Marxismus und Gewerkschaften

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 31, Herbst 2000

“Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.” (1)

Diese abschließende Bemerkung von Karl Marx aus dem Jahre 1865 – aus einer Rede, die später unter dem Titel “Lohn, Preis, Profit” bekannt wurde – ist sicher vielen Lesern und Leserinnen bekannt. Wir stellen sie an den Beginn unserer Ausführungen, da sie bereits wesentliche Bestimmungen der Haltung von Kommunisten zu den Gewerkschaften und kommunistischer Gewerkschaftsarbeit enthält.

Marx hat diese Rede sowohl als theoretischen Nachweis der Berechtigung des gewerkschaftlichen Kampfes wie seiner politischen Notwendigkeit gehalten. Sie war eine politische Demarkierung gegenüber zwei politischen Fehlern, die in der Arbeiterbewegung in den letzten 150 Jahren in verschiedenen Formen immer wieder auftraten – gegenüber dem Abstentionismus vom gewerkschaftlichen/ökonomischen Kampf und gegenüber dem “reinen” Gewerkschaftertum.

Abwehrorganisation und Sammlungspunkte des Widerstandes

Gewerkschaften sind aus dem Widerstand gegen die tag-täglichen Angriffe der Unternehmer hervorgegangen und Organisationen, um die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen abzumildern und kollektiv gegen den oder die Kapitalisten aufzutreten, um das Sinken das Arbeitslohns unter die Reproduktionskosten zu verhindern (bzw. überhaupt erst auf diese Höhe zu heben).

In dieser Hinsicht sind Gewerkschaften Sammelpunkte von Widerstand, wie jeder Streik, jeder Arbeitskampf eine “Schule” für den zukünftigen Kampf gegen die geballte Staatsgewalt ist. Solange die kapitalistische Produktionsweise existiert, ist der ökonomische Kampf mit den Unternehmern für die Arbeiterklasse unvermeidbar, ganz unabhängig davon, ob es dieser oder jener Lohnabhängige will oder nicht. Die Ursprünge der Gewerkschaften wie auch typisch gewerkschaftlicher Kampfformen (Streik) reichen daher auch in die Anfangszeiten der kapitalistischen Produktionsweise zurück.

Dieser aufgezwungene Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes zeigt sich auch daran, dass liberale und christlich-soziale Gewerkschaften trotz aller Appelle an “Vernunft”, “christliche Nächstenliebe” und “Produzentenverantwortung” des Kapitalisten zum Mittel des Streik greifen mussten, um ihrer Aufgabe als anti-sozialistische Konkurrenz zu den Freien Gewerkschaften im 19. Jahrhundert überhaupt nachkommen zu können. Um die eigentlichen Ursachen des gewerkschaftlichen Kampfes zu verstehen, ist jedoch ein Verständnis des Charakters der kapitalistischen Produktionsweise notwendig.

Trotz aller inneren Differenzierung des Proletariats, trotz seiner ständigen Umwälzung gemäß der Bewegung der Akkumulation, ist es in der kapitalistischen Produktionsweise als Klasse doppelt freier Lohnarbeiter immer durch zwei Charakteristika gekennzeichnet. Erstens ist die Arbeiterklasse frei von den Bindungen feudaler oder anderer vor-kapitalistischer Produktionsweisen. Zweitens ist sie frei vom Eigentum an den Produktionsmitteln der Gesellschaft. Ihr Arbeitsvermögen, ihre Arbeitskraft müssen die Arbeiter und Arbeiterinnen daher verkaufen. Nur so können sie die Waren kaufen, die zur Reproduktion des einzelnen Proletariers wie der gesamten Klasse notwendig sind.

Der Wert der Arbeitskraft ist wie der jeder anderen Ware durch die zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit bestimmt. Er tendiert daher immer zu jenem Wert, der dem der Waren entspricht, die für die Lebenserhaltung der Arbeiter und Arbeiterinnen dienen. Für Marx schließt das auch die Kosten für die Schaffung und Erhaltung zukünftiger Arbeiter und Arbeiterinnen ein, also auch für nicht erwerbstätige Familienangehörige und Kinder. Für unsere Ausführungen ist jedoch besonders bedeutsam, dass sich die Wertbestimmung der Arbeitskraft bei Marx an einem wichtigen Punkt von der Wertbestimmung anderer Waren unterscheidet:

“Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element. Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.” (2)

Kapitalist und Arbeiter verhalten sich am Arbeitsmarkt als formal gleiche Warenbesitzer zueinander. Wie in jedem Tauschakt versucht jeder das für ihn Beste zu erreichen und verfolgt nur seinen Eigennutz.

Der Kapitalist versucht, den Preis, den er für die Arbeitskraft, zahlt auf sein Minimum oder darunter zu drücken. Die Reduzierung unter sein Minimum bedeutet, dass die Arbeiterklasse physisch schneller “erschöpft” wird, als sie sich selbst reproduzieren kann. In den Frühphasen der kapitalistischen Produktion war ein großer Teil des gesamten Proletariats gezwungen, unter solchen Bedingungen zu existieren. Ähnliches gilt im Faschismus für große Teile der Arbeiterklasse, v.a. das System der Zwangsarbeit, oder auch für die halb-kolonialen Ausbeutungssysteme des imperialistischen Kapitals.

Der Kapitalismus als ein krisengeschütteltes System ist unfähig, das ganze Potential der Arbeitskraft kontinuierlich in die Produktion einzubinden. Als Resultat schafft er eine “industrielle Reservearmee”, die Arbeitslosen. Diese Reservearmee schrumpft oder wächst mit den Booms und Krisen des Kapitalismus.

All das zeigt schon, dass die formale Gleichheit des Kapitalisten mit dem Arbeiter einhergeht mit realer Ungleichheit, mit der Klassenspaltung der Gesellschaft. Die Arbeiter besitzen nur ihre Arbeitskraft, während das Kapital über das Monopol an den Produktionsmitteln verfügt. Daher wandelt sich das Bild der Freiheit und Gleichheit am Arbeitsmarkt, sobald die Arbeitskraft verkauft ist:

“Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warenaustausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe und Maßstab für sein Urteil über die Gesellschaft des Kapitals und der Lohnarbeit entlehnt, verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.” (3)

Mehr noch aus der formalen Gleichberechtigung der Ansprüche von Kapitalist und Arbeiter als Warenbesitzer, die gegeneinander ihre Ansprüche geltend zu machen versuchen, folgt, dass sich der Stärkere durchsetzen muss: Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt!

“Von ganz elastischen Schranken abgesehn, ergibt sich aus der Natur des Warenaustausches selbst keine Grenze des Arbeitstags, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.” (4)

Der individuelle Arbeiter ist dabei gegen den Kapitalisten immer in der ungünstigeren Position. Die Lohnabhängigen müssen zum Widerstand und zur Organisierung greifen, schon allein, um sich gegen ihren eigenen Ruin zu wehren und die Arbeitskraft überhaupt zu ihrem Wert verkaufen zu können. Die Organisierung der Arbeiter in Gewerkschaften wie der Lohnkampf überhaupt verletzten daher keineswegs das Wertgesetz und treiben auch nicht den Preis der Arbeitskraft über sein “natürliches Gleichgewicht” hinaus, wie es der neo-liberalen Doktrin zufolge geschehe. Im Gegenteil:

“Das Lohngesetz wird durch den gewerkschaftlichen Kampf nicht verletzt; im Gegenteil, er bringt es voll zur Geltung. Ohne den Widerstand durch die Trade-Unions erhält der Arbeiter nicht einmal das, was ihm nach den Regeln des Lohnsystems zusteht.” (5)

Die Tatsache, dass der Wert der Ware Arbeitskraft auch durch “moralische und historische” Elemente mitbestimmt, dass die Durchsetzung des Wertgesetzes den Lohnkampf durchaus mit einschließt, bedeutet auch eine klare Absage an alle Vorstellungen von einem starr vorgegebenen Lohnsystem, etwa einen fixen Preis der Arbeitskraft oder einen unverkürzten Arbeitsertrag.

Marx und Engels haben die Entstehung der Gewerkschaften gegen solche früh-sozialistischen oder Lassalleanischen Kritiken verteidigt. Viele Frühsozialisten hatten argumentiert, dass der Preis der Arbeitskraft als fixe Größe zu betrachten sei, sodass jede Lohnsteigerung unwillkürlich von einer Steigerung der Warenpreise kompensiert würde. Daher müsste jeder Sieg an der Lohnfront unwillkürlich im Nichts enden und alle Mühen der streikenden und demonstrierenden Arbeiter wären vergebens.

Bei solchen Auffassungen – egal ob im Lasselleanischen oder frühsozialistischen Gewand – ist natürlich kein Platz für den gewerkschaftlichen Klassenkampf. Er wird als Ablenkung von der Verwirklichung eigener Patentrezepte betrachtet – so die Lasselleanischen Staatshilfe zur Durchsetzung des “unverkürzten” Arbeitsertrags oder zur Proudhonschen Tauschbank. Auch wenn sich solche Weisheiten zeitweilig großer Popularität erfreuen durften (oder dürfen), so tragen sie immer eine sektenhaften Charakter, dem der Wunsch Pate steht, den Werdegang der Arbeiterbewegung nach illusorischen Vorstellungen über die kapitalistische Produktionsweise zu modeln.

Die Methode von Marx und Engels (wie aller großer marxistischer Autoren und Autorinnen) war dieser ganz und gar entgegengesetzt. Der gewerkschaftliche Kampf war von ihnen nicht erfunden worden. Es galt vielmehr seine innere Widersprüchlichkeit und seinen Stellenwert im Befreiungskampf der Arbeiterklasse zu bestimmen.

Die Marx’sche Entgegnung gegen die früh-sozialistischen Kritiker des Lohnkampfes bezog sich daher auf mehrere Ebene. Er wies ihnen eine zu Wesen und Erscheinung des Kapitalismus in Widerspruch stehende Vorstellung des Verhältnisses von Arbeitslohn und Preisen für andere Produkte nach. Andererseits greift er ihre Vorstellung auf und wendet sie gegen sie. Wenn der Arbeitslohn wirklich eine konstante Größe wäre, die über ein bestimmtes Niveau nicht hinaus könne, so dürfe er im Verhältnis zu den Warenpreisen auch nicht fallen.

Diese Fortsetzung des Gedankens frühsozialistischer Theoretiker (beispielsweise durch Anhänger Owens in der Gründungsphase der Ersten Internationale), der so manchem “Linksradikalen” auch heute noch leicht von den Lippen geht, zeigt, wie offenkundig absurd die Vorstellung eines konstanten Lohn-Preis-Verhältnisses ist.

Marx weist darauf jedoch nicht nur hin, um die Frühsozialisten zu blamieren. Er macht vor allem auf einen Punkt aufmerksam, der von der Geschichte des gewerkschaftlichen Kampfes eindeutig bestätigt wurde. Der Kampf um ausreichende Löhne, Begrenzung des Arbeitstages, Arbeitsschutz, Verbot von Kinderarbeit usw. also um alle ökonomischen Forderungen ist seinem Wesen nach ein reaktiver Kampf. Das folgt aus dem Verhältnis von Kapitalakkumulation und Lohnbewegung selbst – die Lohngröße (Gesamtsumme der Löhne der Klasse) ist abhängig von der Größe der Akkumulation.

“Das Verhältnis zwischen Kapital, Akkumulation und Lohnrate ist nichts als das Verhältnis zwischen der unbezahlten, in Kapital verwandelten Arbeit und der zur Bewegung des Zusatzkapitals erforderlichen zuschüssigen Arbeit. Es ist also keineswegs ein Verhältnis zweier voneinander unabhängigen Größen, einerseits der Größe des Kapitals, andrerseits der Zahl der Arbeiterbevölkerung, es ist vielmehr in letzter Instanz nur das Verhältnis zwischen der unbezahlten und der bezahlten Arbeit derselben Arbeiterbevölkerung. Wächst die Menge der von der Arbeiterklasse gelieferten und von der Kapitalistenklasse akkumulierten, unbezahlten Arbeit rasch genug, um nur durch einen außergewöhnlichen Zuschuß bezahlter Arbeit sich in Kapital verwandeln zu können, so steigt der Lohn, und alles andre gleichgesetzt, nimmt die unbezahlte Arbeit im Verhältnis ab. Sobald aber diese Abnahme den Punkt berührt, wo die das Kapital ernährende Mehrarbeit nicht mehr in normaler Menge angeboten wird, so tritt eine Reaktion ein: ein geringerer Teil der Revenue wird kapitalisiert, die Akkumulation erlahmt, und die steigende Lohnbewegung empfängt einen Gegenschlag. Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern. Das in ein Naturgesetz mystifizierte Gesetz der kapitalistischen Akkumulation drückt also in der Tat nur aus, daß ihre Natur jede solche Abnahme im Exploitationsgrad der Arbeit oder jede solche Steigerung des Arbeitspreises ausschließt, welche die stetige Reproduktion des Kapitalverhältnisses und seine Reproduktion auf stets erweiterter Stufenleiter ernsthaft gefährden könnte.” (6)

Marx bestimmt an diese Stelle sowohl das Verhältnis von Lohnbewegung und Akkumulation wie er gleichzeitig die Grenzen des Lohnkampfes ausmacht. Die gewerkschaftliche Arbeit – so unentbehrlich sie auch ist – darf daher nicht auf den “Kleinkrieg” mit dem Kapital beschränkt bleiben.

Gewerkschaftliches Bewusstsein

Marx und Engels betrachteten die Gewerkschaften als einen bedeutenden ersten Schritt für die Arbeiterklasse nicht nur in der Werdung von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich, die sich ihrer Bedürfnisse und Ziele bewusst ist. In “Die Lage der arbeitenden Klasse in England” nimmt Engels positiv zur Entstehung der Gewerkschaften Stellung. Er begrüßt sie, weil sie eine praktische Wirkung haben und sie überhaupt die Reproduktion und Kampffähigkeit der Klasse einigermaßen sichern. Die Arbeiter, so Engels, haben hier den wunden Punkt der Bourgeoisie getroffen, wenn sie ihr mit Streiks die Möglichkeit zur Profitmacherei entziehen.

Er zieht gleichzeitig die Schlussfolgerung, dass zum Sturz der bürgerlichen Herrschaft mehr als nur Gewerkschaften und Streiks notwendig sein werden (und zwar Arbeiterpartei – Chartismus – und Aufstand). Vor allem erblickt er die “eigentliche Wichtigkeit” nicht im Erfolg dieses oder jenes Kampfes, sondern im “Versuch der Arbeit, die Konkurrenz aufzuheben. Sie (die Gewerkschaften, Anm. d. Red.) setzen die Einsicht voraus, daß die Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich beruht.” (7) Engels prägt hier auch das später von Kommunisten und Kommunistinnen immer wieder erhobene Schlagwort, dass Streiks und Gewerkschaften “Kriegsschulen der Arbeiter” (8) sind bzw. werden sollen.

Gewerkschaften repräsentieren den ersten, direktesten Versuch der Arbeiter, die Angriffe des Kapitals auf ihre unmittelbarsten Interessen unwirksam zu machen. Ihre Essenz, Vereinigung und Solidarität, ist der Beginn des Klassenbewusstseins. Trotzdem sind sie nur ein beschränkter und einseitiger Versuch, den Angriffen des Kapitals Einhalt zu bieten.

Marx und Engels waren zwar glühende Verteidiger der Notwendigkeit von Gewerkschaften, aber sie waren keineswegs für die Schwächen und Unzulänglichkeiten diese Organisationen und ihrer Führer blind. Würden sich Gewerkschaften nur auf den Kleinkrieg beschränken, würden sie ihren eigentlichen Sinn, d.h. ihre Rolle für den Kampf gegen das System der Lohnarbeit, verlieren.

Marx fasst seine Perspektiven für die Arbeit und Analyse der Gewerkschaften in seinen “Instruktionen für die Delegierten des Zentralrats” zusammen, die er für den ersten Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation im September 1866 in Genf verfasste und die dort als Bericht des Zentralrates der Internationale verlesen wurden.

Ein Teil widmete sich speziell den Gewerkschaften (Gewerksgenossenschaften). Er wurde gegen den Widerstand der Anhänger Proudhons, die immerhin ein Drittel der Delegierten stellten, angenommen.

Marx kritisiert darin die Gewerkschaften und wirft ihnen vor, sich “zu ausschließlich mit dem lokalen und unmittelbaren beschäftigt und noch nicht vollständig begriffen zu haben, welche Kraft sie im Kampf gegen das System der Lohnsklaverei selbst darstellen.” Sie hätten sich deshalb “zu fern von allgemeinen sozialen und politischen Bewegungen gehalten.” Sie müssten nun lernen “bewusst als organisierende Zentren der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation.” Sie müssen versuchen, “Außenstehende in ihre Reihen zu ziehen, sich um die Interessen der am schlechtesten bezahlten Gewerbe kümmern.”

Marx schließt das Kapitel mit einem flammenden revolutionären Appell an die Gewerkschaften: “Sie müssen die ganze Welt zur Überzeugung bringen, daß ihre Bestrebungen, weit davon entfernt, begrenzte und selbstsüchtige zu sein, auf die Emanzipation der unterdrückten Millionen gerichtet sind.” (9)

Marx und Engels kombinieren diese Perspektive mit einer Kampagne zur verstärkten Politisierung der Arbeiterbewegung. Sie stellen dabei nicht nur die zentrale Bedeutung des revolutionären Endziels, der sozialistischen Revolution auf. Sie treten insbesondere dafür ein, zentrale politische Fragen der 1860er Jahre mit dem gewerkschaftlichen Kampf zu verbinden: die Frage der Immigration und der Konkurrenz zwischen den Arbeitern verschiedener Länder, die Unterstützung der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg, die Befreiung Polens, die Unabhängigkeit Irlands.

Es ist kein Zufall, dass die Erste Internationale an diesen Fragen des Internationalismus nach der Niederlage der Pariser Kommune zerbrach. Es zeigt jedoch sehr deutlich, dass Marx und Engels nie Freunde des “reinen” Gewerkschaftertums waren und ebenso wenig auf die “automatische” Politisierung der Gewerkschaften hofften.

Dass sich die Gewerkschaften zu sehr auf den Tageskampf konzentrieren, war ja nicht das Resultat bösen Willens, sondern spiegelte auch den Charakter des ökonomischen Kampfes wider. Dieser spielt sich in der Regel im Rahmen des Systems ab, wie Marx und Engels selbst erkannten und auch als Ausgangspunkt akzeptierten. Das folgt aus ihrer eigenen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise.

Auf dem Arbeitsmarkt treten Lohnarbeiter und Kapitalist (bzw. Gewerkschaften und Unternehmerverbände) als Warenbesitzer gegenüber, als Käufer und Verkäufer der Arbeitskraft. Dieses Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer erscheint jedoch notwendigerweise in mystifizierter Form. Es scheint als würde der Kapitalist nicht den Wert der Arbeitskraft, sondern die gesamte, vom Arbeiter verrichtete Arbeit bezahlen. Es “verschwindet” die Mehrarbeit. “Ausbeutung” erscheint hier nur als Abzug vom “gerechten Lohn”, nicht als systematische Aneignung fremder Arbeit durch den Kapitalisten. Diese Verwandlung des Werts der Ware Arbeitskraft in den Arbeitslohn hat nachhaltige Auswirkungen auf das Bewusstsein der Arbeiter wie der Kapitalisten.

“Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.” (10)

Es folgt daraus auch, warum aus dem ökonomischen Kampf um höhere Löhne, Arbeitszeitverkürzung etc. revolutionäres Klassenbewusstsein nicht organisch erwachsen kann, warum revolutionäres Klassenbewusstsein “von außen”, d.h. auf der Grundlage einer wissenschaftlich fundierten Doktrin in die Arbeiterklasse hineingetragen werden muss.

Diesen Gedanken wiederholt Lenin später eindruckvoll in “Was Tun?”, wenn er die Grenzen des spontanen wirtschaftlichen Kampf, des reinen Gewerkschaftertums herausarbeitet. An sich waren die Gewerkschaften keine Agenturen für die Beseitigung des Kapitalismus selbst. Hier liegt die historische Beschränktheit des “reinen Gewerkschaftlertums”. Dennoch, sie dienen und dienten als Zentren für die Organisierung der Arbeiterklasse als eine Klasse im Kapitalismus. Es war dieses dialektische Verständnis des Charakters der Gewerkschaften, auf der die marxistische Tradition ihre Strategie und Taktiken für ihre Arbeit in den Gewerkschaften entwickelte. Rosa Luxemburg bekräftigte die Position von Marx und Engels über die bedeutende, aber begrenzte Wirksamkeit der Gewerkschaftsaktion:

“In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der gewerkschaftliche Kampf in eine Art Sisyphusarbeit. Diese Sisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter überhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdrückende Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert oder, genauer, abgeschwächt werden.” (11)

1903 entwarf Lenin eine Resolution für den Zweiten (Londoner) Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der eine “klassisch” marxistische Position zu den Gewerkschaften zeigt:

“Der Parteitag hält es für unbedingt notwendig, den wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter und ihrer Gewerkschaftsverbände (in erster Linie die gesamtrussischen) in allen Fällen mit allen Mitteln zu unterstützen und zu fördern und den sozialdemokratischen Charakter des wirtschaftlichen Kampfes und der gewerkschaftlichen Bewegung der Arbeiter in Rußland von allem Anfang an zu festigen.” (12)

Lenin hob gegen die Ökonomisten die integrationistischen Tendenzen des ökonomischen Kampfes hervor und betonte die Gefahr, dass die Marxisten jeden Versuch aufgeben, diesem Kampf einen “sozialdemokratischen Charakter” zu geben. “Reines Gewerkschaftlertum” bedeutet nicht “unpolitisch” oder “neutral” zu sein, sondern führt notwendigerweise dazu, die Politik bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kräften zu überlassen. Es bedeutet, die bürgerlichen Vorstellungen in der Arbeiterklasse nicht zu bekämpfen. Der Ökonomismus ist daher für Lenin und die Bolschewiki selbst eine Form bürgerlicher Politik und repräsentiert den Einfluss der Ideen der herrschenden Klasse im Proletariat. Die Erfahrung der britischen und amerikanischen Gewerkschaftsbewegung im 19. Jahrhundert bestärkte Lenins Sicht.

Der bürgerliche Kern dieses Bewusstseins kann am besten anhand der politischen Enthaltsamkeit des Trade-Unionismus verdeutlicht werden, dem Bestreben, die Arbeiter auf ökonomische Fragen zu fixieren und damit die “große Politik” den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien zu überlassen. Das ist genau nicht die Aufgabe von Revolutionären. Sie besteht vielmehr darin, das trade-unionistische Bewusstsein zu bekämpfen. Dazu Lenin in “Was Tun?”:

“Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Mißbrauch zu reagieren, welche Klasse diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewußtsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewusstsein sein, wenn die Arbeiter nicht an konkreten und dazu brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden.” (13)

D.h. auf allen Stufen der Entwicklung des Kapitalismus besteht die Aufgabe von Revolutionären, von Kommunisten darin, die Aufmerksamkeit, das Bewusstsein, die Aktivität der Arbeiter im Betrieb, in Gewerkschaften über diesen Rahmen hinaus zu heben und auf politische Fragen, Gesetze, die Regierungsfrage, internationale Probleme usw. zu richten und die Notwendigkeit zu verdeutlichen, dass die Arbeiterbewegung dazu Stellung beziehen muss.

Die Kritik Lenins gewann dadurch zusätzliche Schärfe, als der Ökonomismus gerade bei großen Ereignissen (Kriege, Krisen, usw.) eine verheerende Rolle spielte. Er erkannt auch, dass das reine Gewerkschaftertum immer eine bremsende, den Bewusstwerdungsprozess der Klasse blockierende Rolle spielen muss und dass das besonders fatal ist, wenn und sobald sich die Klasse in Richtung spontane revolutionäre Aktion bewegt. Lenin war sich dessen 1902 und in der Flut der Revolution von 1905 bewusst. Er vergaß sogar während dieser Flut nicht die Bedeutung der bewussten Intervention von Revolutionären.

“Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch; und mehr als zehn Jahre von Sozialdemokraten beigetragene Arbeit haben einen großen Beitrag dazu geleistet, diese Spontaneität in Bewußtsein umzuwandeln” (14)

Dieses Zitat kann schwerlich als Beleg für eine grundlegende Korrektur der Leninschen Sicht des Verhältnisses von Spontaneität und Bewusstsein herhalten.

Für Lenin besteht die spezifische Aufgabe von Revolutionären – sei es im gewerkschaftlichen Kampf oder bei anderen Massenkämpfen – “die Spontaneität in Bewußtsein umzuwandeln”. Es ist kein Zufall, dass die Bolschewistische Partei Lenins in der russischen Revolution als Einzige fähig war, den revolutionären Drang des Proletariats zu bündeln und die Klasse zur Revolution zu führen. Die verschiedenen Anbeter der “Spontaneität” (bzw. ihre Nachfolger) blieben hinter den Bedürfnissen der Klasse und hinter den von der Revolution gestellten Aufgaben zurück, wurden im Strom der Ereignisse mitgerissen oder stellten sich gegen die spontan revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse.

Lenin und die Bolschewiki konnten die Oktoberrevolution nur siegreich zu Ende führen, weil sie über eine korrektes, marxistisches Verständnis der Entwicklung von revolutionärem Klassenbewusstsein verfügten. (15)

Arbeiteraristokratie und Gewerkschaftsbürokratie

“Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in jedem Land ist nicht nur die Geschichte von Streiks und im allgemeinen von Massenbewegungen; sie ist auch die Geschichte der Entstehung der Gewerkschaftsbürokratie.” (16)

Marx und Engels Verständnis der Gewerkschaften wurde während ihrer Tätigkeit in der Internationalen Arbeiterassoziation voll entwickelt. In dieser Periode arbeiteten sie eng mit den englischen Gewerkschaftsführern zusammen. Diese spielten eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der Internationale. Die frühen 60er Jahre im 19. Jahrhundert sahen eine mächtige Wiederbelebung der Aktivitäten der Arbeiterklasse in Britannien.

Streiks in den Minen von Staffordshire, der Metallarbeiter in South Yorkshire und der Bauarbeiter in den Midlands zeugten von neuer Militanz. Gewerkschaftsverbände entstanden in London, Birmingham, Glasgow und vielen anderen Städten. Die Gewerkschaftsführer, hauptamtliche Sekretäre der Vereinigungen von Facharbeitern und angelernten Arbeitern, machten bedeutende Schritte (die Bildung des britischen Trade Union Congress), die Gewerkschaften als landesweite Bewegung zu zentralisieren.

Eine Arbeiterpresse entstand auf nationaler und lokaler Ebene. Ein gestiegenes politisches Bewusstsein manifestierte sich in einer breiten Gewerkschaftsunterstützung für den italienischen Vereinigungskampf. Garibaldi wurde ein großartiger Empfang in London bereitet. Gewerkschaftliche Solidarität und Sympathie wurden der Union im amerikanischen Bürgerkrieg entgegengebracht. Aktivitäten im Kampf für das Wahlrecht und gegen die noch immer legalen Sanktionen des Master and Servant Law brachten eine zeitweilige Radikalisierung in diese Gewerkschaften der Facharbeiteraristokratie.

Wer war diese Arbeiteraristokratie? E.J. Hobsbawn schätzt, dass sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungefähr zwischen 10 und 20% der britischen Arbeiterklasse ausmachte. Ihre Löhne waren durchschnittlich doppelt so hoch als jene der ungelernten Arbeiter, in einigen Industrien dürften sie das Drei- oder Vierfache erreicht haben. Mit der teilweisen Ausnahme der Textilarbeiter und der Bergarbeiter war es eine privilegierte Schicht von angesehenen Handwerkern, die an der Ersten Internationale teilnahmen. Harrison stellte fest, dass das zentrale Paradoxon der Internationale war, dass sie den Standpunkt der ganzen Arbeiterklasse ausdrückte, während sie sich auf die organisatorische Unterstützung der Arbeiteraristokratie stützte (17).

Die Stärke der Arbeiteraristokratie in Britannien hatte auch politische Auswirkungen. Nach der Phase des politischen Aufschwungs markierte die Niederlage der Pariser Kommune auch eine Trendwende in der Ersten Internationale, mit der nicht nur der Kampf gegen die Anarchisten an Schärfe zunahm. Die britischen Gewerkschaften wurden mehr und mehr in die bürgerliche Politik hineingezogen und bildeten einen rechten Flügel der Internationale, der Marx und Engels revolutionäre Tätigkeit nach der Niederlage der Arbeiterbewegung am Kontinent immer feindlicher gegenüber stand.

Zusammen mit dem notwendigen Streit mit den Anarchisten musste diese Entwicklung zum Zerfall der Ersten Internationale führen. Sie zwang Marx und Engels gleichzeitig, die Ursachen für die starken bürgerlichen Tendenzen in der britischen Gewerkschaftsbewegung und die Rolle der Arbeiteraristokratie zu untersuchen. Dadurch legten sie wesentliche Grundlage für die spätere Arbeit von Lenin und Trotzki. Marx und Engels erlebten selbst eine Periode bedeutender Veränderung der Position der Gewerkschaftsführer und der Arbeiteraristokratie, auf die sie sich stützte.

Der Reform Act von 1867 gab der oberen Schicht der Arbeiterklasse das Wahlrecht, während die meisten männlichen Arbeiter und alle Frauen weiter von diesem politischen Recht ausschloss. Zusätzlich gab das Gewerkschaftsgesetz von 1871 den Gewerkschaften einen breiten Rahmen der gesetzlichen Anerkennung. Die im Vergleich zur großen Masse des Proletariats privilegierte soziale Stellung und mit den beiden Gesetzen erlangten politischen Rechte reichten aus, um die Arbeiteraristokratie und die Gewerkschaften zu beschwichtigen und an die Liberalen zu binden.

1873 war zugleich der Beginn einer langen Krise und wirtschaftlichen Stagnation. Aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit wurde es schwieriger, die ungelernten Arbeiter zu organisieren. Als Konsequenz blieben die organisierten Arbeiter das einzige Reservat für die liberalen Arbeiteraristokraten. 1869 wurde die Labour Representation League als direkter Ausdruck dieses liberalen Labourismus gebildet. Sie setzte sich selbst die Aufgabe, “utopische Theorien und illusionäre Hirngespinste zu vermeiden und die Interessen der arbeitenden Männer mit jenen der ganzen Gesellschaft in Harmonie zu bringen.”

Schon in der Ersten Internationale war Marx und Engels die politische Rückständigkeit der Arbeiterbewegung in England bewusst. Engels schrieb nach den ersten Wahlen, dass sich das Proletariat fürchterlich diskreditiert hätte, nachdem es keine eigenen Kandidaten aufgestellt und stattdessen die Liberalen unterstützt hatte.

Marx sah eine bedeutende Wurzel dieser politischen Schwäche in der Unterdrückung Irlands. Diese und die Angst vor Konkurrenz durch die irischen Arbeitsimmigranten unterstützten den Chauvinismus unter den englischen Arbeitern und banden sie an ihre eigenen Ausbeuter.

“Und das Wichtigste! Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterkasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit die soziale Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor whites zu den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer pays him back with interest in his own money (zahlt es mit gleicher Münze zurück). Er sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.

Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Es ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztere ist sich dessen völlig bewußt.” (18)

Marx zieht daraus die Schlussfolgerung, dass ohne eine Unterstützung des nationalen Unabhängigkeitskampfes Irlands die soziale Befreiung der englischen Arbeiterklasse unmöglich ist. Das ist auch der Grund, warum von Marx und Engels auf nationalen wie internationalen Kongressen der Arbeiterbewegung immer wieder der nationale Befreiungskampf Irlands oder Polens in den Mittelpunkt stellten. Ohne konsequente revolutionäre internationale Politik würde sich die Arbeiterklasse auch nicht von der politischen Abhängigkeit von der herrschenden Klasse im “eigenen” Land befreien können.

In den letzten Jahren der Internationalen Arbeiterassoziation verurteilte Marx offen die Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaftsführer. Er stellte fest, dass sich die industriellen Arbeiter “vor allem ihre jetzigen Führer vom Leib schaffen” (19) müssten, bevor irgendein Fortschritt gemacht werden kann.

In den späten 1870er und 1880er Jahren dominierten der liberale Labourismus und ein unterwürfiges zunftorientiertes Gewerkschaftertum die britische Arbeiterbewegung fast uneingeschränkt. Engels analysiert die Wurzeln dieses Phänomens. Bereits 1858 stellte er in der englischen Arbeiterbewegung eine Tendenz zur Verbürgerlichung fest, die sich in Versuchen des Chartistenführers Jones manifestierte, eine Allianz mit dem radikalen Bürgertum zu bilden.

“Mir scheint übrigens Jones new move (neuer Schritt), in Verbindung mit den früheren mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen einer solchen Allianz, in der Tat damit zusammenzuhängen, daß das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so daß diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und eine bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings einigermaßen gerechtfertig. Hier können nur eine paar grundschlechte Jahre helfen, und diese scheinen seit den Goldentdeckungen so leicht nicht mehr herzustellen.” (20)

Engels verbindet hier die Verbürgerlichung der Arbeiterklasse, ja deren Unvermeidlichkeit, mit Englands dominierender Stellung auf dem Weltmarkt. Zur gleichen Zeit beobachtete er, dass die “englische Proletarier-Bewegung in der alttraditionell-chartistischen Form ganz zugrunde gehen muß, ehe sie sich in einer neuen, lebensfähigen Form entwickeln kann”. (21)

Engels bekräftigt diese Sicht in späteren Briefen und erblickt in der Teilhabe der (privilegierten Teile der britischen Arbeiterklasse) am Kolonialsystem die Quelle ihrer politische Rückständigkeit:

“Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken: dasselbe, was die Bourgeois davon denken. Es gibt hier ja keine Arbeiterpartei, es gibt nur Konservative und Liberale, und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands.” (22)

In einem Brief an August Bebel im folgenden Jahr geht er von anderer Seite an die Fragestellung heran. “Und eine wirklich allgemeine Arbeiterbewegung kommt hier – von Unerwartetem abgesehn – nur zustande, wenn den Arbeitern fühlbar wird, daß Englands Weltmonopol gebrochen. Die Teilnahme an der Beherrschung des Weltmarkts war und ist die ökonomische Grundlage für die politische Nullität der englischen Arbeiter.” (23)

Gleichzeitig erkannte Engels, dass die Auswirkungen dieser Vorherrschaft nicht in der ganzen Arbeiterklasse gleich waren.

In seinen Schriften in William Morris Zeitschrift “Commonwealth” ließ Engels die Entwicklung vom revolutionären Chartismus bis zur Verbürgerlichung Revue passieren. Im Detail hob er hervor, dass die Bedingungen der Facharbeiter in den großen Gewerkschaften sich “seit 1848 merkwürdig verbessert” haben und er fuhr fort, dass das “der beste Beweis dafür ist, dass seit mehr als fünfzehn Jahren nicht nur ihre Beschäftiger mit ihnen, sondern auch sie mit ihren Beschäftigern äußerst zufrieden gewesen sind. Sie bilden eine Aristokratie in der Arbeiterklasse; sie haben es fertig gebracht, sich eine verhältnismäßig komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren sie als endgültig.” (24)

Die Teilhabe der Arbeiteraristokratie (und bis zu einem gewissen Grad auch der Masse des englischen Proletariats) am Kolonial- und Weltmarktmonopol ist bei Engels selbst nicht “automatisch” gegeben, sondern Resultat erfolgreicher ökonomischer Kämpfe, womit er sich auch von allen späteren banalisierenden “Bestechungstheorien” der Arbeiteraristokratie abhebt.

Arbeiteraristokratie wird eine bestimmte Schicht der Klasse nicht, weil sich die Bourgeoisie zur Bestechung entschließt, sondern weil sie aufgrund ihrer ökonomischen Stellung (große Konzentration, relativ frei von Konkurrenz durch andere Arbeiter, Expansion einer bestimmten Branche, Weltmarktstellung des Kapitals) gute Karten im ökonomischen Kleinkrieg hat. Der ökonomische Verteilungskampf ist also der Hebel, durch den die Arbeiteraristokratie den Verkauf der Arbeitskraft zu relativ hohem Lohn und relativ sicheren Arbeitsbedingungen durchsetzen kann (was wiederum nur geht, wenn das exploitierende Kapital anderswo Extraprofite erzielen kann).

Aber Engels verwies auch auf das mögliche, ja notwendige Ende der Bindung der Arbeiterklasse an die britische Bourgeoisie. Das Monopol Englands am Weltmarkt konnte nur vorübergehender Natur sein, da einerseits andere Kapitale versuchen würden, es Britannien streitig zu machen und andererseits auch das britische Kapital nicht einfach mit einem bestimmten Stand der Weltmarktbeherrschung zufrieden sein konnte. Die kapitalistische Produktionsweise erfordert die weitere Expansion des Kapitals, d.h. Ausdehnung des Weltmarktes, nicht bloß Erhalt des bisher Erreichten. Jede Stagnation, ganz zu Schweigen von einem Schrumpfen des Weltmarktes musste daher die industrielle Produktion in Britannien ins Stocken bringen und damit auch den Klassenkompromiss zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

Innerhalb des Stadiums der chronischen Stagnation nach 1876, einer Periode, die weder einen vollständigen Zusammenbruch noch eine Rückkehr zur Prosperität mit sich brachte, sah Engels den Beginn einer neuen Periode des Kapitalismus. Er erwartete, dass diese durch die Zusammenstöße von verschiedenen industriellen Mächten, Britannien, Deutschland, Frankreich und Amerika, charakterisiert sein würde, in denen Britannien sein Weltmarktmonopol verlieren würde.

Während es von ihm nicht erwartet werden konnte, die imperialistische Epoche theoretisch vorauszuahnen, erkannte er ihre herausragenden Merkmale, im Speziellen die neue Rolle der Führer der Arbeiterbewegung. Es waren diese Führer, die die Ausdehnung der Gewerkschaftsorganisation auf ungelernte männliche Arbeiter und auf die Frauen durch ihre berufsständische Borniertheit verhinderten.

Diese Herangehensweise verhinderte nicht nur das Wachstum der Gewerkschaften, sondern gefährdete auch die Organisierten und unterminierte ihre Kampfkraft, indem die Kapitalisten ein immer größeres Reservoir potentieller Streikbrecher vorfanden. Gleichzeitig hatte der Reform Act von 1867 erstmals eine große Wählerschaft aus der Arbeiterklasse geschaffen. Die Bourgeoisie änderte daraufhin ihre Strategie. Von offener Feindschaft und legalem Zwang wechselte sie dazu, die Führer der Gewerkschaften zur Einbindung der Arbeiterklasse zu nutzen. Zuerst diente dazu der radikale Flügel der Liberal Party.

Engels bemerkte die reichliche Aufmerksamkeit, die den Gewerkschaftsführer nach 1867 zuteil wurde.

“Von da an wurden die Vorsitzenden und Sekretäre der Trade-Unions und politischen Arbeitervereine, sowie sonstige bekannte Arbeiterredner, denen man Einfluß auf ihre Klasse zutrauen durfte, auf einmal wichtige Leute; sie erhielten Besuche von Parlamentsmitgliedern, von Lords und anderm vornehmen Gesindel, …” (25).

Diese Aufmerksamkeit der bürgerlichen Klasse für die Vertreter des Proletariats schmeichelt diesen nicht nur, sie erzeugte, wie Engels bemerkte, fast naturwüchsig bei diesen Führern den Wunsch, ins Parlament gewählt zu werden. Das wäre auch nicht tragisch, ja sogar ein Fortschritt gewesen, wenn sie auf der Basis einer eigenständigen Kandidatur der Arbeiterbewegung und wenigsten mit dem Programm der Chartisten, deren radikal-demokratischen Forderungen angetreten wären. Doch die “Arbeiterführer” zogen es vor, nicht als offene Repräsentanten ihrer Klasse, sondern durch ein Geschäft mit den Liberalen, zu Stimmen und Geld zu kommen.

“Damit aber hörten sie auf, Arbeiterkandidaten zu sein, und verwandelten sich in Bourgeoiskandidaten. Sie appellierten nicht an eine neu zu bildende Arbeiterpartei, sondern an die bürgerliche ‚große liberale Partei‘.” (26)

In anderen Worten: sie wurden Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterklasse. Der Klassencharakter ihrer Politik zeigte sich klar in ihren Vorbereitungen für die Wahlen 1874. In einer Versammlung unter dem Vorsitz von Morley, einem führenden liberalen Manufakturbesitzer und Millionär, entwarfen die Gewerkschaftsführer und Labour Journalisten ein “‘Arbeiterprogramm’, das jeder Bourgeois unterschrieben konnte und das die Grundlage einer gewaltigen Bewegung bilden sollte, um die Arbeiter politisch noch enger an die Bourgeoisie zu ketten”. (27)

Engels war sich klar, dass die Passivität der Arbeiterklasse in England nicht vollständig durch die Verbürgerlichung der Arbeiteraristokratie und die Korruption der Gewerkschaftsspitzen und sonstigen Arbeiterführer durch die Bourgeoisie erklärt werden konnte. Er führte als zusätzliche Faktoren die Struktur der Gewerkschaften und das Fehlen politischer Diskussion (d.h. von Klassenpolitik) an. Die Ausgrenzung der Masse der Arbeiter und Arbeiterinnen verringerte auch den Horizont der organisierten Minderheit. Innerhalb der Gewerkschaften war es notwendig, gegen das vorherrschende ökonomistische politische Verständnis der Arbeiter anzukämpfen und sie zum Kampf für die Emanzipation der ganzen Arbeiterklasse zu gewinnen. Das bedeutet die Ungelernten, die große Mehrheit der Arbeiterklasse zu organisieren.

Die konservative Struktur des existierenden Gewerkschaftlertums musste aufgebrochen und neue Gewerkschaften gebildet werden. Nur so konnte eine neue sozialistische Führung der Arbeiterklasse geschaffen werden, um die bürgerlichen Führer zu ersetzen und eine revolutionäre Arbeiterpartei zu schaffen. Daher begrüßte Engels auch enthusiastisch die Entstehung von Gewerkschaften der ungelernten Arbeiter im Londoner Eastend in den 1890er Jahren.

“Das Ostend hat seine starre Verzweiflung abgeschüttelt; es ist dem Leben wiedergegeben und ist die Heimat des ‚Neuen Unionismus‘ geworden, d.h. der Organisation der großen Masse ‚ungelernter‘ Arbeiter. Diese Organisation mag in mancher Beziehung die Form der alten Unionen von ‚gelernten‘ Arbeitern annehmen; sie ist dennoch wesentlich verschieden dem Charakter nach. Die alten Unionen bewahren die Traditionen der Zeit, wo sie gegründet wurden; sie sehn das Lohnsystem für eine ein für allemal gegebne, endgültige Tatsache an, die sie im besten Fall im Interesse ihrer Mitglieder etwas mildern können. Die neuen Unionen dagegen wurden zu einer Zeit gegründet, wo der Glaube an die Ewigkeit des Lohnsystems schon gewaltig erschüttert war. Ihre Gründer und Beförderer waren entweder bewußte oder Gefühlssozialisten; die Massen, die ihnen zuströmten und in denen ihre Stärke ruht, waren roh, vernachlässigt, von der Aristokratie der Arbeiterklasse über die Achsel angesehn. Aber sie haben diesen unermeßlichen Vorteil: Ihre Gemüter sind noch jungfräulicher Boden, gänzlich frei von den ererbten, ‚respektablen‘ Bourgeoisvorurteilen, die die Köpfe der bessergestellten ‚alten‘ Unionisten verwirren.” (28)

Engels ist dabei keineswegs blind gegenüber den “kolossalen Böcken”, die die neue Gewerkschaftsbewegung geschossen hat, er ist keineswegs unkritisch gegenüber der unzureichenden Kenntnis des wissenschaftlichen Sozialismus auf Seiten ihrer Führer – aber sie verkörpern die Zukunft der Arbeiterbewegung im England das ausgehenden 19. Jahrhunderts und einen wichtigen Schritt zur Schaffung einer Klassenpartei des Proletariats, wie sich an den Kandidaturen von James Keir Hardie und John Burns zeigt.

Marx und Engels entwickelten durch ihre aktive Einbindung in die britische Arbeiterbewegung die grundlegenden Elemente einer zusammenhängenden Position über den Charakter und die Rolle der Gewerkschaften. Weiteres analysierten sie die Ursachen und Merkmale der Eingliederung der Gewerkschaften in den Kapitalismus. Gegen Ende seines Lebens erarbeitete Engels, wie wir sehen werden, Kampfmethoden die gegen bürgerlichen Arbeiterführer.

Die Vervollständigung dieser Aufgabe fiel jedoch einer nächste Generation von Marxisten zu, Theoretikern und Revolutionären wie Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki. In der Periode zwischen Engels Tod und der Gründung der Kommunistischen Internationale konzentrierten sich die Auseinandersetzungen um das Verhältnisses zwischen der Gewerkschaftsaktion und dem Kampf für den Sozialismus auf Deutschland und England, jene zwei Länder in denen sich die Massengewerkschaften entwickelten bzw. entwickelt hatten. In beiden Ländern entwickelte sich auch eine mächtige Gewerkschaftsbürokratie.

In Deutschland war sie fähig, sich von der Dominanz des Marxismus zu befreien und sogar den marxistischen Einfluss in der sozialdemokratischen Partei zu überwinden. In Britannien war sie fähig, die revolutionären Marxisten zu isolieren und den Druck der Arbeiter für eine Klassenpartei in die “sichere” Form einer reformistischen, einer von Beginn an klassenkollaborationistischen Labour Party zu lenken.

In den Ländern mit einer neueren oder verspäteten kapitalistischen Entwicklung, z.B. die USA, Italien, Frankreich und Spanien, herrschte bis 1914 der revolutionäre Syndikalismus vor, eine Mischung aus Marxismus und Anarchismus. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges spaltete er sich in einen reformistischen Flügel, der eine Annäherung mit den sozialdemokratischen Bürokraten herbeiführte und einen revolutionären Flügel, der sich unter dem Banner der Komintern und der Roten Gewerkschaftsinternationale sammelte.

Gewerkschaften und die Zweite Internationale

Die grundlegendsten Analysen dieser Entwicklungen kamen von Vertretern des linken Flügels der Zweiten Internationale der Vorkriegszeit, Rosa Luxemburg und Lenin. Diese Lehren wurde durch die frühe Komintern und die RGI aufgenommen und versucht weiter zu entwickeln, bevor sie der verheerenden Degeneration dieser Organe unter bucharinistischer und stalinistischer Führung zum Opfer fielen. Es wurde dann in den Arbeiten Leo Trotzkis von den späten 20er Jahren bis zu seinem Tod 1940 neu formuliert.

Der ursprüngliche Brennpunkt für die Erarbeitung und Entwicklung der marxistischen Analyse der Gewerkschaftsbürokratie war der Kampf der Linken in der deutschen Sozialdemokratie gegen den Einfluss der konservativen Gewerkschaftsführer auf die Praxis und Taktiken der Partei.

Bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts war Britannien das einzige bedeutende Land mit einer gut entwickelten Gewerkschaftsbewegung. Von dieser Periode an wuchs in anderen Ländern die Gewerkschaftsbewegung schnell an. In Deutschland, Italien und Frankreich machte das Wachstum des Gewerkschaftswesen in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und frühen Jahren des 20. Jahrhunderts die Gewerkschaftsfrage zu einem zentralen Punkt der Diskussionen und Debatten unter Marxisten.

Dies gilt vor allem für Deutschland, wo nach der Aufhebung der Sozialisten-Gesetze 1890 die Freien Gewerkschaften unter dem Einfluss der deutschen Sozialdemokratie sehr schnell wuchsen. Schon in den letzten Jahren der Sozialistengesetze hatte es regen Zulauf gegeben und 1890 betrug die Mitgliedschaft 294.551. Diese stagnierte in den nächsten Jahren um ab Mitte der 1890er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg stetig nach oben zu gehen. Um 1900 hatten die Gewerkschaften 680.000 Mitglieder, 1094 überschritten sie erstmals die Millionengrenze (1.116.723). Im Jahr 1913 gehörten mehr als 2,5 Millionen Lohnabhängige den Freien Gewerkschaften an. (29) Damit waren die deutschen Freien Gewerkschaften vor dem Ersten Weltkrieg fast ebenso mitgliederstark wie die englischen.

Schon kurz nach Aufhebung der Sozialistengesetze wurde im November 1890 die “Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands” von der Vorständekonferenz der Freien Gewerkschaften ins Leben gerufen. An die Spitze der Generalkommission trat Karl Legien, ein gelernter Drechsler, der bis an sein Lebensende 1920 Vorsitzender bleiben sollte. Politisch und organisatorisch dominierten die Industriegewerkschaften wie Metall, Bau, Manufaktur, Holz, Textilien und Transport die deutsche Gewerkschaftsbewegung, die nach und nach die neben ihnen existierenden berufständischen Verbände in den Hintergrund drängten.

