapitalstocks als Ausdruck der verschärften Überakkumulationskrise im Imperialismus.

Obwohl Chauvinismus und Repression von der Reaktion massiv geschürt wurden, hat die Zuspitzung der Widersprüche in der imperialistischen Epoche zur Herausbildung von Widerstand, revolutionären Situationen und Revolutionen geführt. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Lenin Kriege und Revolutionen als zentrale Merkmale des Imperialismus definiert.

Lenin und die Herausbildung der marxistischen Haltung zu imperialistischen Kriegen

Die marxistische Haltung zu imperialistischen Kriegen wurde im Kern von Lenin und den Bolschewiki im russisch-japanischen Krieg 1904/05 entwickelt. Auch die Menschewiki erarbeiteten erste Ansätzen einer revisionistischen, in Richtung Pazifismus tendierenden Haltung, wie sie später charakteristisch für das linksreformistische und zentristische Lager werden sollte.

Der russisch-japanische Krieg resultierte aus dem Zusammenstoß der Interessen der Großmächte Russland und Japan, die beide ihre politischen und wirtschaftlichen Einflusssphären in China und dem Fernen Osten ausbauen wollten.

Die Bolschewiki verurteilten den Krieg seitens der russischen Zarenherrschaft als einen reaktionären Krieg um Erweiterung ihres Einflusses, einen Krieg für die „Ausplünderung der Nachbarländer“, einen Krieg „um die Mandschurei und Korea, um diese neuen Gebiete, die die russische Regierung an sich gerissen hat, um ‚Gelbrußland’“. (16) Daher bezeichneten die Bolschewiki den Krieg seitens Russlands als einen „Kolonialkrieg“. (17) Während sie – neben innenpolitischen Motiven der um ihre Macht fürchtende Romanow-Dynastie – diesen Hauptaspekt des Krieges betonten, suchten die Menschewiki, den Krieg allein aus den machtpolitischen Interessen des Zaren zu erklären. Sinowjew fasste die Differenzen in der Analyse der Ursachen des Krieges zusammen:

„Die Menschewiki betonten hauptsächlich seinen dynastischen Charakter und erklärten ihn ausschließlich aus dem Bestreben des Hauses Romanow, den Thron dadurch zu festigen, daß sie die Aufmerksamkeit des Volkes von den inneren Ereignissen auf die äußeren abzulenken versuchten. Bis zu einem gewissen Grad war das natürlich richtig. (…) Aber durch das dynastische Moment wurde die Sache nicht erschöpft. Neben dem dynastischen Moment haben in diesem Krieg zweifellos auch rein imperialistische, annexionistische Bestrebungen, der Wunsch, neue Märkte zu erobern usw., eine bedeutende Rolle gespielt. Viele Parteikomitees, die in Rußland tätig waren, betonten gerade diesen Charakter des russisch-japanischen Krieges, aber die Menschewiki bekämpften diesen Gesichtspunkt (…) Und wenn man sich jetzt in die Evolution des Menschewismus hineinversetzt, so muß man sagen, daß schon in dieser Analyse der Ursachen des russisch-japanischen Krieges ein Anzeichen für ihr künftiges politisches Denken enthalten war.“ (18)

Bereits damals verstanden die Bolschewiki, dass Kriege den schärfsten Ausbruch der kapitalistischen Klassengegensätze darstellen, diese zugleich aber auch das Potential für die schärfste Form des sozialistischen Klassenkampfes verkörpern. Sie betonten, dass man „stets die große revolutionäre Rolle des historischen Krieges hervorheben“ muss. Lenin schrieb im Zentralorgan der Bolschewiki „Wperjod“: „Das russische Proletariat hat durch die Niederlage der Selbstherrschaft gewonnen“ und schlussfolgerte „Der Krieg (…) bringt uns dem Beginn eines neuen Krieges näher, des Volkskrieges gegen die Selbstherrschaft, des Krieges des Proletariats für die Freiheit.“ (19)

Schon im Dezember 1904, noch vor Beginn der 1905er Revolution, wies Lenin auf die militärische Niederlage des Zarismus als Ausgangspunkt der Revolution hin: „Der militärische Zusammenbruch ist unvermeidlich und damit zugleich ist auch unvermeidlich, daß die Unzufriedenheit, die Gärung und Empörung zehnfach stärker wird. Auf diesen Zeitpunkt müssen wir uns mit aller Energie vorbereiten. Ist dieser Zeitpunkt gekommen, dann wird einer jener Ausbrüche, die sich bald hier, bald dort immer häufiger wiederholen, zu einer gewaltigen Volksbewegung führen. Dann wird das Proletariat an der Spitze des Aufstandes marschieren, um für das ganze Volk die Freiheit zu erkämpfen, um der Arbeiterklasse den offenen, breiten und durch die gesamte Erfahrung Europas bereicherten Kampf für den Sozialismus zu ermöglichen.“ (20)

Die Menschewiki hingegen begründeten ihre Taktik mit der Analyse, dass der Krieg nicht auf den grundlegenden Charakter des von Klassengegensätzen zerfressenen Kapitalismus zurückzuführen sei, sondern nur auf oberflächliche, kurzfristige machtpolitische Kalküle. Daraus leiteten sie eine reformerische, pazifistische Strategie gegen den Krieg ab, den man mit der Losung „Frieden jetzt“ und der Einberufung einer Konstituierenden Versammlung bekämpfen könne. Kein Wort des Rufes nach der Niederlage des Zarenreiches im Krieg, nach Ausnützen des Krieges zur Revolution, der Erkämpfung der Freiheit und der Konstituierenden Versammlung durch einen bewaffneten Aufstand und dem gewaltsamen Sturzes des Zarismus.

Der Führer der Menschewiki, Julius Martow brachte die Überlegungen seiner Partei auf den Punkt. Er schrieb, dass das damalige Zentralorgan der Menschewiki, die „Iskra“, alle Tendenzen in Richtung „Defaitismus“ ablehnte und stattdessen „im Kampf gegen die zaristische Außenpolitik die Forderung des sofortigen Friedensschlusses und als Mittel für diesen Zweck die Einberufung der Konstituierenden Versammlung“ aufstellte. (21)

Daher kritisierten die Menschewiki Lenin und die Bolschewiki für ihre „defaitistische“ Haltung:

„Die menschewistischen Zentralinstanzen mußten angesichts dieser Bemühungen, die russische revolutionäre Bewegung zum Werkzeug der äußeren Politik der japanischen Imperialisten zu machen, um so vorsichtiger sein, als in den bolschewistischen Kreisen des Auslands die ‚defaitistische‘ Stimmung nicht weniger stark verbreitet waren als bei den Liberalen und den Nationalisten.“ (22)

In der Tat: Auch wenn Lenin und die Bolschewiki die Strategie des „revolutionären Defaitismus“ noch nicht so weit entwickelt hatten, wie zu Beginn des ersten Weltkriegs, so finden wir bereits 1904/05 zentrale Ansätze dazu. Lenin kritisierte daher schon damals die pazifistische, abwartende Haltung des zentristischen Flügels der Sozialdemokratie – der Menschewiki -, die eine aktive Orientierung auf Ausnutzung des Krieges und Verwandlung in einen revolutionären Aufstand ablehnten. So kommentierte er die Positionen der Menschewiki in deren Zentralorgan „‚Iskra“: „Selbstverständlich mußte auch die neue ‚Iskra‘ ihre Verworrenheit beweisen. Anfangs verzapfte sie nicht wenige Phrasen über einen Frieden um jeden Preis. Dann hatte sie es eilig, sich zu ‚korrigieren'(…) Jetzt ist sie schließlich bei banalen Betrachtungen darüber angelangt, wie unangebracht es sei, über den Sieg der japanischen Bourgeoisie zu ‚spekulieren‘ (!!?), und darüber, daß der Krieg ein Unheil sei, ‚unabhängig davon‘, ob er mit einem Sieg oder einer Niederlage der Selbstherrschaft endet.“ (23)

Schon während der Diskussionen zur Haltung zum russisch-japanischen Krieg entwickelten sich somit zentrale Differenzen zwischen einer revolutionären und opportunistischen Haltung. Die grundlegende Differenz drehte sich hierbei um die Fragen, auf welcher Grundlage der Krieg abgelehnt wird, ob das revolutionäre Potential von Kriegen ausgenutzt werden soll und ob RevolutionärInnen für eine Niederlage ihrer jeweiligen Bourgeoisie eintreten sollten. Während die Bolschewiki auf die ökonomischen Ursachen des Krieges hinwiesen, strichen die Menschewiki politische Herrschaftsansprüche als Erklärung hervor. Während die Bolschewiki für eine defaitistische Linie eintraten (also der herrschenden Klasse Russlands jegliche Unterstützung verweigerten und für deren Niederlage eintraten), sprachen die Menschewiki nur in allgemeinen Formeln von der Notwendigkeit des Friedens. Das von Martow vorgebrachte Argument, man würde sich mit einer solchen Haltung unmittelbar auf die Seite der japanischen Bourgeoisie stellen, entbehrte jeglicher Grundlage, da eine defaitistische Haltung die Bekämpfung der jeweiligen nationalen Bourgeoisie als internationale Aufgabe sieht. Den Auseinandersetzungen zwischen einzelnen nationalen Fraktionen der Bourgeoisie (hier der russischen und japanischen) wird der gemeinsame Widerstand der jeweiligen Arbeiterklasse gegen ihre Bourgeoisie gegenübergestellt.

Diese unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen zur Frage der Haltung der Arbeiterklasse zum Krieg haben spätestens mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges auch die internationale Arbeiterbewegung erfasst.

Volle Entwicklung der revolutionären Taktik zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914/15

Im August 1914 brach der erste Weltkrieg zwischen zwei Blöcken von imperialistischen Großmächten – Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich auf der einen und Großbritannien, Frankreich und Russland auf der anderen Seite – aus. Die Bolschewiki und andere Linke in der II. Internationale erkannten von Anfang an, dass dies kein gerechter Krieg von irgendeiner Seite war, sondern ein reaktionärer, imperialistischer Krieg zwischen den Großmächten.

Der Ausbruch des Weltkrieges führte zum Zusammenbruch der II. Internationale. Die überwiegende Mehrheit der Führungen der nationalen Parteien brach mit den in den Jahren zuvor beschlossenen Antikriegsresolutionen und unterstützte die herrschende Klasse und ihren Krieg im eigenen Land. Die Blätter der SPD wurden ganz patriotisch. So schrieb das „Hamburger Echo“: „Der Krieg ist da. (…) Nun heißt es durchhalten. Gegen die Heere des Zaren, die unser Land zu überfluten drohten, richtete sich die erste Rüstung, der erste Vorstoß. (…) Und nun ist die Westgrenze bedroht. Frankreich hat nach amtlichen Meldungen angegriffen (…) wir müssen die Zähne zusammenbeißen und uns wehren. Anderes gibt es nicht. Unschuldig sind wir an dem Fürchterlichen. Wir haben zum Frieden, zur Verständigung gemahnt. Es ist anders gekommen. Jetzt entscheidet das Eisen! Jetzt entscheidet die Macht! Deutschlands Volk muß sich verteidigen!“

Ähnlich schrieb die „Humanité“, das Zentralorgan der französischen Sozialisten: „Deutschland hat ganz Europa gegen sich aufgebracht. Warten wir das Urteil der Waffen ab, in der Hoffnung, es möge für uns günstig sein.“ (24) Auch die österreichische Sozialdemokratie entblödete sich nicht, anlässlich des Attentats auf den österreichischen Thronnachfolger Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 vom „schweren Unrecht, daß die serbischen Machthaber an Österreich begangen haben“, zu sprechen und den Krieg als gerechten Krieg der Mittelmächte gegen das reaktionäre russische Zarenregime zu charakterisieren. (25)

Die Parlamentsfraktionen der sozialdemokratischen Parteien in den Krieg führenden Ländern Europas stimmten – sofern das Parlament nicht durch Notverordnungen außer Kraft gesetzt war (26) – für die Bewilligung der Kriegskredite, die für die Finanzierung der Eroberungspläne der Regierungen notwendig waren und unterstützten die Mobilisierung für den Krieg.

Die Haltung Lenins und der Bolschewiki zum imperialistischen Weltkrieg unterschied sich diametral von jener der gesamten Sozialdemokratie und war auch konsequenter als jene der anderen Kräfte in linken Flügel der II. Internationale. Aufgrund ihrer konsequenten Ablehnung jeglicher Vaterlandsverteidigung und des Eintretens für die Niederlage der eigenen herrschenden Klasse im Krieg wurde die Bolschewiki oft „porashenzy“ – was russisch soviel wie „Niederlagler“ bedeutet – genannt. Später wurde die bolschewistische Strategie gegen den imperialistischen Krieg oft als „revolutionärer Defaitismus“ bezeichnet. (27)

Der Kerngedanke der Leninschen Herangehensweise war die Ablehnung des imperialistischen Krieges, dessen Bekämpfung durch die Methoden des Klassenkampfes und dessen Ausnütung zur Vorantreibung des Sturzes der eigenen Bourgeoisie. Daraus ergab sich das klare Eintreten für die Niederlage der eigenen Regierung im Krieg.

„Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nicht umhin, die Niederlage ihrer eigenen Regierung zu wünschen. Das ist ein Axiom. Und nur von überzeugten Anhängern oder hilflosen Lakaien der Sozialchauvinisten wird dieses Axiom bestritten.“ (28)

Diese Grundhaltung verbanden die Bolschewiki mit dem Kampf für die sozialistische Revolution. Daraus ergab sich ihre Schlüssellosung im Kampf gegen den imperialistischen Krieg: „Die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Losung.“ (29)

Daher geht es – so Lenin – „nicht darum, die Gewehre zum Schweigen zu bringen, sondern sie für unsere Ziele einzusetzen“. (30) Diese zentrale Losung entsprang nicht dem Wunsch, besonders radikal zu klingen, sondern der Einsicht, dass ein imperialistischer Krieg eine massive Anspannung aller gesellschaftlichen Kräfte darstellt und im Falle einer Niederlage die herrschende Klasse in eine tiefe Krise stürzen kann. Mit anderen Worten, ein imperialistischer Krieg wirft früher oder später die Frage auf: Welche Klasse herrscht im Land? Wer entscheidet, ob weiter Krieg geführt wird, ob Lebensmittel oder Kriegsmaterial produziert werden, ob Frieden geschlossen wird, oder nicht.

Die Erfahrungen der beiden Weltkriege mit den revolutionären Situationen in Ost- und Mitteleuropa 1918-23 sowie in Griechenland, Italien und Frankreich 1944-45 belegen diese These des revolutionären Marxismus. Daher wiesen die Bolschewiki immer wieder darauf hin, dass imperialistische Kriege zu Revolutionen führen können und dass RevolutionärInnen alles in ihrer Macht Stehende unternehmen müssen, um diesen Prozess voranzutreiben und die Massen in Richtung Machteroberung führen müssen.

„Der Krieg hat zweifellos eine Krise schwerster Art heraufbeschworen und die Leiden der Massen ungeheuerlich verschärft. Der reaktionäre Charakter dieses Krieges, die unverschämte Lüge der Bourgeoisie aller Länder, die ihre Raubziele unter dem Mäntelchen „nationaler” Ideologie versteckt – all dies ruft auf dem Boden der objektiv revolutionären Situation unweigerlich revolutionäre Stimmungen in den Massen hervor. Es ist unsere Pflicht, diese Stimmungen bewußt zu machen, zu vertiefen und ihnen Gestalt zu geben. Diese Aufgabe findet ihren richtigen Ausdruck nur in der Losung: Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg, und jeder konsequente Klassenkampf während des Krieges, jede ernsthaft durchgeführte Taktik von „Massenaktionen” muß unvermeidlich dazu führen. Man kann nicht wissen, ob eine starke revolutionäre Bewegung im Zusammenhang mit dem ersten oder mit dem zweiten imperialistischen Krieg der Großmächte, ob sie während des Krieges oder nach dem Kriege auf flammen wird, jedenfalls aber ist es unsere unbedingte Pflicht, systematisch und unentwegt in eben dieser Richtung zu wirken.“ (31)

Letztlich ergibt sich die Haltung der Bolschewiki aus der Grundthese des Kommunistischen Manifests, wonach die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Diese Klassenkämpfe zwischen unterdrückenden und unterdrückten Klassen müssen sich unausweichlich immer wieder in offenen Zusammenstößen, in Bürgerkriegen entladen. Lenin schreibt daher, „daß wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen, d.h. von Kriegen der unterdrückten Klasse gegen die unterdrückende Klasse, der Sklaven gegen die Sklavenhalter, der leibeigenen Bauern gegen die Gutsbesitzer, der Lohnarbeiter gegen die Bourgeoisie.“ (32)

Diese Strategie der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg konkretisierten die Bolschewiki folgendermaßen:

„Als erster Schritt in Richtung auf die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg sind zu bezeichnen: 1. unbedingte Ablehnung der Kriegskredite und Austritt aus den bürgerlichen Kabinetten; 2. völliger Bruch mit der Politik des ‚nationalen Friedens‘ (Bloc national, Burgfrieden); 3. Bildung illegaler Organisationen überall dort, wo Regierung und Bourgeoisie unter Verhängung des Belagerungszustandes die verfassungsmäßigen Freiheiten aufheben; 4. Unterstützung der Verbrüderung der Soldaten der kriegführenden Nationen in den Schützengraben und auf den Kriegsschauplätzen überhaupt; Unterstützung aller revolutionärer Massenaktionen des Proletariats überhaupt.“ (33)

Die Haltung der Sozialdemokratie bei Kriegsausbruch

Der Kampf der Bolschewiki gegen den bürgerlichen Einfluss innerhalb der Arbeiterklasse durch verschiedene opportunistischen Strömungen fand auf verschiedenen Ebenen statt. Im wesentlichen unterschieden sie zwischen den offenen und den versteckten Opportunisten. Die offenen Opportunisten bildeten der rechten Flügel in der Sozialdemokratie, die offen in Wort und Tat die chauvinistische Politik der eigenen herrschenden Klasse unterstützten. Sie riefen zur Vaterlandsverteidigung auf, stimmten für die Kriegskredite, traten z.T. in die Regierungen ein usw. Deshalb bezeichnete Lenin diesen rechten Flügel als sozialchauvinistisch.

Davon zu unterscheiden war das sogenannte „Zentrum“, der versteckt opportunistische oder auch „sozialpazifistisch“ genannte Flügel. Dieser vertrat scheinbar marxistische Positionen, doch in Wirklichkeit passte er sich an den Opportunismus an. Lenin sprach daher von den Zentristen als den „angeblichen Marxisten, die zwischen Opportunismus und Radikalismus schwanken und in Wirklichkeit als Feigenblatt für den Opportunismus dienen.“ (34)

Es liegt auf der Hand, warum alle ernsthaften MarxistInnen gegen die Positionen der offenen Kriegsbefürworter – der Sozialchauvinisten – kämpfen und den Bruch mit ihnen anstreben mussten. Wir wollen uns daher hier der Debatte der Bolschewiki mit den Zentristen widmen, deren Hauptvertreter Karl Kautsky war (weshalb Lenin sie oft als „Kautskyaner“ bezeichnete).

Zentrismus: Impotente Phrasen für Frieden und praktische Unterstützung für den imperialistischen Krieg

Es ist zuerst einmal festzuhalten, dass viele Linke oft dem Missverständnis unterliegen, die Führungen der Sozialdemokratie wären 1914 bei Ausbruch des ersten Weltkrieges alle auf rabiat chauvinistische Positionen übergegangen, hätten das eigene Vaterland hochleben lassen und die feindlichen Nationen als minderwertig verdammt. Würden wir den Klassenkampf immer gegen einen Gegner führen, der offen und unverblümt seine Ideen propagiert, wäre vieles einfacher. Tatsächlich ist es eher so, dass der Klassenfeind lügt und betrügt, dass die Bürokratie schwankt, diplomatisch den wesentlichen Fragen ausweicht, dass sie ihre tatsächliche Ziele und Kampfmethoden hinter einer Nebelwand harmloser, süßlicher, scheinbar unschuldiger Phrasen verbergen. Gerade deswegen wies Lenin immer darauf hin, dass MarxistInnen erbarmungslos gegen alle Formen schwammiger, unklarer, nicht bis zur letzten Konsequenz durchdachten Ideen der Zentristen ankämpfen müssen, denn diese Ideen verwirren die Arbeiterklasse, weisen statt eines klaren, revolutionären Weges zum Sieg einen nebelbedeckten Irrweg in die Niederlage.

So standen die führenden Elemente des rechten Flügels der deutschen SPD um Gustav Noske, Friedrich Ebert und Albert Südekum mit dem Reichskanzler des Kaiserreiches in direkter Verbindung und planten bewusst die Unterstützung der Sozialdemokratie für Deutschlands Eintritt in den Krieg. Aber der zentristische Teil der Führung – das sogenannte Zentrum mit Karl Kautsky, Hugo Haase, Victor Adler, Friedrich Adler, Otto Bauer, Jean Jaures u.a. – hoffte tatsächlich, den Krieg vermeiden zu können. Daher warnten sie auf den Konferenzen der II. Internationale in den Jahren vor 1914 vor dem drohenden imperialistischen Weltkrieg und stimmten für entsprechende Resolutionen. Deswegen meinten es sicherlich eine Reihe von Funktionären sogar ehrlich, als der SPD-Parteivorstand am 25. Juli 1914 – nach den Schüssen in Sarajewo und dem drohenden Ausbruch des Krieges – erklärte: „Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!

Es ist hier nicht der Platz, eine ausführlichere Einschätzung der Diskussion in der internationalen Sozialdemokratie am Beginn des ersten Weltkrieges darzulegen. Daher seien hier nur einige Anmerkungen gemacht, die für die hier zu besprechende Haltung des Zentrismus zum Krieg von Bedeutung sind. Aus dem Protokoll der letzten Sitzung des Leitungsgremiums der II. Internationale, dem Internationalen Sozialistischen Büro (ISB), welches wegen der Kriegsgefahr am 29./30. Juli in Brüssel zusammenkam, kommt die Haltung des Zentrismus deutlich zum Ausdruck.

Bei der Sitzung waren zahlreiche namhafte Vertreter der europäischen Parteien anwesend, darunter eine Reihe prominenter Vertreter des Zentrums (u.a. Hugo Haase, Karl Kautsky, Friedrich Adler, Jean Jaures, Jules Guesde, Pawel Axelrod, Emile Vandervelde, Rosa Luxemburg).

Die Diskussionen von einer Mischung aus Fatalismus und künstlichem Optimismus geprägt. Der historische Führer der österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler, jammerte: „Wir konnten nicht mit dem Krieg rechnen. (…) Die Partei ist wehrlos. (…) Ich persönlich glaube nicht daran, daß es zu einem allgemeinen Krieg kommt. (…) Aber unsere gesamte Organisation und unsere Presse stehen auf dem Spiel. (…) Wir müssen unsere Institutionen schützen. (…) Es ist traurig, aber man kann nichts dagegen machen.“

Haase war nicht ganz so pessimistisch, kritisierte die Passivität der österreichischen Schwesterpartei und sprach sich für die Abhaltung von Demonstrationen gegen den Krieg aus. Gleichzeitig gab er sich fatalen Illusionen hin, die aus der opportunistischen Fixiertheit auf den bürgerlichen Staat resultierten. So meinte er, von seinem Gespräch mit dem deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg wenige Tage zuvor berichtend: „Wir wissen, daß Deutschland den Frieden will (…) Man vermeidet alles, was zum Krieg führen könnte.“ Den gleichen Unsinn verbreitete der Führer der französischen Sozialdemokratie: „Die französische Regierung will den Frieden. Sie wird England bei dessen Friedensvermittlungen unterstützen.“

Die Stimmung der Teilnehmer der ISB-Sitzung zeichnete sich durch ein Schwanken zwischen Fatalismus gegenüber dem Krieg, Optimismus gegenüber den Kriegsabsichten der herrschenden Klasse und einem allgemeinen, aber unverbindlichen, nicht konkretisierten, geschweige denn organisierten Wunsch aus, den Krieg zu verhindern. Daher konnten und wollten die Führer keinen Aktionsplan gegen den Krieg beschließen. Dies wurde auch von niemandem – auch nicht von Rosa Luxemburg – vorgeschlagen. Man begnügte sich mit einer kurzen Resolution und dem Beschluß, den geplanten Kongreß der Internationale auf den 9. August in Paris vorzuverlegen.

Die Hauptaussage dieser Resolution war folgende:

„Das Internationale Sozialistische Bureau (…) verpflichtet einstimmig die Proletarier aller betroffenen Länder, Demonstrationen gegen den Krieg und für den Frieden und eine schiedsgerichtliche Regelung des österreichisch-serbischen Konfliktes nicht nur fortzusetzen, sondern noch zu verstärken. Die deutschen und französischen Proletarier sollen stärker denn je Druck auf ihre Regierungen ausüben, damit Deutschland auf Österreich mäßigend einwirkt und Frankreich Rußland dazu bringt, sich nicht in den Konflikt einzumischen.“ (35)

Die ganze Diskussion war davon geprägt, welche Ereignisse passieren, was auf die Parteien zukommt, wie man unter diesen Umständen möglichst gut überleben könne. Kein Wort darüber, wie die internationale Arbeiterklasse aktiv und gemeinsam gegen den drohenden Krieg kämpfen könne, wie der Krieg für den Kampf gegen den Kapitalismus ausgenützt, wie dieser Kampf organisiert werden könne usw. Dafür richteten sich die Hoffnungen umso mehr auf imperialistische Regierungen, die mittels Schiedsgericht sowie Einwirken auf andere imperialistische Regierungen einen Krieg verhindern sollten. Kein Wunder, dass die Parteiführer nach der Sitzung nach Hause fuhren und keinen Finger für eine ernsthafte Mobilisierung gegen den Krieg rührten.

Aber ungeachtet der Hoffnungen und Wünsche des sozialdemokratischen Zentrums brach der Weltkrieg aus. Und gerade, weil sich die Haltung des Zentrismus durch einen Fatalismus auszeichnete, durch eine Verneinung des aktiven Eingreifens einer Avantgardepartei zwecks Ausnützung aller Krisen des Feindes und Vorantreibens des Klassenkampfes und Klassenbewusstseins, brach dann auch die Standfestigkeit der Kriegsablehnung zusammen. Natürlich, bei einem Teil blieben die Ablehnung des Chauvinismus und das Bedauern des Krieges in Worten erhalten. Doch das hinderte sie in der Praxis nicht daran, gemeinsam mit den Sozialchauvinisten zu gehen und die imperialistischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen bzw. nichts dagegen zu unternehmen.

Dies kann man gut an der Erklärung von Hugo Haase ablesen, mit der die SPD-Fraktion im Reichstag ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten begründete:

„Wir stehen vor einer Schicksalsstunde. Die Folgen der imperialistischen Politik, durch die eine Ära des Wettrüstens herbeigeführt wurde und die Gegensätze zwischen den Völkern sich verschärften, sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägern dieser Politik zu, wir lehnen sie ab. Die Sozialdemokratie hat diese verhängnisvolle Entwicklung mit allen Kräften bekämpft und noch bis in die letzten Stunden hinein hat sie durch machtvolle Kundgebungen in allen Ländern, namentlich im innigen Einvernehmen mit den französischen Brüdern für Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Ihre Anstrengungen sind vergeblich gewesen.

Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel.

Nun haben wir zu denken an die Millionen Volksgenossen, die ohne ihre Schuld in dieses Verhängnis hineingerissen sind. Sie werden von den Verheerungen des Krieges am schwersten getroffen. Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei.

Wir denken auch an die Mütter, die ihre Söhne hergeben müssen, an die Frauen und Kinder, die ihres Ernährers beraubt sind, denen zu der Angst um ihre Lieben die Schrecken des Hungers drohen. Zu ihnen werden sich bald Zehntausende verwundeter und verstümmelter Kämpfer gesellen. Ihnen allen beizustehen, ihr Schicksal zu erleichtern, diese unermeßliche Not zu lindern, erachten wir als zwingende Pflicht.

Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Siege des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen.

Wir fordern, daß dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden, der die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht. Wir fordern dies nicht nur im Interesse der von uns verfochtenen internationalen Solidarität, sondern auch im Interesse des deutschen Volkes.

Wir hoffen, daß die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird. Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kredite.“ (36)

Die ganze Heuchelei des Opportunismus wird vollends klar, wenn man folgende Stelle aus der SPD-Resolution vom 4. August liest:

„Sollte die Regierung gestatten, daß der Krieg von deutscher Seite den Charakter eines Eroberungskrieges annimmt, dann werden wir uns gegen sie auf das energischste wenden.“ (37)

Wir sehen hier also die Zustimmung zu einem imperialistischen Eroberungskrieg – in dessen Verlauf in den ersten Wochen das Deutsche Reich Belgien und Luxemburg eroberte sowie Teile Rußlands – unter dem Mantel der rhetorischen Ablehnung von Eroberungskriegen.

Um noch ein weiteres Beispiel für die Mischung von Friedenswille und dem Wunsch, das deutsche Vaterland gegen das „despotische“ Russland zu verteidigen, anzuführen, ein Zitat aus einer deutschen Gewerkschaftszeitung vom 3. August 1914:

„Wir ersehnen mit Millionen und Abermillionen heißen Herzens die rasche Wiederkehr des Friedens herbei. Doch können und können wir nicht wünschen, daß Kosakentum und echtrussisches Knutenregiment den Sieg über Deutschland davonträgt!

Diesen Sieg zu verhindern, heißt auch den Lebensinteressen der freigewerkschaftlich organisierten Arbeiter dienen. Schlagen wir den Zarismus nicht, dann schlägt er uns! So ist jetzt die Situation.“ (38)

Der Vordenker des Zentrismus, Karl Kautsky, versuchte, diese Haltung zu theoretisieren und für alle Mitgliedsparteien der II. Internationale zu rechtfertigen, dass sie für die Kriegskredite stimmten. So schrieb er kurz nach Kriegsbeginn:

„Im Moment kämpft jeder Staat nur noch um seine Integrität.“ Daher sei es verständlich, dass die beteiligten Staaten „sich verteidigen“, denn „jedem der beteiligten Völker drohen die schlimmsten Verluste im Falle einer Niederlage“. Die Konsequenz ist, „daß sich nicht bloß die Besitzenden, sondern auch die Proletarier allenthalben in ihrer Existenz durch die Niederlage bedroht (fühlen) und gedrängt, alles aufzubieten, einer solchen zu entgehen.“ (39)

Wir sehen hier also die für den Revisionismus so typische Beseitigung eines konsequenten Klassendenkens. Wessen Staat erleidet eine Niederlage im Krieg, welcher Klasse dient er? Kautsky vermeidet es, klar zu sagen, dass es sich hier um kapitalistische, imperialistische Staaten handelt. Durch diesen Trick kann er dann eine Interessensgemeinschaft zwischen dem Schicksal des (kapitalistischen) Staates und des Proletariats herstellen. Durch diese Verknüpfung wiederum lässt sich dann leicht rechtfertigen, warum die Sozialdemokratie – natürlich „schweren Herzens“ und bei „ungebrochenem Friedenswillen“ – „leider“ für die Verteidigung des imperialistischen Vaterlandes eintreten muss.

Diese theoretische Rechtfertigung baut Kautsky dann noch weiter aus und zeigt sich so als intellektueller Vorreiter der heutigen Linksreformisten vom Schlage der Europäischen Linkspartei und ihres Eintretens „für eine soziale, ökologisch und friedliche Europäische Union“.

Im Gegensatz zu Lenin und den Bolschewiki leugnete Kautsky die Unvermeidlichkeit von reaktionären, imperialistischen Kriegen in der Epoche des modernen Kapitalismus. Vielmehr könnte – bei günstigem Kräfteverhältnis mittels Druck seitens der Sozialdemokratie und der „Einsicht“ von Teilen des Finanzkapitals – eine neue, friedliche Phase des Kapitalismus erreicht werden. So schrieb er zu Ausbruch des Weltkriegs:

„(…) veranlaßten mich, zu erwägen, ob es nicht möglich sei, daß die jetzige imperialistische Politik durch eine neue, ultraimperialistische verdrängt werde, die an Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital setzte. Eine solche neue Phase des Kapitalismus ist jedenfalls denkbar. Ob auch realisierbar, das zu entscheiden, fehlen noch die genügenden Voraussetzungen (…) So betrachtete ich auch den Imperialismus nicht als etwas Unabänderliches und erwog die Möglichkeit seiner Überwindung durch eine andere Art der Politik des Finanzkapitals selbst.“ (40)

Diese mögliche Reform des Kapitalismus könnte dann eine neue Periode des Friedens einläuten:

„Kommt es dahin, zu einer Verständigung der Nationen, zur Abrüstung, zu dauerndem Frieden, dann können die schlimmsten Ursachen, die vor dem Krieg in steigendem Maße zu moralischer Abwirtschaftung des Kapitalismus führten, verschwinden. Natürlich würde die neue Phase des Kapitalismus bald neue Mißstände mit sich bringen, vielleicht noch schlimmere als die überwundenen, Mißstände, unter denen nicht nur das Proletariat leiden würde, das sich unter jeder Phase des Kapitalismus bedrückt und ausgebeutet fühlen muß, sondern auch die mehr neutralen Klassen und Schichten. Aber vorübergehend könnte, wie das Manchestertum in den fünfziger und sechziger Jahren sowie der Imperialismus am Ende des vorigen und Beginn des jetzigen Jahrhunderts bis zum Einsetzen der Teuerung, so auch der Ultraimperialismus eine Ära neuer Hoffnungen und Erwartungen innerhalb des Kapitalismus bringen.“ (41)

Die Wirklichkeit des Kapitalismus strafte Kautsky und seine Theorien Lügen. Es folgten zwei Weltkriege, der Holocaust usw. Auch heute erleben wir wieder eine neuerliche Zunahme von imperialistischen Kolonialkriegen und einer weltweiten Aufrüstung der Großmächte.

Die österreichische Linke in der Sozialdemokratie

Auch wenn sich die österreichische Sozialdemokratie einen 4. August ersparte, da das Parlament durch die §14-Verordnungen des Kaisers ausgeschaltet war, vertrat die Partei und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften eine kriegsbefürwortende Linie. Auch in Österreich bildeten sich drei Flügel heraus: der rechten Flügel (repräsentiert durch Karl Renner und Friedrich Austerlitz), das rechte Zentrum (repräsentiert durch Victor Adler) und der linke Zentrumsflügel (repräsentiert durch Friedrich Adler, Robert Danneberg und Max Adler). Insgesamt war der linke Flügel jedoch deutlich rechter als jener mit Luxemburg und Liebknecht in Deutschland. Er kann nicht als revolutionär, sondern muss vielmehr als linker Zentrumsflügel bezeichnet werden. Nur die – zahlenmäßig nicht bedeutsame – „Reichenberger Linke“ um die später führenden Kommunisten Josef und Isa Strasser, Karl Kreibich und Bohumir Smeral nahm in ihrer bereits am 28. Juni 1914 veröffentlichten Stellungnahme gegen den Krieg eine internationalistische Haltung ein.

Von seinem ganzen Charakter her weist dieser linke Zentrumsflügel sehr starke Ähnlichkeiten zum deutschen Zentrum auf. Der zentrale Vertreter dieser „linken“, „antimilitaristischen“ Haltung zum Krieg, um den sich weitere oppositionelle Strömungen gruppierten, war Friedrich Adler. Ideologische Überschneidungen mit dem deutschen Zentrum sind vor allem in der grundlegend pazifistischen Herangehensweise Adlers und der gesamten Linken zu finden. Politisch war diese Linke in erster Linie eine Reaktion auf den offenen Chauvinismus des rechten Parteiflügels, konnte sich jedoch Zeit ihrer Existenz nicht dazu durchringen, dem Kriegsdonner der Bourgeoisie eine klassenkämpferische Linie gegenüberzustellen. Vielmehr akzeptierte die Zentrumslinke das Prinzip der Verteidigung des imperialistischen Vaterlandes. So sprach Max Adler wiederholt von der „Pflicht zur Verteidigung des Vaterlandes“ und proklamierte: „Kein Sozialist wird sein Vaterland in Gefahr im Stich lassen“. (42)

In der Praxis beschränkte sie sich darauf, theoretische Vorträge zu halten und – soweit im Rahmen der Zensur möglich – Kritik im theoretischen Organ „Der Kampf“ zu formulieren; sie vermied jedoch tunlichst eine Spaltung der Partei. Statt derOrganisierung illegaler Parteitätigkeit meinten Friedlich Adler und die Linken, dass „während die Kanonen donnern, dem Sozialismus nur die Politik des Schweigens übrig bleibe.“ (43)

Abgesehen von der Weigerung, illegal gegen den Krieg zu kämpfen, zeichnete sich der linke Flügel auch innerhalb der Partei durch eine absonderliche Passivität aus. Beim ersten Parteitag der SDAP während des Krieges brachten die Linken nicht einmal eine alternative Resolution zu jener des Parteivorstandes ein, obwohl diese erneut den Krieg befürwortete. Auch gab es kaum Versuche, Verbindungen mit der internationalen Opposition zu suchen. Die österreichischen Linken schickten daher auch keinen Vertreter zur Zimmerwalder und zur Kienthaler Konferenz.

Numerisch waren die Linken immer eine sehr kleine Minderheit. Schätzungen zufolge bekannten sich Ende 1915 ca. 120 Parteimitglieder zu dieser pazifistischen Strömung. Organisatorisch versuchte Friedrich Adler, die „antimilitaristischen“ Strömungen in dem von ihm geschaffenen Verein „Karl Marx“ zusammenzufassen. Dieser Verein, der in erster Linie ein Debattierklub war, wurde jedoch 1916, nachdem Adler den österreichischen Ministerpräsidenten Stürgkh erschossen hatte, aufgelöst. Das Attentat selbst ist dabei ein Resultat der praktischen Orientierungslosigkeit des linken Flügels. Durch seine Ablehnung des Klassenkampfes als Mittel gegen Krieg und der gleichzeitigen Ausschaltung aller zentralen bürgerlichen Rechtsinstanzen durch das Kriegsregime, blieb für Adler nur die Option des individualistischen Terrors.

Während die Linke in der österreichischen Sozialdemokratie somit bis 1917 (als die Partei insgesamt auf eine pazifistische Linie umschwenkte) eine geringe Rolle spielte, gruppierte sich der Widerstand und die illegale Propagandatätigkeit zum einen in den sozialdemokratischen Jugendorganisationen und zum anderen auch außerhalb der SDAP. So organisierten einzelne Ortsgruppen des „Verbands jugendlicher Arbeiter“ bereits seit 1914 illegale Arbeit gegen den Krieg und druckten Flugblätter. Diese Ortsgruppen versuchten auch, Kontakt mit Luxemburg und Liebknecht zu knüpfen und diskutierten die Texte der Gruppe „Internationale“.

Eine wichtige und zentrale Rolle in der Propagierung einer klassenkämpferischen Ablehnung des Krieges spielte auch das Ende 1915 gegründete „Aktionskomitee der Linksradikalen“, deren Mitglieder bereits 1914 illegale Flugblattaktionen organisierten und in Kontakt mit Lenin und der Zimmerwalder Linken standen. Die Linksradikalen schafften es auch, in wichtigen Rüstungsbetrieben Vertrauensleute zu gewinnen und somit, trotz ihrer numerischen Schwäche (ca. 30 Mitglieder), ihre organisierte Arbeiterbasis zu verbreitern.

Ihre Arbeit zeichnete sich auch durch ein Verständnis der Anwendung der Einheitsfronttaktik aus. So versuchten sie sehr erfolgreich, im „Verband jugendlicher Arbeiter“ Fuß zu fassen und in Treffen der Linken in der Sozialdemokratie zu intervenieren.

Während das österreichische Zentrum somit relativ unbedeutend war, konnte man die Vertreter einer konsequenten revolutionären Politik in Teilen der sozialdemokratischen Jugendorganisationen und außerhalb der SDAP finden.