Diese mächtige Bewegung war behilflich, dass die äußerst selbstherrlichen deutschen Kapitalisten, die den preußischen autokratischen Staat zu ihrer Verfügung hatten, die Gewerkschaften anerkannten und mit den Arbeitern zumindest auf betrieblicher Ebene tarifliche Abkommen schlossen. Der damals führende Marxist der Zweiten Internationale, Karl Kautsky, konnte mit Freude anmerken:

“Aber nicht nur an Raschheit des Wachstums übertrafen die deutschen Gewerkschaften während dieser Periode die englischen, sie stellten auch eine höhere Form der gewerkschaftlichen Bewegung dar. Die englischen Trade-Unions waren rein naturwüchsig entstanden, die Kinder bloßer Praxis; die deutschen wurden von Sozialdemokraten gegründet und geleitet, denen die fruchtbringende Theorie des Marxismus zur Seite fand. An Stelle der lokalen und beruflichen Zersplitterung der englischen Trade-Unions setzte sie große, zentralisierte Industrieverbände; sie wußte Grenzstreitigkeiten der einzelnen Organisationen viel mehr einzudämmen, und endlich hat sie viel mehr als die englische die Gefahren der zunftmäßigen Verknöcherung und aristokratischen Exklusivität vermieden. Weit mehr wie die englischen fühlen sich die deutschen Gewerkschafter als die Vertreter des gesamten Proletariats und nicht bloß als die der organisierten Mitglieder ihres Berufs.” (30)

Deutschlands Industriegewerkschaften waren auch das Produkt der späteren, aber umso machtvolleren industriellen Entwicklung des Deutschen Reiches. Anders als die britische Arbeiterklasse war die deutsche Arbeiterklasse nicht oder jedenfalls nur wenig behindert durch Gewerkschaftsorganisationen, die jahrzehntelang von zünftischen und Handwerkstraditionen dominiert wurden. Die deutsche Industrie macht am Beginn der imperialistischen Epoche einen riesigen Konzentrations- und Zentralisationsprozess durch. Die Schaffung von Industriegewerkschaften entsprach dieser Tendenz und der Marxismus ermutigte und förderte diese moderne Form der gewerkschaftlichen Organisation, mit der die Beschäftigten ihre “Industriekapitäne” bekämpfen konnten.

Diese Entwicklung bestätigt auch das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, dem zufolge historisch später entwickelte bürgerliche Klassengesellschaften nicht einfach die Entwicklungsstufen der fortgeschritteneren Länder kopieren, sondern vielmehr modernste Produktionstechniken, Formen der Arbeitsorganisation mit entwickeln, die gleichzeitig mit Elemente der Rückständigkeit in anderen Bereichen kombiniert werden. Zweifellos hat die spätere Entwicklung in Deutschland auch geholfen, Schwächen der englischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts von Beginn an zu vermeiden.

Doch dies war nicht der einzige Faktor, der den Einfluss des Marxismus der Sozialdemokratie stärkte. Die Partei bewährte sich in der Illegalität, profilierte sich weiter in der Arbeiterschaft als einzige Partei, die wirklich gegen die herrschenden Zustände im Deutschen Reich auftrat. Die Aufhebung der Sozialisten-Gesetze und die Zurücknahme weiterer politischer Einschränkungen, die der Sozialdemokratie vom Bismarckschen und Wilhelminischen Bonapartismus auferlegt worden waren, stärken die Partei.

Zusätzlich profitierte der Marxismus von den relativ schwachen sozialen Wurzeln des Opportunismus in der Periode während und unmittelbar nach den Sozialistengesetzen. Deutschland konnte außerdem aufgrund des im Vergleich zum britischen Empire kleinen Kolonialreiches und folglich geringerer Extraprofite nur eine kleine Arbeiteraristokratie erhalten.

Das zwang auch die Gegner des Marxismus innerhalb der Gewerkschaftsführung vor- und umsichtiger zu sein, als ihre offen klassenkollaborationistischen Pendants in Britannien. Trotzdem war diese Schicht für die Stärkung des Reformismus sehr bedeutend, wie Jürgen Kuszinski beobachtete: “… trotz der Tatsache, dass die von der herrschenden Klasse in Deutschland erzielten Extraprofite aus ausländischen Investitionen im Vergleich mit jenen der herrschenden Klasse in Großbritannien relativ klein waren, war es für sie möglich, ausreichend Extraprofite teilweise durch ausländische Investitionen und teilweise durch die Ausbeutung von billiger ausländischen Arbeitskräften in Deutschland (hauptsächlich russischen und italienischen) zu machen, um eine kleine Arbeiteraristokratie zu schaffen, die bereit war, ihre Rolle zu spielen, als der Monopolkapitalismus im 20.Jahrhundert zur vollen Macht kam.” (31)

Parallel zum Wachstum dieser bedeutenden, privilegierten Schicht von Arbeitern ging ein dramatisches Wachstum des Apparats der Hauptamtlichen der Gewerkschaften einher. 1898 hatten die Freien Gewerkschaften nur 104 bezahlte Hauptamtliche, sechs Jahre später waren es 677. Die Anzahl der Mitglieder verdoppelte sich im selben Zeitraum. Zehn Jahre später, als sich die Mitgliedschaft gerade verdreifacht hatte, betrug die Zahl der Hauptamtlichen 2.867.

Die ihnen zur Verfügung stehenden Geldmittel waren beträchtlich. Z.B. 1907 betrugen die Gelder der Gewerkschaften ungefähr 33 Millionen Mark. Dieses zunehmende Gewicht der Gewerkschaften wird besonders deutlich, wenn man ihre Geldmittel mit jenen der formal marxistischen SPD vergleicht. Diese verfügte zum selben Zeitpunkt gerade über 1,3 Mio. Mark (32). So kristallisierte sich eine mächtige Bürokratie innerhalb der deutschen Gewerkschaften heraus, die in wachsenden Konflikt mit den Kräften des revolutionären Marxismus kam und gleichzeitig seit Mitte der 1890er Jahre zunehmend an Selbstvertrauen gewann.

Der erste Keim dieses Konflikts kann zur Zeit der Erfurter Synthese gesehen werden, der Annahme eines formal marxistischen Programms, das von jedem Versuch, eine revolutionäre Taktiken zu entwickeln, getrennt war. Trotz enger Bindung an die Sozialdemokratie beanspruchten die Freien Gewerkschaften seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes ein mehr oder minder großes Maß an Unabhängigkeit von der Sozialdemokratie. Dieses Besteben war von Beginn an mit der Perspektive verbunden, die bestehende Gesellschaftsordnung zu reformieren und die Gewerkschaften aus “politischen Abenteuern” der SPD herauszuhalten.

So definiert Karl Legien schon 1891 in der dritten Ausgabe des “Correspondenzblatt”, dem Zentralorgan der freien Gewerkschaften, die Arbeitsteilung zwischen politischer Partei und Gewerkschaften:

“Der Unterschied zwischen der politischen Tätigkeit, wie die Arbeiterpartei sie entwickelt, und der Aufgabe der Gewerkschaften liegt darin, daß die erstere eine Umgestaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsorganisation anstrebt, während die letztere in ihren Bestrebungen, weil die Gesetze uns hierin Grenzen ziehen, auf dem Boden heutigen bürgerlichen Gesellschaft steht.” (33)

In diese Zeit reagierte der Sozialdemokratische Parteivorstand auf jede Infragestellung der politischen Führungsrolle der Partei gegenüber den Gewerkschaften noch mit Spott und Hohn. Zu Beginn der 1890er Jahre mussten die Gewerkschaften bedeutende Niederlagen in Streiks hinnehmen, ihrer Mitgliederzahl stagnierte, während die SPD bei den Reichstagswahlen große Erfolge feierte. Die Gewerkschaftsführer waren in dieser Phase zweifellos nicht bereit, die SPD und ihre Führungsrolle in der Arbeiterschaft offen in Frage zu stellen, sondern betonten vielmehr eine Arbeitsteilung mit der Partei, wobei die Gewerkschaften als eine Art Rekrutierungsfeld und Schule dienen sollten.

Aber das änderte sich mit der wirtschaftlichen Belebung Mitte der 1890er Jahre, dem Wachstum der Gewerkschaften, der Zunahme an Tarifabschlüsse und der Vergrößerung des Apparates. Die Differenzen mit der SPD wie auch innerhalb der SPD nahmen zu. Das lässt sich schon in verschiedenen Haltungen zu Streikkämpfen Ende der 90er Jahre ablesen wie auch in der Entwicklung zunehmend offen reformistischer Konzepte des “Hinüberwachsens in den Sozialismus” Hand in Hand mit den Revisionisten in der Sozialdemokratie.

Es ist keine Wunder, dass Rosa Luxemburg, die das Gewerkschaftlertum als “Sisyphusarbeit” beschrieb, “der bestgehaßte und stets geschmähte ‘Feind der Gewerkschaften’” (34) wurde. Die entstehende Gewerkschaftsbürokratie erkannte ihren Feind richtig, denn es war tatsächlich Rosa Luxemburg, die als erste eine marxistische Analyse des um sich greifenden gewerkschaftlichen Opportunismus und des Revisionismus in der Sozialdemokratie in Angriff nahm.

Luxemburgs Konfrontation mit der deutschen Gewerkschaftsbürokratie wurde zuerst durch die Versuche der Linken, in Zusammenarbeit mit Kautskys “Marxistischem Zentrum”, provoziert, aus dem belgischen Generalstreik von 1902 und der Russischen Revolution von 1905 die Lehren zu ziehen. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Tempos des Klassenkampfes auf internationalem Niveau inklusive eines erfolgreichen Massenstreiks der Bergarbeiter an der Ruhr versuchten die Gewerkschaftsführer alle Versuche durch die Partei zu verhindern, die Generalstreiktaktik zu entwickeln, zu verfeinern oder gar anzuwenden.

Die Gewerkschaftsführer waren sich des für sie ungünstigen Kräfteverhältnisses in der SPD bewusst und entschlossen sich daher dazu, der Generalstreiksdebatte am SPD-Parteitag zuvor zu kommen. So beschloss der Kölner Gewerkschaftskongress im Mai 1905:

“Der Kongreß hält daher auch alle Versuche, eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich; er empfiehlt der organisierten Arbeiterschaft, solchen Versuchen energisch entgegenzutreten.

Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongreß für undiskutabel, er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.” (35)

Im Herbst 1905 fand der SPD-Kongress der SPD in Jena vor dem Hintergrund der bis dahin größten jemals gesehenen industriellen Unruhen statt. Die Partei war gezwungen, den Generalstreik in Betracht zu ziehen.

“Aber die Ablehnung des Massenstreiks durch die Gewerkschaftsführung führte 1906 zu einem ‚Kompromiß‘ zwischen Generalkommission und Parteivorstand, der der Sache nach eine Kapitulation der Partei vor den Gewerkschaftsführern enthielt und vom Mannheimer Parteitag bestätigt wurde.” (36)

Die Partei bestätigte den Jenaer Beschluss, zur “umfassendsten Anwendung der Massenarbeitseinstellung” als Kampfmittel gegen eine etwaige Beschneidung des Wahlrechts der Arbeiter und hielt gleichzeitig fest, dass diese Position nicht im Widerspruch zum Beschluss des Kölner Gewerkschaftskongresses stehe! Dieser Entscheid wurde von den opportunistischen Gewerkschaftsführern bis hin zum “marxistischen Zentrum” begrüßt und die Debatte für erledigt erklärt. Der Sieg der Gewerkschaftsbürokratie bestand jedoch weniger in der widersprüchlichen Haltung zum Generalstreik, sondern vor allem darin, dass die Durchführung eines Generalstreiks von der Zustimmung der Gewerkschaftsführer abhängig gemacht wurde (37).

In der Generalstreikdebatte erläutert Rosa Luxemburg nicht nur die Bedeutung des Generalstreiks als eine zentrale Waffe im Arsenal der revolutionären Marxisten. Sie entwickelt auch eine Analyse der Malaise der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Diese Analyse ist in ihrer 1906 erschienenen Broschüre “Massenstreik, Partei und Gewerkschaften” enthalten. Darin beobachtete sie ein Gegensatz zwischen “Sozialdemokratie und der obersten Schicht der Gewerkschaftsbeamten, der aber zugleich ein Gegensatz innerhalb der Gewerkschaften zwischen einem Teil der Gewerkschaftsführer und der gewerkschaftlich organisierten Masse ist.” (38)

Luxemburg analysiert die soziologischen und ideologischen Wurzeln der Feindschaft der Gewerkschaftsbürokratie gegenüber dem Sozialismus. Die leugnet dabei keineswegs die Notwendigkeit der Gewerkschaftsarbeit und bestreitet auch nicht deren Erfolge, sondern nimmt letztere und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen sie erzielt wurden, gerade zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtung.

“Die Spezialisierung ihrer Berufstätigkeit als gewerkschaftliche Leiter sowie der naturgemäß enge Gesichtskreis, der mit den zersplitterten ökonomischen Kämpfen in einer ruhigen Periode verbunden ist, führt unter den Gewerkschaftsbeamten nur zu leicht zum Bürokratismus wie zur Borniertheit der Auffassung.” (39)

Die Änderung in der Tätigkeit der Gewerkschaftsfunktionäre hat auch zu einer Änderung des Verhältnisses zwischen Funktionären und Mitgliedern geführt. Der einst ehrenamtliche Leiter wird durch den Apparatmenschen ersetzt, das kollegiale Verhältnis durch eines von “Spezialisten” zur vorgeblich “urteilsunfähigen Masse”. Die Bürokratie erscheint ihrem Selbstverständnis nach als der aktive, die Masse als der passive Teil der Bewegung – eine Haltung, die Gewerkschaftsbürokraten seither in allen Ländern und allen Lagen an den Tag legen.

Diese Situation habe außerdem dazu geführt, dass sich die Gewerkschaftsführungen nach einer “eigenen Theorie”, die dem Marxismus entgegensetzt ist, umsehen müssten. Das wäre das politisch-ideologische Gegenstück zum Versuch der Gewerkschaftsführer, die “Gleichberechtigung” mit der Sozialdemokratie durchzusetzen. Die “Neutralität” der Gewerkschaften und “Unabhängigkeit” von der Sozialdemokratie bekämpft Luxemburg zu Recht vehement, als Versuche, in der Gewerkschaftsbewegung klassenversöhnlerischen Ideologien zu verankern.

Daraus folgert Luxemburg im scharfen Gegensatz zu den Gewerkschaftsführern, aber auch zu Kautsky, dass es gelte, “die Gewerkschaften der Sozialdemokratie wieder anzugliedern.” (40) Luxemburg stellte klar, dass sie unter “Angliederung” weder eine organisatorische Verschmelzung noch eine einfach “Anpassung” verstand. Sie war sich auch klar, dass sich die Gewerkschaftsführung (oder zumindest ein Teil dieser) einem solchen Vorhaben massiv wiedersetzen würde.

Doch eine solche Auseinandersetzung war für sie unvermeidlich, ging es doch darum, die Führungsrolle der revolutionären Partei wieder herzustellen, also der das geschichtliche Interesse und die Gesamtheit der proletarischen Bewegung bewusst vertretenden Kraft. Dies so Luxemburg weiter, entspreche auch dem Antrieb und den Zielen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft sowie den Erfordernissen zukünftiger Klassenkämpfe, die schärfer sein würden und eine Verbindung von politischem und ökonomischen Kampf erfordern würden.

Luxemburgs Arbeit beinhaltet eine Reihe von bedeutenden Einsichten über die Mentalität und Weltansicht der Bürokratie. Wir müssen jedoch festhalten, dass Luxemburgs Analyse nicht zu den gesellschaftlichen Wurzeln der konservativen Gewerkschaftsbürokratie vordringt. Wie wir sahen, erklärte sie die Malaise der deutschen Gewerkschaften als die Funktionen der Bürokratie in einer Periode der kapitalistischen Stabilität.

Diese Position trägt zwei Gefahren in sich. Zum einen werden Organisationen an und für sich als konservativ betrachtet werden – eine Position, die mit der Schwäche Luxemburgs in der Organisationsfrage verbunden ist. Andererseits suggeriert die These, dass die Wurzeln der Bürokratisierung in der relativen ökonomischen Stabilität lägen, dass die Bürokratie im Zuge gewaltiger gewerkschaftlicher und politischer Kämpfe einfach beiseite geschoben würden (41).

Marx und Engels erklärten im Gegensatz zu Luxemburg die Entstehung einer Arbeiterbürokratie als Schichte als Folge und Ausdruck einer Differenzierung im Proletariat selbst, der Entstehung einer privilegierten Arbeiteraristokratie. Sie banden die Stabilität dieser Schicht an die Vorherrschaft Britanniens und Amerikas am Weltmarkt, die die Grundlage für die ungehinderte Entwicklung der bürgerlichen Demokratie bildete. Luxemburg bot keine gesellschaftliche Erklärung für die Existenz des Bürokratismus und Konservativismus in der Gewerkschaftsführung vor 1914. Es war Lenin überlassen, eine Erklärung und Analyse der Bürokratie in der Periode der kapitalistischen Entwicklung nach Engels Tod systematisch zu entwickeln.

Durch die Wahrnehmung des bürgerlichen Einflusses in den Gewerkschaftsbewegungen in den angelsächsischen Ländern (USA, Britannien und Australien) und den wachsenden Opportunismus der deutschen Gewerkschaften, wandte sich Lenin der von den Gründern des wissenschaftlichen Sozialismus entwickelten Analyse der britischen Gewerkschaftsbewegung zu. Er entdeckte ihre Arbeit über die Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung und der sozioökonomischen Wurzeln dieser Entwicklung wieder. 1912 begriff Lenin die Bedeutung dieser Analyse:

“Die Lage in der Arbeiterbewegung Amerikas zeigt uns – ebenso wie in England – eine außerordentlich scharfe Spaltung zwischen den rein gewerkschaftlichen und den sozialistischen Bestrebungen, eine Spaltung zwischen der bürgerlichen Arbeiterpolitik und der sozialistischen. Denn – wie merkwürdig diese Worte auch klingen mögen – in der kapitalistischen Gesellschaft kann auch die Arbeiterklasse bürgerliche Politik treiben, wenn sie ihre Befreiungsziele vergißt, sich mit der Lohnsklaverei aussöhnt und lediglich darauf bedacht ist, bald mit der einen, bald mit der anderen bürgerlichen Partei ein Bündnis um scheinbarer ‘Verbesserungen’ ihres Sklavenlebens willen einzugehen.” (42)

Lenin geht an dieser Stelle auch auf die gesellschaftlichen Wurzeln dieses Phänomens ein:

“Die wichtigste historische Ursache für die besondere Ausgeprägtheit und (zeitweilige) Stärke der bürgerlichen Arbeiterpolitik in England und Amerika sind die seit langem bestehende politische Freiheit und die im Vergleich mit anderen Ländern ungewöhnlich günstigen Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus in die Tiefe und in die Breite. Infolge dieser Bedingungen bildete sich innerhalb der Arbeiterklasse eine Aristokratie heraus, die hinter der Bourgeoisie herlief und so ihre Klasse verriet.” (43)

Bis 1914 dachte Lenin, dass diese Situation zu Ende gehen würde, da die Entwicklung der anderen wesentlichen kapitalistischen Staaten die Position Britanniens unterminierten und damit auch seine Extraprofite, die die Grundlage der Korruption der Arbeiteraristokratie bildeten. Zur Zeit der großen Unruhen, der massiven Streikwelle, die Britannien 1913 erschütterte, schrieb Lenin:

“Die englische Arbeitermasse beschreitet langsam, aber sicher einen neuen Weg – sie geht von der Verteidigung der kleinen Privilegien der Arbeiteraristokratie über zu dem großen Heldenkampf der ganzen Masse für eine neue Gesellschaftsordnung.” (44)

Lenin war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass, während die Position der Arbeiteraristokratie in Britannien und den USA vor dem Ersten Weltkrieg angegriffen wurde, dies in der deutschen Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie nicht stattfand. Im Gegenteil, der Opportunismus der deutschen Gewerkschaftsführer wurde selbstbewusster und schamloser. Das zeigte sich z.B. 1907 am internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart, als die Hälfe der deutschen Delegation einer Resolution zustimmte, die koloniale Eroberungen rechtfertigte.

An anderer Stelle verdeutlicht das Lenin anhand einer besonders opportunistischen – das heißt rein bürgerlich-liberalen Rede Karl Legiens vor dem amerikanischen Kongress. Lenin bezog sich auf diese Tatsache, weil Legien nicht “irgendwer” war, sondern ein Repräsentant des “Funktionärskorps” der deutschen Gewerkschaften, dessen Ansichten nicht nur einer “kriecherischen Ablehnung des Sozialismus” gleichkämen, sondern auch eine immer stärker werdende opportunistische Tendenz der deutschen Partei vor dem Ersten Weltkrieg verdeutlichten. Besonders scharf kritisiert der den hoffnungslosen “Funktionärsoptimismus” der deutschen Partei, die den Opportunismus nicht bekämpfe, sondern bloß Kleinzureden versuchte.

“Wir dürfen die unbestreitbare Krankheit der deutschen Partei, die sich in derartigen Erscheinungen kundtut, nicht vertuschen” folgerte Lenin. Vielmehr gälte es, “sie den russischen Arbeitern aufzuzeigen, damit wir aus den Erfahrungen der älteren Bewegung lernen, lernen, was man nicht nachahmen soll.” (45)

Vier Monaten später zeigte sich die Schwere dieser Krankheit. Der Krieg, der offene Übertritt der Mehrheit der parlamentarischen und gewerkschaftlichen Führer zu ihren Kriegsherren und die zeitweilige Unterstützung, die sie dafür von vielen Arbeitern bekamen, trieb Lenin dazu, die ganze Epoche der kapitalistischen Entwicklung und ihrer Auswirkungen auf die politische und gewerkschaftliche Führung der Klasse grundlegend neu zu untersuchen.

Lenins Analyse und politische Schlussfolgerungen können u.a. in “Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus” (Oktober 1916) nachgelesen werden. Er stellte fest, dass Marx und Engels zwei Strömungen, in gewisser Weise zwei Parteien in der englischen Arbeiterbewegung von 1858 – 1892 erkennen. Die Existenz einer bürgerlichen Arbeiterbewegung war für Marx und Engels der dominierenden Stellung des britischen Kapitalismus zuzuschreiben, insbesondere seinem Weltmarkt- und Kolonialmonopol.

Die Extraprofite des britischen Kapitalismus machten es ihm möglich, dass “die Kapitalisten einen Teil (und durchaus keinen geringen!) verwenden, um ihre Arbeiter zu bestechen, um eine Art Bündnis (…) der Arbeiter der betreffenden Nation mit ihren Kapitalisten gegen die übrigen Länder zu schaffen.” (46)

Die Epoche des Weltimperialismus bedeutete jedoch, dass Britannien nicht mehr länger eine Ausnahme war.

“Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848 – 1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit die Oberhand behalten kann.” (47)

Für Lenin war der Konservativismus und Opportunismus der Gewerkschaftsführer nicht in der Bürokratie als solche verwurzelt. Er war ein Ergebnis der Entwicklungsstufe des Kapitalismus. Der Imperialismus legte die Grundlage für eine privilegierte Schicht in der Arbeiterklasse, auf die sich die Gewerkschaftsbürokratie stützte und deren Weltanschauung sie repräsentierte.

“Auf der geschilderten ökonomischen Grundlage haben die politischen Institutionen des neuesten Kapitalismus – Presse, Parlament, Verbände, Kongresse usw. – die den ökonomischen Privilegien und Almosen entsprechenden politischen Privilegien und Almosen für die respektvollen, braven, reformistischen und patriotischen Angestellten und Arbeiter geschaffen.” (48)

Gerade in der Bewährungsprobe des Ersten Weltkrieges kamen die bürgerlichen Arbeiterführer in der bürgerlichen Gesellschaft an, wurden von der herrschenden Klasse “respektiert” und ins Herrschaftssystem integriert. Indem Lenin die Arbeiterbürokratie und damit die bürgerliche Arbeiterpolitik als Ausdruck der bornierten Interessen eines Teils des Proletariats begreift, kommt Lenin auch zu ganz anderen Schlussfolgerungen über die Zukunft der bürgerlichen Arbeiterpolitik als beispielsweise Rosa Luxemburg.

“Wir haben nicht den geringsten Grund zur Annahme, daß diese Parteien vor der sozialen Revolution verschwinden können. Im Gegenteil, je näher wir dieser Revolution sein werden, je machtvoller sie entbrennen wird, je schroffer und heftiger die Übergänge und Sprünge im Prozeß der Revolution sein werden, eine um so größere Rolle wird in der Arbeiterbewegung der Kampf des revolutionären Stroms, des Stroms der Massen gegen den opportunistischen, den kleinbürgerlichen Strom spielen.” (49)

In der Analyse der Arbeiteraristokratie, ihren sozialen Wurzeln und der Notwendigkeit der Verschärfung des Kampfes gegen den die bürgerliche Arbeiterpolitik gerade in Perioden der revolutionären Zuspitzung hat Lenin einen bleibenden theoretischen Beitrag zur Entwicklung des Marxismus geliefert. Gerade daraus folgt sowohl die Notwendigkeit des Bruchs mit dem Opportunismus, des Aufbaus revolutionär-kommunistischer Parteien, die gegen den Einfluss des Reformismus in der Arbeiterbewegung kämpfen, bei gleichzeitiger Anwendung des gesamten taktischen Arsenals der revolutionären Arbeiterbewegung.

In der Analyse der stalinistischen Bürokratie greift Trotzki im Übrigen auf dieselbe Methode zurück, die Lenin in der Analyse der Arbeiterbürokratie verwendet. In “Die neue Verfassung der UdSSR” kommt das noch deutlicher als bei Lenin zum Ausdruck. Ausgehend vom marxistischen Grundsatz, “die Bürokratie ist keine technische, sondern eine soziale Kategorie…” argumentiert er, dass “jede Bürokratie (…) ihre Entstehung und Existenz einer heterogenen Gesellschaftsstruktur, antagonistischen Interessen und innerem Kampf (verdankt). Sie reguliert die gesellschaftlichen Widersprüche im Interesse der privilegierten Klassen oder Schichten und erhebt dafür von den Arbeitern einen enormen Tribut.” (50)

Dies war und ist für die Gewerkschaftsbürokratie nicht weniger richtig, als für die sowjetische Bürokratie. Die Expansion der kapitalistischen Produktionsweise legte die Grundlage für die Entstehung einer ausgeprägten arbeiteraristokratischen Schicht mit den Lebensbedingungen eines komfortablen Kleinbürgers. Die Gewerkschaftsbürokratie stützt sich auf diese Schicht und ist mit ihr verbunden. Sie hat ihre eigene soziale Frage gelöst, wurde in die bürgerliche Gesellschaft und den bürgerlichen Staat integriert. Die Masse der Arbeiter sind klarerweise weder Arbeiteraristokraten noch integrierte bürokratische Funktionäre. Aber ohne revolutionäre Partei wird die Führung dieser Masse zwangsläufig der Arbeiteraristokratie (und damit der Bürokratie) zufallen.

Die marxistische Tradition war daher durch die Arbeiten von Lenin und Trotzki fähig, die soziale Basis des eigentlichen Kerns der opportunistischen Gewerkschaftsfunktionäre auszumachen. Die Funktionäre waren im Wesen des beschränkten, “reinen Gewerkschaftlertums” dem Horizont der Arbeiteraristokraten verwurzelt. Die Gewerkschaftsbürokraten haben einen eigenen Kasteninstinkt und “Kampfgeist” zum Erhalt ihrer Stellung entwickelt.

Trotzki verdeutlicht das am Beispiel des französischen Funktionärs Jouhaux:

“Wenn Jouhaux seine Position bisher gegen die Attacken von links erfolgreich behaupten konnte, so nur, weil sein ganzer Apparat täglich und stündlich zäh um seine Existenz kämpft, kollektiv die besten Kampfmethoden wählt, für Jouhaux denkt und ihm die nötigen Entscheidungen eingibt – nicht, weil er ein großer Stratege wäre.” (51)

Doch das heißt nicht, dass der Apparat unerschütterbar wäre.

“Eine jähe Änderung der Lage – in Richtung auf Revolution oder Faschismus -, und der ganze Gewerkschaftsapparat verliert mit einem Schlage sein Selbstvertrauen, seine geschickten Manöver erweisen sich als kraftlos, und Jouhaux selbst macht, statt eines bemerkenswerten, einen kläglichen Eindruck. Erinnern wir uns nur daran, als was für erbärmliche Nullen die mächtigen und hochmütigen deutschen Gewerkschaftsführer sich erwiesen, sowohl 1918, als gegen ihren Willen die Revolution ausbrach, als auch 1932, als Hitler zum Angriff überging.” (52)

An diese Stelle macht Trotzki auch darauf aufmerksam, dass die Bürokratie als Mittler zwischen Lohnarbeit und Kapital selbst das Produkt von Kämpfen der Massen ist. Doch, sobald sich die Kaste einmal über die Massen erhoben hat, trachtet sie danach, ihre Position zu festigen. Jede gesellschaftliche Bewegung, jede Änderung ist ihr zuwider, birgt sie doch immer die Gefahr in sich, dass die einmal errungene Bürokratenstellung verloren gehen könnte. Die Bürokratie “hat etwas zu verlieren. Einfluß und Wohlergeben der reformistischen Bürokratie erreichen ihren Höhepunkt in einer Epoche kapitalistischer Prosperität und relativer Passivität der arbeitenden Massen. Wird aber diese Passivität von rechts oder von links aufgebrochen, so geht es auch mit der Herrlichkeit der Bürokratie zu Ende. Ihre Klugheit und Geschicklichkeit verwandelt sich in Dummheit und Ohnmacht.” (53)

Der Marxismus geht von einem dialektischen Verständnis des widersprüchlichen Charakters der Gewerkschaften aus. Die Gewerkschaftsbürokratie und die Arbeiteraristokratie sind Merkmale der Ausdehnung des Kapitalismus. In Perioden der Krise verschlechtern sich auch die Bedingungen für die Arbeiteraristokratie. Unruhe und Militanz werden auch unter der Arbeiteraristokratie unvermeidlich entstehen, womit auch die Vorherrschaft der Gewerkschaftsbürokratie gebrochen werden kann.

Es ist diese Situation, die für Kommunisten und Kommunistinnen Möglichkeiten eröffnet, die Kämpfe der Arbeiteraristokratie mit jenen der Masse des Proletariats zu verbinden. In solchen Perioden bietet sich die Chance, die Gewerkschaften den Händen der Bürokraten zu entreißen, sie umzuwandeln, sie zu revolutionieren. Dieses Potential der Gewerkschaften, sie in wirkliche Kampfinstrumente für die aktuellen Forderungen und historischen Interessen der Arbeiterklasse umzuwandeln, bildet den im Kern des marxistischen Programms für die Arbeit in den Gewerkschaften liegt.

Es ist die Entwicklung dieser Position, die Entwicklung des Programms und der Strategie für die Umwandlung der Gewerkschaften von Instrumenten der Bürokratie zu Kampfmitteln der Arbeitenden, der wir uns jetzt zuwenden. Marx erkannte, dass die Gewerkschaften entweder an Verhandlungen innerhalb des kapitalistischen Systems gebunden bleiben würden oder Agenturen für die Beseitigung des Kapitalismus selbst werden.

Die Umwandlung der Gewerkschaften

Wenn wir zu den “Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Generalrates” zurückkehren, finden wir, dass Marx in den letzten zwei Abschnitten des Kapitels “Gewerksgenossenschaften” das Grundprogramm für die Umwandlung der Gewerkschaften in Instrumente zur Beseitigung des Kapitalismus darlegte.

“Abgesehen von ihren ursprünglichen Zwecken müssen sie jetzt lernen, bewußt als organisierende Zentren der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation. Sie müssen jede soziale und politische Bewegung unterstützen, die diese Richtung einschlägt. Wenn sie sich selbst als die Vorkämpfer und Vertreter der ganzen Arbeiterklasse betrachten und danach handeln, muß es ihnen gelingen, die Außenstehenden in ihre Reihen zu ziehen. (…) Sie müssen die ganze Welt zur Überzeugung bringen, daß ihrer Bestrebungen, weit davon entfernt, begrenzte und selbstsüchtige zu sein, auf die Emanzipation der unterdrückten Millionen gerichtet sind.” (54)

In dieser Passage ist jeder Satz gegen die Tendenz der Gewerkschaften gerichtet, sich selbst auf den Schutz der unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen einer Minderheit der Facharbeiter zu beschränken. Stattdessen hebt Marx hervor, dass die Gewerkschaften die Interessen der Massen der Arbeiter und Arbeiterinnen hervorzuheben haben, ihre Türen all jenen weit zu öffnen müssen, die organisiert werden können. Integraler Bestandteil dieser Perspektive war der Aufruf, mit ihrem “unpolitischen” Standpunkt – einer Position, die in Wirklichkeit die Anerkennung der Politik der liberalen Bourgeoisie bedeutete – zu brechen.

Die Geschichte der Internationale ist auch die Geschichte des Kampfes von Marx, die sich zurückhaltenden und konservativen gewerkschaftlichen Organisationen in die Arena der zentralen politischen Tageskämpfe zu führen. Zwischen 1867 und 1870 übte Marx durch den Generalrat einen unaufhörlichen Druck aus, um die englischen Gewerkschaften in die “Irische Frage” einzubeziehen. Er verlange Agitation, Demonstrationen, usw. in Unterstützung nicht nur des irischen Rechtes auf Trennung, sondern direkte und offene Unterstützung für die Fenians, eine militante anti-britische nationalistische Bewegung. Diese Agitation stieß auf bedeutende Resonanz und half, die vorhandene Feindschaft zwischen dem englischen und irischen Proletariat in England abzubauen.

In der Frage der Frauenarbeit blieb Marx in Opposition zu den Vorurteilen der Gewerkschaften, die versuchten, Frauen aus der Industrie auszuschließen. Für Marx war die Präsenz von Frauen in der Industrie und in den Reihen der organisierten Arbeiterbewegung von großer Bedeutung. Gleichzeitig argumentierte er, dass die Gewerkschaften den Kampf für Schutzgesetze gegen die Überausbeutung von Frauen, für kürzere Arbeitszeit und gegen die Nachtarbeit aufnehmen sollten. Im September 1871 schlug Marx die Gründung einer eigenen Frauensektion der Internationale vor.

Marx war bestrebt, den Gewerkschaften die politischen Machenschaften “ihrer eigenen” und anderer Bourgeoisien bewusst zu machen. Diese Arbeit erreichte einen Höhepunkt in der großen Solidaritätsarbeit der Internationale mit der Pariser Kommune. Die Diktatur des Proletariats war mit ihr Wirklichkeit geworden, die Arbeiterklasse hielt die politische Macht in Händen. Marx Schrift “Der Bürgerkrieg in Frankreich” führte zu einer Spaltung in der englischen Sektion.

Für Marx und Engels hing die Aussicht, die Gewerkschaften umzuwandeln, von einem politischen Bruch mit der Bourgeoisie und mit einer grundlegenden Änderung des Verhältnisses zwischen den Gewerkschaften und den Massen der Arbeiter ab. Die Gewerkschaften mussten nicht nur mit den bürgerlichen Parteien brechen, sie hatten auch aufzuhören, der Besitz einer selbstherrlichen und privilegierten Schicht der Arbeiterklasse zu sein.

Die letzte Periode von Engels Einbeziehung in die englische Arbeiterbewegung sah eine explosionsartige Ausdehnung der gewerkschaftlichen Organisierung unter den ungelernten Arbeitern, die das Gesicht der englischen Gewerkschaften änderte. Gleichzeitig gab es ein Wiederaufleben des Sozialismus und der sozialistischen Presse.

Engels begrüßte die großen Streiks der “neuen Gewerkschaften”, der Zündhölzerarbeiterinnen, der Hafenarbeiter und der Gasarbeiter, die nicht nur ein Schlag gegen das Kapital waren, sondern ebenfalls einer gegen die alten Facharbeitergewerkschaften, die diese Teile des Proletariats mit Geringschätzung betrachteten. Er sah den Erfolg dieser neuen Gewerkschaften als einen großen Schritt in der Befreiung einer ganzen Sektion der Arbeiterklasse vom Einfluss des Lumpenproletariats und krimineller Elemente. Was Engels im Besonderen begrüßte, war der Wille und das Bestreben der neuen Gewerkschaften, alle Arbeiter zu organisieren.

Diese neuen Gewerkschafter waren keine Sozialisten, aber sie hatten nicht ihren Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen. Sie betrachteten ihre unmittelbaren Forderungen als provisorisch und obwohl sie wenig von den historischen Zielen der Arbeiterklasse verstanden, wählten sie trotzdem als ihre Führer “nur anerkannte Sozialisten”. Schließlich repräsentierten diese neuen Gewerkschaften eine Basis für die Umwandlung der Arbeiterbewegung von unten, für ein Hinausdrängen der alten Führer.

Engels sah gleichzeitig voraus, dass dies aufgrund der politischen Rückständigkeit und des tief verwurzelten Pragmatismus der britischen Arbeiterschaft nicht einfach sein würde.

“Sie sehen also: die Trade-Union wird ins Parlament einziehen; nicht die Klasse, sondern der Industriezweig fordert vertreten zu sein. Aber das ist immer ein Schritt vorwärts. Zuerst muß man erreichen, daß sich die Arbeiter aus der Abhängigkeit von den großen bürgerlichen Parteien befreien, daß die Textilarbeiter, wie bereits die Bergarbeiter, ins Parlament kommen”. (55)

Engels Versuch, Taktiken gegen die konservativen Gewerkschaftsführer zu entwickeln, wurde von der Linken in der Zweiten Internationale Fortgesetzt. Es ist kein Zufall, dass sich die wichtigsten politischen Auseinandersetzungen wie z.B. die Generalstreikdebatte um die Frage der Einbeziehung der proletarischen Massen entwickelten, um die Überwindung der Schranken des ökonomischen Kampfes und seine Überführung in eine bewussten politischen Kampf.

In der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung konzentrierte sich die Auseinandersetzung auf die Rolle und das Potential der Generalstreikwaffe. Die Parteimehrheit unterstützte die Ansicht Bebels, dass der Generalstreik eine nützliche Waffe war, der als Defensivmittel genutzt werden sollte, wenn die demokratischen Rechte der Arbeiterbewegung angegriffen werden.

Für Luxemburg und die Parteilinke entsteht der Massenstreik, wie in Russland und Belgien erfahren, aus der Verschärfung der Klassenwidersprüche. Er war anders als für Bebel nicht nur eine defensive Antwort. Der Auffassung von Luxemburg und die Parteilinken zufolge konnte der Generalstreik auch nicht “organisiert” oder auf einen einzelnen Akt beschränkt werden, z.B. um eine Ausdehnung des Wahlrechts zu erreichen. Er hat zu der spontanen Kampfbereitschaft der Masse der Klasse in Beziehung zu stehen, um Aktionen für wirtschaftliche als auch politische Ziele durchzuführen. Luxemburg sah den Massenstreik als eine direkte Massenaktion, die ihre Kraft aus der Vielzahl defensiver Kämpfe schöpfte, diese aber in einer mächtigen politischen Offensive sammelte.

Am Parteikongress in Jena planten einige Vertreter der Linken, “in der Diskussion nach der Richtung hin (die Bebelsche Resolution) zu bekämpfen, um den Massenstreik nicht als mechanisches Rezept für politische Defensive, sondern als elementare Revolutionsform zu vertreten” (56)

Da die Linke jedoch befürchtete, der Rechten damit eine Angriffsmöglichkeit zu geben, entschieden sie dagegen. Sie stimmten mit Bebels Formel, die die Nützlichkeit des Generalstreiks anerkannte, wenn auch als eine begrenzte und defensive Taktik. Dabei war Luxemburg bewusst, dass Bebels Auffassung “einseitig und flach” war. Diese von der sozialdemokratischen Linken immer wieder verfolgte Taktik, die Differenzen mit der Parteiführung um Bebel (wie auch mit Kautsky) zugunsten gemeinsamer Abwehr der Rechten hinanzustellen und so die politische Sammlung um eine geschlossene marxistische Programmatik ständig hinauszuzögern, sollte sich hier rasch als Rohrkrepierer erweisen.

Der Parteitag nahm zwar Bebels Resolution gegen den Widerstand der Gewerkschaftsführer an. Aber am 16. Februar 1906 einigten sich SPD-Exekutive und Gewerkschaftsspitze stimmte in einer geheimen Sitzung, jede Propaganda über den Massenstreik einzustellen, so gut wie möglich zu versuchen, einen solchen zu verhindern. Den Gewerkschaftsführern wurde ein Vetorecht eingeräumt. Nur wenn sie zustimmten, würde auch die Partei zum Generalstreik aufrufen! Diese schmachvolle Vereinbarung zeigte die vollständige Kapitulation der Partei vor der Gewerkschaftsbürokratie.

Erst in Vorbereitung auf den Parteikongress in Mannheim wurden Teile dieser Vereinbarung bekannt. Luxemburg verfasste aus diesem Anlass ihrer Schrift “Massenstreik, Partei Gewerkschaften”. Darin hob sich nochmals die Grenzen der “reinen gewerkschaftlichen” Taktiken und Organisation hervor. Sie betonte die Bedeutung der “rückständigen”, unorganisierten Teile des Proletariats, der Textilarbeiterinnen, der Elektrizitätsarbeiter, Heim-, Land-, Eisenbahn- und Postarbeiter für die “russische Bedingungen inmitten des konstitutionell parlamentarischen Staates Deutschlands existieren.”

Die Vorstellung, dass diese Teile der Arbeiterschaft das Streik- und Organisationsrecht durch friedliche, rein legale Mittel erreichen könnten, sein ein typisches Beispiel für den Utopismus der Gewerkschaftspedanterie. Eine mächtige Massenstreikbewegung könnte diese Ziele durchsetzen, indem sie die Forderungen nach dem 8 Stundentag, den Kampf für die Einführung von Arbeiterkomitees in allen Fabriken, die Abschaffung der Stück- und Heimarbeit, einen freien Sonntag und die Anerkennung des Rechts auf Vereinigung der Beschäftigten zusammenfasst.

In den Fußstapfen von Engels, entwickelte Luxemburg die Schlüsselelemente der marxistischen Strategie für die Umwandlung der Gewerkschaften. Das Hineinziehen der Arbeitermassen in die direkten politische Aktionen, der Angriff auf die Berufs- und Branchenzersplitterung, der Angriff auf den Würgegriff der Gewerkschaftsbürokraten – all das sind zentrale Elemente des sich entwickelten marxistischen Programms für die Umwandlung der Gewerkschaften.

Lenins konsequenter Kampf gegen den Ökonomismus und in Verteidigung von “Was tun?” brachte ihn in scharfen Konflikt mit den Menschewiken, die begierig waren, den Marxismus zu revidieren und die “Neutralität” der Gewerkschaften auszurufen. Der Kampf innerhalb der russischen Partei bezog sich auf die selben Inhalte wie in der deutschen Sozialdemokratie und in der Zweiten Internationale. Er einigte Lenin mit Luxemburg und (scheinbar) mit Kautsky. 1907 und 1908 unterstützte sie Lenin in ihrem Kampf gegen die deutschen Gewerkschaftsführer, obwohl er vor der deutschen Sozialdemokratie und Bebel enormen Respekt hatte.

In der russischen Sozialdemokratie, erst kurz vereint durch den Stockholmer Kongress von 1906, entstand ein bedeutender Kampf zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki über die Frage der “Gewerkschaftsneutralität”. Lenin trat für Gewerkschaften auf breiter Basis, mit ihrer eigenen uneingeschränkten Demokratie ein und wandte sich dagegen, Parteistrukturen zu schaffen, die als Gewerkschaften verkleidet waren.

Der große Wert von Gewerkschaften war, dass sie bisher nicht klassenbewusste Arbeiter und Arbeiterinnen organisierten, sie in den elementaren Stufen der Klassenkampfsolidarität, der Feindschaft zu den Unternehmern, usw. erzogen. Daher müssten Marxisten innerhalb dieser Organisationen arbeiten, um sie mit dem Geist der Sozialdemokratie zu erfüllen und die Führung dieser zu gewinnen. Der Aufstand von 1905/06, der die ganze Avantgarde der russischen Arbeiterklasse radikalisierte und bei Millionen das Klassenbewusstsein weckte, schuf eine wahre Massenbewegung, die die russischen Marxisten vor neue Aufgaben stellte.

Die zentristischen Menschewiki passten, in Panik versetzt, ihre Politik und Programme an diese Massenbewegungen an und als die Revolution verebbte und das Niveau des Massenbewusstseins fiel, waren sie gezwungen, die durch die Iskra Gruppe vor 1902 entwickelte Strategie und Taktiken als nutzlosen Ballast über Board zu werfen. Plechanow wurde ein schreiender Vertreter der Gewerkschaftsneutralität und Axelrod wurde, beeinflusst vom westeuropäischen Syndikalismus, Befürworter eines breiten Arbeiterkongresses, innerhalb dessen die Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionären sich selbst als Propagandagesellschaften beschränken sollten.

Die Kämpfe mit den Menschewiki auf dem Londoner Kongress der russischen Partei (Mai 1907) und auf dem Stuttgarter Kongress der Zweiten Internationale (August 1907) überzeugten Lenin vollständig:

“Die Resolution des Stuttgarter Kongresses macht, wie Kautsky richtig hervorhob und wovon sich jeder durch aufmerksames Studium überzeugen kann, der prinzipiellen Anerkennung der ‚Neutralität‘ ein Ende. Von Neutralität und Parteilosigkeit steht in ihr kein Wort. Im Gegenteil, es wird mit aller Bestimmtheit die Notwendigkeit anerkannt, innige Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und der sozialistischen Partei herzustellen und diese Beziehungen dauernd zu unterhalten.” (57)

Bedeutender ist, dass Lenin half die Partei und als ein Teil des Blockes, bestehend aus Luxemburg, Kautsky und anderen, die Internationale zu einer Absage an den Neutralismus zu gewinnen. Darin waren sie sogar gegen den Veteran Bebel erfolgreich, der das mit den Gewerkschaften geschlossene “Zwei Pfeiler” Argument verteidigte. Lenin lehnte im Bezug auf die Gewerkschaften nachdrücklich eine Beschränkung der Politik auf die bloße “Anerkennung” des Sozialismus ab. Vielmehr war es für in unabdingbar, dass die Sozialdemokraten in den legalen Massenorganisationen wie den Gewerkschaften eigene Parteigruppierungen mit eigener Disziplin aufbauen, um so den Kampf gegen den bürgerlichen Einfluss und für eine revolutionäre Führung systematisch zu führen.

“Die Sozialdemokraten müssen zu allen Arbeitervereinigungen möglichst bereite Arbeiterkreise heranziehen, indem sie alle Arbeiter ohne Unterschied der Parteianschauung zum Beitritt auffordern. Die Sozialdemokraten müssen jedoch innerhalb dieser Vereinigungen Parteigruppen bilden und durch beharrliche, systematische Arbeit innerhalb dieser Vereinigungen dahin wirken, daß zwischen ihnen und der sozialdemokratischen Partei die engsten Beziehungen hergestellt werden.

3. Die Erfahrungen der internationalen und unserer russischen Arbeiterbewegung lehren die Notwendigkeit, vom Augenblick der Entstehung solcher Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften, Genossenschaften, Klubs usw.) an danach zu streben, daß jede dieser Institutionen ein Stützpunkt der sozialdemokratischen Partei sei.” (58)

Dementsprechend müssen die Parteimitglieder regelmäßige Beratungen untereinander abhalten und bei Wahlen in diesen Organisationen um die Führung kämpfen. Der Verzicht darauf bedeutet einfach, die Führung der Gewerkschaften nicht-proletarischen Strömungen zu überlassen.

Nachdrücklich nach dem endgültigen Bruch 1912 verteidigten die Bolschewiki diese Position mit Nachdruck, obwohl sie in den Gewerkschaften einem feindlichen Block von Menschewiki und Sozialrevolutionären gegenüberstanden. Für diesen Block war die Neutralität nicht mehr als sich “ein Zeichen aufzustecken”; während sie laut die Notwendigkeit proklamierten, die Gewerkschaften neutral zu halten, schlossen sie in jenen Gewerkschaften ihre Gegner aus, in denen sie zeitweilig die Mehrheit erhielten.

“Nur schwache, prinzipienlose verlieren beim ersten ‘Sieg’ den Kopf und beeilen sich, ihren Sieg mit der Mehrheit von irgendeinem Dutzend Stimmen zu ‚festigen‘. ‚In Erregung und Eile‘, um die glückliche Gelegenheit nicht zu verpassen, revidieren sie schnell ihrer ‚Prinzipien‘, vergessen ihren Neutralismus und kleben ein Etikett auf. So handeln Marxisten nicht. Sie sind keine gelegentlichen Gäste in der Arbeiterbewegung. Sie wissen, daß früher oder später alle Gewerkschaften auf marxistischem Boden stehen werden. Sie sind überzeugt, daß die Zukunft ihren Ideen gehört, und sie forcieren die Ereignisse nicht, treiben die Gewerkschaften nicht an, kleben keine Etiketts auf, spalten die Gewerkschaften nicht.” (59)

Die offene und ehrliche Darlegung ihrer Prinzipien, Programme und Taktiken, ihre Organisation in dafür kämpfenden Zellen ist für Marxisten daher untrennbar verbunden mit der Verteidigung der gewerkschaftlichen Demokratie, der Einheit und Offenheit für alle Lohnabhängigen. Marxisten kämpfen offen dafür, die Arbeiter und Arbeiterinnen für den Kommunismus und eine revolutionäre Führung zu gewinnen. Im Kampf um diese Führung legen sie gleichzeitig dar, dass sie die Gewerkschaften auf die zentrale Aufgabe der Partei, dem Kampf für die Macht der Arbeiterklasse ausrichten wollen.

Diese Methode wurde durch die Arbeit der Kommunistischen Internationale systematisiert und konkretisiert. Unter Einbeziehung der Erfahrungen der sozialdemokratischen Linken der Nachkriegszeit, der Syndikalisten, die nach 1917 zum Kommunismus gewonnen wurden und der Bolschewiki, diskutierte die Komintern erstmals auf dem zweiten Kongress 1920 die Gewerkschaftstaktiken und -strategie.

Periodische Krisen würden – so Lenin und Trotzki – die Lebensfähigkeit des “reinen Gewerkschaftlertums” unterminieren, indem neue Arbeiterschichten in den Kampf einbezogen werden. Die Komintern beschrieb 1920 diesen Prozess folgendermaßen:

“Um im wirtschaftlichen Kampf Erfolg zu haben, strömen die breitesten Arbeitermassen, die bisher außerhalb der Gewerkschaften standen, in ihre Reihen. (…) Indem sie in die Gewerkschaften hineinströmten, versuchten diese Massen sie zu ihrer Kampfwaffe zu machen. Die sich verschärfenden Klassengegensätze nötigen die Gewerkschaften zur Leitung von Streiks, die in breiter Welle über die ganze kapitalistische Welt fluten und den Prozess der kapitalistischen Produktion und des Austausches ständig unterbrechen. (…) Die Gewerkschaften, die während des Krieges zu Organen der Beeinflussung der Arbeitermassen im Interesse der Bourgeoisie geworden waren, werden jetzt zu Organen der Zerstörung des Kapitalismus.” (60)

Gewerkschaften als “Organe der Zerstörung des Kapitalismus” müssen sich als ihr zentrales Ziel notwendigerweise den Kampf um die Kontrolle der Produktion setzen. Daher war das von der Komintern vorgebrachte Programm der Umwandlung der Gewerkschaften auf solche Fragen zugespitzt wie: ein Bruch mit jedem berufsständischen Aufbau und Schaffung von Industriegewerkschaften; Schaffung von Fabrikkomitees, die für den Kampf um die Arbeiterkontrolle organisieren; Demokratisierung des Gewerkschaftsapparates direkt unter der Kontrolle der Basis der Gewerkschaften. Die Kommunistinnen und Kommunisten traten für die Transformation der Gewerkschaften zu Organen des Klassenkampfes ein. Ohne diese Änderung der Gewerkschaften würden sich diese mehr und mehr als unfähig erweisen, den Lebensstandard und das Kulturniveau der Arbeiterklasse zu verteidigen.

Eine solche Transformation kann nicht schrittweise, nicht kampflos und auch nicht friedlich vor sich gehen. Vor allem aber können die Halbherzigkeit der opportunistischen Führer wie die Unmöglichkeit der Realisierung der grundlegenden Interessen des Proletariats auf dem Boden des Kapitalismus der Arbeitermasse nur verdeutlicht werden, wenn die kommunistische Avantgarde lernt, “im Wirtschaftskampf nicht nur Verkünder der Ideen des Kommunismus zu sein, sondern die entschlossensten Führer des Wirtschaftskampfes und der Gewerkschaften zu werden. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, aus den Gewerkschaften die opportunistischen Führer zu entfernen. Nur auf diese Weise können die Kommunisten an die Spitze der Gewerkschaftsbewegung treten und sie zu einem Organ des revolutionären Kampfes für den Kommunismus machen.” (61)

Angesichts der kapitalistischen Krise, der Ausdehnung der Gewerkschaften und des Drucks der Massen, war es unvermeidbar, dass die Gewerkschaftsbürokratie von inneren Widersprüchen geschüttelt würde. Diese Tatsache wurde von Trotzki in seinen kurzen, aber bedeutenden Arbeiten über die Gewerkschaften diskutierte und zusammengefasst (62).

Für Trotzki ist in der imperialistischen Epoche wenig Raum für den Schein von “Unabhängigkeit” und politischer “Neutralität” der Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaftsbürokratie ist vielmehr zur Verlängerung des bürgerlichen Staates in die Arbeiterbewegung geworden. Diese Funktionsveränderung begründet Trotzki nicht nur mit dem Charakter der Bürokratie und Arbeiteraristokratie, sondern vor allem damit, dass der Kapitalismus Monopolkapitalismus geworden ist. Gerade daraus ergibt sich für die reformistische Gewerkschaftsbürokratie die Notwendigkeit, sich dem bürgerlichen Staat anzupassen, in ihm das bevorzugte Vehikel der Umsetzung ihrer Interessen zu erblicken.

“Die Gewerkschaftsbürokratie sieht ihre Hauptaufgabe darin, den Staat aus der Umklammerung des Kapitalismus zu ‚befreien‘, seine Abhängigkeit von den Trusts zu mildern und ihn auf ihre Seite zu ziehen. Diese Einstellung entspricht vollkommen der sozialen Lage der Arbeiteraristokratie und der Arbeiterbürokratie, (…).” (63) Diese gegenüber den Frühkapitalismus qualitativ verstärke Integration in den bürgerlichen Staat führt auch dazu, dass in den Gewerkschaften die Demokratie eingeschränkt sein muss – und von der Bürokratie im Wesentlichen immer mehr eingeschränkt wird, je mehr sie ihr Machtmonopol gefährdet sieht.

Diese Züge der Gewerkschaften hält Trotzki – solange die Gewerkschaften selbst nicht zu revolutionären Organen geworden sind – für unvermeidbar (und die Geschichte hat ihm an dieser Stelle zweifellos Recht gegeben). Allerdings dürfen sie in keinem Fall als Entschuldigung für das Verbleiben von den Gewerkschaften und die Ablehnung des Kampfes innerhalb der Massenorganisationen des Proletariats herhalten.

Trotzki entwickelt zwei Losungen, die für ihn von zentraler Bedeutung zur Eroberung der Gewerkschaften sind: Der Kampf um die Unabhängigkeit vom bürgerlichen Staat und die Gewerkschaftsdemokratie.

Doch Unabhängigkeit vom bürgerlichen Staat darf hier nicht in erster Linie formal verstanden werden. Diese hat vielmehr einen bestimmten politischen Inhalt, das revolutionäre Programm, ohne den die “Unabhängigkeit” nur Betrug sein kann.

“In Zeiten des imperialistischen Verfalls können die Gewerkschaften nur dann wirklich unabhängig sein, wenn sie sich bewußt werden, daß sie in ihrer Tätigkeit die Organe der proletarischen Revolution sind. In diesem Sinne ist das vom letzten Kongreß der IV. Internationale angenommene Übergangsprogramm nicht nur das Programm für die Tätigkeit der Partei, sondern in seinen Grundzügen auch das Programm für die Tätigkeit der Gewerkschaften.” (64)

Und an anderer Stelle:

“Unabhängigkeit vom Einfluß der Bourgeoisie kann kein passiver Status sein. Sie kann sich nur in politischem Handeln äußern, d.h. durch den Kampf gegen die Bourgeoisie. Dieser muß angeleitet sein von einem eindeutigen Programm, das eine Organisation und die Taktiken für ihre Anwendung erfordert. Erst die Einheit von Programm, Organisation und Taktik konstituiert die Partei. In dem Sinne kann die wirkliche Unabhängigkeit des Proletariats vom bürgerlichen Staat nur dann erzielt werden, wenn das Proletariat seinen Kampf unter der Führung einer revolutionären, und nicht einer opportunistischen Partei austrägt.” (65)

Sie wie die Unabhängigkeit der Gewerkschaften nur auf revolutionärer Grundlage möglich ist, so ist auch die Demokratisierung der Gewerkschaften nur möglich, wenn und nachdem die Macht der Bürokratie gebrochen ist – eben weil der Kampf um Gewerkschaftsdemokratie in Wirklichkeit der Kampf gegen eine Kaste ist, die schon lange ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht hat, deren soziale Frage gelöst ist.

Wichtig ist dabei zu betonen, dass die Selbständigkeit der Gewerkschaften, ihre “wirkliche Autonomie” keineswegs im Gegensatz zur kommunistischen Führung steht (anders als das in den stalinistischen Vorstellungen zum Ausdruck kam). Die Gewerkschaftsdisziplin und die Parteidisziplin schließen einander für Trotzki nicht aus. Die Kommunisten müssen beanspruchen, was jeder politischen Strömung in den Gewerkschaften zustehen soll und was in der gegenwärtigen Periode von der reformistischen Bürokratie monopolisiert wird: das Recht auf unbehindertes Vertreten der eigenen Auffassungen, Propaganda- und Agitationsfreiheit.

Doch den Kampf müssen sie führen, denn damals wie heute gibt es nur eine Alternative: Die Gewerkschaften können sich entweder als Instrumente für die Unterordnung der Arbeiterklasse unter das Kapital erweisen – oder in den Händen der Massen und unter der Führung einer revolutionären kommunistischen Partei zu einer entscheidenden Waffe zum Sturz des Kapitalismus und zur Errichtung der Diktatur des Proletariats werden.

Anmerkungen

(1) Marx, Lohn, Preis, Profit, MEW

(2) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 185

(3) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 191

(4) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 249

(5) Engels, Das Lohnsystem, MEW 19, S. 253

(6) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 649

(7) Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2, S. 436

(8) Engels, ebenda, S. 441

(9) Marx, Instruktionen, MEW 16, S. 197

(10) Marx, Kapital, Band 1, S. 562

(11) Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, in: Gesammelte Werke, Bd. 1/1, S. 420

(12) Lenin, Gesammelte Werke, Band 6, S. 472

(13) Lenin, Was Tun,

(14) Lenin, Gesammelte Werke, Band 10, S. 16

(15) Luxemburgs Scheitern in der deutschen Revolution, siehe RM 26 Novemberrevolution

(16) Trotzky, How Has Stalin Defeated the Left Opposition, in: Writings 35 6, S. 173/74

(17) Royden Harrison, Labour before the Socialists

(18) Brief von Marx and Sigfrid Meyer und August Vogt, 9. April 1870, MEW 32, S. 668/669

(19) Brief von Marx and Kugelmann, 18. Mai 1874, MEW 33, S. 628

(20) Brief von Engels an Marx, 7. Oktober 1858, MEW 29, S. 358

(21) Ebenda, S. 358

(22) Brief von Engels an Kautsky, 12. September 1882, MEW 35, S. 357

(23) Brief von Engels an Bebel, 30. August 1883, MEW 36, S. 58

(24) Engels, England 1845 und 1885, MEW 21, S. 194

(25) Engels, Die englischen Wahlen, MEW 18, S. 496

(26) Ebenda, S. 497

(27) Ebenda, S. 498

(28) Engels, Vorwort zur 2. deutschen Auflage der “Lage der arbeitenden Klasse”, MEW 22, S. 328/329

(29) Schneider, Michael, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, Bonn, Dietz 1989, S. 493/494

(30) Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt/Main 1972, S. 78

(31) J.Kuczynski, Short History of Labour Conditions Under Industrial Capitalism, Vol. 3, Pt. 1, p. 139

(32) Zitiert in R. Schlesinger, Central European Democracy and its Background, p. 70 1

(33) Zitiert nach Wolfgang Köllmann, Politische und soziale Entwicklung der deutschen Arbeiterschaft 1850-1914, in: Ritter (Hrsg), Die Deutschen Parteien vor 1918, S. 324

(34) Paul Frölich, Rosa Luxemburg, Frankfurt/Main 1967, S. 82

(35) Resolution des Gewerkschaftskongresses in Köln, in: Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 416

(36) Wolfgang Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt/Main 1969, S. 43/44

(37) Dieses Vetorecht ist in folgender Formulierung des Mannheimer Parteitags enthalten: “Um bei Aktionen, die die Interessen der Gewerkschaften und der Partei gleichmäßig berühren, eine einheitliches Vorgehen herbeizuführen, sollen die Zentralleitungen der beiden Organisationen sich zu verständigen suchen.”

(38) Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Luxemburg, Gesammelte Werke, S. 162/163

(39) Ebenda, S. 163

(40) Ebenda, S. 169

(41) Solche Formulierungen finden sich zum Beispiel am Beginn des VIII Abschnittes von “Massenpartei, Partei und Gewerkschaften”. Wir haben auch in der Analyse von Luxemburgs Politik in der Novemberrevolution auf die fatalen Auswirkungen dieses Position hingewiesen.

(42) Lenin, In Amerika, In: Gesammelte Werke, Band 36, S. 189

(43) Ebenda, S. 189

(44) Lenin, Klassenkrieg in Dublin, in: Lenin, Werke, Band 19, S. 326

(45) Lenin, Was man der deutschen Arbeiterbewegung nicht nachahmen soll, in: Lenin, Gesammelte Werke, Band 20. S. 255

(46) Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, Lenin, Werke Bd. 23, S. 112

(47) Ebenda, S. 113

(48) Ebenda, S. 114

(49) Ebenda, S. 116

(50) Trotzki, Die neue Verfassung der UdSSR, in: Trotski Schriften, Sowjetgesellschaft und Stalinistische Diktatur, 1929-36, Band 1.1., S. 663

(51) Trotzki, Wie hat Stalin über die Opposition gesiegt?, in: Schriften 1.1, S. 640

(52) Ebenda, S. 640

(53) Ebenda, S. 641

(54) Marx, Instruktionen für die Delegierten des Zentralrats, MEW 16, S. 197/198

(55) Engels an Plechanow, 21.5.1894, in: MEW 39, S. 248

(56) Luxemburg an Henriette Roland-Holst, zitiert nach Frölich, S. 165

(57) Lenin, Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart, Werk Bd. 13, S. 70

(58) Lenin, Resolution der Sommerberatung des Zentralkomitees der SDAPR, in: Lenin, Werke 19, S. 418/19

(59) Lenin, Die Volkstümler und die Liquidatoren in der Gewerkschaftsbewegung, Lenin, Werke 20, S. 133

(60) 2. Weltkongress der KI, Leitsätze über die Gewerkschaftsbewegung, die Betriebsräte und die III. Internationale, in: Die Kommunistische Internationale, Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, Bd. 1, Berlin 1984, S. 186

(61) Ebenda, S. 188

(62) Leider sind einige dieser Arbeiten in deutscher Sprache schwer zugänglich. Eine gute Auswahl findet sich in: Trotzki, Gewerkschaften und Revolution, Dortmund 1977

(63) Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs, S. 36

(64) Ebenda, S. 40

(65) Trotzki, Kommunismus und Syndikalismus, in: Trotzki, Gewerkschaften und Revolution, S. 75




Basisbewegung gegen die Bürokratie

Die Minderheitsbewegung der 1920er Jahre und ihre Lehren

Peter Lenz, Revolutionärer Marxismus 31, Herbst 2000

Nach dem Erfolg der russischen Revolution 1917 standen die Revolutionäre in aller Welt vor dem Ziel, es den Bolschewiki gleich zu tun und die Arbeiterklasse auch in anderen Staaten, insbesondere den imperialistischen Kernländern, zum Sieg zu führen. In den Nachkriegsjahren bildeten sich aus relativ kleinen, kommunistischen Zirkeln Parteien, deren erklärtes Nahziel der Sturz der eigenen Bourgeoisien war.

Dieser Sprung war zum einen ein organisatorischer Akt, zum anderen aber eine Herausforderung auf politischer, programmatischer Ebene. Es mussten Strategien und Taktiken entwickelt werden. Es musste mit den alten Organisationsformen sozialdemokratischer Prägung gebrochen werden. Für diese neuen kommunistischen Parteien stellte sich die Frage, wie sie die Mehrheit der Arbeiterbewegung auf ihre Seite ziehen und den organisatorischen, politischen und ideologischen Einfluss des Reformismus brechen können.

Hintergründe

Alle grundsätzlichen Fragen der kommunistischen Strategie und Taktik, des Parteiaufbaus, des Verhältnisses von Agitation und Propaganda, des Internationalismus u.a.m. mussten in einer harten Auseinandersetzung aufgearbeitet und konkretisiert werden.

Die Fragen des Kampfes um die Gewerkschaften nahmen hierbei eine zentrale Stellung ein. Stuart King hat sich 1978 in einer Broschüre unserer Schwesterorganisation Workers Power intensiv mit der Entwicklung des Minority Movement (Minderheitsbewegung) in Britannien auseinander gesetzt. Das Beispiel des Minority Movement ist relativ unbekannt geblieben, jedoch aktueller denn je. Für uns ist interessant, welche Erkenntnisse wir aus den geschichtlichen Erfahrungen für die heutige Situation gewinnen können, um eine korrekte Politik in den Gewerkschaften durchführen zu können.

Die Initiative für den Aufbau des Minority Movements ging von der British Communist Party (CPGB) aus, die am 31. Juli 1920 gegründet wurde. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung bestanden eine Reihe von programmatischen Differenzen, insbesondere in der Taktik gegenüber der Labour Party innerhalb der Partei. Die ehemaligen Mitglieder der British Socialist Party, einer der Vorläuferorganisationen der CPGB, waren auch Mitglieder der Labour Party und Lenin empfahl, in der reformistischen Partei zu verbleiben, um bei Wahrung der Propaganda- und Agitationsfreiheit den politischen Einfluss zu erweitern und neue Mitglieder für den Kommunismus zu gewinnen. Keinesfalls sollte das Ziel sein, eine ”Linkspartei” aufzubauen oder die Labour Party zu stärken.

Noch bevor die junge Partei zu einem kohärenten Gefüge zusammenwachsen konnte, gab es Ende 1920 eine massive ökonomische Krise. Sie verdeutlichte, dass die CPGB der Aufgabe noch nicht gewachsen war, ihre Politik auf den Kampf um die Macht auszurichten und als politische Führung der Klasse zu agieren, die imstande gewesen wäre, die Interessen der Arbeiterbewegung erfolgreich zu verteidigen.

Wie so oft in der Geschichte der britischen Arbeiterbewegung standen die Bergarbeiter in dieser kritischen Phase in der vordersten Front. Der Regierungskoalition aus Liberalen und Konservativen forderte massive Lohnkürzungen. Im Jahr davor hatte die Androhung eines Generalstreiks durch einen landesweit organisierten, gewerkschaftlichen Aktionsrat den britischen Imperialismus daran gehindert, direkte militärische Aktionen gegen die Sowjetunion durchzuführen, und 1920 wurde das alte parlamentarische Komitee des gewerkschaftlichen Dachverbandes TUC durch einen neuen ”General Council”, ein zentrales Koordinierungsorgan für die gesamte Gewerkschaftsbewegung, ersetzt. In der Arbeiterklasse gärte es gewaltig.

Als Lloyd George ein Gesetz zur Beendigung der staatlichen Kontrolle der Minen (eine Maßnahme aus Kriegszeiten) verkündete und die Unternehmer drastische Lohnkürzungen verkündeten, war dies eine Kampfansage an die Bewegung. Die Lage spitzte sich zu, als Militär und Reservisten, ausgerüstet mit Maschinengewehren, in den Arbeitervierteln und bei den Minen postiert wurden.

Angesichts der Entschlossenheit der Regierung und der Kampfbereitschaft der Basis griffen die Führer der Gewerkschaftsbewegung – Thomas (Eisenbahner), Hodges (Bergarbeiter) sowie Williams und Bevin (Transportarbeiter) zum Verrat. Am Freitag, dem 13. April sagten die reformistischen Führer die versprochenen Solidaritätsaktionen ab und der Tag ging in die Annalen der britischen Arbeiterbewegung als ”schwarzer Freitag” ein.

Die Auswirkungen auf die britische Arbeiterklasse waren durch die Bank verheerend. Ende des Jahres 1921 erhielten sechs Millionen Arbeiter einen im Schnitt um 8% geringeren Wochenlohn. Der Reallohnverlust bis 1924 war dramatisch: 26% bei den Bergarbeitern, 20% in der Eisen- und Stahlindustrie, 11% bei den Textilarbeitern. Nahezu zwei Millionen Arbeiter – etwa ein Viertel der Gesamtmitgliedschaft – verließen die Gewerkschaften. Die Arbeitslosigkeit stieg von 250.000 1920 auf fast zwei Millionen im Juni 1921.

Fehler der CPGB

Es folgte noch eine Serie von, teilweise monatelangen Defensivstreiks der Arbeiter. Aber die Gewerkschaften wurden in die Knie gezwungen, die Streikkassen waren leer und viele betriebliche Strukturen in den Ruin getrieben. Die Elemente der Arbeiterkontrolle, die im und nach dem Krieg durchgesetzt worden waren, gingen verloren. Die Shop-Steward-Bewegung (eine Art gewerkschaftlicher Vertrauensleute) brach unter dem Eindruck der steigenden Arbeitslosigkeit und der Niederlagen zusammen.

Die junge CPGB warnte zwar vor dem drohenden Verrat der reformistischen Führer unter dem Titel ”Behaltet eure Führer im Auge”, doch die Partei gab keine klar Linie aus, wie dagegen vorzugehen sei. Sie organisierte auch keinen Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Ortsgruppen, die in ihrer Arbeit auf sich allein gestellt waren. Die Lehren aus dem ”schwarzen Freitag” gingen jedoch nicht verloren, da hier die Kommunistische Internationale zur Seite stand.

Auf dem III. Kongress der Komintern (Juni/Juli 1921) wurde Taktik und Organisation der CPGB einer ernsthaften Kritik unterzogen. Es zeigt sich die Notwendigkeit eines direkteren Eingreifens der Internationale und so wird 1922 vom Londoner Büro der Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI) die Initiative für eine Kampagne ”Zurück in die Gewerkschaften” gesetzt, um den Austritten aus den Gewerkschaften entgegenzuwirken. Im August 1921 konnten die Kommunisten die Führung im ”National Unemployed Workers Committee Movement” gewinnen.

Ein Schlüssel für die effektive kommunistische Arbeit in den proletarischen Massenorganisationen war eine stabile Organisation der kommunistischen Partei selbst. Diese wurde nach dem Kongress 1922 auf Initiative der jungen Parteimitglieder Pollitt und Dutt und mit Unterstützung der Komintern in Angriff genommen. Im März 1923 begann die CPBG mit der Herausgabe der ”Workers Weekly” mit einer Auflage von annähernd 50.000 Exemplaren (zuvor hatte es ”The Communist” nur auf 17.000 gebracht).

In diesem Jahr begann sich auch die Arbeiterbewegung von ihren Niederlagen zu erholen. Die Zahl der Streiks stieg an, die Arbeiter und Arbeiterinnen entwickelten Selbstvertrauen. In den Wahlen im November 1923 wurde Labour stärkste Partei und bildete eine Minderheitsregierung.

Vor diesem Hintergrund begann die CPGB 1923 einen Kern von CPGB-Mitgliedern und gewerkschaftliche Basismitglieder, die nicht der Partei angehörten, in den Bergwerken, bei den Eisenbahnern und Maschinenbauarbeitern, gemeinsam zu organisieren. Wie weit sich die junge CP von der propagandistischen Unbeweglichkeit ihrer frühen Tage wegbewegt hatte, war an der Strategie und Taktik zu sehen, mit der sie operierte, als sie das Minority Movement aufbaute.

Exkurs: Die Einheitsfronttaktik

1924 wandte die KP bei der Formierung des National Minority Movement die Einheitsfronttaktik an, die die Komintern entwickelt hatte. Auch im politischen Flügel der Arbeiterbewegung, der Labour Party, wurde eine ähnliche Taktik verfolgt, um einen ”linken Flügel” aufzubauen. Die Komintern ging davon aus, dass die Bourgeoisie eine temporäre Stabilisierung nach dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution erreicht hatte.

Die europäische Arbeiterbewegung stand in ihrer Mehrheit loyal zur Sozialdemokratie und weigerte sich, mit ihren alten Organisationen zu brechen. Nur eine Minderheit kämpfte innerhalb der Gewerkschaften für den Anschluss an die RGI. In dieser Situation bestand die Notwendigkeit, alle organisatorischen Wege auszuschöpfen, um ein Maximum gemeinsamer, koordinierter Aktionen zwischen kommunistischen und nicht-kommunistischen Arbeitern sicherzustellen.

Die Einheitsfronttaktik durfte dabei nie die Freiheit der Kritik oder Aktion der CPGB einschränken. Ganz im Gegenteil: Nur durch die beharrliche Kritik an der Politik der reformistischen und zentristischen Führer können die Kommunisten die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse verteidigen und sie für den Kommunismus gewinnen.

Das Exekutivkomitee der Komintern (EKKI) stellt 1921 in seinen Direktiven zur Einheitsfront fest, dass sich in jeder Gewerkschaft die Basiskräfte um ein Aktionsprogramm sammeln müssen, um konkrete Forderungen für die Konsolidierung der Gewerkschaft und ihre Reorganisation, um die Notwendigkeit zurSchaffung einer neuen (nicht-klassenkollaborationistischen) Ideologie in der Gewerkschaftsmitgliedschaft und um die Notwendigkeit des Trainings und der Entwicklung einer neuen Führerschaft, um die alte zu ersetzen.

In der Komintern und der RGI gab es heftige Auseinandersetzungen um die Einheitsfronttaktik. Diese Debatten müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass zu diesem Zeitpunkt in der Komintern bzw. RGI Organisationen und Gewerkschaften mit syndikalistischem, anarchistischem und anderem linksradikalem” Hintergrund (KAPD u.a.) vertreten waren. So wurde phasenweise die Einheitsfront auch lediglich als Taktik gegenüber diesen Kräften angesehen.

In einer vom Exekutivbüro der RGI im September 1921 erlassenen Botschaft über die Offensive des Kapitals, in der die Idee der Einheitsfront erstmals von der RGI dargestellt wurde, wurde die Notwendigkeit der ”Einheit der proletarischen Front” hervorgehoben, wobei es sich ausdrücklich um die Einheitsfront ”der revolutionären Arbeiter” mit ”den Arbeitern reformistischer Amsterdamer Gewerkschaften” allerdings nicht um die Einheitsfront mit den Amsterdamer Verbänden) handelte.

Differenzen in der KI

Im Oktober 1921 erschien eine Schrift Losowskis, in der das Aktionsprogramm und die Taktik der RGI erläutert wurden. Als aktuelle Aufgabe wurde nur die Errichtung ”der Einheitsfront aller revolutionären Kräfte” hervorgehoben und erst nach der Erfüllung dieser Aufgabe sollte es angebracht sein, an “die Einheitsfront der gesamten Arbeiterklasse”, “an die Zusammenfassung aller Organisationen zu einer einzigen Kampfeinheit zu denken”.

Während nach dem zweiten und vor allem nach dem dritten Weltkongress die Kommunistische Internationale daran ging, die Einheitsfronttaktik zu systematisieren, änderte sich das Bild nach Lenins Tod.

Auf dem V. Kongress der Komintern (vom 17. Juni bis 8. Juli 1924) hat Sinowjew im Bericht des Exekutivkomitees der Komintern als Sinn der Einheitsfrontpolitik folgende Auffassung vertreten:

”Es hat sich herausgestellt, dass manche Genossen es nicht verstanden haben, dass die Taktik der Einheitsfront für die Komintern lediglich eine Methode der Agitation und der Mobilisation der Massen ist”.

Radek polemisierte in der Debatte gegen Sinowjews Ausführungen und setzte sich für die ”ehrliche und offene” Durchführung der Einheitsfronttaktik ein, wurde aber auf das Entschiedenste zurückgewiesen. In einer direkten Polemik gegen Radek führte Bucharin aus, dass die Taktik der Einheitsfront ”das Ziel verfolgt, in den Massen zu agitieren, sie zu mobilisieren und den Gegner zu entlarven”, die Entlarvung der Reformisten sei ”das Wichtigste” in der Einheitsfronttaktik.

In den Darstellungen Losowskis, Sinowjews und Bucharins werden einige grundsätzliche Fehler der Anwendung der Einheitsfronttaktik vertreten, die sich bis heute unter Linken durchziehen. Das ist zum Ersten die Einengung der Einheitsfront auf „die Revolutionäre“ oder die Schaffung „revolutionärer Einheitsfronten“.

Die Einheitsfront ist jedoch immer eine Taktik zur Herstellung möglichst großer gemeinsamer Kampfkraft des Proletariats, von Revolutionären und Nicht-Revolutionären. Die „Einheitsfront der Revolutionäre“ ist in Wirklichkeit entweder politischer Unsinn, das politische Reinwaschen von zentristischen oder ultra-linken Kräften (den “revolutionären” Einheitsfrontpartnern) oder das Vorspiel zur unrühmlichen „Einheitsfront von unten“ der Stalinära. Die Einheitsfront darf nämlich nicht nur gegenüber den reformistischen Massen angewandt werden, sondern muss auch gegenüber den Führern umgesetzt werden.

Zweitens ist die Entlarvung der reformistischen Führern zwar notwendiger Teil der Einheitsfronttaktik. Die Herstellung möglichst großer Kampfeinheit des Proletariats (z.B. in Streiks, im Kampf gegen die Faschisten usw.) ist jedoch keineswegs eine vorrangig denunziatorische Übung gegenüber den reformistischen und zentristischen Führern der Massen, sondern vor allem auch eine politische Notwendigkeit.

So weit zu einigen ultra-linken Fehlern. Ein andere, nicht weniger oft begangener Fehler besteht darin, die Taktik der Einheitsfront zur Strategie zu erklären und sich damit an Kräfte zu binden, die vorübergehend ein Kampfziel teilen.

Die Entstehung der Minderheitsbewegung

Die Vorschläge des Minority Movement umfassten vier Hauptbereiche für die Konsolidierung der Gewerkschaftsbewegung und ihre Reorganisation: Fabrik- und Abteilungskomitees am Arbeitsplatz, die Transformierung der Trades Councils (einer Art Ortskartell, in dem sich die Vertreter aus Ortsgruppen der verschiedenen, lokalen Gewerkschaften treffen), die Zusammenfassung der zersplitterten berufs- und handwerksorientierten Gewerkschaften in Industriegewerkschaften und Umwandlung des Zentralrates des TUC in einen Generalstab der Arbeiterbewegung.

Die Fabrikkomitees sollten alle Arbeiter eines bestimmten Arbeitsplatzes ungeachtet ihrer Ausbildung oder ihres Berufes umfassen und eine Einheitsfront der Arbeiter gegen die Offensive der Unternehmer darstellen sowie die primären Organe im Kampf um die Arbeiterkontrolle und ihrer Durchführung sein. Die Trades Councils sollten so ausgebaut werden, dass sie die gesamte Arbeiterbewegung in einem Gebiet umfassen, also auch die Fabrikkomitees und die politischen Organisationen der Arbeiterklasse. Um den Sektoralismus und berufsständische Dünkel zu überwinden, sollten die Beschäftigen einer Industrie in Industriegewerkschaften zusammengefasst werden.

Gleichzeitig brauchte die Arbeiterklasse eine zentralisierte, repräsentative Führung für die Offensive gegen den Kapitalismus. Der TUC war jedoch in den frühen 1920er Jahren bloß eine Föderation von Einzelgewerkschaften, getrennt durch berufsständische Interessen, wobei jede auf ihre Autonomie bedacht war.

Zwischen den einzelnen Gewerkschaften gab es Rivalitäten um Mitglieder, sie standen oft am Arbeitsplatz, in den Abteilungen gegeneinander. Der Zentralrat hatte kaum Befugnisse, konnte keinen Generalstreik ausrufen, nicht einmal Solidaritätsstreiks. Für die Kapitalisten bestanden also viele Möglichkeiten zur Spaltung, für die Arbeiterklasse keine Möglichkeit, die besten und vorausschauendsten Kräfte wirksam an die Spitze der Organisation zu stellen.

Die junge CPGB erkannte, dass die organisatorische Erneuerung allein nicht ausreichend war. Auf keinen Fall durfte sie abgekoppelt werden vom politischen Kampf und dem, was die KI ”Schaffung einer neuen Ideologie in der Gewerkschaftsmitgliedschaft” nannte. Genauso wenig sollte sich das Minority Movement darauf beschränken, nur die etwas radikaleren Gewerkschafter zu sein, die immer etwas höhere Forderungen aufstellen. Der Unterschied zu den reformistischen Kräften lag nicht in den höheren Tagesforderungen, sondern in dem Verständnis, dass die Einzelforderungen mit dem Heranführen der Arbeiterklasse an die Machtfrage verbunden werden müssen.

Die größtmögliche Einheit aller Arbeiterorganisationen in jeder praktischen Aktion gegen die kapitalistische Front wurde durch die Einheitsfront ermöglicht, und zwar ohne eine Einheit in ideologischen und politischen Fragen vorauszusetzen. Um diese jedoch einbringen zu können, brauchte die CPGB die Freiheit für ihre Propaganda und den ideologischen Kampf – eine Freiheit, die unter keinen Umständen irgendwelchen Abkommen mit den reformistischen Führern geopfert werden darf.

Der 4. Weltkongress der KI 1922 brachte es noch genauer auf den Punkt:

”….sehen wir, dass es ein Desaster wäre, wenn die Partei sich damit begnügt mit der Organisierung ihrer Kräfte allein in ihrem kleinen Parteikern. Das Ziel muss die Schaffung einer zahlenmäßig größeren Opposition in der Gewerkschaftsbewegung sein. Unser Ziel muss darin bestehen, dass unsere kommunistischen Gruppen als Kristallisationspunkt handeln sollten, um den sich die oppositionellen Elemente konzentrieren können. Ziel muss sein, Oppositionskräfte zu schaffen, zu ordnen, zu integrieren, und die KP selbst wird gleichzeitig mit der Opposition wachsen. Es muss eine Beziehung zwischen der Parteiorganisation und der Opposition erreicht werden, das seiner wahren Natur heterogen ist – in einer Art, dass die Kommunisten nicht beschuldigt werden können, danach zu streben, mechanisch die gesamte Oppositionsbewegung zu dominieren. Für dieses Ziel, d.h. das Ziel der Gewinnung der Arbeitermassen für den Kommunismus, müssen wir unter diesen Umständen mit aller Sorgfalt, mit Entschiedenheit und Standhaftigkeit.”

Zur praktischen Umsetzung dieser Linie wurden die oben erwähnten Kampagnen ”Haltet eure Führer im Auge” und ”Zurück zu den Gewerkschaften” gestartet, um eine Minderheitsbewegung, ein Minority Movement, gründen zu können. Die RGI organisierte Konferenzen unter dem Motto ”Zurück in die Gewerkschaften” und ”Stoppt den Rückzug”.

Zu einer dieser Konferenzen erschienen 200 Delegierte, die ca. 150.000 Gewerkschaftsmitglieder repräsentierten. Auf dieser Konferenz ging es hauptsächlich darum, eine Einheitsfront gegen die kapitalistische Offensive aufzubauen. Der RGI Sekretär Gallagher stellt dazu fest:

”Das wesentliche Ziel des Londoner Büros ist nicht die Schaffung unabhängiger revolutionärer Gewerkschafter, oder die Abspaltung der revolutionären Elemente von den existierenden Organisationen, die dem T.U.C. angegliedert sind…, aber aus der revolutionären Minderheit in jeder Industrie eine revolutionäre Mehrheit zu machen.”

Die Gewerkschaften sollten von Organisationen, die unter dem Kapitalismus Instrumente der Unterordnung und Disziplinierung der Arbeiter sind, zu Instrumenten der revolutionären Bewegung des Proletariats werden.

Die Bedeutung der Übergangsforderungen

In der KI und ihren Sektionen gab es 1922 bis 1924 eine Debatte um nationale Aktionsprogramme. Das Aktionsprogramm sollte ausgehen vom unmittelbaren Bedürfnis der Klasse, der sich in Tagesforderungen, Teilforderungen und Übergangsforderungen ausdrückt. Der Kampf dafür erzieht und organisiert das Proletariat für die Notwendigkeit, die Staatsmacht zu ergreifen.

Eine alte Gemeinsamkeit von reformistischen Strömungen mit linksradikalen, sektiererischen ist die künstliche Trennung von ökonomischem Kampf und sozialistischem Ziel. Die einen beharren auf der Trennung, um die Bewegung vom Ziel abzukoppeln bzw. dieses in Sonntagsreden zu verbannen. Die anderen leugnen die Möglichkeit des Kampfes um politische, demokratische Forderungen, weil diese in der imperialistischen Epoche eh nicht durchsetzbar seien und das Proletariat sich im wirtschaftlichen Kampf so radikalisiere, dass es dann sofort die Diktatur des Proletariats verwirklichen werde. Lenin hat gegen letztere Strömung einen langwierigen politischen Kampf geführt und sie als imperialistischen Ökonomismus abgelehnt.

In der KI haben sich die Auffassungen Lenins nach seinem Tod nicht behaupten können, doch in den politischen Dokumenten der ersten vier Kongresse finden wir viele Bestandteile seiner politischen Auffassungen wieder. Es sollte nicht mehr die Forderung nach der Diktatur des Proletariats isoliert und abstrakt, losgelöst von den Tageskämpfen gestellt werden, sondern versucht werden, an der Seite der reformistischen Arbeiter auf der Basis von Übergangsforderungen zu kämpfen, die jetzt in den Vordergrund gestellt werden. Lenin wurde in diesen Auffassungen von Trotzki unterstützt. So ist es dann auch kein Zufall, das dieser Zusammenhang wohl kaum irgendwo besser und systematischer als im Übergangsprogramm dargestellt worden ist:

”Man muss den Massen im Prozess ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zwischen ihren jeweils aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution zu finden. Diese Brücke sollte aus einem System von ÜBERGANGSFORDERUNGEN bestehen, das von den jetzigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse ausgeht und unausweichlich zu ein und derselben Schlussfolgerung führt: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.

Die klassische Sozialdemokratie, die sich in einer Epoche des fortschrittlichen Kapitalismus aufbaute, teilte ihr Programm in zwei voneinander unabhängige Teile: Das Minimalprogramm, das sich auf die Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft beschränkte, und das Maximalprogramm, das die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus in einer unbestimmten Zukunft versprach. Zwischen dem Minimal- und dem Maximalprogramm gab es keine Brücke. Und tatsächlich braucht die Sozialdemokratie eine derartige Brücke auch gar nicht, da sie vom Sozialismus kaum einmal an den höchsten Feiertagen spricht.”

Vor der CPGB stand die Aufgabe, zum einen als Partei ein revolutionäres Aktionsprogramm für England, zum anderen ein Gewerkschaftsprogramm für eine Minderheitsbewegung in den Gewerkschaften zu schaffen. In den Diskussionen wurde klar, dass eine Arbeiterregierung im Zentrum des Programms stehen sollte. Der Kampf für das Aktionsprogramm sollte jedoch sofort begonnen werden. Die Macht der Arbeiterklasse sollte die Labour-Regierung zwingen, auf der Basis der staatlichen Kontrolle der Banken und Kreditinstitute zu intervenieren. Stillgelegte Fabriken sollten durch den Staat ohne Entschädigung zu übernehmen und von den Arbeitern in Betrieb zu nehmen. Arbeiterkontrollkommissionen sollten das Management und die Regulierung aller Produktion wird vom Staat übernommen überwachen.

Darüber hinaus wurden Forderungen zur unmittelbaren Lösung der Misere aufgestellt, die gleichzeitig erhoben werden sollten. Diese umfassten Forderungen nach Mindestlohn, einer 44-Studenwoche, die Abschaffung von Überstunden und Programme unter Arbeiterkontrolle für die Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen. Die Finanzierung sollte durch die Besteuerung des gigantischen Einkommens der Reichen gewährleistet werden und das Steuersystem von indirekten Steuern auf die Besteuerung von Einkommen und Vermögen umgestellt werden.

Jede Forderung wurde in der Parteipresse diskutiert und erläutert. Die Kernforderungen wurden dem Programm der Reformisten gegenübergestellt und als in sich geschlossene Alternative angeboten.

Die Anwendung dieser politischen Methode wurde von der CPGB nicht ohne politische Fehler umgesetzt. Im August 1922 noch zog die Partei ihre Kandidaten zurück, die in Opposition zu Kandidaten der Labour Party standen und stellte nur Kandidaten zur Wahl, die nicht in Opposition standen. Sie forderte zur Wahl der Labourkandidaten auf und machte das Ganze zu einem ”Instrument für revolutionären Fortschritt”. Nach den Wahlen erklärte das Zentralkomitee der Partei, dass die Wahlen große Siege gebracht und zu einer Neuausrichtung der Kräfte geführt hätten. Auf der einen Seite die politischen Verteidiger des Kapitalismus, auf der anderen die Labour Party als Vertreterin der Arbeiterklasse unterstützt in ihrem Kampf durch die Mitglieder der CPGB im Unterhaus.

Radek griff diese Auffassung von Einheitsfront auf dem IV. Kongress der KI scharf an, da durch solche Verlautbarungen die Labour Party als kämpfende und antikapitalistische Kraft vor den Arbeitern hingestellt werde. Das war eine klare opportunistische Abweichung von den Grundsätzen und Zielsetzungen der Einheitsfront.

Unter dem Einfluss der Komintern erkannte die CPGB ihre Fehler. In einer Resolution, die auf einer Parteiversammlung 1923 verabschiedet wurde, wurde dieser Fehler in der Einheitsfrontpolitik gesehen ”als ein Versuch, einen Block von Organisationen zu bilden statt einer Einheit der Massen in aktuellen Kampf”. Bis 1925 ließ die Partei dann in ihrer Kritik an den reformistischen Führern nicht mehr nach.

Eine weitere Auseinandersetzung entwickelte sich um die Forderung, den Zentralrat des T.U.C zum ”Generalstab der Arbeiterbewegung” zu machen. Der Zentralrat war natürlich ein Nest der reformistischen Führer. Ohne die Reorganisation der Gewerkschaft im Zuge des Klassenkampfes, ohne eine Änderung im Kräfteverhältnis zugunsten des Minority Movements würde sich daran auch nichts ändern. Diese Gefahr wurde in der CPGB durchaus gesehen, die Losung jedoch zurecht beibehalten.

Sinowjew, Linkszentrismus und Einheitsfront von unten

Der Triumph der politischen Positionen Sinowjews auf dem V. Kongress der Komintern führte zu einer kurzen linkszentristisch geprägten Periode, die nicht ohne Auswirkungen auf die britische Partei blieb. Der im Sommer 1924 unter Verantwortung Sinowjews stattfindende V. Weltkongress behielt die Einheitsfronttaktik formal bei, verstand sie jedoch als Einheitsfront ,,von unten”, die unter der Führung der Kommunistischen Partei von kommunistischen, sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitern im Betrieb verwirklicht werde.

Mit dieser Umdeutung der Einheitsfrontstrategie stellte der V. Weltkongress bereits die Weichen für die stalinistische Politik bis 1933. 1925 kam es in der Komintern durch den gewachsenen Einfluss Sinowjews dazu, dass die Parole der Arbeiterregierung fallen gelassen und durch die Parole des ”Aufbaus kommunistischer Massenparteien” ersetzt wurde. Die Arbeiterregierung wurde mit der Diktatur des Proletariats gleichgesetzt. Das Schwanken der Komintern hinterließ die CPGB ohne klare Orientierung. Für die jungen, relativ unerfahrenen Kader der CPGB war die Politik der Komintern zum kritischen Punkt bei der Entwicklung kommunistischer Taktiken gegenüber der Gewerkschaftsbewegung geworden.

Die Theorie des Sozialismus in einem Lande, vertreten von Bucharin und Stalin, war inzwischen offizielle Doktrin der Komintern geworden. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Politik der kommunistischen Parteien. Es bildete sich jetzt auch der Keim einer Politik heraus, die Klassenkämpfe in den Ländern Europas und in den Kolonialstaaten den außenpolitischen Interessen der SU unterzuordnen.

Dennoch konnte das Minority Movement vorerst noch einen Aufschwung erleben. Umfasste das Minority Movement auf seinem 2. Kongress 683 Delegierte, die 750.000 Aktivisten und Aktivistinnen repräsentierten, stieg die Zahl bei der Sonderkonferenz auf 547 Delegierte, die 957.000 Personen vertraten. In der Folge konnte diese Zahl jedoch nicht gehalten werden und beim 4. Kongress vertraten die Delegierten bloß noch 300.000 Oppositionelle.

Die Rolle des Anglo-Russischen Komitees

Den Versuchen der Roten Gewerkschaftsinternationale, Gespräche über eine Einheit der Weltgewerkschaftsbewegung zu führen, hatte die Amsterdamer Internationale immer wieder unannehmbare Bedingungen entgegengestellt. Allenfalls war sie bereit, mit den russischen Gewerkschaften Gespräche zu führen.

Zu Beginn des Jahres 1924 kam es zum Erstarken der ”Linken” im Zentralrat des T.U.C. Cook, der Sekretär der Bergarbeitergewerkschaft, befürwortete Gespräche mit den russischen Gewerkschaften. Tomski baute die Kontakte zu den reformistischen Gewerkschaftern in Britannien aus. Anfangs sah Trotzki das Anglorussische Komitee (ARC) durchaus als eine positive und korrekte Aktion im Rahmen der Einheitsfronttaktik an.

Die Probleme traten jedoch immer deutlicher hervor, als die Illusionen in die (manchmal auch radikalen) Sprüche der reformistischen Führer zu eklatanten Fehlern in der Einheitsfront führten. Verbal waren einige der reformistischen Führer durchaus für den Sozialismus, aber in der Sowjetunion und nicht in England. Mehrere Delegationen britischer Gewerkschafter besuchte die Sowjetunion, während Tomski auf britische Gewerkschaftskongresse fuhr. Die rechten Zentristen in der Komintern gaben die Parole des Zusammenschlusses der RGI mit den Amsterdamern aus, wofür das ARC Modell stehen sollte. Nun wucherten Hirngespinste, die eine starke kommunistische Massenpartei (mit vielen linksreformistischen Gewerkschaftsführern) oder eine ”Linkspartei” entstehen sahen. Es kam zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Tomski und Losowski über den Charakter der Verhandlungen.

Entscheidender Fehler aber war, das ARC nicht als einen Teil der Einheitsfronttaktik zu betrachten, sondern als ein diplomatisches Manöver. Statt der Einheitsfronttaktik wurde von einer eigenständigen Friedenspolitik schwadroniert, losgelöst vom Klassenkampf. Eine Taktik für weitere historische Niederlagen der Komintern war geboren.

Im September 1924 fand ein TUC-Kongress in Hull statt. Pollitt fordert einen Kongress zur Weltgewerkschaftseinheit ”ohne Bedingungen für die Beteiligten”. Im März 1925 wurde eine ”breite linke” Zeitung ins Leben gerufen, der ”Sunday Worker”, der gemeinsam von Linksreformisten und KP-Mitgliedern herausgegeben wurde. Selbstredend war in dieser Publikation kein Platz für eine Kritik an den ”linken” Führern des TUC und der Labour Party.

Die CPGB geriet endgültig in die ”doppelte Falle zwischen Opportunismus und Sektierertum”. Auf Grundlage der Einschätzung, dass sich im Gefolge von wirtschaftlichen Krisen die Massen radikalisierten und ihre reformistischen Führer zum Teil mitziehen würden, wuchsen erst einmal die Illusionen.

Ohne revolutionäre Strategie, korrekte revolutionäre Programmatik, ausgefeilte Taktik und analytische Methodik waren die Zentristen, insbesondere die treuen Anhänger Stalins, nicht in der Lage, die Arbeitermassen systematisch an die Revolution heranzuführen. Sie begannen die Wirklichkeit nach ihren Wünschen zu verbiegen, interpretierten die Tatsachen nach den Vorgaben Stalins und schwankten in grundlegenden Fragen der politischen Linie in immer kürzeren Abständen und immer heftiger. Trotzki blieb die Abrechnung mit den abenteuerlichen Einschätzungen der Stalinisten bezüglich der Entwicklung der Wirtschaftlage und – damit korrespondierend des Massenbewusstseins – vorbehalten.

In seiner Schrift ”Die ‚Dritte Periode‘ der Irrtümer der Kommunistischen Internationale” entlarvte er die Methoden, die von Stalins Anhängern angewandt wurden, als empiristisch und eklektisch. Am Beispiel der Interpretation der französischen Streikstatistik in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, aus der die Anhänger Stalins eine ”Radikalisierung der Massen” herauslasen, wird die ganze abstruse Theoriebildung entlarvt.

Statt genauer Untersuchung der Realität soll sich die Realität nach den Vorgaben Stalins richten. So werden munter Konjunkturkrisen und die allgemeine Krise des Kapitalismus durcheinandergeworfen. Dies führt dazu, sich und die Massen ständig am Rande einer Katastrophe zu sehen, was mit Revolution gleichgesetzt wurde, da die Arbeitermassen durch die ökonomische Krise schon radikal genug seien, um die Revolution durchzuführen. Solcherlei Analysemethoden zur Grundlage der Politik einer Partei, gar einer Internationale zu machen, hatte in den Arbeiterbewegungen der Industriestaaten verheerende Auswirkungen.

Trotzki bemerkte dazu, dass die Anhänger Stalins offenbar in der Lage seien, recht lange vom Bonus der Arbeit Lenins zu profitieren, jedoch ebenso wenig wie andere zentristische Strömungen in der Lage seien, allein neue revolutionäre Parteien und Bewegungen aufzubauen. Wie Recht sollte er doch behalten.

Stalin deckt den Verrat der Gewerkschaftsbürokratie

Als die Kohlegrubenbesitzer Ende Juni 1925 drastische Lohnkürzungen ankündigten, da sie der Konkurrenz der deutschen Bergwerke nunmehr wieder ausgesetzt waren, wurde ein nationaler Streik ausgerufen gegen die Angriffe der Grubenbesitzer ausgerufen. In letzter Minute schaltete sich jedoch die Regierung ein und versprach, die Löhne durch eine Subvention auf dem gleichen Niveau zu halten. Und der Streik wurde abgeblasen. Wie Seifenblasen zerplatzten die Illusionen, als die Rechten im TUC mit Unterstützung der linken Reformisten an diesem ”roten Freitag” die Arbeiter verrieten. Schlimm war auch, dass die Fähigkeit zur Korrektur der politischen Linie verkümmert war, es wurden in der Parteipresse noch etliche Versuche der Rechtfertigung unternommen. Trotzkis rechnete mit der Gewerkschaftspolitik der Stalinisten ab.