Zur Haltung der revolutionären Linken in Deutschland zu Kriegsbeginn

Wir wollen hier auch kurz auf die Haltung der revolutionären deutschen Linken eingehen und den Unterschied zu den Bolschewiki aufzeigen. Ungeachtet ihrer revolutionären Grundhaltung erwies sich der linke Flügel um Luxemburg und Liebknecht bei Kriegsausbruch politisch unvorbereitet und hilflos (44). Rosa Luxemburg wollte zuerst gar nicht an die Möglichkeit des Ausbruchs eines allgemeinen Krieges in Europa glauben, intervenierte kaum bei der entscheidenden Sitzung der Führung der II. Internationale am 29./30. Juli und – als es dann so weit war – glaubte sie an ein energisches Auftreten der SPD-Reichstagsfraktion. So berichtet ein enger Mitarbeiter von Rosa Luxemburg, Hugo Eberlein, über die entscheidenden Tage Anfang August 1914: „Gewiß, die Friedensdemonstration(en) in Berlin bei Kriegsausbruch waren jämmerlich schwach und hohl. Es fehlte ihnen jede Kraft und jeder Elan. Wir machten dem Parteivorstand heftige Vorwürfe, daß er nichts tat, um diese Demonstrationen zu wuchtigen Kundgebungen gegen den Krieg zu gestalten. Nun wurden alle Hoffnungen auf den 4. August, auf die Entscheidungen im Reichstag gelegt, und jeder von uns erwartete, daß die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zu einer wuchtigen Kundgebung gegen den Krieg, zu einem Aufruf an das deutsche Proletariat, sich dem beginnenden Krieg zu widersetzen, kommen würde.“ (45) Als dieses Auftreten ausblieb, verzweifelte Luxemburg und hegte – laut Eberlein – Selbstmordabsichten.

Karl Liebknecht verhielt sich nicht besser. Er beugte sich der Fraktionsdisziplin und stimmte am 4. August 1914 für die Kriegskredite. Als Luxemburg und Zetkin eine Protesterklärung verfassten, weigerte er sich zuerst, sie zu unterschreiben, „um der Partei nicht in den Rücken zu fallen“. (46) Erst bei der nächsten Abstimmung am 2. Dezember stimmte er gegen die Kriegskredite. Seiner öffentlichen Stellungnahme fehlte jedoch eine revolutionäre Richtung im Sinne der später von ihm selbst geprägten Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ Stattdessen argumentierte er für eine „Frieden jetzt“-Position: „Ein schleuniger, für keinen Teil demütigender Friede, ein Friede ohne Eroberungen ist zu fordern“. (47)

Erst später sollten Liebknecht Luxemburg ihre Position radikalisieren: „Die Prinzipien unserer Stellung zum Weltkrieg als Spezialfall der Prinzipien unserer Stellung zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung gilt’s kurz zu klären (…) Die taktischen Folgerungen aus diesen Prinzipien gilt’s vor allem zu ziehen. Rücksichtslos für alle Länder. Bürgerkrieg, nicht Burgfrieden. Internationale Solidarität des Proletariats üben, gegen pseudo-nationale, pseudo-patriotische Klassenharmonie, internationaler Klassenkampf für den Frieden, für die sozialistische Revolution.“ (48)

Es wird öfter darauf verwiesen, dass Lenin noch Illusionen in die deutsche Sozialdemokratie gehabt hätte und deswegen Anfang August die Meldung im Vorwärts über die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten nicht glauben wollte. In der Tat hatte er nicht damit gerechnet. Sinowjew erzählte später, dass er und Lenin über das Abstimmungsverhalten der SPD gewettet hätten. Er, Sinowjew, glaubte, dass sich die Fraktion enthalten werden, während Lenin glaubte, dass sie dagegen stimmen, aber keinerlei Aktionen gegen den Krieg unternehmen werden. Wie wir aber gesehen haben, hatte die deutsche Linke mehr Illusionen in die Parteiführung als ihre russischen Freunde.

Wichtiger als die Frage, wie gut man das Verhalten der deutschen Parteiführung vorhersagte, war die Frage, wie gut und wie rasch die Linke auf diesen Verrat reagierte. Und hier wird der Unterschied zwischen den Bolschewiki und der deutschen Linken besonders klar. Während die deutsche Linke zauderte und keine einheitliche Haltung zur Bürgerkriegs-Strategie einnahm, entwickelten die Bolschewiki sehr rasch eine konsequente revolutionäre Haltung. So meinte Lenin noch in den letzten Juli-Tagen nach den Schüssen in Sarajewo und vor Kriegsbeginn: „Der beste Krieg gegen den Krieg: Revolution“. (49) Und die Antwort auf die Frage nach den nächsten Schritten war für ihn klar: „Was tun? Den Bürgerkrieg propagieren und vorbereiten. Nicht Minister werden, sondern illegaler Propagandist!!“ (50)

Revolutionäre Führung versus revolutionären Fatalismus

Im unterschiedlichen Herangehen der zentristischen und der revolutionären Linken kommt das unterschiedliche Verständnis der Aufgaben revolutionärer Kräfte im Klassenkampf und im Verhältnis der Partei und der Klasse zum Ausdruck. Wir haben am Anfang dieser Arbeit das Leninsche Verständnis der Rolle der revolutionären Partei dargelegt. Daraus ergab sich für die Bolschewiki, dass sie nicht auf einen ‚objektiven Prozess‘ hofften, der die Arbeiterklasse zum bewusst revolutionär handelnden Subjekt machen würde, sondern dass sie die Partei, ihre Initiativen und ihre systematisch propagierten Ideen als Dreh- und Angelpunkt des Kampfes ansahen.

Eine solche Herangehensweise erfordert von RevolutionärInnen, jede Situation im Klassenkampf danach zu beurteilen, wie unter den gegebenen Bedingungen der Klassenkampf vorangetrieben werden, wie die Arbeiterklasse ihr politisches Bewusstsein und ihre Kampfkraft erhöhen und unter welchen Losungen sie daher jede gegebene Situation zur Erreichung ihres historischen Kampfzieles – der sozialistischen Revolution – bestmöglich ausnützen kann. Die Arbeiterklasse ist im Kampf oft reich und erfinderisch in ihren Kampfformen und -methoden. Nichtsdestotrotz kann nur die Partei und kein spontaner Prozess die Verallgemeinerung der Erfahrungen, ihre bewusste Erfassung und ihre politischen und organisatorischen Schlussfolgerungen für die Arbeiterklasse gewährleisten. Daher hat Trotzkis Schlussfolgerung aus der siegreichen Oktoberrevolution 1917 und der gescheiterten Revolution in Deutschland 1923 Allgemeingültigkeit:

„Ohne die Partei, außerhalb der Partei, unter Umgehung der Partei, durch ein Parteisurrogat kann die proletarische Revolution nicht siegen. Das ist die Hauptlehre des letzten Jahrzehnts.“ (51)

Deswegen muss eine jede revolutionäre Partei so klar wie möglich ihre Losungen darlegen, diese zu Taktiken konkretisieren, in einen Zusammenhang mit der Strategie stellen und sich von Reformisten und Zentristen abgrenzen. Denn der Sinn politischer Losungen und ihrer Propaganda besteht gerade darin, dass sie durch Klarheit das politische Klassenbewusstsein heben und schärfen.

„Der Sinn von Losungen, die man aufstellt, muß darin bestehen, daß in der Propaganda und Agitation den Massen der unversöhnliche Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus (Imperialismus) klargemacht wird, nicht aber darin, daß man zwei feindliche Klasse und zwei feindliche politische Richtungen mit Hilfe eines Schlagworts versöhnt, das sie allerverschiedenste Dinge ‚vereinigt‘.“ (52)

Das bolschewistische Verständnis der Revolution und der Partei und ihrer Aufgaben steht damit in diametralem Widerspruch zu opportunistischen (also einem abwartenden, fatalistischen, den spontanen Tendenzen des Klassenkampfes hinterherhinkenden und sich an das Bewusstsein anpassenden Verständnisses), und sektiererischen Tendenzen (also der Glaube, die Aufbauarbeit einer Partei und die Ausarbeitung eines Übergangsprogramms durch radikale Phrasen und spontane Aufstandsbewegungen ersetzen zu können) welche den Linksreformismus und Zentrismus auszeichnen (53).

Leo Trotzki – nach Lenin der wichtigste Führer der Oktoberrevolution und der Kommunistischen Internationale, bevor er der stalinistischen Bürokratie zum Opfer fiel – umriss dieses Problem, als er über die Schwächen der westeuropäischen Kommunistischen Parteien in revolutionären Situationen sprach:

„Man muß gerade heraussagen, daß die Frage der Frist des bewaffneten Aufstandes in manchen Fällen in bezug auf das revolutionäre Bewußtsein vieler westeuropäischer Kommunisten, die sich bis heute noch nicht von ihrer abwartenden fatalistischen Einstellung zu den grundsätzlichen Aufgaben der Revolution befreit haben, den Charakter des Lackmuspapiers besitzt. Am tiefsten und talentiertesten hat diese Einstellung noch bei Rosa Luxemburg Ausdruck gefunden. Psychologisch ist das sehr wohl zu verstehen. Sie ist hauptsächlich im Kampfe gegen den bürokratischen Apparat der deutschen Sozialdemokratie und Gewerkschaften aufgewachsen. Sie bewies unermüdlich, daß dieser Apparat die Initiative der Massen verdrängt, und sie sah nur einen Ausweg und Rettung in einer spontanen Massenbewegung, die sämtliche sozialdemokratischen Verhaue und Barrieren umstürzen sollte. Ein revolutionärer Generalstreik, welcher sämtliche Ufer der bürgerlichen Gesellschaft überschwemmt, wurde für Luxemburg zu einem Synonym der proletarischen Revolution. Allein ein Generalstreik, mag er sich noch so sehr durch Massenstärke auszeichnen, entscheidet die Machtfrage noch nicht, sondern stellt diese nur. Zur Ergreifung der Macht ist notwendig, daß man auf der Grundlage des Generalstreiks den bewaffneten Aufstand organisiert. Gewiß, die Gesamtentwicklung Rosa Luxemburgs ging in dieser Richtung vor sich, und sie trat von der Bühne ab ohne ihr letztes Wort gesagt zu haben, ja nicht einmal ihr vorletztes.

Allein, innerhalb der Kommunistischen Partei haben noch bis in die allerletzte Zeit hinein sehr starke Tendenzen des revolutionären Fatalismus geherrscht: Die Revolution kommt, die Revolution nähert sich, die Revolution wird den bewaffneten Aufstand und die Macht mit sich bringen, und die Partei – wird in dieser Zeit revolutionäre Propaganda treiben und auf die Folgen warten. Unter solchen Bedingungen die Frage der Frist ganz kraß zu stellen, würde bedeuten, daß man aus der fatalistischen Passivität aufgeschreckt und sich der revolutionären Grundaufgabe zuwenden würde, d. h. also, der bewußten Organisierung eines bewaffneten Aufstandes, um die Macht aus den Händen der Feinde zu entreißen.” (Aus der in der Sitzung der Verwaltung der Militärwissenschaftlichen Gesellschaft am 29. Juli 1924 gehaltenen Rede Trotzkis. „Prawda“, 6. September 1924.) (54)

Der Kampf der Bolschewiki gegen den Verrat der Reformisten und Zentristen

Die Bolschewiki verurteilten die Theorie und Praxis des reformistischen und zentristischen Flügels der II. Internationale und traten unermüdlich für die Trennung der revolutionären Kräfte von der II. und den Aufbau einer neuen, der III. Internationale ein.

Wir haben bisher den theoretisch-programmatischen Rahmen abgesteckt, in dem sich der Kampf zwischen den Bolschewiki und den Sozialchauvinisten und Sozialpazifisten abspielte. Behandeln wir nun die Fragen der Losungen, um welche die Debatte geführt wurde.

Wie gegen den Krieg kämpfen? Die Frage der Friedenslosung

Die Frage der Beendigung des imperialistischen Weltkrieges beschäftigte nicht nur die Bolschewiki u.a. linke Kriegsgegner, sondern auch linksliberale Kreise sowie die Zentrums-Sozialdemokraten. Im Verlauf des Krieges wurde zunehmend klar, dass der Krieg ein festgefahrener Stellungskrieg war, der mit äußerst hohen Verlusten auf allen Seiten verbunden war und darüber hinaus auch eine revolutionäre Gärung unter den Massen verursachte. Vor diesem Hintergrund gewann eine Fraktion sowohl innerhalb der sozialdemokratischen Bürokratie als auch den imperialistischen Bourgeoisien in Europa an Einfluss, die einen Verständigungsfrieden zwischen den Staaten befürwortete.

Wir haben bereits oben angeführt, dass die Zentrumsfraktion durchaus einen Frieden anstrebte. Aber ihr Ziel war die Wiederherstellung des Status quo vor dem Krieg, ein Friede auf kapitalistischer Grundlage ohne revolutionären Kampf. Für den Opportunismus war die Überwindung des Kapitalismus ein hehres, aber fernes Ziel. Jetzt, in der Tagespolitik, mussten sich alle Energien darauf konzentrieren, wie man eine Besserstellung des Proletariats unter den Bedingungen des Kapitalismus erringen könnte. Zu diesem Zwecke musste man Verhandlungen führen, vielleicht zur Stärkung der Verhandlungsposition einige Streiks und Demonstrationen organisieren, die Positionen im Parlament ausbauen und einen Ausgleich mit Teilen der Bourgeoisie erzielen – alles andere wäre utopisch.

Basierend auf dieser Logik veröffentlichten Kautsky, Haase und Bernstein (55) im Juni 1915 den Aufruf „Das Gebot der Stunde“. In diesem forderten sie einen „Verständigungsfrieden ohne Annexionen“ ohne Sieger und Besiegte (56). Nachdem sie im Dezember 1915 und im März 1916 im Reichstag gegen die Kriegskredite stimmten, wurden sie und der um sie gruppierte zentristische Flügel von der offen chauvinistischen Mehrheitsfraktion ausgeschlossen. Im April 1917 gründeten sie die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD).

Aber ihre Orientierung blieb durch und durch opportunistisch. Ihre Ablehnung der Kriegskredite ging nicht auf eine grundsätzliche Ablehnung jedes von imperialistischen Staaten geführten Krieges zurück, sondern darauf – so die Erklärung -, dass die Regierung Eroberungen plane, anstatt „nur“ das Vaterland zu verteidigen und weil in der gegenwärtigen Situation das Vaterland nicht in Gefahr ist (57). Damit ließ man sich auch die Hintertür offen, jederzeit wieder für die Kriegskredite zu stimmen.

Aus ihrer Orientierung auf den bürgerlichen Staat ergab sich, dass Kautskys Zentrumsfraktion nicht den Klassenkampf gegen den Krieg international und in den einzelnen Staaten befürwortete, sondern nur auf das nebulöse, in der Regel auf kraftlose Reden im Parlament und der Veröffentlichung von Petitionen beschränkte, Eintreten „für den Frieden“. Den Klassenkampf solle das Proletariat hingegen auf die Zeit nach dem Krieg verschieben. Kautsky prägte hierfür die Formel: „Kampf für den Frieden, Klassenkampf im Frieden“.

Die Bolschewiki lehnten die Politik der Kautskyaner als Orientierung auf einen „imperialistischen Frieden“ ab und bekämpften sie scharf. Sie betonten die Unmöglichkeit eines „gerechten Friedens“ in einer grundlegend und notwendigerweise ungerechten, weil auf Ausbeutung und Unterdrückung beruhenden, Klassengesellschaft. Daher ist ein gerechter Frieden nur durch die siegreiche revolutionäre Erhebungen gegen den Kapitalismus möglich.  Ein Friede auf kapitalistischer Grundlage würde nur zu neuen Kriegen führen – was der zweite Weltkrieg dann tragischerweise bestätigte:

„Unser ‚Friedensprogramm‘ muß schließlich darin bestehen, klarzumachen, daß die imperialistischen Mächte und die imperialistische Bourgeoisie keinen demokratischen Frieden bieten können. Man muß ihn suchen und erstreben, aber nicht in der Vergangenheit, in der reaktionären Utopie eines nichtimperialistischen Kapitalismus oder eines Bundes gleichberechtigter Nationen unter dem Kapitalismus, sondern in der Zukunft, in der sozialistischen Revolution des Proletariats. Keine einzige demokratische Grundforderung ist in den fortgeschrittenen imperialistischen Staaten auch nur halbwegs umfassend und dauerhaft zu verwirklichen außer durch revolutionäre Kämpfe unter dem Banner des Sozialismus.

Wer aber den Völkern einen ‚demokratischen‘ Frieden verheißt, ohne gleichzeitig die sozialistische Revolution zu propagieren, wer den Kampf für diese Revolution, den Kampf schon während des Krieges, ablehnt, der betrügt das Proletariat.“ (58)

Diesen Grundgedanken bekräftigte Lenin immer wieder:

„Anstatt es den heuchlerischen Schönrednern zu überlassen, das Volk mit Phrasen und Versprechungen über die Möglichkeit eines demokratischen Friedens zu betrügen, müssen die Sozialisten die Massen darüber aufklären, daß ohne eine Reihe von Revolutionen und ohne revolutionären Kampf in jedem Lande gegen die eigene Regierung auch nur ein halbwegs demokratischer Frieden eine Unmöglichkeit ist.“ (59)

Daraus ergab sich die unabdingbare Notwendigkeit, keine abstrakte Propaganda für einen Waffenstillstand und für einen Frieden zu betreiben – eine Politik, die nicht nur damals, sondern auch heute von den geistigen Nachfahren Kautskys und Bernsteins in den reformistischen und zentristischen Parteien betrieben wird:

„Pazifismus und abstrakte Friedenspredigt sind eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse. Im Kapitalismus, und besonders in seinem imperialistischen Stadium, sind Kriege unvermeidlich. (…) Eine Friedenspropaganda, die nicht begleitet ist von der Aufrufung der Massen zu revolutionären Aktionen, kann in der gegenwärtigen Zeit nur Illusionen erwecken, das Proletariat dadurch demoralisieren, daß man ihm Vertrauen in die Humanität der Bourgeoisie einflößt, und es zu einem Spielzeug in den Händen der Geheimdiplomatie der kriegführenden Länder machen. Insbesondere ist der Gedanke grundfalsch, daß ein sogenannter demokratischer Frieden ohne eine Reihe von Revolutionen möglich sei.“ (60)

Im bolschewistischen Zentralorgan „Sozialdemokrat“ wies Sinowjew, Lenins engster Mitarbeiter während des ersten Weltkrieges, auf den klassenlosen und damit für die Bourgeoisie ausnutzbaren Charakter der bloßen Friedenslosung hin:

„Häufig wird inmitten dieser Sozialisten eine andere Parole ausgegeben (…) die Forderung nach Frieden um jeden Preis. Wenn es in der Tat wahr ist, daß der jetzige Krieg ein imperialistischer Krieg ist, daß der Imperialismus eine ganze historische Etappe in der sich vollziehenden Entwicklung des Kapitalismus bedeutet; wenn es wahr ist, daß der jetzige Krieg eine ganze Epoche wiederholter imperialistischer Kriege eröffnen kann; wenn die Epoche der imperialistischen Kriege uns mit unsagbaren Ungemach bedroht (…), so müssen wir, revolutionäre Sozialdemokraten, uns doch die Frage stellen: wie soll man gegen das drohende Unheil ankämpfen (…) Jeder Krieg – darunter auch der imperialistische Krieg – muß natürlich einmal mit dem Frieden enden. (…) Wenn es im Interesse der regierenden Klassen liegt, geht der Krieg zu Ende, und dann wird ‚Frieden‘ geschlossen. Nach einiger Zeit entlädt sich über uns ein neuer imperialistischer Krieg. Die Geschichte geht wieder von vorne an. (…) Es gibt nur eine Antwort darauf: die Organisierung, Propagierung und Vorbereitung des Bürgerkrieges in allen Ländern (…) Aber wir müssen uns sagen: will man eine Einschränkung der Etappe der imperialistischen Kriege, so bereite man den Bürgerkrieg vor.“ (61)

Die Bolschewiki betonten daher die politisch-ideologische Nähe des Pazifismus zum Sozialchauvinismus, also der offenen Verteidigung des imperialistischen Vaterlandes. In einer Polemik gegen Max Adler, einem Vertreter der „linken“ Flügels in der österreichischen Sozialdemokratie, wendet sich Sinowjew gegen folgende Position Adlers: „Aller Internationalismus der Sozialdemokratie wird und muß Utopie bleiben, wenn sie nicht die Friedensidee zum Mittelpunkt ihres Programms der äußeren und inneren Politik macht (…) Der Sozialismus nach dem Kriege wird organisierter internationaler Pazifismus sein oder er wird nicht sein“.

Sinowjew lehnt dies ab und fordert dagegen den „kriegerischen Sozialismus“:

„Nicht Friedensidee, sondern Bürgerkriegsidee, möchte man diesem großen Utopisten zurufen (…) Es ist nicht schlimm, daß die Friedensidee vor dem Kriege wenig propagiert wurde, aber es ist schlimm, daß wir die Idee des Klassenkampfes, des Bürgerkrieges, allzu wenig und nicht ernsthaft genug propagierten, denn während des Krieges ist die Billigung des Klassenkampfes ohne Billigung des Bürgerkrieges eine einfache Phrase, eine Lüge, eine Irreführung der Arbeiter (…) Wir sagen Euch: Der Sozialismus wird entweder zum organisierten internationalen Bürgerkrieg oder er wird gar nicht sein.“ (62)

Daher verurteilten die Bolschewiki Kautskys Pazifismus als konterrevolutionär und betonten den Gegensatz beider Positionen: „Deshalb steht die Sozialdemokratie vor der Wahl: entweder sie akzeptiert Kautskys gegenrevolutionäre Formel: ‚Kampf für den Frieden, Klassenkampf im Frieden‘; oder sie akzeptiert unsere Formel: ‚Überleitung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.“ (63)

Sollen SozialistInnen für Abrüstung kämpfen?

Ausgehend vom Grundsatz, dass ein friedlicher Kapitalismus möglich sei, propagierten die Opportunisten die Losung der „Abrüstung“ als Mittel, um Kriege zu verhindern bzw. zu reduzieren. So schrieb Kautsky:

„Bei der verpflichtenden Abrüstung der besiegten Staaten muß es unsere Aufgabe als Sozialdemokraten sein, gegen jegliche demütigenden, herabwürdigenden Formen, die diese annähmen mag, zu protestieren. Aber die Sache selber ist äußerst anstrebenswert. Sozialdemokraten in allen Ländern müsse die Abrüstung unterstützen und die Verringerung der Bedrohung durch das Waffenarsenal der Nachbarländer wird ihnen eine stabile Basis für diese Kampagne geben.“ (64)

Lenin und die Bolschewiki lehnten die Strategie der Abrüstung ab. Natürlich treten MarxistInnen in imperialistischen Ländern immer gegen jede Form der Aufrüstung, ja gegen alle Formen der bewaffneten Staatsmacht auf und lehnen jegliche Finanzierung dieses Repressionsapparates ab. Doch sie lehnen es ab, die Illusion zu verbreiten, dass ein friedlicherer Kapitalismus, dass eine allgemeine Abrüstung möglich wäre. Daher wenden sie sich auch nicht an die Großmächte oder internationale Gremien wie den früheren Völkerbund oder heute die UNO, eine solche Abrüstung zu gewährleisten.

„Die kautskyanische Predigt der ‚Abrüstung‘, die sich ausgerechnet an die jetzigen Regierungen der imperialistischen Großmächte wendet, ist vulgärster Opportunismus, bürgerlicher Pazifismus, der in Wirklichkeit – entgegen den ‚frommen Wünschen‘ der honigtriefenden Kautskyaner – nur dazu dient, die Arbeiter vom revolutionären Kampf abzulenken. Denn den Arbeitern wird durch solche predigten der Gedanke eingeflößt, als ob die jetzigen bürgerlichen Regierungen der imperialistischen Mächte nicht durch Tausende Fäden des Finanzkapitals und durch Dutzende oder Hunderte von entsprechenden (d.h. räuberischen, mörderischen, imperialistischen Kriegen vorbereitenden) gegenseitigen Geheimverträgen gebunden wären.“ (65)

Später sollte die neue, die Kommunistische Internationale, als eine der Aufnahmebedingungen die Zustimmung zu folgenden Punkt fordern: „(…) den Arbeitern systematisch vor Augen zu führen, daß ohne revolutionären Sturz des Kapitalismus keinerlei internationales Schiedsgericht, keinerlei Gerede von Einschränkung der Kriegsrüstungen, keinerlei ‚demokratische‘ Reorganisation des Völkerbundes imstande sein wird, die Menschheit vor neuen imperialistischen Kriegen zu bewahren.“ (66)

Die Frage des nationalen Selbstbestimmungsrechts unterdrückter Völker

Schließlich spielte auch die Frage der Haltung zum nationalen Selbstbestimmungsrecht eine zentrale Rolle im Kampf der Bolschewiki gegen den in der II. Internationalen vorherrschenden Opportunismus. Groteskerweise begründeten ja die Sozialchauvinisten ihre Unterstützung für den imperialistischen Krieg u.a. damit, dass ihr Vaterland ja das Recht auf nationale Selbstbestimmung hätte und deswegen gegen den Feind von außen verteidigt werden müsse.

So waren die Opportunisten großzügig mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht gegenüber ihrem eigenen (imperialistischen) Vaterland. Lenin lehnte vehement die sozialchauvinistische Forderung nach „nationaler Selbstbestimmung“ für Nationen ab, die in keinster Weise national unterdrückt wurden und die bereits zu imperialistischen Staaten geworden sind:

„Wovon ist die Rede, wenn man sagt, daß die Formen des Nationalstaats zu Fesseln geworden sind usw.? von den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, vor allem von Frankreich, Deutschland und England, durch deren Teilnahme am gegenwärtigen Krieg dieser Krieg in erster Linie zu einem imperialistischen Krieg geworden ist. In diesen Ländern, die die Menschheit bisher, besonders in der Zeit von 1789 bis 1871, vorwärtsgeführt haben, ist der Prozeß der Bildung von Nationalstaaten beendet, in diesen Ländern gehört die nationale Bewegung unwiederbringlich der Vergangenheit an; sie wiederbeleben zu wollen wäre eine sinnlose, reaktionäre Utopie. Die nationale Bewegung der Franzosen, Engländer und Deutschen ist seit langem zum Abschluß gekommen; auf der Tagesordnung der Geschichte steht hier etwas anderes: Nationen, die einst um ihre Befreiung kämpften, sind zu Unterdrückernationen geworden, zu Nationen des imperialistischen Raubes, die am ‚Vorabend des Untergangs des Kapitalismus‘ stehen.“ (67)

Ebenso unterstützen die Opportunisten das nationale Selbstbestimmungsrecht für jene Nationen, die von jenen Großmächten unterdrückt wurden, mit denen „ihre“ eigene Bourgeoisie gerade im Krieg stand. Die vom eigenen Vaterland unterdrückten Nationen wurden hingegen „vergessen“ (68) oder die Unterdrückung wurde überhaupt geleugnet. So erdreisteten sich die deutschen und österreichischen Sozialdemokraten in einer Erklärung vom Mai 1917 zu der zynischen Behauptung: „Gegen die Einwände, daß es sich in diesem Kriege um die Befreiung der kleinen Völker Österreichs handle, stellten die Delegierten fest, daß der österreichische Staat die kleinen Völker nicht unterdrückt, sondern deren nationale Existenz aufrechterhält“. (69)

Otto Bauers Nationalitätenprogramm

Nur in scheinbarem Widerspruch dazu stand das vom Führer des „linken“ Flügels in der österreichischen Sozialdemokratie, Otto Bauer, entworfene „Nationalitätenprogramm der Linken“, welches im Januar 1918 von einer Versammlung zentristischer Sozialdemokraten und später von der Gesamtpartei angenommen wurde (70). Tatsächlich akzeptiert dieses das Recht der im Habsburger Reich unterdrückten Völker auf einen eigenen Staat. Damit brach Bauer – angesichts des Zusammenbruchs der Monarchie – mit seiner jahrelang zuvor vertretenen Position, die das nationale Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Völker ablehnte und stattdessen nur die „nationale Autonomie“ forderte (71).

Der tatsächliche Hintergrund und Grundgedanke dieses Programms war folgender: der Autor, Otto Bauer, hatte angesichts der militärisch aussichtslosen Lage des Habsburger Reiches und nach seinen Erfahrungen als Kriegsgefangener in Russland und in der russischen Revolution 1917 verstanden, dass des Habsburger Völkergefängnis nicht länger aufrecht erhaltbar war. Warum also einen aussichtlosen Kampf darum führen?

Bauers Kalkül war daher zweierlei. Erstens leitete er eine strategische Umorientierung der österreichischen Sozialdemokratie ein: Weg von der Perspektive Adlers, Renners und Co. zur „Demokratisierung“ des Habsburgerreiches und hin zur „Vereinigung aller Deutschen in einem demokratischen deutschen Gemeinwesen“ – also den Anschluss Österreichs an Deutschland. Dieser Punkt nimmt daher auch interessanterweise einen wichtigen Platz im „Nationalitätenprogramm der Linken“ ein. Wenig später trat dieser „Marxist“ auch für die Bildung einer Koalition mit bürgerlichen Parteien zwecks Erreichung des Anschlusses an Deutschland ein – eine Koalition, in der er dann auch den Platz des Außenministers einnehmen sollte (72).

Zweitens wollte er eine sozialistische Revolution vermeiden, weswegen er alles tat, um revolutionäre Entwicklungen in Österreich zu untergraben. Daher setzte Otto Bauer während des Januarstreiks 1918, ein machtvoller Massenstreik von über 750.000 ArbeiterInnen, seine Autorität ein, um eine Weiterentwicklung der dadurch entstandenen revolutionären Situation hin zu einer Revolution zu verhindern: „Wir hatten den Streik als eine große revolutionäre Demonstration gewollt. Die Steigerung zur Revolution selbst konnten wir nicht wollen. Darum mußten wir dafür sorgen, daß der Streik beendet werde“. (73)

Aus dem gleichen Motiv – eine friedliche Reform hin zu einem demokratischen Kapitalismus zu gewährleisten statt einer sozialistischen Revolution – lehnte Bauer nationale Aufstände der unterdrückten slawischen Nationen ab, die zu einer revolutionären Zerschlagung des Habsburgerstaates hätten führen können. Daher enthält das „Nationalitätenprogramm“ keinen Aufruf zum nationalen Aufstand, zur Revolution, sondern fordert nur die friedliche Einberufung von Nationalversammlungen – also Parlamenten – für jede Nation. Also typisch kleinbürgerlich-österreichisch: Selbstbestimmungsrecht per Verordnung und offiziellen Beschluss.

Aus all diesen Gründen hat das Bauersche „Nationalitätenprogramm“ mit dem Leninschen „Nationalitätenprogramm“ nichts gemein. Der tiefere Grund für den Revisionismus der österreichischen Sozialdemokratie in dieser Frage liegt jedoch nicht in einer spezifisch österreichischen Mentalität, sondern ist das Resultat einer zunehmenden Anbiederung an den Habsburgerstaat. Diese Anbiederung rührt in erster Linie vom Entstehen einer Bürokratie in der SDAP, die sich auf die besser gestellten proletarischen und z.T. auch kleinbürgerlichen Schichten der österreichischen Kronländer der Monarchie stützte. Der Gesamtcharakter des Habsburgerreiches als ein auf einer starken Arbeitsteilung beruhender und streng durchorganisierter Kapitalismus fand in der schärferen Ausbeutung der südlichen und östlichen Teile der Monarchie die Grundlage für die Erhaltung besser gestellter österreichischer Schichten. Solange die Bauers, Renners, Adlers und Co. somit materiell an eine Schicht von besser gestellten Teilen der Arbeiterklasse gebunden waren, war es nur konsequent, einen Staat zu unterstützen, der eben dieser ökonomischen Grundlage einen politischen Rahmen verlieh. Diese Anpassung an den kapitalistischen Staatsapparat war es auch, die zu ideologischen Rückschritten des österreichischen „Marxismus“ führte, in Teilbereichen die Hegelsche Losung der allgemein gültigen „staatlichen Sittlichkeit“ akzeptierte und somit auch ein reaktionäres Nationalitätenprogramm bedingte.

Im Gegensatz zur austromarxistischen Verstümmelung der Losung des Selbstbestimmungsrechts war der Kampf der Bolschewiki für die nationale Selbstbestimmung unterdrückter Völker gegen imperialistische Vorherrschaft Bestandteil einer revolutionären Gesamtstrategie. Sie verstanden, dass die nationale Unterdrückung durch die Großmächte eines der wichtigsten Charaktermerkmale der imperialistischen Ära ist.

„Der Imperialismus ist die fortschreitende Unterdrückung der Nationen der Welt durch eine Handvoll Großmächte. (…) Eben deshalb muß die Einteilung der Nationen in unterdrückende und unterdrückte den Zentralpunkt in den sozialdemokratischen Programmen bilden, da diese Einteilung das Wesen des Imperialismus ausmacht und von den Sozialpatrioten, Kautsky inbegriffen, verlogenerweise umgangen wird. Diese Einteilung ist nicht wesentlich vom Standpunkt des bürgerlichen Pazifismus oder der kleinbürgerlichen Utopie der friedlichen Konkurrenz der freien Nationen unter dem Kapitalismus, aber sie ist eben das Wesentlichste vom Standpunkt des revolutionären Kampfes gegen den Imperialismus.“ (74)

Das Ziel der bolschewistischen Führer war nicht, so wie Karl Renner und Otto Bauer Minister in einer kapitalistischen Regierung zu werden, sondern vielmehr alle Bestrebungen der Unterdrückten zu unterstützen und so die soziale Revolution gegen den Kapitalismus voranzutreiben. Eine sozialistische Revolution kann nur siegreich sein, wenn sie alle Bestrebungen aller unterdrückten Klassen und Völker aufgreift, unterstützt und in eine Strategie der proletarischen Machteroberung integriert.

„Von Marxismus, von revolutionärem Geist überhaupt ist in dieser Betrachtung keine Spur zu finden. Wollen wir den Sozialismus nicht preisgeben, so müssen wir jeden Aufstand gegen unseren Hauptfeind, die Bourgeoisie der Großmächte, unterstützen, wenn es nicht ein Aufstand einer reaktionären Klasse ist. Lehnen wir die Unterstützung eines Aufstands annektierter Gebiete ab, so werden wir – objektiv – zu Annexionisten. Gerade „in der Ära des Imperialismus“, die die Ära der beginnenden sozialen Revolution ist, wird das Proletariat mit besonderer Energie heute den Aufstand der annektierten Gebiete unterstützen, um bereits morgen oder gar zur gleichen Zeit die durch einen solchen Aufstand geschwächte Bourgeoisie der ‚Groß’macht anzugreifen.“ (75)

Sie erklärten ihre Unterstützung für den Aufstand unterdrückter Völker unabhängig davon, wer als erstes einen Schuss abgibt:

„Wenn zum Beispiel morgen Marokko an Frankreich, Indien an England, Persien oder China an Rußland usw. den Krieg erklärten, so wären das gerechte Kriege, Verteidigungskriege, unabhängig davon, wer als erster angegriffen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Staaten über die Unterdrücker, die Sklavenhalter, die Räuber – über die ‚Groß’mächte – sympathisieren.“ (76)

Gegen jene, die meinten, dass nationale, kleinbürgerlich geprägte Aufstände im Widerspruch zum Kampf für den Sozialismus stünden, wandte Lenin ein:

„Denn zu glauben, daß die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: ‘Wir sind für den Sozialismus’, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: ‘Wir sind für den Imperialismus’, und das wird dann die soziale Revolution sein! Nur unter einem solchen lächerlich-pedantischen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen ‘Putsch’ zu schimpfen.

Wer eine ‘reine’ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.

Die russische Revolution von 1905 war eine bürgerlich-demokratische Revolution. Sie bestand aus einer Reihe von Kämpfen aller unzufriedenen Klassen, Gruppen und Elemente der Bevölkerung. Darunter gab es Massen mit den wildesten Vorurteilen, mit den unklarsten und phantastischsten Kampfzielen, gab es Grüppchen, die von Japan Geld nahmen, gab es Spekulanten und Abenteurer usw. Objektiv untergrub die Bewegung der Massen den Zarismus und bahnte der Demokratie den Weg, darum wurde sie von den klassenbewußten Arbeitern geführt.

Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen – ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich -, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewußte Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhaßten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken ‘entledigen’ wird.“ (77)

Schluss

Vermehrte imperialistische Interventionen gegen halbkoloniale Länder und schärfere innerimperialistische Auseinandersetzungen als unmittelbares Resultat der Wirtschaftskrise haben gezeigt, dass Krieg und Imperialismus nicht voneinander zu trennen sind. Gleichzeitig haben jedoch auch Widerstandsbewegungen auf der ganzen Welt unter Beweis gestellt, dass eine für die Kriegführung notwendige Anspannung der gesellschaftlichen Kräfte, auch zu spontanen Protestbewegungen und massivem Widerstand führen kann. Seien es die Millionen,  die gegen den Krieg im Irak oder gegen den Gaza auf der Straße waren; seien es die heroischen Kämpfe unterdrückter Völker gegen die Besatzung durch imperialistische Truppen.

Doch gerade die Widerstandsbewegungen gegen Krieg und Besatzung in den letzten Jahren waren durch eine massive Führungskrise gekennzeichnet. Die Antikriegsbewegung in den imperialistischen Ländern hat in ihrer Mehrzahl die pazifistische Phrase zum allgemeinen Credo erhoben; Widerstandsbewegungen in halbkolonialen Ländern haben es aufgrund ihres nationalistischen und kleinbürgerlichen Charakters abgelehnt, ihren berechtigten Widerstand in eine internationale Perspektive des proletarischen Klassenkampfes einzuordnen.

In diesem Artikel haben wir die Grundlagen einer kommunistischen Position zu kriegerischen Auseinandersetzungen herausgearbeitet:

• In Kriegen zwischen imperialistischen Ländern unterstützen Kommunisten keine der beiden Seiten, sondern rufen zum Kampf gegen ihre jeweils eigene Bourgeoisie auf und treten für deren Niederlage ein. Anstatt die Auseinandersetzungen zwischen einzelnen nationalen Kapitalgruppen zur Sache der Arbeiterklasse zu machen, stellen Kommunisten den gemeinsamen, internationalen Kampf gegen Kapitalismus und Krieg in den Vordergrund.

• Kommunisten lehnen die bloße Forderung nach Frieden ab; nicht, weil wir die sinnlosen Schlächtereien der Herrschenden unterstützen, sondern weil diese Forderung einen klassenlosen Inhalt hat und nicht berücksichtigt, dass Kapitalismus und Imperialismus immer wieder Kriege hervorbringt. Ein ernsthaftes Friedenprogramm muss ein antikapitalistisches Programm sein. Deshalb nutzen wir alle durch Kriege hervorgerufene Zerrüttungen in der Gesellschaft, um den allgemeinen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital voranzutreiben. Lenin fasste dies in der Formel: Umwandlung des Krieges in den Bürgerkrieg zusammen. Wir stehen in dieser Tradition.

• In Auseinandersetzungen zwischen imperialistischen und halbkolonialen Ländern, unterstützen Kommunisten die unterdrückten Völker gegen die herrschenden imperialistischen Mächte. Nicht deshalb, weil die jeweiligen Regime in den halbkolonialen Ländern bzw. die Führungen nationaler Befreiungsbewegungen eine prinzipiell fortschrittliche Position hätten, sondern weil die Arbeiterklasse in diesen Ländern eine Ausbeutung, gestützt auf doppelte Unterdrückung, zu bekämpfen hat. So steht ihnen eine nationale Bourgeoisie gegenüber, die selbst wiederum eine Geisel der imperialistischen Bourgeoisie ist. Eine Abschüttelung der imperialistischen Mächte verbessert somit nicht nur die Kampfbedingungen für die Arbeiterklasse des jeweiligen Landes, sondern wirft auch unmittelbar Fragen nach der gesellschaftlichen Macht auf, die von Kommunisten in eine revolutionär-sozialistische Richtung getrieben werden müssen.