”1926/1927, vor allem in der Periode des Bergarbeiterstreiks und des Generalstreiks, d.h. zur Zeit der größten Verbrechen des General Council der Gewerkschaften, schmeichelte die Komintern-Bürokratie auf die servilste Weise den hochgestellten Streikbrechern, stattete sie in den Augen der Massen mit ihrer Autorität aus und half ihnen, im Sattel zu bleiben. Damit wurde der revolutionären Minderheit (Minority Movement) ein tödlicher Schlag versetzt.

Die Komintern-Bürokratie erschrak derart über die Resultate ihrer eigenen Arbeit, daß sie einen ultralinken Kurs einschlug. Die verhängnisvollen Abenteuer der “Dritten Periode” sind auf den Wunsch der kleinen kommunistischen Minderheit zurückzuführen, so zu handeln, als hätte sie die Mehrheit hinter sich. Die Kommunistische Partei isolierte sich immer mehr von den Arbeitermassen und stellte den Gewerkschaften, die Millionen Arbeiter umfaßten, ihre eigenen Gewerkschaftsorganisationen entgegen, die blind der Komintern gehorchten, aber von der Arbeiterklasse durch einen Abgrund getrennt waren. Der Gewerkschaftsbürokratie hätte kein größerer Dienst erwiesen werden können. Hätte es in ihrer Macht gelegen, den Hosenbandorden zu verleihen, so hätte sie damit sämtliche Führer der Komintern und Profintern (Rote Gewerkschaftsinternationale) auszeichnen müssen.”

Die Bourgeoisie hat ein feines Gespür, wenn die Arbeiterklasse paralysiert ist, nachdem sie eine Niederlage hat hinnehmen müssen. So begann sie auch umgehend nachzustoßen. Die Drecksarbeit machten wie so oft ihre ”Polizisten” in der Arbeiterbewegung. 1927, nach der Niederlage der Bergarbeiter und anderer Streiks, verbietet die reformistische Gewerkschaftsführung die Teilnahme an des Minority Movements und droht mit Ausschlussverfahren.

Aufbau Roter Verbände und organisatorische Trennung

Anstatt weiter für die gewerkschaftliche Einheit zu kämpfen wurde ab 1929 auch in Britannien offen zur Bildung selbstständiger ”Roter Verbände” und zum Austritt aus den reformistischen Gewerkschaften aufgerufen. Keine sektiererische Formel wurde ausgelassen, so auch nicht die Sozialfaschismustheorie. Wir wollen uns hier mit dieser Theorie nicht weiter auseinander setzen. Die Folge der Einschätzung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsführung als ”linker Flügel” des Faschismus jedenfalls hat die Einheitsfrontpolitik unmöglich gemacht. Es sind aus Deutschland Beispiele bekannt, dass kommunistische Gewerkschaftsmitglieder kritisiert wurden, weil sie es gewagt hatten, mit sozialdemokratischen Gewerkschaftern auf Betriebsebene gemeinsam gegen Angriffe der Kapitalisten zu kämpfen.

Das Ziel der Reformisten war erreicht, die Kommunisten entfernten sich freiwillig aus den Gewerkschaften. Der Einfluss und die Mitgliedszahlen der RGI sanken international, besonders aber in Britannien auf einem Tiefststand. Das Übergangsprogramm der IV. Internationalen rechnete mit dieser Politik klar und deutlich ab:

”Sektiererische Versuche, kleine ‘revolutionäre’ Gewerkschaften als zweite Ausgabe der Partei aufzubauen oder zu erhalten, bedeuten in Wahrheit den Verzicht auf den Kampf um die Führung der Arbeiterklasse. Man muss folgende feste Regel aufstellen: kapitulierende Selbstisolierung von den Massengewerkschaften ist gleichbedeutend mit Verrat an der Revolution und unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der IV. Internationale.” (Übergangsprogramm)

Es war dem schreibfreudigen RGI-Sekretär Losowski vorbehalten, auf dem V. Kongress der RGI eine Bilanz der Fehler der RGO zu ziehen:

”1. Zurückbleiben der Organisationen hinter der Kampfstimmung der Massen…

2. Schlechte Vorbereitung der Wirtschaftskämpfe und Verlass auf Spontaneität…

3. Ernennung der Streikleitung (d.h. deren Einsetzung von oben oder Wahl derselben) durch eine geringe Anzahl von Arbeitern.

4. Mangelnde Einsicht in die Rolle und Bedeutung der Streikleitungen. Ist die Streikleitung ernannt, so fühlt sie sich nicht verantwortlich vor den Streikenden. Deshalb kann man in der Praxis der letzten Jahre Streiks sehen, bei denen die Streikleitung ”Befehle” erliess, ohne sich um die Stimmung in den Massen zu kümmern.

5. Ungenügend überlegtes Verhalten zu den Forderungen; Ausarbeitung von Forderungen im engen Kreise leitender Personen. Das ist einer unserer wichtigsten Mängel. Häufig geben wir uns dem Glauben hin, es genüge, bloß Forderungen abzudrucken und zum Streik aufzufordern, und die Arbeiter werden unverzüglich unserer Aufforderung nachkommen. (…)

7. Gewaltsame Maßnahmen gegenüber den rückständigen Schichten des Proletariats, nicht Überzeugung, sondern Befehle. (…)

9. Unvermögen, rechtzeitig, organisiert den Streik einzustellen, und Verschleppung des Streiks bis zur vollkommenen Zersetzung und Desorganisierung der Streikenden.

10. Kopflosigkeit vor den Unternehmern und Unvermögen, Verhandlungen mit Nachdruck zu führen.” (Zitiert nach S. Schwarz, Rote Gewerkschaftsinternationale, aus: Internationales Handbuch des Gewerkschaftswesens, S. 1348-1359)

Losowski legt hier geradezu ein Musterbeispiel bürokratischer “Selbstkritik” ab. Nicht die Richtigkeit der sakrosankten “Generallinie” wird einer Prüfung unterzogen, sondern alle Misserfolge werden Fehlern der untergeordneten Gremien und Mitglieder der KI in die Schuhe geschoben.

Der Niedergang der RGI

Dem politischen Niedergang folgte der organisatorische. Nach Zahlen der RGI waren im Juli 1921 knapp 9 Millionen Mitglieder organisiert, darunter 5.2 Mio. in der Sowjetunion. Beim 1. Kongress der RGI 1921 war diese Zahl bereits auf über 16 Mio. angestiegen (dv. 6.5 Mio. in der Sowjetunion). Losowski schätzte 1923 die RGI-Anhänger auf 12-13 Millionen (dv. 5 Mio. in Russland). Der Bericht an den IV. Kongress der RGI 1927 nennt 13,862.200 (davon 10.248,000 in der SU und 2,6 Mio. in China, 525.000 in Frankreich, 196.000 in der Tschechoslowakei) in den Mitgliedsgewerkschaften und dazu ”revolutionäre Minderheiten” in 26 Ländern mit 2.874.6000 Mitgliedern. Dabei in Deutschland 1 Million und in GB 800.000.

1930/1931 wird das ganze Desaster sichtbar: Die RGO in Deutschland war auf 300.000 geschrumpft. Allein 54.000 verlor die CGT in einem knappen Jahr. In der Tschechoslowakei ging der Mitgliedsbestand auf 72.000 zurück. In China war jetzt noch von 60.000 die Rede. Am schlimmsten war jedoch die Entwicklung England. Auf dem V. Kongress der RGI wurde schon die völlige Misere des Minority Movements festgestellt. Heckert sprach von 300-500 Mitgliedern, gegenüber 300.000 1927.

Linke Fehler

Es liegt uns fern, die Erfahrungen aus der Geschichte des Minority Movements 1:1 auf die heutige Situation übertragen zu wollen. Aber mit den Grundproblemen, die seinerzeit im Mittelpunkt standen, haben wir es auch heute noch zu tun.

Ähnlich wie viele Sektionen der jungen Kommunistischen Internationale stehen auch wir heute vor dem Problem, dass wir die revolutionären Kräfte zahlenmäßig schwach und von der Arbeiteravantgarde weit entfernt sind. Daher ist die Taktik des Minority Movement ein interessanter, lehrreicher und aktueller politischer Bezugspunkt. Das ist auch ein Grund, warum wir heute für die Bildung einer klassenkämpferischen Basisbewegung gegen die Bürokratie eintreten und versuchen, in den entstehenden oppositionellen Gewerkschaftsströmungen in diese Richtung zu wirken.

In den letzten Jahrzehnten sind viele Fehler, die wir im Vorhergehenden analysiert haben, von sich ”links”, revolutionär oder auch trotzkistisch nennenden Gruppierungen wiederholt worden.

Man denke nur an die Wiederauferstehung der Sozialfaschismustheorie bei verschiedenen Gruppen der maoistischen Tendenzen (KPD/ML und KPD/AO) oder die Wiederauflage der RGO-Politik.

Es wurde aber auch kein rechtsopportunistischer Fehler ausgelassen. Gerade die Strömungen der niedergehenden Vierten Internationale sowie die “International Socialists” (Linkruck bzw. Linkswende) oder das “Komitee für eine Arbeiterinternationale” (SAV bzw. SLP) unterlagen der Versuchung, politische und organisatorische Abkürzungen zu suchen. Meist fand man sich aber nach einer gewissen Zeit am Ausgangspunkt wieder oder die eigenen Kader waren im Sumpf des Reformismus oder Syndikalismus auf der Strecke geblieben.

Die lambertistischen Strömung, die sich heute ”IV. Internationale” nennt, ging sogar noch weiter. Eine der Kernthesen dieser Strömung besteht darin, die Einheitsfronttaktik zu einer ”Strategie” zu modeln. So schreibt Pierre Fougeyrollashat in seinem Büchlein ”Mehr als 125 Jahre des Kampfes für die Arbeiterinternationale” ( 1979, 1992 erschienen im Intarlit-Verlag): ”1. die Arbeitereinheitsfront ist das strategische Mittel, mit dem es dem Proletariat gelingt, den Kapitalismus wirksam zu bekämpfen.”

Er nennt die Einheitsfront eine permanente Strategie der Arbeiterbewegung. Immerhin haben sich die Anhänger Lamberts daran gehalten und sind heute strategisch in der Sozialdemokratie abgetaucht.

Positive Lehren

Angesichts dieser abschreckenden Beispiele ist es umso dringender, die Lehren aus der Erfahrung der 1920er Jahre für unsere aktuelle Praxis zusammenzufassen. Wenn wir von einer klassenkämpferischen Basisbewegung sprechen, haben wir das Minority Movement als ein historisches Beispiel vor Augen. Daher wollen wir kurz unsere Schlussfolgerungen für den Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung heute skizzieren:

1. Der Kampf für eine klassenkämpferische Basisbewegung (Minderheitsbewegung) ist eine Taktik von Kommunisten und Kommunistinnen. Die Basisbewegung darf nicht mit der kommunistischen Partei, aber auch nicht mit der kommunistischen Gewerkschaftsfraktion verwechselt werden (d.h. mit der Organisierung von Genossen und Genossinnen, die bereit sind auf der Grundlage eines gemeinsamen revolutionären Aktionsprogramms für die Gewerkschaften und gemeinsamer revolutionärer Disziplin zu agieren).

2. Die klassenkämpferische Basisbewegung ist selbst eine Anwendung der Einheitsfronttaktik, der Versuch eine gemeinsame Front mit der kampfbereiten Gewerkschaftsbasis gegen die Bürokratie zu schaffen. Ziel der Basisbewegung muss aber in jedem Fall der Kampf um eine neue Führung, der Bruch mit der Politik der Klassenkollaboration und die Demokratisierung der gewerkschaftlichen und betrieblichen Organisationsformen sein. Eine Basisbewegung oder oppositionelle Strömung, die sich nicht die Ersetzung der aktuellen Führung zum Ziel setzt, kann nur zu einem „kritischen“ Anhängsel der bestehenden Führung verkommen.

3. Die Basisbewegung hat kein im voraus bestimmtes Programm. Aber Kommunisten und Kommunistinnen müssen aber von Beginn an in der Basisbewegung (bzw. bei der Schaffung einer solchen) für eine revolutionäre Führung und für ein revolutionäres Aktionsprogramm eintreten. Sie machen die Annahme dieses Programms jedoch nicht zur Bedingung ihrer Mitarbeit in einer solchen entstehenden oder schon formierten Bewegung.

4. Die Basisbewegung muss klar unterschieden werden von einem „Block der Gewerkschaftslinken“, d.h. einem Bündnis von revolutionären, reformistischen, zentristischen Kräften, das auf einem politischen Nichtangriffspakt beruht. Revolutionäre müssen von Beginn an ihre Kritik an nicht-revolutionären Strömungen, die entweder selbst in einer solchen „Basisbewegung“ vertreten sind oder diese ideologische beeinflussen, deutlich machen.

5. Der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung gegen die Bürokratie kann und darf keine Ersatz für den Aufbau einer revolutionären Partei und Gewerkschaftsfraktion sein – er ist vielmehr eine Mittel dazu. Damit eine Basisbewegung nicht im Reformismus oder Syndikalismus versackt, ist vielmehr die Schaffung einer revolutionären Partei und deren organisiertes Wirken Voraussetzung.




Kommunismus oder Syndikalismus

Eine neue “politische Wende” in der internationalen Gewerkschaftsbewegung? … oder bloß die Wiederkehr des altbekannten Syndikalismus?

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 31, Herbst 2000

Seit einiger Zeit ist nicht nur von der weltweiten Krise der traditionellen Gewerkschaftsapparate besonders in den imperialistischen Zentren die Rede, es gibt auch Anzeichen einer Re-Politisierung der Gewerkschaften angesichts dieser Krise. Ein besonders nachdrückliches Beispiel hierfür lieferten in den letzen Jahren die kanadischen Gewerkschaften.

Waren sie wie anderswo auch, jahrzehntelang an eine politische Partei, die Ontario National Democratic Party (ONDP) gebunden, so führte deren neoliberale Politik, einmal an die Regierung gekommen, 1993 zum Bruch eines wesentlichen Teils der Gewerkschaften mit “ihrer” Partei, allen voran durch die CAW (der kanadischen Automobilarbeitergewerkschaft). Als eine massive, von CAW und anderen Gewerkschaften mitinitiierte Welle von Massenprotesten (“Ontario Days of Action”) gegen die der ONDP folgende konservative Regierung zwischen 1995 und 1997 an der mangelnden politischen Zielgerichtetheit des Protestes scheiterten, setzte bei der CAW eine breite Diskussion über eine politische Neuorientierung ein, fokussiert in der “Task Force for Working Class Politics in the 21st Century” (siehe express, 2/2000).

Dies ist nur ein Beispiel einer in mehreren Ländern zu verfolgenden Entwicklung. Erklärbar ist dies einerseits durch den schwindenden Spielraum für Reformpolitik in einer durch “Globalisierung” bestimmten Umstrukturierung des bürgerlichen Nationalstaates. Die Politik der traditionellen (sowieso immer weiter sich nach rechts entwickelnden) Arbeiterparteien ist in diesem Umfeld immer schwieriger vereinbar mit einer “sozialpartnerschaftlichen” Einbindung der mit “der Partei” verbundenen Gewerkschaften in die politischen Entscheidungsprozesse.

Andererseits haben die Veränderungen in der Arbeitswelt, sowohl was Arbeitsorganisation und -bedingungen betrifft, als auch was die Internationalisierung betrifft, zu neuen Kampfformen geführt, die die traditionelle Arbeitsteilung Partei/Gewerkschaften in Frage stellen. Dies wird oft mit dem Schlagwort “Social Movement Unionism” gefasst, bei dem Gewerkschaften zum Organisationszentrum der gesamten Arbeiterklasse einer von Maßnahmen des Kapitals betroffenen Lokalität/Region (nicht nur der gerade in einem unmittelbar betroffenen Betrieb beschäftigten) werden (1).

Ein wichtiges Beispiel für eine erfolgreiche Organisierung in diesem Sinn ist die “Union de Trabajadores Agricolas Fronterizos” (UTAF). Dieser Gewerkschaft gehören vor allem Tagelöhner und Arbeiter auf den Chilifeldern von Texas und New Mexico und hier besonders in den Grenzregionen zu Mexiko an. Organisiert werden Arbeiter sowohl in Mexiko wie in den USA. Die meisten Mitglieder waren ursprünglich illegale oder halb-legale Immigranten, die sich dem massiven Druck der Kapitalisten und dem Rassismus der US-amerikanischen Behörden in der Grenzregion ausgesetzt sahen. Trotzdem gelang es der UTAF in einem breiten Bündnis mit anderen Arbeiterorganisationen und NGOs eine Bewegung ins Leben zu rufen, die in der Grenzregion eine “Amnestie” erkämpfte, die den Status aller Arbeiter auf den Chili-Feldern legalisierte.

Die traditionellen Gewerkschaftsapparate können sich diesen neuen Entwicklungen nur sehr schwerfällig oder gar nicht anpassen. Einerseits sind sie durch jahrzehntelange Praxis von bestimmten nationalstaatlichen Klassenkompromiss-Verfahren geprägt, die heute nicht einmal mehr für die “traditionellen Kernschichten” der organisierten Arbeiteraristokratie attraktive Resultate ergeben, die sie aber zu unflexiblen, bürokratisierten, undemokratischen und vor allem nationalbornierten Strukturen verdammen. Immer mehr, durch die vor sich gehende Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse entstehende Schichten und soziale Gruppen suchen nach neuen, von den bestehenden bürokratisierten Gewerkschaften verschiedenen Organisationsformen.

Andererseits kommt den traditionellen Gewerkschaften ihr politischer Partner in Form der “neue Mitte”-Politiker a la Schröder/Blair immer mehr abhanden, ohne dass sie in der Lage wären, nunmehr eigenständig politisch aktiv zu werden (also z.B. gar zum Mittel des politischen Streiks greifen würden).

In diesem Zusammenhang sind verschiedenste Erscheinungen zu sehen, wie gewerkschaftliche Neugründungen (z.B. die französische SUD, die US-amerikanischen New Directions Gewerkschaften, die italienische CUB, etc.), die Entwicklung linker Oppositionen in bestehenden Gewerkschaften (wie “Alternativa Sindicale” in der italienischen CGIL), die Veränderung von Mehrheitsverhältnissen (z.B. bei den Teamsters in Folge des UPS-Streiks), die Absetzbewegung von traditionell unterstützten Parteien (CAW, UAW), oder sogar die Initiierung einer eigenen Partei (im Fall der brasilianischen CUT).

Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Gewerkschaftslinken glaubt hier “neue Ansätze” für eine andere Art von Organisierung der Arbeiterklasse zu beobachten. So heißt es im Anschreiben der TIE/express-Arbeitskonferenz von März/2000:

“Die von Gewerkschaften bzw. einzelnen Gewerkschaftsgruppen etwa in der kanadischen CAW, der französischen SUD oder auch in der deutschen Gewerkschaft HBV usw. entwickelten theoretischen und praktischen Versuche eines ‚Social Movement Unionism’ möchten Gewerkschaften zu einem Zentrum der Organisation der gesamten Arbeiterklasse (nicht nur der gerade Beschäftigten) entwickeln, den ‚gesamten proletarischen Lebenszusammenhang’ organisieren und durch die Verbreiterung und Politisierung des Klassenkonflikts zu einer antikapitalistischen Bewegung gelangen. Andere Ansätze wie etwa die Black Workers for Justice im Süden der USA experimentieren mit anderen Formen. Als mögliche Zentren einer solchen Bewegung im Kleinen sehen sie neue Formen von Organisationen, die als ‚ArbeiterInnenorganisationen’ ohne die klassische Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaft auszukommen versuchen” (2).

Dagegen meint die der CAW-Task-Force verbundene Judy Rebnik zur Perspektive der CAW nach dem Bruch mit der NDP: “Angesichts der Neoliberalisierung der NDP glauben viele, dass wir mit der sozialen Bewegung allein die Gesellschaft in unserem Sinne verändern können. Ich bin allerdings der Ansicht, dass wir dafür eine politische Massenpartei brauchen, die der Gewerkschaft und den sozialen Bewegungen verbunden ist” (3).

Opposition auch in den deutschen Gewerkschaften

In Deutschland sind selbst diese Ansätze einer Neuorientierung im gewerkschaftlichen Milieu nur als Ansätze vorhanden. Gab es mit den Protesten am Ende der Kohl-Ära, speziell gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung, eine gewisse Politisierung auch im Gewerkschaftsbereich, so ist seit der Installierung von Rot-Grün und der folgenden Desillusionierung, wie auch mit der Integration der Gewerkschaften in das “Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit” von oben der Deckel wieder kräftig zugedreht worden.

Demgegenüber steht eine nach wie vor hohe Kampfbereitschaft in Teilkämpfen, immer wieder hochkochende, grundlegende und aktionsbereite Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik (z.B. in der Rentenfrage), aber auch die Ansätze zu einem breiteren (eine Vielzahl unterer und mittlerer Funktionäre umfassenden) Oppositionsbündnis, wie es sich in der “Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken” zusammengefunden hat.

Auch in dieser Initiative kommen Fragestellungen auf, die sich in anderen Ländern – wie oben gesehen – bereits in wesentlich schärferer Weise stellen. In einem zentralen Dokument der Initiative heißt es:

“Die Re-Politisierung der Gewerkschaftsarbeit und die Politisierung der Aktionen, Kampagnen und Streiks ist erforderlich. Die Mobilisierung für ein Programm zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und eine gerechtere Reichtumsverteilung scheint ein geeigneter Schritt, um aus der Defensive herauszukommen. Die internationale Ausrichtung einer solchen Mobilisierung würde breite Bündnisse mit den Gewerkschaften anderer Länder und anderen Initiativen (z.B. den Euromärschen) ermöglichen. Anstatt auf einen Konsens mit den Arbeitgeberverbänden und der Regierung zu hoffen, müssen die Gewerkschaften das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen und so die Bedingungen ihrer Durchsetzungsfähigkeit verbessern” (4).

Was hier vorsichtig als “nicht-Hoffen auf den Konsens mit der Regierung” formuliert wird, könnte auch schärfer als “Konfrontation mit der SPD-geführten Regierung” und damit Infragestellung des bürokratischen Würgegriffs der SPD gegenüber den Gewerkschaften verstanden werden. Als Mittel hierfür wird vor allem die Betonung der “Gewerkschaftsautonomie” gegenüber dem Projekt “Bündnis für Arbeit” gesehen:

“Das von Teilen der Gewerkschaften geforderte, inzwischen zum Kern der Regierungspolitik erklärte Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit scheint zu einer nationalen Standort- und Wettbewerbskoalition zu werden, in der die Gewerkschaften in einem hohen Maße eingebunden werden. Die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Bundesregierung und den beiden Regierungsparteien sowie die Grundlage einer eigenständigen gewerkschaftlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik stehen damit zur Disposition” (5). Dagegen setzen Riexinger/Bachmann:

“Deshalb müssen die Gewerkschaften auch der SPD/Grünen-Regierung als autonome Kraft gegenübertreten. Die Chance, nach der Ablösung der Kohl-Regierung das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern, liegt in erster Linie im Aufbau von Gegenmacht. Der Instrumentalisierung des Staates für das Interesse des Kapitals muss durch außerparlamentarische Mobilisierung im Bündnis mit anderen Gruppen und Trägern fortschrittlicher Politik auf nationaler wie internationaler Ebene entgegengetreten werden” (6).

Dabei werden dann auch wieder die “neuen Kampfformen” angesprochen, die anderswo mit dem “social movement unionism” verbunden werden:

“Und schließlich werden die Gewerkschaften neue Arbeitskampfformen und –strategien entwickeln müssen, wenn sie nicht ohnmächtig der Verschiebung des Kräfteverhältnisses zuschauen wollen. Dazu gehört die Enttabuisierung des politischen Streiks wie auch der Aufbau sozialer Netzwerke für Kampagnen verschiedenster Art, die auch Formen wie Boykott, Störung der Betriebsabläufe, Betriebsbesetzungen, Straßenblockaden, usw. nicht ausschließen. Diese häufiger als vermutet praktizierten, jedoch selten verallgemeinerten Kampfformen können in Verbindung mit dem politischen Perspektivwechsel das emanzipatorische Potenzial bei Gewerkschaftsmitgliedern verstärken. Dabei gilt es einer verkürzten Sichtweise entgegenzutreten: Die ‚neuen’ Methoden dürfen nicht als moderne ‚Gewerkschaftstechnik’ zur Steigerung der Effektivität in Tarifrunden missverstanden werden. Sie können sich nur entfalten, wenn sie auch Momenten der Selbstorganisation und Eigenaktivität mehr Raum geben – mit anderen Worten ‚antiautoritär’ wirken. Außerdem hängen moderne Formen der Organisation auch an ‚modernen’ politischen Inhalten – wie z.B. einem sehr weiten – das ganze Alltagsleben umfassenden – Begriff von Gewerkschaftsarbeit” (7).

Deutlicher wird diese Neuorientierung an den Ansätzen zu einer konfliktorientierten “Bewegungsgewerkschaft” in der konkreten Gewerkschaftsarbeit Riexingers in seiner hbv-Region.

Alle hier bisher angeklungenen Fragen – “Gewerkschaftsautonomie”, Politisierung der Klassenkämpfe, Frage des Verhältnisses Partei/Gewerkschaften, Überwindung der entfremdet-verknöcherten Formen von traditioneller ökonomisch/politischer Arbeiterbewegung, Möglichkeit der Umwandlung/Neuschaffung von Gewerkschaften zu einer Systemüberwindenden anti-kapitalistischen Bewegung?, etc. – sind sicher nicht neu. Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Auseinandersetzung um diese Fragen, speziell auch um die Verteidigung der marxistischen Methodik dabei, ist sicher hilfreich. Dies soll aber vor allem das historisch-methodische Verständnis für die speziellen, konkreten Probleme und Aufgaben schärfen, in denen sich diese Fragen heute, wie bis hierher angedeutet, stellen.

Marx, die Gewerkschaften und der frühe Anarchismus

Schon ganz zu Beginn der europäischen Arbeiterbewegung, als sich eine “naturwüchsige” Tendenz der Arbeiter zur Bildung von “Koalitionen” und anderen Organisationen vor allem zur Durchführung ökonomischer Kämpfe um Löhne etc. bildeten, gab es bekanntlich einflussreiche proletarische Strömungen, die diese Orientierung auf “immanente Kämpfe” für eine Fehlentwicklung hielten. Prominent ist hier die Auseinandersetzung von Marx mit Proudhon.

Letzterer ging davon aus, dass der Lohnkampf dem Arbeiter sowieso nichts bringt (nur zu Preisverzerrungen führe) und ihn auf Kämpfe im Rahmen der bürgerlichen Ordnung fehlleiten würde. Das Zentrum der Umwälzung müsse die “Werkstatt” sein, wogegen man den “ideologischen Schein” von bürgerlicher Politik, Staat und Parteien links liegen lassen müsse. In der Werkstatt könne die “natürliche Tendenz” der Menschen zu Gleichheit und Eigentumslosigkeit verwirklicht werden, wenn nur die “Übel des Kapitalismus” abgeschafft werden durch “freie Tauschbanken”, die zinslose Kredite vergeben, und so die zinstragende Eigenschaft des Geldes aufheben würden.

Marx zeigte dagegen einerseits, dass der ökonomische Klassenkampf der Arbeiterklasse nicht nur nicht sinnlos ist angesichts der Tatsache, dass sich hinter dem Tauschverhältnis rund um die Ware Arbeitskraft ein Ausbeutungsverhältnis verbirgt, das dem Kapital durch die Verwertung der Arbeitskraft über die zu ihrer Reproduktion notwendige Arbeitszeit hinaus die Aneignung eines Mehrwerts erlaubt. Dies ist damit ein Verhältnis, in dem das “bürgerliche Tauschgerechtigkeitsprinzip” tatsächlich zu einem immanent widersprüchlichen wird, d.h. zu einem, das die Besitzer von Arbeitskraft und die Besitzer von Kapital aus notwendiger, innerer Logik in den permanenten Konflikt um Lohn und Arbeitszeit treibt:

“Von ganz elastischen Schranken abgesehn, ergibt sich aus der Natur des Warenaustausches selbst keine Grenze des Arbeitstags, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.” (8)

Andererseits hat Marx gezeigt, dass das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital nicht mehr das “gemütliche Herr/Knecht-Verhältnis” von persönlichen Abhängigkeiten ist. Die allgemeine Akkumulationsbewegung ist von einer beständigen Bedrohung der Existenzbedingung der Arbeitenden in mehrfacher Weise geprägt, die sich konkret in einer permanenten und wachsenden “industriellen Reservearmee” ausdrückt, durch deren Existenz die Resultate des Klassenkonflikts für die Arbeiterklasse ständig unter ungünstigen Zwangsbedingungen zustande kommen.

Diese Kapital-Despotie ergibt letztendlich den Zwang zur Organisierung des “Angebotskartells der Ware Arbeitskraft”:

“Die Bewegung des Gesetzes der Nachfrage und Zufuhr von Arbeit auf dieser Basis vollendet die Despotie des Kapitals. Sobald daher die Arbeiter hinter das Geheimnis kommen, wie es angeht, dass im selben Maß, wie sie mehr arbeiten, mehr fremden Reichtum produzieren und die Produktivkraft ihrer Arbeit wächst, sogar ihre Funktion als Verwertungsmittel des Kapitals immer prekärer für sie wird; sobald sie entdecken, dass der Intensitätsgrad der Konkurrenz unter ihnen selbst ganz und gar von dem Druck der relativen Übervölkerung abhängt; sobald sie daher durch Trade’s Unions usw. eine planmäßige Zusammenwirkung zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten zu organisieren suchen, um die ruinierenden Folgen jenes Naturgesetzes der kapitalistischen Produktion auf ihre Klasse zu brechen oder zu schwächen, zetert das Kapital und sein Sykophant, der politische Ökonom, über Verletzung des “ewigen” und sozusagen “heiligen” Gesetzes der Nachfrage und Zufuhr. Jeder Zusammenhalt zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten stört nämlich das “reine” Spiel jenes Gesetzes.” (9)

Gewerkschaften sind also keine “Erfindungen der marxistischen Arbeiterbewegung”. Sie sind notwendige, naturwüchsige Reflexe der Situation der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Genauso wie ein “Verschwinden der Arbeiterklasse” im Kapitalismus eine hanebüchene Idiotie ist, da Kapital ohne Lohnarbeit gar nicht existieren kann, so gibt es keinen Grund von einem möglichen “Verschwinden der Gewerkschaften” zu faseln.

So wie die Arbeiterklasse durch die verschiedenen Perioden von Akkumulations- und Klassenkampfzyklen, wie auch einer Vielzahl anderer historischer, damit zusammenhängender Faktoren, in ihren Schichtungen und Erscheinungsformen eine Vielzahl von Metamorphosen durchläuft, so bleiben auch die Gewerkschaften nicht davon ausgenommen. Überkommene Gewerkschaften mögen durch Niedergang bestimmter Arbeiterschichten, Umstrukturierungen des Kapitals, Veränderungen in der politischen Organisierung des Kapitals etc. wesentlich geschwächt werden, doch dies lässt mit der Zielgerichtetheit eines Naturprozesses erwarten, dass sich neue Schichten der Arbeiterklasse früher oder später, mehr oder weniger zielgerichtet, eine den neuen Umständen angepasste, neu formierte gewerkschaftliche Organisierung schaffen (wofür der Aufschwung des unionism in den USA in den letzten Jahren nach dem Jahrzehnt des Niedergangs, ein deutlicher Beweis ist).

Wobei natürlich diese “Reflexartigkeit” nichts aussagt, über den subjektiv dafür notwendigen hohen, oft auch heroischen Einsatz in den einzelnen Kämpfen und Tätigkeiten, die letztlich zu dieser Organisierung oder Organisationsveränderung führen. Eine solche Phase der Neukomposition der Arbeiterklasse, wie auch ihrer gewerkschaftlichen Organisierung (ihres trade-unionistischen Reflexes) ist aber zugleich die Chance, dass dabei mehr herauskommt, als wieder eine neue “Etablierung” einer bloßen Vertretung für die ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse, sondern ist damit auch eine politische Zuspitzung möglich.

So endet auch Marx in seiner Kritik an Proudhon mit der Möglichkeit, dass der immanente Klassenkampf zu einem politischen wird: “Wenn der erste Zweck des Widerstands nur die Aufrechterhaltung der Löhne war, so formierten sich die anfangs isolierten Koalition in dem Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression vereinigen zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechterhaltung der Assoziation notwendiger für sie als die des Lohns. (…) In diesem Kampf – ein veritabler Bürgerkrieg – vereinigen und entwickeln sich alle Elemente für eine kommende Schlacht. Einmal auf diesem Punkte angelangt, nimmt die Koalition einen politischen Charakter an. (…) In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich die Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“ (10)

Andererseits hat Marx aber auch gezeigt, dass die politische Perspektive Proudhons der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Durchführung des “Sozialismus in einer Kommune/Werkstatt” eine Utopie bleiben muss. Dass sich der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang und seine Regulierung weiterhin durch bewusst nicht kontrollierte Prozesse, vermittelt über die Anarchie des Austauschprozesses und auf der Grundlage der überkommenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung herstellt, ist die Basis für die Perpetuierung der Verselbständigung der Wertform vom gesellschaftlichen Wert der Arbeitsprodukte, damit der sachzwang-artigen Entfremdung der Produkte von den Produzenten, letztlich für die Entfaltung der Wertform bis hin zum Kapital.

Die Versuche, über Proudhons “Tauschbanken” und ihr “Arbeitsgeld” dies zu vermeiden, müssen zwangsläufig daran scheitern, dass die durch die Anarchie des Marktes gegebene Unkontrollierbarkeit der Wertbildung, das angeblich “richtige Werte” darstellende Buchgeld wiederum zu tatsächlichem Geld macht, das in den Kapitalkreislauf eingehen kann – und damit auch die verschleierten Ausbeutungsverhältnisse wiederkehren. Die Erfahrungen mit verschiedenen “Selbstverwaltungs-Experimenten” sind schlagende Beweise für diese notwendige Wiederkehr der (Selbst)Ausbeutung, wenn die Frage der gesamtgesellschaftlichen Aufhebung der Diktatur der Wertform beiseite gelassen wird.

Dagegen entwickelte Marx, dass das Proletariat als immer umfassender und globaler werdende, alle gesellschaftlich notwendigen Arbeiten auf entfremdete Weise in sich zusammenfassende Produzentenklasse sowohl das objektive Interesse als auch die praktische Möglichkeit besitzt, erstmals in der Menschheitsgesichte eine bewusste Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses und der darauf aufbauenden gesellschaftlichen Verkehrsformen durchzuführen.

Diese Umwandlung der auf kapitalistischer Grundlage bereits enorm fortschreitenden Vergesellschaftung (im Widerspruch zur privaten Form der Aneignung) in eine sozialistische Vergesellschaftung kann aber nicht auf einen Schlag erfolgen. Sie kann nur das Produkt eines langwierigen Übergangs sein, in dem sich die auf der Grundlage der Herrschaft der Wertform und des Marktes entstandenen Arbeits- und Verkehrsformen in bewusst gestaltete umwandeln.

Dabei löst sich die Wertform nicht einfach von selbst auf (wie einige Wiedergänger des utopischen Sozialismus etwa in Form der “Krisis”-Gruppe annehmen). Sie ist ein wesentliches historisches Entwicklungsmoment, in dem die Menschheit sich zum ersten Mal auf nüchterne (pekuniäre) Weise das Problem der Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit in Beziehung auf die variabel sich entwickelnden Bedürfnisse stellt. Sie muss ersetzt (“aufgehoben”) werden durch eine bewusst-gesellschaftliche Form der Herstellung dieses Zusammenhangs, von Marx “Sozialismus” genannt (als Vorstufe zur freien Assoziation des Kommunismus).

Dieser Übergang ist unmöglich, ohne die Beseitigung der privaten Aneignung, d.h. die Enteignung des Privatbesitzes über Produktionsmittel und die Herstellung von “demokratischen” planwirtschaftlichen Beziehungen zwischen den von den unmittelbaren Produzenten kontrollierten Produktionseinheiten. D.h. der Übergang zum Sozialismus erfordert die Errichtung der Klassenherrschaft des Proletariats, die Zerschlagung der bürgerlichen Herrschaftsinstrumente, die Unterdrückung aller bürgerlichen Restaurationsversuche, die möglichst rasche weltweite Durchsetzung dieser Klassenherrschaft.

Weder gewerkschaftliche Handwerkelei noch lokale Selbstverwaltungsversuche sind eine politische Perspektive für die Überwindung des Kapitalismus, sondern nur diese Orientierung auf den Kampf um die Diktatur des Proletariats, d.h. die weltweite Bewegung für die Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die Enteignung des Produktionsmittelbesitzes und die Errichtung einer Planwirtschaft. Dies ist und bleibt das Programm der proletarischen Revolution, und wer von “Überwindung des Kapitalismus” redet, ohne sich auf dieses Programm zu beziehen, hat entweder das Grundproblem von dessen Überwindbarkeit nicht verstanden, oder will diese nicht wirklich.

Natürlich ist dieses Programm zunächst zumindest um einige Schritte entfernt von den unmittelbaren Mühen und Leiden der Alltagskämpfe der Arbeiter, von ihrer Rebellion gegen entfremdete Verhältnisse ebenso wie ihren Existenzkämpfen angesichts der Handlungen der konkreten Agenten des Kapitals. Man kann nicht verstehen, wie Proudhon trotz der vernichtenden Kritik von Marx noch Jahrzehnte einen entscheidenden Einfluss auf die Arbeiterbewegung haben konnte, wenn man nicht berücksichtigt, dass er trotz aller kleinbürgerlicher Perspektive und Utopie auch ein wichtiges Moment der proletarischen Klassenbewegung getroffen hat: den Impuls nicht nur immanent zu kämpfen (im Rahmen des Lohnarbeitssystems) und dies mit einer langfristigen Übergangsperspektive zu verbinden, sondern die konkrete Rebellion gegen die sinnlose und auszehrende Arbeit, die unmittelbare Verwirklichung des Wunsches nach dem nicht-entfremdenten, kollektiven, solidarischen guten Leben einfach zu wagen.

Schließlich kamen bei den “Experimenten” der utopischen Sozialisten und Anarchisten nicht nur Unsinn und Katastrophen heraus, sondern durchaus auch Ansätze (z.B. im Owenismus), die die Vorstellung von der Überwindbarkeit der Diktatur der Wertform bis heute beflügeln, bzw. deren Schwierigkeiten klarer aufgezeigt haben.

Der Anarcho-Syndikalismus

Schließlich konnten auch die Proudhonisten die Wichtigkeit von Gewerkschaften in der Herausbildung der Arbeiterklasse nicht mehr ignorieren, beteiligten sich selber an deren Organisierung und wurde so auch zu einem wichtigen Bestandteil der ersten Internationale. Der Anarchismus griff die nicht mehr zu übersehende Erscheinung der Gewerkschaften auf, doch in einer ganz anderen Form als dies Marx im Sinne eines Elements der Herausbildung der Klasse als Vorstufe und Voraussetzung ihres politischen Kampfes getan hatte.

Auch wenn Bakunin die “Kritik der politischen Ökonomie” wie Marx sie durchführte als angemessenere ökonomische Analyse als die des Proudhons würdigte, so hielt er an der unmittelbaren Durchführbarkeit der freien Assoziation der Produzenten und damit an der sofortigen Überflüssigkeit jeder Form von Staat, also auch der Diktatur des Proletariats, fest. Für einen Teil der Anarchisten wurden nunmehr die Gewerkschaften zum Instrument der Umsetzung der freien Föderation der selbstbefreiten Arbeiterkommunen.

Der belgische Anarchist Hins entwickelte auf dem Baseler Kongress 1869 der 1. Internationale in seinem Kommissionsbericht über die zukünftige Bedeutung der Gewerkschaften, “dass in einer sozialistischen Gesellschaft die Vereinigung der Gewerkschaften eines Ortes die Kommune bilden, während die nationalen (regionalen) Verbände die Arbeitervertretung sein würden. Die Staatsregierung würde durch Räte aus den Föderationen der Berufe und durch ein Komitee ihrer Delegierten ersetzt” (11).

In diesem Urtext des “Anarcho-Syndikalismus” wird deutlich, dass die Gewerkschaften als politisch/ökonomische Bewegung verstanden werden, die in der Lage ist unmittelbar zur sozialistischen Vergesellschaftung überzugehen. Die Verknüpfung von ökonomischer Interessenvertretung, Leitung der Produktion, Organisation der Kommune, Bildung eines Delegiertensystems zur Koordinierung der föderierten Kommunen – all dies weist die Vermischung von Gewerkschaften und Räten im anarcho-syndikalistischen Denken deutlich aus.

Dazu kommt, dass gewerkschaftliche Kampfmittel für die Anarcho-Syndikalisten vor allem zur Durchsetzung dieser politischen Zielsetzung dienten. D.h. sich vor allem um den “revolutionären Generalstreik” gruppieren, der die bürgerliche Ordnung zum Verschwinden bringen könne (so z.B. wurde in der unter maßgeblicher Mitinitiative von Georges Sorel 1895 begründeten Confederation General du Travail [CGT] der Generalstreik als zentrales revolutionäres Kampfmittel ins Programm aufgenommen).

Die historische Erfahrung mit der Herausbildung von Arbeiterräten von der Pariser Kommune bis zu den Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg haben die marxistische Analyse bestätigt, dass es zwischen dem “natürlichen” Reflex zur Gewerkschaftsbildung, der die breite Masse der Arbeiterklasse im etablierten Kapitalismus organisiert und der Bildung politisch schlagkräftiger Räte in revolutionären Doppelmachtsituationen einen nicht-selbstverständlichen qualitativen Sprung gibt.

Wenn Gewerkschaften in ihrem “normalen” Betrieb von dieser Räte-Orientierung weit entfernt sind, heißt dies nicht, dass sie (wie die Anarcho-Syndikalisten behaupten würden) keine “richtigen Gewerkschaften” sind, in denen es sich nicht zu arbeiten lohnt, sondern sie spiegeln nur mehr oder weniger eine bestimmte Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung wieder.

Solche Formen wie “Gewerkschaften”, “Räte” oder “der Generalstreik” sind nicht an sich “revolutionär” oder nicht – dies hängt vielmehr immer von den Umständen ab durch die sie ein mehr oder weniger geeignetes Instrument für den Kampf um die Diktatur des Proletariats sind. Diese Umstände sind jedoch nicht nur “objektiver Natur” (Entwicklung der kapitalistischen Krise, der Krise der bürgerlichen Herrschaftsinstitutionen, etc.), sondern hängen vor allem auch von der Struktur, Stärke und Organisierung der proletarischen Avantgarde ab. Verschiedene Strömungen des radikalen Syndikalismus sahen durchaus die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats und einer Organisierung der “entschlossenen Minderheit” in den Gewerkschaften (letzteres wurde bei dem Syndikalisten Sorel sogar bis zu einer “revolutionären Elitentheorie” hochstilisiert).

Die entscheidende Hürde gegenüber dem revolutionären Marxismus blieb die Fetischisierung eingebildeter “revolutionärer Gewerkschaften” gegenüber der Notwendigkeit der Herausbildung einer revolutionären Arbeiterpartei auch als Avantgarde gegenüber den tatsächlich bestehenden Gewerkschaften.

Andererseits drückte die links-syndikalistische Strömung, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Oppositionsströmung gegenüber den sich etablierenden sozialdemokratischen Arbeiterparteien in einigen Ländern entstand, nicht nur ein “Überleben des kleinbürgerlichen Anarchismus” aus, sondern durchaus auch einen richtigen Impuls gegen eine sich abzeichnende Fehlentwicklung in der so genannten “marxistischen” Arbeiterbewegung. Dies betraf vor allem den “revolutionären Syndikalismus” in Frankreich, Italien, Ungarn, aber auch das Fortbestehen der anarcho-syndikalistischen Dominanz in Spanien (CNT).

In mechanistischer Weise wurde in den offiziell-marxistischen Arbeiterparteien (vor allem der SPD) der “Alltagskampf” der Arbeiterklasse immer mehr in verschiedene Spezialgebiete aufgegliedert, denen beschränkte Teilziele zugeordnet wurde, die mehr und mehr von “langfristigeren Zielen” und Kämpfen abgetrennt wurden. Dies führte nicht nur zu einer Herausbildung eines Apparates von Berufspolitikern, die speziell in Bezug auf Parlamentsarbeit immer opportunistischer agierten, sondern auch zu einem häufiger werdenden Abblocken weitertreibender, sich radikalisierender Alltagskämpfe, wie sie sich etwa in Massenstreiks zeigten.

Das französische Beispiel und die marxistische Kritik

Während sich in Deutschland die Opposition gegen die Entpolitisierung der “ökonomischen” Klassenkämpfe in der SPD in Form der Massenstreik-Debatten (Rosa Luxemburg, Pannekoek, etc.) bildete und in Russland Lenins Kampf gegen den “Ökonomismus” die Entstehung des Bolschewismus brachte, entwickelte sich in Frankreich die Opposition vor allem auch in den Gewerkschaften selbst. Nachdem die Vereinigung der beiden “marxistischen” Strömungen der französischen Arbeiterbewegung erst 1906 zur Bildung der sozialdemokratischen Partei SFIO (Französische Sektion der Arbeiterinternationale) führte, war diese von Anfang an durch opportunistische, parlamentsfixierte Politik bestimmt, die sich sogar in Regierungsbeteiligungen äußerte.

Trotzki würdigte in diesem Zusammenhang die Rolle des revolutionären Syndikalismus:

“Als der französische Vorkriegs-Syndikalismus in der Epoche seines Aufstiegs und seiner Ausbreitung für die Autonomie der Gewerkschaften kämpfte, kämpfte er damit wirklich für die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der bürgerlichen Regierung und ihren Parteien, auch von denen des reformistisch-parlamentarischen Sozialismus. Dies war ein Kampf gegen den Opportunismus – für einen revolutionären Weg. Der revolutionäre Syndikalismus macht in diesem Zusammenhang aus der Autonomie der Massenorganisationen keinen Fetisch. Im Gegenteil, er verstand und predigte die führende Rolle der revolutionären Minderheit in Bezug auf die Massenorganisationen, die die Arbeiterklasse mit allen Widersprüchen, ihrer Rückständigkeit und ihren Schwächen widerspiegeln. In ihrem Wesen war die Theorie der aktiven Minderheit eine unvollständige Theorie einer proletarischen Partei. In seiner ganzen Praxis war der revolutionäre Syndikalismus der Embryo einer revolutionären Partei und gegen den Opportunismus gerichtet, d.h. er war eine bemerkenswerte Ankündigung des revolutionären Kommunismus” (12).

Es ist nicht schwer nachzuweisen, dass die Syndikalisten in der CGT tatsächlich wie eine Partei wirkten, die versuchte ihre politische Orientierung in den Gewerkschaften durchzusetzen (mit eigenen fraktionellen organisatorischen Strukturen, politischen Richtungsauseinandersetzungen, etc.).

“Aber die Partei des revolutionären Syndikalismus hat Furcht vor der Abneigung, die die Parteien als solche den französischen Arbeitermassen einflößen. So hat sie den Namen Partei nicht angenommen und ist, was die Organisation betrifft, unvollendet geblieben. Die Partei versuchte, ihre eigene Mitgliedschaft mit der der Gewerkschaften zusammenfallen zu lassen oder doch mindestens in den Gewerkschaften eine Deckung zu finden. So erklärt sich die tatsächliche Unterordnung der Gewerkschaften unter gewisse Richtungen, Fraktionen und selbst Cliquen des Syndikalismus” (13).

Die verdeckte Art und Weise, in der die Syndikalisten die Gewerkschaften politisch dominierten, verdeckte sowohl die tatsächliche Differenz zwischen der Masse der Gewerkschaftsmitglieder und politisch aktiver Minderheit, wie auch die notwendige politische Richtungsauseinandersetzung. Während die Mehrheit des französischen Syndikalismus gegen den Sozial-Chauvinismus vor dem Ersten Weltkrieg Stellung bezog, setzte sich in der Führung der CGT besonders gegen Ende des Krieges der rechte Syndikalismus fest (Jouhaux), der eng mit der SFIO kooperierte – SFIO und CGT hatten zur klassischen Arbeitsteilung Partei/Gewerkschaft gefunden.

Es ist auch kein Wunder, dass der revolutionäre Syndikalismus dadurch in Nähe und Kooperation mit der entstehenden kommunistischen Partei geriet (eine Delegation der revolutionären Syndikalisten nahm am 2. Weltkongress der kommunistischen Internationale teil), ja sogar wesentlich zu ihrer Gründung (1920) beitrug, in deren Zusammenhang sich dann auch die CGT spaltete. Der Syndikalismus als eigenständige Erscheinung hatte seine politische Funktion ausgelebt, hatte sich in der revolutionären Nachkriegsperiode für reformistische oder revolutionäre Organisierung entscheiden müssen.

Allerdings ist klar, dass mit dem Abklingen der revolutionären Möglichkeiten wie auch mit der bürokratischen Degeneration von Sowjetunion und Komintern auch der Syndikalismus – wenn auch als Randerscheinung – wieder als “linke Opposition” auflebte. Alte Syndikalisten wie Monatte, die in den frühen 20er Jahren in die KPF eingetreten waren, sahen sich durch die Machenschaften und politischen Manöver Stalins, Sinowjews und Bucharins in allen ihren Vorurteilen in Bezug auf “Parteien” bestätigt, traten wieder aus der KPF aus, um eine neue syndikalistische Strömung um die Zeitschrift “Revolution Proletarienne” zu gründen.