Die wichtigen historischen Lehren der Ausarbeitung des revolutionären Programms durch Lenin und die Bolschewiki gegen den imperialistischen Krieg müssen also auch heute wieder in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt werden. Für den Kampf der Marxisten heute gegen die wieder zunehmenden imperialistischen Kriege wird es wesentlich sein, diese Lehren der Bolschewiki aufzugreifen und auf die heutige Situation anzuwenden. Dies bedeutet jedoch nicht, nur eine Auseinandersetzung auf ideologischem Gebiet zu führen, sondern auch die Idee durch eine Organisierung auf der Grundlage eines revolutionären Programms zur materiellen Macht werden zu lassen. Der Aufbau einer revolutionären Kampfpartei, die den Kampf gegen Krieg und Besatzung mit einer Perspektive des proletarischen Klassenkampfes verbindet, ist somit keine Aufgabe für spätere Generationen, sondern ein Gebot der Stunde. Das bedeutet, sich als MarxistInnen zusammenzuschließen und auf Grundlage unseres revolutionären Erbes und der Weitentwicklung des revolutionären Programms in der gegenwärtigen Periode eine neue Internationale, die 5. Internationale, aufzubauen.

Anmerkungen

(1) Unter Reformismus verstehen MarxistInnen die Politik von sozialdemokratischen oder „kommunistischen“ Parteien (z.B. SPD, SPÖ oder Linkspartei). Der Reformismus dient in Wirklichkeit nur den Interessen der Schicht von BürokratInnen, die diese Parteien und die Gewerkschaften beherrschen und sich so auf eine organisierte Arbeiterbasis stützen. Während sie in Worten (oft nicht einmal mehr das) für eine nicht-kapitalistische, sozialistische Gesellschaft eintreten, beschränken sie sich in der Praxis auf das Verbessern des kapitalistischen Systems. In der Regel beschränken sie sich sogar nur darauf, nicht ganz so scharfe Angriffe auf die breite Masse der Bevölkerung zu unternehmen oder unternehmen solche, bemänteln sie aber mit sozialer Phraseologie. Der Reformismus versucht, die ArbeiterInnen als Stimmvieh bei Wahlen zu benützen. Die ArbeiterInnen sollen sich nicht eigenständig in Aktionskomitees oder Räten an der Basis organisieren und direktdemokratisch entscheiden, sondern als Manövriermasse unter Kontrolle der Partei- und Gewerkschaftsbürokratie dienen.

Unter Zentrismus verstehen MarxistInnen jene Organisationen, die zwischen reformistischen und revolutionären Positionen hin und her schwanken und dadurch Verwirrung statt Klarheit stiften. Zentrismus bedeutet in der Regel Anpassung an den Reformismus unter dem Deckmantel der marxistischen Buchstabentreue. “Die Politik des „Zentrums“ besteht darin, daß es ohnmächtig zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat hin und her pendelt, über seine eigenen Füße stolpert, da es das Unversöhnliche zu versöhnen wünscht und in entscheidenden Augenblicken das Proletariat verrät.“ (Bucharin/Preobraschenskij: Das ABC des Kommunismus. Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen Partei Russlands (B), 1920) Der Zentrismus zeichnet sich durch auf der allgemeinen abstrakten Ebene oft richtige Kritikpunkte am Reformismus aus, um dann jedoch vor „den praktischen Schlußfolgerungen auszuweichen und somit seine Kritik gegenstandslos zu machen.“ (Trotzki: “Zentrismus und die IV. Internationale”, 1934)

(2) Interessierte Leser verweisen wir auf andere Artikel, in denen wir uns ausführlicher mit der den antiimperialistischen Befreiungskampf verratenden Haltung von reformistischen Kräften wie der Europäischen Linkspartei oder Zentristen wie dem CWI (SAV in Deutschland bzw. SLP in Österreich) oder der IMT (Funke) auseinandergesetzt haben. Siehe u.a. folgende Artikeln: Martin Suchanek: Berliner Linkspartei unterstützt zionistische Kriegshetzer, http://www.arbeitermacht.de/infomail/403/ berlinerlinkespartei.htm; Roman Birke „Europäische Linkspartei und KPÖ: Degenerationsprozeß zeigt sich in der Kosova-Frage“. Dieser Artikel wurde ebenso wie jener von Michael Pröbsting „Der Tschad-Konflikt und die Linke: Schein-Antiimperialismus mit marxistischen Phrasen getarnt“ im theoretischen Organ der LSR „Unter der Fahne der Revolution“ Nr. 2/3 (April 2008) veröffentlicht. Schließlich verweisen wir noch auf den Artikel von Michael Pröbsting: „Europäische Linkspartei, CWI und der Libanon-Krieg: Kleinbürgerliche Linke als verkleidete Diener des Imperialismus“ In: Revolutionärer Marxismus Nr. 36, 2006

(3) Eine ausführliche Aufarbeitung der Geschichte der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung findet sich bei Martin Suchanek: Klasse, Programm, Partei. Von der ersten zur Fünften Internationale; in: Revolutionärer Marxismus Nr. 34, 2004

(4) Unter Klassenkampf verstehen wir hier nicht bloß den aktiven Kampf der Arbeiterklasse, sondern das stetige, objektive Ringen zwischen den Klassen. Die herrschende Klasse führt permanent einen Kampf zur Steigerung der Ausbeutung des Proletariats und der unterdrückten Völker, ein Kampf, den die Unterdrückten je nach Schärfe der Gegensätze und nach politischer Bewusstheit mit mehr oder weniger Klassenkampf von unten beantworten.

(5) Lenin: Eine Auseinandersetzung mit Verteidigern des Ökonomismus (1901), in: Lenin Werke (LW) Band 5, S.322

(6) Lenin: Was tun? (1902); in: LW 5, S.397

(7) Abram Deborin: Lenin – der kämpfende Materialist (1924), S. 11

(8) Lenin: Resolutionsentwurf über das Verhältnis zur studierenden Jugend (1903), in: LW 6, S.470

(9) Lenin: Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR (1915), LW 21, S. 148

(10) Siehe dazu u.a. das Kapitel „Lenins Charakterisierung des Imperialismus“ in Michael Pröbsting: „Imperialismus, Globalisierung und der Niedergang des Kapitalismus“ (in: Revolutionärer Marxismus Nr. 39, 2008)

(11) Lenin: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den ‚imperialistischen Ökonomismus‘ (1916); in: LW 23, S. 34 (Hervorhebung im Original)

(12) Lenin: Über eine Karikatur auf den Marxismus…; in: LW 23, S. 34

(13) Lenin: Der Fall von Port Arthur (1905), LW 8, S. 40. Unter Selbstherrschaft wurde damals die Zarenmonarchie in Russland verstanden.

(14) Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916); in: LW 22, S. 194

(15) Lenin: Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR; in: LW Bd. 21, S. 152

(16) Zentralkomitee der SDAPR: An das russische Proletariat (Februar 1904); in: LW Ergänzungsband 1896-1917, S. 91

(17) Lenin: Der Fall von Port Arthur; in: LW 8, S. 41

(18) Grigori Sinowjew: Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) (1923), S. 97

(19) Lenin: Der Fall von Port Arthur, LW 8, S. 41

(20) Lenin: Die Selbstherrschaft und das Proletariat (1904); in: LW 8, S. 13

(21) Julius Martow: Geschichte der russischen Sozialdemokratie (1918/26), Erlangen 1973, S. 93.

(22) Julius Martow: Geschichte der russischen Sozialdemokratie, S. 94f.

(23) Lenin: Der Fall von Port Arthur; in: LW 8, S. 40

(24) Zitiert bei: Jules Humbert-Droz: Der Krieg und die Internationale. Die Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal, Wien 1964, S. 44-46

(25) Siehe u.a. Rudolf G. Ardelt: Vom Kampf um Bürgerrechte zum Burgfrieden. Studien zur Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie 1888 – 1917, Wien 1994, S. 115-123. Das erwähnte Zitat findet sich auf S. 149.

(26) So wurde z.B. das österreichische Parlament durch sogenannte §14-Verordnungen ausgeschalten. Nichtsdestotrotz ließ es sich die österreichische Sozialdemokratie nicht nehmen in ihrem täglichen Propagandaorgan („Arbeiter-Zeitung“) die Zustimmung der deutschen Parlamentsfraktion in den Himmel zu loben, denn es sei ein „Kampf“ des deutschen Volkes um „die Bewahrung seines staatlichen und nationalen Daseins“ (Friedrich Austerlitz: Der Tag der deutschen Nation, Arbeiter-Zeitung vom 5. August 1914).

(27) Der Begriff „revolutionären Defaitismus“ wurde von Lenin und den Bolschewiki während des Weltkrieges an sich kaum gebraucht. An manchen Stellen verwendeten Bolschewiki den Begriff „Defaitismus“, aber eher zur Beschreibung einer gesellschaftlichen Stimmung gegenüber der Vaterlandsverteidigung. (siehe z.B. den Artikel von Grigori Sinowjew: „Der ‚Defaitismus‘ früher und heute“, 1916; in: Lenin/Sinowjew: Gegen den Strom, Hamburg 1921) Der Begriff „revolutionären Defaitismus“ wurde erst später geprägt. Er taucht jedoch auch in den zentralen Dokumenten von Trotzki und der IV. Internationale zu imperialistischen Krieg kaum auf.

(28) Lenin: Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg (1915); LW Bd. 21, S. 273

(29) Lenin: Der Krieg und die russische Sozialdemokratie (Resolution des Zentralkomitees der SDAPR, September 1914), LW 21, S. 20

(30) So zitiert Trotzki Lenin bei einer Konferenz der Zimmerwalder Linken Anfang September 1915; siehe Leo Trotzki: The Work of the Zimmerwald Conference; in: Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, New York 1986, S. 311

(31) W. I. Lenin: Sozialismus und Krieg (Die Stellung der SDAPR zum Krieg) (1915), LW 21, S. 314 (Hervorhebung im Original)

(32) Lenin: Sozialismus und Krieg, LW 21, S. 299

(33) Lenin: Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR; in: LW Bd. 21, S. 150

(34) Lenin: Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale; in: LW 22, S. 107

(35) Diese Resolution sowie alle Zitate aus der Sitzung des ISB am 29./30. Juli 1914 finden sich in: Georges Haupt: Der Kongress fand nicht statt. Die Sozialistische Internationale 1914, Wien 1967, S. 177-193

(36) zitiert bei: Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session. Stenographische Berichte. Bd. 306, Berlin 1916; zitiert bei: Manfred Scharrer: August 1914 – Patriotismus und Internationalismus, http://geschichte.verdi.de/jahrestage_gedenktage/ bzw. bei Julian Borchardt: Vor und nach dem 4. August 1914. Hat die deutsche Sozialdemokratie abgedankt? (1915)

(37) Zitiert bei Friedhelm Boll: Der Januarstreik 1918 in seinen friedenspolitischen Kontexten, überarbeitete Fassung des Referats am 25. Januar 2008 bei der Tagung der IG Metall am 25./26. Januar 2008 in Berlin; http://netkey40.igmetall.de/homepages/bs-berlin.pichelssee/hochgeladenedateien/ Dokumente/Massenstreik/Referat_FriedhelmBoll.pdf; Auf Ersuchen des Reichskanzlers verzichtete jedoch die SPD-Fraktion darauf, diesen Satz bei der Sitzung im Reichstag vorzulesen!

(38) Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 32 vom 3. August 1914; zitiert bei: Manfred Scharrer: August 1914 – Patriotismus und Internationalismus.

(39) Karl Kautsky im Herbst 1914; Zitiert bei: Karl-Heinz Klär: Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale, Frankfurt a.M., S. 157

(40) Karl Kautsky: Zwei Schriften zum Umlernen (1914); in: Bollinger, Stefan: Imperialismustheorien. Mit Texten von Nikolaj Bucharin, Rudolf Hilferding, John Hobson, Karl Kautsky, Wladimir I. Lenin und Rosa Luxemburg, Wien 2004, S. 121 (Hervorhebung durch den Autor)

(41) Karl Kautsky: Der imperialistische Krieg (1914); in: Bollinger, Stefan: Imperialismustheorien…., S. 122 (Hervorhebung durch den Autor)

(42) Zitiert in: Berthold Unfried: Positionen der ‚Linken‘ innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie während des I. Weltkrieges; in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hrsg.): Neuere Studien zur Arbeitergeschichte, Wien 1984, S. 335f.

(43) zitiert in: Böhm, Joachim: Die österreichische Sozialdemokratie (DSAPÖ) im Ersten Weltkrieg, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Hohen Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität zu Halle Wittenberg, 1964, S. 114, vgl: Der Kampf, Januar 1915.

(44) Man vergleiche die unbestimmte, moralische Empörung ohne irgendwelche taktische Schlussfolgerungen in den Artikeln Luxemburgs von August bis Dezember 1914 mit jenen der Bolschewiki. (siehe Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 5-19)

(45) Hugo Eberlein: Erinnerungen an Rosa Luxemburg bei Kriegsausbruch 1914; in: UTOPIE kreativ, H. 174 (April 2005), S. 359

(46) Hugo Eberlein: Erinnerungen an Rosa Luxemburg …., S. 356

(47) Karl Liebknecht: Abstimmungsbegründung für die Ablehnung der Kriegskredite am 2. Dezember 1914; in: Lenin/Liebknecht: Militarismus – Antimilitarismus; Frankfurt a.M., o.J., S. 166

(48) Karl Liebknecht: Brief an die Zimmerwalder Konferenz (1915); in: Jules Humbert-Droz: Der Krieg und die Internationale…, S. 158

(49) Lenin: Pläne zu einem Artikel ‚Revolution und Krieg‘ (1914); in: LW Ergänzungsband 1896-1917, S. 340

(50) Lenin: Plan zu der Broschüre ‚Der europäische Krieg und der europäische Sozialismus‘ (1914); in: LW Ergänzungsband 1896-1917, S. 344

(51) Leo Trotzki: Die Lehren des Oktober (1924); in: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928, Band II, S. 244

(52) Lenin: Die Frage des Friedens (1915); LW 21, S. 290 (Hervorhebung im Original)

(53) Zum Fatalismus am Beispiel des österreichischen Austromarxismus siehe u.a. die Broschüre der LSR „Sozialdemokratie und Austromarxismus“ mit einem Neuabdruck der Kritik von Josef Frey – Gründer des österreichischen Trotzkismus in den 1920er Jahren – an Otto Bauers Konzept des „integralen Marxismus“ aus dem Jahr 1937 sowie zwei neueren Artikeln von Gerda Bergen zu den Lehren des Februar 1934 sowie von Michael Pröbsting zur Theorie und Praxis des Austromarxismus.

(54) Leo Trotzki: Kritik des Programmentwurfs für die Kommunistische Internationale (1928); in: Die III. Internationale nach Lenin: Dortmund 1977, S. 185f.

(55) Dieser Vordenker des Revisionismus in den 1890er Jahren – gegen den alle orthodoxe Marxisten heftig polemisierten – lehnte gerade aufgrund seines Glaubens an und seines Eintretens für einen sozial gerechten und friedlichen Kapitalismus den „aggressiven Imperialismus“ ab und trat für eine durch Freihandel und Verträge geregelte enge Zusammenarbeit der „Kulturvölker“ ein. Er stimmte im August 1914 auch für die Kriegskredite und schloss sich während des Krieges der zentristischen Fraktion an. (siehe dazu auch Markku Hyrkkänen: Freihandel und Verträge als Alternative zum Imperialismus, Wettrüsten und Krieg. Ein Vorschlag zur Deutung des Bernsteinschen Revisionismus; in: Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung, 23. Linzer Konferenz 1987, Wien 1988, S. 157-165)

(56) Siehe dazu Friedhelm Boll: Verhandlungsfrieden als Schutz deutscher Interessen. Anmerkungen zur Friedenspolitik der deutschen Sozialdemokratie im Krisenjahr 1917; in: Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung, 23. Linzer Konferenz 1987, Wien 1988, S. 67-81

(57) Bernstein begründete seinen Meinungsumschwung damit mit dem „sich abzeichnenden Bestreben einflussreicher Kreise, den Krieg, der ursprünglich nur ein Verteidigungskrieg hätte sein sollen, faktisch zu einem Eroberungskrieg umzugestalten“. (siehe: Eduard Bernstein: Sozialdemokratische Lehrjahre. Autobiographien, (1928) Berlin 1991, S. 233) Als wäre der Krieg nicht von Anfang an ein Eroberungskrieg gewesen und als könnten imperialistische Staaten Kriege aus moralischen und nicht aus Eroberungsmotiven führen!

(58) Lenin: Über das „Friedensprogramm“ (1916); in: LW 22, S. 171

(59) Lenin: Die Frage des Friedens (1915); in: LW 21, S. 293

(60) Lenin: Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR; in: LW Bd. 21, S. 152

(61) Grigori Sinowjew: Die Parole der revolutionären Sozialdemokratie (1914); in: Lenin/Sinowjew: Gegen den Strom, Hamburg 1921, S. 10ff.

(62) Grigori Sinowjew: Pazifismus oder Marxismus (1915); in: Lenin/Sinowjew: Gegen den Strom, Hamburg 1921, S. 116f.

(63) Grigori Sinowjew: Weiteres über den Bürgerkrieg (1916); in: Lenin/Sinowjew: Gegen den Strom, Hamburg 1921, S. 326

(64) Karl Kautsky: Preparations for Peace (October 1914), http://marxists.org/archive/kautsky/1914/10/peace.htm (Unsere Übersetzung)

(65) Lenin: Über die Losung der ‚Entwaffnung‘ (1916); in: LW 23, S. 93 (Hervorhebung im Original)

(66) Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale; Resolution des II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, 1920; in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Thesen und Resolutionen, Band I, Köln 1984, S.163

(67) Lenin: Über eine Karikatur auf den Marxismus …; in: LW Bd. 23, S. 29

(68) Siehe z.B. bei Kautsky, der als Beispiele für unterdrückte Nationen nur solche nennt, die von Russland oder England beherrscht wird (Karl Kautsky: Preparations for Peace)

(69) Zitiert bei Jan Galandauer: Die tschechischen Sozialdemokraten auf der Friedenskonferenz in Stockholm; in: Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung, 23. Linzer Konferenz 1987, Wien 1988, S. 93

(70) Nationalitätenprogramm der Linken; in: Brigitte Kepplinger (Hrsg.): Der Aufstieg zur Massenpartei. Ein Lesebuch zur österreichischen Sozialdemokratie 1889-1918, Wien 1990, S. 214-220

(71) Siehe Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (1907).

(72) Siehe Berthold Unfried: ‚Stockholm‘ und ‚Zimmerwald‘ in Österreich. Die deutsche Sozialdemokratie in Österreich und ‚Österreichische Internationale‘ 1917/18; in: Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung, 23. Linzer Konferenz 1987, Wien 1988, S. 134

(73) Otto Bauer: Die österreichische Revolution, Wien 1923, S. 65

(74) Lenin: Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), in: LW 21, S. 416

(75) Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), in: LW 22, S. 339

(76) Lenin: Sozialismus und Krieg…; in: LW 21, S. 301

(77) Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, in: LW 22, S. 363f.




Herausforderungen der US-Arbeiterklasse – Demokratisierung der Gewerkschaften, Organisierung der Unorganisierten, Aufbau einer Arbeiterpartei

Andy Yorke, Revolutionärer Marxismus 40, März 2009

Rezension von Kim Moody: „US Labour in Trouble and Transition – The Failure of Reform from Above, the Promise of Revival from Below“, Verso 2007 („US-Arbeiterschaft in Schwierigkeiten und Wandel – Das Scheitern der Reform von oben, die Aussicht auf Neubelebung von unten“. Deutschsprachig nicht erhältlich!)

Kim Moody ist ein langjähriger Aktivist und Autor bekannter Bücher und Artikel über die US-amerikanische Arbeiterbewegung. Er gründete das Mitteilungsblatt Labor Notes („Arbeiternotizen“), das sich zur Aufgabe gemacht hat, gewerkschaftliche Organisierung, Arbeiterkämpfe und Basisinitiativen zu fördern, welche die Trägheit der Gewerkschaftsbürokratie und deren Zugeständnisse an das Kapital anprangern. In „US Labour in Trouble and Transition“ beschreibt Moody den Zustand der Gewerkschaften, untersucht Stärken und Schwächen der US-Arbeiterbewegung und entwirft eine Strategie, ihren langen Niedergang umzukehren und ihre „Macht“ wieder aufzubauen.

Er unterteilt sein Buch in drei Abschnitte: Er beginnt mit einer Darstellung der Veränderungen des US-Kapitalismus und der Arbeiterklasse seit 1970, dann beschäftigt er sich mit der Antwort der Gewerkschaften darauf, um im Schlussteil eine Reihe von Ereignissen der jüngsten Vergangenheit zu beleuchten, welche die Widersprüche und Möglichkeiten der US-Arbeiterschaft im neuen Jahrtausend veranschaulichen, angefangen bei der Spaltung des AFL/CIO-Gewerkschaftsverbandes 2005, aus der das konkurrierende „Change to win“-Bündnis hervorging, bis zu dem gewaltigen „Tag ohne Einwanderer“ am 1. Mai 2006, einem politischen Massenstreik, der Millionen von ArbeitsimmigrantInnen, auch die illegalen, einbezog.

Moody verwirft den Gedanken, es könne für die US-Arbeiterklasse eine „einfache Wegekarte zur Macht“ geben. Er arbeitet vielmehr die Hauptlinien heraus, entlang derer AktivistInnen den Neuaufbau von Arbeiterorganisationen betreiben und die Gewerkschaften umwandeln können, in denen 1953 noch 32,5% der US-Arbeiterschaft organisiert waren, während heutzutage der gewerkschaftliche Organisierungsgrad auf 12% geschrumpft ist (1).

Im Mittelpunkt dieser Strategie stehen neue Formen von Arbeiterorganisationen, Arbeiterzentren, Bewegungen für demokratische Gewerkschaften, Streikkampagnen, die im neuen Jahrhundert aufgekommen sind. Moodys Ziel sind Vorschläge zur „Zusammenfassung“ all dessen, zur Vorbereitung der Arbeiterbewegung auf eine „Erhebung“ wie etwa Anfang des 20. Jahrhunderts oder in den 1930ern und 60ern.

Es bleibt die große Frage, wie diese Organisationen „von unten“ innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften gegen den Widerstand der Bosse und großteils auch der Bürokraten dauerhaft das Bleigewicht der Bürokratie abschütteln und die unvermeidlichen Gegenangriffe von Unternehmern und Staat überwinden können.

Letztlich bleibt Moody die Antwort schuldig. Indem er die gewerkschaftliche und betriebliche Organisation als A und O der Arbeiterkämpfe in den USA betont, offenbart er eine starke Schlagseite zum Ökonomismus. Er glaubt, dass ArbeiterInnen über ökonomische Kämpfe mittels Gewerkschaften und politische Themen, die eng damit verbunden sind, danach spontan politisch aktiv werden. Damit präsentiert er eine Strategie, die schon von Lenin und anderen RevolutionärInnen kritisiert wurde.

Der Autor unterschätzt die Rolle von Bewegungen der rassistisch und sozial unterdrückten Schichten und von AktivistInnen aus der Antikriegs- und antiimperialistischen Bewegung bei der Organisierung von ArbeiterInnen und der Erweiterung ihres Klassenbewusstseins. Er erkennt durchaus die Notwendigkeit einer Arbeiterpartei in den USA und stellt sich die Gewerkschaften als deren entscheidende Stütze im Zusammenhang mit einem künftigen Aufschwung der gewerkschaftlichen Bewegung vor. Aber leider nimmt er nicht wahr, welch entscheidende Rolle eine revolutionäre Partei bei der Vorbereitung eines Aufstandes und als notwendige und strategische Führung in einer revolutionären Lage oder Periode einnimmt.

Das ist ein schwerwiegender Fehler. Er unterschlägt, dass die Gewerkschaften geschichtlich nur eine Minderheit von ArbeiterInnen in den Vereinigten Staaten organisiert haben, und dass die Bewegungen für Bürgerrechte von Schwarzen, gegen Krieg und Kapitalismus hauptsächlich von Jugendlichen getragen waren. Auch die jüngsten Einwanderer-Demonstrationen haben einen bedeutenden, radikalisierenden Einfluss auf die Gesellschaft ausgeübt. Zusammen mit den militanten Elementen in den Gewerkschaften könnten sie nicht nur die Kraft entfalten, Moodys „Erhebung“ zustande zu bringen, sondern auch die Chance bieten, die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte nachzuholen, indem sie eine neue mächtige Arbeiterpartei schaffen, die entschlossen ist, Kapitalismus  und Imperialismus zu stürzen.

Moody setzt sich für den Aufbau einer Arbeiterpartei ein, die sich auf die Gewerkschaften stützt, doch er sagt kaum etwas über ihre Aufgaben aus. Sie soll politische Kampagnen führen, bei Wahlen kandidieren und die Gewerkschaften von der Demokratischen Partei wegreißen. Sein Buch enthält aber keine Strategie für militante ArbeiterInnen und AntiimperialistInnen. Er weist jede Art eines „Wegweisers zur Macht“ zurück. Damit leugnet Moody auch die Notwendigkeit eines Programms als bewusste Strategie und hofft stattdessen, dass der Kampf selbst eine Reihe von praktischen Maßnahmen und Organisationsformen hervorbringt, die dann generalisiert sich mit einer spontanen Erhebung zusammenfinden und jenen Erfolg haben werden, der Syndikalisten, Kommunisten und Trotzkisten in der Vergangenheit versagt blieb.

Das ist falsch! Eine solche Methode wird günstigstenfalls deren Scheitern wiederholen. Trotzdem ist Moodys Werk bei kritischem Lesen eine sehr wichtige und erhellende Übersicht über die US-Arbeiterbewegung und ihre Probleme.

Die „große Kehrtwende“ der 1970er

Moody beginnt mit einem Überblick über den Wandel des US-Kapitalismus, der den demographischen Verschiebungen in der Arbeiterklasse und dem Niedergang der Gewerkschaften seit den 1970er Jahren zu Grunde liegt. Die ersten drei Kapitel fassen die Veränderungen in der US-Wirtschaft und deren Auswirkungen auf die Klassenverhältnisse in den letzten drei Jahrzehnten anschaulich zusammen und bilden mit ihren Statistiken eine ausgezeichnete Informationsquelle.

Zu Beginn entwirft er ein umfassendes Bild der „bedeutenden Umwälzung“ seit Mitte der 1970er, als sich die lange Aufschwungperiode der kapitalistischen Weltwirtschaft in der Nachkriegszeit umkehrte. Der lange Boom sorgte dafür, dass die US-Arbeiterklasse wuchs und Teile von ihr einen mittelschichtartigen Lebensstil pflegten. Dieser beruhte auf steigenden Reallöhnen, größerer Arbeitsplatzsicherheit, Eigenheimen und Teilhabe an der Konsumgesellschaft. All dies war eingebettet in die Ideologie vom amerikanischen Traum, materiellem Wohlergehen, individueller Freiheit und der Bejahung kapitalistischer Werte und der Vorherrschaft des US-Imperialismus auf der Welt.

Doch schon am Anfang dieser Periode hatten die US-Gewerkschaften gewerkschaftsfeindliche Gesetze in Kauf genommen, ein Gesetz zur Regelung der Beziehungen zwischen Belegschaft und Geschäftsführung: das nach seinen Urhebern benannte „Taft-Hartley-Gesetz“. Dies erlaubte Einzelstaaten, besonders dort, wo die Gewerkschaften schwach waren, Bestimmungen mit noch einschränkenderer Wirkung zu erlassen als im Bundesgesetz. Diese sogenannten Gesetze für das „Recht auf Arbeit“ erschwerten die massenhafte gewerkschaftliche Organisierung massiv.

Moody schenkt dem nur unzureichende Beachtung, denn sie sind alle noch in Kraft. Obwohl begrenzter und versteckter als in Europa, gab es auch in den USA eine Reihe von Fürsorgemaßnahmen im Vergleich zur Vorkriegszeit. Auch ernsthafte Bestrebungen zum Ausbau dieser Politik in den 60er Jahren durch Präsident Lyndon B. Johnsons Bürgerrechts- und „Große Gesellschafts“-Gesetzgebung, die auch auf Teile der schwarzen Bevölkerung angewendet wurden, trugen dazu bei, dass die Gewerkschaften sich auf diesen Handel mit Kapital und Staat einließen und zu einer privilegierten und durchbürokratisierten Stütze der Gesellschaft der USA wurden. Sie lehnten sich eng an die Demokratische Partei an, formierten aber nicht einmal einen linken Flügel darin. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad blieb konstant. Es wurden keine ernsthaften Versuche unternommen, die Südstaaten, wo neue Industrien entstanden, stärker gewerkschaftlich zu durchdringen.

Den Analysen von Robert Brenner und Anwar M. Shaikh folgend, zeigt Moody, wie sich dieser soziale Pakt zwischen Gewerkschaften und Staat in den krisengeschüttelten 70er Jahren auflöste. Mit den fallenden Profitraten im verarbeitenden Gewerbe, dem „Kern“ des Systems, kam die „große Kehrtwende“ im Kapitalismus mit wellenartigen Attacken auf Arbeitsplätze, Löhne, Arbeitsbedingungen und Gewerkschaften.

Solche Angriffe gab es in den 1980ern weltweit – angetrieben von den industriellen Großmächten mit politischen Paketen unter dem Etikett „Freihandel“ sowohl auf Kosten der eigenen Arbeiterschaft wie auch der Ökonomien halbkolonialer „Drittweltländer“. Deren Verschuldung wurde mittels globaler Finanzgremien wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in die Höhe getrieben. Diese Politik war in den USA als „Reagonomics“ und in Britannien als „Thatcherismus“ bekannt und führte unter dem Druck zur Wiederanhebung der Profitraten schließlich zu einer Periode der Globalisierung, fallenden Zollschranken und -kontrollen, was wiederum Handel und Konkurrenz auf dem Weltmarkt ansteigen ließ.

Gewerkschaften und Soziallohn im Niedergang

Der Kampf der US-Bosse, nach den 1970ern Ausbeutungsraten und Profite zu steigern, bedeutete, dass Errungenschaften der Arbeiterbewegung auf breiter Front abgebaut wurden. Zunächst setzte eine schier endlose Schließungswelle ein, da Produktionsstätten ins Ausland verlagert wurden und somit für große Arbeitsplatzverluste in manchen Branchen, z.B. in der Textil-, Bekleidungs- und Chemieindustrie sorgten. Eine Abwanderung von Industrie in den gewerkschaftlich schwächeren Süden der USA und in ländliche Gegenden sorgte für eine geographische Umstrukturierung der Industrie innerhalb des Landes. Ausländische Autohersteller errichteten neue Werke, die fleischverarbeitende Industrie zog sich aus den alten Gewerkschaftshochburgen im Nordosten zurück, die Spediteure zogen dank der Containertechnik von der Küste ins Binnenland.  So wurde der Süden im letzten halben Jahrhundert zu einem Industriezentrum, das nun fast ein Drittel der verarbeitenden Produktion in den USA umfasst und weiter wächst.

Die Gewerkschaften sind diesen Arbeitsplätzen nicht gefolgt, die Mitgliedsdichte beträgt im Süden nur 5,8% und liegt damit weit unter dem 12%igen Landesdurchschnitt (2).

In den 90er Jahren trieb der Appetit nach Profit eine gewaltige Investitionswelle in die USA und heizte Produktivität und Profite weiter an. Die Produktivität stieg nach einem Jahrzehnt mit niedrigen Raten von 1990 bis 2003 um 4,5% jährlich. Der Stückgutausstoß kletterte je ArbeiterIn um 119%, während die Lohnstückkosten in dieser Zeit nur um 1,5% wuchsen (3). 2005 produzierten die US-ArbeiterInnen insgesamt 30% mehr pro Arbeitsstunde als 10 Jahre zuvor (4).

Auch die Anwendung japanischer Arbeitsmethoden hat neben Arbeitsverdichtung und Gruppenarbeit diese erhöhte Ausbeutung befördert. So verwandten ArbeiterInnen bei General Motors nur 45 Sekunden einer Arbeitsminute auf die eigentliche Produktion. In den neuen NUMMI GM-Toyota-Werken wurde dieses Ergebnis auf den Toyota-Standard von 57 Sekunden hochgepeitscht! Moody errechnete hieraus den gigantischen jährlichen Zuwachs von 29.215 Dollar an ausgepresstem Mehrwert je Beschäftigten, natürlich auf Kosten seiner Belastbarkeit, Erschöpfung und Verletzungsgefahr (5).

Diese beiden Trends – die Auslagerung von Werkstätten in Billiglohngebiete und die Neugestaltung des Arbeitsprozesses mit Arbeitshetze und Produktivitätswachstum – haben zum Verlust von 5 Mill. Arbeitsplätzen in der traditionell gewerkschaftsgeprägten, besser bezahlten verarbeitenden Industrie geführt. Diese Entwicklung hat sich im neuen Jahrhundert mit dem Abbau von fast 2,9 Mill. Stellen allein unter der Bush-Regierung noch beschleunigt (6). Gewerkschaftsmitgliederzahlen, Organisierungsgrad, Streikziffern und Anerkennung von gewerkschaftlicher Vertretung schrumpften allesamt seit den 70er Jahren, als die Einschüchterungstaktik der Kapitalisten gegenüber Gewerkschaften ausgeklügelter und bösartiger wurde.

Außerdem machten die Gewerkschaftsführer enorme Zugeständnisse bei Löhnen, Gesundheitsfürsorge und Renten – vorgeblich, um Jobs zu retten. Sie haben dadurch aber oft nur erreicht, dass die Belegschaften zweigeteilt und Neueingestellte ihrer Sozialleistungen beraubt wurden. In der Folge fielen – mit Ausnahme der zweiten Hälfte der 90er Jahre – nicht nur die Reallöhne für die US-ArbeiterInnen stetig; auch der „Soziallohn“ in Gestalt der Unternehmerbeiträge für Kranken- und Rentenkassen ging zurück. Moodys Zahlen belegen, dass die Reallöhne für ArbeiterInnen in der Produktion ohne Aufsichtsfunktion von 315,44 Dollar (1972) in der Woche auf 247,49 im Jahr 2006 gesunken sind. In den 90er Jahren nahm der Realwert aller Sozialleistungen im Privatsektor um beinahe 1% jährlich ab, da immer mehr ArbeiterInnen ihren Schutz verloren, während die übrigen Beschäftigten höhere Beiträge für weniger Gegenleistung zahlen mussten (7).

Moodys Statistiken sind eine Anklage gegen den Kapitalismus, der es selbst im reichsten Industrieland der Welt nur geschafft hat, durch verschärfte Ausbeutung der eigenen Arbeiterklasse und rücksichtslose Einschränkungen ihres Lebensstandards sich vorwärts zu bewegen. Die Zahlen geben auch das gewandelte Bild der Arbeiterklasse wider und verweisen auf neue Widersprüche, mit denen sich die Bewegung auseinander setzen muss, um sie aufzubrechen und eine neue Woge der Organisierung und Kämpfe zu entfachen.

Veränderungen in der Arbeiterklasse und neue Chancen

Seit 1975 haben sich nicht nur die Bedingungen für die US-Arbeiterklasse insgesamt verschlechtert; es gab auch größere strukturelle Umwandlungen, die zu neuen Kämpfen und organisatorischen Bestrebungen geführt haben.

Frauen und schwarze ArbeiterInnen sind als Arbeitskräfte in nie gekanntem Ausmaß in den Arbeitsprozess eingegliedert worden und bilden auch einen festen Bestandteil in den Gewerkschaften, obwohl dieser Trend schon bald nach Weltkriegsende anfing. 2007 stellten Frauen 48% der Arbeitsbevölkerung. Sie machen 44% aller Gewerkschaftsmitglieder aus – 1974 waren es erst 21%. Der Organisierungsgrad der schwarzen ArbeiterInnen liegt mit 15,8% mittlerweile über dem Durchschnitt (8).

Den größten Durchbruch brachte jedoch die schlagartig zunehmende Einwanderung seit den 80er Jahren. Einwanderer stellen nun 15% der US-Arbeiterschaft. Sie kommen überwiegend aus Lateinamerika. Über die Hälfte von ihnen besitzt keine Staatsbürgerschaft der USA – und das sind immerhin 12 von 21,4 Millionen! Etliche verfügen über teilweise und befristete Aufenthaltsgenehmigungen, ein Großteil weilt illegal in den USA (9). Diese Entwicklung überschneidet sich mit dem Zuwachs von schlecht entlohnten Arbeitskräften – meist EinwanderInnen – besonders im Süden und im Dienstleistungsbereich, der sich auf Kosten der verarbeitenden Industrie ausgeweitet hat.

Moody hat seine Untersuchung auf den Einfluss der Kämpfe dieser Arbeiter sowohl in den Hauptgewerkschaften wie der riesigen SEIU (Internationale Gewerkschaft der Angestellten im Dienstleistungswesen) und deren Kampagne „Gerechtigkeit für Hausmeister“ Anfang der 90er Jahre wie auch außerhalb der Gewerkschaften durch die „Arbeiterzentren“ auf betrieblicher und kommunaler Ebene wie das ländliche Florida-Bündnis von Immokolee-ArbeiterInnen konzentriert. Der „Tag ohne ImmigrantInnen“-der Streik am 1. Mai 2006 – hat einen machtvollen Beweis ihrer Kraft geliefert. Die eklatant überausgebeuteten ArbeitsimmigrantInnen haben ihr Potenzial zur Selbstorganisation und militanter Aktion bereits deutlich gemacht.

Moody erkennt korrekt, dass ihre Kraft nun in die Gewerkschaften eingebracht werden muss, um diese neu zu beleben und zu demokratisieren.

Selbst dort, wo die Arbeiterschaft nach all den Veränderungen der vergangenen drei Jahrzehnte am meisten geschwächt scheint, sieht Moodys Analyse der ökonomischen Verschiebungen im Zuge der Globalisierung auch verwundbare Stellen im Panzer des Kapitalismus. In der Fertigung sind zwar weniger Beschäftigte, aber sie produzieren mehr Wert für die Kapitalisten als je zuvor. Außerdem bewirkt das schnellere Wachstum des Handels gegenüber dem Bruttoinlandsprodukt, dass Verkehr und Logistik bei der Verbindung der verschiedenen Kettenglieder von Produktion und Warenzirkulation auf größeren Märkten an Bedeutung gewonnen haben. Infolge dessen wuchs die Beschäftigtenzahl im Transportwesen zwischen 1990 und 2000 um 27% (10). Diese Arbeiterschicht ist nun noch bedeutender, weil die Güter nicht mehr in riesigen Lagerhallen gestapelt werden, sondern „unmittelbar auf Anforderung“ hergestellt werden und je nach Bedarf verschickt werden. Durch Streiks können die Produktion und der Warenfluss weltweit lahm gelegt und damit die Bosse hart und schnell getroffen werden.

Moodys Strategie zur Umkehr des Niedergangs der amerikanischen Gewerkschaften ergibt sich aus diesem Wandel. Er will den Süden und die neuen eingewanderten Arbeiterschichten organisieren und konzentriert sich dabei auf Produktion und Logistik, das „produktive“ Herz des Kapitals, wo der Mehrwert entsteht. Moody nimmt dann die Rolle der Bürokratie im Niedergang der Gewerkschaften unter die Lupe. Auf die Beschränktheit seiner Strategie werden wir später zurück kommen.

SEIU: die neue Bürokratie

Im gesamten Buch beschäftigt sich Moody mit der Rolle der Gewerkschaftsbürokratie bei der Beschränkung von Kämpfen, faulen Kompromissen mit dem Großkapital, ihrer Zustimmung zur Wegrationalisierung von Jobs und Verschlechterung von Arbeitsbedingungen und bei der Erstickung von betrieblicher Organisierung und des Widerstands an der Basis gegen die Diktate von oben. Er zeigt, wie das „Unternehmensgewerkschaftertum“, die Idee, dass Kapital und Lohnarbeit sich in verantwortungsbewusster Partnerschaft – genauer gesagt: Klassenkollaboration – befinden, sich in einer Politik der Preisgabe und Zugeständnisse im Namen der Rettung von Arbeitsplätzen während der 80er Jahre niedergeschlagen hat.