Er konnte aber seine alte Position nie mehr erreichen, bereitete letztlich die opportunistische Wiedervereinigung der CGT in der Zeit der Volksfrontregierung mit vor. In den Kämpfen 34-36 konnte die nach rechts gewendete KPF die politische Hegemonie über die gewerkschaftlich-aktiven französischen Arbeiter erlangen und deren syndikalistische Traditionen in formal/sub-kulturellen Eigenheiten der CGT integrieren (formale “Unabhängigkeit” der Gewerkschaft, d.h. verdeckte politische Kontrolle, CGT als eine Art “soziale Bewegung” des “Gewerkschaftskommunismus” etc.).

Was waren die Gründe des Scheiterns des revolutionären Syndikalismus (der in Gestalt der CNT im spanischen Bürgerkrieg ja ein noch viel größeres politisches Desaster erlebte als in Frankreich)? Trotzki fasste die Gründe kurz in folgenden Elementen zusammen:

“Die Schwäche des Anarcho-Syndikalismus, auch in seiner klassischen Zeit, war das Fehlen einer korrekten theoretischen Grundlage, und als Ergebnis dessen ein falsches Verständnis von der Natur des Staates und seiner Rolle im Klassenkampf; weiter eine unvollständige, nicht voll entwickelte und deshalb falsche Auffassung von der Rolle der revolutionären Minderheit, d.h. der Partei. Daher die Fehler der Taktik, wie z.B. die Fetischisierung des Generalstreiks, das Ignorieren einer Verbindung zwischen dem Aufstand und der Eroberung der Macht usw.” (14)

Die anarchistisch-syndikalistische Unterschätzung der Bedeutung des Staates fußt letztlich auf dem vulgär-materialistisch, nicht-durchschauten indirekten Charakter bürgerlicher Diktatur. Im Kapitalismus ist die Entfremdung des Produzenten vom eigenen Produkt, die Herrschaft des Produkts über den Produzenten selbst, endlich zur allgemeinen Herrschaft gelangt. Sicher ist diese “Verdinglichung” von Herrschaft, ihre “Sachzwang”-Religion eine Verschleierung der real dahinter verborgenen Ausbeutungsverhältnisse zwischen Menschen:

“Wenn das Produkt der Arbeit nicht dem Arbeiter gehört, eine fremde Macht ihm gegenüber ist, so ist dies nur dadurch möglich, dass es einem anderen Menschen außer dem Arbeiter gehört. Wenn seine Tätigkeit ihm Qual ist, so muss sie einem anderen Genuss und die Lebensfreude eines anderen sein. Nicht die Götter, nicht die Natur, nur der Mensch selbst kann diese fremde Macht über den Menschen sein” (15).

Trotzdem bewirkt der rein über den Austausch hergestellte gesellschaftliche Zusammenhang des Ganzen, dass diese Entfremdung als “objektive”, “sachliche” “Naturgewalt“ erscheint, und über das abgeleitete menschliche Verhalten der “ideologische Schein” zu einer ganz realen materiellen Gewalt wird. Zu den Kategorien, die diesen Schein gesellschaftlich vermitteln, gehören eben Institutionen wie das Privateigentum oder der bürgerliche Staat. Solange der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang von Produktion und darauf aufbauendem gesellschaftlichen Verkehrsformen nicht auch gesamt-gesellschaftlich bewusst organisiert wird, solange (Welt)markt und Wertform noch eine Rolle in der gesamtgesellschaftliche Reproduktion spielen, müssen Fragen der Eigentumsordnung und der staatlichen Regulierung des Gesamtzusammenhanges zwangsläufig sich immer wieder ins Zentrum der Politik drängen.

Zu glauben, sie ignorieren zu können, um sich stattdessen bloß auf die Arbeiterkontrolle über zentrale Produktionsstätten und die Organisation der proletarischen, lokalen Kommunen zu konzentrieren zu können, heißt zu ignorieren, dass in einer Übergangsgesellschaft die Funktion des Staates noch nicht ausgespielt hat, heißt ignorieren, welche materielle Gewalt die Diktatur der Wertform in der Gesellschaft noch haben muss, solange die gesellschaftliche Arbeitsteilung nicht grundlegend umgewälzt ist.

Bürgerliche Herrschaft beruht weit mehr als jede frühre auf der “automatischen”, “freiwilligen” Unterwerfung der Ausgebeuteten, deren falsches Bewusstsein ein Produkt der kapitalistischen Produktion selbst ist. Sie beruht weiter auf einer Spaltung der Arbeiterklasse in verschiedenste, miteinander konkurrierende Schichten, auf der Herausbildung von “Mittelschichten”, die durch zeitweilige Privilegierungen an die Kapitalherrschaft gebunden sind, wie auch auf Klassenbündnissen mit alten feudalen oder kleinbürgerlichen Klassen.

Der bürgerliche Staat, seine Rechtsordnung und seine Gewaltmittel sind so nicht bloß “ideologischer Schein”, sondern können sich auf eine breite, für seine Verteidigung auch mobilisierbare, “besserverdienende” und auch “besserbewaffnete” Bevölkerungsgruppe stützen (und dies umso mehr, als international noch weitere bürgerliche Staaten existieren). Dieser Machtapparat kann nicht durch “Ignorieren” und bloßen Machtwechsel in einigen Betrieben überwunden werden, ohne dass er bei Gelegenheit zum tödlichen Gegenschlag ausholt: das gescheiterte Experiment der spanischen Anarcho-Syndikalisten der CNT/FAI, nach der Eroberung der zentralen Betriebe 1936 den republikanischen Staat als “überholte historische Institution” einfach bestehen zu lassen, ohne selbst die staatliche Gewalt zu übernehmen, ist eine tragische Bestätigung dieser Wahrheit.

Für die Errichtung der Diktatur des Proletariats ist die Eroberung der Staatsmacht unumgänglich. Nur dies gestattet es die Durchsetzung einer allgemeinen Produktionskontrolle durch die Arbeiterklasse durchzusetzen und zu verteidigen, wie auch die in einer Übergangsgesellschaft notwendig noch bestehenden staatlichen Funktionen in einer neuen, proletarischen Wiese zu organisieren. In diesem Sinn entwickelte Lenin in “Staat und Revolution” das Programm der Diktatur des Proletariats als eines der “Zerschlagung des bürgerlichen Staates” (seiner bürokratischen und militärischen Apparate) und der Errichtung eines auf Räteherrschaft gegründeten “proletarischen Halbstaates” (imperative Kontrolle durch Räte, beständige Rotation der Funktionen aus den Räten heraus, etc.), der im Verlauf des Übergangs zum Sozialismus absterben kann.

Es bedeutet aber auch, dass der Kampf um die Diktatur des Proletariats es notwendig macht, dass nicht nur der fortgeschrittenste, bewussteste Teil der Arbeiterklasse für das Projekt gewonnen werden muss, sondern die Avantgarde auch eine klare Führung in der Mehrheit der Klasse gewonnen haben muss, was unmöglich ohne eine organisatorische Differenzierung von Führung und Masse ist. Es bedeutet auch, dass Mittelschichten und Kleinbürgertum (z.B. Bauern) in beträchtlichem Maß von ihrem Bündnis mit der Bourgeoisie gebrochen werden müssen, bzw. wesentliche Teile des Gewaltapparates des Staates zumindest neutralisiert werden müssen. Dies alles bedeutet die Notwendigkeit einer in den Massen verankerten Partei von entschlossenen Aktivisten, die eine den Umständen gemäße revolutionäre Strategie und Taktik der Eroberung der Staatsmacht besitzen.

Der “Rätekommunismus”

Auch wenn es unter den revolutionären Syndikalisten eine Befürwortung der Diktatur des Proletariats gab, so wurde nicht erkannt, dass diese nur mit einer um die Staatsmacht kämpfenden revolutionären Partei möglich ist, die die Führung über Massenorganisationen der Arbeiterklasse und damit nicht nur über die klassenbewusstesten Teile der Klasse erlangt. Der “Linksradikalismus” ging jedoch vielfach von der vereinfachten Vorstellung aus, dass das nicht-revolutionäre Bewusstsein und das Hinterherhinken der Klasse eigentlich nur das Produkt der “ verräterischen” Politik von Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführern sei. Das verkennt sowohl die tatsächliche soziale Basis von reformistischer/bürgerlicher Politik in der Arbeiterklasse selbst, aber auch die notwendige Differenziertheit von kommunistischer Avantgarde und Rest der Arbeiterklasse.

In besonders drastischer Weise kam dies bei den deutschen Rätekommunisten der KAPD nach dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck. Hier war es die Erfahrung der Rätebewegung nach der Novemberrevolution und ihrer Abwürgung durch SPD/ADGB, die dazu führte, dass nunmehr die Räte statt die Gewerkschaften zum linksradikalen Organisationsfetisch wurden. Die Gewerkschaften hätten ihre Rolle ausgespielt, meinte etwa Pannekoek:

“Kämpfend gegen das Kapital, gegen die verschiedenen absolutistischen Tendenzen des Kapitals, sie beschränkend und dadurch der Arbeiterklasse die Existenz ermöglichend, erfüllte die Gewerkschaftsbewegung ihre Rolle im Kapitalismus und war dadurch selbst ein Glied der kapitalistischen Gesellschaft. Aber erst mit dem Eintritt der Revolution, als das Proletariat aus einem Glied der kapitalistischen Gesellschaft zum Vernichter wird, tritt die Gewerkschaft in Gegensatz zum Proletariat. Sie wird legal, staatserhaltend und staatlich anerkannt” (16).

Otto Rühle zufolge hatte vor allem die Tarifpolitik zu “immer größerer Entfremdung der Organisation von ihrem ursprünglichen Klassencharakter” beigetragen, indem sie eine “für den Klassenkampf verderbliche Atmosphäre der ‚Harmonie zwischen Kapital und Arbeit’ und ‚Gemeinsamkeit der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer’” erzeugt habe. Im Übrigen wirke sich das gewerkschaftliche System von Kranken-, Sterbe-, Arbeitslosen-, etc. Kassen lediglich systemintegrierend aus: Der Arbeiter “wird in seiner kleinbürgerlichen Denkweise bestärkt und erhalten (…) anstatt den Blick auf das große, freigewollte und selbstlos verfochtene Ziel der Befreiung seiner Klasse gerichtet zu halten” (17).

Die Konsequenz der Rätekommunisten (die anfänglich in der KPD sogar eine Mehrheit besaßen) war “Raus aus den reaktionären Gewerkschaften!” (ein entsprechender Beschluss auf dem Gründungsparteitag der KPD wurde von Rosa Luxemburg nur durch einen Geschäftsordnungstrick verhindert). Dagegen verfochten die Rätekommunisten die Vorstellung von einer Aufhebbarkeit der Trennung Partei/Gewerkschaft durch unmittelbar revolutionäre Betriebsorganisationen. Diese sollten Keimzellen für eine räte-mäßig organisierte politische, soziale und wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft bilden, national vereinigt in einer “Arbeiterunion”.

So meinte Rühle: “Räte können nur vorbereitet werden von Organisationen, die in den Betrieben wurzeln, den Parteicharakter restlos überwunden haben und in ihrem Aufbau das Rätesystem (nach Möglichkeit) verkörpern” (18). Tatsächlich bildete die KAPD nach ihrer Trennung von der KPD aus diversen linksradikalen Betriebsorganisationen zusammen mit Syndikalisten, Anarchisten, Linkskommunisten als Vereinigung lokaler Betriebsorganisationen die “Allgemeine Arbeiterunion” (AAU), die mehrere tausend radikale Arbeiter umfasste, bis sie nach dem Abebben der deutschen Revolution nach 1923 und den folgenden unzähligen Spaltungen der KAPD in die Bedeutungslosigkeit versank.

In ähnlicher Weise versuchte der italienische “Operaismus” im “heißen Herbst” 1969 die traditionellen, nicht-revolutionären Organisationen der italienischen Arbeiterklasse links liegen lassen zu können. Tatsächlich waren die Streiks und Betriebsbesetzungen der Gewerkschaftsbürokratie und der KPI-Führung aus den Händen geglitten. Dominierendes Moment der Auseinandersetzung war die Frage der “Arbeiterkontrolle”: Kontrolle über wichtige Aspekte des Produktionsprozesses wie Akkordnormen, Bandgeschwindigkeit, innerbetriebliche Mobilität und gesundheitliche Belastungen am Arbeitsplatz.

In wichtigen Großbetrieben handelten die streikenden Belegschaften unabhängig von den Gewerkschaften: Verhandlungsergebnisse der Gewerkschaftsführungen wurden abgelehnt, spontane Arbeitsniederlegungen einzelner Betriebe weiteten sich zu längeren betrieblichen Arbeitskämpfen aus, unabhängige Streikkomitees, schließlich Fabrikräte bildeten sich und formulierten die neuen, weit über die üblichen Tarifforderungen hinausgehenden Forderungen der Belegschaften.

Auf dieser Grundlage erklärten die Operaisten (z.B. “Autonomia Operaia”), dass die alten Gewerkschaftsorganisationen die Arbeiterklasse vom Kapitalismus abhängig organisiert hätten, nunmehr neue Arbeiterschichten (“die neuen Massenarbeiter”) nach “autonomer” Organisierung ihres gesamten proletarischen Lebenszusammenhangs drängten und die alten Organisationen an den Rand drängen würden. Nur 2-3 Jahre später war es der KPI-geführten CGIL gelungen, den Großteil der neuentstandenen “autonomen Strukturen” in die alte Gewerkschaftsorganisation zu integrieren, vor allem da die Auseinandersetzungen auf die politische Ebene z.B. beim Kampf um die “Scala Mobile” (automatische Angleichung der Löhne an die Inflation) drängten. Die KPI konnte die Protestbewegung der Arbeiter in ihre reformistischen Fahrwasser ablenken. Organisationen, wie “AutOp” hatten darin versagt, den Arbeitern eine politische Alternative zur KPI zu bieten.

Das Problem des revolutionären Subjekts

Bei aller Kritik an Anarcho-Syndikalisten, Rätekommunisten oder Autonomisten ist es wichtig festzuhalten, dass ihre Kritik an der “offiziellen” Interpretation des Marxismus von Sozialdemokratie und Stalinismus einen wahren und für viele radikale Arbeiter ansprechenden Punkt in der Wiederentdeckung der Rolle des subjektiven, revolutionären Faktors hatten. In der offiziellen Interpretation des Marxismus, wie er sich in der Zweiten Internationale mehr und mehr festgesetzt hatte, wurde die Arbeiterklasse mehr und mehr zu einem Objekt eines deterministischen Geschichtsprozesses, der aufgrund einer entsprechenden Entwicklung der Produktivkräfte notwendig die entsprechende bewußtseinsmäßige und politische Reife des Proletariats erzeugen würde, die es schließlich ermöglichen würde, dass der Übergang zum Sozialismus eintreten könne.

Wann die Entwicklung der Produktivkräfte und die Krise des Kapitalismus so weit gediehen sei, würde von der Parteileitung zu gegebener Zeit “wissenschaftlich” festgestellt. Geradezu beispielhaft kann hier folgendes Zitat angeführt werden, deren Ursprung bezeichnenderweise aus der Stalinisierungsperiode der Komintern stammt (in der Auseinandersetzung mit G. Lukacs geschrieben wurde):

“Sozialisten schreiben dem Proletariat eine bestimmte welthistorische Rolle zu. Warum tun sie das und warum können sie das tun? Weil die gegenwärtige Gesellschaft bestimmten Gesetzen unterworfen ist, die die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft genauso festlegen, wie die Richtung eines geworfenen Steins von den Gravitationsgesetzen vorbestimmt ist. Der Stein weiß nicht, dass seine Bahn durch bestimmte Naturkräfte bestimmt ist, und es mag sein, dass im Moment auch die Arbeiterklasse nichts über ihre Rolle weiß. Aber nur im Moment – sagt Marx. Denn da das Proletariat nicht aus Steinen sondern aus Menschen besteht, die Bewusstsein besitzen, so werden sie ihrer historischen Aufgaben zur richtigen Zeit gewahr werden. Die englischen und französischen Arbeiter werden sich gerade ihrer historischen Aufgaben bewusst. Und andere werden folgen. Woher weiß ich dass? Weil – sagt Marx – ich als Materialist weiß, dass das Bewusstsein abhängt vom gesellschaftlichen Sein. Nachdem dieses Sein so gestaltet ist, dass das Proletariat durch seine Leiden etc. durch Notwendigkeit zur Aktion gezwungen ist, so ist es absolut notwendig, dass es zur rechten Zeit zum richtigen Bewusstsein findet” (19).

Übrigens war diese Hoffnung auf den Automatismus von Produktivkraftentwicklung, Krisenentwicklung und Massenkämpfen der Arbeiterklasse nicht auf die Partei-Rechte beschränkt. Letztlich ist auch Rosa Luxemburgs Konzept der “spontanen Massenstreiks”, die von sich aus revolutionäre Dynamik entwickeln würden und die opportunistischen Abweichungen der Partei schon wieder ins rechte Lot bringen würden, nichts anderes als eine andere Variante der Verkennung des Problems der Entwicklung revolutionären Klassenbewusstseins.

Der ungarische Philosoph und Revolutionär Georg Lukacs hat in einem Versuch, Lenins Parteitheorie gegenüber derjenigen der Zweiten Internationale methodisch zu entwickeln, klargestellt, dass die Klassenbewusstseins-Auffassung der Zweiten Internationale systematisch das widersprüchliche Bewusstsein der Arbeiterklasse im Kapitalismus verkannt hat.

Marx entwickelte seine “Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus” nicht einfach als “positive Theorie” der Entwicklungsgesetze des Kapitalismus, sondern vor allem als Kritik und Entschleierung von Bewusstseinsformen, die die kapitalistische Warenproduktion notwendigerweise erzeugt (die also nicht zufällige Hirngespinste sind), und die Grundlagen eines der Warenökonomie angepassten Bewusstseins der Ausgebeuteten darstellen. So stellte Marx in Bezug auf die Lohnform fest:

“Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung des Arbeitstags in notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlte Arbeit aus. Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit. (…) Bei der Sklavenarbeit erscheint selbst der Teil des Arbeitstags, worin der Sklave nur den Wert seiner eignen Lebensmittel ersetzt, den er in der Tat also für sich selbst arbeitet, als Arbeit für seinen Meister. Alle seine Arbeit erscheint als unbezahlte Arbeit. Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die Mehrarbeit oder unbezahlte Arbeit als bezahlt. Dort verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstarbeiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters. Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.” (20)

Die Illusionen vom “gerechten Lohn für ein gerechtes Tagwerk”, vom “gerechten Anteil der Arbeiter” am gesellschaftlichen Reichtum (d.h. Konsum-Teilhabe an der vermeintlich fremden “ungeheuren Warenmasse”) – all diese kapitalimmanenten Zielsetzungen sind ebenso notwendiger Reflex der Klassenlage des Proletariats wie der beständige Klassenkonflikt und der Zwang zur gewerkschaftlichen Organisierung zur Existenzsicherung.

Andererseits ist das Proletariat aufgrund seiner Position im Produktionsprozess, seiner mit den Gewerkschaften beginnenden Organisierung zum eigenständigen Klassensubjekt, die einzige Klasse im entwickelten Kapitalismus, durch deren entschlossenes Handeln der Übergang zu einer auf vergesellschafteter Produktion beruhender klassenlosen Gesellschaft möglich ist.

Die Differenz zwischen der tatsächlichen Bewusstseinslage, des von den Illusionen der Lohnform geprägten Proletariats und dem Bewusstsein von den historischen Möglichkeiten und Aufgaben seiner Klassenlage lösen sich auch durch noch so verschärfte “objektive Krisen” des Kapitalismus nicht automatisch auf. Diese Krisen, die aus den grundlegenden Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus grundsätzlich immer wieder periodisch auftreten müssen, schaffen zwar eine objektive Situation, in der sich sowohl die Frage nach einer Systemüberwindung stellt, wie sich in ihr auch das Proletariat durch die Krise bürgerlicher Herrschaft “spontan” in einer machtvollen Position wiederfinden kann.

Doch dadurch wird die Frage der Systemüberwindung noch lange nicht tatsächlich auch gelöst: “In welcher Lage immer der Kapitalismus sich befinden mag, es werden sich stets ‚rein ökonomische’ Lösungsmöglichkeiten zeigen; (…). Ob sie auch durchführbar sind, hängt aber vom Proletariat ab. Das Proletariat, die Tat des Proletariats versperrt dem Kapitalismus den Ausweg aus der Krise. Freilich: dass dem Proletariat jetzt diese Macht in die Hände gegeben ist, ist eine Folge der ‚naturgesetzlichen’ Entwicklung der Wirtschaft. Diese ‚Naturgesetze’ bestimmen aber nur einerseits die Krise selbst, geben ihr einen Umfang und eine Ausdehnung, die eine ‚ruhige’ Weiterentwicklung des Kapitalismus unmöglich machen. Ihr ungehindertes Auswirken (im Sinne des Kapitalismus) würde jedoch nicht zu einem einfachen Untergang, zum Übergang in den Sozialismus führen, sondern über eine lange Periode von Krisen, Bürgerkriegen und imperialistischen Weltkriegen auf immer höherer Stufe: ‚zu dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen’, in einen neuen Zustand der Barbarei.

Andererseits haben diese Kräfte und ihre ‚naturgesetzliche’ Entfaltung ein Proletariat geschaffen, dessen physische wie ökonomische Gewalt für den Kapitalismus sehr geringe Chancen gibt, nach dem Schema der früheren Krisen eine rein ökonomische Lösung, eine Lösung, in der das Proletariat nur als Objekt der ökonomischen Entwicklung figuriert, zu erzwingen. Diese Macht des Proletariats ist die Folge objektiv-ökonomischer ‚Gesetzmäßigkeiten’. Die Frage jedoch, wie diese mögliche Macht zu Wirklichkeit wird, wie das Proletariat, das heute tatsächlich ein bloßes Objekt des Wirtschaftsprozesses ist und nur potentiell, nur latent auch sein mitbestimmendes Subjekt, in Wirklichkeit als sein Subjekt hervortritt, ist von diesen ‚Gesetzmäßigkeiten’ nicht mehr automatisch-fatalistisch bestimmt. (…) So weit nämlich die Reaktion des Proletariats auf die Krise sich rein den kapitalistischen ‚Gesetzmäßigkeiten’ gemäß auswirken, soweit sie sich als höchstens spontane Massenaktionen zeigen, so zeigen sie im Grunde genommen eine den Bewegungen der vorrevolutionären Periode vielfach ähnliche Struktur. Sie brechen spontan aus (die Spontaneität einer Bewegung ist nur der subjektiv-massenpsychologische Ausdruck für ihre rein ökonomisch-gesetzmäßige Determiniertheit), fast ausnahmslos als Abwehr gegen einen wirtschaftlichen – seltener: politischen – Vorstoß der Bourgeoisie, gegen ihren Versuch, für die Krise eine ‚rein ökonomische’ Lösung zu finden. Sie hören ebenfalls auf, flauen ab, wenn ihre unmittelbaren Ziele als erfüllt oder als aussichtslos erscheinen” (21).

Die Frage wie das Proletariat sich aus der bloß spontanen Abwehrreaktion, die letztlich keinen eigenständigen, offensiven Ausweg aus der Krise findet, zu einem bewusst die Gesellschaft und Ökonomie gemäß seinen historischen Zielsetzungen umwälzenden, selbstbewussten Subjekt wird, stößt notwendig auf das Problem der widersprüchlichen Konstituierung des Proletariats und seines Bewusstseins. Die Differenz zwischen objektiven Möglichkeiten/Aufgaben und dem im bürgerlichen Bewusstsein befangenen Massen des Proletariats muss sich notwendig in einem scharfen inneren politischen Kampf ausdrücken, einer “ideologischen Krise”, die gelöst werden muss, bevor das Proletariat “mit vollem Bewusstsein” Geschichte machen kann.

“Diese ideologische Krise [des Proletariats] zeigt sich einerseits darin, dass die objektiv äußerst prekäre Lage der bürgerlichen Gesellschaft sich im Kopfe der Proletarier doch in der Form ihrer alten Solidität spiegelt; dass das Proletariat vielfach noch immer stark in den Gedanken- und Gefühlsformen des Kapitalismus befangen bleibt. Andererseits erhält diese Verbürgerlichung des Proletariats eine eigene organisatorische Form in den menschewistischen Arbeiterparteien und der von ihnen beherrschten Gewerkschaftsführung.“ (22)

Der Kampf um die Selbstbefreiung des Proletariats zum klassenbewussten revolutionären Subjekt kann kein rein ideologisch-theoretischer sein, sondern ist vor allem ein praktischer. In ihm müssen sich einerseits die spontanen Kämpfe zu einem umfassenden, offensiven Kampf um die Umwälzung der Gesellschaft im Sinne der historischen Interessen des Proletariats zusammengefasst werden. Andererseits müssen die organisierten Ausdrücke des bürgerlichen Bewusstseins in der Arbeiterklasse (Gewerkschaftsbürokratie, Menschewismus, etc.) in bewusster und organisierter Weise bekämpft werden, um dem revolutionären Klassenbewusstsein zum Durchbruch zu verhelfen.

Schließlich muss sich das Proletariat zu einer aktionsfähigen Einheit formen, die gegenüber Kleinbürgertum und Mittelschichten zur führenden gesellschaftlich-politischen Macht wird und Staat und Ökonomie der Bourgeoisie mit dem Anspruch der Machtübernahme gegenübertreten kann. Kurz gesagt: die Differenz von objektiven historischen Möglichkeiten des Proletariats und seiner tatsächlichen widersprüchlichen Klassenlage verlangen nach vermittelnden politischen Formen:

“Lenin arbeitete die konkreten Möglichkeiten einer proletarischen Praxis heraus durch das Entdecken der tatsächlichen Glieder der Vermittlung zwischen der Klassenlage und bewusst-korrekter Praxis – dies muss zu seinen unsterblichen theoretischen Errungenschaften gezählt werden. (Während Rosa Luxemburg, um ein kontrastierendes Beispiel zu nennen, einer unmittelbaren und mythologisierenden Sichtweise anhing). Denn das Klassenbewusstsein des Proletariats ist weder in Bezug auf seinen Inhalt nach noch in seiner Entstehung und Entwicklung unmittelbar gegeben. Solange die wirklichen Vermittlungsformen seines Wachstums unerkannt bleiben, und daher im praktischen Sinn unanalysiert bleiben, entwickelt es sich bloß spontan und elementar (die Wirksamkeit unerkannter gesellschaftlicher Kräfte nimmt als Bewusstseinsform einen spontanen Charakter an). Aber um diese Spontaneität aufzuheben reicht es nicht im Geringsten die allgemeinen, ökonomischen und gesellschaftlichen Formen des Seins zu erkennen, die Klassenbewusstsein hervorrufen und entwickeln, auch wenn sie ökonomisch bis ins kleinste Detail ausgearbeitet sind. Vielmehr müssen jene spezifischen wirklichen Formen der Vermittlung die geeignet sind diesen Prozess zu befördern oder zu behindern (…) erkannt und korrekt und konkret angewendet werden. (..)

Von Anfang an wurden (…) die organisatorischen Formen, die Lenin erkannte und anwendete, von allen Opportunisten als ‚künstliche’ Formen bekämpft. (…) Denn diese organisatorischen Formen sind nicht einfach Ausformungen des unvermittelten Bewusstseinsstandes des durchschnittlichen Arbeiters (…). D.h. sie sind weder ‚psychologische oder massenpsychologische’ Wahrnehmungen, sondern erarbeiten stattdessen praktische Mittel aus dem korrekten Wissen des historischen Prozesses als Ganzem in der Totalität seiner ökonomischen, politischen, ideologischen, etc. Momente. Diese praktischen Mittel sind jene, mit deren Hilfe auf der einen Seite ein Teil des Proletariats auf die Ebene des Bewusstseins gehoben wird, die korrekt seiner objektiven Situation in ihrer Totalität entspricht, während dadurch auf der anderen Seite die breite Masse der Arbeiter und anderer Ausgebeuteter in ihren Kämpfen korrekt geführt werden kann. Es muss von vornherein betont werden, dass nur ein Teil der Arbeiter auf diese Ebene gehoben werden kann”. (23)

Die zentrale Vermittlungsform des praktisch-revolutionären Klassenbewusstseins ist die kommunistische Partei. Nur in ihr erreicht das Proletariat konkretes Bewusstsein von den historischen Möglichkeiten und Zielen in der Totalität ihrer Momente (in Form des sich entwickelnden revolutionären Programms), wie zielgerichtete Handlungsfähigkeit (in Form von demokratischem Zentralismus und revolutionärer Disziplin), wie die systematische Bildung einer Avantgarde (durch die Organisierung umfassend aktiver professioneller Revolutionäre), wie umfassende Organisierung (gekrönt in der revolutionären Internationale).

Gegenüber der notwendig “offenen” Form der Räte, die einiges an Spielräumen für “Individualismus”, “Experimente”, “Unwissenschaftlichkeit” lässt, bedeutet die kommunistische Partei die Zielgerichtetheit und Systematik, die umso notwendiger ist, je stärker die Verbürgerlichung im Proletariat wirkt, je stärker Gewerkschaften und Reformismus mit dem imperialistischen Staatsapparat verflochten sind, je stärker verbürgerlichte Arbeiterorganisationen das Proletariat ideologisch und politisch dominieren. Dies erfordert ein Ausmaß an Ernsthaftigkeit, Wissenschaftlichkeit, Aufopferungsbereitschaft, Bereitschaft zur Unterordnung wie zum kompromisslosen Kampf um die richtige Position, der Entwicklung von Führungsfähigkeit, kurz von Professionalität der Revolutionäre, wie sie bisher nur in einer Avantgardepartei vom Lenin’schen Typ entwickelt werden konnte.

Lukacs macht die Bedeutung der Partei in diesem Sinn klar, indem er auf das Scheitern der ungarischen Räterepublik 1918/19 eingeht (an der er in der Räteregierung und als Kommissar einer Division der roten Armee teilnahm). Während Lukacs den Hauptgrund für dieses Scheitern in der zu spät erfolgten Gründung einer gefestigten kommunistischen Partei sah, erklärte die Fraktion um Bela Kun und Lazslo Rudas die “objektiven Umstände” zum Grund, weshalb sich die Diktatur des Proletariats in Ungarn nicht etablieren konnte: Auswirkungen der ökonomischen Blockade, Verrat der Offiziere, militärisch ungünstige Bedingungen, etc.:

“Blockade, Hunger! Ja, natürlich, aber Genosse Rudas muss anerkennen, dass der Hunger, der Mangel an Gütern, etc. nicht im entferntesten den Entbehrungen nahe kamen, die das russische Proletariat erdulden musste (…). Was fatal war für die Herrschaft der Arbeiterräte in Bezug auf die Blockade war die sozialdemokratische Demagogie, die verbreitete, dass die Rückkehr zur ‚Demokratie’ ein Ende der Blockade bedeuten würde und die Steigerung des Lebensstandards der Arbeiter. Was fatal war, war dass die Arbeiter diese Demagogie glaubten – genau weil es keine kommunistische Partei gab. Verrat der Offiziere! Aber Genosse Rudas als führender aktiver Kader muss gewusst haben, dass in allen Einheiten wo entsprechend fähige Kommunisten in den Reihen waren, diese Einheiten verlässlich waren und bereit bis zum Ende zu kämpfen. War es wirklich ‚objektiv’ unmöglich für unsere acht Divisionen (und die entsprechenden Regimenter etc.) kommunistische Kommandanten und Kommissare zu finden? Es war unmöglich, weil es keine kommunistische Partei gab, die die Auswahl traf, Ernennungen durchführte oder die richtigen Aktionsvorschläge machte. Die ungünstige militärische Lage! (…) Ich möchte Rudas einfach daran erinnern, dass der Fall der Diktatur nicht einfach eine militärische Angelegenheit war. Am 1.August befand sich die Rote Armee in einer erfolgversprechenden Gegenoffensive, mit einigen Erfolgen (…), und genau zu diesem Zeitpunkt trat der Arbeiterrat in Budapest ab, genau deswegen, weil es keine kommunistische Partei gab!”. (24)

Natürlich ist auch eine kommunistische Partei keine Erfolgsgarantie – sie kann nicht alle objektiven Umstände wettmachen, sie wird opportunistische oder ultra-linke Fehler machen, es kann ihr an Verankerung im Proletariat mangeln, sie kann bürokratisch degenerieren, etc.. Aber ohne eine solche Partei kann der entscheidende Schritt zum Übergang zum Sozialismus, die Errichtung und Verteidigung der Diktatur des Proletariats nicht gelingen.

Kommunisten und Gewerkschaften

Die Partei kann dabei weder Gewerkschaften noch Räte ersetzen oder links liegen lassen. Gerade als Avantgardepartei muss sie eine Praxis entwickeln, durch die diese “spontanen” Formen der Massenorganisierung revolutioniert, von ihren bürgerlich-bornierten Formen befreit, zu schlagkräftigen Waffen des revolutionären Klassenkampfes werden, die von der revolutionären Partei geführt werden.

Daher ist es einerseits notwendig auch in den reaktionären Gewerkschaften zu arbeiten, sofern sie tatsächliche Massenorganisationen sind:

“Aber den Kampf mit der Arbeiteraristokratie führen wir im Namen der Arbeitermassen, um sie auf unsere Seite zu ziehen. Den Kampf mit den opportunistischen und sozialchauvinistischen Führern führen wir, um die Arbeiterklasse für uns zu gewinnen. Diese elementare, handgreifliche Wahrheit zu vergessen wäre eine Torheit. Und gerade diese Torheit begehen die ‚radikalen’ deutschen Kommunisten, die aus der Tatsache des reaktionären, gegenrevolutionären Charakters der Spitzen der Gewerkschaft den Schluss ziehen, dass man aus den Gewerkschaften austreten, die Arbeit in den Gewerkschaften ablehnen und neue ausgeklügelte Formen von Arbeiterorganisationen schaffen muss! (…) Die Arbeit innerhalb der reaktionären Gewerkschaften ablehnen heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluss der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder der ‚verbürgerlichten Arbeiter’(…) überlassen.” (25)

Doch ist diese notwendige “Einheitsfront” im Kampf gegen die Bourgeoisie unter Inkaufnahme der zeitweiligen Zusammenarbeit mit der reaktionären Gewerkschaftsbürokratie kein Zweck an sich, sondern dient einerseits der Revolutionierung der Arbeitermassen in den Gewerkschaften und dem ideologisch-politischen Kampf gegen den organisatorischen Ausdruck ihrer Verbürgerlichung (in Form von Gewerkschaftsführung und Sozialdemokratie). Andererseits muss es die Kampf- und Organisationsformen selbst umwälzen, in Form der Politisierung von Streiks, der Aufhebung regionalistischer, berufsmäßiger, politisch/ökonomischer Trennungen, der Hebung des politischen Niveaus der Kämpfenden, der Demokratisierung der Strukturen, etc.

Schließlich geht es um den Bruch des Zusammenhangs von Gewerkschaften und bürgerlichen Staat (26), die Orientierung auf eine rätemäßige Organisation der Arbeitermassen und um die Gewinnung der Führung der kommunistischen Partei in Gewerkschaften und in anderen Massenorganisationen des Proletariats mit dem Ziel der Machtergreifung. Diese Schritte können letztlich nur durchgekämpft werden durch eine organisierte Kraft der Kommunisten in den Gewerkschaften, in denen sie arbeiten, d.h. durch die Bildung einer kommunistischen Gewerkschaftsfraktion, die einen organisierten Oppositionskampf um die Zielrichtung und Führung der Gewerkschaft durchführt. Klar ist dabei, dass sich die Gewerkschaften nur in außergewöhnlich revolutionären Umständen wird revolutionieren lassen, in denen auch die Masse der Mitgliedschaft über das Nur-Gewerkschaftertum hinausdrängt (wie z.B. in Bolivien 1951 als die COB räte-ähnliche Gestalt annahm).

Gerade dann ist eine starke kommunistische Fraktion in den Gewerkschaften notwendig, um die instabile Lage zu nutzen, die Gegenwirkung der reformistischen Bürokratie und ihrer Anhängerschaft, die Politisierung der Kämpfe in eine entscheidende revolutionäre Richtung zu treiben. Um dies voranzutreiben und durchzusetzen können solche Taktiken wie die der „klassenkämpferische Basisbewegung“ eine wichtige Rolle spielen, um einen anti-bürokratischen Block gegen die reformistische Gewerkschaftsbürokratie zu bilden, der über die kommunistische Fraktion hinausgeht. Kann die Situation nicht genutzt werden, flauen die Kämpfe ab, etc. wird das “Nur-Gewerkschaftertum” wieder eine breite Basis bekommen, die Masse der Gewerkschaftsmitglieder wird Politik wieder “den/der Partei(en)” überlassen und eine Stabilisierung der Gewerkschaftsbürokratie zulassen. Eine Eroberung und Umwälzung der Gewerkschaften wird sich kaum in einem Kampfzyklus abspielen – was wiederum den langen Atem einer Avantgardepartei erfordert.

Missglückte Wiederbelebung der linksradikalen Ansätze

Ende der 60er Jahre bildete sich aus radikaler Jugend- und Studentenbewegung, aber auch einer sich kurzzeitig radikalisierenden Minderheit in den Betrieben nicht nur, aber auch in Deutschland ein Konglomerat eines neuen Linksradikalismus, der zunächst in der Form einer “anti-autoritären Bewegung” in ziemlicher Akribie und Vehemenz die Traditionen des historischen Linksradikalismus durchforstete, bzw. mit neuen Formen desselben aus den halbkolonialen Ländern auffüllte.

In einer nicht zu bestreitenden Konsequenz wandte sich ein Großteil dieser Bewegung, sofern er nicht apolitisch wurde oder in reformistischen Parteien endete, dem Ziel der Organisierung einer kommunistischen Partei zu. Aufgrund verschiedenster Faktoren, zu denen vor allem der Abbruch der organisatorischen revolutionären Kontinuität zählt (auf die Degeneration der Komintern, wie der 4. Internationale muss hier nicht weiter eingegangen werden), gab es anders als nach dem Ersten Weltkrieg diesmal kein “gesundes” leninistisches Korrektiv mit der Autorität einer erfolgreichen Avantgardepartei, das die massenhaft in neue “kommunistische Organisationsansätze” strömenden Linksradikalen durch korrekt-konkrete Praxis der Vermittlung des proletarischen Klassenbewusstseins in die kommunistische Bewegung hätte integrieren können.

Diese Autorität wurde tragischerweise im Maoismus der Kulturrevolution gesucht, die für die damalige Bewegung eine erfolgreiche anti-bürokratische Drittwelt-Revolution simulierte. Die meisten der entstehenden “Kommunistischen Bünde”, “Aufbauorganisationen” etc. verbanden linken Stalinismus mit “neuen” Organisationsansätzen, die zumeist Wiederholungen der alten Fehler des historischen Linksradikalismus waren, wie “Raus aus den reaktionären Gewerkschaften”, “Aufbau neuer proletarischer Organisationen”, etc.

Ansonsten hatten ihre Schwankungen in den Organisationsprinzipien von elitären Konzepten, föderativen Prinzipien, Kommunenbildung, etc. weit mehr mit dem Anarcho-Syndikalismus zu tun, als mit dem Prinzip einer sich in den Massen verankernden Avantgardepartei mit klarer revolutionärer Programmatik. Es ist kein Wunder, dass daher auch die in den 70er Jahren begonnene neue oppositionelle Gewerkschaftspolitik von einer Vielzahl der bereits erwähnten linksradikalen Kinderkrankheiten geprägt war.

Als noch heute (mehr oder weniger) lebendiges Beispiel dieser Kindereien sei hier das betriebliche Agieren der MLPD genannt: Sie lehnte zwar anders als andere Maoisten die Arbeit in den reaktionären Gewerkschaften nicht ab, hält aber sowohl die Eroberung dieser Gewerkschaften, ihre Umwandlung in revolutionäre Gewerkschaften, wie die Möglichkeit diese Gewerkschaften für radikale Kämpfe zu gewinnen für unmöglich, da die Gewerkschaftsführung unmittelbar mit den Konzernen und dem Staat der Monopole verknüpft ist. Aufgabe von Kommunisten in den Gewerkschaften sei bloße Propaganda und die Gewinnung von Mitgliedern, neben der “normalen” Gewerkschaftsarbeit.

Daneben seien die Arbeiter zu “selbständigen” Streiks und Kämpfen anzuleiten, die unter der Führung der MLPD und nur deshalb dann auch politisch und revolutionär sein könnten. Durch diese Verknüpfung von RGO-Politik (die allerdings vor allem theoretisch bleibt, da die MLPD kaum jemals solche “eigenständigen” Kämpfe führen konnte) und passiv-propagandistischer Arbeit in den Gewerkschaften, wird die MLPD de facto zum radikale Phrasen dreschenden Anhängsel der Bürokratie, was sie vor allem bei der Stilllegung des Stahlwerks Rheinhausen (wo sie Betriebsratsmitglieder stellte) verheerend demonstrierte (z.B. durch ihre Ablehnung von “illegalen Besetzungsmaßnahmen”, die von einer dem Betriebsverfassungsgesetz folgenden Gewerkschaftsführung nicht gefordert werden könne).

“Social Movement Unionism” oder revolutionäre Opposition

Es muss jedoch erwähnt werden, dass diese “proletarische Wende” der linksradikalen Bewegung Anfang der 70er-Jahre ein Milieu linker Betriebsaktivisten in der BRD geschaffen hat, das heute – da die meisten “Mutterorganisationen” längst verschwunden sind – noch eine wesentliche Basis für linke Opposition in den Gewerkschaften darstellt. Jens Huhn nennt sie die letzten verbliebenen “Festungen” militanten Gewerkschaftertums in ein paar wenigen, aber doch sehr wichtigen Industriebetrieben.

Nicht zu leugnen ist natürlich, dass die Erfahrungen dieser Aktivisten mit linksradikaler Partei- und Gewerkschaftspolitik sie skeptisch gegenüber jeder parteimäßigen Organisierung gemacht haben, und sie eher Vertreter von “Gewerkschaftsautonomie” und syndikalistischer politischer Organisierung geworden sind. Es ist kein Wunder, dass die Zeitschrift “express” zu einem ihrer Sammelpunkte geworden ist. “express” begann in den frühen 70er Jahren als Projekt des “Sozialistischen Büros (SB)”, das sich damals den “kommunistischen Organisationsprojekten” entzog, und sich als lose syndikalistisch-luxemburgistische Basisgruppen-Föderation konstituierte. Diese Zeitschrift wurde vom SB als “Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit” herausgegeben – und hat sich bis heute mit diesem Namen gehalten.

Als typischer Verteidiger des spontaneistisch-syndikalistischen ideologischen Erbes erscheint dabei Jens Huhn, der kürzlich eine “monumentale” Artikel-Serie zur Geschichte der Arbeiterbewegung im “express” veröffentlichte (27), in der die “klare” geschichtliche Linie von Marx zum “social movement unionism” gezogen wird. Es kann dabei natürlich nicht fehlen, dass wieder einmal kritiklos Rosa Luxemburgs Mythologisierung spontaner Massenkämpfe als “große historische Leistung” gegenüber Lenins angeblichem Konzept von der Partei als “allwissendem Konstrukteur des Klassenkampfes” empor gehoben wird.

Tatsächlich glaubte Luxemburg in einer Verkennung der Problematik der Konstitution von Klassenbewusstsein im Kapitalismus, dass sich dieses “wie eine Naturgewalt” in spontanen Massenkämpfen bilden würde, die die politischen und ökonomischen Kämpfe “in einer Arbeiterbewegung” wie von selbst aufheben würden. Wie zuvor gezeigt ist dies eine zum Reformismus bloß spiegelbildliche Hoffnung auf “den Prozess”, die zum passiven Verzicht auf den Kampf um die Führung der Arbeiterbewegung führen muss.

Es ist kein Wunder, dass mit dieser falschen Methode die “neuen” Erscheinungen von “Massenkämpfen” wiederum zum “Ansatz” der automatischen Überwindung der reformistisch-bürokratischen Blockade werden. Die “objektiven” Veränderungen in der Produktionsorganisation – Auflösung des fordischen Massenarbeiters, Rausfallen von breiten “Rand”-Schichten aus den von traditionellen Gewerkschaften zu erfassenden Zusammenhängen, Internationalisierung der Produktion, etc. – und neue Kampfformen, um mit diesen sich auseinander zu setzen, werden Grund für eine “spontane” Selbstorganisation, “mit einem Höchstmaß an Selbständigkeit” der neu Organisierten und einer gegenüber den alten Gewerkschaften über die Grenzen treibenden Dynamik.

Tatsächlich haben in den letzten Jahren die veränderten ökonomischen Bedingungen eine Reihe ermutigender Widerstandsformen und -aktionen der weltweiten Arbeiterklasse hervorgebracht, die den alten Rahmen reformistischer Partei- und Gewerkschaftsarbeitsteilung erschüttern können. Wir sind hierauf in der Rezension des Buches “Workers in a lean world” von Kim Moody ausführlich eingegangen (siehe RM 30).

Doch selbst Jens Huhn muss zugeben, dass sich in keinem dieser Ansätze bisher tatsächlich eine breite politisch/ökonomische Bewegung zur Systemüberwindung manifestiert hat. So fern der “Social movement unionism” jedoch in der reinen Konzeption der “proletarischen Gegenmacht” verharrt, kann er letztlich nur wieder die bornierte Verteidigungsinstitution der Interessen von Warenbesitzern sein.

Nach einer dynamischen Phase wird die Masse der Mitgliedschaft wiederum zu passiven Konsumenten einer hauptamtlichen Gewerkschaftsbürokratie werden und sich politisch – wenn es gut kommt – wiederum an eine reformistische Arbeiterpartei binden lassen. Dies ist leider auch die Erfahrung der brasilianischen CUT und ihrer zunächst sich revolutionär gebärdenden Parteigründung PT, die heute als reformistische Regierungspartei bestimmter Regionen notwendigerweise immer wieder in Konflikt mit den CUT-Militanten kommt.

Es ist auch die Erfahrung der politisch/gewerkschaftlichen Einheit ANC/COSATU in Südafrika (von Moody als Muster des “social movement unionism” angeführt), die heute bei VW-Südafrika als vehementer Verteidiger des Standortwettbewerbs der IG-Metall um nichts nachsteht. Diese Entwicklung ist nicht bloß Ergebnis von “verräterischen Bürokraten” in den schönen neuen Musterbewegungen, noch dem Partei-/Gewerkschafts-“Gedanken” geschuldet. Sie ist auch Resultat der widersprüchlichen Konstitution der Arbeiterklasse und der sie reflektierenden Spontaneität von Gewerkschaftsorganisierung, die nur durch die von einer revolutionären Organisation zu leistende Vermittlung mit den revolutionären Zielen, die in den konkreten Klassenkämpfen stecken, in eine wirklich proletarische, revolutionäre Organisierung aufgehoben werden kann.

D.h. nicht das Anhimmeln der jeweiligen spontanen Formen aktueller Massenkämpfe ist gefragt, sondern ihre konkrete Weiterentwicklung in eine revolutionäre Richtung durch das aktive, bewusste und geplante Eingreifen organisierter Kommunisten. Nicht das “macht nur weiter so”, “lasst euch ja nichts von uns Linken dreinreden”, “ihr braucht keine Partei, ihr seid schon die Klassenbewegung” ist notwendig, sondern neben der praktischen Solidarität, die konstruktive Kritik zur Überwindung der weiterbestehenden Beschränktheiten, die Entwicklung einer konkreten Strategie und Taktik für eine diese Ansätze und Kämpfe umfassende, tatsächlich revolutionäre Bewegung.

So erfreulich die neuen Erscheinungen von Massenaktionen sind, so gefährlich sind ihre neuen Hinterher-Schwänzler, die die Gefahren der Begrenztheiten dieser Kämpfe nicht aufzeigen, die die entstandenen Organisationsformen als neue Formen der “umfassenden Klassenorganisation” bejubeln, damit aber auch die Notwendigkeit einer selbständigen, revolutionären Partei leugnen – kurz die rechten ideologischen Illusionen des alten Syndikalismus predigen. Auf diese Wiese wird der Syndikalismus (in welchem modischen Kleid er auch heute erscheinen mag) zu einem wesentlichen politischen Hindernis für eine ihre Grenzen sprengenden Radikalisierung der neuen Bewegungsgewerkschaften.

Ganz klar ist es ein Fortschritt, dass in vielen Gewerkschaften weltweit eine Strömung entsteht, die für den Bruch mit der Unterwerfung der Gewerkschaften unter die Dominanz einer reformistischen Partei kämpfen, die eine Politisierung der Gewerkschaftskämpfe wollen, die eine erhöhte Selbstaktivität der Mitglieder gegenüber den undemokratischen und deaktivierenden alten Strukturen befördern wollen, genauso wie eine gewerkschaftliche Internationalisierung.