Er benennt den Ausverkauf bei Chrysler 1979/80 als Wendepunkt, als die Strategie der Zugeständnisse, um Jobs zu retten, zum Gebetbuch der Gewerkschaftsbürokratie wurde. Darauf folgte 1981 die Zerschlagung der Fluglotsengewerkschaft PATCO durch US-Präsident Reagan. Dies war eine deutliche Kampfansage an alle Gewerkschaften, sich nicht der neuen Ordnung in den Weg zu stellen. Daraus resultierte selbstverständlich auch ein Rückgang der Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften, wie Moody korrekt aufzeigt. Die Bürokraten reagierten mit Gewerkschaftsfusionen, um ihre Finanzen und ihren Einfluss zu wahren. Zwar sind die Gewerkschaften dadurch größer geworden, gleichzeitig aber weiter denn je von den Mitgliedern entfernt. Die Spitzen und Funktionäre behielten ihre Privilegien und hohen Gehälter.

Wie viele andere Kommentatoren (11) sieht Moody die Spaltung von 2005 im AFL/CIO, die den Konkurrenzverband CTW (Change to win – Wandel, um zu gewinnen) bescherte, als bürokratischen, aber nicht qualitativen Bruch zwischen beiden Fraktionen. Die treibende Kraft hierbei war die SEIU, die die Unternehmensgewerkschaft zu dem, wie Moody es detailliert nennt, „korporatistischen Gewerkschaftsmodell“ weiter entwickelt hat.

Die SEIU ist die größte Gewerkschaft mit dem raschesten Wachstum in den USA, die dem Trend zum Niedergang durch Verdopplung ihrer Mitgliedschaft im letzten Jahrzehnt getrotzt hat. Ihre Kampagne für die Rechte der Pförtner beschritt neue Wege, indem sie tausende von traditionell unorganisierten und eingewanderten Billiglöhnern organisieren konnte. Die SEIU baute dies zur Strategie aus und spürte unorganisierte Arbeiterschichten auf, erforschte die Struktur der Branche und plante sorgsam eine Kampagne. Sie organisierte Streiks und Proteste und baute auch über Medien und Lobbyarbeit Druck auf. Damit zapfte sie auf kontrollierte Weise schöpferische Kraft und Kampfgeist der ArbeiterInnen an.

Allgemein sucht sich die SEIU Sektoren aus, die nicht unmittelbar von der Globalisierung und der Auslagerung betroffen sind: Reinigungskräfte und Angestellte im Gaststätten- und Hotelgewerbe und im Gesundheitswesen. Als Folge baut sie nicht jene Form industrieller Macht im Kern der kapitalistischen Produktion auf, von der Moody glaubt, sie sei das strategische Ziel der Arbeiterbewegung.

Vor allem aber strebt die SEIU in die entgegengesetzte Richtung zu nur betrieblicher Organisation und betont den von Mitgliedern geführtem Aktivismus, den auch Moody als Schlüssel zum Wiederaufbau der Gewerkschaften ansieht. Die Vorstellung der SEIU bricht beileibe nicht mit dem Unternehmensgewerkschaftertum, sondern passt es gewissermaßen mit Hilfe von Verfahrensweisen, die von modernen Firmen übernommen sind, an, indem sie Gewerkschaften verschmilzt und örtliche Gliederungen zu „Riesenortsverbänden“ umbildet. Die SEIU verschafft sich „Belegschaftsanteile“ in betroffenen Industrien, so dass sektorale Abkommen ausgehandelt und feste Verträge durch professionelle Verhandlungen erzielt werden können. Ein bürokratisches Riesenheer von professionellen Organisatoren plant die Kampagnen und führt sie durch. Im Endeffekt ist dies eine Quelle für noch mehr Bürokratie in weiteren Arbeitsmärkten ähnlich der Konzernausdehnungslogik der Lebensmittel- und Supermarktketten von Starbucks und Wal Mart:

„Heute bestehen die kleinsten (etwa zwei Drittel) unter den 60 Gewerkschaften des AFL/CIO-Verbandes aus im Schnitt weniger als 60.000 Mitgliedern, nicht einmal genug, um in den meisten Fällen einen Marktanteil zu sichern. Umgekehrt konnte die SEIU, als sie die New Jersey-Hausverwalter in einer größeren, reicheren New Yorker Gewerkschaft aufgehen ließ, es sich plötzlich leisten, 50 hauptamtliche Organisatoren und 5 Millionen Dollar im Jahr für Rekrutierungen auszugeben.“ (12)

Auch die „Partnerschaft“ wird ähnlich ausgeweitet, wie SEIU-Präsident Andy Stern konstatiert:

„Arbeitgeber müssen erkennen, dass sich die Welt verändert hat und dass es Leute gibt, die ihnen gern helfen wollen, neue, moderne und Wertzuwachs-Lösungen anzubieten“. Gewerkschaften können dem Geschäft helfen, „effektiver zu arbeiten“, indem sie z. B. große Räume für Arbeitssuchende zur Verfügung stellen wie ein „Arbeitsvermittler“ oder gar eine „Beschäftigungsgesellschaft“, in der Pläne für Sozialleistungen sowie Schulungsprogramme im Namen der Unternehmer ausgearbeitet und mitgeliefert werden.“ (13)

Das Ergebnis sind „Riesengewerkschaftsgrundeinheiten“, die sich oft über mehr als einen Staat erstrecken. Moody liefert fast unglaubliche Beispiele. Die Einheit „Local 1“ der SEIU mit Sitz in Chicago erfasst ArbeiterInnen von Wisconsin bis Missouri. Das ist wohl Andy Sterns Version der Losung „Denk global, handle lokal“! Ein Funktionär von „Local 1“ erklärt dies so: „Das ist nicht unähnlich dem, was Unternehmen mit ihren Kernindustrien machen.“ (14) In solchen Strukturen geht jegliche gesunde betriebliche Organisation zugrunde. Ohne Macht oder Stimme sind sie in Wahrheit ein bürokratisches Gefängnis. Es verwundert daher kaum, dass Stern die Gewerkschaftsdemokratie als Hindernis für Initiativen der Führung betrachtet. Bei der historischen Abspaltung vom AFL/CIO wurde die Mitgliedschaft nicht einmal per Abstimmung befragt!

Der stärkste Beweis für das Scheitern dieses Konstrukts sind Lohneinbußen oder ein wachsendes Lohngefälle trotz der millionenfachen Neueintritte in die Gewerkschaften. So haben die ArbeiterInnen von Los Angeles, die die Pförtner-Kampagne angeführt hatten, 10% ihres Reallohns seit ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit verloren (15). Dies gefährdet die bisherigen Errungenschaften und könnte die Abwanderung von Niedrigverdienern aus der Bewegung bewirken. Moody ist zuzustimmen, wenn er sagt, dass die Arbeiter sich nicht zwischen den beiden Föderationen entscheiden müssten, sondern zwischen dem Konzept beider Verbände und einem völlig anderen Modell von Gewerkschaft, das auf betrieblicher Organisierung, auf Kämpfen und durchgängigster Demokratie fußt.

Gewerkschaftsreform oder Basisbewegung?

Die US-Gewerkschaften legen ein Höchstmaß an kastenartigen Merkmalen sowie kleinbürgerlichem Lebensstil und Geisteshaltung des gewerkschaftlichen Funktionärsunwesens an den Tag. Spitzenfunktionäre werden mit bis zu 700.000 Dollar Jahresgehalt bezahlt wie Konzernvorstände; tausende Mitarbeiter erhalten jeweils über 100.000 Dollar (16). Moody zitiert eine Studie, wonach ein Drittel dieser Bürokraten selbst niemals Gewerkschaftsmitglied gewesen ist, als Quereinsteiger von außen eingestellt wurde und sich in der Hierarchie emporgearbeitet hat, aber durch keine Wahl der Mitglieder je bestätigt wurde. Die Hälfte kommt aus Mittelschichtsverhältnissen (17). Dieses Bürokratenheer nimmt fraglos an Umfang und Privilegien zu, vertritt aber weder die vielfältige, noch insbesondere die arme und unterdrückte Arbeitsbevölkerung des 21. Jahrhunderts in den USA. Die Bürokratie stützt sich letzten Endes auf eine relativ privilegierte Schicht von ArbeiterInnen in sichereren, meist besser bezahlten Jobs. Dort beträgt die Gewerkschaftsdichte 35%. Die ArbeiterInnen aus dem öffentlichen Dienst sind fast fünfmal so stark organisiert wie jene aus privatwirtschaftlichen Betrieben. Sie unterliegen kaum dem Druck des Arbeitsmarkts und können sich oft den Lebensstandard der „Mittelklasse“ leisten (18).

Wenn Funktionäre also Zugeständnisse machen oder Fusionen bzw. Kürzungen bei den einfachen Gewerkschaftsmitgliedern gegen deren Willen billigen, worin liegt dann die Lösung? In der Beschreibung von Reform- und Oppositionsgruppen in den Gewerkschaften warnt Moody vor der Gefahr, einfach nur eine andere, linkere Führung zu wählen. Das stimmt. Eine jahrelange Kampagne des oppositionellen „Neue Richtung“-Zusammenschlusses (caucus) im Transportarbeiterbezirk Local 100 führte schließlich zur Wahl seines Kandidaten Roger Toussaint zum Vorsitzenden. Es stellte sich jedoch heraus, dass dieser sein Amt zur Einmannherrschaft missbrauchte und sich dabei der 60 nicht gewählten und wohlbestallten Gewerkschaftsfunktionäre des Bezirks 100 sowie der satzungsmäßigen Befugnisse bediente, um im Amt zu bleiben – mit verheerenden Folgen für den Transitstreik von 2005. (19) Moody bemerkt dazu: „Es reicht niemals aus, die Gesichter an der Spitze auszuwechseln. Es müssen sich die beiden grundlegenden Verhältnisse ändern, die eine Gewerkschaft bestimmen: das Verhältnis der Führung zu den Mitgliedern und das zwischen den Führern (bzw. ihrer Organisation) und den Unternehmern.“ (20) Er betont alle Wesenselemente für einen koordinierten Kampf, um die Gewerkschaften wieder zu einem tauglichen Instrument zu machen und die Bosse anzugreifen: betriebliche Organisation mit verantwortlichen Vertrauensleuten/Delegierten; militante, von Mitgliedern geführte Arbeitskonflikte, Kampagnen für Arbeiterdemokratie und Beendigung der „Partnerschaft“.

Moody ist darin beizupflichten, dass wir die Gewerkschaften nicht umgestalten können durch die Wahl von ein paar mehr linken Spitzenfunktionären. Aber die Aufgaben weisen auch über die Ermutigung zu mehr Demokratie von unten hinaus. Wir brauchen ausgearbeitete strategische Maßnahmen, die die Gewerkschaftsbürokratie als privilegierte Kaste beseitigen. Obgleich die verschiedenen Formen linker Arbeitsgruppen, die er erwähnt, ein Anfang sein können, müssen wir auch eine Reihe von Grundsätzen erörtern, wie demokratische Kontrolle der Gewerkschaften auf jeder Ebene zu erreichen ist, angefangen von örtlichen Betriebsgruppen bis hin zu landesweiten Vollzugsorganen. Dem allein wird jedoch kein Erfolg beschieden sein, wenn es nicht begleitet ist von einem massiven Feldzug zur Gewinnung der übergroßen Mehrheit der LohnempfängerInnen in den USA, die noch abseits stehen. Begonnen werden muss hier bei den am schlechtesten bezahlten und am schärfsten überausgebeuteten ArbeiterInnen. Sobald sie sich organisieren – gegen den brutalen Widerstand seitens ihrer Bosse, des Staats und dessen regionalen und bundesweiten Gewaltapparat, der auf Seiten des Kapitals steht -, wird der Radikalismus der gesamten Arbeiterbewegung der Vereinigten Staaten aufflammen. Darauf spielt Moody als Erhebung  an, aber er scheint mit einem gewissen Fatalismus darauf zu warten. SozialistInnen müssen sich für den Aufbau einer Basisbewegung in den Gewerkschaften einsetzen – mit dem bewussten Ziel ihrer Umgestaltung.

Zentral für ihre Politik sollte sein, dass gewählte VertreterInnen aus den Reihen der AktivistInnen alle Streiks oder Gewerkschaftskampagnen demokratisch kontrollieren, nicht aber hauptamtliche Funktionäre. Streikausschüsse sollten die Kontrolle über Aktionen und Verhandlungen ausüben.

Alle Funktionsträger sollten regulär gewählt werden und den Durchschnittslohn der von ihnen vertretenen ArbeiterInnen erhalten, damit sie ein unmittelbares Interesse an der Erhöhung der Löhne ihrer Mitgliedschaft haben. Sie sollten von jenen, die sie gewählt haben auch wieder abwählbar sein.

All jene, die Rückhalt von der Basisbewegung für ihre Wahl anstreben, müssen sich verpflichten, ihrer Disziplin zu gehorchen und nach ihrer Wahl für eine demokratisch beschlossene Politik einzutreten (21).

Das Verhältnis einer echten Basisbewegung zur Bürokratie, insbesondere zu den linken Führern, die gelegentlich mit Unterstützung der Basis emporkommen, aber allzu oft, wie Moody zeigt, konservativ und nicht mehr unterscheidbar von den rechten werden, ist entscheidend. Die korrekte Haltung kann in der Losung „mit den Führern wo möglich, ohne sie, wenn nötig“ zusammengefasst werden. Als geschichtliches Vorbild kann die „Minderheitsbewegung“ dienen, die von der KP Großbritanniens unter Anleitung der Kommunistischen Internationale Anfang der 1920er Jahre aufgebaut wurde, ehe sie von Stalin kassiert wurde (22).

Moody spricht auch die Macht der Bürokratie zur Sabotage an. Er spricht davon, dass „beim Aufbau der Basisbewegungen und Organisationen, die für eine wirksamere, demokratischere und umfassendere Gewerkschaft im Zusammenhang mit dem Hauptkampf gegen die Bosse eintreten, der Ansatz Farrell Dobbs‘ (Gewerkschaftsaktivist und Präsidentschaftskandidat der SWP 1948-60) darin liegt, die bürokratische alte Garde ins Kreuzfeuer geraten zu lassen“.

Doch er fügt hinzu:

„Realistisch betrachtet ist die Bürokratie heute jedoch viel allgegenwärtiger und ein größerer Hemmschuh als Anfang der 30er Jahre, so dass keine Hoffnung auf Vermeidung von innergewerkschaftlichen Konflikten besteht, wenn sich irgendein Fortschritt regen soll (…) Wir bauen diese Basisgruppen, Akte des Widerstands und die Bewegung nach eigenen Gesetzen auf, bieten aber eine Untersuchung der Wurzeln des Problems und eine größere Vision, wie sie angemessen zu behandeln wären, an. Wir nennen dies Sozialbewegungsgewerkschaftertum, ein Gewerkschaftertum, das demokratisch ist, wie eine Bewegung und nicht wie eine starre Einrichtung handelt und auf andere Arbeiter- und unterdrückte Schichten zugeht, um eine Massenbewegung für einen Wandel zu schaffen.“ (23)

Moody bleibt allerdings an der Oberfläche des Problemes – bei den Wandlungen, die nicht nur in den Gewerkschaften vonnöten sind, wie auch in Kampagnen und sozialen Bewegungen, um die bürokratische Kaste wirklich aufzulösen. Leider verfügen die Bürokraten, wie viele Beispiele zeigen, über gewaltige Kräfte, Rache zu üben, Kämpfe aufs Nebengleis zu schieben und militante KollegInnen zu kriminalisieren. Manchmal tun sie dies wie 1973 sogar gewaltsam, als 1.000 mit Baseballschlägern bewaffnete UAW (Autogewerkschafts-)-Funktionäre spontan streikende Arbeiter auf dem Chrysler-Fabrikgelände längs der Mack Avenue mit Gewalt zur Rückkehr zur Arbeit zwangen (24).

Moody beantwortet nicht die heikle Frage, wie die Gewerkschaften erobert und umgewandelt werden sollen, wie eine alternative Führung dahin gebracht werden kann, nicht von der Bürokratie aufgesogen zu werden. Er hat keine Strategie dafür, wie der Kreislauf von linken Führern, die nach ihrer Wahl ihre Anhänger verraten, durchbrochen werden kann; er legt auch keine anders geartete Politik für Arbeiterdemokratie vor, mit deren Hilfe die Gewerkschaftsbürokratie zu ersetzen ist.

Gewerkschaften und soziale Bewegungen

Der Autor ist sich sehr wohl der Schwierigkeiten für die so genannten Sozialbewegungen wie auch für die Gewerkschaften bewusst. Viele dieser Bewegungen wurden von „gläubigen Leuten“, also von Teilen der Kirchen, ins Leben gerufen. Natürlich sind die Kirchen, besonders die der „religiösen Rechten“ ein Hindernis für die Gewerkschaften und erst recht für das politische Erwachen der Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten. Obama hatte mit seinem „Blödsinn“ unfreiwillig recht, als er Religion als eine der Schmerzbetäubungsmittel für Gemeinden beschrieb, die von Werkschließungen, Massenarbeitslosigkeit, Niedriglöhnen und unsicheren Arbeitsplätzen heimgesucht werden. Seine Kritiker warfen ihm vor, er hätte die Anschauungen von Karl Marx wiederholt, dass Religion „das Herz in einer herzlosen Welt“ und „Opium für die Massen“ sei.

Moody erforscht das Auftreten von ArbeiterInnen mit religiösen oder rassistischen Ideen, wie es bei StammwählerInnen der Republikanischen Partei zu beobachten ist, besonders im Süden und Mittelwesten mit seinem „Bibelgürtel“. Er verurteilt die Demokratische Partei für ihre Rolle bei der Schaffung des „Rostgürtels“ (dem verwahrlosten Industriegebiet im Nordosten der USA) und der Einführung von Zwangsarbeit für die Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Das durch und durch bürgerliche Programm der Demokratischen Partei wird ArbeiterInnen nie von reaktionären Ideen abbringen.

Rassismus war der wunde Punkt der US-Arbeiterklasse in den letzten 150 Jahren. Nur der Klassenkampf und die bewusste Auflehnung gegen den Rassismus kann solche Ideen niederringen. Moody fragt: „Können die heutigen Gewerkschaftsführer oder deren Zöglinge eine überzeugende Klassenanalyse vorbringen, die den Rassismus nicht unter den Teppich kehrt wie der CIO in den 40er Jahren?“ (25)

Aber auch hier nähert sich Moody der Frage mit seinen gewerkschaftlichen Scheuklappen. Die Angelegenheit beschränkt sich nicht nur auf die Organisierung schwarzer und eingewanderter ArbeiterInnen; sie erstreckt sich auch auf Kampagnen für die Gewerkschaften zum Aufbau von Bewegungen, auf militante Maßnahmen gegen Rassismus und den Einsatz für volle Bürgerrechte für alle Einwanderer.  Die Republikanische Partei (und auch viele Politiker der Demokratischen Partei) wollen eine Gesetzgebung durchdrücken, die die Legalisierung für die Masse der ArbeiterInnen ohne Aufenthaltserlaubnis verhindert. Der Staat terrorisiert und deportiert ArbeitsimmigrantInnen nach dem „Tag ohne Einwanderer“, und eine rassistische Bewegung wächst an. Nun, vor dem Hintergrund der Rezession in den USA und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit, ist die Entstehung einer rassistischen, gegen die ImmigrantInnen gerichteten Bewegung nicht unwahrscheinlich.

Um seine Argumentation, militante Gewerkschaftspolitik würde ausreichen, um reaktionären Tendenzen entgegenzuwirken, zu unterstützen, spielt Moody die Rolle der durch den Kapitalismus hervorgerufenen Konkurrenz zwischen ArbeiterInnen herunter. Er sagt, Armut sei in erster Linie auf die „Konkurrenz von Kapitalen“ zurückzuführen, nicht auf die Konkurrenz zwischen ArbeiterInnen. Er bringt als Beispiele die Textil- und Elektronikindustrie, wo die „brutale Konkurrenz zwischen an den Rand gedrängten Kapitalen“ einen Sog zu überausbeuterischen Formen der Arbeitsorganisation und Produktionsmethoden, mörderische Arbeitsbedingungen, Heimarbeit, Armutslohn und Arbeitslosigkeit erzeugt hat: Tretmühlen, Heimarbeit und Unterbeschäftigung (26). Er zitiert Forschungen, wonach in wenigstens vier Fällen in Kalifornien die Gewerkschaften und Löhne zurück gegangen sind, weiße Amerikaner durch ImmigrantInnen ersetzt worden sind, die zumindest anfänglich bereit waren, schlechtere Bezahlung und Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren (27).

Das ist natürlich im Kern richtig: die Wurzeln für Arbeitslosigkeit und Armut liegen in der Überakkumulation von Kapital, der fallenden Profitrate und den Bemühungen der Kapitalisten, ihr durch verschärfte Ausbeutung gegenzusteuern. Aber mit dieser Erklärung ist es noch nicht getan. Moody zeichnet ein Bild der Arbeitslosigkeit als eines einfachen passiven Wirtschaftsprozesses und unterschätzt damit seine Folgen. Er übersieht, dass in Wahrheit die Bosse und ihr mächtiger Medienapparat die ArbeiterInnen anstacheln, die Verantwortung für die Konkurrenz der zugewanderten Arbeiterschaft zuzuschieben und harte Maßnahmen gegen illegale Zuwanderung zu verlangen. Das ist natürlich eine falsche Lösung ihres Problems. Die Beschränkung des Zugangs zum Arbeitsmarkt ist eine klassische falsche Antwort der Facharbeitergewerkschaften gegen ihre Konkurrenz untereinander und öffnet dem Rassismus Tür und Tor. MarxistInnen haben dies seit den frühesten Tagen der Arbeiterbewegung betont. Die Antwort ist die Organisierung der nachdrängenden ArbeiterInnen. Aber wir können nicht die materiellen Wurzeln des Übels Rassismus leugnen, sonst werden wir ihn nie besiegen.

Die Kapitalisten von der Betriebsebene bis zum nationalen Niveau, wo z.B. Senator Mike Tancredo von der Republikanischen Partei in Colorado den rassistischen Minuteman-Wachschutz unterstützt, sitzen nicht tatenlos herum und belassen die Dinge in ökonomischen Gefilden. Sie appellieren offen an die weißen ArbeiterInnen und wollen sie mit Forderungen wie „Weg mit den Immigranten“, „Weg mit positiver Diskriminierung“ organisieren. Früher hieß es noch unverblümter: „Haltet die Schwarzen unter ihresgleichen, dann werdet ihr mehr Jobs haben“.

Teile der weißen Arbeiterschaft werden darauf reagieren und können für rassistische Bewegungen rekrutiert werden. Die Bosse ergreifen Maßnahmen, die den Rassismus festigen, wie der alte Spruch beweist, der besagt, dass Schwarze „als letzte geheuert und als erste gefeuert“ werden.

In Irland hatte sich 1918 die Orange Order, ein klassenübergreifender Block protestantischer ArbeiterInnen, formiert und wurde von protestantischen Bossen geleitet. Ihre Basis war der Erhalt der protestantischen Vorherrschaft und die Unterstützung für die Kontrolle des britischen Imperialismus über Irland. Sie wurde nicht nur eine Massenorganisation, sondern trat auch für die Entlassung von katholischen ArbeiterInnen aus den größeren Betrieben wie den Hafendocks auf (28).

Der rassistische Süden der USA unterschied sich davon nicht. Die gegenwärtige systematische diskriminierende Bildung und Einstellungspraxis zusammen mit der Masse von illegalen ArbeiterInnen, deren Zahl auf 12 Millionen geschätzt wird, sind eine neue institutionalisierte Form des Rassismus.

Moody ist ein wenig zu voreilig, wenn er die Rolle der Konkurrenz zwischen ArbeiterInnen und infolgedessen der von wirklichen materiellen Privilegien für den Kampf herunterspielt. Er würde zweifellos wie die Socialist Workers Party in Britannien sagen, dass er einfach nur der plumpen Propaganda entgegentreten will. Doch sein Buch wendet sich an GewerkschaftsaktivistInnen, Militante und die Linke; eine solche Schicht von fortgeschrittenen ArbeiterInnen benötigt aber eine Analyse, die die wahren Wurzeln der Probleme aufdeckt, um die Arbeiterklasse zu organisieren und daraus taktische Schritte ableiten zu können, wie wir sie überwinden.

Wenn wir sagen, dass eine Gruppe, schwarze oder LatinoarbeiterInnen, unterdrückt ist, bedarf es zugleich der Feststellung, dass weiße ArbeiterInnen einige Vorteile oder Privilegien genießen, einerlei, wie klein, historisch, vorläufig und letztlich selbstzerstörerisch diese „Errungenschaften“ auch im Vergleich zu dem sind, was ein vereinter Klassenkampf für die Bedürfnisse der ArbeiterInnen erringen könnte. Wenn ArbeiterInnen ihre Wohnungen räumen müssen, kein Essen auf den Tisch bringen können, ihre Arbeitsstelle zu verlieren drohen, besitzt der Slogan „Jobs für Amerikaner zuerst“ eine große Anziehungskraft.

Wir werden keine ArbeiterInnen gewinnen, wenn wir ihnen vormachen wollen, es gäbe weder Konkurrenz noch Privilegien. Wir müssen sie mit der Erkenntnis gewinnen, dass ihre Privilegien und die Spaltungen in der Arbeiterklasse, die der Rassismus produziert, ihre Widerstandskraft gegen heftige Attacken von Seiten der Bosse und des Staates nur schwächen. Nur ein vereinter Kampf auf Klassengrundlage kann ihr Leben grundsätzlich verbessern. Nur er bringt auf Dauer sichere Arbeitsplätze, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft und ein Ende aller Sorgen und Unsicherheit.

Der Schlüssel zu dieser Einheit ist jedoch ein konsequenter Antirassismus. Alle Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen müssen an vorderster Front des Kampfes gegen den Rassismus stehen, im Schulterschluss mit seinen Opfern, die sich wehren. Wir dürfen uns nicht scheuen, rassistische Rufe nach immer mehr Grenzkontrollen zurückzuweisen, denn dies würde zwingend Arbeiter gegen Arbeiter aufbringen. Ebenso wenig dürfen wir uns von Methoden des Klassenkampfes wie Streiks und Streikposten gegen staatliche Attacken abhalten lassen. Wenn eine solche Bewegung gegen den Rassismus mit der klassenkämpferischen Einstellung verbunden wird, wie sie Moody befürwortet, und nicht mit der Furchtsamkeit und Klassenkollaboration der reformistischen Führer, dann können die ArbeiterInnen für die Alternative „Klasse statt Rasse“ gewonnen werden, wie die Geschichte bewiesen hat.

Hier treffen Lenins Ausführungen über den Imperialismus, die Gewerkschaftsbürokratie und die privilegierte Arbeiterschicht, die „Arbeiteraristokratie“, den wahren Kern des Problems. Die Rolle des US-Imperialismus, der führenden Supermacht mit den größten Banken und Konzernen, bei der Auspressung von Extraprofiten aus den Halbkolonien ist entscheidend. Wie Lenins Analyse zeigt, stützt sich die Arbeiterbürokratie letzten Endes auf die Arbeiteraristokratie, Teile der höher bezahlten ArbeiterInnen in relativ sicheren Facharbeiterberufen, die einem Lebensstil der Mittelschichten frönen können und deren Ideen diese anscheinende Sicherheit und den Wohlstand unter dem Kapitalismus widerspiegeln (29). Dies gilt v.a. für polarisierte, nach Ethnien geteilte Arbeiterklassen wie in den USA. Lenin verweist auf die Kluft zwischen dem Dasein der bestbezahlten Arbeiter in den imperialistischen Ländern und dem Leben der eingewanderten Arbeiterschaft. Die Identifikation von Teilen der US-Arbeiterklasse mit der Mittelschicht ist bekannt. Eines der Hauptargumente des AFL/CIO für den Eintritt in die Gewerkschaften war: „Gewerkschaften helfen den Arbeitern, es in die Mittelschicht zu schaffen!“ (30)

Das trifft auf alle imperialistischen Mächte zu, auf Japan, Britannien, Deutschland usw., aber erst recht auf die USA, den vorherrschenden Imperialismus, wo Jobs und Löhne von riesigen Arbeiterheeren von militärischer Produktion und Verträgen abhängen. Über eine halbe Billion Dollar werden jährlich in die Rüstung und den Sicherheitsbereich gepumpt. Nichtsdestotrotz ist auch hier eine dauerhafte Sicherheit Illusion. Gelegentlich hat der Kapitalismus keine Verwendung mehr für diesen oder jenen Teil der Arbeiteraristokratie, und auch sie geraten unter Druck. Gleichermaßen darf sich kein Arbeiter in Zeiten verallgemeinerter Krise sicher wähnen, wie z.B. in der großen Depression Anfang der 30er Jahre. Deshalb wäre es auch falsch, irgendeinen Teil der Arbeiterklasse politisch abzuschreiben oder sich zu  weigern, ihn zu organisieren. In Krisen- und Revolutionszeiten können solche ArbeiterInnen von ihrer falschen Ideologie befreit und für den Kampf gewonnen werden, wie die Geschichte der Massenstreiks in ganz Europa in den 20er und 30er Jahren lehrt.

Diese konservativen, besser gestellten Schichten von ArbeiterInnen, die ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht haben, sind die soziale Basis des Reformismus und anderer bürgerlicher Ideen wie Nationalismus, Rassismus und Sexismus in der Arbeiterklasse. Die US-Gewerkschaftsbürokratie stützt sich wesentlich auf diese Schichten und transportiert bürgerliche Ideologie in die Köpfe der Arbeiterklasse, nicht zuletzt durch ihre Unterstützung für die Demokratische Partei. Am anderen Ende der Skala finden sich die Schichten der ungelernten und angelernten weißen ArbeiterInnen, welche dieselbe Gewerkschaftsbürokratie ebenfalls im Stich gelassen hat. Sie befinden sich unter zunehmenden ökonomischen Druck mit stagnierenden Löhnen und wachsenden Schulden. Sie spiegeln einige derselben Haltungen wider, haben reaktionäre Ideen und fallen den Demagogen aus Kirche und Republikanischer Partei zum Opfer, haben mit dem Südstaatenrassismus (Jim Crow) nie gebrochen und wurden in ihren Ideen bestärkt durch die Schuld der Demokratischen Partei an der Entstehung des „Rostgürtels“.

Die Bedeutung des Rassismus wird natürlich von Moody keineswegs vernachlässigt. Er würdigt den „Tag ohne ImmigrantInnen“ als Ereignis, das das Zeug für einen echten Wendepunkt in der Arbeiterbewegung hat und verkennt auch nicht die Notwendigkeit, dass die Gewerkschaften sich in der ImmigrantInnenbewegung verankern und mit deren Hilfe den eigenen Wiederaufbau betreiben müssen. Doch das ist nur ein Aspekt. Genau so wichtig ist der politische Kampf der Gewerkschaften gegen den Rassismus und eine konsequente Verteidigung von ArbeitsimmigrantInnen wie z.B. der Beschluss zweier britischer Gewerkschaften, der die Abschaffung aller Einwanderungskontrollen fordert (31).

Wir müssen uns an die sozialen Bewegungen zwecks Unterstützung für die gewerkschaftliche Organisierung und Solidarität bei Streiks wenden, aber auch umgekehrt Gewerkschaftskampagnen fordern, welche die sozialen und politischen Bewegungen gegen Rassismus und Imperialismus unterstützen. Dies soll dazu dienen, dass die bürgerliche Ideologie im weißen Teil der Arbeiterklasse bekämpft und beseitigt werden kann und in zugespitzten Situationen auch die Macht von Streiks genutzt wird, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Was ist die Crux bei Moodys Analyse? Wenn er von „Arbeiterbewegung“ (32) spricht, meint er die Gewerkschaften und die Organisierung von ArbeiterInnen am Arbeitsplatz für ökonomische Forderungen und Macht, was aber nicht dem Begriff „Arbeiterklasse“ entspricht.

„Arbeiterschaft“ oder Arbeiterklasse?

In letzter Instanz betont Moody zwar das Ziel „Arbeitermacht“, sieht sie jedoch aus der Gewerkschaftsbewegung erwachsen und führt sie stets darauf zurück. Im Ergebnis vernachlässigt oder ignoriert er die Bedeutung einer politischen Partei für die Organisierung der Arbeiterklasse sowohl in den Alltagskämpfen wie auch als entscheidendes Instrument zur schließlichen Machtübernahme. Nur von einem solchen Standpunkt aus und mit einem solchen Instrument kann der Klassenkampf in all seinen Facetten erfasst werden.

In dieser Hinsicht leidet Moodys Buch an einer Analyseschwäche in Bezug auf einen Hauptaspekt der neoliberalen Angriffe, der Zunahme von Prekarisierung, obschon alle Bestandteile hierzu enthalten sind: das Anschwellen des Dienstleistungssektors, die „Walmartisierung“ (Gleichschaltung und Entrechtung der Beschäftigten) des Einzelhandels, das Wuchern einer „Reservearmee der Arbeitslosen“, das Aufkommen der eingewanderten Arbeitskräfte. Aber Moody lässt völlig die jungen ArbeiterInnen außer Acht, die ein Sechstel der Arbeitskräfte ausmachen, aber nur zu 4,8% gewerkschaftlich organisiert sind, was gerade einem Drittel des Landesdurchschnitts entspricht. Trotz lebendiger Kampagnen um die Vergewerkschaftlichung von Starbucks etwa oder des Erfolgs junger ArbeiterInnen durch die Besetzung von McDonald’s in Frankreich, um die Geschäftsleitung zu zwingen, ihre Gewerkschaft anzuerkennen, bleiben junge AmerikanerInnen am Rand der Gewerkschaftsbewegung, abgesehen von der Tatsache, dass die Gewerkschaften ein paar AktivistInnen aus sozialen Bewegungen von Universitäten als Organisatoren angestellt haben.

Moody mag zwar Recht haben, wenn er betont, dass die Gewerkschaftsbewegung sich erst ihre Stärke aus der Bekämpfung von anderen gewerkschaftsfeindlichen Firmen holen sollte, ehe sie den Riesen Wal Mart angreift, doch es gibt eine sehr große Schicht von jungen ArbeiterInnen auf unsicheren Arbeitsplätzen mit Hungerlöhnen, deren Energie- und Begeisterungspotenzial auszuschöpfen die Gewerkschaften weitgehend versäumt haben. Die Initiative „StudentInnen gegen superausbeuterische Betriebe“, die antikapitalistischen, Antikriegs- und Umweltbewegungen haben gezeigt, dass viele Jugendliche sich durch solche politische Themen radikalisiert haben und willens sind zu handeln. Dies und viele ihrer Methoden der unmittelbaren Aktion könnten auch in ihrer eigenen Jobsituation fruchten. Diese Verzahnung von politischen und wirtschaftlichen Fragen ist nur umsetzbar von einem Ausgangspunkt, der das Kapital in seiner Gesamtheit angreift, statt nur einen besonders üblen gewerkschaftsfeindlichen Unternehmer aufs Korn zu nehmen. Dieser Aspekt bleibt durch die Konzentration auf Gewerkschaften in Fertigung und Logistik unterbelichtet.

Moody äußerst sich sehr optimistisch über das Wachstum der „Arbeiterzentren“, die als Teil der Kämpfe der eingewanderten ArbeiterInnen aufgeblüht sind. 122 der 2005 landesweit gezählten 137 Zentren haben sich vornehmlich Fragen der Arbeitsimmigration gewidmet (33). Der Verfasser bemerkt richtig, dass sie nicht die „unmittelbare betriebliche Kraft“ wie Gewerkschaften entfalten können, da sie sich auf Wohngebiete stützen und von daher weniger ökonomischen Druck ausüben. Sie sind nicht wirklich unabhängig, sondern müssen sich aus Spendenmitteln von Stiftungen speisen. Als Teil einer „Gemeinde“ und mit einer Struktur wie zahlreiche Organisationen der nichtstaatlichen „Zivilgesellschaft“ (NGOs) stellen sie ein Gemisch aus ArbeiterInnen und Funktionären, AnwältInnen und hauptamtlich Angestellten dar, deren Wurzeln in der Mittelschicht liegen. Moody warnt zurecht vor der einfachen Gleichung „Gewerkschaften plus soziale Bewegungen gleich Erhebung“ mit der Feststellung, dass solche Ereignisse nicht einfach hergestellt werden können (34).

Den Rahmen von zwischengewerkschaftlichen Initiativen wie „Arbeitsplatzgerechtigkeit“ und Kampagnen zum Lebensstandard überschreitet er jedoch nicht und äußert sich kaum über ihren Bezug zu politischen Inhalten wie Rassismus und Einwanderung. Als es um die ausgiebige Organisierung von Einwanderungsgemeinden ging, um den politischen Streik am 1. Mai 2006 in Gang zu bringen, der nicht nur Arbeiterorganisationen umfasste, war seine Antwort, die Gewerkschaften müssten „solchen Organisationen mit Wachsamkeit und Achtung“ begegnen und ein politisches Bündnis mit ihnen anstreben, in das die Gewerkschaften ihre eigene „sozioökonomische Tagesordnung“ einbringen müssten (35). Andere außerbetriebliche politische und soziale Bewegungen werden von Moody nicht beachtet; über die Antikriegsbewegung huscht er mit einer Randbemerkung zur amerikanischen Initiative „Arbeiter gegen den Krieg“ hinweg. Worin besteht die „sozioökonomische Agenda“, die GewerkschaftsaktivistInnen in diese Bewegungen hineintragen sollen, anders, als sich am Arbeitsplatz zu organisieren und Arbeiterinnen zu mobilisieren? Dazu schweigt Moody.

„Respektvolle“ Koalitionen mit Kirchen, NGOs und anderen Mittelschichtsgruppen können ein erster Schritt sein, aber diese Kräfte werden letzten Endes vor militanter Aktion zurückschrecken. SozialistInnen werden also klassengemäße Aktionsformen entwickeln und die Waffe des Streiks in diesen Aktionseinheiten vorschlagen müssen.

In Britannien zollten z. B. linke Organisationen wie die Sozialistische Arbeiterpartei (SWP) bei den „Stoppt den Krieg“-Massendemonstrationen auf deren Podien den Parlamentsabgeordneten der Labour Partei und Vorsitzenden mehrerer großer Gewerkschaften „respektvoll“ Beifall; doch sie versäumten es, diese Führer aufzufordern, ihre eigene Mitgliedschaft zu Streiks und Straßenblockaden als einzigem Weg, den Krieg zu beenden, aufzurufen (36). Ein Bündnis ist ein Ausgangspunkt, aber sein Ziel muss der Übergang von Protesten zu Massendemonstrationen, massenhaftem zivilen Ungehorsam und Massenstreiks sein. Das umfasst nicht nur ein Programm wirtschaftlicher Forderungen, sondern Streikaktivitäten mit politischer Zielsetzung, es bedeutet auch die Förderung der Kampfbereitschaft gegen die Handlanger des Kapitals auf Wohngebietsebene, genauso wie der Kampf gegen diese Agenten in den Gewerkschaften ausgetragen werden muss, hier gegen die Bürokratie, dort gegen die Klein- und Großkapitalisten, den Klerus und die „unpolitischen“ OrganisatorInnen der NGOs. Das dient natürlich nicht der Denunziation, sondern soll anhand von praktischen Beispielen deren Irreführung vor den Augen ihrer AnhängerInnen entlarven.

Kampagnen zur Orientierung der Jugend auf die ArbeiterInnen und Arbeitslosen sind von großer Tragweite für die sozialistische Strategie und die Einflussnahme von militanten Klassen- und GewerkschaftsaktivistInnen. Das ist ebenso wichtig wie Gewerkschaftseintrittskampagnen und kann ihnen nur nützen.

In Frankreich waren die Generalstreiks 2006 im Zusammenhang mit den Kämpfen gegen die Mindervergütung von ArbeitsanfängerInnen durch die Massenbesetzungen von Universitäten und Schulen durch französische StudentInnen und SchülerInnen angeregt. Gleichzeitig beflügelten diese gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen auch die Proteste der StudentInnen und SchülerInnen. Wenn sie sich mit der explosiven Situation in den französischen Vorstädten (den banlieues) und der dort rebellierenden Jugend verbunden hätten, wäre nicht nur die rechte französische Regierung erschüttert gewesen – sie hätten sie sogar stürzen und eine Bewegung formieren können, die den Aufstieg von Nicolas Sarkozy als französischem Thatcher hätte verhindern können, der nun u.a. das Rentensystem massiv attackiert (37).

Wie die antikapitalistische Bewegung auf der ganzen Welt gezeigt hat, sind junge ArbeiterInnen, StudentInnen und Arbeitslose eine mächtige Kraft, die im Bündnis mit den gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen gemeinsame Ziele verfolgen und den Streiks die explosive gesellschaftliche Substanz der Straße hinzufügen können.

Moody unterschätzt auch die sozialen Bewegungen im Vergleich mit den Gewerkschaften in Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel:

„Gewerkschaften wie jene in Südafrika und Brasilien (…) hatten führend in den Kampf um Demokratie eingegriffen und enge Verbindungen zu den Arbeitervierteln ihrer Mitglieder. Sie handelten wie Bewegungen, nicht wie kollektive Unterhändler. Aber diese Gewerkschaften wie die CUT in Brasilien und COSATU in Südafrika waren vor allem in ihren Betrieben verankert, die die Quelle ihres Zusammenhalts und der Macht waren und es ihnen erlaubten, eine breitere Bewegung zu führen. Sie haben sich nicht auf ihre ‚Gemeinde‘ verlassen, sondern sie geführt. (…) Es waren CUT und COSATU, die den Elendsquartieren zusätzliche Kraft verliehen, nicht umgekehrt (…) Notwendigerweise kehren wir immer zum ersten Gebot zurück: der Kraft, die die Klasse dank ihres Platzes im Herzen der kapitalistischen Akkumulation im Beruf und am Arbeitsplatz besitzt.“ (38)

Es stimmt zwar, dass das massenhafte Fernbleiben von der Arbeit, der Generalstreik, durch COSATU den Widerstandswillen des Apartheidregimes zentral untergrub und es schließlich stürzte. Aber dies war verbunden mit und untrennbarer Bestandteil einer politischen Bewegung, die die Krise zuallererst schuf. Doch die COSATU-Gewerkschaften brachten keine Arbeiterpartei mit einer Strategie zur Machteroberung ihrer Klasse und für den Sozialismus zustande, ein Ziel, woran zehntausende von Militanten aus Gewerkschaft und Jugendbewegung wirklich glaubten – im Unterschied zur Volksfront- und Etappentheorie der südafrikanischen KP und des Afrikanischen Nationalkongresses ANC. Diese verbauten nicht nur den Weg zum Sozialismus, sondern beraubten schwarze Industrie- und LandarbeiterInnen auch der Möglichkeit, auf gut entlohnte Arbeitsplätze, menschenwürdige Wohnungen und Landbesitz. Dahin führt der Weg der Etappentheorie (zuerst afrikanischer Kapitalismus, Sozialismus später). In Südafrika formierte sich eine kleine schwarze Bourgeoisie, die sich als Teil der herrschenden Klasse bereicherte, während die Masse der schwarzen ArbeiterInnen weiter litt.

Dasselbe schlimme Resultat wie das Versagen vor oder das Nichterkennen der Aufgabe, den Prozess des Aufbaus einer Klassenpartei bewusst voranzutreiben, bietet deren Verfälschung zu einer reformistischen Partei, d. h. einer Partei, die im entscheidenden Moment für die Rettung des Kapitalismus statt für seinen Sturz agiert. Moody untersucht nicht, wie die unkritische Unterstützung der militanten Gewerkschaft CUT in Brasilien für die Arbeiterpartei PT die Mitschuld am Zustandekommen der neoliberalen Lula-Regierung trägt. Das ist von entscheidender Bedeutung für die USA, weil dieses Beispiel klarmacht, dass das bloße Zustandekommen einer Arbeiterpartei, die auf den Gewerkschaften fußt, nicht ausreicht. Brasilien in den beiden letzten Jahrzehnten ebenso wie Britannien im gesamten vergangenen Jahrhundert beweisen, dass eine reformistische Arbeiterpartei und reformistische Regierungen nur dem Namen nach mit dem Kapitalismus brechen.

Moody fragt nicht, wie sich die Arbeiterklasse entfalten kann und die sozialen und politischen Bewegungen anleiten kann, statt sich „respektvoll“ mit Führern der Mittelschicht oder der Bourgeoisie zu verbünden, die die Arbeiterbewegung für ihre eigenen Ziele einzuengen und zu demobilisieren trachten, wenn sie Errungenschaften erreicht hat oder gar, wenn die kapitalistische Ordnung in Gefahr ist. Die Antwort darauf war und ist die Strategie der permanenten Revolution. Aber eine Strategie bedarf eines Strategen: einer kollektiven menschlichen Verkörperung, einer Partei. Sie ist kein spontaner Prozess.

Das ist die wahre „sozioökonomische Agenda“, die SozialistInnen vorbringen sollten, indem sie dafür plädieren, dass “soziale“ Bewegungen sich auf die Arbeiterklasse, deren demokratische Organisationen und Kampfformen beziehen, als Klasse ohne objektives Interesse an Rassismus, Krieg und Ausbeutung und ausgestattet mit der gesellschaftlichen Kraft, den Regierungen und Unternehmern, die dafür verantwortlich sind, Niederlagen beizubringen. Das bedeutet, für ein Programm einzutreten, welches Kampfmethoden wie Besetzungen, Arbeitsniederlegungen, Blockaden, aktive Streiks, Selbstschutzorgane propagiert, um den Sieg zu erringen und tausende ArbeiterInnen zu ermutigen und anzuregen, diesen Tatendrang in ihre eigenen Betriebe hineinzutragen.

Soziale Bewegungen dürfen nicht als „Anhängsel“ der Gewerkschaften verstanden werden, vielmehr müssen beide Kräfte zusammenwirken und Forderungen müssen gemeinsam ausgearbeitet und erkämpft werden. Damit dieser Zusammenhang und die Führung sichergestellt und ein Programm zur Verbindung dieser Kampagnen mit dem Kampf um Arbeitermacht zugespitzt werden kann, ist eine Arbeiterpartei mit einem revolutionären Programm notwendig.

Die KP der USA führte in den 30er Jahren viele Kampagnen, Bewegungen und gewerkschaftliche Anstrengungen zur Organisierung von ArbeiterInnen im Süden der Vereinigten Staaten, so 1931 die Initiative zur Befreiung der Scottsboro-Jungen, Antilynchkampagnen und Arbeitslosenräte, um Farmpächter zusammen mit Landarbeitern zu organisieren. Sie stellten auch 1936 die HauptaktivistInnen für den Organisationsausschuss der Stahlarbeiter der CIO und die Organisierungsbemühungen von IndustriearbeiterInnen, auch mit Sitzstreiks (39). Da die Partei von Anfang an stalinistisch ausgerichtet war, folgte sie jedoch bald der lähmenden Volksfrontstrategie, unterstützte von 1936 an die Demokraten und verbaute damit schließlich den Weg zur Organisierung der ArbeiterInnen im Süden und zur Revolution. Nichtsdestotrotz machte die Arbeiterbewegung im Süden Fortschritte dank des Zusammenspiels von politischen Kampagnen und ökonomischen Kämpfen, die sich gegenseitig befruchteten.

Erst Gewerkschaft, dann Partei?

Die Gewerkschaften gaben mehr als 100 Mill. Dollar für Kandidaten während der Wahlkampagne 2004 aus, den Großteil für Demokraten, aber auch etwas für Republikaner; dies hat sich 2008 noch gesteigert (40). Das zeigt zum einen den politischen Bankrott der AFL/CIO- und CTW-Bürokraten, aber auch die enormen Geldmittel aus Mitgliedsbeiträgen, über die sie verfügen können. Diese Mittel könnten nicht nur als Kriegskasse für Mitgliedergewinnung, sondern auch für den Aufbau einer politischen Partei der Arbeiterklasse eingesetzt werden. Moody weist nach, dass sich der Schwung der gewerkschaftlichen Organisierung vor 2000 verlangsamte, als die Gewerkschaften ihre Aufmerksamkeit den Wahlen zuwandten und für die Kampagne der Demokraten Geld locker machten und Personal abstellten.

Moody tritt für eine Arbeiterpartei als Alternative zur Demokratischen Partei ein. In den 90er Jahren machten sich Öl-, Chemie- und AKW-Arbeiter stark für eine Initiative für eine Arbeiterpartei. Als Folge davon hielten vier landesweite Gewerkschaften 1996 eine Zusammenkunft mit 1.367 Abgeordneten aus Bundes-, Regional- und vielen örtlichen Gewerkschaften ab und riefen eine Arbeiterpartei ins Leben. Moody meint, dass dieser Arbeiterparteiversuch nicht vom Fleck kam, weil er darauf abzielte, immer mehr landesweite Gewerkschaften in dieses Projekt hineinzuziehen entlang der gewerkschaftlichen Strategie, Strukturen von oben nach unten durch Fusionen zu formieren, statt sie von unten nach oben unter Beteiligung von lokalen Gewerkschaften entstehen zu lassen. Wo Ortsgruppen geschaffen wurden, blieb die Entscheidungsbefugnis bei den nationalen und regionalen Gewerkschaftsdelegierten. Die Gründungsversammlung stimmte nicht dafür, eigene Kandidaten bei den 1996 und 1998 anstehenden Wahlen aufzustellen – aus Furcht, damit die Clinton-Regierung zu beschädigen (41). So war die Partei von Anfang an undemokratisch, ein Geschöpf der Gewerkschaftsbürokratie und politisch kompromittiert durch eine unsichtbare Allianz mit der Demokratenpartei.

Jahre später und unter Druck von militanteren Elementen macht sich die Labor Partei daran, bei lokalen Wahlen zu kandidieren. Eine neue Provinzpartei ist in Südcarolina entstanden, einem der ärmsten Staaten mit der sehr multi-ethnischen Zusammensetzung der USA. 19 lokale Gewerkschaften, der regionale AFL/CIO und die zentralen Arbeiterdelegierten von Charleston und Columbia haben das Gründungstreffen unterstützt (42). Wie Moody erwähnt, ist das Reservoir im Süden zum Aufbau nicht nur von Gewerkschaften, sondern auch von politischen Arbeiteralternativen zur kapitalistischen Partei der Demokraten sehr groß.

Die Weigerung der Labor Partei, in den Wahlen gegen die Demokratische Partei anzutreten oder eine Kampagne zu entfachen, um die Gewerkschaften von ihr loszubrechen, ist ein klares Zeichen, dass sie die selbst verkündeten Ziele nicht ernsthaft verfolgt. Alle Mitgründergewerkschaften unterstützen weiterhin demokratische Kandidaten. Eine Arbeiterpartei, die die kapitalistischen Parteien nicht auf diesem elementaren Gebiet herausfordert, selbst wenn sie von der Eroberung der politischen Macht spricht, macht keine Fortschritte.

Ein weiteres wichtiges Hindernis ist das Programm, das noch nicht einmal ansatzweise antikapitalistisch oder sozialistisch ist. Nicht einmal der Begriff in reformistischer Lesart taucht dort auf. Darin finden sich zwar Positionen wie „volle Arbeits- und Bürgerrechte für ImmigrantInnen“, eine kostenlose medizinische Versorgung für alle, Beendigung des Irakkrieges und der Besatzung, doch das Programm verbleibt ansonsten mit einer sehr begrenzten Liste von Reformvorschlägen innerhalb des Kapitalismus. Es macht nicht die Notwendigkeit der Aufstellung von Übergangsforderungen begreiflich, um Alltagskonflikte mit dem sozialistischen Ziel zu verbinden und sie letzten Endes in eine massenrevolutionäre Herausforderung des Kapitalismus münden zu lassen.

Trotz ihrer punktuellen Kampagnen (ursprünglich alternativ zu Wahlkandidaturen gedacht) hat die Labor Partei es nicht vermocht, Auseinandersetzungen anzuzetteln, die von einer Partei, die von sechs landesweiten Gewerkschaften mit zwei Millionen ArbeiterInnen getragen wird, erwartet werden müssen. Sie ist keine Kampfpartei gegen das kapitalistische System und die Gewerkschaftsbürokratie, sondern wurde gegründet, um eine reformistische Partei nach britischem Vorbild zu etablieren. Sie ist somit ein politisches Werkzeug der Gewerkschaftsbürokratie und ein Bremsklotz für den Aufbau einer revolutionären Partei.

Moody übt zwar Kritik an der Labor Party, aber mit einem typischen Pragmatismus, der offen lässt, ob sie einen „Rahmen oder Rückhalt bilden kann für Experimente und Bemühungen vorwärts zu unabhängiger politischer Aktion auf Arbeiterbasis“. Hier dämmert ihm die Erkenntnis, dass eine Arbeiterpartei mehr als Gewerkschaften braucht. „Sie muss sich an die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit wenden.“ Aber er glaubt auch, bevor solche Initiativen starten können, müsse es zunächst einen Aufschwung von Arbeiteraktionen geben:

„Höchstwahrscheinlich sind die Anfänge von Aufwallungen direkter Aktion in Betrieben und Wohngemeinden durch verschiedene Gruppen eine Vorbedingung für unabhängige Wahlkampagnen (…) Notwendig ist eine Zunahme von Aktionen und ihr Zusammenfluss in einen größeren Strom, der zu einer sozialen Bewegung innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften durch die aktiven Elemente der verschiedenen Elemente der Arbeiterklasse wird. Führer und Gewerkschaften können keine solche Erhebung produzieren. Aber man darf auch nicht darauf warten. Die Aktionen der Organisationen und Führer können heute helfen, die Basis zu legen für größere künftige Ereignisse genau wie Passivität, Zaghaftigkeit und ähnliches sie ersticken können.“ (43)

Der Gedanke des Aufbaus einer Bewegung für eine Arbeiterpartei (obschon Moody diesen Begriff nicht gebraucht) ist völlig korrekt, aber da der Verfasser die Bedeutung der nicht auf Betriebe orientierten Bewegungen und der radikalisierten Jugend vernachlässigt, mangelt es ihm am Blick für deren Potenzial zu einem politischen Bruch mit den Demokraten. Die „Progressiven Demokraten von Amerika“ sind tatsächlich das Produkt einer gegenläufigen Erkenntnis dieser Gefahr. Die Gruppe wurde 2004 just gegründet, um die Antikriegsbewegung zu kanalisieren und sie zusammen mit den ökonomisch unzufriedenen Arbeitern wieder in den Pferch der Demokratischen Partei zu treiben, rechtzeitig zur Präsidentschaftskampagne von John Kerry, der für den Krieg gestimmt hatte!

Die Etablierung einer offenen demokratischen Bewegung für eine Arbeiterpartei, die die Führung in der Antikriegsbewegung übernehmen würde, könnte tausende von jungen AnhängerInnen und AktivistInnen aus vielen anderen Antikriegs-, Einwanderer-, Jugend- und antikapitalistischen Organisationen und früheren Initiativen wie der Labor Partei gewinnen. Die Aufgabe von Gewerkschaftsmilitanten liegt darin, die Gewerkschaften und alle anderen Kampagnen für die Unterstützung der massenhaften Antikriegsbewegung zu gewinnen, für Streiks zu agitieren und für eine neue Partei als deren Ergebnis einzutreten – alles politische Fragestellungen!

Die Orientierung auf Kämpfe, nicht nur auf Wahlen und wahrhafte Demokratie hätten RevolutionärInnen die beste Chance eröffnet, nicht nur breiteren Rückhalt für bestimmte Protestformen zur Gewinnung von Kämpfen, sondern auch Anhänger für das gesamte Programm zur Zerschlagung des Kapitalismus zu finden. Jenes Potenzial war nicht beschränkt auf die USA, sondern es war in mehreren anderen Ländern wie Britannien, Italien anzutreffen, wo es massive Antikriegsauseinandersetzungen gab oder wo, wie in Venezuela, Frankreich oder Italien Arbeitererhebungen im Zusammenhang mit diskreditierten populistischen oder sozialdemokratischen Parteien stattfanden. (44) Zwar können wir keine Aufstände „fabrizieren“, aber wir haben schon bedeutende politische Erhebungen erlebt wie die Antikriegsbewegung oder den „Tag ohne ImmigrantInnen“. Dies ist der Rohstoff, aus dem eine neue Partei, aber auch die Gewerkschaften aufgebaut werden können. Beide Initiativen müssen Hand in Hand gehen.

Moody ist selbst Sozialist, macht aber dennoch keine Bemerkung dazu, auf welches Programm und welche hauptsächlichen politischen Aufgaben sich eine Partei gründen soll. Eine Partei wird hier nur als organisatorisches Werkzeug dargestellt, als eine Ansammlung von verschiedenen Bewegungen, Kampagnen und Gewerkschaften für die Kandidatur bei Wahlen, auf einem Programm, das sich in seinen Bestandteilen nicht über den Durchschnitt des Reformismus erhebt. Ihr Zweck ist, zur Wahlkandidatur beizutragen und schließlich ihre Anstrengungen damit zu krönen. Der Gedanke einer revolutionären Partei, deren Militante den Aufbau und die Eroberung einer Führung für alle Massenorganisationen und -bewegungen der Arbeiter- und unterdrückten Klassen anstreben und versuchen, die ArbeiterInnen für alle militanten Kampfmethoden und Übergangsforderungen zu gewinnen wie z. B. Arbeiterkontrolle, die den Weg zum Sturz der kapitalistischen Ordnung weisen, fehlt bei Moody völlig (45). Das Letzte, was die amerikanische Arbeiterklasse braucht, ist eine reformistische Partei wie die britische Labour Party! Das wäre kein Fortschritt, sondern die Vereitelung einer solchen Bewegung.

„Regulierung des Mehrwerts“ oder Revolution?

All diese Fragen von Klasse, Gewerkschaft und Partei werfen eine umfassendere auf: Für welches Ziel sollten diese Organisationen eintreten? Kim Moody meint, die Gewerkschaften müssten die der „Linie des geringsten Widerstands“ entsprechende Orientierung auf die aktuellen Organisierungskampagnen überschreiten, die sich auf „abgeschnittene“ Dienstleistungsbereiche konzentrierten und sich im gewerblichen und Logistiksektor verankern, die in den Südstaaten und außerhalb traditioneller Industriegebiete noch expandierten. Auf diesem Wege, so argumentiert er, könnten die ArbeiterInnen stärkere „gesellschaftliche und wirtschaftliche Kräfte“ aufbringen, „die es mit der Macht aufnehmen“, die dem Herz der kapitalistischen Akkumulation bei den multinationalen Großkonzernen zugrunde liegt. (46)

Wir können mit den „Arbeiterzentren“ beginnen, den Bemühungen um die Organisierung von Einwanderern und bereits etablierten gewerkschaftlichen Widerstandsnestern, um ein organisiertes „Gleichziehen“ in Gang zu setzen. In dieser Strategie stecken Irrtümer und Unterlassungen, wie oben gezeigt. Doch das Buch endet schwach, wenn Moody schlussfolgert, das große Ziel beim Aufbau gewerkschaftlicher Macht liege darin, „das Kapital zu regulieren“:

„Mitgliederaktivität, Verantwortlichkeit der Führung und Gewerkschaftsdemokratie sind unverzichtbare Bestandteile einer Stärke, die von Millionen an einer Stelle und auf eine Weise ausgeübt werden kann, die das Kapital begrenzen. Der gelegentliche Streik für Anerkennung der Gewerkschaft oder Tarifverträge ist wichtig, aber nicht ausreichend. Hand und Hirn der organisierten Arbeiterschaft müssen sich nicht nur von Zeit zu Zeit der Herstellung, dem Transport und der Distribution von Gütern und Dienstleistungen der Nation entziehen, sondern jederzeit dafür gut sein, sie zu regeln. Dies ist eine Regulierung im Konflikt, nicht in Partnerschaft mit dem Kapital. Sie stellt eine Macht dar, den Mehrwertfluss zu kanalisieren, der die Blutauffrischung fürs Kapital ausmacht. Diese Drosselung kann nicht aus von hunderten Meilen vom Schauplatz entfernten, abgekapselten Hauptquartieren gesteuert werden. Somit ist starke und lebendige Organisation am Arbeitsplatz das vorrangige Prinzip für die Wiederbelebung der Gewerkschaft und neue Organisierung.“ (47)

Aber diese Art Kraft ist außerhalb der vorübergehend aufwärts zeigenden Kurve des US-Kapitalismus während des langen Nachkriegsbooms unmöglich aufrecht zu erhalten – weder im Betrieb noch in einer nationalen Streikbewegung. Die LohnarbeiterInnen können das Kapital nicht krankenhausreif schlagen und sich dann passiv zurücklehnen und seinen Blutstrom „drosseln“; sie müssen ihm einen Pflock ins Herz stoßen, es überwinden. Die UnternehmerInnen würden solche Macht nie lang dulden. Die im Kampf auf einem Gebiet errungene Macht muss mittels einer bewussten Bewegung für Ziele ausgedehnt werden, die das US-Kapital herausfordern. Auf diesem Niveau ist eine revolutionäre Fehde unvermeidlich. Das würde den bewaffneten Staat ins Spiel bringen, der in Moodys Rechnung eine unsichtbare Größe darstellt. Die Geschichte der US-Arbeiterklasse ist eine staatlicher Angriffe, wenn die Bosse vor Ort einmal die Kontrolle verloren hatten – von der großen Erhebung 1877 bis zum jüngsten Fall der Charleston Five – schwarzen Hafenarbeitern, die 2000 nach einem Polizeiüberfall auf ihre Streikpostenlinie inhaftiert wurden.

Moodys Buch wird immer vager, je mehr er darin beginnt konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen und Perspektiven zu zeichnen. Er verliert die Klarheit seiner kritischen Analyse, die er in den ersten zwei Dritteln demonstrierte. Seine Rufe nach Einbeziehung der Mitgliedschaft, Organisation am Arbeitsplatz usw. sind wie auf ein Problem fixierte unscharfe Linsen. Sie können kein Loch durch die Gewerkschaftsbürokratie und deren Störmanöver hindurch brennen. Alle „abgekapselten Hauptquartiere“ existieren noch und werden das in ihren Kräften liegende tun, um die Arbeiter aufzuhalten, den „Mehrwertfluss zu kanalisieren“ und ihre Partnerschaft mit den Chefetagen durcheinander zu bringen. Eine Basisbewegung, eine Bewegung für eine Arbeiterpartei, das Verfechten eines revolutionären Übergangsprogramms, auf dessen Grundlage eine solche neue Partei die unvermeidlich aufwallenden Kämpfe gegen Unterdrückung und Ausbeutung mit einem bewussten Kampf für den Sozialismus verbinden muss – all das ist parallel zur gewerkschaftlichen Organisierung notwendig. Die Geschichte der russischen Revolution hat gezeigt, dass sich der Kampf nicht nur durch Gewerkschaften entwickelt, sondern vorrangig durch Betriebskomitees und Räten (Sowjets) aus Delegierten der Gewerkschaften, Betriebe und Arbeiterviertel.

In der aktuellen Lage einer ernsten Rezession, vor dem Hintergrund einer Profitklemme und weltweit intensiven Konkurrenzdrucks für das Kapital, was Moody breit ausmalt, werden harte und explosive Auseinandersetzungen ausgefochten werden, die über den Arbeitsplatz und die Gewerkschaft hinausgehen müssen, um die arbeitende Klasse hinter sich zu scharen. Wenn sich Bewegungen um politische Fragen herum entfalten und sich militante Massenmobilisierungen entfachen, müssen Gewerkschaften in sie eintauchen und mittels Streiks den Rücken stärken. In diesem Zusammenhang werden einige Wogen das Potenzial besitzen, revolutionär zu werden. SozialistInnen, AktivistInnen in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen brauchen eine Strategie, um sie bewusst in eine solche Richtung zu lenken. Es ist wahr: wir können keinen Aufruhr künstlich erzeugen. Jetzt ist es aber an der Zeit, sich organisatorisch wie politisch auf die Konfliktsituationen vorzubereiten, die sicher kommen werden.

Moody nimmt Bezug auf die „begrenzten Visionen der Militanten und Rebellen“ während der Arbeiterunruhen der 1960er, aber er liefert keine besseren. Statt dessen präsentiert er uns eine halbsyndikalistische Lösung. Seine Vorstellung von einer Arbeiterpartei, auf die wir hingewiesen haben, ist wesentlich die einer Koordinatorin bereits ablaufender, spontaner Konflikte statt der Einheit der weitsichtigsten und ergebensten KämpferInnen um ein Aktionsprogramm herum, um diese Organisationen umzuwandeln und neue aufzubauen, die einen radikalen Gesellschaftswandel herbeiführen können.

Die Bildung einer demokratischen Arbeiterkampfpartei könnte als Katalysator für die Schaffung von Strömungen der Gewerkschaftsbasis, von Arbeiterräten,  Solidaritätskomitees und kampfstarken sozialen Bewegungen fungieren, selbst bevor diese ihr Programm festgelegt hat. Wenn eine solche Partei aber zu einer reformistischen Organisation erstarrt, schlösse sie letztlich ihren linken Flügel aus und geriete zu einem Hemmschuh auf dem Weg zu einer revolutionären Partei. Der Punkt, um den es hierbei geht, ist festzuhalten, dass es keine abgeschottete Klassenkampfetappe gibt, wo Lohnabhängige ihre Aufgaben auf jene eines aktiven Gewerkschaftertums und auf Ein-Punkt-Kampagnen beschränken können. Im Gegenteil: die gegenwärtige Wirtschaftskrise wird ArbeiterInnen und Angestellte zwingen, eine neue Partei zu bilden – oder massive Niederlagen hinnehmen zu müssen. Die Rolle konsequenter Sozialisten liegt darin, mit der Kraft ihrer Argumente, beispielhafter Kampfeinheit und -anleitung danach zu streben, dass diese Partei ein revolutionäres Aktionsprogramm an- und einen internationalistischen Standpunkt einnimmt.

Anhang: Moody und die „Strategie der Basisbewegung“

Den Schlüssel zum Verständnis von Moodys Einstellung zum Problem der Basisorganisation finden wir nicht in „US Labour in Trouble and Transition“, das seine Taktik ohne dahinterstehende Strategie vorstellt, sondern woanders: in seinem Artikel „The Rank and File Strategy: Building a Socialist Movement in the US“, den er für Solidarity geschrieben hat, ein nicht-reformistisches offenes Netzwerk, das anstrebt, eine „breite Umgruppierung der US-Linken“ zu schaffen (48).

Dort entfaltet er eine „Strategie für eine Basisbewegung“ zwecks Wiedererstarkung von Organisation am Arbeitsplatz, von Kampfkraft wie auch zur Überwindung der Kluft zwischen SozialistInnen mit deren hohen theoretischem Niveau und ArbeiterInnen, besonders ihren KlassenaktivistInnen, die Widerstand sowohl gegen die Bosse wie gegen die Bürokraten organisieren.

Der Schlüssel zur Beseitigung dieser Lücke besteht in der Strategie für eine Bewegung an der Mitgliederbasis, was für Moody Aufbau einer „Arbeitergraswurzelorganisation“ bedeutet, seien es Streikbewegungen im Betrieb, ein Arbeiterzentrum innerhalb eines Wohnviertels, das Kampagnen gegen Niedriglöhne startet, oder eine Oppositionsgruppierung, die von unten her die Gewerkschaftsbürokraten in Frage stellt.

Moody zitiert die Theorien von Marx und Lenin zum Klassenbewusstsein. Besonders erwähnt er Marx‘ Konzept der arbeitenden Klasse „an sich“, einer Klasse ausgebeuteter LohnarbeiterInnen als objektiv existierender Tatsache – im Gegensatz zu einer Klasse „für sich“, die zum Selbstbewusstsein über ihre wahre Ausbeutungsbeziehung zum Kapitalismus und zu einer konsequenten Alternative dazu gelangt ist. Letztere liegt in einer kompletten Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, ihre Umwandlung in eine Gesellschaft von Produzenten, ohne Klassen und Staat und mit einer demokratisch von den Werktätigen geplanten, am Gebrauchswert und nicht am Profit orientierten Wirtschaft – mit einem Wort: dem Kommunismus.

Lenins eben so scharfe Zweiteilung von Klassenbewusstsein fließt schon aus Marx‘ Konzept, er spitzt es aber weiter zu. Er unterstrich, der Kampf habe gezeigt, dass spontan in der Klasse nur gewerkschaftliches Bewusstsein entstehe, dieses aber reformistisch, nicht revolutionär sei, da es letztlich kein Programm zum Sturz des Kapitalismus anbiete, sondern eine Ideologie, um in seinem Rahmen für Reformen und Zugeständnisse bei Lohn, Arbeitszeit, Renten usw. zu arbeiten. Es durchbricht nicht die Hülle bürgerlicher Ideologie und verkörpert noch bürgerliches Bewusstsein, wie sehr es sich auch mit der Klasse identifizieren oder kämpferisch in der Aktion erweisen mag. Nur eine Partei, die deren Politik auf einer wissenschaftlichen Grundlage basiert, kann ein schlüssiges sozialistisches Programm entwickeln. Nur ihr Kampf um dieses Programm innerhalb der Klasse und ihrer Auseinandersetzungen kann deshalb sozialistische Ideen „von außen“ in die Arbeiterklasse hinein tragen.

ZentristInnen haben immer wieder gegen diese Leninsche Formel aus seinem bedeutenden Werk „Was tun?“ rebelliert. Auch Moody ist hier keine Ausnahme (49). Er konstatiert – jedoch zu Unrecht! -, Lenin wiese seine eigene Formulierung zurück. Sodann versucht Moody, Marx und Lenin zu verbessern. Er verwandelt „Klasse an sich“ in ein niedrigeres Niveau, einen Zwischentyp von Klassenbewusstsein, wo Lohnabhängige klassenbewusst sind, aber nicht revolutionär. Laut Moody sind die meisten US-ArbeiterInnen noch nicht einmal auf dieser Höhe des Klassenbewusstseins angelangt. In den USA gibt es im Unterschied zu vielen imperialistischen Ländern noch nicht einmal eine Labour- oder sozialdemokratische Partei. Sie stehen auf einer dritten Stufe völlig ohne Klassenbewusstsein. Von daher käme ihre Isolierung von SozialistInnen:

„Die Aufgabe von Sozialisten liegt in dieser Situation nicht darin, einfach eine alternative Ideologie anzubieten, eine vollständige Erklärung der Welt, sondern das Klassenbewusstsein herauszuarbeiten, das solch große Ideen realistisch macht. Das Konzept eines Arsenals von Übergangsideen ist der Schlüssel zu dieser Strategie. Die sozialistische Analyse des Kapitalismus und dessen, was er heute Lohnarbeitern antut, hat direkten Bezug zu den Alltagserfahrungen von immer mehr schaffenden Leuten. Aber die Tatsache, dass es der großen Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung selbst an einer konsequent klassenbewussten Weltanschauung mangelt, erschwert es für Sozialisten, Gehör zu finden. Der schreiende Mangel in den USA ist derzeit jener an einem Meer klassenbewusster Lohnempfänger, in dem sozialistische Ideen und Organisationen schwimmen. Wie können wir dieses Meer erschaffen helfen (mit allem gebührenden Respekt vor Mutter Natur)? Sozialisten können Übergangsorganisationen gründen und Gegenwehr entfachen, die das Klassenbewusstsein der Arbeiteraktivisten anheben helfen, um die Schicht von Arbeitern in der Klasse zu verbreitern, die für sozialistische Ideen offen ist. Das Bestehen einer starken Strömung aktiver, klassenbewusster ArbeiterInnen ist eine Vorbedingung für das Aufkommen einer beträchtlichen Strömung sozialistischer Arbeiter – und einer sozialistischen Partei. Wir müssen gleichzeitig unsere sozialistischen Ideen direkt an Arbeiter herantragen, die sie zu hören bereits reif sind, wie auch den Widerstand bewusst vorantreiben, der mehr solche Arbeiter hervorbringt. Solche Kämpfe und Organisationen sind Ausdruck von Arbeitereigenaktivität und -selbstinteresse. Aber der Kapitalismus versucht, Arbeiter abzuwiegeln und ihnen ihre Kraft zu rauben. Unsere Erfahrung zeigt, dass es oft Leute erfordert, die im Organisieren geübt sind, mit Hingabe an und Perspektive von Arbeiterorganisation – also Sozialisten – um es in die Hand zu nehmen, die weiteren Organisierungstätigkeiten zu verknüpfen (…) Übergangsorganisationen umfassen Basisreformbewegungen und Ausschüsse, die in den Gewerkschaften und Betrieben verankert sind.“ (50)

Diese Passagen liefern den Türöffner zu Moodys zentristischer Strategie. Auf Grundlage eines Dreistufenschemas von Bewusstsein (kein Klassenbewusstsein, Klassenbewusstsein, sozialistisches Bewusstsein), das mit Marx‘ und Lenins Konzeptionen bricht, errichtet Moody seine Theorie. Die Aufgabe von Basisbewegungen und Klassenkämpfen ist es, Arbeiterdispute und -organisationen bis zu einem Punkt zu katapultieren, wo mehr und mehr ArbeiterInnen klassenbewusst sind, um dadurch ein Umfeld zu schaffen, das sozialistische Ideen begreifen und akzeptieren kann. In der Praxis bedeutet das, revolutionär-sozialistische Vorstellungen fallen zu lassen. „US Labour in Trouble and Transition“ ist ein klarer Leitfaden für klassenbewusste AktivistInnen, wie man Gewerkschaften und Klassenorganisierung auf dem Weg zur „Arbeitermacht“ aufbaut, ohne ein einziges Mal die Revolution zu erwähnen!

Natürlich ist es ein Merkmal für die Rückständigkeit von Sektoren der US-Arbeiterschaft und der fürchterlichen Degeneration ihrer Gewerkschaften, dass diese betonen, Lohnempfänger gehörten zur Mittelklasse! Obwohl es stimmt, dass es einer „Strömung aktiver, klassenbewusster Arbeiter“ (oder Arbeitervorhut, um den marxistischen Ausdruck zu gebrauchen) bedarf, müssen SozialistInnen innerhalb der Arbeiterklasse offen für die Taktiken und Organisationsformen eintreten, die deren Kämpfe transformieren und sie mit dem Streben nach Sozialismus verbinden können. Solche „Übergangsforderungen“, wie sie Trotzki nannte, sind Bestandteil einer revolutionären Strategie und erwachsen daraus. Laut Moody:

„Diese Strategie beginnt bei der Erfahrung, dem Ringen und Bewusstsein der Arbeiter, wie sie heutzutage sind, schlägt aber eine Brücke zu gründlicherem Klassenbewusstsein und sozialistischer Politik. Vor allem verkörpert sie eine Strategie zur Beendigung der Isolation von Sozialisten und sozialistischen Organisationen von den Alltagskämpfen und -erfahrungen  der organisierten Schichten der Lohnarbeiterklasse. Sie ist kein Allheilmittel, keine schnelle Schadensbehebung oder Erfolgsgarantie. Die Strategie unterstellt nicht, sozialistisches Bewusstsein resultiere automatisch aus ‚ökonomischen‘ Auseinandersetzungen. Wäre dem so, wäre keine Strategie nötig.“ (51)

Moody greift Trotzkis Begriff des „Übergangs“ und dessen Vergleich mit der „Brücke“ zum reformistischen Arbeiterbewusstsein auf, wie er Marx‘ und Lenins Konzepte gebraucht, raubt ihnen aber dann ihre ursprüngliche Bedeutung und ihre Konsequenz.

Übergangsforderungen nehmen das alltägliche Arbeiterbewusstsein zum Ausgangspunkt – Arbeitsplatzverlust, Preissteigerungen, Rechtsverletzungen etc. – und verknüpfen sie mit notwendigen neuen Formen von Arbeiterorganisationen und der Transformation alter, um nicht einfach nur Kämpfe zu verallgemeinern, sondern auch, um für Arbeiterkontrolle über diverse Bereiche des kapitalistischen Systems einzutreten. In ihrem Programm formuliert das die LIGA FÜR DIE FÜNFTE INTERNATIONALE folgendermaßen:

Es „müssen die unmittelbaren Arbeiterkämpfe dahingehend umgewandelt werden, dass sie die dringenden Bedürfnisse ansprechen und zugleich die Macht der Kapitalistenklasse insgesamt in Frage stellen. Sie müssen die tragenden Säulen der Macht des Klassenfeindes – das ‚Recht zu heuern und zu feuern‘, das ‚Geschäftsgeheimnis‘, das ‚Recht des Managements zu managen‘, die Kontrolle der Arbeitsabläufe, das Eigentum und die Verfügungsgewalt über Arbeitsplätze und Material angreifen. (…) Das Programm der Übergangsforderungen dient als Brücke zwischen Tages- bzw. Teilkämpfen der Arbeiterklasse und dem Kampf für die sozialistische Revolution. Diese Forderungen sind zugleich der wirksamste Weg des Widerstandes gegen die KapitalistInnen und ein Angriff auf den Kern des Systems selbst;

Übergangsforderungen fördern die Formierung von neuen Organisationen zur Arbeiterkontrolle und greifen das kapitalistische Eigentum und seine Verfügungsgewalt direkt an. Sie helfen bei der Umformung der Organisationen der Arbeiterbewegung und des Bewusstseins der ArbeiterInnen. Jede Übergangsforderung verkörpert einen Kampf um Teile der direkten Arbeiterkontrolle über den Arbeitsplatz im Kleinen und die Gesellschaft im Großen.“ (52)

Forderungen, die unsere Bedürfnisse erfüllen und eine Klassenlösung anbieten, ob „radikal“ oder nicht sind z.B.: Verstaatlicht bankrotte Firmen ohne Entschädigungen an die Inhaber und unter Kontrolle der Beschäftigten und Verbraucher! Kämpft für eine gleitende Lohnskala, wenn die Inflation droht, sowie Preiskomitees, die Preise festlegen und durchsetzen (53).

Kämpfe, die solche Maßnahmen ergreifen und Kontrolle über etwas erlangen, was normalerweise unter Kontrolle der Kapitalisten steht, werden weitere Krisen verursachen und mit den Worten des Kommunistischen Manifests “das Proletariat zwingen, immer weiter zu gehen, bis das Privateigentum vollständig abgeschafft ist, um nicht wieder zu verlieren, was es bereits errungen hat. Sie sind möglich als vorbereitende Schritte, vorübergehende Übergangsstufen in Richtung Abschaffung des Privateigentums.“ (54)

Die Aufgabe von SozialistInnen besteht nicht einfach darin, mit anderen Aktivisten in Einheitsfronten im Arbeitsumfeld, bei Streiks, in sozialen Bewegungen und in den Gewerkschaften für begrenzte Ziele zu arbeiten, sondern gleichzeitig mittels einer revolutionären Partei für solche Übergangsforderungen zu argumentieren und direkt dafür gegenüber der Klasse zu agitieren, in ihren Organisationen und Kämpfen. Das revolutionäre Programm ist eine Anleitung zum Handeln, um die heutigen Kämpfe mit einem sozialistischen Ziel zu verbinden in dem Anliegen, die fortgeschrittensten AktivistInnen aufzuklären und zu erziehen.

Tatsächlich gibt es in Moodys „US Labour in Trouble and Transition“ keine einzige Übergangsforderung! Die Basisbewegung ist wohl eine Losung aus dem Übergangsprogramm. Aber die verschiedenen Kampagnen und Organisationsformen, einschließlich der Gewerkschaften und oppositioneller Versammlungen (caucuses), die Moody propagiert, sind Einheitsfronten, keine Übergangsorganisationen. Es gibt überhaupt keinen Übergangsautomatismus in ihnen, wie das Beispiel der Konferenzen für Gewerkschaftsreform in den 1960er Jahren zeigt.