Es ist klar, dass es in all diesen Aspekten wichtige Beschränktheiten gibt: der Bruch mit der Sozialdemokratie wird z.B. bei Riexinger (s.o.) bloß mit dem Ziel der Entwicklung “autonomer Gegenmacht” angestrebt, um so dem Zugriff des Großkapitals auf den Staat entgegen zu wirken. Doch um welche “Macht” kann es sich hierbei handeln, wenn den Konzernen die entscheidenden Hebel ihrer Kontrolle über die Gesellschaft und den Staat dabei nicht genommen werden, solange sie also die Herrn des Kapitalflusses bleiben? In dem selben Sinne: wie sollen Kampfmaßnahmen, Streiks etc. zu wirklich politischen Aktionen werden, wenn sie nicht letztlich die Frage der Regierung, letztlich der ökonomisch/politischen Macht stellen? Wie sollen Selbstorganisation, Selbständigkeit, etc. der Arbeiter gegenüber den bestehenden kapitalistischen Strukturen sich länger halten können, wenn sie sich nicht letztlich in einer tatsächlichen Organisierung der unmittelbaren Lebensbereiche äußern können, also Arbeiterkontrolle und Räte-Organisation ansteuern? Wie soll sich tatsächliche Internationalisierung von Kämpfen durchsetzen, wenn sie nicht von einer schlagkräftigen internationalen Organisation koordiniert und angeleitet werden?

Der Kampf um den Bruch mit der Kettung der Gewerkschaften an Sozialdemokratie und bürgerlichen Staat bietet die Möglichkeit, dass all diese Fragen konkret diskutiert und praktisch weitergetrieben werden können. Die entscheidende Frage wird dabei sein, ob ein gewichtiger Teil der neu radikalisierten Arbeiter und Jugendlichen den Schritt in Richtung der Bildung der revolutionären Avantgarde-Partei tun. Nur die Bildung einer starken, in diesen neuen Kämpfen verankerten kommunistischen Partei wird es ermöglichen, dass dies alles nicht wiederum ein bloßer “Ansatz” bleibt, sondern zu einer tatsächlichen Herausforderung für den globalen Kapitalismus wird.

Keine Frage: mehr denn je ist eine kämpferische, alle radikalen, anti-kapitalistischen Militanten umfassenden Internationale als Zusammenfassung und organisatorisches Zentrum der Kämpfe gegen den globalen Kapitalismus notwendig (was ohne Zweifel wie schon in der Dritten Internationale sich auch an den linken Syndikalismus wenden muss!). Auch wenn dies ein ganz wesentlicher Schritt vorwärts wäre, an dem mit den verschiedensten Kräften der Anti-Globalisierungsbewegung gearbeitet werden sollte, so ist ebenso klar, dass wir als revolutionäre Kommunisten hierin von Anfang an für eine revolutionär-kommunistische Internationale eintreten.

Denn nur ein klares Programm des weltweiten Kampfes um die Diktatur des Proletariats, seine Umsetzung in konkreter Strategie und Taktik, sowie die all dies umsetzenden internationalen kommunistischen Aktivisten sind die entscheidenden Voraussetzungen, dafür dass eine revolutionäre, weltweite Bewegung dem Imperialismus letztlich auch tatsächlich gewachsen sein kann und mit seiner Beseitigung der Kampf um das Reich der befreiten Arbeit beginnen kann.

 

Anmerkungen

(1) Zur genaueren Darstellung siehe die Rezension von Kim Moodys’ “Workers in a lean world” in Revolutionärer Marxismus 30.

(2) express 1/2000.

(3) Quelle: LabourNet.de.

(4) Riexinger/Bachmann, “Für einen Perspektivwechsel der Gewerkschaften”.

(5) Ebd.

(6) Ebd.

(7) Ebd.

(8) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 249.

(9) Ebd., S. 669.

(10) Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 180f.

(11) Texte des Sozialismus und Anarchismus (Rowohlt), Die Rätebewegung 1, S. 225.

(12) Trotzki Schriften (intarlit), Gewerkschaften und Revolution, S. 73f

(13) Ebd., S. 98.

(14) Ebd., S. 74.

(15) Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, MEW Erg.1, S. 519.

(16) Pannekoek, Organisation und Taktik der proletarischen Revolution (1920), S. 140.

(17) Rühle, Von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution (1920), S. 42.

(18) Rühle, in: “Die Aktion”, 1921, Nr. 37.

(19) Lazlo Rudas, in: Arbeiterliteratur X (1924), S.695f; zitiert nach G. Lukacs “Chvostismus und Dialektik”, Aron Verlag, Budapest 1996.

(20) Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 562.

(21) Lukacs, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 465f.

(22) Ebd., S. 473.

(23) G. Lukacs “Chvostismus und Dialektik”, Aron Verlag, Budapest 1996., S. 34.

(24) Ebd., S. 10.

(25) Lenin, Der ‚linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus, LW 31, S. 37f.

(26) Wie Trotzki mehrfach beschrieb, ist die Gewerkschaftsbürokratie und ihre ‚Sozialpartnerschaft’ eine der Hauptstützen für das imperialistische Herrschaftssystem, da zentral für die Integration der Arbeiterklasse in den Imperialismus, siehe z.B. “Revolution und Gewerkschaften” (intralit – Trotzki Schriften), S. 110.

(27) “Zurück in die Zukunft”, Nr.4/98, 5/98, 6/98.




Alles Neu in der New Econcomy?

Frederik Haber, Revolutionärer Marxismus 31, Herbst 2000

“New Economy oder alter Frühkapitalismus?” Diese Frage stellen die Gewerkschaftlichen Monatshefte im August 2000 und lassen in dieser Ausgabe alle möglichen Autoren ihre Meinung unkommentiert veröffentlichen. Ob die Alternative in der Frage besonders intelligent gestellt ist, ist nebensächlich. Deutlich macht das Vorgehen der Redaktion, wie sehr die Ideologen des Kapitals schon die Führungen der Gewerkschaften verunsichert haben, wie sehr sie sich von der Meinung von “Auguren und Analysten” (1) abhängig machen, wie wenig eigene Grundsätze noch vorhanden sind, auf deren Grundlage neue Entwicklungen debattiert werden können und die nötigen Änderungen in der taktischen Orientierung vollzogen werden können. So darf denn auch unwidersprochen ein R. Hank im ersten Beitrag des Heftes schreiben:

“Ronald Reagans gute Tat war es, den Einfluss des Staates und der organisierten Interessengruppen (vor allem der Gewerkschaften) drastisch zu beschränken”. (2)

Jede Änderung im Gefüge des Kapitals, in der Organisation der Produktion und in den Beziehungen zwischen den Kapitalisten hat in den letzten zwanzig Jahren zu Reaktionen innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung geführt. Dabei lassen sich zwei Grundmuster erkennen. Wenn gewerkschaftliche und betriebliche Funktionäre spüren, dass bestimmte Änderungen ihre Machtpositionen einschränken oder gefährden – und dafür sind Funktionäre ausgesprochen sensibel – so reagieren sie auf zwiespältige Art und Weise.

Einerseits versuchen sie, die alten Positionen zu verteidigen und die neue bedrohliche Entwicklung zu bremsen, anderseits passen sie sich dem Druck der Umstände, den Sachzwängen des Marktes und des Profitstrebens des Kapitals an und suchen nach einer neue Rolle für sich. Es ist üblich geworden, die Vertreter dieser beiden Reaktionsweisen und Ausrichtungen mit den Worten “Traditionalisten” bzw. “Modernisierer” zu belegen. Oft genug aber sind beide Tendenzen in demselben gewerkschaftlichen Organ oder Betriebsrat, oft auch in der selben Person sichtbar.

Um diesen spontanen Reaktionen eine programmatische Grundlage zu geben, oder wenigstens eine Rechtfertigung, veranstalten die Gewerkschaftsführungen gerne Zukunftsdebatten und -kongresse. Die Gewerkschaftlichen Monatshefte sind nur ein Beispiel. Die Hans-Boeckler-Stiftung mit ihrem Organ “Mitbestimmung” arbeitet seit Jahren auf heftigste daran, Das Bündnis für Arbeit, die Aushöhlung der Tarifverträge, letztlich die komplette Unterwerfung der Gewerkschaften unter die Logik des “Standortwettbewerbs” voranzutreiben. Die IG Metall lässt gerade ebenfalls eine Zukunftsdebatte anlaufen und die Fragestellungen werden schon auf neue Anpassung programmiert.

“Mit der Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft ist ein ebenso fundamentaler Wandel der Unternehmensorganisation, der Produktivitätsentwicklung, der Arbeit, der tradierten Lebensentwürfe und der dazu gehörigen gesellschaftlichen Institutionen und Regelungen verbunden. (…) Die wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren der Industriegesellschaft werden in der Dienstleistungsgesellschaft durch neue Leitbilder ersetzt – Kundenorientierung, Flexibilität, Individualität, und Geschwindigkeit.“ (3)

Was waren die “wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren”, also die Faktoren, die den wirtschaftlichen Erfolg, also den Profit eines Unternehmens bestimmt haben? Der Umsatz an Waren oder Dienstleistungen, die Rendite entweder als Umsatzrendite (also bezogen auf die Ware) oder Kapitalrendite (also bezogen auf das eingesetzte Kapital). Letztere hing entscheidend ab von der Ausbeutungsrate, also dem Verhältnis des bezahlten Lohnes zum produzierten Wert in Form von Waren. Dafür wiederum war außer der Lohnhöhe auch die Produktivität entscheidend. Was davon gilt heute nicht mehr und ist ersetzt worden?

Nichts natürlich. Man könnte sogar sagen, dass die Profitrate wichtiger geworden ist, dass der verschärfte internationale Wettbewerb die verschiedenen Kapitalbesitzer dazu zwingt, eine bestimmte Profitrate zu erreichen und nicht lediglich profitabel zu wirtschaften. Im anderen Fall wird dieses Kapital vernichtet durch Konkurs oder Schließung. Umgekehrt ist zum Beispiel “Flexibilität” und der Druck zur Flexibilität eine Tatsache für das Kapital (und nicht bloß „ideologischer Terror“ und „Manipulation“ der Lohnabhängigen). Tatsache ist diese Druck freilich nicht, weil die Flexibilität zum “Leitbild der Dienstleistungsgesellschaft” erhoben wurde, sondern weil die Unternehmer bei einem flexiblen Einsatz der Arbeitskraft diese besser ausbeuten können.

“Kundenorientierung”, als weiteres Beispiel spielt natürlich eine Rolle, wenn immer mehr Arbeiter ihre Arbeitskraft immer öfter, ja täglich oder stündlich, auf den Markt tragen müssen, um sie zu verkaufen: befristet Beschäftigte, Leiharbeiter, Scheinselbständige bis hin zu verselbständigten Klein- und Kleinstabteilungen früherer Großunternehmen. Aber wenn sich die Form des Arbeitskräftemarktes ändert, ändert nichts an der Tatsache, dass es im Kapitalismus immer diesen Markt gegeben hat und geben wird.

Für uns stellen diese neuen oder verstärkt auftretenden Erscheinungen keine “neue Ökonomie” dar, sondern sie liegen voll im Rahmen des Kapitalismus. Ob sie ausreichen, von einer neuen Periode des Kapitalismus zu reden, einer wie auch immer gearteten nachimperialistischen Periode, oder welches Bedeutung sie innerhalb des Kapitalismus haben, ob sie für Zerfall oder neue Blüte stehen, wollen wir hier allerdings nicht untersuchen.

Wir wollen hier untersuchen, wie die Veränderungen innerhalb der Produktion, Reorganisationen des Arbeitsprozesses sich auf die Arbeiterklasse auswirken, auf ihre Zusammensetzung, ihre Arbeitsbedingungen und ihre Organisationsbedingungen, also z.B. auf die Gewerkschaften. Wir wollen untersuchen wie die reformistischen Bürokratien innerhalb der Arbeiterbewegung darauf reagieren und darlegen, welche Antworten, welche Orientierung und welche Taktiken Revolutionäre vorschlagen und einschlagen.

Wir werden uns dabei im Wesentlichen auf Deutschland beschränken. Wir erheben nicht den Anspruch, alle möglichen Veränderungen zu registrieren und ihre verschiedenen Auswirkungen zu untersuchen, sondern wir werden entscheidende Bereiche untersuchen, durch die Arbeiterklasse und -bewegung in Deutschland geprägt sind: Flächentarifvertrag, Betriebsräte, gewerkschaftliche Vertretung.

Flächentarifvertrag

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Westdeutschland unter dem Begriff “Tarifautonomie” das Zustandekommen der Tarifverträge weitgehend den “Tarifpartnern”, d.h. den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften überlassen. Die Form der Lohnfindung und Konfliktlösung – einschließlich Friedenspflicht und Verhandlungsritual – fußt auch auf dem Nachkriegskonsens zwischen den Arbeiterbürokratie und Kapitalisten, dass die Produktion angekurbelt werden muss.

In den ersten Nachkriegsjahren geht sie in Westdeutland mit einer fast ungebrochen hohen Ausbeutungsrate aus der Ära des Faschismus einher – auch aufgrund wichtiger Niederlagen der Arbeiterbewegung in den Nachkriegsjahren. Erst in Mitte/Ende der 1950er Jahre wird das Lohnniveau vor dem Machtantritt Hitlers wieder erreicht.

Zugleich bringen Flächentarifverträge den Unternehmern gleiche Konkurrenzbedingungen im nationalen Rahmen. Das kam der deutschen Bourgeoisie in einer Zeit, in der es für sie darum ging, wieder eine dominante Stellung in der Weltwirtschaft zu erreichen, durchaus entgegen.

Die Durchführung der Tarifrunden sind das wesentliche Element der Gewerkschaftstätigkeit: Hier wird sie öffentlich und für die Mitglieder am deutlichsten sichtbar, hier gibt es mit den Tarifkommissionen und Urabstimmungen die weitest gehende formale innergewerkschaftliche Demokratie. Die Flächentarifverträge sind so für die Arbeiterklasse zum Mittel geworden, ihre Einheit gegen die Unternehmer zu realisieren. Das wurde besonders beim Kampf um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall deutlich, als Belegschaften, die gerade noch betriebliche Kürzungsprogramme hingenommen hatten, in der bundesweiten Verteidigung des Mantel-Tarifvertrages in Streik traten.

In den Tarifverträgen festgelegte Standards (z.B. Urlaub, Arbeitszeit) werden von der Arbeiterklasse über die Gewerkschaftsmitglieder hinaus als Mindestarbeitsbedingungen angesehen und beansprucht. So sehen auch abhängig Beschäftigte, die von keiner gewerkschaftlichen Organisation oder Aktion berührt werden, 6 Wochen Urlaub, Urlaub- und Weihnachtsgeld, eine Standardarbeitswoche von höchstens 35 bis 40 Stunden als “normal” an, auch wenn es dafür außer den Tarifverträgen keine Grundlage gibt. Sie drücken damit ein Kräfteverhältnis aus, das die Unternehmer noch nicht gekippt haben.

Die Bourgeoisie hat ihrerseits den Nachkriegskompromiss angegriffen. Mit der Änderung des AFG (Arbeitsverfassungsgesetz) §116 (heute §146 SGBIII) wurde die Streikfähigkeit vor allem der IG Metall stark eingeschränkt. Mit Austritten aus den Unternehmerverbänden oder dem Aufbau von Verbänden, die keine Tariffähigkeit haben, setzten sich die Kapitalisten ab, die das betriebliche und gesellschaftliche Kräfteverhältnis als günstig einschätzten.

Oder die Tarifverträge wurden durch Ausgliederungen und Verselbständigungen von Werksteilen auf betrieblicher Ebene unterlaufen. Ausgegliederte Unternehmensteile können sodann in eine andere Tarifzuständigkeit fallen, z.B. durch Ausgliederungen von Handelsabteilungen. Durch Fremdvergabe von Tätigkeiten, die zuvor von zum Betrieb gehörenden Beschäftigten ausgeführt wurden, können diese aus dem Rahmen des gültigen Tarifvertrags fallen. Dies kann sowohl Dienstleistungen wie Kantine, Transportwesen oder Instandhaltung betreffen, als auch bestimmte Produktionsabläufe und Teileproduktion, die als nicht mehr zum “Kerngeschäft” gehörend deklariert werden.

Die Entindustrialisierung in Ostdeutschland wurde von Kohl und Unternehmern ebenfalls genutzt, um die direkte Tarifbindung für breite Teile der Arbeiterklasse zu untergraben.

Die Gewerkschaftsführungen haben an den Tarifverträgen auch andere Interessen. Sie führen die Verhandlungen und sie sind bei Auslegungskonflikten gefragt. Sie müssen die Betriebsräte in der Anwendung der Tarifverträge schulen. Daraus könnte man schon auf ein gewisses Interesse schließen, die Tarifverträge möglichst kompliziert zu gestalten. In der Tat untermauern die große Masse der Tarifverträge (über 15.000 in der BRD!) und die mit ihnen verbunden juridischen Spitzfindigkeiten die Stellung der Arbeiterbürokratie (vor allem des Gewerkschaftsapparates), die sich als einzige im Wirrwarr rechtlicher Kniffe zurechtzufinden scheint, dieses Wissen stolz zur Schau stellt und nur dosiert weitergibt.

Gleichzeitig schützt die Kompliziertheit auch ein Stück weit vor der Unzufriedenheit der eigenen Basis. In dieser Hinsicht sind der IG Metall mit den Tarifverträgen zur “Sicherung der Lohnfortzahlung”, zur Alterteilzeit und zur “Beschäftigungsbrücke” auch echte Sahnestückchen gelungen. Noch heute haben viele Beschäftigte nicht bemerkt, dass sie beim Ausscheiden aus dem Betrieb im zweiten Halbjahr keinen vollen Urlaubsanspruch mehr haben (Lohnfortzahlung).

Die tarifvertragliche Regelung ist hier so schlecht, dass sie bei einem Ausscheiden im Monat August hinter die gesetzliche Regelung zurückfällt, welche dann in Kraft tritt. Ähnliches schaffte die Bezirksleitung Baden-Württemberg auch beim Alterteilzeit-Tarifvertrag. Er musste nachverhandelt werden.

Die Kompliziertheit dieser Regelwerke, an der auch regelmäßig Journalisten scheitern, hat aber auch den Grund, vor den Mitgliedern die Kompensationen zu verschleiern, die dort oder anderer Stelle gemacht wurden. So wurde die tarifliche Sicherung der Lohnfortzahlung völlig unnötigerweise mit Zugeständnissen an anderer Stelle fast eins zu eins bezahlt. Die Behauptung, die “Beschäftigungsbrücke” des Jahres 2000 habe ein Volumen von 0,5% ist durch nicht zu beweisen. Bis zum heutigen Tag dürfte dieser “tarifliche Erfolg” die Unternehmer keine müde Mark gekostet haben.

Natürlich sind die jeweils zuständigen Gremien auch bei tariflichen Öffnungsklauseln wie der Härtefallregelung der Metallindustrie Sachsen zu fragen. Sofern sie weiter „Verhandlungspartner“ bleiben, sind die Gewerkschaftsbürokraten tariflichen Öffnungsklauseln durchaus offen. Im Unterschied dazu fordern die Unternehmer betriebliche Öffnungsklauseln, also Abweichungen vom Tarifvertrag, die sie nur mit den Betriebsräten verhandeln müssen, nicht mit den Gewerkschaften. Die Betriebsräte können sie leichter erpressen. So manche Betriebsratsfürsten sehen darin auch wieder die Chance etwas Verhandlungsmacht gegenüber der Unternehmer zu erhalten.

Wie auch immer dieses Spiel läuft – es läuft gegen die Interessen der Beschäftigten im Betrieb wie in der gesamten Branche. Wir lehnen diese betrieblichen Öffnungsklauseln deshalb umso schärfer ab.

Genauso gibt es bei den Betriebsratsfürsten die Tendenz, lieber niedrige Tarifstandards zu haben, um dann als Betriebsrat Zusatzleistungen für die Beschäftigten herauszuholen, das heißt sich auf Kosten der Gewerkschaft und aller Beschäftigten in den anderen Betrieben zu profilieren. Früher führte dieses Manöver zu hohen übertariflichen Zulagen, die mittlerweile zumeist wieder abgebaut wurden und angerechnet werden mussten.

Heute erleben wir eine Neuauflage in der Diskussion der IG Metall: Wegen der inzwischen sehr unterschiedlichen Ertragslage der Unternehmen müsse ein Mittel gefunden werden, die “Sonderkonjunkturen” abzuschöpfen. Eine Tariferhöhnung, die sich am Durchschnitt der Branche bei Gewinn und Produktivität orientiere, könne die Beschäftigten in den führenden Unternehmen nicht befriedigen. So werden einerseits immer stärker ertragsabhängige Lohnbestandteile eingeführt, d.h. das Unternehmerrisiko stärker auf die Löhne der Beschäftigten abgewälzt, andererseits das Interesse gerade der kampfstarken Belegschaften vom Flächentarif weg zur jährlichen Bonusregelung hin gelenkt, also im Namen der Rettung des Tarifvertrags, dieser unterhöhlt.

Am Beispiel DaimlerChrysler sieht das folgendermaßen aus: Damit die A-Klasse in Deutschland (Rastatt) gebaut wurde, mussten alle Beschäftigten im PKW-Sektor Lohn- und Gehaltseinbußen hinnehmen. Auf mehrere Jahre verteilt wurden Lohnerhöhungen teilweise auf übertarifliche Leistungen angerechnet, so dass effektiv die Daimler-Beschäftigten seit Jahren noch weniger Lohnsteigerung erhielten als die restlichen Metaller. Schon kurze Zeit später begannen die Betriebsratschefs ihr angeschlagenes Image durch die Forderung nach einer Sonderzahlung zu verbessern, begründet mit den Gewinnsteigerungen des Unternehmens.

Ähnliches spielt sich im öffentlichen Dienst ab, wenn angesichts der (kampflos hingenommen) Privatisierung, bei den Verkehrsbetrieben ein neuer Tarif für neu Eingestellte eingeführt wird, um gegen die Konkurrenz der privaten Buslinien anzutreten. Auch dies geschieht im Namen der Sicherung der Tarifzuständigkeit. Ähnliches droht gerade bei der Entsorgung. Auch die IG BCE erlaubt den Großunternehmen der Chemie-Industrie statt der Ausgliederung von Werksteilen, diese in andere, schlechtere tarifliche Regelungen zu überführen.

Andere Wege als die passive Hinnahme dieser Entwicklung gibt es durchaus. Wenn das Unternehmen nicht dem Arbeitgeberverband beitritt, kann ein Haustarif erstreikt werden, denn dann herrscht auch keine Friedenspflicht mehr. So ein Haustarifvertrag kann als Inhalt die einfache Anerkennung aller gültigen Tarifverträge der Branche haben. Dies gelang zum Beispiel bei CTS, einem Gemeinschaftsunternehmen von DaimlerChrysler und Porsche (Cabriodächer), das als Neugründung nicht dem Unternehmerverband beigetreten ist.

Bei Werner + Pfleiderer Dinkelsbühl konnte in diesem Jahr mit einem Streik die Absicht des Besitzers durchkreuzt werden, durch Erpressung bzw. Neugründung des Unternehmens die Tarifbindung zu zerstören. Hier wurde endlich einmal wieder beispielhaft gezeigt, dass die Verteidigung des Flächentarifs nicht nur die Sache derer ist, die direkt betroffen sind, sondern aller Beschäftigten der Branche: sie alle müssen ein Interesse an der Verteidigung des Lohnniveaus haben, sonst werden sie auch gedrückt. So wurden die Kollegen bei Werner + Pfleiderer in Dinkelsbühl durch tägliche Solidaritätsbesuche aus dem gesamten süddeutschen Raum gestärkt.

Als Revolutionäre unterstützen wir die Verteidigung der Löhne und Gehälter natürlich. Wir propagieren als Methode alle direkten Aktionen der Belegschaften bis zum Streiks und Besetzungen und wir betonen die notwendige Ausweitung der Kampffront auf die Gesamtbelegschaft eines Konzerns, die Einbeziehung aller Beschäftigten, die unter diesen Tarifvertrag fallen, oder der gesamten Klasse.

Aber das Problem ist nicht nur, dass die Bürokraten unfähig wären zu kämpfen, obwohl auch das heute oft der Fall ist. Das Problem liegt in ihrer Politik der Unterwerfung unter die Profitinteressen des Unternehmers und generell unter die Logik der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens oder der ganzen Branche.

“Aus der gemeinsamen Verantwortung für die Arbeitnehmer und die Betriebe der deutschen chemischen Industrie bekräftigen die Tarifvertragsparteien der chemischen Industrie ihren Willen, die Wettbewerbsfähigkeit und Investitionsbereitschaft der deutschen chemischen Industrie als Grundvoraussetzung für die Sicherung der Beschäftigung zu stärken” heißt es im Vorspann zum Tarifergebnis der chemischen Industrie 2000.

In dieser Logik ist der Kampf gegen die Arbeiter der ausländischen chemischen Industrie enthalten. Dieses Gift verbreiten die reformistischen Gewerkschaftsführer heute. Wir müssen also außer Kampfmethoden auch das politische Ziel aufzeigen, dass die Löhne und Gehälter nur mit den Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern verteidigt werden können, nicht im Lohndumping gegen sie.

Es ist die politische Rolle des Reformismus stets treu an der Seite ihrer Bourgeoisie zu stehen. Die verschärfte internationale Konkurrenz der verschiedenen Kapitalien untereinander hat den Spielraum für die reformistischen Bürokraten in der Arbeiterbewegung verringert. Es gibt weniger finanzielle Zugeständnisse und es gibt weniger Platz für schöne Worte über internationale Solidarität.

Dabei ist es eine Überlebensfrage für die Gewerkschaftsbewegung aller Länder, ob sie auf die Entwicklung, die unter dem Begriff “Globalisierung” zusammengefasst wird, international reagieren kann. Ob sie die Idee der Gewerkschaft, durch kollektives Handeln gemeinsame Standards zu sichern, realisieren kann, oder ob sie durch wie auch immer geartete Deals mit einzelnen oder Gruppen von Kapitalisten, Einzelinteressen fördert, die dem Interesse der gesamten Klasse zuwiderlaufen.

Wenn man die Aufgabe einer Gewerkschaft nur als die kollektive Sicherung von Löhnen und Arbeitsbedingungen definiert, so ist das keineswegs die Definition einer Gewerkschaft als Instrument des revolutionären Kampfes. Eine solche hätte das Ziel, für die Abschaffung des Lohnsystems und damit des Kapitalismus insgesamt zu kämpfen. Dennoch müssen Revolutionäre heute jede Forderung und jede Aktion unterstützen, die die internationale Ausweitung der Errungenschaften dem nationalen Verzicht entgegensetzt.

Es ist also eine spannende Frage für Revolutionäre, ob die multinationalen Konzerne, die sich in den letzten Jahren durch Übernahmen und Zusammenschlüsse gebildet haben, und die ständig stärker werden und mehr Länder erfassen, nicht auch eine Chance für eine wirkliche Internationalisierung der Kämpfe bilden, ob die neuen internationalen Institutionen, wie die EU mit Binnenmarkt und gemeinsamer Währung, nicht helfen können, die Arbeiterklassen der verschiedenen Länder näher zu bringen. Wenn die Angriffe immer deutlicher von den gleichen Zentralen ausgehen, kann das auch den Widerstand stärker zusammenfassen.

Damit soll die Kehrseite der Medaille nicht heruntergespielt werden. Die Perspektivlosigkeit, die der Reformismus in der Arbeiterbewegung angesichts des verschärften internationalen Konkurrenzkampfes verbreitet, stärkt auch den Nationalismus und die Betriebsborniertheit.

Bezüglich der Lohn und Gehaltstarife gibt es im Europäischen Metallarbeiterverband die Verabredung, jede Gewerkschaft solle mindestens die Größe der Produktivitätsrate als Maß für die Lohnerhöhung erkämpfen, um Lohndumping zu vermeiden. Ein Beschluss, den die größte Metallgewerkschaft Europas, die IG Metall, im Frühjahr 2000 sofort gebrochen hat.

Aber der Weg ist korrekt: Wir fordern Mindeststandards für Löhne und Arbeitszeiten z.B. auf europäischer Ebene oder innerhalb eines Konzerns. Wir treten dafür ein, diese Forderungen als Ziele der Gewerkschaften zu beschließen und nicht als Versprechungen der höchsten Bürokraten diesen zu überlassen. Wenn wir also von Verteidigung der Flächentarifverträge reden, dann sagen wir zugleich, dass das nur mit ihrer Ausweitung international möglich ist.

Heute sind die Flächentarifverträge auch durch die Einführung eines Niedriglohnsektors, die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes in Richtung Öffnungsklauseln und Lohnleitlinien im Bündnis für Arbeit bedroht – alles Initiativen der Sozialdemokratie.

Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertretung im Betrieb

Die heutigen Betriebsräte (Personalräte im Öffentlichen Dienst) haben im internationalen Vergleich sicher die weitest gehenden Rechte (zusammen mit Österreich und den skandinavischen Ländern).

Zugleich sind sie an Kapital und Staat gebunden. Jeder Linke in Deutschland kann den §2 Betriebsverfassungsgesetz zitieren, nachdem Unternehmer („Arbeitgeber“) und Betriebsrat unter Beachtung der geltenden Tarifverträge vertrauensvoll und im Zusammenwirken mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zum Wohl der “Arbeitnehmer” und des Betriebs zusammen arbeiten. Viel seltener wird die Tatsache problematisiert, dass der Betriebsrat folgende allgemeine Aufgaben (hat):

„darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen … durchgeführt werden.“ (BetrVG&80,1).

Der Betriebsrat ist also auch ein Organ der staatlichen Exekutive.

Nach dem Krieg waren die Betriebsräte als Organe der Arbeiter wieder erstanden, die bei Abwesenheit der Kapitalisten direkt den Wiederaufbau und die Führung der Betriebe übernahmen. Die schnelle Begnadigung der als Kriegsverbrecher verurteilten Kapitalisten, die Politik der ersten CDU-Regierung und der Verzicht der DGB-Führung auf einen Generalstreik führten zur Niederlage der Betriebsrätebewegung in den Westzonen und zum Kompromiss der Montanmitbestimmung. Diese sicherte den DGB-Funktionären Aufsichtsratsposten und beseitigte die Ansätze von Arbeiterkontrolle über die Betriebe bzw. kanalisierte sie in eine “höhere” Form von Sozialpartnerschaft, die anschließend im BetrVG von 1952 keine Ausdehnung auf die Gesamtwirtschaft erfuhr. Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 fiel noch weit hinter die Montanmitbestimmung zurück; es war nur eine Karikatur auf dessen Karikatur von Arbeiterkontrolle. Der sozialdemokratische Mohr hatte wie 1919 seine Schuldigkeit getan: Die Arbeitermobilisierung war gebrochen und ihre Organe integriert.

In der DDR wurden die Betriebsräte durch Betriebsgewerkschaftsleitungen ersetzt und auf diesem kalten Wege abgeschafft. Die Räte des 16. und 17. Juni wurden mit Panzern liquidiert, und als in der antibürokratischen Revolution 1989/90 in der DDR vereinzelt Betriebsräte entstanden, die sich stärker an Arbeiterräten orientierten, wurden diese mit der Vereinigung und der Ausdehnung des BetrVG auf Ostdeutschland “normalisiert”, bzw. mit der Liquidierung der Betriebe durch die Treuhand abgewickelt.

Die Betriebsräte sind also deformierte Organe der Arbeiterbewegung, die in die Betriebshierarchie und den bürgerlichen Staat integriert sind. Aber solange sie nicht durch neue Organe, wir wären natürlich für revolutionäre Arbeiterräte, abgelöst sind, muss die deutsche Arbeiterbewegung auch mit und durch diese Betriebsräte kämpfen mit ihrer ganzen Widersprüchlichkeit.

Heute sind die Betriebs- und Personalräte oft auch Angriffsziele des Kapitals, dem sie zu teuer geworden sind und dem die damit verbundenen Rechte ein Hindernis bei der Etablierung der uneingeschränkten Herrschaft im Betrieb sind. Zugleich werden die Betriebsräte für die Arbeiterklasse ein zunehmend untaugliches Instrument, selbst um ihre unmittelbaren Interessen gegen die Unternehmer zu verteidigen.

Der Angriff auf Betriebsratsstrukturen von Seiten des Kapitals erfolgt dabei keineswegs ausschließlich in “frontaler” Weise. Für Kleinbetriebe, das Handwerk, Leiharbeitsfirmen, die “neuen” Dienstleistungssparten usw. ist die Taktik allerdings typisch, selbst die ungenügende Form der Betriebs- oder Personalrates als Interessenvertretung gar nicht erst zuzulassen.

Im kapitalistischen Großbetrieb und im öffentlichen Dienst knüpfen das Kapital oder der Staat eher daran an, den Betriebsrat oder Personalrat noch mehr zu einem Vermittlungsinstrument des Managements in die Belegschaft und zu einem alternativen “Partner” statt der Gewerkschaft zu machen. Das wird in der Form des Co-Managements auf den Punkt gebracht, in der so genannten Verbetrieblichung der Tarifpolitik und den Versuchen, das gesetzliche Mitbestimmungsrecht weiter auszuhöhlen, ohne jedoch die in die Betriebsverwaltung eingebundene Vertretung der Beschäftigen gänzlich abzuschaffen.

Das Problem ist keineswegs neu, sondern immer schon im widersprüchlichen Charakter der Struktur Betriebsrat und im Dualismus Gewerkschaft – Betriebsrat (Personalrat) angelegt. Einerseits ist letzterer eine Vertretung der Belegschaft im Unternehmen, andererseits institutionell in das betriebliche “Gesamtwohl”, d.h. die Interessen des Kapitaleigners eingebunden. Daher rührt die klassenkollaborationistische Haltung vieler Betriebsräte nicht nur aus ihrer zumeist reformistischen Überzeugung, sondern hat auch eine materielle Basis in der Struktur Betriebsrat, der immer schon eine in das Kapitalinteresse eingebundene “Arbeitervertretung” darstellt, was nicht zuletzt auch gesetzlich kodifiziert ist (Bindung an betriebliches Interesse, Schweigepflicht).

Die Betriebsräte sind seit langem strukturbildend für die Gewerkschaften. Die eigentlichen gewerkschaftlichen Organe im Betrieb, Vertrauenskörper oder Mitgliederversammlung, werden fast immer vom Betriebsrat dominiert oder diesem untergeordnet. Tauchen neue Kräfte im Betrieb als Opposition zur Betriebsratsführung auf, so kann das dazu führen, dass ein Vertrauenskörper sich eine gewisse Zeit im Konflikt mit dieser befindet, aber mit dem Ziel die Führung abzulösen, was die Eigenständigkeit des Vertrauenskörpers dann sehr schnell beendet. Auch die Belegschaftsmitglieder werden immer versuchen, ihre Kritik an der Betriebsratsführung durch Wahl von neuen Leuten auszudrücken.

Für Kleinbetriebe ist allerdings der Aufbau eines BR meist der einzige Weg, eine gewerkschaftliche Arbeit im Betrieb überhaupt zu ermöglichen und gegen die Unternehmerwillkür zu schützen.

Daraus folgt zweierlei: Erstens ist gewerkschaftliche Arbeit im Betrieb in Deutschland praktisch unmöglich ohne Betriebsratsarbeit und diejenigen, die sie wegen der Neigung zur Klassenkollaboration der Betriebsräte ablehnen, verdammen sich selbst zur Isolation in der Arbeiterklasse. Zweitens wird die Krise der BR zur Krise der Gewerkschaften, die sich auf die BR gestützt haben.

Ein wesentlicher Faktor der Aushöhlung der BR in den letzten Jahren waren die schon oben erwähnten Ausgliederungen von Betriebsteilen und die Aufteilung in Einzelbetriebe. Durch diese Maßnahmen wird die Zuständigkeit von BR aufgehoben, neue BR müssen gebildet werden, erreichte Betriebsvereinbarungen werden hinfällig.

Dagegen fordern die DGB-Gewerkschaften anlässlich der Reform des BetrVG eine Neudefinition des Betriebsbegriffs. Die PDS fordert eine neue Behörde, die ein Betriebsregister führt. Eine andere Möglichkeit, die heute schon im Einzelhandel praktiziert wird, ist die Definition von BR-Wirkungsbereichen durch einen Tarifvertrag. Hier wird also die Gewerkschaft (die Mitglieder und /oder die Hauptamtlichen) tätig, um die Grundlage für BR-Gründungen durchzusetzen. Diese Variante ist aus unserer Sicht auf jeden Fall dem PDS-Vorschlag vorzuziehen, wo der Unternehmer und Behörde weitgehend ohne die Gewerkschaft den Wirkungsbereich eines BR definieren.

In diesem Zusammenhang kritisieren wir auch die Forderung des DGB nach einem vereinfachten Wahlverfahren zum BR. Die heutige Kompliziertheit macht es zwar für Beschäftigte praktisch unmöglich, auf eigene Faust einen BR neu zu installieren, sie sind also auf die Hilfe der Gewerkschaft angewiesen, aber eine vereinfachte Wahl macht es auch für Betriebsleitungen und ihre Marionetten sehr viel einfacher in solchen Betrieben Schein-BR aufzuziehen. Wir fordern hier vielmehr, die Rechte eines BR, einschließlich des Kündigungsschutzes, dort wo keiner existiert, den Betriebsgruppen bzw. gewerkschaftlichen Vertrauensleuten zu übertragen.

Unsere Methode ist also auch in dieser Frage, angesichts der Krise der BR nicht auf eine weitere Anpassung der BR an die Unternehmerinteressen zu setzen, sondern auf eine Stärkung der Gewerkschaft.

Der Einsatz von Subunternehmern und Fremdfirmen auf dem Betriebsgelände und von Leiharbeitern führt dazu, dass immer mehr Beschäftigte innerhalb eines Betriebs aus dem Zuständigkeitsbereich der BR und damit auch der parallel aufgebauten Gewerkschaftsstrukturen fallen. Hier fordern die DGB-Gewerkschaften die Ausdehnung der Zuständigkeit des BR. Was sie nicht berücksichtigen, ist die Frage, ob diese Menschen auch den BR wählen dürfen oder kandidieren. Die Bürokraten sehen in den Wahlen nur ein Ritual, nicht ein Mittel der Arbeiter, ihren Willen auszudrücken.

Eine logische Folge wäre auch die Forderungen die Wahlperiode eines BR, die Kohl von 3 auf 4 Jahre angehoben hat, wieder zu verkürzen. Schon um die Leiharbeiter, die befristet Beschäftigten, die in den Betrieben immer mehr werden, aber auch Frauen, die eine deutlich kürzere Verweildauer im Betrieb haben, wirklich innerhalb der BR zu vertreten, müsste die Wahlperiode radikal verkürzt werden. Die DGB-Bürokraten haben noch nicht einmal die Rücknahme der Kohlschen Verlängerung erwogen.

Die Rücknahme der Kohlschen Reform kann hier aber nur ein erster Schritt sein. Was wirklich Not tut, ist die Forderung nach Wahl, Rechenschaftspflicht und jederzeitiger Abwählbarkeit des Betriebrates durch die Belegschaft! Damit wird nicht nur der Vertretung möglichst aller Beschäftigten am leichtesten Rechnung getragen – vor allem können die Arbeiter und Arbeiterinnen damit am direktesten ihren Willen nach einer anderen betrieblichen Vertretung zum Ausdruck bringen, veränderte politische Stimmungen, die Erfahrung mit der Rolle bestimmter Betriebsräte im Kampf (oder beim Abwiegeln) kann so am leichtesten und schnellsten von der Belegschaft zum Ausdruck gebracht werden.

Auf der Ebene der gewerkschaftlichen Organisierung im Betrieb treten wir dafür ein, dass sich alle Gewerkschaftsmitglieder, auch die anderer DGB-Gewerkschaften, die im Betrieb tätig sind, im Vertrauenskörper oder in der Betriebsgruppe organisieren können. Wir schlagen vor, bei der Zerschlagung von Betrieben, die Vertrauenskörper als Einheit zu erhalten. Wir stellen die Einheit der Belegschaften höher als die technische Zuordnung von Vertrauenskörpern zu Betriebsratsbereichen, die nur politische Unterordnung fördert.

Die Belegschaft von Opel in Bochum hat sich Juni 2000 mit einem Streik ihre Einheit gesichert. General Motors und Fiat sind eine Strategische Allianz eingegangen, die wohl mit der Übernahme Fiats enden wird. Auf der Basis dieser gegenseitigen Kapitalverflechtung soll es zu Kosteneinsparungen von mindestens einer Milliarde Dollar jährlich durch gemeinsamen Teileeinkauf sowie gemeinsamen Getriebe- und Motorenbau kommen. Diese Bereiche sollen ausgegliedert werden und in eine gemeinsame Holding von GM und Fiat überführt werden. Das hätte einige tausend Leute bei Opel Bochum getroffen.

Dagegen sind alle 13500 Beschäftigten aller drei Bochumer Werke zwei Tage lang in den Streik getreten. Neben anderen Zugeständnissen, die der Konzern machen musste, hat er seine Holdingsstruktur geändert: sie gehört jetzt zu 20% Opel (100% Tochter von GM), 30% GM und weiter 50% zu Fiat. Damit wurden die formalen Bedingungen erhalten, dass Opel Bochum eine Belegschaft bleibt, für die selben Betriebsvereinbarungen gelten, ein BR und ein Vertrauenskörper zuständig ist. Ein Erfolg, der auch den von den Ausgliederungen betroffenen an anderen Standorten zugute kommt.

Neue Technologien und neue Sektoren der Arbeiterschaft

In den neu entstandenen Bereichen der Wirtschaft waren Gewerkschaften und Betriebsräte erst mal außen vor. Diese Firmen entstanden aus Kleinfirmen, wurden aus Konzernen ausgegliedert oder orientierten sich als Niederlassungen amerikanischer oder japanischer Konzerne an deren Standards. So oder so standen sie sehr schnell unter internationaler Konkurrenz.

Stolz verkünden die Herolde der “new economy”, in diesen Betrieben wären Gewerkschaften und Betriebsräte schon aus kulturellen Gründen fehl am Platz. Die Bürokraten mit ihrer Fixierung auf die bürgerlichen Medien im Verbund mit ihrem Unverständnis der neuen Technologien, sind verunsichert. Wie gehen sie an die Sache heran? Die Verkünder der schönen neuen Arbeitswelt stellen mit Triumphgeheul fest, dass ein Software-Ingenieur mit 9000 brutto nicht in der Gewerkschaft ist. Also stellen sich die tapferen Bürokraten die Frage, wie die Gewerkschaft aussehen müsste, die einen Software-Ingenieur mit 9000 brutto interessiert. Diese Frage ist doppelt falsch.

Erstens sind in den neu entstandenen Firmen und Sektoren die Spitzenverdiener auch nicht die Regel. Ihnen stehen unterbezahlte und rechtlose Beschäftigte in Call-Centern, Handy-Shops und Kleinfirmen gegenüber. Aber die reformistische Gewerkschaftsbürokratie hat sich 100 Jahre lang auf die Beschäftigten in Großbetrieben und auf die Facharbeiter gestützt, also die Schichten der Arbeiterklasse, die sich in einer guten Verhandlungsposition gegenüber dem Kapital sehen, so sieht sie in den Computerspezialisten heute die neue Arbeiteraristokratie.

Zweitens, wenn diese die Gewerkschaft brauchen, dann brauchen sie sie als Gewerkschaft oder gar nicht. Den Krisen des Kapitals und dem Konkurrenzkampf fallen auch die oberen Schichten der Arbeiterklasse zum Opfer. In diesen Fällen haben sich auch EDV-Spezialisten als organisierbar erwiesen und als kampffähig.

Der Weg, Gewerkschaften in den neuen Sektoren aufzubauen, geht also wie vor hundert Jahren in den Branchen, die heute als traditionell gelten. Aktivisten suchen und ausbilden, Konflikte aufgreifen, kollektive Handlungsperspektiven entwickeln und so die Interessen der Beschäftigten verteidigen. Als Revolutionäre unterscheiden wir uns von Linksreformisten und Zentristen, dass wir immer auch aufzeigen, dass nur ein Sturz des Lohnsystems die Ausbeutung abschafft. Politisch bedeutet das immer auch, Forderungen zu erheben, die die Selbsttätigkeit der Klasse voranbringen, ihr Bewusstsein und ihre Organisierung stärken. Die Forderung nach Kontrolle der Beschäftigten über ihrer eigenen Organisationen und Kämpfe wie nach Arbeiterkontrolle im Unternehmen nehmen dabei eine Schlüsselstellung ein, weil sie dazu beitragen, die aktuellen Kämpfe mit dem Sturz des Kapitalismus zu verbinden.

Bei Debis, der Finanz- und IT-Tochter des DaimlerChrysler Konzerns, wurde vor zwei Jahren ein Haustarifvertrag abgeschlossen. In diesem Konglomerat aus ausgegliederten Daimler-Töchtern, aufgekauften Firmen und neu geschaffenen Betriebsteilen herrschten tatsächlich höchst unterschiedliche Arbeitszeiten und Gehaltsstrukturen. 35 Stunden galten nur in ehemaligen Daimler-Gliederungen. Aber es gab keine Kämpfe von Seiten der Beschäftigten. Von Seiten der IGM Stuttgart oder des Betriebsrates wurde auch nicht mobilisiert.

Aber es wurde in langen Vertragsverhandlungen ein Haustarif gebastelt, der die 35 Stunden Woche für die über 50 Jährigen vorsieht. Was für manche Debisbeschäftigte ein kleiner Gewinn sein mag, ist für alle Beschäftigten der Branche, die für die Anerkennung des IGM-Flächentarifvertrages kämpfen, ein massives Hindernis. Die Freude “Wir sind schon drin” der Bürokraten wird von allen denen bezahlt, deren Tarife jetzt an diesem Beispiel nach unten angeglichen werden.

Auf der anderen Seite zeigen Beispiele aus den USA (4), dass auch die neuen Schichten organisierbar sind, auch wenn die Leute nicht alle in der gleichen Werkshalle zum gleichen Tarif zur gleichen Zeit arbeiten. Parkplatzwächter und Hausmeister, dann die UPS-Beschäftigten haben angefangen, die Arbeiter bei Verizon, einem typischen Betrieb des neuen Marktes, haben zuletzt gezeigt, dass die klassischen Mittel der Streiks die entscheidende Waffe bleiben im Kampf um die klassischen Themen, Arbeitszeit, Lohn und Arbeitsbedingungen.

Neue technische Mittel sind dazugekommen: die schnellen Technologien ermöglichen eine bessere Koordination bei spontanen Aktionen. So konnte der Streik bei Opel Bochum nicht wie so oft schon mit der Behauptung gebrochen werden, die jeweils anderen zwei Werke würden arbeiten; die Kollegen klären das mit Handy. Die Informationen über Arbeitskämpfe werden mit Internet und E-Mail verbreitet, und das Lahmlegen der Netze trifft die Unternehmer an einem empfindlichen Punkt. Hier sind sie verwundbarer geworden, genauso wie in der immer ausgeklügelten Logistik der weltweiten Produktionsverbünde. Aber um sie zu verwunden, ist noch immer die kollektive Aktion der Ausgebeuteten nötig.

 

Fußnoten

(1) Gewerkschaftliche Monatshefte (GMH) 8-9/2000, Zum Heft

(2) GMH 8-9/2000, Seite 454, Rainer Hank, Amerika ist das Modell

(3) DGB-.Bundesvorstand, Zukunft der Arbeit – Zukunft der Gesellschaft; Strategien zur Modernisierung der Arbeitsgesellschaft, Berlin, Januar 2000

(4) “Amerika ist der Ofen, in dem die Zukunft geschmiedet wird” Mit diesem Trotzki-Zitat leitet oben erwähnter Rainer Hank sein dümmliches Jubelstück auf die “new economy” ein, die in seinen Augen schon deshalb gut ist, weil sie aus Amerika kommt. “Denn New Economy meint vieles: Amerika ist der Ursprung jener neuen industriellen Revolution, in dessen Zentrum das Internet steht. Und : Es könnte sein, daß die Netzökonomie einige Selbstverständlichkeiten der klassischen Ökonomie außer Kraft setzt… Das wäre wunderbar….”

Fern davon, alles was aus Amerika kommt zu verteufeln, fällt uns folgendes Trotzki-Zitat ein: ”In den Vereinigten Staaten, wo ein Mensch, der eine Million besitzt, betrachtet wird wie der Wert einer Million, sind die ökonomischen Vorstellungen tiefer gesunken als irgendwo anders….Im Lande des mächtigsten ökonomischen Systems blieb die wissenschaftliche Ökonomie extrem arm…” (Marxismus in unserer Zeit, das erste Zitat ist aus “Mein Leben“)




Gewerkschaftslinke wohin?

Manne Wiener, Revolutionärer Marxismus 31, Herbst 2000

In den letzten Jahren hat sich in der BRD eine heterogene, zahlenmäßig durchaus beachtliche Gewerkschaftslinke herausgebildet. Die darin vereinten Strömungen gehen bis in die 1970er Jahre zurück und haben ihre Wurzeln in der Umgruppierung und Neuformierung der Linken in den späten 1960er und 1970er Jahren.

Allerdings handelt es sich dabei nicht nur um “Überlebende”, politische Fossile, Zombies der 68er-Bewegung, deren Marsch durch die Institutionen nicht in der Rot-Grünen-Koalition, sondern in Gewerkschaftsbüros oder im Betriebsrat endete. Wie die letzten Jahre zeigten, wurde diese Opposition gegen die beiden vorherrschenden politischen Strömungen des Apparates auch immer wieder in entscheidenden Situationen des Klassenkampfes sichtbar.