Ohne bewusstes Herangehen mit der Perspektive einer revolutionären Umwandlung dieser Organisationen, enden diese unvermeidlich im Reformismus und scheitern selbst daran, ihre enger gesteckten Ziele durchzusetzen: Der Umwandlung der Gewerkschaften oder die Verteidigung ihrer Mitglieder vor den Angriffen des Kapitalismus.

Fußnoten

(1) Kim Moody, 2006, Tabelle 6.2., S. 100f., Labour in Trouble and Transition

(2) Tabelle 3.3., „Real value added in Manufacturing: South and US“, S. 44 („Reale Wertschöpfung im produzierenden Gewerbe – Südstaaten und USA gesamt“). Moody zeigt 13,2% (1947), gestiegen auf 30,2% (2003); als beschäftigte Arbeiter und Angestellte 34% 2003, S. 46; Zahlen zum gewerkschaftlichen Organisationsgrad, S. 245.

(3) Moody, 2006, S. 24f.

(4) „Inequality in America“ („Ungleichheit in Amerika“), Economist, 5.6.06

(5)  Moody, 2006, S. 34f.

(6) 2,9 Millionen Arbeitsverträge im produzierenden  Gewerbe seit Januar 2001. „The Bush Administration’s FY 2007 Budget“ („Der Etat der Bush-Administration fürs Fiskaljahr 2007“), AFL-CIO, http://www.aflcio.org/issues/bushwatch/2007budget.cfm

(7) Moody, 2006, Löhne: Tabelle 5.1, S. 80; Unterstützungszahlungen: S. 81

(8) „UNION MEMBERS IN 2007“ („GEWERKSCHAFTSMITGLIEDER 2007“), Bureau of Labour Standards (BLS), Tabelle 1. Gewerkschaftsmitgliedschaft beschäftigter Lohn- und Gehaltsempfänger, http://www.bls.bov/news.release/union2.t01.htm

(9) Moody, 2006, S. 72 und 76

(10) Moody, 2006, S. 48

(11) „Union split is no answer for workers“ („Gewerkschaftsspaltung: keine Antwort für die Arbeiter“), G. McColl, Workers Power 298, September 2005; „USA – a tale of two labour movements“ („USA – eine Geschichte zweier Arbeiterbewegungen“), K. Harvey, Workers Power 303, März 2006

(12) „Can this Man Save Labor?“ („Kann dieser Mann die Arbeiterbewegung retten?“), Business Week, 13.9.2004

(13) Moody, 2006, Andy Stern, S. 166f.

(14) Moody, 2006, S. 190

(15) Moody, 2006, S. 195

(16) „Bloated Salaries Limit Organizing, Leave Members Cynical“ („Aufgeblähte Gehälter bremsen Organisierungsdrang, lassen Mitglieder zynisch bleiben“), Mark Brenner, Labor Notes, Februar 2007 – http://www.labornotes.org/node/513

(17) Moody, 2006, S. 180

(18) „UNION MEMBERS IN 2007“ (s.o.), BLS news release (Bekanntgabe neuer Statistiken), 25.1.2008: http://www.bls.bov/news.release/union2.pdf

(19) Moody, 2006, S. 201 und 209

(20) Moody, 2006, S. 207

(21) LEAGUE FOR THE FIFTH INTERNATIONAL, 2003, „Transform the trade unions“, in: From Protest to Power: A Manifesto for World Revolution, Auf Deutsch: Wandelt die Gewerkschaften um! In: Vom Widerstand zur Revolution – Manifest für Arbeitermacht, Berlin, 2003, S. 38

(22) Workers Power, 1978, „The Comintern, the CPGB and the Minority Movement“, in: „Marxism and the Trade Unions“, A Workers Power Pamphlet („Die Komintern, die KP Großbritanniens und die Minderheitsbewegung“, in: „Marxismus und Gewerkschaften“, Workers Power-Broschüre, 1978)

(23) „The Rank and File Strategy, Building A Socialist Movement in the U.S.“, A SOLIDARITY WORKING PAPER (2000), By Kim Moody, http://www.solidarity-us.org/rankandfilestrategy .(„Die Strategie für eine Basisbewegung, der Aufbau einer sozialistischen Strömung in den USA“, Kim Moody, 2000, in: Arbeitspapier der Organisation SOLIDARITY)

(24) Moody, 1968, An Injury to All: The Decline of American Unionism, S. 93 (Ein Schaden für Alle: Niedergang des US-Gewerkschaftswesens)

(25) Moody, 2006, S. 162

(26) Moody, 2006, S. 87f.

(27) Moody, 2006,  S. 212f.

(28) „Reforming the Orange State?“ („Reform des nordirischen Staates des Oranje-Ordens?“), Trotskyist International Nr. 13/14, April/September 1994

(29) „Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe“, „VIII. Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus“, in: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß“, in: LW 22, S. 193 und 280ff., Berlin/O., 1972

(30) http://www.aflcio.org/joinaunion/why/uniondifference/ uniondiff17.cfm

(31) „Justice for Cleaners“ („Gerechtigkeit fürs Reinigungspersonal“), http://www.workerspower.com/index.php?id=47,1186,0,01,0. Die Gewerkschaften, die Resolutionen gegen Einwanderungsbeschränkungen verabschiedeten, waren die National Union of Journalists (Nationale Journalistengewerkschaft) und die frühere National  Association of Teachers in Further and Higher Education (NATHFE; Nationale Lehrer- und Dozentenvereinigung an Hoch- und weiterbildenden Schulen). Letztere ist nun mit einer anderen Gewerkschaft zur University and College Union (Gewerkschaft für Universitäten und Bildungskollegs) fusioniert. Es ist unbekannt, ob der neue Zusammenschluss diese Position aufrechterhalten hat.

(32) Wie die Zitate Clintons und von der AFL-CIO zeigen, ist „Labour“ der bevorzugte Begriff für die herrschende Klasse in den USA und die Gewerkschaftsbürokratie. Er spiegelt den institutionalisierten Charakter der Gewerkschaften im modernen Kapitalismus ebenso wider, wie er die Verwendung der Bezeichnung „Mittelklasse“ in den USA gestattet, um die besser bezahlten Arbeiter und Angestellten zu bezeichnen, und spaltet die Arbeiterklasse ideologisch.

(33) Moody, 2006, S. 216

(34) Moody, 2006, S. 237

(35) Moody, 2006, S. 236

(36) „Organise against the war – and the TUC leaders“ („Organisiert Euch gegen den Krieg – und die TUC-Bonzen!“), Workers Power 274, April 2003; „Teachers strike against the war“ („Lehrer streiken gegen den Krieg“), ebd., http://www.workerspower.com/index.php?wp274

(37) „The situation after April – with an all out general strike everything is possible! 7.4.06, statement by League for a Fifth International („Die Situation nach dem April – mit einem umfassenden Generalstreik ist alles möglich!“, Erklärung der LFI), http://www.fifthinternational.org/index.php?id=191,0,0,1,0,0

(38) Moody, 2006, S. 236f.

(39) Robin D. G. Kelly, 1990, S. 14, Hammer and Hoe: Alabama Communists during the Great Depression (Hammer und Sichel: Kommunisten Alabamas während der Großen Depression)

(40) Kris Maher, „Unions Bolster Election Budgets“ („Gewerkschaften füllen Wahlkampfkasse“), Wall Street Journal, 22.9.2007

(41) Moody, 2006, S. 241-243

(42) South Carolina Labor Party Founding Meeting (Gründungsversammlung der Arbeiterpartei für Südcarolina), www.thelaborparty.org

(43) Moody, 2006, S. 245

(44) „Let’s not bottle the fight for a new workers‘ party“ („Lasst den Kampf für eine neue Arbeiterpartei nicht abwürgen!“), Workers Power 318, Oktober 2007

(45)  „Was sind Übergangsforderungen?“, Vom Widerstand zur Revolution, a.a.O., S. 33 f.; Für eine vertiefte  Untersuchung des Übergangsprogramms siehe: „The Transitional Programme fifty years on“ („Das ÜP nach 50 Jahren“), Permanent Revolution Nr. 7, Frühjahr 1988

(46) Moody, 2006, S. 229-231

(47) Moody, 2006, S. 234f.

(48) http://www.solidarity-us.org/rankandfilestrategy

(49) Zentrismus ist eine von Trotzki so geprägte Definition, um jene sozialistischen Gruppen zu bezeichnen, die zwischen revolutionären Positionen und reformistischen Aktionen in der Praxis schwanken. Für ein typisches Beispiel von Ablehnung der Leninschen Ideen siehe „What is to be done? The question economism cannot answer“ („Was tun? Die Frage, die der Ökonomismus nicht beantworten kann“) in: „The Socialist Workers Party: A Trotskyist critique“

(50) Moody, 2000

(51) ebd.

(52) „Was sind Übergangsforderungen?“, op. cit., a.a.O.

(53) „Marxism, nationalisation and expropriation“ („Marxismus, Verstaatlichung und Enteignung“), Workers Power 312, Februar 2007, „Spotlight on the fight against inflation“ („Schlaglicht auf den Kampf gegen Inflation“), Workers Power 322, Februar 2008

(54) „Programme in the imperialist Epoch“ („Programm in der Epoche des Imperialismus“), Permanent Revolution Nr. 6, Herbst 1987




Wer hat Angst vor der Linkspartei?

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 40, März 2009

Es geht ein Gespenst um, in Deutschland – so spielt die Partei DIE LINKE gern auf sich und ihre Wahlerfolge an. Bezog sich Marx 1848 damit auf den Kommunismus, so versucht DIE LINKE mit dem Reformismus der Sozialdemokratie die SPD zu erschrecken.

Die Partei hat aber auch über Deutschland hinaus die Aufmerksamkeit Linker aller Couleur auf sich gezogen. Als Vorbild gilt sie Gewerkschafts- und SP-Bürokraten, die von der Politik der „Neuen Mitte“, des „Dritten Weges“ und anderen Formen der Anpassung an die bürgerliche Mitte frustriert sind und der gute alten Zeit des „fairen“ Klassenkompromisses nachtrauern. Als Vorbild gilt sie jenen, die hoffen, die Sozialdemokratie durch das Gespenst der Linksparteien wieder auf einen „sozialeren“ Kurs zu bringen.

Als Vorbild gilt sie aber auch vielen AntikapitalistInnen, die eine „breite“ reformistische Partei als notwendigen, ja unvermeidlichen Schritt für die Entwicklung des sozialen und politischen Widerstandes betrachten.

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die Zuwächse der Linkspartei in den Umfragen sowie die Wahlerfolge der letzten Jahre Ausdruck wachsender Unzufriedenheit der ArbeiterInnen und Angestellten, der MigrantInnen, der Jugend, von Arbeitslosen, RentnerInnen sind. Der Verweis darauf, dass diese Teile der Arbeiterklasse und Unterdrückten mit der Wahl auch ihre Ablehnung der neo-liberalen, militaristischen und rassistischen Politik der Großen Koalition zum Ausdruck bringen wollen, ersetzt jedoch keine marxistische Analyse des Klassencharakters der Partei. Schließlich wird keine einzige politische Formation der Welt dadurch gekennzeichnet, welche berechtigten oder illusionären Hoffnungen Menschen in sie legen, sondern dadurch, welche Klasseninteressen sie in ihrer Programmatik, ihrer strategischen Zielsetzung, v.a. aber auch in ihrer tagtäglichen Praxis vertritt.

Eine solche Analyse ist jedoch unerlässlich, um den Charakter einer solchen Partei und ihre Funktion im politischen System zu verstehen und um die notwendige Taktik zu bestimmen, mit denen RevolutionärInnen Illusionen in solche Parteien bekämpfen können.

Schließlich ist DIE LINKE Teile eines europaweiten Phänomens. Ob in Frankreich, Italien, Griechenland – in vielen europäischen Ländern sind links-reformistische Parteien entstanden oder am Entstehen, die sich als Alternative zur nach rechts gehenden Sozialdemokratie präsentieren. Das Beispiel Rifondazione Comunista (RC) zeigt, dass diese Parteien bereit sind, für die Bourgeoisie in Volksfrontregierungen die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Umgekehrt zeigt RC aber auch, dass solche Parteien als reformistische Hindernisse „wiederbelebt“ werden können, selbst wenn sie sich in bürgerlichen Regierungen bis auf die Knochen blamieren und bei der Mehrzahl der fortgeschrittenen ArbeiterInnen diskreditierten, sofern es nicht gelingt, eine revolutionären Alternative zu ihnen aufzubauen.

Ursprung

Die Partei DIE LINKE geht auf die Fusion zweier Parteien zurück, der „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und der „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS).

Das wirkliche neue politische Phänomen stellte dabei die WASG dar. Mit dieser wollen wir uns daher vor allem befassen. Die WASG war ein Resultat der Massenproteste und Mobilisierungen gegen die Angriffe der rot-grünen Regierung – die Agenda 2010, die Hartz-Gesetze – und der damit verbundenen Krise der SPD.

Auch beim Blick auf die WASG ist freilich jede nachträgliche Idealisierung fehl am Platz. Schon der Name „Wahlalternative“ war instruktiv dafür, worin die Praxis der zukünftigen Partei bestehen sollte. Zweitens war die WASG von Beginn an von einem „traditionalistischen“ Flügel der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie und ihren akademischen Wasserträgern dominiert und geführt. Diese Bürokatenschicht stammt aus dem mittleren Funktionärskörper der IG Metall bis hin zur Ebene von Bevollmächtigen aus mehreren Verwaltungsstellen (z.B. Klaus Ernst aus Schweinfurt oder Thomas Händel aus Fürth) und Funktionären aus dem verdi-Apparat wie Ralf Krämer aus Berlin. Außerdem wurde sie von links-reformistischen Akademikern flankiert, die z.B. um die Zeitschrift „Sozialismus“ organisierte waren und sind (z.B. Troost, Bischoff).

Für diese, die WASG von Beginn an prägende und dominierende Strömung war immer auch klar, wie eine zukünftige neue Partei der „sozialen Gerechtigkeit“ aussehen sollte. Sie sollte eine Wahlpartei sein, die im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften und deren Führungen sowie anderen, vom Reformismus dominierten sozialen Bewegungen (z.B. attac, Friedensbewegung) v.a. an der Wahlurne einen „Politikwechsel“ erzwingt, eine Partei, deren Ziel die Verteidigung oder Wiedererrichtung des „Sozialstaates“ war. Das kam pointiert auch darin zum Ausdruck, dass – anders als die PDS oder selbst die SPD – die WASG den programmatischen Bezug zum Sozialismus als politisches Ziel ablehnte, und zu einer „Sozialstaatspartei“ werden sollte. Ohne viel Diskussion setzte diese Spitze ihr reformistisches Programm und Statut durch – nicht zuletzt, indem sie auf den alten Trick zurückgriff, ihre Positionen schon vor Parteigründung „provisorisch“ festzuschreiben und dann en Block als reformistisches Gesamtpaket abnicken zu lassen.

Alle linken Gruppierungen mit Ausnahme der Gruppe Arbeitermacht verzichteten darauf, einen alternativen Programmentwurf vorzulegen, sondern begnügten sich mit einzelnen Abänderungsanträgen, die der reformistischen Substanz des WASG-Programms keinen Abbruch taten, selbst wenn sie angenommen worden wären (1). Indem sie sich weigerten, den Klassencharakter des Programms der WASG zu benennen und dessen bürgerlichen Charakter zu kritisieren, redeten diese „Linken“ das Programm der WASG schön und suggerierten, dass es auf Dauer ein „faires“ Nebeneinander von Reformisten und „Anti-Kapitalisten“ in einer Partei geben könne.

Neben den in der WASG direkt vertretenen und an der Spitze agierenden reformistischen Bürokraten standen auch andere, prominentere politische Vertreter des Reformismus von Beginn an hinter dem Projekt, darunter zweifellos auch Oskar Lafontaine. Diese „Prominenten“ wollten sich jedoch auf dieses Projekt erst offiziell einlassen, wenn ein Erfolg auf bundesweiter Ebene garantiert war, sprich die Partei mit großer Wahrscheinlichkeit in den Bundestag einziehen würde.

Die WASG litt jedoch an einem inneren Widerspruch, der die reformistische Führung umtrieb und beunruhigte und zugleich das klassenkämpferische Potenzial der neuen Partei zum Ausdruck brachte. Die WASG zog nämlich als Mitglieder nur wenige Bürokraten an, sondern vor allem Arbeitslose und Aktive aus den sozialen Bewegungen. Sie war eine Partei der Hartz-IV-Bezieher; von Arbeitslosen, die damals von 345 (West) bzw. 331 (Ost) Euro plus Wohngeld über die Runden kommen mussten. In vielen Städten machten diese die Hälfte der Mitgliedschaft oder mehr aus.

Auch wenn diese Schicht der Mitgliedschaft viele der Illusionen in den „Sozialstaat“, den Parlamentarismus und die Möglichkeit einer „Reformpolitik“ teilte, so wollte sie eine aktive Partei sein, die für die Belange der Arbeitslosen und anderer Unterdrückter und Ausgebeuteter kämpft.

Diese unterschiedlichen Erwartungen machten sich in zahlreichen Konflikten – oft über scheinbare Nebensächlichkeiten – und einen wachsenden Gegensatz von „Oben“ und „Unten“ in der WASG, einem wachsenden Misstrauen gegenüber den Spitzen Luft.

Die WASG war also von Beginn an eine reformistische, ein bürgerliche Arbeiterpartei. Sie war jedoch auch eine Partei, in der die vorherrschende Bürokratenclique sich noch nicht auf einen starken, verlässlichen Apparat stützen konnte. Zweitens hatte sich auch noch kein stabiles Verhältnis zwischen Führung und Basis der WASG herausgebildet, das in langjährig etablierten reformistischen Parteien fast automatisch die Gefolgschaft der, meist passiven Mitglieder gegenüber der Führung sicherstellt. Die WASG war – und das ist nur eine andere Erscheinung dieser relativen Instabilität – eine reformistische Partei mit einer außergewöhnlich aktiven Mitgliedschaft.

Für die PDS (und heute die LINKE) oder die SPD war und ist es normal, dass die überwältigende Mehrheit der Mitglieder außer der Beitragszahlung nichts oder wenig tut, zu keinen Versammlungen erscheint oder, wo sie es tut, dort mehr oder weniger passiv agiert und die Vorgaben von Oben abnickt. Das stärkt die Führung und das ist im Grunde auch so gewollt. Die aktiven Mitglieder reformistischer Parteien sind in der Regel die Funktionäre der Partei bzw. Funktionsträger des bürgerlichen Staates oder korporatistischer Gremien wie Betriebsräten, von Sozialverbänden oder ähnlichem. Und genau diesen „Normalzustand“ einer bürgerlichen Partei – und eine solche, wenn auch besondere Form ist auch eine bürgerliche Arbeiterpartei – wollte die Spitze der WASG bewusst herbeiführen.

Das hat sie mit der Fusion mit der PDS auch geschafft. Von den 12.000 WASG-Mitgliedern machten nur etwas mehr als die Hälfte die Fusion mit. Neben linken FusionsgegnerInnern blieben v.a. die Arbeitslosen, die unteren Schichten der Arbeiterklasse der neuen Partei fern.

Es wäre jedoch Unsinn, die Fusion mit der PDS auf die Frage der Domestizierung der WASG-Basis zurückzuführen. Ein inneres bürokratisches Regime, die Ausgrenzung bestimmter Teile der Mitgliedschaft und deren Unterordnung unter einen Apparat sind letztlich niemals Selbstzweck, sondern Resultat bestimmter politischer Ziele, der Sicherstellung, dass eine Partei einem bestimmten politischen Zweck folgt.

Dieser war von der WASG-Führung von Beginn an offen ausgesprochen. Nicht minder offen war er von der PDS deklariert. Diese war anders als die WASG nicht aus einer sozialen Oppositionsbewegung entstanden, sondern aus einer ehemaligen stalinistischen Partei, der Partei einer herrschenden Kaste, die sich innerhalb weniger Jahre erfolgreich sozialdemokratisiert hatte.

Regierungspraxis von PDS und LINKE

Schon lange vor der Fusion war die PDS im bürgerlichen System der Bundesrepublik angekommen. Schon 1994 duldete sie in Sachsen-Anhalt zum ersten Mal eine SPD-Grünen-Regierung und ab 1998 eine SPD-Minderheitsregierung. 1998 bildeten SPD und PDS die erste rot-rote Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern, der seit 2001 der rot-rote Senat in Berlin folgt.

Die Praxis dieser Regierungen ist hinlänglich bekannt. Sie verwalteten das kapitalistische System ebenso wie jede andere bürgerliche Exekutive. Die Berliner Landesregierung wurde durch die Umsetzung neo-liberaler Sparpolitik geradezu berüchtigt. So senkte der Senat unter SPD-PDS-Regie die Löhne und Gehälter um rund 10 Prozent unter das Niveau der anderen Bundesländer. Für ganze Beschäftigtengruppen wurde die Arbeitszeit bei gleichen Löhnen oder Gehältern verlängert – zum Beispiel um 2 Wochenstunden bei LehrerInnen.

Natürlich wurden vom Berliner Senat auch Investitionen und Prestigeprojekte großer Kapitale massive gefördert durch Steuernachlässe oder Subventionen.

In vielen Bereichen hat der SPD-LINKE-Senat die Politik der Vorgängerregierungen nicht nur weitergeführt, sondern drastisch verschärft. 55 Prozent aller Wohnungsprivatisierungen seit 1990 fanden unter der ersten rot-roten Landesregierung von 2001-2006 statt. Allein durch den Verkauf der GSW an den US-Investor Cerberus wechselten 65.000 ehemals kommunale Wohnungen den Besitzer. Insgesamt hat der Senat weit über 100.000 Wohnungen an private Investoren verscherbelt. 2004 hat er die (Teil)privatisierung der Berliner Wasserwerke eingeleitet.

Im Gesundheitswesen geht die Privatisierung von Krankenhäusern und Klinken an private Konzerne wie Röhn, Vivantes und Helios munter weiter. Außerdem ist der Verkauf der landeseigenen Berliner Sparkasse geplant.

Diese neo-liberale Politik geht natürlich auch in Berlin auf Kosten der Beschäftigten und der Bevölkerung – geringere Einkommen, verschlechterte Arbeitsbedingungen und ständiger Personalabbau einerseits sowie höhere Preise und schlechtere Leistungen anderseits.

Auch in Städten oder Ländern, wo sie in Opposition ist, verhält sich die PDS/DIE LINKE nicht grundsätzlich anders. In Dresden stimmte sie als „Oppositions“partei dem Verkauf der Kommunalen Wohnbaugenossenschaften zu. In Brandenburg votierte sie für eines der repressivsten Polizeibefugnisgesetze der Bundesrepublik. In Hessen brüstet sich die LINKE (noch) damit, dass sie gegen die Abschiebpraxis unter Koch parlamentarischen Widerstand leiste und mit SPD und Grünen gesetzlich gegen die Deportationen am Frankfurter Flughafen vorgehen wollen. „Vergessen“ wird dabei freilich, dass die (mit)regierende LINKE im Berliner Senat sieben Jahre lang kein Sterbenswörtchen verloren hat über die nicht minder rassistische Abschiebepraxis im Abschiebeknast Berlin Grünau und am Flughafen Berlin-Schönefeld.

Hinzu kommt, dass die LINKE – v.a. über die Wahlerfolge der PDS im Osten – rund 2000 Bürgermeister in kleinen Gemeinden, mittleren und größeren Städten stellt und dort ohne viel Aufhebens mit „allen demokratischen Parteien“ – sprich nicht nur SPD und Grünen, sondern „natürlich“ auch mit CDU und FPD kooperiert. Diese tagtägliche Klassenkollaboration, die bürgerliche Tagespolitik der Funktionäre, die einen recht großen Teil der aktiven Mitglieder der LINKEN stellen, führt dazu, dass Reformismus zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.

Die ehemalige PDS-Mitgliedschaft, die bis heute das Gros der Mitgliedschaft der LINKEN stellt (rund 85 Prozent), wies immer einige Besonderheiten in der Sozialstruktur auf, die davon herrühren, dass sie aus der Partei der ehemals herrschenden Bürokratenkaste der DDR hervorging und die dort politisch herrschende Partei gewesen war.

Mehr als 70 Prozent der PDS-Mitglieder waren vor der Fusion älter als 60 Jahre. Die jüngeren sind es jedoch, die im Apparat der Partei, in den Stiftungen, Landtagen, Kommunen usw. als Funktionäre tätig sind.

Zweitens ist der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Parteimitgliedschaft in der PDS mit 37 Prozent deutlich unter jenem der SPD gelegen (57 Prozent).

Drittens ist der Hochschulabsolventenanteil unter den PDS-Mitgliedern mit 54 Prozent sehr hoch (33 Prozent bei der SPD). Umgekehrt sind Anteil von HauptschülerInnen oder Mitgliedern ohne Schulabschluss mit nur 30 Prozent für eine Massenpartei, die sich sozial auf das Proletariat stützt, extrem gering (gegenüber 40 Prozent  bei der SPD und 50 Prozent der Gesamtbevölkerung).

Auch wenn die WASG diese Zahlen gebessert hat, so gibt es keinen Zweifel daran, dass die Sozialstruktur der PDS auch jene der LINKEN prägt (2).

Das Programm der Linken

Zweifellos kommen die Realpolitik des Berliner Senats und die Verteidigung dieser Politik durch die Berliner LINKE der Parteiführung taktisch eher ungelegen. Daher wird diese Praxis gern als „Einzelfall“ dargestellt, der nicht das Gesamtbild der Partei widerspiegle und verdeutliche. Diese Sicht wird natürlich schon durch die Verweise auf obige Praxis widerlegt.

Ebenso irrig wäre es, in der niedergelegten und mit großer Mehrheit verabschiedeten Programmatik und politischen Strategie der Partei DIE LINKE einen grundlegenden Widerspruch zur Beteiligung an bürgerlichen Regierungen zu erblicken.

Im Gegenteil. Das Programm der Partei DIE LINKE, das die Handschrift des keynesianischen, auf die Gewerkschaftsbürokratie und die Arbeiteraristokratie orientierten Mehrheitsflügels der Partei trägt, sozusagen der Kerngruppe der alten WASG und eines Teils der PDS, verortet das strategische Ziel der Partei, darin, einen „Politikwechsel“ gestützt auf den Aufbau einer „anti-neoliberalen gesellschaftlichen Hegemonie“ zu erringen.

Die Linke bekennt sich in den Programmatischen Eckpunkten ihres Gründungsparteitages 2007 ausdrücklich zum freien Unternehmertum. Dort heißt es: „Gewinnorientiertes unternehmerisches Handeln ist wichtig für Innovation und betriebswirtschaftliche Leistungsfähigkeit.“ (3) Der Staat habe nur dafür zu sorgen, dass diese im kreativen Überschwang nicht über die Stränge schlagen und gegen das Gemeinwohl verstoßen.

Dahinter steht die alte reformistische Mähr, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse durch die Intervention von Staat und Politik, wenn schon nicht überwunden, so erfolgreich abgemildert werden könne – was wiederum impliziert, dass „der Staat“ keine Instrument zur Sicherung zur Herrschaft der Bourgeoisie wäre, sondern über dem Klassengegensatz stünde.

Dabei ist den Strategen der LINKEN durchaus klar, dass eine einfach Mehrheit im Parlament, ein Parteienbündnis von LINKEN und SPD (und ev. den Grünen) nicht ausreicht, um die Sabotage jeder fortschrittlichen Maßnahme durch die herrschenden Klasse, die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die monopolisierten bürgerlichen Medien usw. abzuwehren.

Marx, Lenin und alle anderen revolutionäre MarxistInnen haben daraus und aus der Aufarbeitung der Klassenkämpfe und Revolutionen seit Beginn der bürgerlichen Epoche den Schluss gezogen, dass das Proletariat – will es sich befreien, will es dem kapitalistischen Ausbeutungssystem ein Ende setzen – den bürgerlichen Staat nicht einfach übernehmen, dass es nicht auf eine „Regulierung“ des Kapitalmonopols an den Produktionsmitteln hoffen darf, sondern die herrschende Klasse enteignen, den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und durch die Herrschaft der in Räten organisierten bewaffneten Arbeiterklasse ersetzten muss.

Die LINKE schlägt hier einen ganz anderen, wenn auch nicht gerade originellen Weg vor. Eine „Reformregierung“ müsse sich auf die „gesellschaftliche Hegemonie“ stützen – sprich darauf, dass auch die „weitsichtigen“ und „sozialen“ Teile der herrschenden Klasse für eine Politik des Klassenausgleichs gewonnen werden müssen.

Eine solche Politik bedeutet notwendigerweise eine Unterordnung der LINKEN unter einen Flügel der herrschenden Klassen, eine Garantie für das Privateigentum an Produktionsmitteln. Es bedeutet notwendig eine staatstragende Politik der „Opposition“.

Akzeptanz des imperialistischen Weltsystems

Dass die Partei die LINKE auch hierzu bereit ist, verdeutlichen auch die Positionen zu internationalen Fragen. In der Programmatik und in ihren öffentlichen Reden hat die LINKE längst jeden Antiimperialismus, jede fundamentale Opposition hinter sich gelassen. Der strategische internationale Bezugspunkt der Partei ist nicht eine Internationale von ArbeiterInnen und Unterdrückten oder wenigstens die Solidarität im Widerstand gegen Ausbeutung, imperialistische Besatzung und Krieg, sondern sind die Vereinten Nationen, eine imperialistische Räuberhöhle mit menschlichem Antlitz. Von der realen Funktion der UN als Organ zur Festigung der Herrschaft der mächtigsten kapitalistischen Staaten, zur Durchsetzung von deren Zielen mit Sanktionen, „Friedensmissionen“ usw. sieht die LINKE ab. Diese werden vielmehr als qualitative Alternative zur imperialistischen Politik außerhalb des UN-Rahmens verklärt, oder wie es Lothar Bisky am letzten Parteitag ausdrückte: „Die UN-Charta ist und bleibt für DIE LINKE die Magna Charta.“ (4)

Freilich gehen die „Vordenker“ in der LINKEN schon weiter, weil sie wissen, dass eine etwaige Regierungsbeteiligung auf Bundesebene nicht möglich ist, ohne Zustimmung zur NATO, WEU oder andere imperialistische Militärbündnissen, zum Aufbau der EU als imperialistischen Block unter deutscher Führung, ohne Zustimmung zur den zahlreichen Auslandseinsätzen der Bundeswehr und den verbrecherischen Angriffskrieg in Afghanistan. Daher hat Gregor Gysi zum 60. Jahrestag der Gründung Israels auch eine Breitseite gegen „verkürzten“ und „nicht mehr zeitgemäßen“ Antiimperialismus abgeschossen und für die Solidarität mit Israel als „vernünftiges“ Element der deutschen Staatsdoktrin geworben. So soll die Zustimmung zu imperialistischen Militärinterventionen als Teil der „Friedenserzwingung“ vorbereitet werden (5).

Dem ganzen setze wieder einmal der Berliner Landesverband der Partei die LINKE im Jahr 2009 die Krone auf. Ihr Vorsitzender Klaus Lederer sprach am 10. Januar als einer der Hauptredner auf der zionistischen Kundgebung „Support Israel – Operation Cast-Lead“ als Unterstützung des völkermörderischen Angriffskriegs gegen die PalästinenserInnen in Gaza. Lederer schaffte es dort auch noch, SPD und GRÜNEN, die unter den Pfiffen der dortigen Kriegshetzer „Verhältnismäßigkeit“ von Israel angemahnt hatten, rechts zu überholen.

Während die LINKE prominent auf den Demos für einen reaktionären Krieg anwesend war, konnten sich gerade 9 ParlamentarierInnen dazu durchringen, für eine Demo gegen den Krieg aufzurufen (6). Die Mehrheit der Parlamentsfraktion hielt die Schnauze.

Der Grund für all diese Vorstöße ist nicht nur eine reaktionäre, menschenverachtende Unterstützung des israelischen Staates, seiner Siedlungspolitik und seiner Rolle als eine Bastion des US-amerikanischen und europäischen Imperialismus. Über diese Schiene soll v.a. vorbereitet werden, dass die LINKE zu einer Partei wird, die im Regierungsfall imperialistischen Interventionen des deutschen Imperialismus zustimmt.

Zusammensetzung, soziale Basis und Klassenstandpunkt der Partei DIE LINKE

Der Nachweis, dass es sich bei Programm, Strategie, Praxis der LINKEN um eine bürgerliche Partei handelt, die sich sozial auf die Arbeiterklasse stützt, ist leicht zu führen. Es handelt sich, in Lenins Worten, um eine bürgerliche Arbeiterpartei. Solche waren auch schon WASG und PDS.

Aber mit der Fusion, der Gewinnung neuer Mitglieder und der Aussicht auf den Einzug in mehr und mehr Landesparlamente im Westen (inklusive der auf Duldung oder Teilnahme an SPD-geführten Regierungen) hat sich seither eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der reformistischen Führung der LINKEN entwickelt.

Die PDS war vor der Fusion durch einen Machtkampf zweier Fraktionen/Flügel gekennzeichnet. Der rechte Flügel – z.B. um das „Forum demokratischer Sozialismus“ – trat und tritt für eine „Abkehr“ vom „traditionellen“ „staatsfixierten“ Reformismus ein, den er u.a. in der west-deutschen Arbeiterbürokratie in vielen Gewerkschaften, bei Betriebsräten usw., insbesondere auch bei der Mehrheit der ehemaligen WASG-Spitze und Oskar Lafontaine verortet. Dieser Flügel sieht jede Wiederverstaatlichungsforderung, jeder „Totalabsage“ an Privatisierungen ähnlich vielen AnhängerInnen der „Neuen Mitte“ in der SPD oder den „Modernisieren“ in den Gewerkschaften als kontraproduktiv und utopisch an. Gern bedient er sich zur „Untermauerung“ seine Haltung der Unterstellung, dass solche Forderungen auf „nationalistische“ (weil vom Nationalstaat ins Werk gesetzte) Lösungen hinauslaufen würden. Zweifellos kommen ihnen dabei oft tatsächlich vorhandene nationalistische und chauvinistische Einstellungen der „Traditionalisten“ zugute – z.B. Lafontaines rassistische Äußerungen und Positionen zur Migration (siehe unten).

Dieser Flügel, der in den Landtagen und im Apparat im Osten (v.a. Berlin, Brandenburg, Sachsen) sehr stark vertreten ist, wurde durch die Fusion mit der WASG zweifellos geschwächt. Die Mehrheit hat jetzt der „klassische“ sozialdemokratische, keynesianische Flügel der Partei, dessen „Hegemoniekonzept“ sich auch am letzten Parteitag mit überwältigender Mehrheit durchgesetzt hat (inklusive der Stimmen der sog. Parteilinken!).

Die Parteirechte stützt sich sozial stark auf die Mittelschichten und fordert, dass sich die LINKE auch mehr für kleine und mittlere Unternehmer einsetzen soll. Sie bringt also v.a. in der ehemaligen DDR die Interessen jener ehemaligen Staatsfunktionäre und Angestellten zum Ausdruck, die sich nach der Wende zu Unternehmern verwandelten, relative gut bezahlte akademische Jobs haben und ihre Interessen bis heute am besten in der „Ostpartei“ PDS/DIE LINKE aufgehoben sehen.

Eine Episode um die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötsch, die in der Berliner LINKEN dem „linken Flügel“ zugerechnet wird, illustriert das. Im Hessischen Wahlkampf forderte der SPD-Spitzenkandidat Schäfer-Gümpel, dass alle, die über ein Geld- oder Immobilienvermögen von mehr als 750.000 Euro verfügen, zu einer niedrig verzinsten, 15jährigen Zwangsanleihe an den Staat verpflichtet werden sollten, um einen Teil der Krisenlasten zu tragen. Angesichts dieses Vorschlages trat Lötsch auf den Plan, erblickte sie darin doch allen Ernstes einen Anschlag die „Eigenheimbesitzer“.

Der keynesianische Mehrheitsflügel orientiert sich politisch an der Gewerkschaftsbürokratie. Mit dieser strebt er ein strategisches Bündnis an. Der „Preis“ für diese Politik besteht erstens darin, jede ernste Kritik an den DGB-Gewerkschaftsbonzen zu unterlassen, bis hin dazu, dass ein Ausverkauf wie die Tarifrunde im Öffentlichen Dienst 2008 zu einem Erfolg umgedichtet werden.

In keinem Fall ist von diesem Flügel ein konsequentes Eintreten für die Arbeiterklasse auch nur bei Minimalforderungen zu erwarten.

So wurden die Forderungen nach Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung den Positionen der Gewerkschaftsbürokratie und der „Realisten“ im Berliner Senat angepasst, um ja diese ja nicht mit „allzu hohen“, „unrealistischen“ Parolen zu brüskieren oder gar unter Druck zu setzen. Daher fordert die LINKE seit ihrem Gründungsparteitag gerade Mal einen Mindestlohn von 8,50 Euro und lehnt die „radikale“ Forderung nach 10 Euro ab, die von den sozialen Bewegungen, den Montagsdemos und auf fast allen Demos gegen Sozialabbau der letzten Jahre erhoben wurde. Dabei handelt es sich keineswegs um beliebige Zahlenspiele. Ein Mindestlohn von 8,50 (brutto) würde für viele einen Reallohn hart an der offiziellen Armutsgrenze bedeuten, von „armutsfesten Löhnen“, wie die LINKE gern behauptet kann bei dieser Forderung keine Rede sein.

Der gewerkschaftsferne Parteiflügel schafft es freilich, die Keynesianer mit einer pseudoradikalen Parole noch rechts zu überholen. Statt Kampf um Wiedereingliederung aller Arbeitslosen in den Arbeitsprozess durch Verkürzung der Arbeitszeit und Mindestlohn, wurde für einen Teil des Apparats der Linkspartei die scheinbar „linksradikale“ Forderung nach einem bindungslosen Grundeinkommen für alle zu einer ideologischen Klammer und Vision dieser Strömung, die es ihr auch erlaubt, in der kleinbürgerlichen Linken einschließlich deren „radikalen“ Flügel zu punkten.

Wie in vielen Artikeln der Gruppe Arbeitermacht, aber auch anderer Linker gezeigt, ist diese Forderungen alles andere als „links“, sondern läuft a) auf eine stillschweigende Akzeptanz der strukturellen Massenarbeitslosigkeit, b) die Verfestigung der Spaltung der Arbeiterklasse und Verstetigung einer staatlich alimentieren Schicht von Niedriglöhnern hinaus – finanziert nicht durch die Reichen, sondern durch eine staatliche Umverteilung von den besser verdienenden Lohnabhängigen zu den schlechter gestellten. Zu Recht wird eine solche Forderung von den meisten GewerkschafterInnen zu Recht als spalterisch abgelehnt.

Doch die Unternehmerschicht in der LINKEN artikuliert sich auch „selbständig“. Der niedersächsische Chef der LINKEN, Dieter Dehm, gründete im Sommer 2008 den „Offenen Wirtschaftsverband von Klein- und Mittelständischen Unternehmern, Freiberuflern und Selbständigen e.V. (OWUS)“ Dieser tritt für einen „grundsätzlichen Wandel linker Ideologie gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen“ ein. Dehm war ehedem Vorsitzender der AG der Kleinst- und Mittelstandsunternehmen in der SPD. Ab Sommer 1998 war er in der PDS aktiv, wo er es in den Vorstand brachte und als Hoffnungsträger der Parteilinken (!) galt.