Kristallisationspunkte einer Opposition

1. Der Kampf gegen die Streichung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1996

Hier spielten die Beschäftigten der großen Automobilkonzerne eine Schlüsselrolle, indem sie gegenüber den ursprünglichen, zaghaften und halbherzigen Ansätzen der IG Metall Spitze vorpreschten und die Arbeit niederlegten. Neben der Wut und Entschlossenheit der Arbeiterschaft in diesen Betrieben war die Stärke gewerkschaftsoppositioneller Betriebsratsgruppierungen wie bei Daimler Mettingen oder im Bremer Mercedes Werk wichtig, um diese Kampfbereitschaft zur Aktion zu bündeln und zu führen.

Wie sich auch in den Streiks bei Opel aufgrund der unsicheren Auswirkungen der Fiat-Übernahme durch GM zeigte, spielen Oppositionsgruppen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung (in diesem Fall die Gruppe Oppositioneller Gewerkschafter).

2. Der Protest gegen die Änderung des DGB-Grundsatzprogramms

1997 hatte die Programmkommission vorgeschlagen, die “soziale Marktwirtschaft” als jene Gesellschaftsform festzuschreiben, innerhalb derer die Gewerkschaften ihre Ziele am besten verfolgen könnten. So viel Apologetik war dann auch den linken Apparatleuten zu viel, so dass diese Passus aus dem Programmentwurf gestrichen werden musste.

Auch wenn es sich dabei um einen eher symbolischen Streit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung handelte, so war es ein wichtiger Markierungspunkt, der Rechtsentwicklung der schweren Bataillone der Gewerkschaftsbürokratie in allen großen Einzelgewerkschaften einen gewissen Einhalt zu gebieten.

3. Die gebrochenen Versprechen der SPD an der Regierung und die Nibelungentreue der Gewerkschaftsbürokratie

Nach dem Regierungswechsel, in den viele Gewerkschaftsmitglieder die Hoffnung gelegt hatten, zumindest eine Atempause nach den Angriffen der Kohl-Regierung zu erhalten, fuhren SPD/Grüne mit einem Programm fort, dass sich wenig von jenem der konservativ-liberalen Koalition unterschied. Hinzu kam, dass die keynesianischen Elemente um Lafontaine und das Finanzministerium rasch aus der Regierung gesäubert wurden, wodurch auch die Gewerkschaftsbürokratie ihren wichtigsten Verbündeten im Kabinett verlor.

Das führte zwar zu einigen Murren und Drohgebärden von Seiten der “Traditionalisten” in den Gewerkschaftsapparaten, allen voran der IG Metall. In der Praxis wurde “unserer” Regierung jedoch die Mauer gemacht und alle entscheidenden Fragen wurden in das “Bündnis für Arbeit, Wettbewerbsfähigkeit und Ausbildung” verlagert. Darin bestand und besteht auch der zentrale Unterschied zwischen der Regierung Kohl und der Regierung Schröder. Die Gewerkschaftsbürokratie wird wieder angehört und verstärkt eingebunden. Dafür ist sie auch bereit, der Regierung und den Kapitalisten Zugeständnisse zu machen, die unter Kohl schwer vorstellbar gewesen wären.

Der Protest gegen das Bündnis für Arbeit und die Forderung nach dem Austritt der Gewerkschaften wurde zurecht zum zentralen Bezugspunkt hunderter Appelle und Beschlüsse von Oppositionellen. Die “Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken” (IVG) wurde auf Grundlage der Ablehnung des Bündnisses oder zumindest der Politik der Gewerkschaftsspitzen im Rahmen des Bündnisses ins Leben gerufen.

4. Der Kriegseinsatz gegen Jugoslawien

Wie so oft in der Geschichte des Imperialismus war der Krieg die Nagelprobe für die nationale Standfestigkeit der Arbeiterbürokratie. Und sie stand zu Deutschland. Der DGB-Vorsitzende Schulte erklärte seine Solidarität mit der Regierung und dem Angriff der NATO. Auch wenn etliche Spitzenbürokraten die Haltung Schultes nicht teilten, so hüllten sie sich in ganz und gar nicht nobles Schweigen. Alle SPD-Gewerkschafter und Betriebsräte im Parlament stimmten für den Krieg. In den Betrieben kam es gleichzeitig zu heftigen Konflikten zwischen serbischen und albanischen oder kroatischen Arbeitern und Arbeiterinnen, was von der Bürokratie als zusätzliches “Argument” genommen wurde, nichts gegen den Krieg zu unternehmen.

Der Krieg war auch eine wichtige Bewährungsprobe für die Gewerkschaftslinke, die zwar tausende Unterschriften gegen den Kriegseinsatz sammeln konnte, aber unfähig war, ein internationalistisches Programm zur Lösung des Konflikts zu entwickeln. Vielmehr herrschten Pazifismus und linker Sozialchauvinismus vor, was sich vor allem im Ruf nach Einschreiten der UNO an Stelle der NATO zeigte.

5. Die Tarifrunde 2000 und die Rentenreform

Die Tarifrunde 2000 war von der Unterordnung der Gewerkschaftsbürokraten unter die Vorgaben des Bündnis für Arbeit geprägt. Das übliche Tarifrundenritual wurde auf Sparflamme durchgezogen, um in allen großen Industrien und im öffentlichen Dienst zu mindestens zweijährigen Laufzeiten zu kommen, knapp an der oder unter der zu erwartenden Inflationsrate abzuschließen und auch sonst einige Zugeständnisse an die Kapitalen zu überreichen.

Dabei war, wie sich sowohl in der Metaller-Tarifrunde, in den Aktionen der hbv (Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen), vor allem aber in der Streikbereitschaft der ötv-Mitglieder (ötv = Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr) zeigte, der Wille zu einem entschiedenen Tarifkampf an der Basis vorhanden. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wussten sehr wohl, dass die Unternehmer nach der CDU-Krise politisch geschwächt waren. Sie waren außerdem von den vollmundigen Reden mancher Gewerkschaftsführer, dass das “Ende der Bescheidenheit” (Zwickel) nun gekommen sei, ermutigt.

Gekommen zu sein scheint die Bescheidenheit ohne Ende, wie sich im “Kampf gegen die Rentenreform” zeigte. Die Bürokratie aller großen Gewerkschaften trat zwar gegen die Riester-Reform auf und konnte einige Korrekturen anbringen. Insgesamt blieb es jedoch bei einer Absenkung des Rentenniveaus und beim Einstieg in die Privatisierung der Rentenversicherung – mit Zustimmung der Gewerkschaftsbürokratie.

In beiden Fällen gibt es wiederum wichtige Ansätze oppositionellen Vorgehens und der Mobilisierung. Dass die Bürokratie im Dezember 2000 überhaupt zu betrieblichen Aktionen und Demonstrationen aufrief, war weniger den Zumutungen der Regierung als dem Druck der Basis geschuldet. Hier zeigten sich sowohl das Potential einer Bewegung gegen die Bürokratie wie auch umgekehrt das Fehlen einer bundesweiten, vereinten Koordination und Kampagne der „Gewerkschaftlinken“.

6. Die Organisationsreform in den Gewerkschaften

Nachdem von Kapital und Kabinett jede Schweinerei als “Modernisierung” bezeichnet wird, gebraucht auch die Gewerkschaftsbürokratie diesen Etikettenschwindel. Unter diesem und ähnlichen Schlagwörtern sollen die Gewerkschaften in der BRD noch mehr zu “Serviceunternehmen” für die Mitglieder werden.

Die Gewerkschaftsbürokratie hat sich damit abgefunden, dass ihre relativ starke Stellung als Vermittler zwischen Kapital und Arbeit, wie sie in der Phase des langen Booms etabliert wurde, so nicht mehr zu halten ist. Daher wird jede kämpferische reformistische oder syndikalistische Regung, jeder Bezug darauf, wenigstens als “konsequenter” Gewerkschafter Gegenmacht gegen das Kapital im Rahmen des Kapitalismus zu sein, politisch attackiert und als “altes Denken” und “unzeitgemäß” madig gemacht.

Die Gewerkschaftsbürokratie bedient sich dabei verschiedener organisatorischer Modelle – der Fusion zu “Megagewerkschaften” a la ver.di oder der „Übernahme“ kleiner Verbände (wie der GHK durch die IG Metall). Gleichzeitig wird unter den Schlagworten “Betriebsnähe” zunehmend der Öffnung von Tarifverträgen zugestimmt. “Medienpolitik” (d.h. die Bekanntmachung von Positionen durch Gewerkschaftsvorsitzende ohne vorherige Diskussion und Beschlussfassung) wird dabei mit Formen plebiszitärer Demokratie kombiniert.

Weder die Gewerkschaftsaktivisten und -aktivistinnen werden gestärkt, noch werden mehr Mitglieder aktiviert. Die Bürokratie versucht vielmehr über Umfragen unter Nicht-Gewerkschaftern und passiven Mitgliedern, den “Willen” der Belegschaften zu ergründen, um so ihre Absichten und ihren Kurs gegenüber oppositionellen und kämpferischen Mitgliedern zu rechtfertigen. Dieser Kurs geht einher mit einer bewussten Beschneidung der Diskussion und des demokratischen Entscheidungsprozesses in der Organisation.

Die Gewerkschaftsbürokratie versucht sich bei alle diesen Unternehmungen auf die passiveren und politisch wenig bis nicht bewussten Schichten der Mitglieder bzw. der gesamten Arbeiterklasse gegen die Gewerkschaftsaktivisten in den Betrieben zu stützen.

Allerdings formiert sich dagegen auch Widerstand. Die Schwierigkeiten bei der Schaffung von ver.di sind ein Beleg dafür. Natürlich war und ist die Auflehnung dagegen auch von bornierten Motiven getragen, wenn z.B. Bürokraten fürchten, im Zuge von Fusionen ihre Pfründe zu verlieren. Alles in allem spiegeln diese Schwierigkeiten der Apparate auch wachsenden, wenn auch oft diffusen Unmut wider.

7. Die Anti-Globalisierungsbewegung

In den letzten Jahren ist es selbst der deutschen Gewerkschaftsbürokratie mehr und mehr zu Bewusstsein gekommen, dass sich ein rein nationalstaatlich ausgerichteter reformistischer Kurs Tod gelaufen hat. Viele sozialdemokratisch ausgerichtete Reformisten – seien sie nun SPD oder PDS-nahe – haben in Lafontaines Vorstellung eines europäischen Keynesianismus ein Zukunftsmodell gesehen, um den sozialstaatlichen Klassenkompromiss zumindest ansatzweise auf EU-Ebene wieder zu beleben.

Heute sind von dieser Perspektive eine servile Unterordnung unter die Europapolitik von Kapital und Regierung und die wage Hoffnung übrig geblieben, dereinst mit Mitbestimmungsrechten auf europäischer Ebene entschädigt zu werden. In der Praxis ist von einer internationalen Politik der Gewerkschaften wenig zu spüren. Gerade im nach eigenem Selbstverständnis ureigensten Betätigungsfeld – der Tarifpolitik – haben sich die deutschen Gewerkschaften als bornierte Standortpolitiker entpuppt und Vereinbarungen über die Mindesthöhe von Tarifabschlüssen mit den anderen EU-Gewerkschaften unterlaufen.

Gleichzeitig hat in der Gewerkschaftslinken eine Diskussion über die Entstehung “neuer” Formen der Gewerkschaftspolitik, z.B. den social movement unionism, der Verbindung von Gewerkschaftsarbeit und anderen Tätigkeitsfeldern, von ökonomischen und politischen Kampf bis hin zum Kampf gegen das kapitalistische System begonnen. Auch wenn die Diskussion oft zaghaft geführt wird und mehr an einen linken Debattierklub, denn eine Kampforganisation erinnert, auch wenn viel “Neues” die Neuauflage alter, historisch überholter Konzepte ist (Syndikalismus, Frühsozialismus), so ist diese Debatte notwendig und – verglichen mit den stalinistischen und links-sozialdemokratischen “Reformansätzen”, die die 80er Jahre dominierten – geradezu herzerfrischend.

Es handelt sich hierbei jedoch nicht einfach um eine Wiederholung der Diskussionen der späten 60er und frühen 70er Jahre. Auch wenn manche Wortführer und -führerinnen in der Debatte altgediente Linke sind, so ist diese Diskussion notwendig zur Klärung grundlegender Fragen und zum Vorantreiben der Gewerkschaftslinken und ihrer Verbindung mit einem neuen internationalen Anti-Kapitalismus. Der ermutigendste Aspekt dieser Diskussion besteht gerade darin, dass sie auch auf das Interesse jener Aktivisten stößt, die in den Kämpfen der letzten Jahre politisiert wurden.

Die Diskussion in der Gewerkschaftslinken sind inhaltlich mit den Diskussionen in der Anti-Globalisierungsbewegung, unter anti-kapitalistischen Aktivistinnen und Aktivisten außerhalb der Arbeiterbewegung ähnlich, ja vielfach identisch. Das liegt nicht nur daran, dass viele linke Gewerkschafter aus der politischen Linken kommen, organisiert sind oder waren.

Es liegt auch nicht nur daran, dass in den letzten Jahren mehr praktische Verbindung und Zusammenarbeit zwischen einer Schicht linker Gewerkschafter und von Nicht-Gewerkschafterinnen (Schüler, Studenten, Anti-Faschisten usw.) entwickelt wurde. Es liegt vor allem daran, dass eine spezifisch gewerkschaftliche anti-kapitalistische Theoriediskussion samt ihrer programmatischen und taktischen Konsequenzen ein ökonomistischer Mythos war, ist und immer bleiben wird.

Das zeigt sich auch darin, dass alle Strömungen der Gewerkschaftslinken entweder theoretische und programmatische Diskussionszusammenhänge entwickeln, in denen Gewerkschafter als Arbeiterintellektuellen im Verbund mit anderen Mitgliedern als “Organisation” fungieren, oder gezwungen sind, sich auf intellektuelle Mentoren (z.B. “linke” Professoren) zu stützen, die die politische Programmatik, ihren Standpunkt, ihre Taktik entwickeln.

Die dringend notwendige strategische Diskussion in der Gewerkschaftslinken und die Entwicklung einer revolutionären Programmatik kann eben nicht aus dem gewerkschaftlichen Kampf selbst abgeleitet werden – sie kann nur entwickelt werden, wenn sich die Bewegung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus verbindet.

Die politischen Strömungen in der Opposition

Daher ist es notwendig, einen Blick auf die politischen Hauptströmungen in der Opposition und ihre Basis zu werfen.

Linksreformismus

Eine prägende Erscheinung in der Oppositionsszene ist die Strömung, die sich um die Zeitschrift “Sozialismus” gruppiert. Sie entstand aus einer positiven Bezugnahme auf den Eurokommunismus und ist politisch als linksreformistisch zu charakterisieren. Auch wenn sie keine Partei darstellt oder aufbauen will, so fungiert die Zeitschrift Sozialismus als Sprachrohr einer zahlenmäßig beachtlichen Strömung in den Gewerkschaften, die sich vor allem auf den linken Apparat und seine Parteigänger stützt.

Nach dem Kollaps des Stalinismus Ende der 1980er Jahre hat sie außerdem vielfach die Rolle der DKP in der Gewerkschaftslinken übernommen. Sozialismus war eine maßgebliche Kraft, um die IVG ins Leben zu rufen. Sie dominierte mit ihren Aufrufen die Anti-Kriegs-Stimmung in den Gewerkschaften. Ihr Ziel ist jedoch keineswegs der Aufbau einer schlagkräftigen, handlungsfähigen Opposition, geschweige denn einer Basisbewegung in den Gewerkschaften, die gegen die Politik der Bürokratie und für ihre Beseitigung und Ersetzung kämpft.

Die Sozialismus-Gruppierung will die Opposition vor allem als Beratergremium, Diskussionsforum und Fußtruppe für ihre Anhänger im Gewerkschaftsapparat (was teilweise in ziemlich hohe Positionen reicht). Sie will politisch daher auch keinen Bruch mit der tradierten Gewerkschaftspolitik, sondern vielmehr die Wiederbelebung des Linksreformismus. Daher sind ihre weitest gehenden Parolen auch die nach Herstellung der “sozialen Gerechtigkeit” und “Umverteilung von oben nach unten”.

Das Vehikel der gesellschaftlichen Umgestaltung ist für “Sozialismus” die Herstellung der “gesellschaftlichen Hegemonie”, über die der bürgerliche Staat zur Umsetzung sozialer und politischer Reformen genutzt werden könnte. Von einer proletarischen Revolution, der Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschinerie und der Errichtung der Räterepublik wollen diese Reformisten natürlich nichts wissen.

Diese Strategie hat jedoch unmittelbar auch Auswirkungen für die Politik von “Sozialismus”. Wenn der Staat zur Reform in Besitz genommen werden soll, wenn die Sozialreform nicht Abfallproduktion, sondern Endzweck des Kampfes ist, so ist Herstellung der Hegemonie nicht Revolutionierung des Proletariats, sondern die Schaffung eines strategischen Blocks mit PDS, linken Grünen und linker SPD, Gewerkschaftsapparat, Kirchen, wohl wollenden Bourgeois.

Die Bündnispolitik von “Sozialismus” hat daher auch nichts mit der Politik der proletarischen Einheitsfront gegen das Kapital zu tun, sondern ist vielmehr eine Form der politischen Unterordnung unter die anvisierten Bündnispartner.

In der Gewerkschaftsopposition heißt das, dass die “Sozialismus”-Strömung bremsend wirken wird müssen, da die Entstehung einer organisierten Opposition, die, wenn nötig, auch ohne und gegen die Bürokratie mobilisieren kann, der politischen Zielrichtung von “Sozialismus” in jeder Hinsicht entgegenläuft. Ihr „hegemonialer Block” würde dadurch gefährdet, weil die Arbeiterklasse dann in der Aktion leichter über die Bündnispartner hinausgehen könnte und so dann ganzen Block sprengen würde. Die Positionen in den Gewerkschaften wären in Gefahr, weil die zahlreichen Apparatfreunde von “Sozialismus” so unter den direkten Druck oppositioneller Basisaktivisten und -aktivistinnen geraten würde und daher im Apparat nicht mehr nach Belieben prinzipienlos manövrieren könnten.

Neben “Sozialismus” gibt es noch eine Reihe anderer links-reformistischer Strömungen, die sich um Zeitungsprojekte gruppieren (isw) oder prominente oppositionelle Apparat-Leute wie den Bayrischen ÖTV-Vorsitzenden Wendl oder den IG Metall-Vorständer Schmitthenner hofieren. Die Oppositionsprominenz spielt vor allem eine Rolle: die Opposition in Zaum zu halten und an den linken Apparat zu binden. Wenn wir beispielsweise die Rolle von Wendl in der Tarifrunde betrachten, so hat er keineswegs alles getan, um einen Streik zu organisieren. Er verbreitete vielmehr – ähnlichen den rechten Bürokraten – noch vor der Urabstimmung defaitistische Stimmung in der Presse, wo er über Erfolgs- und Misserfolgsaussichten spekulierte, statt gegen den Kurs des Vorstandes aufzutreten. Genau an diesen Punkten müssen sich aber oppositionelle Funktionäre beweisen, hier heißt es in der gewerkschaftlichen Auseinandersetzung Farbe zu bekennen.

Was für die Zeitschrift “Sozialismus” gilt, gilt freilich für die gesamte reformistische Opposition. Sie stützt sich vor allem auf Teile des Apparates, der weiterhin von der gewerkschaftlichen Basis unabhängig bleiben soll. Politisch orientiert sie sich aktuell an der PDS und an linken Intellektuellen (wie z.B. den Verfassern der “Erfurter Erklärung”), die einen Brückenkopf zur linken SPD und zu den linken Grünen bilden sollen.

Links-Syndikalismus

Eine weitere Strömung bildet der linke Syndikalismus. Ähnlich den Reformisten ist auch er um eine Zeitschrift – Express – gruppiert. Express war ursprünglich die Gewerkschaftszeitung des “Sozialistischen Büros”, einer rechts-zentristischen Gruppierungen in den 70er Jahren, die stark “luxemburgistisch” (d.h. vor allem anti-leninistisch) geprägt war und einem “Selbstverwaltungs-Sozialismus” anhing, dessen Spuren sie in Jugoslawien zu entdecken wähnte.

Darüber hinaus haben sich zentrale Autoren von Express einen Namen als Organisatoren von TIE (Transnational Information Exchange) gemacht. TIE ist eine jährlich stattfindende Tagung, an der Aktivisten und Aktivistinnen aus der ganzen Welt teilnehmen, über neue Entwicklungen des Kapitalismus und in den Gewerkschaften diskutieren und ihre Erfahrungen austauschen.

Ohne Zweifel ist die Organisierung und Durchführung solcher Treffen verdienstvoll. Das Problem an TIE ist jedoch heute, dass es beim Austausch, der “Vernetzung” stecken bleibt. Es ist kein Forum, das zur Organisierung von Kampagnen, zum Vereinbarung gemeinsamer und koordinierte internationale Aktion und schon gar nicht zur Schaffung fester internationaler Verbindungen auf Basis eines Forderungsprogramms dient. Ein Teil des Problems ist sicher die rechtliche Form vom TIE als Nicht-Regierungsorganisation und die finanziellen Abhängigkeiten des Projekts. Viel wichtiger ist jedoch, dass eine solche vorwärtstreibende, initiative Rolle der zugrunde liegenden Konzeption der Strömung um Express widerspricht.

Wie alle Spontaneisten geht Express davon aus, dass die Arbeiter, sobald sie in Bewegung gekommen sind, ihre Koordinierung, ihre Organisierung usw. schon “selbständig” schaffen werden. Alles andere wäre eine autoritäre Unterjochung der Klasse unter durch eine “selbst ernannte” Avantgarde oder Stellvertreter.

Das äußert sich auch in der IVG, wo etliche Vertreter von Express gegen die Bildung bundesweiter Strukturen und die Initiierung und Durchführung gemeinsamer Aktionen und Kampagnen mit der bezeichnenden Gegenposition “Diskussionsklub – ja bitte!” auftraten.

Auch wenn die Sozialismus-Leute und die Vertreter von Express in der gewerkschaftsoppositionellen Diskussion oft als Antipoden auftreten, so teilen sie in der Praxis ihre Ablehnung jeder wirklichen Organisierung um politische Forderungen und gemeinsame Aktion. Es ist auch kein Wunder, dass die spät Geborenen des Frühsozialismus um Robert Kurz (Krisis-Gruppe) bei Express und anderen Syndikalisten politisch Stiche machen.

Während die reformistische Strömung oppositionelle Gewerkschafter an die bürgerliche Politik des linken Apparates, der PDS usw. bindet, so sehen die Syndikalisten in der Parteipolitik an sich das Problem. Daher verfängt auch die Kritik der Krisis-Gruppe, die dem Marxismus “Politizismus” vorwirft, unter vielen dieser Oppositionellen.

Ebenso dient die berechtigte Kritik an der Huldigung der entfremdeten Arbeit durch die reformistische Arbeiterbewegung – Arbeit ist der Gott unserer Zeit, hieß es bei den rechten Gewerkschaftern und SPD-Vertretern schon im 19 Jahrhundert – als Mittel, um unter dem Schlagwort “Kampf dem Arbeitsfetisch” allerlei utopische frühsozialistische Konzepte wieder aufzuwärmen. Die Arbeiterklasse solle sich demnach durch die Erringung immer größere selbstbestimmter Lebensräume, der Organisierung nicht-monetärer Sphären der Gesellschaft usw. ihrer eigenen Befreiung näher bringen. Ähnlich wie im sozialdemokratischen Reformismus ist auch hier die Bewegung alles, das Ziel nichts.

Der politische Kampf und die Organisierung von Parteien seien nicht notwendig, sondern eine Ablenkung von der “eigentlichen” ökonomischen Befreiung der Arbeitenden, die sich gemäß der “anti-politischen” Vorstellung auch ganz ohne Kampf um die Staatsmacht vollzieht. Die scheinbar radikale Kritik am Reformismus entpuppt sich als Gradualismus, der sich die Hände in den Niederungen reformistischer Politik im Parlament oder an der Regierung nicht schmutzig machen will.

Natürlich gilt auch hier die Binsenwahrheit des revolutionären Marxismus, dass die noch so wortradikal begründete Enthaltsamkeit von der Politik oder einer Sphäre des politischen Kampfes nur bedeutet, das Feld kampflos bürgerlichen Parteien zu überlassen.

Das drückt sich auch ganz praktisch aus, wenn es um die Kritik der Gewerkschaftsbürokratie, den Kampf gegen die Führung geht. Dass dem bürokratischen Apparat die Macht und Kontrolle über die Gewerkschaften entrissen werden müsse, dass dazu die politische Organisierung in den Gewerkschaften und die Führung einer Basisbewegung durch eine revolutionäre Partei notwendig sei, stößt bei Vertretern von Express und anderen Syndikalisten auf eine Mischung aus Ablehnung, Verachtung und Verbitterung.

Das sei doch “soooooo verkürzt”. Viele Funktionäre seien doch linker oder fortschrittlicher als die Basis, heißt es. Das mag schon vorkommen. Nach schweren Niederlagen der Klasse kann das sogar eine vorherrschende Bewusstseinslage sein. Es geht uns also überhaupt nicht um die unsinnige Argumentation, dass “die” Arbeiter immer linker sein müssten als …

Gerade als Leninisten gehen wir davon aus, dass die Klasse nicht nur in sich differenziert ist, sondern auch nicht in der Lage sein kann, spontan revolutionäres Klassenbewusstsein zu entwickeln. Das ist die Aufgabe von Kommunisten und Kommunistinnen, das ist die Aufgabe einer revolutionären Partei. Es ist daher ganz unsinnig, der Arbeiterklasse zum Vorwurf zu machen, dass sie nicht “von selbst” die Aufgaben löst, die nur durch eine Befruchtung der Arbeiterbewegung “von außen” gelöst werden können. Tatsächlich ist die Arbeiterklasse oft bereit und in der Lage spontan voranzuschreiten. Auch die Schaffung mancher Organisationen des new movement unionism zeugen von der “instinktiven” Tendenz des Proletariats, sich gegen die herrschende Klasse zu organisieren.

Aber der Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie wird notwendig, weil die Bürokratie als privilegierte Kaste die Arbeiterbewegung dominiert und ein besonderes Interesse als Mittler zwischen Lohnarbeit und Kapital verfolgt (ganz unabhängig davon ob ein einzelner Bürokrat das will oder nicht). Als Kaste verteidigt sie den Fortbestand der bürgerlichen Gesellschaft, verteidigt sie den Kapitalismus. Deshalb muss sie in allen entscheidenden Klassenkampfsituationen, immer wenn die Arbeiterklasse spontan eigenständig und revolutionär agiert, gegen die Interessen des Proletariats auftreten. Dass die Bürokratie dabei erfolgreich sein kann, hat seine Wurzeln in der Verankerung bürgerlichen Bewusstseins in den Arbeitern selbst, die auch in der Form der gewerkschaftlichen Organisierung zunächst ja nur ihr Interesse als Warenbesitzer (der Ware Arbeitskraft) organisieren.

Der Kampf um die Revolutionierung dieses Bewusstseins muss unausweichlich auch den organisierten Ausdruck dieses bürgerlichen Bewusstseins im Proletariat angreifen, und zwar auf allen Ebenen: politisch, ideologisch und organisatorisch. Indem der Syndikalismus das Problem nicht in den sozialen Wurzeln der Bürokratie, sondern in bestimmten falschen (hierarchischen,…) Organisations-“Gedanken” sieht, hofft er letztlich passiv auf die “sanfte Macht der Vernunft” neuer, bisher “ungeahnter” Organisierungs-“Gedanken”, die spontan den bisherigen “falschen” Weg überwinden werden, statt aktiv den Kampf gegen die bestehenden Machtverhältnisse in den Gewerkschaften aufzunehmen (siehe auch den Artikel “Syndikalismus oder Kommunismus?” in diesem RM).

Die Funktion für die Kapitalistenklasse kann die Bürokratie nur erfüllen, wenn sie eine Bindung an die organisierte Arbeiterklasse hat und z.B. die Gewerkschaften (oder Arbeiterparteien) kontrolliert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie vom Kampf gegen die Kapitalistenverbünde, den bürgerlichen Staat oder bürgerliche Parteien, da die Bürokratie als bürgerliche Agentur in der Arbeiterbewegung agiert. Doch der Unterschied in den Kampfmitteln macht den Kampf nicht minder unumgänglich.

Die syndikalistische Ideologie steht diesem Kampf entgegen, unabhängig von den ehrlichen Absichten vieler ihrer Anhänger. In der Tat sind Versatzstücke syndikalistischer Ideologie in der bundesdeutschen Gewerkschaftsopposition heute auch bei vielen Aktivisten und Aktivistinnen im Vormarsch, weil sie als fortschrittliche Alternative nicht nur zur sozialdemokratischen Bürokratie, zu SPD und PDS, sondern auch zu den linksreformistischen Apparatleuten und ihren bürokratischen Sandkastenspielchen im Vorhof der eigentlichen Bürokratie betrachtet werden.

Wie weiter?

Neben dem Linksreformismus und dem Syndikalismus gibt es noch eine Reihe weiterer Gruppierungen und Strömungen, die sich gerade in den letzten Jahren stärker den Gewerkschaften zuwandten, vor allem Gruppierungen des trotzkistischen Zentrismus.

Zum anderen ist es wichtig zu verstehen, dass Linksreformismus und Syndikalismus keine fest umrissen Lager, sondern mehr oder minder lose Gruppierungen darstellen. Der Einfluss dieser Ideologien und Programme reicht aber sehr viel weiter als nur zu den bewussten Vertretern.

Er reicht auch tief in die betriebliche und gewerkschaftliche Basis der Opposition, die auf etliche 10.000 Anhänger und Anhängerinnen veranschlagt werden kann. Wäre sie um Forderungen, Aktionen, Strukturen organisiert, könnte sie in Verbindung mit Anti-Kapitalisten außerhalb der Gewerkschaften eine wirkliche politische Kraft in der Arbeiterbewegung in Deutschland darstellen. Aber sie ist es nicht. Der Hauptgrund dafür ist hausgemacht. Er liegt zum einen an den vorherrschenden politischen Strömungen in der Gewerkschaftsopposition, die gegenwärtig deren Führung stellen (so sehr sie das auch abstreiten mögen) und die daher auch die politische Hauptverantwortung für deren Zurückbleiben hinter ihren Möglichkeiten trifft.

Doch es kommt ein weiteres Problem hinzu: viele, die links von diesen Strömungen positioniert sind, verfügen selbst über keine politische Strategie, ja wiederholen selbst etliche der Fehler des Linksreformismus und Syndikalismus.

Das betrifft vor allem das Verhältnis von Gewerkschaften und revolutionärer Partei. Wenn die Gewerkschaften zu einem Instrument des revolutionären Klassenkampfes werden sollen, müssen sie offenkundig revolutioniert werden, ihre Führung muss durch eine revolutionäre ersetzt werden, die Strukturen müssen demokratisiert, die Aktion der Gewerkschaften muss Teil des Kampfes gegen die kapitalistische Ordnung werden.

Natürlich sind wir uns der Tatsache bewusst, dass Revolutionäre erst in vor-revolutionären oder revolutionären Krisen die Mehrheit der Gewerkschaften erobern können. Sie können und müssen jedoch die Eroberung der Gewerkschaften und ihre Transformation zu revolutionären Instrumenten schon heute vorbereiten. Sie können und müssen auch in nicht-revolutionären Perioden Positionen in den Betrieben in der Gewerkschafter erringen, als organisierte Strömung wirken und in einzelnen Kämpfen die führende Rolle übernehmen.

Für diese Tätigkeit wie die Revolutionierung der Gewerkschaften selbst ist daher die Schaffung einer revolutionären Arbeiterpartei, einer politischen Organisation der Avantgarde der Klasse, eine unabdingbare Voraussetzung. Natürlich stellen wir diese Aufgabe der Arbeit in den Gewerkschaften und im Betrieb nicht entgegen – diese ist vielmehr selbst Mittel zum Aufbau der Partei.

Aber es bedeutet Folgendes: Die revolutionäre Organisation muss bewusst und organisiert in den Gewerkschaften und Betrieben intervenieren, sie muss eigene Organisationsstrukturen der kommunistischen Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen und ihrer Sympathisanten schaffen.

Dazu bedarf sie einer programmatischen Grundlage, eines Aktionsprogramms, das sich nicht auf den gewerkschaftlichen Horizont beschränkt, sondern revolutionären Charakter hat. Das heißt es muss den Kampf um aktuelle gewerkschaftliche und gewerkschaftspolitische Forderungen wie den Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie und für die Demokratisierung der Gewerkschaft zum Ausgangspunkt nehmen und mit der Frage der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse verbinden.

Diese Sichtweise unterscheidet uns von den verschiedenen zentristischen Strömungen, die den gewerkschaftlichen Kampf vom politischen trennen, die Partei- und Gewerkschaftsarbeit als zwei verschiedene Dinge auffassen. In Wirklichkeit ist für einen Kommunisten oder eine Kommunistin Gewerkschafts- oder Betriebsarbeit nur ein spezifischer Ort seiner oder ihrer Parteitätigkeit.

Unser Ziel kann es daher nicht sein, “konsequente Gewerkschafter” zu werden, wie revolutionäre Politik nie von einem gewerkschaftlichen Standpunkt ausgehen kann. Es gilt vielmehr die Probleme und Fragestellungen gewerkschaftlicher Politik vom Standpunkt des Gesamtinteresses der Klasse, also von dem eines Kommunisten zu betrachten. Das hat nichts mit der Vernachlässigung ökonomischer Forderungen oder anderer gewerkschaftlicher Fragen zu tun – es bedeutet aber, diese in einen größeren politischen Zusammenhang einzuordnen.

Diese Notwendigkeit drängt sich heute vielen Gewerkschaftern auch “spontan” auf als Resultat der Veränderungen der kapitalistischen Weltwirtschaft. Wer z.B. verstehen will, was “Globalisierung” bedeutet, warum profitable Standorte geschlossen werden usw., wird mit einem rein gewerkschaftlichen Herangehen an diese Fragen nicht auskommen. Schon gar nicht werden sich daraus schlüssige Strategien für die Verteidigung der Interessen der gesamten Arbeiterklasse ableiten lassen. In diesem Zusammenhang drängt sich ebenfalls fast automatisch die Notwendigkeit der Schaffung einer internationalen Verbindung zwischen den betrieblichen und gewerkschaftlichen Aktivisten auf. Doch wenn das für diese Ebene gilt, warum gilt es nicht auch für die Ebene der Politik? Drängt nicht die gesamte Entwicklung dazu, dass wir eine neue Masseninternationale schaffen müssen? Drängt sich nicht die Frage auf, wie kommen wir dahin und welche politische Grundlage braucht eine solche Internationale?

Vor diesen Fragestellungen scheuen die meisten Gewerkschaftsoppositionellen zurück. Aber sie werden deshalb nicht weniger brennend. Unsere Einschätzung ist klar: Wir brauchen eine neue Arbeiterinternationale. Wir haben in der gegenwärtigen Situation die Chance, dass dies eine Masseninternationale wird, die die linken Strömungen in den Gewerkschaften mit dem anti-kapitalistischen Flügel der Anti-Globalisierungsbewegung vereint. Wir sind der Auffassung, dass eine solche Internationale ein revolutionäres Programm zum Sturz des Kapitalismus international, zur Errichtung der Diktatur des Proletariats und zum Übergang zum Sozialismus, zur Errichtung der klassenlosen Gesellschaft braucht.

All diese Fragen sind nicht einfach Fragen der “Politik”, sondern auch Fragen, die sich all jenen Gewerkschaftsaktivisten und Aktivistinnen stellen, die nicht nur gegen die Symptome des kapitalistischen Systems sondern gegen das System selbst kämpfen wollen.

Eine wirkliche “Gewerkschaftsopposition” kann sich daher nicht wie die IVG heute auf einige “rein gewerkschaftliche” Kritikpunkte an mangelnder gewerkschaftlicher Demokratie oder ungenügender “gewerkschaftlicher Gegenmacht” beschränken. Genauso wenig reicht es aus, unverbunden mit solch immanenter Kritik in der Gewerkschaftsopposition dann auch noch Diskussionsforen über “Alternativen zum kapitalistischen System” zu organisieren.

Eine oppositionelle Basisbewegung in den Gewerkschaften muss eine systemüberwindende, anti-kapitalistische Orientierung mit einem aktiven, entschlossenen Eingreifen in konkrete Klassenkämpfe verbinden. In diesem Rahmen ist der Kampf gegen die Aktion und Bewusstseinsentwicklung des Proletariats hemmende bürokratische Gewerkschaftsführungen und –Strukturen unerlässlich.

Nur wenn die IVG einen entschiedenen Klärungsprozess in Bezug auf Aktionsorientierung, Orientierung auf den organisierten Kampf um die Gewerkschaftsführung und um die politische Zielrichtung auf ein revolutionäres Aktionsprogramm einleitet, kann aus ihr eine tatsächliche, antibürokratische Gewerkschaftsopposition werden.

Dies ist aber, wie schon gesagt, nicht denkbar, ohne dass sich nicht zugleich eine revolutionäre, kommunistische Partei in der BRD bildet, die in diesem Prozess die wesentlich vorantreibende Kraft spielen muss. Solange dies nicht der Fall ist, kann die IVG nur als (mehr oder weniger zeitlich begrenzte) Vorform für die Herausbildung einer Gewerkschaftsopposition gesehen werden, die besonders nach ihrer Mobilisierungsfähigkeit für konkrete Klassenkämpfe und der Auseinandersetzung mit der Gewerkschaftsführung darin beurteilt werden muss.

Um die IVG weiter zu entwickeln, schlagen wir daher folgende Schritt vor:

1. Wir treten in der Gewerkschaftslinken für selbständige Kampagne gegen die Angriffe der Regierung ein: aktuell speziell gegen die Rentenreform. Diese massive Umverteilung zugunsten des Finanzkapitals wird von der Gewerkschaftsführung letztlich über ihre Beteiligung am Bündnis für Arbeit gedeckt. Die Kampagne gegen die Rentenreform ist daher ein wesentliches Mittel zum Kampf für den Bruch der Gewerkschaften mit dem Bündnis für Arbeit und mit der Unterordnung unter die SPD-geführte Regierung insgesamt. Genauso wesentlich ist es, für eine selbständige Kampagne der Gewerkschaften gegen Rassismus und Faschismus einzutreten: Gegen die Volksfrontpolitik im Kampf gegen Faschismus und Rassismus, gegen die politische Unterordnung der Kampagne unter die Standortinteressen der Konzerne (Ansehen im Ausland) und der Repressionsinteressen des Staates (Verbotslosungen)! Für die Arbeitereinheitsfront zur Zerschlagung des Faschismus und im Kampf gegen den Rassismus!

2. Wir treten dafür ein, dass örtlich handlungsfähige Strukturen der Gewerkschaftslinken geschaffen werden, die allen Gewerkschaftsaktivisten offen sind und zur Umsetzung von Kampagnenschwerpunkten wie zur politischen Diskussion usw. dienen. Allen politischen Gruppierungen und Organisationen, die den Aufbau einer Vernetzung unterstützen, muss das uneingeschränkte Recht auf Propagierung ihrer Ansichten zugestanden werden. Arbeitslosen Gewerkschaftern muss das volle Recht auf Teilnahme und das gleiche Entscheidungsrecht von Beginn an zugestanden werden. Wir erachten das für notwendig, damit die Gewerkschaftslinke aufhört, bloß ein Bündnis oder Diskussionsverein von Linken in den Gewerkschaften zu sein, sondern zu einer wirklichen Basisbewegung mit Verankerung und stetigem Rückfluss zu betrieblichen Aktivisten wird. So kann am besten gewährleistet werden, dass eine breite und offene Diskussion über gegensätzliche Standpunkte und Programme stattfindet und zwar vor und in Beziehung der Basis.

3. Wir treten für die Demokratisierung der Gewerkschaften ein. Das ist ein unabdingbares Kampfmittel gegen die Bürokratie. Gleichzeitig agieren wir in dem klaren Bewusstsein, dass eine wirkliche Demokratisierung erst möglich sein wird nach Entmachtung der Bürokratie selbst. Ebenso ist ein entschlossener Kampf gegen alle Formen von Rassismus, Frauenunterdrückung und Benachteiligung von Nicht-“Normalbeschäftigten” (bzw. Arbeitslosen) in den bestehenden Strukturen der Gewerkschaften notwendig, wenn die bornierte, arbeiteraristokratische soziale Basis der Bürokratie ernsthaft erschüttert werden soll.

4. Wir treten vom Beginn an für den Aufbau einer internationalen Verbindung zwischen den Gewerkschaften respektive den Gewerkschaftsoppositionellen ein. Dazu sollen internationale Aktionskonferenzen von Vertretern aus verschiedenen Branchen einberufen und Kampagnen beschlossen werden (z.B. für eine internationale Automobilarbeiterkonferenz). Wir treten konkret dafür ein, dass der erste Mai 2001 zu einem internationalen Aktionstag der Gewerkschaften wie der gesamten anti-kapitalistischen Bewegung wird. In allen Ländern, wo der 1. Mai kein Feiertag, ist treten wir für Massenstreiks ein, um ihn zu einem Aktionstag zu machen. In der BRD und Österreich muss der 1. Mai wieder zum Kampftag der Arbeiterklasse werden!

5. Wir brauchen eine offene und uneingeschränkte Diskussion über die zukünftigen Strukturen und das politische Programm einer gewerkschaftlichen Opposition in der BRD wie international. Sie muss allen politischen Gruppierungen, die das Ziel der Schaffung einer gewerkschaftlichen und betrieblichen Basisbewegung gegen die Bürokratie verfolgen, offen stehen. Foren zur Auseinandersetzung müssen geschaffen oder erweitert werden und müssen allen Teilnehmern für Beiträge und Entwürfe geöffnet werden (z.B. das labournet).

In einem solchen Rahmen werden wir ein revolutionäres Aktionsprogramm für die Gewerkschaften vorlegen, für das wir in der Gewerkschaftslinken wie in den Gewerkschaften überhaupt eintreten.




Kampf dem Rassismus – Das Beispiel Österreich

Martin Haffner, Revolutionärer Marxismus 31, Herbst 2000

Mit dem Erfolg der rassistischen Haider-Partei bei den Nationalratswahlen vor einem Jahr (3. 10. 1999: 27% Stimmen für die FPÖ) und der Übernahme der Regierungsgeschäfte zusammen mit der ÖVP am 3. Februar 2000 wurde Österreich von der politischen Peripherie Europas in das politische Zentrum katapultiert.

Der österreichische Klassenkampf kann zum Experimentierfeld zukünftiger Unternehmerstrategien in Europa werden. Wenn die EU-Bosse durch die internationale Konkurrenz und die Kämpfe des europäischen Proletariats unter Druck geraten, kann die heute offizielle Ideologie vom Europa der Liberalität, Zusammenarbeit und Menschenrechte ersetzen werden durch eine rüdere Form des offenen Rassismus, Überlegenheitskult und Euro-Chauvinismus. Umgekehrt könnte eine erfolgreiche proletarische Antwort gegen die rassistische Regierung am Ballhausplatz eine ungeahnte Kettenreaktion auf den europäischen, ja internationalen Klassenkampf haben, neue Banden der Gewerkschaftszusammenarbeit knüpfen und die strategischen Projekte des europäischen Kapitalismus ins Wanken bringen.

Eine besondere Bedeutung hierbei nimmt der Kampf gegen den Rassismus innerhalb der Arbeiterklasse ein, haben doch am 15. 10. 1999 mehr als 50% der manuellen Arbeiter für die FPÖ gestimmt. Heute ist die FPÖ sowohl in der Arbeiterkammer (AK) vertreten, als auch in zahlreichen Betriebsratskörperschaften. Die FPÖ hat eine eigene Fraktion im Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB), die Liste ”Freiheitliche Arbeitnehmer” (FA), wie auch einen eigenen Gewerkschaftsverband, die ”Freiheitlichen Gewerkschaften Österreichs” (FGÖ).

Der Kampf gegen den Rassismus innerhalb der Gewerkschaften und innerhalb der Arbeiterklasse nimmt u.A. deswegen eine verstärkte strategische Bedeutung ein, weil die Wahlerfolge der FPÖ und die Verluste der SPÖ ohne Arbeiterstimmen unmöglich gewesen wären und weil sie ein Grund waren, weshalb die 15-jährige Führungskrise der österreichischen Bourgeoisie zugunsten des aggressiven, gewerkschaftsfeindlichen Teils gelöst wurde. Und dann: Einzig eine klar anti-rassistische Gewerkschaftspolitik kann einen dauerhaften Sieg über die Bedrohungen der Wenderegierung gewährleisten.

Ist Rassismus in den Gewerkschaften ”normal”?

Zuerst muss man sich über den Charakter des Rassismus in den Gewerkschaften klar werden – um ihn wirklich – und nicht bloß die Symptome – bekämpfen zu können.

In der ”offiziellen” Gewerkschaftspresse – und das ist heute zu 90% die reformistische Gewerkschaftspresse – finden sich regelmäßig, meist auf den letzten Seiten, antirassistische Artikel. Das “gehört sich halt so”. Man könnte meinen, Antirassismus sei der Gewerkschaftsbewegung so inhärent wie das Eintreten für bürgerlich-demokratische Rechte. Andererseits wiederum: Wer so manchen sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionär über Ausländer, Immigranten und die Notwendigkeit, den inländischen Arbeitsmarkt zu schützen, sprechen gehört hat, wird oft wenig Unterschied zu den Argumenten der Rechten ausmachen können. Was also?

Gewerkschaften sind nichts anderes, als große, dauerhafte Einheitsfronten aller Arbeiter. Gewerkschaften vereinigen Arbeiter als Arbeiter, die dem Kapital entgegengestellt sind und die Konkurrenz der freien Lohnabhängigen gegenüber dem Unternehmer aufzuheben bestrebt sein müssen. Nur durch diese (zumindest tendenzielle) Aufhebung der Konkurrenz der Lohnabhängigen sind diese überhaupt in der Lage irgendetwas gegenüber dem Kapital durchzusetzen – und sei es nur das Eine, den Wert ihrer Ware (die Arbeitskraft) auch tatsächlich gegen die Versuche der Prellung durch den Kapitalisten realisieren zu können.

Deshalb sind Gewerkschaften Organisationen, die Produkt der kapitalistischen Produktionsweise selbst sind. Sie sind in der Regel dem Kapital, aber nicht dem Kapitalismus, entgegengesetzt. Daher ist die vorherrschende Ideologie in den Gewerkschaften nicht revolutionär, auf die Überwindung des Kapitalismus, der Lohnarbeit und der Ausbeutung gerichtet; sondern eine des ”So-gut-wie-möglich-Lebens” und Überlebens im Kapitalismus, der Lohnarbeit und der Ausbeutung ausgerichtet. Doch für dieses ”Zusammenleben” ist es notwendig, gegen das Kapital vorzugehen, z.B. mittels Streik die Produktion anzuhalten (und das ist ja nichts anderes, als den Beweis der Aufhebung der gegenseitigen Konkurrenz der Arbeiter dem Kapital zu liefern). Vorübergehend gegen das Kapital, um später besser mit dem Kapital leben zu können – das ist die normalerweise vorherrschende Logik der Gewerkschaftsaktionen.

In dieser Hinsicht liegt es weder in der Entstehungsgeschichte noch in der Natur der Gewerkschaften, eine revolutionäre, sozialistische Ideologie zu entwickeln. Diese wurde vielmehr ”von außen” als Höhe- und Endpunkt der bürgerlichen Wissenschaft entwickelt. Sie wird von der revolutionären Partei in die Arbeiterklasse hineingetragen, wo sie sich in einem ständigen Hin und Her, in einem Kampf mit anderen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologien innerhalb der Arbeiterklasse befindet.

Diese Ideologien könnem die Arbeiterklasse und damit die Gewerkschaften nicht von selbst (ohne Intervention einer revolutionären Minderheit der Arbeiterklasse) abschütteln, weil das herrschende Bewusstsein immer das Bewusstsein der herrschenden Klasse ist und weil die Lohnarbeit ”quasinatürlich” gerecht erscheint.

Was revolutionäre Kommunisten in den Gewerkschaften an Ideologien und Bewusstsein vorfinden, sind alle verschiedenen Varianten und Abstufungen von kleinbürgerlichem und bürgerlichem Bewusstsein. Auch ”proletarisches Selbstbewusstsein” ist letztlich ein Teil der bürgerlichen Ideologie, weil es zwar das Auftreten und die Organisierung der Arbeiter als Arbeiter als notwendig erkennt, aber nicht die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus. Damit ist es auch nicht gerade verwunderlich, wenn wir in den Gewerkschaften neben anderen Formen bürgerlicher Ideologien auch Rassismus vorfinden. Rassismus ist Teil der bürgerlichen Ideologie, die – auf der politischen Ebene – von einer historischen Errungenschaft der Bourgeoisie ausgeht: dem Nationstaat – und damit der Trennung in Inländer und Ausländer.

Auf der anderen Seite gibt es wegen dem eigentlichen Zweck der Gewerkschaften, nämlich die Konkurrenz der Lohnabhängigen vor dem Unternehmer aufzuheben, eine Gegentendenz zum Rassismus. Es ist für alle (und nicht bloß für die revolutionären) Arbeiter tatsächlich ein simpler Verhandlungs- oder auch Kampfvorteil gegenüber dem Unternehmer, keine nationalen und ethnischen Risse und Spaltungen zuzulassen. Es ist daher kein Wunder, dass die Gewerkschaftsbewegung gerade in ihrer Entstehungsperiode im 19. Jahrhundert einen stark internationalistischen Charakter annahm, der nationalistischer Ideologie zunächst wenig Spielraum ließ.

Deswegen ist auch der Rassismus eine besonders gefährliche bürgerliche Ideologie in den Reihen der Gewerkschaften: weil er ihre eigentliche Grundlage torpediert. Wobei ja die Gewerkschaften selbst zwar eine notwendige Form der Organisierung und politischen Entwicklung der Arbeiterklasse darstellen, aber gleichzeitig eine sehr elementare und nicht ausreichende, um die Arbeiter durch den Klassenkrieg zu führen.

Rassismus, Imperialismus und Krise

Mit dem Imperialismus modifiziert sich die Rolle der Gewerkschaften zu Unternehmer und Staat und – damit zusammenhängend – modifiziert sich die Gewerkschaft auch intern, gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern. Die wachsende Kampfstärke der Gewerkschaften setzte die Unternehmer mehr und mehr unter Druck, gewisse Zugeständnisse zu machen. Der Extraprofit, der durch die Ausbeutung von Kolonien und Halbkolonien zustande kam, ermöglichte, die Situation der ”eigenen”, ”nationalen” Arbeiterklasse zu verbessern und zu sichern. Jene Schichten, die am besten organisiert waren und die in strategischen und den Kapitalismus am empfindlichsten treffenden Bereichen situiert waren, konnten aufgrund ihrer Militanz bzw. Organisationsstärke unterstützt durch ihre oft strategische Position im Produktionsprozess Zugeständnisse erringen. So entstand eine Schicht, die in der marxistischen Literatur als Arbeiteraristokratie bezeichnet wird und die der erste Teil der Arbeiterklasse war, die sich das Leben in der bürgerlichen Kleinfamilie leisten konnte.

Diese vergleichsweise privilegierte Existenz wurde zur Grundlage der zunehmenden Integration der Gewerkschaften in den bürgerlichen Staat und einer stärker werdenden Bindung an den Kapitalismus, auch wenn sie eine Errungenschaft darstellt, die durch Klassenkampf erkämpft wurde. Mit der zunehmenden Integration der Gewerkschaften in den bürgerlichen Staat ging als conditio sine qua non eine zunehmende Teilung und Ungleichbehandlung der Welt-Arbeiterklasse einher. Dies traf und trifft auch für Gewerkschaften in den Halbkolonien zu und hat dort nicht einen Extraprofit zur Grundlage, aber die in den Halbkolonie ebenfalls – solange die Gewerkschaften den Kapitalismus nicht ablehnen – notwendig gewordene Integration der Gewerkschaften in den bürgerlichen Staat (auch wenn dies das Bewusstsein der Gewerkschaftsführung genau umgekehrt wahrnimmt, nämlich als Zähmung des Staates im Interesse der Arbeiterklasse). (1)

Das historische Subjekt dieser Integration der Gewerkschaften in den Staat ist nicht schwer auszumachen: die Gewerkschaftsbürokratie. Je besser die Gewerkschaften organisiert sind, desto mehr bedürfen sie auch eines Apparates. Dieser ist einerseits Mittel zur Durchsetzung der Interessen gegenüber dem Kapital und ab einer gewissen Organisationsgröße unabdingbar, andererseits entspringen aus diesem Funktionärswesen auch eigene Interessen einer relativ abgehobenen Bürokratie. Deren Profession ist das Verhandeln zwischen den beiden Polen Kapital und Arbeit. Sie hat daher ein berufsständisches, materielles Interesse am Fortbestand des Kapitalismus. Ähnlich der Entstehung der Arbeiteraristokratie ist auch die Entwicklung der Gewerkschaftsbürokratie ein Ergebnis der Erfolge proletarischer Kämpfe. Denn erst eine Verbesserung der Lebensumstände der Arbeiterklasse ermöglicht die Bezahlung einer Funktionärsschicht.

Die Integration von Gewerkschaften in den imperialistischen Staat hat sich in verschiedenen Formen unter bestimmten Bedingungen immer wieder vollzogen. Die österreichische ”Sozialpartnerschaft” der in hohem Maß institutionalisierten Integration der Gewerkschaften in Wirtschafts- und Sozialpolitik ist nur eine dieser vielen Formen. Doch ist diese Integration immer nur eine historisch-relative Erscheinung, abhängig von den Kräfteverhältnissen, der internationalen Situation, wie auch den Zwängen der jeweiligen Akkumulationsperiode. Genauso gibt es in der imperialistischen Epoche auch Momente der totalen Zerschlagung dieser ”Machtposition” von Gewerkschaften – am handgreiflichsten im Faschismus.

Es ist klar, dass die Gewerkschaftsbürokratie alles versucht, um ihre respektable, staatstragende Rolle zu behalten oder wieder zu erringen. In diesem Zusammenhang sind Mobilisierungen und Arbeitskämpfe Druckmittel für sie, um von Staat und Kapital wieder an die grünen Tische gebeten zu werden. Ansonsten klebt sie mit Inbrunst an Maßnahmen im ”Rahmen der Legalität” und setzt alle nur erdenklichen Mittel gegen Arbeitermilitanz ein, die darüber hinaus geht. Selbst in noch so krisenhaften Situationen, in denen die wahren Absichten von Kapital und bürgerlicher Politik kaum mehr verhüllt sind, sucht die Gewerkschaftsbürokratie noch nach einem Ausgleich zugunsten des Kapitals, der ihr einen bescheidenen Platz am Katzentisch des Herrschaftssystems lässt.

Doch ist diese verräterische Rolle der Gewerkschaftsbürokratie nichts von außen in die Arbeiterklasse Hineingetragenes. Sie hat ihre Wurzeln im spezifischen bürgerlichen Bewusstsein, wie es in der Arbeiterklasse von vornherein vorhanden ist und durch die imperialistische Epoche in Form von nationalen Modifikationen von Ausbeutungsverhältnissen und der Bildung der Arbeiteraristokratie eine besondere materiell begründete Verstärkung erfährt. Doch ist diese ideologisch-politische Integration der Arbeiterklasse der imperialistischen Länder auf der anderen Seite genauso begleitet von den spontanen Tendenzen in der Arbeiterklasse, ihre Interessen als Arbeiter zu verteidigen – und dies kann ungeachtet der individuellen politischen Sympathien (eigentlich: ungeachtet des Bewusstseins der Arbeiter) gegen den Kapitalismus an sich gerichtet sein.

Diese spontane Tendenz kann in den Gewerkschaften ohne organisiertes Aufgreifen durch revolutionär-kommunistische Kräfte nicht in einen Sturz der Dominanz der Gewerkschaftsbürokratie münden. Sie führt so höchstens zur wiederholten Herausbildung von ”linken Flügeln” in der Bürokratie, die die spontane Arbeitermilitanz wieder in das Projekt der rechten Bürokraten und ihres Ausgleichs mit Kapital und Staat integrieren.

Natürlich müssen die Gewerkschaftsbürokraten Mechanismen entwickeln, um ihre Funktion als Führung der Gewerkschaftsbewegung zu erhalten und daher in Zeiten großen Unmuts verbale Drohungen aussprechen oder gar zu gewissen Kampfmitteln greifen. Diese dienen jedoch nicht dazu, den Kampf auf die höchst mögliche Stufe zu heben, sondern vielmehr die immer wieder hochkochende spontane Arbeitermilitanz einzudämmen und zu kanalisieren, um die Anerkennung seitens der Unternehmer als verantwortungsvolle Wahrer des Kapitalismus nicht zu verlieren.

Der Apparat muss von solchen ”Stimmungsschwankungen” möglichst abgehoben organisiert sein. Das Verhandlungsmonopol der ”Professionalisten” schließt die Entmündigung der Gewerkschaftsmitglieder mit ein. Die Entmündigung der Gewerkschaftsmitglieder entstand historisch mit dem Wachstum der Gewerkschaften. Umso stärker die Gewerkschaftsbürokratie sich gegen die eigenen Mitglieder stellen muss, umso weniger Demokratie gibt es innerhalb der Gewerkschaft.

Umgekehrt: Um so mehr die Gewerkschaften ihr Potential ausspielen müssen, Arbeitskämpfe organisieren, umso mehr gewinnen wieder die Gewerkschaftsmitglieder an Bedeutung gegenüber der Bürokratie. Ein Streik etwa braucht die aktive Beteiligung der Mitglieder. Sie gewinnen und erleben Macht und Bedeutung und lassen sich nicht mehr jede Frechheit von Seiten der Bürokraten gefallen. Dies ist auch ein Grund, weshalb die Gewerkschaftsbürokraten beim Organisieren von Arbeitskämpfen gerne auf der Bremse stehen.

Die kapitalistische Krise zeigt diesen Gegensatz zwischen Arbeitermilitanz auf der einen Seite und dem Existenzkampf der Bürokratie auf der anderen Seite am klarsten. Die Forderung nach Demokratie in den Gewerkschaften ist eine Kampfansage an die Bindung der Gewerkschaftspolitik an die Bourgeoisie; an deren Integration in den bürgerlichen Staat. Gewerkschaftsdemokratie ist wegen des Antagonismus zwischen Bürokratie und Arbeiter eine Klassenfrage: Nämlich welchen Klasseninteressen die Gewerkschaft letztlich dienen soll.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Gewerkschaftsbürokratie vorderhand zur Organisierung von Arbeitskämpfen immer wieder gezwungen ist, wenn sich sonst keine Zugeständnisse der Unternehmer gegenüber den Arbeitern erreichen lassen. Und ohne irgendwelche Zugeständnisse für die Arbeiter kann sich keine Bürokratie auf Dauer halten und würde zumindest von einer anderen Fraktion verdrängt werden.

Der Kampf um Demokratie in den Gewerkschaften kann jedoch nur dann zu einem Bruch der Bindung an die Bourgeoisie werden, wenn er auch mit bestimmten Inhalten verbunden ist. Denn eine demokratische Gewerkschaft hat noch lange nicht das bürgerliche Bewusstsein innerhalb der Arbeiterklasse überwunden. Sie wird bloß direkter und in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und Dynamik das Bewusstsein der Arbeiter und Angestellten repräsentieren. Entscheidend ist jedoch, welches politische Programm, welche politische Gruppierung sich durchsetzt.

Fraktionen der Gewerkschaftsbürokratie

Innerhalb der Gewerkschaftsbürokratie gibt unterschiedliche Fraktionen; d.h. Gruppierungen, die jeweils einen unterschiedlichen, längerfristigen Weg der Gewerkschaften vorschlagen. Fraktionen einigt eine mehr oder weniger konsistente Perspektive, wie es mit der Einheitsfront ”Gewerkschaft” weitergehen soll bzw. in manchen Ländern auch eine Bindung an eine bestimmte politische Partei.

Auf dem europäischen Kontinent, wo es Arbeiterparteien gibt, haben diese oft ihre eigenen Gewerkschaftsverbände (wie etwa in Italien oder Frankreich). Hier fallen die Fraktionen mit Gewerkschaftsverbänden zusammen – was freilich nicht ausschließt, dass es innerhalb derselben wiederum Subfraktionen gibt. In Deutschland und Österreich wiederum gibt es ”Einheitsgewerkschaften”, in denen verschiedene Parteien ihre Ableger haben. Im ÖGB etwa sind dies die ”Gewerkschaftsfraktionen”. In der BRD übt der sozialdemokratische Reformismus seinen dominierenden Einfluss u.A. durch das Bestehen auf die “parteipolitische Neutralität” der Gewerkschaften und den Kampf gegen die Formierung politischer Opposition von links aus.

In den letzten 50 Jahren waren die perspektivischen Unterschiede der Fraktionen in Österreich nicht gerade groß, da sich alle (2) zur Sozialpartnerschaft entweder offen (FCG-ÖAAB, FSG) bekannten oder diese de facto anerkannten (GLB und GE).

In den letzten 15 Jahren, der Zeit der Todesagonie der österreichischen Sozialpartnerschaft, entstanden unter den Arbeitern besondere Mythen, weshalb die Gewerkschaftsbürokratie keine Kampfmaßnahmen gegen sinkenden Lebensstandard und bürgerliche Angriffe organisierte. Diese Mythen waren fraktionell: ”Gegen eine rote Regierung streikt keine rote Gewerkschaft; gegen eine schwarze keine schwarze”. Doch in Wirklichkeit war hier nicht die Farbkombination verantwortlich, denn keine Gewerkschaftsfraktion sah sich veranlasst, den Weg der Sozialpartnerschaft zu verlassen und dementsprechend gering waren oft die fraktionellen Unterschiede in der Gewerkschaftspolitik.

Eigentlich votierten die Arbeiter bei Wahlen für die FSG (die weitaus stärkste Fraktion) trotz ihrer bürokratischen Verfilzungen, da sie die Führung der Gewerkschaften und der sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen auf Arbeiterseite bestritt und gleichzeitig eine enge Verbindung zwischen Partei- und Gewerkschaftsspitze bestand. Die Verbesserungen im Lebensstandard der Arbeiterklasse wurden daher der Rolle der Sozialdemokraten zugeschrieben. Die enge Bindung zwischen der Führung der Gewerkschaften sowie des ÖGB und der Sozialdemokratie bedeutet, dass in den gewerkschaftlichen und betrieblichen Wahlen sowohl die Erfahrung von herausgeholten Errungenschaften als auch die Bindung zur SPÖ als Partei eine Rolle spielen.

Die Unterschiede zwischen der FSG und etwa dem ÖAAB/FCG spiegelte sich bezeichnenderweise weniger in den Fachgewerkschaften wider, wo es um die Anliegen der Beschäftigen einzelner Branchen ging, sondern dort, wo die Gewerkschaften auf die eigentliche politische Ebene Bezug nahmen. Das war und ist auch ein Unterschied der FSG zur FCG oder der FA, die Anhängseln offen bürgerlicher Parteien sind. Natürlich gibt auch die FCG Anliegen der Arbeiter auf ”ihre” Partei weiter, nur ist die ÖVP solcherart, dass ihr ”Arbeitnehmerflügel” in der Partei keine zentrale Rolle spielt und immer wieder ins Hintertreffen gegenüber dem Wirtschaftsbund und der Industriellenvereinigung gerät.

Was Gewerkschaftsideologie im engeren Sinn betrifft, gibt es zwischen FSG und FCG keine qualitativen Unterschiede. Es gibt keine spezifische Ideologie der FSG, die sie vor den anderen Fraktionen als für die Gewerkschaften tauglicher auszeichnet. Es ist die Beziehung zwischen Arbeitern und Partei, die der FSG ein anderes Gesicht verleiht und sich damit auch auf deren Ideologie im engeren Sinne auswirkt.

So gibt es etwa auch keinen spezifischen Antirassismus der FSG. In wichtigen Fragen betreibt die FSG eine chauvinistische Gewerkschaftspolitik. Sei es, dass den Immigranten noch immer das passive Betriebsratswahlrecht vorenthalten wird, sei es, dass die FSG die restriktiven Ausländergesetze des SP-Innenminister Löschnak in den frühen 1990er Jahren unterstützte, sei es, dass führende FSG-Gewerkschaftsfunktionäre (wie etwa ÖGB-Vizepräsident Nürnberger) vor der Osterweiterung der EU warnen, da damit ein Verdrängungswettbewerb am Arbeitsmarkt zu befürchten sei; sei es, dass der Vorsitzende der HGPD (Gewerkschaft Hotel-Gastgewerbe-Persönliche Dienste), Rudolf Kaske, die Saisonier-Regelung der ÖVP-FPÖ-Regierung als zu freizügig ablehnt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Die chauvinistische Gewerkschaftspolitik der FSG ist jedoch nicht mit der der FCG, geschweige denn der FA, gleichzusetzen. So ist die FSG in vielen Bereichen und Betrieben auf die Unterstützung (z.B. bei Wahlen) der ausländischen Kolleginnen und Kollegen angewiesen und muss sie in verschiedener Weise (z.B. durch bestimmte Betreuungseinrichtungen oder Beiräte) in die Gewerkschaft integrieren. Die FSG ist daher zum Spagat zwischen den chauvinistischen Positionen und dem Versuch einer Einbindung ausländischer Kollegen gezwungen. Dieser Spagat zeigt sich sowohl in der SPÖ als auch in der FSG. In beiden finden sich Mitglieder, die den rechten, chauvinistischen Kurs fahren – wie etwa der ehemalige Innenminister Schlögl -, als auch solche, die sich am Kampf gegen den Rassismus aktiv beteiligen. Offiziell gilt der “Rassismus” jedenfalls als etwas, das man ablehnt.

Die zentrale Quelle des Rassismus und Chauvinismus der Sozialdemokratie ist einerseits die Konkurrenz zwischen ausländischen und inländischen Arbeitskräften in Österreich und andererseits die Verteidigung des ”Standortes” Österreich. In typisch reformistischer Manier wird versucht, den ihn als den besten zu verkaufen, anstatt einen offensiven Kampf für die grenz- und nationsübergreifende Solidarität zu beginnen und den gemeinsamen Feind in der Bourgeoisie hüben wie drüben zu sehen.

Um den Dialog mit den Unternehmern nicht zu gefährden, waren jahrzehntelang die ausländischen Arbeitskräfte die Verschubmasse, mit der man versuchte, die österreichischen Arbeitskräfte zu schützen. Heute sind die ausländischen Kollegen daher vielfach aus den Kernbereichen der Industrie verdrängt. Diese Gettoisierung und des Verbot, als ausländischer Beschäftigter die Beschäftigten im Betriebsrat zu vertreten (kein passives Betriebsratswahlrecht) sind ein Boden, auf dem Vorurteile und Rassismus wachsen können.

Doch diese Standortpolitik gerät auch immer wieder in Widersprüche. Heute erfordert die ”Globalisierung” mehr und mehr eine grenzübergreifende Tarifpolitik. Andererseits gibt es mit der Integration der EU ebenfalls die Herausforderung an die Gewerkschaften, hier eine koordinierte Vorgangsweise zu finden. Als führende Kraft in den österreichischen Gewerkschaften müssen in der FSG sowohl chauvinistisch-rassistische Elemente, wie auch diesem entgegenwirkende Tendenzen wirksam werden.

Dennoch ist auch etwa die ”Standortverteidigung” der FSG, die vermeintlich im Interesse der ”österreichischen” Arbeiter geschieht, nicht mit dem offenen Rassismus der ”Freiheitlichen”. Erstere verwenden die Spaltung, um die Interessen einer Sektion der Arbeiterklasse auf Kosten einer anderen zu verteidigen, zweitere haben die Zurückdrängung der Organisationen der Arbeiterbewegung im Sinn, um eine möglichst weit gehende Flexibilisierung und Anpassung nach unten – im Sinne der Unternehmer – zu ermöglichen.

Es mag die Politik der SPÖ rassistisch sein – schlimm genug – aber die FA ist im Gegensatz zur FSG – die Gewerkschaftsfraktion einer rassistischen Partei. Das ist in der Tat der hier relevante Unterschied der FA zur FSG. Denn es macht einen Unterschied, ob bürgerliche Parteien die Diskriminierung von Immigranten etwa administrieren helfen, in Gesetze gießen oder ob sie die Bevölkerung gegen ”die Ausländer, Asylanten, Immigranten” zu mobilisieren sucht, wie dies die FPÖ 1992/93 mittels des Volksbegehren ”Österreich zuerst” versuchte. Für die FPÖ ist der Rassismus (dann oft ”Ausländerproblem” genannt) konstitutiv, identitätsstiftend.

Das macht die Gefährlichkeit der FPÖ in der Arbeiterklasse aus. Eine rassistische Partei ist nicht bloß irgendeine bürgerliche Partei. Sie steht für die Zersetzung jeglichen – und sei es noch so diffusen – Klassenbewusstseins und der Klassensolidarität.

Die FA – eine besondere Fraktion

Dass sich die FA-Mandatare an der ”normalen” Gewerkschaftsarbeit beteiligen, und was sie da eigentlich machen, ist für den Kampf gegen den Rassismus innerhalb der Gewerkschaften eine wichtige Frage, nämlich dann, wenn es um die Taktiken dieses Kampfes geht. Aber die ”normale” Gewerkschaftsarbeit gibt keinen direkten Aufschluss über die strategischen Ziele der FA. Diese sind nicht von der FPÖ zu trennen.

Strategisches Ziel der FPÖ war es seit Haiders Übernahme dieser Partei 1986, den Einfluss der Gewerkschaften in Staat und Gesellschaft zurückzudrängen und den Sozialstaat abzubauen. Die FPÖ trat dabei nicht nur aggressiv gegenüber dem ÖGB und der SPÖ auf, sondern – bis zuletzt – auch gegenüber der ÖVP. Aus einem einfachen Grunde: Die Führungskrise in Form der Spaltung der österreichischen Bourgeoisie in einen konsensorientierten und konfliktorientierten Flügel musste erst gelöst werden. Dies geschah auch im Großen und Ganzen, natürlich nicht nur wegen des Geschick Haiders sondern weil die internationalen Konkurrenzverhältnisse dies der österreichischen Bourgeoisie als Hausaufgabe stellte.

Im Kampf gegen die Gewerkschaften musste die FPÖ einen Mix an Taktiken verwenden, um die Effizienz zu steigern – nicht zuletzt, um den Unternehmern zu beweisen, dass man mit den Gewerkschaften fertig werden kann, zumindest die Sozialpartnerschaft sprengen kann, ohne den ÖGB siegreich auf der Straße und in breiten Streik zu bekommen. Der Ausgang ist hier freilich noch offen, aber die FPÖ hat es zumindest geschafft, dem Großteil der Bourgeoisie einen Weg aus der Sozialpartnerschaft heraus zu weisen.

Gegenüber der Arbeiterbewegung schoss sich die FPÖ Mitte der 1990er Jahre vor allem auf die AK, die Pflichtmitgliedschaft und auf die AK-Bonzen mit ihren Mehrfachfunktionen ein. 1994 musste der AK-Präsident zurücktreten, aber die AK konnte die Pflichtmitgliedschaft mit einer Urabstimmung retten. Der nächste relevante Schritt erfolgte 1998 mit der Gründung eines gelben Gewerkschaftsverbandes, der ”Freiheitlichen Gewerkschaft Österreichs” (FGÖ). Diese blieb ein Flop, zählte nie mehr als 1.000 Mitglieder, darunter Unternehmer und Haider selbst und erlangte keine Kollektivvertragsfähigkeit. Aber der Druck reichte aus, um die sozialdemokratische Gewerkschaftsbürokratie zu bewegen, im ÖGB der FA Fraktionsrecht zuzugestehen und diese in den Bundesvorstand des ÖGB aufzunehmen.

Seitdem existieren FGÖ und FA ungeniert nebeneinander, als ob es kein Widerspruch wäre, sowohl innerhalb als auch außerhalb des ÖGB zu sein. Und tatsächlich ist dies für das strategische Ziel der FPÖ, die Gewerkschaften in die Bedeutungslosigkeit zu boxen, kein Widerspruch. Die FGÖ gefährdet die Einheit der Gewerkschaft, die FA den Kampfwillen des ÖGB. Heute ist die FGÖ nahezu bedeutungslos und die FA gefährlicher.

Die Strategie der FPÖ gegenüber der Gewerkschaftsbewegung zeigt die FA in einem anderen Licht, als sie sich gegenüber den Arbeitern und Gewerkschaftsmitglieder darstellt: Als Agent einer (noch zu schaffenden) ”gelben” Gewerkschaft.

Das ist den FA-Anhängern großteils nicht bewusst. Die FA-Funktionäre und erst recht deren Mandatare konnten sich außerdem ein Stück weit in die ÖGB- Bürokratie integrieren, sie wurden ”etwas” – auch mit materiellen Vorteilen. All das haben sie auch deswegen bekommen, weil ein Teil der Kollegen eine Erwartungshaltung hat (und sie gewählt hat); diese Erwartungshaltung können sie nicht vollständig ignorieren. Die Routine der Gewerkschaftsmaschinerie überträgt sich auch auf die FA und lässt für deren Vertreter eine Zukunft außerhalb des ÖGB, in einer gelben oder gar keinen Gewerkschaft immer ferner und theoretischer erscheinen.

Eine gewisse Verankerung erreichte die FA bei der Gemeinde Wien – Wiener Verkehrsbetriebe (Straßenbahnbahnhof Hernals), innerhalb der Exekutive (vor allem bei der Wiener Polizei), sowie bei Post und Telekom.

Grundlagen ihres Erfolges

Die Polizisten sind ein Sonderfall aus mehreren Gründen. Durch ihre spezielle Rolle als Repressionsorgane des bürgerlichen Nationalstaates und ihrer daraus resultierenden besonderen Bindung an die bürgerliche Herrschaft, sind sie nicht der Arbeiterklasse zuzurechnen, so wie ihre ”Gewerkschaften” spezielle, reaktionäre Standesvertretungen sind. Es ist ein reaktionäres Projekt der Gewerkschaftsbürokratie und Ausdruck ihrer Integrationsbemühungen in Bezug auf den Staat, ”Polizeigewerkschaften” in die Reihen der Gewerkschaften aufzunehmen.

Es ist kein Wunder, dass die FPÖ gerade in dieser Scheingewerkschaft besondere Unterstützung fand. Dies ist die einzige Berufsgruppe, wo gleichzeitig die FGÖ eine Verankerung hat. Hier gibt es eine eigene ”Polizeigewerkschaft”, die AUF. In manchen Dienststellen erlangte die AUF, die gleichzeitig auf der Personalvertretungsebene kandidiert und Mandate besetzt, die Mehrheit. Die AUF tritt als rechte (und rassistische) Schutzmacht der Polizisten auf. So kündigte die AUF an, Leute, die die Polizei wegen Übergriffe klagen wollen, selbst mit Verleumdungsklagen einzudecken.

Dies richtete sich oft gegen Immigranten (die häufigsten Opfer von Polizeiübergriffen), aber natürlich genauso gegen Demonstranten und Linke. Selbstverständlich kam es von Seiten der AUF zu keinerlei Kritik der rassistischen Morde der Exekutive (1999 – Omofuma; 2000 – ein halbes Dutzend Tote durch ”Polizeibehandlung”). Die Polizei wird in diesen Fällen immer als die ”Unverstandenen”, von linken Medien gehetzte dargestellt, die von den herkömmlichen Gewerkschaftsfraktionen nicht ausreichend geschützt wird. Die AUF entstand früher als alle FA-Formationen und artikuliert spezifische Ansprüche des Repressionsapparats.

In Frankreich etwa gibt es ebenfalls eine rassistische Gewerkschaftsformation, mit Naheverhältnis zu der FN. Sie organisiert einen Teil der Kontrolleure bei den öffentlichen Verkehrsmittel, die bei ihrer Berufsausübung vorgeblich oft mit Immigranten ohne Fahrscheine zu tun haben. Dies geht in eine ganz analoge Richtung. So etwas wie die AUF würde es vermutlich auch ohne FGÖ und FA geben, also ohne des Versuchs der einer gewerkschaftsfeindlichen, rassistischen Partei, die Gewerkschaftsbewegung auch von innen her zu schwächen.

Was ist aber nun typisch für die Verankerung der FA außerhalb des unmittelbaren Repressionsapparates? Hierbei fällt auf, dass dies Branchen mit bis zu 100% gewerkschaftlicher Organisierung sind – öffentlicher Dienst ”staatsnahe Betriebe”. Dies sind Hochburgen der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie (3), wo diese auch eine besonders starke Stellung gegenüber dem eigentlichen Management besitzt. Bei der Post, der Telekom und der Gemeinde Wien etwa werden Managementfunktionen (z.B. Personalpolitik) von der Gewerkschaft mitbesorgt (natürlich inoffiziell). Dementsprechend autoritär und repressiv treten die SP-Bürokraten auf der anderen Seite gegenüber den Kollegen auf (4).

Die Repression der SP-Bürokratie in den staatsnahen Betrieben und ihre Verflechtung mit dem Management sind wichtige Faktoren, um die hier – im Vergleich zu den anderen Gewerkschaften – erreichte Verankerung der FA zu erklären. Innerhalb der GdE (Gewerkschaft der Eisenbahner) z.B. hat sich die FA nicht verankern können. Nun mag die ökonomische Zukunft der ÖBB (Österreichische Bundesbahnen) auch immer schwieriger werden (nicht zuletzt durch die Bürgerblockregierung), aber die ÖBB war bislang nicht von einen vergleichbaren Crash-Kurs in die Privatisierung bedroht, wie Post, Telekom oder Stadtwerke-Verkehrsbetriebe.

Die FA-Verankerung ist charakteristisch für eine Situation des Verfalls; für eine Situation des Untergangs, in der die existierende reformistische Gewerkschaftsführung, gerade wegen ihrer bisherigen Macht und Einbindung in betrieblichen Entscheidungen, keine Opposition zu Rationalisierung und Abbau entwickelt und den ”wirtschaftlichen Sachzwängen” (5) hilflos ausgeliefert gegenübersteht.

In dieser Situation braucht die FA bloß den Finger auf die schwachen Stellen der FSG-Bürokraten zu legen und kann damit punkten. Es ist für die FA zunächst gar nicht notwendig, mit rein rassistischen Kampagnen daherzukommen. Und das ist nicht nur in den (selten erscheinenden) FA-Publikationen der Fall, sondern auch bei ihren (noch selteneren) Veranstaltungen. Vor allem bei letzteren geht es ihnen darum, zu beweisen, wo die FSG zum Schaden der Kollegen mit dem Management zusammengearbeitet hat. Da die FSG dies tatsächlich oft tat, braucht die FA nicht viel mehr zu tun, als Anliegen der Kollegen aufzugreifen und der Defensive der Gewerkschaftsbürokratie gegenüberzustellen.

Deswegen gehen einige unmittelbare Forderungen der FA von tatsächlichen Problemen der Kollegen aus. Was die FA dann natürlich völlig unbeantwortet lässt, ist die Frage, wie die Anliegen der Kollegen umgesetzt werden sollen. Darin sind oft auch FSG, GLB, FCG und UG/AUGE vage. Aber diese Fraktionen argumentieren zumindest immer wieder mit ”gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen”. Auch wo diese wegen des Drucks der Kollegen dann stattfinden, werden sie von der FA als ”reiner Funktionärsstreik” diffamiert.

Doch das ist nicht das einzige Charakteristikum. Die FA ist auch ausgesprochen ”unpolitisch”, in dem Sinne, dass sie z.B. Druck von Seiten der Gewerkschaft auf das Parlament nicht kennt bzw. ablehnt. Wenn es z.B. um die unterschiedliche Arbeitszeit zwischen Beamten und Angestellten geht, dann hört plötzlich die Zuständigkeit der Gewerkschaften auf, denn das sei Sache der Politik. Auch die FCG ist zurückhaltender als die FSG, wenn es um darum geht, über die Gewerkschaften Forderungen an Parteien oder Gebietskörperschaften stellen. Aber die FA schießt in dieser Hinsicht den Vogel ab und das ist nur die andere Seite von der oben beschriebenen Tatsache, dass innerhalb der FPÖ Arbeiterinteressen keine Rolle spielen, Arbeiter als Arbeiter keinen Druck auf die FPÖ ausüben können – völlig unabhängig davon, ob die FPÖ sich gerade als Schutzherr der ”kleinen Leute” und hart arbeitenden Bauarbeiter darstellt.

Dieser betont unpolitische Touch ist vor allem Niedergang und Passivität der Reformisten geschuldet. Aber auch die FA kann in die Defensive kommen; dann nämlich, wenn die Gewerkschaftsfunktionäre sich gezwungen sehen, Arbeitskämpfe, Klassenkampf zu organisieren. Sei es gegen die Unternehmer oder gegen deren verallgemeinerten Ausdruck, die Regierung. Damit wird es für die FA eng werden, denn weder können sie Streiks gegen die Regierung unterstützen, ohne aus der FPÖ geworfen zu werden, noch können sie verhindern, dass die meisten Kollegen in solchen Situationen Vertrauen in die FSG wieder finden und diesen gegenüber eine Erwartungshaltung einnehmen.

Und in einer solchen Situation wird die FA unweigerlich als gelbe Gewerkschaftsfraktion agieren, die Arbeitskämpfen oder gar politischer Arbeitermilitanz unmittelbar in den Rücken fällt. Schon heute müsste es allerdings den passiven Unterstützern dieser Fraktion klar sein, dass die vorgeblich ”unpolitische” Ausrichtung der FA eine Maskerade ist. Wer aus ihrer Verbindung zu den rechts-nationalistischen, neoliberal-radikalen Haider, Grasser etc. nicht den Schluss auf ihren letztlich gewerkschaftsfeindlichen Charakter schließen kann, muss allerdings schon mit einiger Blindheit geschlagen sein.

Die Rolle von SPÖ und FSG

Was wir gerade für das Kräfteverhältnis FSG – Masse – FA (oder zwischen Arbeitskampf und FA) für einige Betriebe und Fachgewerkschaften gesagt haben, gilt erst recht für die Gesamtgesellschaft. Denn wiewohl die FA in einigen Gewerkschaften eine Verankerung aufbauen konnte, so hat die FA und die FPÖ auf der rein elektoralen Ebene im branchenübergreifenden Bereich weitaus größere Erfolge. Zum Beispiel bei AK-Wahlen und erst recht bei Nationalratswahlen – und hier selbst dann, wenn man Bourgeoisie, Kleinbürger und Mittelschichten abzieht.

Hier – bei den jüngsten Nationalratswahlen – votierten mehr als 50% der manuellen Arbeiter für eine rassistische Partei. Und bei den Wahlen zu Gebietskörperschaften setzt die FPÖ – im Gegensatz zur FA – auf offen rassistische Hetze. Wie konnte diese innerhalb der österreichischen Arbeiterklasse eine Legitimation erlangen?

Einige Autoren (6) stellten die These auf, dass der Rassismus eine Haltung ist, um durch die Sozialpartnerschaft kampflos erworbenen Reichtum gegenüber Fremden zu verteidigen. Da wird dann oft ins Feld geführt, dass Österreich das ”siebt-reichste” Land sei und dass anders die FP-Erfolge nicht zu erklären sein. Richtig wird hier ausgeführt, dass die Kampflosigkeit der Sozialpartnerschaft die Erfahrung von Solidarität, von gemeinsamen Erfolgen von in- und ausländischen Arbeitern in Österreich weitgehend nicht gemacht werden konnte.

Falsch wird in diesen von dem demokratisch-humanistischen Kleinbürgern bevorzugten Erklärungen die zweite Komponente die Phase der Sozialpartnerschaft dargestellt. Denn es ist keineswegs der ”Reichtum”, oder die Glanzphase der Sozialpartnerschaft, die mit Erfolgen einer rassistischen Partei einherging, sondern gerade umgekehrt, das Verlieren von ”Reichtum”.

Seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und vor allem in den 1990er Jahre sank der Lebensstandard der Arbeiterklasse. Die Reallöhne gingen zurück, wenn man die Kürzungen beim ”Soziallohn” (diverse Sparpakete von Vranitzky bis Klima) miteinberechnet. Noch wichtiger: Nicht nur Wohnen wurde durch verschiedene Mietrechtsnovellen wesentlich teuerer und unsicherer (oft befristet), auch die Arbeitsplatzsicherheit ging merklich zurück. Die Arbeitslosenquote blieb zwar unter dem EU-Schnitt, aber um welchen Preis? Nämlich die rapide Zunahme erzwungener Flexibilität (Fluktuation). Nur noch rund 1/3 der angemeldeten Lohnabhängigen hat eine dauerhafte Anstellung.

Die österreichische Sozialpartnerschaft schuf immerhin knappe 40 Jahre lang Vorteile für die vor allem männliche und inländische Arbeiteraristokratie (Facharbeiter, Vorarbeiter in Großbetrieben) und einen Ausbau des Soziallohns mit dem Preis, dass die Gewerkschaften sich von politischen Mobilisierungen fernhielten und Streiks eine völlig untergeordnete Rolle spielten. Es stimmt, die Notwendigkeit und den Nutzen von gegenseitiger Solidarität zwischen in- und ausländischen Kollegen im Arbeitskampf haben die Österreicher viel weniger die Gelegenheit gehabt zu lernen, als etwa die deutschen oder gar die französischen Kollegen.

Aber erst in den 1990er Jahren brachte die Sozialpartnerschaft auch der Arbeiteraristokratie keine Verbesserungen mehr, von den Arbeiterschichten darunter gar nicht zu sprechen. Einem ”erfolgreichen” Bürokraten lässt man den lukrativen Aufsichtsratsposten noch durchgehen; einer Gewerkschaftsbürokratie, die als einzige Gesellschaftsschicht von der Sozialpartnerschaft noch Vorteile genießt, nicht mehr.

Die Gewerkschaft der Eisenbahner ist hier sehr aufschlussreich. Obwohl es in ihr keine Verankerung der FA gab, habt ein großer Anteil der Kollegen am 15. Oktober blau gewählt. Vor der Anhebung des Pensionsantrittsalters durch die ÖVP-FPÖ-Regierung haben diese Kollegen angekündigt, erst dann der Gewerkschaftsführung ihre Beiträge zukommen zu lassen, wenn diese endlich zu kämpfen beginnt gegen die dauernden Verschlechterungen. Auch bei den AK-Wahlgängen nach der Blau-Schwarz-Regierungsbildung gewann die FSG von der FA Stimmen zurück – hochgerechnet haben hier ein ganzer Pack jener Kollegen wieder FSG gewählt, die ein halbes Jahr vorher FPÖ gewählt haben – die AK-Wahlen fielen in die Monate, als die FSG und der ÖGB Betriebsversammlungen organisierten und Streiks ankündigten.

Kurz gesagt: Der Einfluss der FPÖ in der Arbeiterklasse ist der Schimmelpilz auf der zu Tode faulenden Sozialpartnerschaft.

Freilich wäre es zu einfach, daraus den Schluss zu ziehen: Ist die Sozialpartnerschaft einmal weg, gibt es wieder Arbeitskämpfe, schwindet auch der Rassismus gänzlich dahin. Wenn auch die Sozialpartnerschaft in ihrer alten Form verschwindet, so heißt dies nicht, dass sich die Gewerkschaftsbürokratie nicht wieder an die neuen Verhältnisse anpasst, Mobilisierungen so gut als möglich abwürgt und vornehmlich versucht wieder als ”Verhandlungspartner” akzeptiert zu werden.

Unweigerlich würde dies zu einem weiteren starken Verlust an gesellschaftlicher Bedeutung führen, und die Kampfkraft der Gewerkschaften noch weiter mindern. Andererseits wurde die Arbeiterklasse selbst, durch das Erstarken rassistisch-nationalistischer Ideologie in ihren Reihen entscheidend gespalten und geschwächt. Dies wurde nicht zuletzt durch rassistische Elemente der SPÖ-Politik selbst befördert, hat sich aber durch die Akzeptanz einer rechts-nationalistischen, offen rassistischen Parteien als reaktionäres Bewusstsein in einem gewichtigen Teil der österreichischen Arbeiterklasse festgesetzt, was nicht wieder so schnell wegzubekommen ist.

Schließlich gibt es für die FPÖ die Option, mit dem Ende der Sozialpartnerschaft zunehmend Rassismus und Nationalismus einzusetzen, um den Widerstand gegen den Abbau des Sozialstaates von innen her, in den ”Köpfen und Herzen” zu zersetzen. Deswegen muss ein politischer Kampf um diese ”Köpfe und Herzen” begonnen werden.

Dabei wird es weder ausreichen, zusammen mit der FSG-Bürokraten gegen die FP-Rassisten innerhalb der Arbeiterklasse aufzutreten, noch bloß eine klassenkämpferische Perspektive in Abgrenzung zur sozialpartnerschaftlichen Praxis aufzuzeigen. Man muss vielmehr den Kollegen an Hand von Beispiele geradezu ”beweisen”, dass eine erfolgreiche Neuorientierung der Gewerkschaftspolitik frei vom sozialpartnerschaftlichen Zurückweichen ohne einem konsequenten Kampf gegen den Rassismus unmöglich ist.

Wie kann der Rassismus überwunden werden?

Der Kampf gegen den Rassismus kann nur gewonnen werden im Rahmen einer wirklichen proletarischen Klassenbewegung, der die gegenwärtigen Beschränktheiten der Gewerkschaften und ihre Bindungen an bürgerlichen Staat und Sozialdemokratie bricht. Dies bedeutet einerseits die Notwendigkeit der Politisierung der gewerkschaftlichen Kämpfe, den Einsatz gewerkschaftlicher Kampfmittel für politische Zielrichtungen. Es bedeutet des Weiteren die Demokratisierung der Gewerkschaftsstrukturen, die Aktivierung der Mitgliedschaft auf allen Ebenen und die Unterstützung statt Demobilisierung von Basis-Spontaneität.

Es bedeutet vor allem aber eine Internationalisierung der Kämpfe gegen die kapitalistische Krisenpolitik, gegen das Ausspielen verschiedener nationaler Arbeiterklassen gegeneinander. Solange nicht klar ist, dass die Arbeiter nur durch die Aufhebung ihrer internationalen Konkurrenz untereinander gegenüber den neuen Kapitalstrategien der ”Globalisierung” eine Erfolgschance haben, werden weder die Gewerkschaften aus ihrer Defensive kommen, noch kann dem Rassismus der Boden entzogen werden.

Eine solche Richtungsänderung der Gewerkschaften kann freilich nicht ohne eine starke gewerkschaftliche Opposition unter kommunistischer Führung auch nur auf die Tagesordnung gesetzt werden. Eine solche Opposition muss sowohl Front beziehen gegen die Führung der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie als auch gegen die gelben, rassistischen Kräfte in den Gewerkschaften. Nur eine konsequente Entlarvung der Demobilisierungspolitik, der Orientierung auf staatstragende Funktionen, der Untauglichkeit der ”Standortverteidigung”, der undemokratischen, deaktivierenden Strukturen etc. der Gewerkschaftsführung kann gleichzeitig der demagogischen Politik der rassistischen Pseudo-Gewerkschaftsströmungen ihr Lebenselixier, ihre angebliche ”Bürokratiekritik”, genommen werden.

Ein zentrales Moment dieser Politik muss die Aktivierung der Immigranten unter den Beschäftigten und Gewerkschaftsmitgliedern sein, der Kampf für volle politische und betriebliche Rechte, wie z.B. das passive Wahlrecht zur Arbeiterkammer. Der rassistische Ausschluss vieler Immigranten von Funktionen in der organisierten Arbeiterbewegung ist ein zusätzlicher Verstärker für den Rassismus in der Arbeiterbewegung und erschwert gemeinsame Kampferfahrungen. Überhaupt ist das Recht auf eigenständige Vertretung und Organisierung von Immigranten und Immigrantinnen ein wichtiges Moment, um diesen Teil der Arbeiterklasse als eigenständig agierendes Subjekt in den Gewerkschaften und der Arbeiterkammer zu stärken.

In konkreten Kämpfen und Mobilisierungen wird sich notwendigerweise die Frage der Einheitsfront mit den reformistischen Gewerkschaftsbürokraten stellen – sowohl um die Kämpfe voranzutreiben, wie auch um die Bürokratie im Kampf zu entlarven. Dies sind auch die besten Gelegenheiten, um sowohl die einheitlichen Interessen von in- und ausländischen Kollegen in praktischer Solidarität zu beweisen wie den ”gelben” Charakter der rassistischen Pseudo-Gewerkschafter offen klarzulegen. Letztlich kann eine solche Opposition diese Orientierung bei den Kollegen nur dann anbringen, wenn sie eine politische Alternative zur alten ”Sozialpartnerschafts”-Perspektive, wie Neuer-Mitte-Orientierung, wie rassistischer Spalterpolitik bietet, d.h. eine konsequent anti-kapitalistische und internationalistische Perspektive verfolgt.

Unter dieser Perspektive ist klar, dass es eine irgendwie geartete Zusammenarbeit mit offen rassistischen oder gar faschistischen Strömungen in der Gewerkschaft nicht geben kann. Diese sind direkte und verräterische Instrumente des Kapitals in der Arbeiterklasse selbst, getragen von einem zwar irregeleiteten, aber nichts desto weniger reaktionären Bewusstsein eines Teils der Arbeiterklasse. Diese Organisationen müssen aus der Gewerkschaft verschwinden, soll sie in ein wirksames Kampfinstrument sein.

Faschisten – also jene Leute, die sich mit staatlicher Gewalt nicht zufrieden geben und mit physischer Gewalt vorgehen, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen – müssen mit allen Mitteln, mit physischer Gewalt, ja sogar mit der Betreibung von Entlassungen etc. bekämpft werden. Denn jede Erfahrung mit Faschisten zeigt, dass es hier nur ein ”wir oder ihr überlebt” gibt.

Dagegen muss bei offen rassistischen Strömungen der Ausschluss aus den Gewerkschaften offensiv betrieben werden, sowohl durch gezielte Kampagnen, die begründen, warum es für Rassisten in den Gewerkschaften keinen Platz geben kann, als auch durch praktische Entlarvung ihrer wirklichen Funktion. Hier darf es kein Grund zum Zurückschrecken sein, dass die reformistische Gewerkschaftsbürokratie auch für (halbherzige) Maßnahmen gegen offene Rassisten eintritt. Das Festsetzen reaktionärer rassistischer Organisationen in den Gewerkschaften ist die größere Gefahr. Es wäre ein ultra-linker Fehler gegen diese rassistischen Strömungen deshalb kein Ausschluss-Kampagnen zu führen, weil die Gewerkschaftsbürokratie ”genauso rassistisch” sei. Im Gegenteil, es muss in solchen Kampagnen die Halbherzigkeit der Gewerkschaftsbürokratie bei der Bekämpfung dieser Rassisten angegriffen werden, wie auch ihre eigene, den Rassismus befördernde Politik.

Eine nächste Herausforderung stellt die EU-Osterweiterung dar, wo der reaktionäre Widerstand der österreichischen Gewerkschaften durch einen Kampf für offene Grenzen und für die Ausweitung der weitest gehenden tariflichen und gesetzlichen Rechte der EU-Arbeiter auf Osteuropa ersetzt werden muss.

All dies erfordert, dass die Anti-Rassisten und Internationalisten in der Gewerkschaft aufhören, über die rechte Politik der Gewerkschaftsführung bloß zu jammern und sie in ihrem Zusammenhang mit dem Festsetzen rassistischer Organisationen in der Arbeiterklasse schön analysieren, sondern dass sie endlich mit der konsequenten Organisierung einer anti-rassistischen, internationalistischen und anti-kapitalistischen Opposition in den österreichischen Gewerkschaften beginnen.

 

Fußnoten

(1) Vgl. Trotzki: ”Trade Unions in the Epoch of Imperialist Decay”, New Park Publications, London 1972, Zitat Seite 5f.

(2) ÖAAB = Österreichischer Angestellten und Arbeiterbund. Diese Fraktion unterstützt die ÖVP. Historische Vorläufer war die Angestellten-Gewerkschaft vor 1934 und ”gelbe” Unternehmer-Gewerkschaften vor 1938. Nach 1945 gab es allerdings keine ”gelben” Reste im ÖAAB. Allerdings war in verschiedenen Konflikten der ÖAAB zu ÖVP-nahe, weshalb sich in den 1970er Jahren der FCG abspaltete.

FCG = ”Fraktion christlicher Gewerkschafter”, der eine linkskatholische Variante der ”katholischen Soziallehre” und der ”christlichen Arbeiterbewegung” wieder aufnehmen wollte. In den 1990er Jahren gab es kaum Differenzen zwischen ÖAAB und FCG und so kandidieren beide nie gegeneinander, vielmehr gibt es in einigen Wahlkörpern den ÖAAB und in anderen den FCG.

FSG = Fraktion der sozialdemokratischen Gewerkschafter. SPÖ-Fraktion innerhalb des ÖGB.

GE = Gewerkschaftliche Einheit; War bis 1968 die KP-Fraktion; wurde von Kritikern des Einmarsches der Warschauer Pakt-Truppen in die CSSR dominiert und spaltete sich daraufhin von der KP ab. Wurde in den 1980er und 1990er Jahren zunehmend von ”grünen” Gewerkschaftern dominiert.

GLB = Gewerkschaftlicher Linksblock. Neugründung der KPÖ nach der Abspaltung der GE.

(3) In einem Teil des Öffentlichen Dienstes, nämlich der Hoheitsverwaltung, handelt es sich um die FCG-Bürokratie.

(4) So drohte der FSG-Obmann zu dem Stimmengewinner des GLB bei den Personalvertretungswahlen 1998 beim Postamt 1230, dass alle die GLB gewählt haben, bei den nächsten Wahlen nicht mehr bei der Post beschäftigt sein werden.

Harmlose Unterschriftenlisten werden von FSG-Bürokraten den Dienststellenleiter ”abgezeigt”, mit Disziplinarverfahren gedroht oder mit der Hemmung im Weiterkommen, mit dem einfrieren oder umgekehrt mit dem Zuschütten von Überstundenverpflichtungen usw. usf.

(5) Aktuelles Beispiel: Möchte der Vorstand der Post-AG 6.000 Arbeitsplätze wegrationalisieren mit dem Argument, dass in wenigen Jahren die Deutsche Post in Österreich ”aufräumen wird”, stammelt der Vorsitzende der Gewerkschaft der Post- und Fernmeldebediensteten mit der Aussage: Stimmt, wir müssen die Deutsche Post abwehren, er könne sich deswegen den Abbau von 3.000 Arbeitsplätzen vorstellen.

(6) Siehe z.B. Robert Misik und Doron Rabinovici (Hrsg.): ”Republik der Courage”, Aufbau Verlag, Berlin 2000.