Auch er versucht seine Mittelstandslobby den Strategen der Linken und Hegemoniesuchern schmackhaft zu machen. Die Linke müsse ein Bündnis von Lohnabhängigen und Mittelstand gegen das „Großkapital“ schmieden, also mit den weniger konkurrenzfähigen Ausbeutern gegen die stärkeren zu Felde ziehen. Divergenzen zwischen DGB-Gewerkschaften und Kleinunternehmen sollten im Rahmen der LINKEN gelöst werden, die „dafür (…) ein hervorragender Raum der Konfliktlösung“ (7) wäre. Anders als der rechte Parteiflügel empfiehlt also Dehm „klassische“ Volksfrontpolitik mit dem „nicht-monopolistischen“ Kapital und trifft damit bei den Gewerkschaftern in der LINKEN vielleicht nicht auf offene Sympathie, wohl aber auf Verständnis, denn schließlich kennt solche „Konfliktlösungen“ jeder DGB-Bürokrat aus seiner täglichen Praxis.

Wenngleich eine Orientierung auf Teile des „anti-neoliberalen“ Unternehmertums der Doktrin der Klassenkollaboration entsprechend ist mit der Fusion ist jedoch der dominierende Flügel der LINKEN jener geworden, der sich auf Sektoren der Arbeiterbürokratie und, darüber vermittelt, der Arbeiteraristokratie stützt.

Klassenkollaboration und Sozialpartnerschaft

Natürlich ist DIE LINKE auch heute noch eine Partei des Ostens. Die überwiegende Mehrheit der etwa 70.000 Mitglieder stammt aus den neuen Bundesländern. Es sind meist RentnerInnen, ehemalige Staatsbedienstete oder Angestellte aus der DDR, also besser gestellte, arbeiteraristokratische Schichten aus dem ehemaligen degenerierten Arbeiterstaat.

Seit der Gründung der vereinigten Partei sind v.a. im Westen mehrere tausend Mitglieder beigetreten, die weder in PDS noch WASG waren. Anders als bei der WASG handelt es sich dabei nicht vorrangig um Arbeitslose, sondern um Gewerkschafts- und Betriebsratsmitglieder. Diese haben die „Sozialpartnerschaft“ oft mit der Muttermilch aufgesogen. Sie ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. An Regierungsbeteiligung, Koalition mit der SPD, Verwaltung des bürgerlichen Staates haben sie so wenig Grundsätzliches auszusetzen wie an der „partnerschaftlichen Zusammenarbeit“ im Betrieb.

Ihr Problem mit der SPD ist, dass diese nicht mehr oder nicht ausreichend die Interessen dieser relativ privilegierten Schicht vertritt, auf der politischen, parlamentarischen Ebene zum Ausdruck bringt, sich also von der nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grundlage des Kräfteverhältnisses der Nachkriegsordnung etablierten bürgerlichen Arbeiterpolitik entfernt hat. Diese hoffen sie mit der Partei der LINKEN wiederbeleben zu können und, a la long, auch in der SPD wieder mehrheitsfähig zu machen.

Der Grundirrtum dieser Strömung wie auch der gesamten Führung der Partei DIE LINKE besteht darin, dass sie ignorieren, dass diese Form bürgerlicher Arbeiterpolitik an zwei miteinander verbundene und unwiederbringlich vergangene politische und ökonomische Voraussetzungen gebunden war.

Erstens günstige Akkumulationsbedingungen des Monopolkapitals in allen imperialistischen Zentren, die eine expansive Reproduktion des Kapitals, stetige Steigerung der relativen Mehrwertrate und damit Steigerung der Profitmasse erlaubte, kombiniert mit einer Vergrößerung der Arbeiterklasse in diesen Ländern und einer Ausdehnung ihrer reproduktiven Konsumption, gemeinhin Erhöhung des „Lebensstandards“ genannt.

Schon in den 1970er Jahren stößt dieses System an seine Grenze, ohne dass jedoch die politischen Formen und der Einfluss der Arbeiterbürokratie, die auf diesem expansiven System der Kapitalakkumulation fußten, mit einem Schlag verschwunden wären.

Thatcherismus und Reaganomics führten in den USA und Britannien schon in den 80er Jahren zu schweren, strategischen Niederlagen der Arbeiterklasse, auf die die verallgemeinerte Durchsetzung neo-liberaler Maßnahmen folgte. In der BRD und selbst nach der Widervereinigung zog sich dieser Prozess viel länger hin. Es war der rot-grünen Regierung vorbehalten, hier den bisher schärfsten und nachhaltigsten Angriff erfolgreich durchzogen zu haben. Am Ende der Attacken sind wir aber noch lange nicht.

Für das deutsche Kapital ist aber eine von der Führung der LINKEN und von vielen Gewerkschaftsbürokraten und wohl auch großen Teilen der Arbeiteraristokratie gewünschte Rückkehr zur „Sozialpartnerschaft“, in der sie scheinbar als „gleichberechtigte Partner“ anerkannt werden, unmöglich.

Klassenkollaboration ist natürlich weiter gewünscht und gefordert, aber unter anderen Prämissen – z.B. jener der „Wettbewerbspartnerschaft“ oder des „Produktivitätspakts“ auf betrieblicher oder Konzernebene. Abgesehen von den veränderten ökonomischen Vorzeichen und somit dem Fehlen der materiellen Grundlage für eine Wiederbelebung der klassischen Sozialpartnerschaft, ist ihre politische Konzeption immer auf Kompromiss zwischen Arbeiterbürokratie und Kapital und dem Verhindern aktiver Beteiligung der Arbeiterbasis ausgelegt. Jegliche Form der Klassenkollaboration ist in sich selbst somit eine reaktionäre Einrichtung, die unvermeidlich zur Unterordnung der Interessen der Klasse unter jene des Kapitals und des imperialistischen Staates führt, deren Existenz das Bestehen einer materiell besser gestellten auf der einen und einer zunehmend schlechter gestellten Schicht von ArbeiterInnen auf der anderen Seite als Grundlage hat.

Nicht nur diese Politik führt dahin, wo die SPD und die Gewerkschaftsführungen heute sind. Auch die Proklamation des „klassischen“ keynesianischen Arsenals führt, einmal an der Regierung, in „Verantwortung“ dazu, dass die jeweilige kapitalkonforme neo-liberale Politik – eventuell ergänzt mit einigen Nachfrageimpulsen für bestimmte Kapitalgruppen – umgesetzt werden muss.

Zweitens führt die politische Strategie der LINKEN dazu, dass sie sich nicht nur gegen alle Mobilisierungen stellen muss, die ihre Regierungspolitik angreifen. Sie muss auch alle Forderungen und Kämpfe ablehnen oder hintertreiben, die entweder mögliche „Bündnispartner“ im Unternehmerlage abschrecken könnten oder über die eng gesetzten politischen Grenzen der soziale Hauptstütze der LINKEN selbst – der Gewerkschafts- und Betriebsratsbürokratie – hinausgehen oder auch nur hinausgehen könnten.

Genau darin zeigt sich der wahre Charakter dieser „Partei der sozialen Bewegungen“ in der Praxis. Bei den größten anti-kapitalistischen Mobilisierungen der letzten Jahre wie z.B. bei den G8 in Heiligendamm haben weder PDS noch WASG – also die Vorläufer der LINKEN – eine tragende Rolle bei den Blockaden oder bei der Verteidigung der Demonstrationen und Camps gegen die Bullen gespielt.

Noch drastischer zeigt sich das in den Arbeiterkämpfen. In der BRD gab es nicht nur eine starke Mobilisierung gegen den G8-Gipfel und eine Zunahme der Beteiligung an den linken, revolutionären Erste-Mai-Demos, die auch ein Entstehen einer anti-kapitalistischen Jugendbewegung v.a. unter SchülerInnen zeigen. 2007 und 2008 brachten auch eine deutliche Zunahme von Streiks.

Dabei nahm der GDL-Streik eine zentrale Rolle ein. Die LINKE brauchte Monate, bis sie wusste, ob sie ihn unterstützen sollte oder nicht. Genauer, sie brauchte Monate, bis sie eine Kompromissformel gefunden hatte, die die einen als Unterstützung, die anderen als Nicht-Unterstützung auslegen konnten. Warum? Weil die Gewerkschaftsbürokratie in der LINKEN, v.a. jene aus den Bereichen, die mit der GDL oder anderen Berufsgewerkschaften konkurrieren müssen, die „Solidarität“ zum Klassenverräter und Transnet-Chef Hansen und der ganzen Politik dieser DGB-Gewerkschaft über die berechtigten Interessen der EisenbahnerInnen stellte. Es ist daher auch kein Zufall, dass es der dominierende Flügel um die Gewerkschaftsbürokraten war, der die GDL nicht unterstützen mochte, während der rechte Flügel der Linken damit weniger Probleme hatte – natürlich nicht aus grundsätzlicher Solidarität, sondern weil ihm die Beziehungen zur organisierten Arbeiterbewegung generell weniger wichtig sind.

Doch auch andere Kämpfe bringen die Haltung der LINKEN deutlich ans Licht. Der Ausverkauf des Tarifkampfes im Öffentlichen Dienst durch die verdi-Führung wurde von den Vordenkern der LINKEN, v.a. der Sozialismus-Gruppe zu einem Erfolg, einem „Durchbrechen der Lohnspirale nach unten“ geschönt.

Wenn die Partei die LINKE von Solidarität mit den Gewerkschaften und ArbeiterInnen spricht, so meint sie in Wirklichkeit die Solidarität mit der Gewerkschaftsführung. Diese wird gegen Kritik geschützt. Vor allem aber will die LINKE nicht nur keine Opposition zur Bürokratie aufbauen, sie will diesen Aufbau aktiv verhindern – was sich u.a. darin zeigt, dass viele linke mittlere und höhere Funktionäre, die der Gewerkschaftslinken nahestanden oder Teil ebendieser waren, jetzt daran gehen, die ohnedies schwache Gewerkschaftslinke möglichst weiter zu schwächen.

Das heißt die Partei DIE LINKE ist ein Hindernis im Klassenkampf. Es ist viel zu beschönigend, ihr – wie jeder etablierten und gefestigten bürgerlichen Arbeiterpartei – nur vorzuwerfen, dass sie nichts oder zu wenig tue. Sie ist durchaus aktiv, Regungen des Widerstandes ins Leere laufen zu lassen. In den Gewerkschaften heißt das, die Bürokratie gegen den Aufbau einer dringend notwendigen klassenkämpferischen Oppositionsbewegung zu verteidigen. In der Anti-Kriegsbewegung heißt das für die LINKE offen gegen anti-imperialistische und anti-kapitalistische Strömungen Front zu machen und – im Bund mit DKP, div. „Friedengesellschaften“ und „Ratschlägen“ – das Monopol einer reformistischen Clique über die Führung der „Friedensbewegung“ zu sichern.

Sozialchauvinismus gegenüber MigrantInnen

Die Liste politischer Anpassung der LINKE lässt sich lange fortsetzen. Erwähnt werden muss aber zweifellos der sozial-chauvinistische Charakter der Politik gerade ihrer traditionalistischen Führung. Oskar Lafontaine war nicht von ungefähr 1992/1993 einer der Chefunterhändler der SPD bei der Aushandlung des sog. „Asylkompromiss“ mit der CDU, der zu einer weitgehenden Aushebelung des Asylrechts in der BRD führte. Lafontaine kritisierte die ursprüngliche Änderung des Einbürgerungsrechts durch Rot-Grün 1998 von rechts als zu weit gehend und zog einen „Kompromiss“ mit der CDU, also eine weitere Verwässerung vor.

2004 unterstützte Lafontaine in seiner damaligen Bild-Kolumne Otto Schilys erz-rassistischen Vorschlag, die EU-Außengrenzen dicht zu machen und Flüchtlinge in Nordafrika schon dort „abzufangen“ und in Sammellager zu stecken. Auch im Wahlkampf 2005 fiel er durch Rassismus auf, als er bei einer Wahlveranstaltung in Jena forderte: „Der Staat ist verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und -frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.“ (8)

Diese offen rassistischen Äußerungen Lafontains sind für DIE LINKE untypisch, gelten vielen als besonders widerwärtig und haben auch bei etlichen Mitgliedern Ekel und Abscheu hervorgerufen. Sie sind jedoch so weit von der politischen Stoßrichtung der Partei – der Forderung nach „kontrollierter Zuwanderung“, kontrolliert selbstredend durch den bürgerlichen Staat – nicht entfernt.

Und sie ergeben im politischen System des Reformismus Sinn: Im System einer Politik, die sich auf die relativ privilegierte Schicht der Klasse stützt und im Land selbst einen „vernünftigen“, für alle tragbaren Kompromiss erzielen will. Ein sozialstaatlicher Ausgleich zwischen Lohnarbeit und Kapital ist – und das war zu dessen Hochblüte auch nicht anders – nur möglich, wenn das imperialistische Kapital am Weltmarkt konkurrenzfähig ist, mehr und mehr Extraprofite aus der Ausbeutung der ArbeiterInnen und Ausplünderungen anderer ProduzentInnen in den Halbkolonien zieht. Er ist nur möglich, wenn er auf die arbeiteraristokratischen Schichten – und das heißt v.a. deutsche Arbeiteraristokraten – beschränkt ist. Daher macht das Einverständnis mit einem rassistischen Grenz- und Migrationsregime nicht nur Sinn, eine reformistische Politik erfordert dieses geradezu.

Anders als die WASG ist die LINKE fest in den Händen des Apparates und der Funktionäre, dem eine im Wesentlichen passive Mitgliedschaft, v.a. im Osten gegenübersteht.

Dominanz der Funktionärsschicht

So hat die Partei nicht nur eine Parlamentsfraktion von 56 Abgeordneten. Jede/r von ihnen hat mehrere hauptamtliche MitarbeiterInnen, von den viele selbst wieder Führungskräfte der Partei auf verschiedenen Ebenen sind. Hinzu kommt, dass die LINKE in vielen Bundesländern Abgeordnetenfraktionen von 6 bis 25 Personen stellen, die auch wieder „ihre“ Mitarbeiter haben. Dazu kommen noch zahlreiche Kommunen, darunter z.B. 2000 Bürgermeister.

Der Stiftung der Partei beschäftigt natürlich auch vom Staat gesponsorte hauptamtliche Funktionäre – und diese bald in jedem Bundesland. Hinzu kommt noch ein Parteiapparat im Bund in allen Ländern.

Wenn all diese addiert werden, so kommt die LINKE auf mehrere tausend hauptamtliche Funktionäre, die ihre Einkommen direkt aus dem Parteiapparat oder staatlichen Vertretungsorganen beziehen.

Hier sind noch gar nicht jene Abteilungen der Arbeitsbürokratie in der LINKEN mitgezählt, die ihre Einkünfte aus anderen Quellen – dem Gewerkschaftsapparat oder als freigestellte Betriebsräte – beziehen.

All diese machen einen selbst für eine bürgerliche Partei untypisch hohen Anteil der Funktionäre an der aktiven Mitgliedschaft aus. Hinzu kommt, dass zwei Drittel der Mitglieder 65 oder älter sind, also im politischen Geschehen nur noch wenig aktiv sein können.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass die LINKE eine Partei ist, die fest in den Händen der Bürokratie liegt. Hinzu kommt, dass die zu erwartende Entwicklung der nächsten Monate diesen Zugriff noch verstärken.

Die Linken in der LINKEN

Doch auch von eine anderen Seite zeigt sich das. Die „Linken“ in der LINKEN, also großzügig gerechnet alle, die sich im weitesten Sinne als SozialistInnen oder KommunistInnen bezeichnen, können auf vielleicht 2000 Mitglieder geschätzt werden. Davon gehört die Mehrheit der Kommunistischen Plattform an, die schon in der PDS seit ihrer Gründung dafür sorgte, dass sich keine Opposition bildete, die eine Gefahr für die Parteiführung hätte werden können. Dass sich das auch in Zukunft nicht ändert, davon ist bei Wagenknecht und Co. zu rechnen.

Der Geraer Dialog und das Marxistische Forum, beide aus der PDS kommend, haben auch in der PDS bewiesen, dass sie als Oppositionskräfte nichts taugen. Beide sind außerdem deutlich schwächer als sie es noch vor einigen Jahren in der PDS waren.

Marx 21 (ehemals Linksruck) ist tief in den Strukturen der Parteiführung verankert und unterstützt offen den reformistischen Kurs. Bezeichnenderweise ist Marx 21 Bestandteil der „Sozialistischen Linken“, eines keynesianischen Netzwerks in der Partei.

Die Anti-kapitalistische Linke – selbst ein Sammelsurium aus KPF-Leuten, Linken Parlamentariern und der „internationalen sozialistischen linken“ (isl = eine der beiden Sektionen der Vierten Internationale) – hat gleich zu Beginn der Parteibildung ihre politische Harmlosigkeit deklariert, durch den Beschluss keine Plattform, keine Tendenz oder Fraktion bilden zu wollen, die um eigene Positionen oder gar gegen die reformistische Parteiführung kämpft. Sie will vielmehr eine Diskussionszusammenhang sein und bleiben – und nicht mehr.

Bleibt noch die „Sozialistische Alternative – VORAN“ (SAV), die seit dem 11. September 2008 in ganz Deutschland in der Linken arbeiten und dort eine „marxistische Opposition“ aufbauen will. Die vorgeschlagenen „Eckpunkte“ sind selbst wenig mehr als linksreformistisch (9).

Vor allem fragt sich, warum heute Entrismus in der Partei DIE LINKE sinnvoll sein soll für den Aufbau einer revolutionären Klassenpartei? Die SAV begründet das damit, dass es eine Stimmung gäbe, von der die Linke profitiert und die hohe Erwartungen gegenüber dieser Partei ausdrückt.

Das ist sicher richtig. Einen Entrismus in eine reformistische Partei rechtfertigt das noch lange nicht. Als politische Voraussetzung dafür reicht der Verweis auf „Hoffnungen“ von ArbeiterInnen und Angestellten, von WählerInnen und Nicht-Mitgliedern nicht aus.

Eine sinnvolle Entrismustaktik setzt voraus, dass es in der reformistischen Massenpartei zumindest innere Polarisierungen, Konflikte und ein gewisses Maß an Instabilität gibt oder dieses z.B. als Folge von Massenzustrom zur Partei in absehbarer Zeit zu erwarten ist – sodass eine reale Ansatzmöglichkeiten bestehen, dass RevolutionärInnen innere Konflikte in der Partei, den Gegensatz zwischen reformistischer Führung und proletarischer Basis verschärfen und diese letztlich für den Bruch mit der Führung gewinnen könnten.

Gleichzeitig können solche innerparteilichen Reibungen nur dann entstehen, wenn die bürokratische Form der Organisierung dem eigentlichen Grund der Mitgliedschaft relevanter Teile der Basis widersprecht. Kommt es also zu Masseneintritten in die LINKE, um z.B. die jetzige Krise zu bekämpfen, so werden Reibungen schnell dadurch entstehen, dass die LINKE diese Rolle als Kampforgan durch ihre bürokratische Führung nicht erfüllen kann. Dies wäre somit ein prädestinierter Grund für innere Konflikte.

Eine solche Entwicklung kann natürlich niemand kategorisch ausschließen. Sie ist aber kein unvermeidliche oder notwendige, wie die Existenz einer Radikalisierung von Teilen der Jugend außerhalb der Partei, wie die Existenz einer (leider stark syndikalistisch geprägten) Opposition in einzelnen Großbetrieben oder die Bewegung von 10.000en MigrantInnen gegen den Gaza-Krieg zeigen. Vor allem zeigt auch das Beispiel der Neuen Anti-Kapitalistischen Partei in Frankreich trotz ihrer unbestreitbaren politischen Schwächen, dass sich in der gegenwärtigen Krisenperiode eine Radikalisierung der Klasse nicht über eine reformistische, sondern durchaus auch über eine zentristische Formation ergeben kann.

In jedem Fall ist ein Massenzulauf der ArbeiterInnen und gar eine innere Polarisierung und Radikalisierung in der LINKEN bisher einfach nicht zu konstatieren. Dieser Fakt ist so offenkundig, dass er selbst von den euphorischsten Anhängern der Partei nicht bestritten wird. Mehr oder weniger unzufrieden sind vor allem die schon seit Jahr und Tag organisierten Altlinken, die ihrerseits in der LINKEN sind – nicht weil sie davon einen revolutionären oder wenigstens klassenkämpferischen Impuls erwarten, sondern weil sie in Wirklichkeit längst aufgegeben haben, für eine revolutionäre Alternative zu kämpfen.

Eine Lehre darf aber aus der Geschichte der LINKEN nicht vergessen werden – die Linke in der Partei hat selbst eifrig mitgewirkt, dass sich die Bürokratie durchsetzen konnte und heute fester im Sattel sitzt denn je. Warum? Weil alle Strömungen außer der Gruppe Arbeitermacht darauf verzichteten, in der WASG offen für eine revolutionäres Programm einzutreten. Im Gegenteil: Linksruck (jetzt Marx 21) hatte es sich zum Markenzeichen gemacht, gebetsmühlenartig dagegen aufzutreten, dass die Partei „sozialistisch“ werden soll. Die SAV hat zwar an einigen Punkten Widerstand geleistet, v.a. beim Berliner Wahlantritt der WASG und davon gesprochen, dass die Partei „sozialistisch“ sein soll. Einen eigenen Programmvorschlag hat sie aber erst gar nicht gemacht, sondern so getan, als würden 4-5 Abänderungen zu den Programmen der Parteiführung irgendetwas am Programm der Partei ändern.

Vor allem haben beide – aus „taktischen Gründen“ und wider besseres Wissen – darauf verzichtet, den Klassencharakter von WASG oder später der LINKEN klar und offen zu bestimmen und auszusprechen. Das erschien und erscheint solchen „MarxistInnen“ nämlich unklug. Wer freilich glaubt, die Arbeiterklasse oder deren Avantgarde dadurch zu „revolutionieren“ und vom Reformismus zu brechen, dass er ihr nur unliebsame Wahrheiten verschweigt, der klärt nicht auf, der bereitet nicht den Bruch mit dem Reformismus vor, sondern spielt ihm in die Hände – wird selbst zur linken Flankendeckung der Bürokratie.

***

Exkurs: DIE LINKE und die Krise

Wie jede Partei im Bundestag hat auch Die Linke ihre Schüsselforderungen zur Krise präsentiert:

1. härtere Auflagen für das Finanzkapital, um den Zusammenbruch des Bankensystems zu verhindern;

2. ein Konjunkturprogramm in Höhe von 50 Milliarden, um die Kaufkraft zu stärken, eine Rezession zu verhindern und eine Million Jobs zu schaffen.

Diese Positionen ähneln nicht zufällig jenen der DGB-Gewerkschaften, schließlich sind ja auch einige der Autoren/Inspiratoren wie die Mitarbeiter der ver.di-Abteilung Wirtschaftspolitik Michael Schlecht und Ralf Krämer zugleich „Wirtschaftsexperten“ der LINKEN.

Linke gegen das Rettungspaket?

Bekanntlich hat die Parlamentsfraktion der LINKEN im Bundestag gegen das Rettungspaket der Regierung gestimmt – freilich nur, um im Bundesrat, also wo es darauf ankommt, dann doch dafür zu sein. Nun sagen einige leichtfertige Gemüter, dass die Berliner LINKE damit gegen die Linie der Linkspartei im Bund verstoßen hätte.

Doch das ist pures Wunschdenken. Es ist vielmehr eine altbekannte Taktik reformistischer Parteien, dort „hart“ zu bleiben, wo die herrschende Klasse ihre Stimme ohnedies nicht braucht, um dann dort, wo es darauf ankommt „aufgrund der Sachzwänge“ und der „Verantwortung für Berlin“ doch mitzumachen.

Aber auch die Stellungnahmen führender Politiker der Parteispitze und der Parlamentsfraktion verdeutlichen das. In einem Interview mit der Presseagentur Reuters sprach sich Lafontaine offen für das US-Finanzpaket aus. In seiner Rede vom 15. Oktober erklärt er erneut, dass das Paket der Regierung „technisch in Ordnung“ und von daher in der Sache nicht zu kritisieren sei.

Er wirft der Regierung aber vor, dass diese weiter den Staat und das Regierungshandeln den Finanzmärkten unterordne, anstatt die Politik über den Finanzsektor bestimmen zu lassen.

Kurzum, die innere Logik der Gesetze der bürgerlichen Profitmacherei sollen vom deutschen und anderen imperialistischen Staaten außer Kraft gesetzt werden. Daher hat die LINKE auch ein eigenes Forderungspaket zur Finanzkrise aufgelegt. Dieses beinhaltet u.a.:

„# Absicherung zentraler Aufgaben des Finanzsystems,

# ausreichende und zinsgünstige Kreditversorgung,

# Garantie der Bankeinlagen in unbeschränkter Höhe,

# Einrichtung eines von den privaten Finanzinstituten gespeisten Sicherungsfonds,

# Beseitigung besonders destabilisierender Praktiken,

# drastische Reduzierung und wo nötig Verbot von besonders riskanten Finanzinstrumenten,

# energische Eindämmung von Hedge-Fonds,

# Verpflichtung zu mehr Eigenkapital,

# Verbot von Aktienoptionen für Manager,

# Mindesthaltefristen für Aktienbeteiligungen des Managements,

# verschärfte Haftung von Managern,

# Schritte zur mittelfristigen Reform des Finanzsystems

# internationales Kreditregister,

# weitgehende Beschränkung von Banken auf das Einlagen- und Kreditgeschäft,

# strenge Kontrolle des Investmentbankings, keine spekulativen Geschäfte mit Devisen,

# verschärfte Beschränkungen für kapitalgedeckte Altersvorsorge,

# Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung,

# Kontrolle von privaten und Aufbau von öffentlichen Rating-Agenturen,

# Zulassungspflicht für bestehende und neu entwickelte Finanzprodukte durch einen Finanz-TÜV,

# Transaktionssteuern auf den Handel mit Wertpapieren und Devisen,

# Schließung von Steueroasen.“ (10)

So könne, der Partei die LINKE zufolge, die Finanzkrise in den Griff und eine zukünftige Spekulationswelle verhindert werden.

Deutlich wird dabei, dass man allen Ernstes davon ausgeht, dass es ausreiche, bestimmte Praktiken des Finanzkapitals zu verbieten und strenge öffentliche Kontrollen einzuführen, ohne das Privateigentum und die kapitalistische Marktwirtschaft, also die Ursache der Finanzkapriolen usw. selbst anzugreifen.

Die LINKE präsentiert damit ein alternatives Programm zur Rettung des Kapitalismus, nicht etwa ein Programm des Kampfes gegen das System.

Investitionsprogramm

Der andere Part der Politik der Partei besteht darin, ein Investitionsprogramm von 50 Milliarden zu fordern. Davon sollen 20 Milliarden in die Erhöhung von Hartz-IV, Mindestlohn, in die Anhebung der Renten und Transferleistungen für Bedürftige fließen. Die anderen 30 Milliarden sollen Investitionen (Bildung, Energiewende, Infrastruktur) der Realökonomie ankurbeln. Es handelt sich also um Staatsaufträge für das Privatkapital oder staatliche Ausgaben im Interesse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

Nicht Enteignung, nicht ein Programm nützlicher Arbeiten unter Arbeiterkontrolle etc. stehen hier an, sondern die Förderung des „produktiven Sektors“, also des „nicht-spekulierenden“ Teils des Kapitals. Hierbei wird jegliche Erkenntnis selbst der bürgerlichen Analysen des Finanzkapitals und der imperialistischen Epoche vollkommen verkannt. Die Verbindung zwischen Industrie- und Bankenkapital, die ihre praktische Manifestation in dem enormen Spekulationsanteil am Gewinn industrieller Unternehmen findet, wird hier einfach aufgebrochen.

Diesem Vorstellung liegt eines zugrunde: Für die Linkspartei ist nicht der Kapitalismus als System, sondern nur der „Finanzmarktkapitalismus“ und „Neoliberalismus“ in der Krise. Daher sollen auch nicht alle Kapitalisten für die Krise zahlen, sondern nur die „Spekulanten“, die Finanzhaie und die Vermögenden, während die „Realökonomie“ entlastet werden und Aufträge im Wert von 30 Milliarden erhalten soll.

Was die LINKE hier präsentiert, ist also kein Programm gegen den Kapitalismus, sondern für einen „anderen Kapitalismus“, der „binnenmarktorientiert“ ist und wo die Profitinteressen der produktiven Unternehmen mit jenen der Lohnabhängigen über eine staatlich finanzierte und orchestrierte Ausweitung des Marktes vermittelt werden sollen.

Was die ArbeiterInnen an höheren Löhnen in Form von Mindestlohn, höheren Hartz-IV-Bezügen usw. mehr erhielten, würde auch den Kapitalisten (genauer: den produzierenden und dem Handelskapital) in Form einer gewachsenen und kaufkräftigeren Kundenschar zugute kommen.

Wie all diese Theorien, die gern bestimmte Formen des Kapitals (in diesem Fall des zinstragenden Kapitals) von anderen Formen absondern und entgegenstellen, übersieht die Konzeption der Linkspartei, dass die Kapitalisten nicht einfach nach Verkauf der Waren und Schaffung irgendeines Profits streben, sondern immer eine ausreichende und möglichst hohe Profitrate, also Verwertung des von ihnen vorgeschossenen Kapitals im Auge haben.

Diese Profitraten sind aber für das Gesamtkapital in allen großen Industrieländern seit den 70er Jahren tendenziell sinkend und zu gering, was eben erst zur „Flucht“ in die Spekulation, zur riesigen Ausdehnung des fiktiven Kapitals an den Finanzmärkten geführt hat, wo natürlich auch jeder „produktive“ Kapitalist, sofern er denn konnte, sein Anlageheil gesucht hat.

Es ist theoretisch eine Verkennung der inneren Entwicklung des Kapitalismus zu glauben, mit einem Konjunkturprogramm die Rezession zu verhindern. Wer solche Albernheiten verbreitet, bereitet nicht den Kampf gegen die Regierung vor, sondern führt die Arbeiterklasse in eine Sackgasse – mit einer Illusion, die notwendig enttäuscht werden muss.

Er tut das umso mehr, als selbst die meisten Maßnahmen der LINKEN auf den Widerstand der herrschenden Klasse stoßen werden – weil sich diese bewusst ist, dass die Lösung der Krise keine Wohltaten für „alle Menschen“, sondern Klassenkampf, Angriffe auf die Lohnabhängigen bedeutet.

Demokratische Kontrolle?

Die Forderungen der LINKEN nach „demokratischer Kontrolle“ und „Verstaatlichung“ offenbaren, dass der politische Horizont dieser Partei im Endeffekt nicht über bürgerliche Vorstellungen hinausreicht.

Das Kapital hat oft genug selbst nach Verstaatlichung oder demokratischer Verantwortung des Staates gerufen – wenn es galt, die Folgen von Pleiten, Pech und Pannen für einzelne Kapitalisten oder die bürgerliche Klasse insgesamt zu schultern.

Verstaatlichungen oder Kontrollen, die wirklich etwas Substanzielles verbessern, können nicht von denen vorgenommen oder gemanagt werden, die selbst die Misere angerichtet haben, oder vom bürgerlichen Staat, der über tausend Kanäle mit dem Kapital verbandelt und deren Werkzeug ist.

Es ist kein Zufall, dass die Beschäftigten – ganz zu schweigen von der Arbeiterklasse – als Subjekt dieser Maßnahmen bei der LINKEN nicht auftauchen. Die Umsetzung von Arbeiterkontrolle über Verstaatlichung, Buchführung usw. wäre nämlich mit einer Einschränkung oder sogar Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln bzw. der realen Verfügung darüber verbunden. Es würde fast automatisch die Möglichkeit einer nichtkapitalistischen, von ProduzentInnen und KonsumentInnen kontrollierten, demokratischen Planwirtschaft aufzeigen. Das aber würde nicht nur auf den rabiaten Widerstand der Bourgeoisie und ihres Staates treffen, sondern auch die materielle Basis der Bürokratie in der LINKEN untergraben.

Das wissen auch Lafontaine und Gysi – und deshalb sind sie dagegen! Statt diese Fragen offen auszusprechen und eine Perspektive zu entwickeln – für den Abwehrkampf und für eine alternative Gesellschaft, präsentieren sie uns den alten Hut vom „neutralen Staat“, mit dem sich der Kapitalismus samt seiner Gebrechen reformieren ließe.

Illusionen

Was die Position der LINKEN auch auszeichnet, ist die Annahme, dass eine rechtzeitige Regulierung des Finanzsektors die Krise hätte verhindern können. Doch der aufgeblähte und hochspekulative Finanzsektor wirkte ein gewisse Zeit lang durchaus als Ventil, um den Druck immer größerer Massen Anlage suchenden Kapitals, das im produktiven Bereich kaum noch profitabel verwertbar war, in die Finanzsphäre umzuleiten. Ohne diesen „Ausgleich“ wäre die Krise jedoch nur anders – und womöglich eher – ausgebrochen.

Ein weiterer fataler Irrtum ist die von vielen LINKEN-PolitkerInnen immer wieder geäußerte Meinung, dass die Finanzkrise „leider“ eine ansonsten gesunde „Realwirtschaft“ mit in die Bredouille gebracht hätte. Daran ist die Annahme falsch, dass es eine quasi vom Finanzsektor „abgekoppelte“ industrielle Wirtschaft geben würde. Doch gerade im Zeitalter des Imperialismus dominiert das Finanzkapital immer mehr die Gesamtwirtschaft. Dabei ist die Form verschieden – so ist das US-Bankensystem anders strukturiert als das deutsche – doch die Wirkung ist prinzipiell gleich. Diese Schlüsselfunktion des Finanzbereichs erklärt auch die verzweifelten und massiven Rettungsversuche.

Dass die Krise der „Realwirtschaft“ die eigentliche Ursache der Finanzkrise ist, wird schon daran deutlich, dass das niedrige US-Zinsniveau (Leitzins wie Realzinsen) der letzten Jahre wesentlich zur Entstehung der Finanzkrise beitrug. Das bedeutete, dass mit „normalen“ Finanzgeschäften zu wenig Gewinn gemacht werden konnte, was angesichts des immer größer werdenden Berges „überschüssigen“, marodierenden Geldkapitals umso fataler war. Um diese Probleme zu lösen, wurden dann die „innovativen“ Finanzprodukte kreiert, deren Platzen dann das Fass zum Überlaufen brachten.

Doch warum waren die Zinsen so niedrig – um die Wirtschaft anzukurbeln! Und ankurbeln muss man nur etwas, das nicht richtig rund läuft!

Diese Positionen der LINKEN verraten außer weitgehender Unkenntnis der Bewegungsgesetze des Kapitals vor allem, welch illusionäre – und zugleich positive! – Grundhaltung die Strategen der LINKEN gegenüber dem Kapitalismus haben. Das exorbitante Wachstum des Finanzsektors in den letzten Jahrzehnten beweist doch auf seine Art schlagend, dass es bei der Produktion im Kapitalismus nicht um die Schaffung von Gebrauchswerten und damit um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geht, sondern nur um den Tauschwert und die Befriedigung des Hungers nach Profit.

Dass die LINKE in einer Situation, wo der Kapitalismus als Gesamtsystem zunehmend weniger „funktioniert“ und in eine tiefe Legitimationskrise gerät, dieses System retten will, sagt allein schon genug über sie aus!

***

Perspektive der LINKSPARTEI

Die LINKSPARTEI wurde zu einer Zeit gegründet, als die keynesianische Doktrin der Parteiführung und der Elektoralismus der Partei eine gewisse, vordergründige Plausibilität hatten. Einerseits auf dem Boden einer sozialen Bewegung, die jedoch im Abschwung war, auf deren Schwächen die Wahlorientierung der WASG und später der LINKEN eine Antwort zu sein schien. Andererseits schien es vordergründig genug zum Umverteilen zu geben. Die deutschen Großkonzerne machten enorme Gewinne – wenn auch das Gesamtkapital längst von einer massiven Tendenz zur Stagnation getrieben war.

Heute muss das deutsche Kapital vom Staat gerettet, gestützt werden. 100.000 IndustriearbeiterInnen sind schon jetzt auf Kurzarbeit. Jedes zweite Unternehmen plant Entlassungen. Selbst Schönredner des Kapitalismus wie der IG Metall-Vorsitzende Huber rechnen mit einer mehrjährigen tiefen Krise.

In dieser Situation ist v.a. die SPD von einer massiven Krise getroffen – verwaltet sie doch den deutschen Kapitalismus staatstragend und zunehmend hilflos. DIE LINKE freut sich nun zwar, dass scheinbar die Zeit für ihre Rezepte gekommen ist, andererseits beginnen die ersten bürgerlichen Politiker der Partei ihre Vorschläge zu klauen. So hat sich der französische Präsident Sarkozy innerhalb eines Jahres vom neo-liberalen Sanierer zum gaullistischen Protektionisten gewandelt, der jedes Konjunkturprogramm der Linken, jedes Stützungsprogramm zur „Rettung der nationalen Industrie“ locker in den Schatten stellt.

Schon jetzt drückt sich dieses Problem ein Stück weit bei Wahlen aus. Während die LINKE konstant in den Umfragen bei 11 bis 13 Prozent liegt, gewinnt sich bei den Wahlen trotz der enormen Krise der SPD nichts oder kaum. In Hessen hat die SPD bei den Landtagswahlen wieder einen historischen Einbruch erlebt. Die LINKE konnte ihren Stimmenanteil gerade von 5,1 auf 5,4 Prozent erhöhen. Was aber noch wichtiger ist, sie verlor Stimmen. Die meisten WählerInnen verliehen ihre Frustration durch Wahlenthaltung nicht durch Stimmabgabe für die LINKE Ausdruck.

Zweifellos wird die LINKSPARTEI versuchen, diesem Trend entgegenzuwirken. So strebt sie ganz offenkundig an, die Proteste und Demos gegen die Krise ihren Forderungen und ihrer Wahlkampfplanung anzupassen.

Aber während die LINKE für Demos zur Wahlkampfunterstützung offen ist, ja auch schon das „politische Streikrecht“ als Forderung einmahnt, so will sie vom Streik, von Aufforderungen an die DGB-Gewerkschaften, mit ihrer Unterstützung der Regierungspolitik zu brechen und politische Streiks gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiterklasse durchzuführen nichts wissen.

In Zeiten einer historischen Krise des kapitalistischen Systems, einer Krise, die sich rasch weiter zuspitzen wird, erweist sich der (linke) Reformismus als laue Alternative zum bürgerlichen Krisenmanagement. Die Entwicklungen in Griechenland mit Aufständen der Jugend, Massenstreiks im Öffentlichen Dienst, Blockaden durch Bauern und Fischer, der Generalstreik in Frankreich, der Sturz der Regierung in Island und auch die Gründung der „Neuen Anti-kapitalistischen Partei“ in Frankreich zeigen, dass die Avantgarde, ja größere Teile der Massen über die engen Grenzen der Parlamentspolitik der LINKEN hinausgehen wollen und können.

Auch dafür sind in Deutschland LINKSPARTEI und Gewerkschaftsführungen (wie auch die SPD) ein Hindernis und kein Schritt vorwärts. Auch wenn sich der Konflikt zwischen dem Drängen von ArbeiterInnen und Jugendlichen nach Aktion auch in der LINKSPARTEI ausdrücken mag (ebenso wie er sich in Betrieben oder in Gewerkschaften ausdrückt oder stärker ausdrücken wird), so zeigt die bisherige Entwicklung der LINKEN, dass das bislang eigentlich vergleichsweise wenig der Fall ist.

Wie oben gezeigt, hat das mit ihrer inneren Verfasstheit, mit der Struktur ihrer Mitgliedschaft, ihrer Inkorporation in das bürgerliche System zu tun. Daher ist eine Arbeit in der LINKSPARTEI unter den gegebenen Bedingungen heute taktisch falsch.

Aber es bleibt notwendig, gegenüber der LINKSPARTEI (wie gegenüber anderen von der reformistischen Bürokratie dominierten Arbeiterorganisationen) die Taktik der Einheitsfront anzuwenden, um erstens jene Schichten der Klasse, die in sie Illusionen haben gegen Regierung und Kapital zu mobilisieren und zweitens die LINKSPARTEI auch in der Mobilisierung politisch zu testen und ihre bremsende, demobilisierenden Funktion zu entlarven.

Ein historische Krise des Kapitalismus verlangt zugleich aber auch die Frage nach dem politischen Instrument, das die Arbeiterklasse braucht, um erfolgreich Widerstand zu leisten und ihrerseits in die Offensive zu gelangen, klar zu stellen: Die Notwendigkeit einer neuen, revolutionären Arbeiterpartei als kommunistische, klassenkämpferische Alternative zum Reformplunder der LINKSPARTEI.

Fußnoten:

(1) „Für ein revolutionäres Programm! Programmentwurf von GenossInnen und UnterstützerInnen von Arbeitermacht vom Frühjahr 2005, in: Kampforganisation oder Regierungspartei auf Abruf?, Arbeitermacht-Broschüre, April 2006

In dieser Broschüre wurden auch verschiedene Artikel zur Kritik der Linken in der WASG veröffentlicht: WASG-Berlin: Welche politische Alternative? (März 2006), Februar 2006), Linksruck: Recht blinken, recht abbiegen, SAV und Linkspartei (März 2006)

Zur Kritik des Gründungsprogramms siehe ua.: M. Suchanek, Das Wunder der Binnennachfrage, in: Neue Internationale 95, November 2004

(2) Suchanek, WASG/PDS: Neue Sozialdemokratie oder neue Arbeiterpartei?, in Revolutionärer Marxismus 36, Dezember 2006, S. 98f

(3) Programm der Partei DIE LINKE (Programmatische Eckpunkte), angenommen 24./25. März 2007, http://die-linke.de/partei/dokumente/ programm_der_partei_die_linke_programmatische_eckpunkte/

(4) Das Signal steht auf Einmischung für eine andere, bessere Politik, Rede von Lothar Bisky, Mai 2008, http://die-linke.de/partei/organe/parteitage/1_parteitag/reden/lothar_bisky/

(5) Zur Kritik von Gysis Rede: Hannes Hohn, Strammstehn für die Staatsräson, in: Neue Internationale 130, Juni 2008, S. 5f

(6) Es handelt sich dabei um Karin Binder, Sevim Dagdelen, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Nele Hirsch, Inge Höger, Ulla Jelpke, Norman Paech, Eva Bulling-Schröter. Sie hatten zur  Demonstration “Stoppt den Krieg in Gaza! Stoppt das Massaker!” des Aktionsbündnis „Stoppt den Krieg in Gaza!“  am 17. Januar 2009 in Berlin aufgerufen.

(7) Zitiert nach, P. Weinfurth, Die Arbeitsgemeinschaft der Kapitalisten in der Linken, http://www.linkezeitung.de/cms/ index.php?option=com_content&task=view&id=5201&Itemid=257

(8) Rede auf einer Kundgebung in Chemnitz am 14. 6. 2005, zitiert nach Spiegel online, 2.8. 2007

(9) Zur Kritik siehe: Hohn, SAV tritt auch im Osten in DIE LINKE ein: Kein sozialistische Alternative, Infomail 382, 21. 9. 2008, http://www.arbeitermacht.de/infomail/382/sav.htm

(10) http://www.linksfraktion.de/finanzkrise.php




Rettet den Planeten vor der Zerstörung durch den Kapitalismus! – Thesen zur Umweltfrage

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Oktober 2008, Revolutionärer Marxismus 40, März 2009

Die Umweltfrage – eine Kernfrage unserer Epoche

Globale Erwärmung, Abschmelzen größerer Teile der Poleiskappen, Klimaveränderung, Ausdehnung der Wüsten, Verstädterung, Vernichtung des Regenwaldes …

Es ist keine Frage: Wir leben in einem Zeitalter, in dem gewisse Veränderungen der natürlichen Umwelt des Menschen mit der unmittelbarer Zerstörung der Lebensbedingungen von Millionen, wenn nicht langfristig sogar der gesamten Menschheit, verbunden sind.

Diese Gefahr ist inzwischen allgemein anerkannt. Selbst die borniertesten Elemente der herrschenden Klassen können sie nicht länger ignorieren. Zumindest müssen sie eingestehen, dass es eine „Umweltfrage“ gibt. Zum ersten Mal beruhen diese dramatischen Veränderungen nicht auf örtlichem oder regionalem Eingreifen des Menschen in natürliche Kreisläufe, sondern menschengemachte Natureingriffe haben in Gestalt des Klimawandels globale Folgen. Diese Bedrohung ist mit einer Reihe mehr oder weniger begrenzter Krisen wie der Ausrottung der Fischbestände, der Zerstörung des Regenwaldes und des massenhaften Artensterbens, welche oft damit zusammenhängen, verbunden.

Selbst jene, die für das System verantwortlich zeichnen, das die komplette Menschheit mit Umwelt- und Gesellschaftskatastrophen bedroht, müssen zugeben, dass etwas geschehen muss. Keine UNO-Versammlung, kein G8-Treffen, kein Regierungsprogramm kommt mehr ohne Behauptungen aus, diese Frage in den Vordergrund gerückt zu haben, und ohne das Versprechen von „Aktionsplänen“ – auch wenn deren Resultate nur erbärmlich genannt werden können.

Die drohende Zerstörung der natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens ist zu einer wahrhaft weltweiten Frage geworden. Alle sozialen und politischen Kräfte haben ein Programm zur „Lösung“ des Umweltproblems vorgelegt und überbieten sich dabei gegenseitig.

Ganze Bewegungen sind um dieses Thema herum entstanden. Sie starteten als Bewegungen und politische Strömungen der Mittelschichten, der Intelligenz, bedeutender Teile der Jugend in den imperialistischen und stalinistischen Staaten der 1970er und 1980er Jahre. In dieser Zeit stießen sie nicht nur auf die regelrechte Feindseligkeit der Bourgeoisien in der imperialistischen und halbkolonialen Welt sowie der stalinistischen, sozialdemokratischen und GewerkschaftsbürokratInnen. Sie gerieten auch mit einer „revolutionären“ oder „sozialistischen“ Linken aneinander, die selbst die Existenz der von ihnen aufgeworfenen Fragen geradeheraus leugnete oder oft nicht wahrhaben wollte.

Heute kann niemand mehr diese Gefahren ausklammern. Die „grünen“ Themen sind Punkte für jede Partei geworden. Die Hauptströmung der ehedem radikalen kleinbürgerlichen Bewegung ist „öko-reformistisch“ oder wurde sogar zur „Öko-Marktwirtschafts“-Partei mit „grünen“ Firmen für „grüne“ Erzeugnisse.

Andere Teile der Umweltbewegung treten noch für verschiedene Spielarten kleinbürgerlicher, rückwärtsgewandter und letztlich reaktionärer Lösungen ein, die auf Rückkehr zur kleinen Warenproduktion und einer „Deindustrialisierung“ der Gesellschaft fußen.

Die Ironie der Geschichte will es, dass der Augenblick des größten Erfolgs der GRÜNEN, des Aufgreifens ihrer Sachthemen durch alle Parteien und die Gesellschaft, die utopische und bürgerliche bzw. kleinbürgerliche Natur ihrer Lösungswege enthüllt. Die offensichtliche Hohlheit ihrer Antworten hat auch das falsche Verständnis der Ökologiefrage seitens des Hauptzweigs der grünen Strömungen einschließlich ihres linken Flügels, der ÖkosozialistInnen, aufgedeckt.

Zur gleichen Zeit, als die grüne Thematik zur alltäglichen Tagesordnung wurde, änderten sich auch die gegen die Auswirkungen der Umweltzerstörung kämpfenden Bewegungen. Die Auseinandersetzungen der Landlosen, der einheimischen Bevölkerungen für das Recht auf Landbesitz und gegen die multinationalen Agrarkonzerne, das Eintreten für menschenwürdige Verhältnisse in den Slums der Megastädte der Halbkolonien, die diversen Verkehrs- und Energiekonzepte – all das deutet darauf hin, dass die ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die Jugend und die Armut aktive und wesentliche Komponenten der Kämpfe gegen die Vernichtung der Umwelt geworden sind; aber sie unterliegen der Vorherrschaft und dem Einfluss bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Kräfte und Ideologien.

Solche Führungen konnten die Oberhand gewinnen aufgrund der Ignoranz durch reformistische Bürokratien, die sozialdemokratischen oder stalinistischen Parteien bzw. bürgerliche NationalistInnen in der „Dritten Welt“. Sie konnten sich auch wegen der Anpassung des Zentrismus an die „Umwelttümelei“ durchsetzen.

Das kann erst überwunden werden, wenn die arbeitende Klasse ihr eigenes Programm hervorbringt, ihre eigene Lösung für die Umweltfrage. Der Kampf gegen die Vernichtung der natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens und für ein vernünftiges, bewusstes Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist heute zu einer zentralen Frage der sozialistischen Revolution geworden, einer zentralen Frage auch für den Aufbau einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft.

Deshalb ist es die Aufgabe von RevolutionärInnen, ein Programm von Übergangsforderungen zu entwerfen und dafür einzutreten, das auch in diesen Fragen die Tageskämpfe mit dem Ziel der sozialistischen Revolution verknüpft.

Mensch und Natur

Die kapitalistische Produktionsweise hat nicht als erste massiv in die Natur und das „natürliche Gleichgewicht“ eingegriffen. Jede Ansicht oder Vorstellung, die Menschheit habe einst ein „wahrhaft harmonisches“ Verhältnis zur Natur gehabt, das verlustig gegangen sei, ist eine Illusion. Die Menschheit hat immer in die Natur eingegriffen – und musste es auch. Doch auch die Natur selbst hat sich stets verändert.

In der Naturgeschichte ist einzig der ständige Wandel, die Bewegung der Materie, eine wirkliche Konstante. Alle Lebewesen müssen sich diesem anpassen und damit fertigwerden. Was die Menschheit aber von anderen Spezies unterscheidet: die Beziehung zwischen Mensch und Natur ist von ihren ersten Ursprüngen her ein soziales, ein durch gesellschaftliche Arbeit vermitteltes Verhältnis.

Buchstäblich von Anfang an musste die Menschheit die Reproduktion ihrer eigenen Existenz sichern. Dies umfasste notwendigerweise, die Überlebensbedingungen, die Bedürfnisbefriedigung gegen die ständigen Unwägbarkeiten und Gefahren durch die Naturentwicklung zu verstetigen (sofern dies möglich ist).

Sicher war all das zu Beginn der menschlichen Entwicklung sehr primitiv, sehr beschränkt, setzte aber eine Gesellschaftsentwicklung in Gang, die immer auch Entfaltung des gesellschaftlichen Wissens beinhaltete in Bezug auf die Umstände ihres natürlichen Fortschritts, der Bewegungsgesetze der Natur, ihrer zweckgerichteten Umwandlung, die technischen und technologischen Eingriffe in die Natur, welche die Höherentwicklung der Menschheit auf Basis eines gesellschaftlichen Arbeitsprozesses gestatteten. Die Entwicklung von Gesellschaftlichkeit und Zivilisation war nur auf diesem Wege möglich.

Aber der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur vollzieht sich die ganze Menschheitsgeschichte hindurch stets auf der Grundlage eines mehr oder weniger beschränkten Wissens über Naturprozesse und deren Gesetzmäßigkeiten. Das hat zu katastrophalen Ereignissen in der Geschichte geführt, einschließlich des Untergangs kompletter Zivilisationen.

Alle Gesellschaften griffen in die Natur ein. Alle Gesellschaften vernichteten und formten die menschlich/natürliche Umwelt, ja schufen sie, so wie ihre eigene Entwicklung auch von den konkreten lokalen oder regionalen Umweltverhältnissen, in denen sie sich herausbildeten, geprägt war.

Mit der Entstehung von Klassengesellschaften unterschieden sich die Beziehungen zwischen Mensch und Natur nicht nur nach Regionen, sondern auch nach Klassen.

„Natur“ und ihre „natürliche“ Umwelt waren nie das Gleiche für die werktätigen Klassen, die mit der Natur rangen, wie für die herrschenden Klassen, die unter besseren und sichereren „natürlichen“ Verhältnissen lebten und als erste eine beschauliche Sichtweise von „Naturschönheit“ an den Tag legten.

Andererseits konzentrierte sich wirkliches Wissen über Natur und ihre Vorgänge in den arbeitenden Klassen, seien es Bauern/Bäuerinnen, Bergleute, HandwerkerInnen etc. Zugleich waren die herrschenden Klassen gezwungen, sich diese Kenntnisse anzueignen, sie zu kontrollieren und in ihren Händen zu zentralisieren (oder wenigstens zentrale Teile davon).

Kapitalismus

Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Produktionsweise vollzogen sich bedeutende Wandlungen im Mensch-Natur-Verhältnis.

Auch alle vorherigen Produktionsweisen hatten massiv in die „natürliche“ Umwelt eingegriffen, neue Ackeranbaumethoden hervorgebracht, die „natürliche Auslese“ beeinflusst. Das führte zum Verschwinden ganzer Arten und förderte die Entwicklung anderer. Was den Kapitalismus davon unterscheidet, war und ist die Dimension seiner Eingriffe. Sein explosives Wachstum industrieller Produktion war von Anfang an mit einem gegenüber früheren Epochen qualitativ höheren Wachstum der Nutzung fossiler Energieträger verbunden. Auf der Jagd nach diesem „Stoff“ unterwirft er sich fern entlegene Weltgegenden und hinterlässt Wüstenlandschaften. Der Kapitalismus ist ein wahrhaft globales, ein Weltsystem. Er planiert alle lokalen Besonderheiten vorangegangener Produktionsweisen.

Gleichzeitig wälzt er beständig seine Produktionsbasis um, aber auf der Basis verallgemeinerter Warenproduktion, auf anarchische Weise.

Folglich sind die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Umwelt nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Art.

Die materielle Grundlage dafür bildet die Entwicklung der Produktivkräfte – das Hervorbringen und die Kombination von Großindustrie und Wissenschaft. Die Großindustrie geht einher mit der Industrialisierung der Landwirtschaft und zerstört die letzte Zufluchtsstätte vorheriger Klassengesellschaften. Sie vertreibt die Bauern-/Bäuerinnenschaft von Grund und Boden in die Großstadt oder verwandelt den „Kleinbauern/die Kleinbäuerin“ in eine/n LandarbeiterIn. Mit diesem Prozess treibt sie jedoch auch die Trennung von  Stadt und Land auf die Spitze und fördert die Industrialisierung der Agrikultur. Die kapitalistische Form dieses Prozesses zerstört zugleich zunehmend den natürlichen Reichtum des Bodens und untergräbt damit langfristig die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz. Auf diesem Weg entsteht also nicht nur ein städtisches Proletariat, sondern die Großindustrie entwickelt dieses Verhältnis auf eine Art, welche die Lebensgrundlagen und Gesundheit der LohnarbeiterInnen untergräbt. Sie treibt die Entfremdung des/r ProduzentIn von den Produktionsmitteln an ihre äußersten Grenzen.

Die kapitalistische Produktion vervollkommnet deshalb die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Grundlagen ihres Reichtums beschädigt: die Erde und den/die ArbeiterIn. Doch Großindustrie, Industrialisierung des Feldbaus, Fortschritt der Wissenschaften treiben nicht nur das Problem auf neue Höhen. Sie liefern auch die Basis für dessen Bewältigung: eine rationale Verbindung von Industrie und Wissenschaft.

In vorkapitalistischen Gesellschaften entfalteten sich die Beziehungen zwischen Stadt und Land, zwischen Mensch und Natur unter natürlich gewachsenen Bedingungen. Im Kapitalismus als verallgemeinerter Warenproduktion ist die Produktion eine gesellschaftliche, aber die Aneignung erfolgt privat. Er zerreißt darum nicht nur die überlieferten Bande des Dorfes, sondern auch seine lokalen bzw. regionalen Eigenarten.

Das Zerreißen dieser Bindungen erfordert auch notwendig die Etablierung eines vernünftigen, bewussten Stoffwechsels zwischen Stadt und Land, zwischen Agrarproduktion und verarbeitendem Gewerbe, wenn man die zerstörerischen Auswüchse gesellschaftlicher Produktion unter einem anarchischen System, das auf Privateigentum beruht, vermeiden oder „reparieren“ will.

Im Kapitalismus ist es unmöglich, rationale, dauerhafte Beziehungen zwischen Mensch und Natur herzustellen, die eine nachhaltige und fortwährende Reproduktion der Menschheit und ihrer Lebensbedingungen gestatten. In einer allgemeinen Warenproduktion werden Erfolg und Vernunft aller Wirtschaftsaktivitäten erst im Nachhinein ermittelt, ob ein Erzeugnis KäuferInnen, eine Nachfrage auf dem Markt findet oder nicht. Alles was sich damit nicht verträgt, ist ständig vom Verschwinden aus gesellschaftlicher oder natürlicher Produktion bedroht.

Da kapitalistische Produktion tatsächlich auf die Erzeugung von Mehrwert ausgerichtet ist, werden für im Wettbewerb stehende Einzelkapitale Entscheidungen, die ihre Konkurrenzfähigkeit und Profitabilität verbessern, notwendigerweise mit jedem rationalen und stetigen Verhältnis zur Umwelt kollidieren.

Während z. B. die „schlanke Produktion“ die Kosten für fixes Kapital und Lagerhaltung mindert und deswegen die Profitrate steigert, sind ihre offensichtlichen Folgen vermehrte Transporte und massive Umweltzerstörung. Deren Kosten müssen von der Gesellschaft bezahlt werden.

Umweltfrage und imperialistische Epoche

Eine der Eigenarten kapitalistischer Produktion als vergesellschafteter ist ihre zunehmende Einverleibung der Wissenschaft. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise geriet die Wissenschaft mehr und mehr zu einem Industriezweig und wurde selbst zur Ware. Das ging Hand in Hand mit dem enormen Konzentrations- und Zentralisationsschub des Kapitals Ende des 19. Jahrhunderts, der Herausbildung des modernen Monopol- und Finanzkapitals.

Die Morgenröte der imperialistischen Epoche trug auch eine enorme Konzentration von Forschung und naturwissenschaftlicher Entwicklung in Händen großer Monopole, Stiftungen oder Staatsinstitutionen mit sich, die immer direkter durch den imperialistischen Staat gemäß den Interessen der Kapitalistenklasse gelenkt wurden.

Wissenschaftliche Forschung und ihre Resultate sind Privateigentum geworden, Teil von Geschäftsplänen und -geheimnissen. Die Monopolisierung bedeutete nicht nur oft, dass Fortschritte nur in Richtung Profitmacherei gelenkt wurden; sie hielt auch unausweichlich Verbesserungen zurück, behinderte Kontrollen oder stellte sie ein, wo sie Profite gefährdeten.

Dies spiegelt den zunehmend gesellschaftlichen Charakter der Produktion wider, verweist  aber andererseits darauf, dass das Privateigentum immer mehr zu einer Fessel wird.

Im Imperialismus erfolgten regelrechte Sprünge in der Revolutionierung des Ackerbaus, welche die Agrarländer in industrielle transformierten, in denen FarmerInnen oder LandwirtInnen nur einen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen.

Riesige Agrarkonzerne und wissenschaftliche Neuerungen stellten auch in den Halbkolonien die Landwirtschaft auf den Kopf, zerstörten die alten Kultivierungsmethoden, enteigneten Ernten und schließlich die Böden der Bauern. In vielen Fällen bedeutete dies auch, dass die neuen Bewirtschaftungsweisen den Boden zugrunde richteten und Verwüstung, Armut, Hunger und Landflucht bewirkten.

Das Monopolkapital beschleunigt die zerstörerischen Auswirkungen des Kapitalismus

Allein die Maßnahmen zur Steigerung der Profitabilität unter den Bedingungen der Globalisierung, z. B. die Privatisierung von früher staatlichen Energiekonzernen, die Schaffung von großen monopolisierten Märkten im Bereich Energie, Wasser und Transportindustrie, die durch Finanzgeschäfte weiter vorangetrieben werden, die enorme Menge von fixem Kapital, die darin steckt – all dies bedeutet, dass die herrschenden Klassen aller großen kapitalistischen Staaten keinen Einsatz wirkungsvoller Mittel zur Bekämpfung des Klimawandels oder der Erwärmung der Erde zulassen können, denn das würde massive Eingriffe in das Privateigentum der imperialistischen Bourgeoisie und der großen Finanzkapitale mit sich bringen müssen.

Außerdem wären sie unausweichlich mit einem weiteren gravierenden Widerspruch konfrontiert, welcher der imperialistischen Epoche und der Globalisierung innewohnt: der internationale Charakter der Produktion und des Warenumschlags auf der einen Seite und die weiter bestehende nationalstaatliche Form, in der dieser vonstatten geht. Die Umweltfrage und die damit verbundene weltweite Bedrohung sind dem Wesen nach international und auch nur so zu lösen.

Während die bürgerlichen Regierungen aller Staaten mit großen Worten ihre Maßnahmen im Kleinen gegen die Umweltzerstörung ins Licht zu rücken versuchen, tun sie dies erst recht in internationalem Maßstab.

Alle Maßnahmen der nationalen wie der „Weltgemeinschaft“ tragen die Handschrift des bürgerlichen und imperialistischen „Ökologismus“. Ob beabsichtigt oder nicht, werden die Kosten für die Maßnahmen den arbeitenden Klassen und den Halbkolonien aufgebürdet. Der Handel mit „Schadstoffzertifikaten“, die Zerstörung des Regenwaldes zwecks Anbau von „Biokraftstoffpflanzen“ (und damit die weitere Vertreibung der Landlosen in Staaten wie Brasilien) sind nichts als perverse, aber höchst profitable, Formen dieser Art von „Umweltschutz“-Ideologie.

Ökosteuern, Appelle an VerbraucherInnen zur Trennung von Müll, der vorher von großen Monopolen produziert worden ist, sind mehr oder weniger hoffnungslose oder zynische Mittel, die Armen für die Ausbesserung von Schäden zahlen zu lassen und dafür verantwortlich zu machen, die durch den irrationalen Charakter eines Systems erst entstanden sind, welches sich die Menschheit einfach nicht mehr länger leisten kann.

Heute stehen wir vor den Folgen von Jahrzehnten und Jahrhunderten kapitalistischer Produktionsweise und deren Einfluss auf die menschliche Umwelt. Gefahren drohen, die die Zukunft der Menschheit selbst in Frage stellen. Die neoliberale Globalisierung, die Endphase des Imperialismus, beschleunigt diese Tendenz dramatisch. Die verschiedenen Maßnahmen zur Profitmaximierung, um dem tendenziellen Fall der Profitrate in den letzten Jahrzehnten gegensteuern zu können, haben sämtlich zu einem wahnsinnigen Anwachsen der zerstörerischen Auswirkungen dieser Produktionsweise auf die natürliche Umwelt des Menschen geführt. Sie sind eine notwendige Folge des Neoliberalismus, die sich parallel zu den wachsenden Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse, die Bauern/Bäuerinnen und die Armen entwickelt.

Die Umweltfrage ist ein zentrales Problem, das von der antikapitalistischen Bewegung von Anfang an und besonders in der halbkolonialen Welt aufgeworfen wurde.

Sie hat sich um Fragen des Klimawandels, des Transports, der Landproblematik, der Privatisierung und Verwandlung von natürlichen Vorräten in Waren gebildet.

Ein Programm zur Wiederherstellung menschenwürdiger Umweltverhältnisse

Selbst die nüchternsten Berechnungen unterstellen einen Anstieg der Durchschnittstemperatur von 1 bis 1,5 Grad Celsius auf der Erde in den nächsten 20 Jahren. Andere Zahlen gehen von einer Zunahme um 4,5 Grad aus. In den vergangenen 100 Jahren hat sich der Anteil von Kohlendioxid an der Erdatmosphäre um 20 % erhöht. Immer größere Teile der Polkappen schmelzen, lebenswichtige Meeresströmungen könnten sich ändern, der Meeresspiegel steigt. Das führt zu gewaltigen Veränderungen, die etliche Küstenlandstriche und sogar große Teile einiger Länder überfluten werden. Es steht schon längst außer Zweifel, dass dieser einschneidende Wandel geschehen wird. Es geht nur darum, ob und wie die Menschheit sich an diese neuen Bedingungen anpassen und den Lauf der Entwicklung schnell und entschlossen beeinflussen wird, um eine weitere Verschärfung der Lage durch massiven Rückgang der Emissionen vermeiden zu können.

Es wäre töricht zu glauben, dass der „Markt“ und die Kapitalistenklasse diese Probleme lösen könnten. Sie hatten hinlänglich Gelegenheit dazu und haben sich als unfähig erwiesen. Die grundsätzlichen Mittel für eine durchdachte Umgestaltung des – wie Marx ihn nannte – „Metabolismus“ (Stoffwechsels) zwischen Mensch und Natur, Großindustrie und Wissenschaft, sind vorhanden; sie können aber erst dann nutzbringend angewendet werden, wenn sie den Händen der herrschenden Klasse entwunden, wenn sie vergesellschaftet werden.

Nur unter einer weltumspannend geplanten Wirtschaft kann ein System aufgebaut werden, das nicht nur die Bedürfnisse der Menschheit stillt und ausbaut, sondern das außerdem nachhaltig und dynamisch wirkt, d. h. einen Metabolismus zwischen gesellschaftlicher Produktion und Natur schafft, der sich diesen Umweltveränderungen anpassen kann. Der Kampf für dieses Ziel muss damit beginnen, sich den brennenden Gegenwartsfragen jetzt zuzuwenden, sie zuzuspitzen und zu verallgemeinern.

Gegen die Gefahr der globalen Erwärmung, ihre Folgen und deren zunehmenden Einfluss müssen wir auf Landes- und Weltebene Notpläne zum Abbau von Schadstoffaustoß, zur Umrüstung des Energie- und Verkehrswesens erarbeiten, aber auch Vorkehrungen treffen, dass alle Erdregionen, so gut es geht, die Auswirkungen des Klimawandels überleben können. Privatunternehmen und Regierungen sind unfähig, die hierzu notwendigen radikalen Maßnahmen zu ergreifen und durchzuführen. Nur eine massenhafte Bewegung, die sich mit dem Klimawandel befasst und von Organisationen und Aktionen der ArbeiterInnenklasse getragen wird, kann einen solchen Plan ausarbeiten und ihn gegen kapitalistische Widerstände auch umsetzen.

Solche Pläne bedürfen der Zentralisierung der Mittel für deren Durchsetzung: großindustrielle Energieerzeugung, Großraumbewirtschaftung, engmaschiges Verkehrsnetz, Wissenschaft und großzügige Geldmittel – sie müssen den großen Monopolen aus der Hand genommen werden.

Das Großkapital ist in dieser Angelegenheit nicht einfach nur „untätig“. Die kapitalistischen Großmächte verfolgen ihre eigenen Pläne. Das bedeutet, sie zerstören die menschliche Umwelt immer weiter, versuchen Profit aus dem Ökogeschäft zu ziehen oder sich durch abgeleitete Finanzgeschäfte (Versicherungen usw.) zu bereichern.

Kämpfe dagegen können oft an die Forderung nach Einsichtnahme in die Geschäfts- und Forschungsplanungen sowie die Transaktionen solcher Konzerne anknüpfen. Wir fordern die Einsicht in alle Geschäftsvorgänge, Forschungen, ihre Resultate und die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses. Die Forschung muss dem privaten Kapital aus der Hand gerissen und unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt werden. Wir fordern eine unabhängige Untersuchung der Investitionspläne von Regierungen und Großkapital durch ArbeiterInnen- und Umweltbewegung, die sich mit der Klimaveränderung auseinandersetzen.

Unter dem Kapitalismus wird Wissenschaft zur „Dienerin“ des Kapitals. Das bedeutet, dass Forschung und Produktentwicklung kurzfristigen Profitkalkulationen unterworfen sind. Viele Forschungsvorhaben, zusätzliche Tests und Beweise für Hypothesen werden genau wie der „reine Wissenschaftsbetrieb“, also die theoretische Grundlagenforschung, gekürzt, zumal diese für das Kapital als Ganzes nur zusätzliche Kostenfaktoren sind wie andere auch.

Angesichts unserer noch sehr begrenzten Kenntnisse über Entwicklungen und Bewegungsgesetze der natürlichen Umwelt, der Folgen der ständigen menschlichen Eingriffe in diese Abläufe, ist eine völlige Neubestimmung der Forschungsziele, ihre Offenlegung, Verallgemeinerung und des Austauschs ihrer Ergebnisse notwendig genauso wie ein massiver Mehraufwand an Forschung selbst.

Wir fordern die entschädigungslose Enteignung der Energiekonzerne und aller Industrien, die Grundversorgungsgüter wie etwa Wasser monopolisieren, der Großagrarindustrie und der großen Gesellschaften im Schienen-, Luft-, Wasser- und Straßenverkehr. Sie müssen unter ArbeiterInnenkontrolle (wieder-)verstaatlicht werden.

Wir setzen uns für die Umgestaltung der Energie- und Transportsysteme ein, um sie so sparsam und flächendeckend wie möglich zu machen. Darin soll ein Plan enthalten sein, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen in den gegenwärtigen Energiesystemen abzubauen. In manchen Fällen fordern wir allerdings den sofortigen Förderstopp.

Wir fordern einen Plan zum Auslauf und zur Ersetzung von fossilen Brennstoffen und der Kernspaltungsenergie – nicht nur aus Gründen der Umweltschonung, sondern auch, weil die begrenzten Vorräte dieser Rohstoffe es notwendig machen, sie durch nachhaltige und erneuerbare Energiequellen im Laufe des Jahrhunderts zu ersetzen. Wir rufen nicht zur sofortigen Schließung aller dieser Anlagen auf, sondern für eine geplante Stilllegung bzw. den Ausstieg aus der Energieform. Das Tempo dieser Maßnahmen wird mit Rücksicht auf die unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten und ihr Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Zielen (z. B. Elektrifizierung des Landes, Kampf gegen Hunger und Armut) festgesetzt.

Ein solcher Notplan ist nicht nur für die Energieproduktion wichtig, auch das gesamte Verkehrssystem muss unter ArbeiterInnenkontrolle in öffentliches Eigentum umgewandelt werden. Wir fordern einen konsequenten Umstieg vom Individualverkehr auf effektive öffentliche Verkehrssysteme. Dazu muss ein großes Investitions- und Ausbauprogramm aufgelegt werden. Die Verkehrsmittel sollten im Nah- und Regionalbereich kostenlos genutzt werden können.

Mit der neoliberalen Globalisierung entwickelte sich das Transportsystem in die entgegengesetzte Richtung – Verstärkung des Flugverkehrs und Festhalten am Auto als Haupttransportmittel. Im Sinne eines rationalen Systems sind wir gegen den Ausbau von „Mega“flughäfen wie Frankfurt/Main. Wir sind nicht gegen jeden Flughafen, aber die ArbeiterInnenklasse kann nicht nur, ja sie muss allen Projekten Einhalt gebieten, die den Umwelt zerstörerischen Wahnsinn der herrschenden Klasse noch weitertreiben.

Genauso bedeutsam ist ein tiefgreifender Wandel im Güterverkehr. Auch dies kann – wie alles andere auch – letzten Endes nur in einer gesellschaftlich geplanten Wirtschaftsordnung als Teil des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft gelöst werden. Gleichzeitig müssen wir aber auch versuchen, die KapitalistInnen zu zwingen, positive Sofortmaßnahmen einzuleiten, etwa eine Abgasverringerung bei Autos und die Besteuerung der Firmen, die für die von ihnen verursachten Umweltschäden aufkommen müssen.

Ein Umweltprogramm darf jedoch nicht auf jene Teile der Kapitalistenklasse beschränkt sein, die Profite im Energie- und Transportwesen oder damit verbundenen Industrien machen.

Wir treten in allen Ländern für ein Programm öffentlicher Arbeiten ein, um ein nachhaltigeres Verkehrssystem einzuführen, um Wohnungen mit der besten Energiespartechnologie auszustatten, so dass die Gesellschaft für den unvermeidlichen Klimawandel besser gerüstet ist.

In den halbkolonialen Staaten wird es oft unmöglich sein, die notwendigen Ressourcen im eigenen Land aufzubringen. Wir fordern die entschädigungslose Enteignung des imperialistischen Kapitals und von Gemeinschaftsunternehmen mit der heimischen Bourgeoisie und die ersatzlose Streichung aller Schulden von halbkolonialen Ländern bei imperialistischen Banken. Aber wir rufen auch dazu auf, die imperialistischen Regierungen zu zwingen, die nötigen Mittel bereitzustellen, um die Folgen des Klimawandels zu mildern, z. B. gegen die Überflutung ganzer Regionen. Wir weisen Ökosteuern und andere Maßnahmen zurück, die letzten Endes den ArbeiterInnen und Armen die Kosten für diese Programme und Initiativen aufhalsen. Sie sollten stattdessen aus Steuergeldern von den Reichen und dem Großkapital bezahlt werden. Wir fordern ein sofortiges Verbot aller verschwenderischen Luxusformen von Transport und, wo nötig, auch die Zuteilung nach Gesichtspunkten der Bedürftigkeit, organisiert unter Kontrolle der ArbeiterInnen und NutzerInnen und letzten Endes in einer Planwirtschaft.

Schon Marx betonte, dass die Landfrage ein zentraler Teil der Umweltproblematik ist. Besonders in der halbkolonialen Welt hat die kapitalistische Landwirtschaft zur Zerstörung des Regenwaldes, Wüstenausbreitung, Verschmutzung und zum Aussterben von Tierarten und zur Verringerung der genetischen Pflanzenvielfalt, zu Monopolisierung und Unfruchtbarkeit als Folge der kurzsichtigen Agrarproduktion unter Kontrolle großer Monopole geführt.

Die Verstädterung und die katastrophalen Lebensbedingungen in den Megastädten sind die Kehrseite desselben Prozesses. Sie werden beschleunigt durch Verknappung und gleichzeitige Privatisierung von Grundversorgungsgütern wie z. B. Wasser.

Wir fordern die (Wieder-)Verstaatlichung und Enteignung dieser Industrien und ein Programm von öffentlichen Arbeiten für menschenwürdige Wohnungen, Stromversorgung, Gesundheit und Hygiene, bezahlt durch Besteuerung der Reichen.

Einige Industrien und Formen des Verkehrs müssen zu Gunsten von nachhaltigen und erneuerbaren Alternativen massiv umgebaut, zurückgefahren oder gar abgeschafft werden (z. B. Kohlegruben). MarxistInnen fordern, dass die KapitalistInnen für die Säuberung und Umwandlung dieser Industrien samt Umschulungsprogrammen unter ArbeiterInnenkontrolle und Arbeitsplatzgarantien ohne Lohn- und Rentenverlust oder Verschlechterung der Arbeitsbedingungen bezahlen sollen.

Durch solche Forderungen versuchen wir, die ArbeiterInnen solcher Industrien für die Umweltbewegung in Hinblick auf den Klimawandel zu gewinnen. In dieser Bewegung und im Laufe der Erarbeitung eines Notplans werden wir alle Formen von Sektoralismus bekämpfen, die die Interessen von bestimmten ArbeiterInnen, die ihre derzeitigen Arbeits- und Industriebedingungen verteidigen, über den globalen Klimanotstand stellen wollen. Wir verurteilen die Gewerkschaftsbürokratie, wenn sie die ökologische Schaumschlägerei der Regierung und der UnternehmerInnen mit trägt, wenn z. B. Pilotenvereinigungen die Ausbaupläne für Flughäfen oder Gewerkschaften die Ausdehnung von Kohleförderung auf Basis der gegenwärtig noch unerprobten Einlagerung von Kohlendioxid in tiefen Erdschichten unterstützen – aus Hörigkeit gegenüber dem Kapitalismus und gegen die Bedürfnisse der Menschheit.

In der Landwirtschaft engagieren wir uns für die Enteignung der großen internationalen Agrarkonzerne und der chemischen Industrie. Die Forschung im Bereich Düngemittel- und Gentechnologien muss unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt werden. Diese Technologien dürfen nicht ohne ausgiebige Überprüfungen angewendet werden. Wir sind uns jedoch bewusst, dass die Gentechnologie eine entscheidende Steigerung der Produktivität und des landwirtschaftlichen Anbaus mit sich bringen kann, so dass wir deren massive Erforschung unter Kontrolle der ErzeugerInnen, LandarbeiterInnen, Kleinbauern/-bäuerinnen und VerbraucherInnen fordern. Wo Regierungen oder Firmen unsichere Tests von genmanipulierten Pflanzen oder deren Anbau ohne solche Tests genehmigen und durchführen, befürworten wir Maßnahmen zur Vernichtung solcher Anpflanzungen.

Die ArbeiterInnenbewegung muss sich neu aufstellen

Das Ringen um die Rettung unseres Planeten hat schon viele ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen wachgerüttelt, durch Kampf um ihr Land, gegen lebensfeindliche Zerstörung ihrer Umgebung usw.

Die Umweltfrage zeigt die Grenzen und letzten Endes das falsche Herangehen nicht nur des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ökologismus, sondern auch die Borniertheit des gewerkschaftlichen Ökonomismus, Nationalismus und Reformismus. Die Beschränktheit des GewerkschafterInnentums ist klar: allzu oft nutzt die Bürokratie sektorale „ArbeiterInneninteressen“, z. B. die der Beschäftigten im Kohlebergbau, als Mittel, um die Missachtung von allgemeinen und langfristigen Interessen der Klasse zu fördern. Damit können die GewerkschaftsbürokratInnen diese ArbeiterInnen leichter an „ihr“ Kapital binden.

Zum anderen haben der bürgerliche Nationalismus in den Halbkolonien, der Reformismus und ebenso ein Flügel der Ökologiebewegung einen Wechsel in der „Umweltpolitik“ versprochen, wenn sie in bürgerliche Regierungen eintreten oder sie bilden. Sie streuen die Illusion, dass eine solche Politik ohne Angriff auf die Macht der herrschenden Klasse, auf den bürgerlichen Staatsapparat, durchsetzbar wäre.

Ihre „Reformen“ waren einerseits ununterscheidbar vom „ökologistischen“ Flügel der imperialistischen Bourgeoisie; andererseits setzten sie den Staatsapparat, der angeblich ihre Reformen umsetzen sollte, gegen die Bewegungen ein, die die Zerstörung der menschlichen Umwelt bekämpften, wie z. B. die SPD/Grüne-Regierung in Deutschland oder die Lula-Regierung in Brasilien, die gegen die Landbesetzungen und Proteste gegen den Großgrundbesitz und die Agrarkonzerne vorging.

Wir weisen die bürgerlichen Behauptungen zurück, dass Verbraucherbedürfnisse auf natürliche Weise von den kapitalistischen Konzernen mit ihren Produktionstechniken befriedigt werden. Genauso beharren wir gegenüber den Grünen darauf, dass menschliche Lebensstandards am nachhaltigsten durch demokratische Wirtschaftsplanung und freiwillige, kollektive Lebensformen angehoben werden können, um eine harmonische Beziehung zwischen Natur und Menschheit herzustellen. Staatliche Kantinen, Kinderbetreuung, Wäschereien und mehr gemeinschaftliche Wohn- und Freizeitformen könnten die verschwenderische Vervielfältigung von Aufgaben, die in Privathaushalten anfallen, vergesellschaften und damit v. a. Frauen von der „zweiten Schicht“ (nach der Berufsarbeit) befreien.

Die zerstörerische Spaltung zwischen Stadt und Land, die Umweltzerstörung, „Überbevölkerung“ und planlose Verschwendung ist nur umkehrbar, wenn sich eine demokratische Planung der Wirtschaft in der Hand eines ArbeiterInnenstaates entfaltet und die menschliche Umwelt umzuwandeln beginnt.

Deshalb ist der Kampf um die Umweltfrage eng mit dem für Organe der Selbstorganisation, der Kontrolle, der Selbstverteidigung der ArbeiterInnenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft verbunden. Das Problem der Zerstörung der menschlichen Umwelt macht auch ein Programm für einen Umweltnotplan zu einem zentralen Bestandteil des Kampfes für eine ArbeiterInnenregierung, letztlich die Errichtung von ArbeiterInnenmacht und den Übergang zum Sozialismus durch die proletarische Revolution notwendig.