Revolutionärer Marxismus 55 – Vorwort

Redaktion, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Die Nummer 55 des „Revolutionärer Marxismus“ widmet sich schwerpunktmäßig der internationalen Lage, ihrem Verhältnis zur imperialistischen Konkurrenz, Veränderungen der Kapitalbewegung, Klassenzusammensetzung und Krieg. Mit und seit der reaktionären Invasion Russlands in der Ukraine beginnt auch eine neue Etappe des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt, der Konfrontation zwischen den alten, westlichen Großmächten unter Führung der USA einer- und China und seinem Juniorpartner Russland andererseits.

Die aktuelle Ausgabe des revolutionären Marxismus beleuchtet Kernaspekte der veränderten Weltlage, grundlegende krisenhafte Phänomene des globalen Kapitalismus und ihre Entwicklungsdynamik. Viele Artikel entstanden ursprünglich aus der Arbeit an Hintergrundpapieren und Dokumenten für den Internationalen Kongress der Liga für die Fünfte Internationale im November 2022. Für diese Ausgabe wurden sie noch einmal umgearbeitet und aktualisiert. Entscheidend ist jedoch, dass wir in den Texten nicht nur ein Abbild der aktuellen Entwicklung liefern, sondern auch Tendenzen herausarbeiten wollen, die noch über Jahre prägend sein werden.

Am Beginn dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus steht eine Analyse der Weltwirtschaft. Im Artikel „Eine Welt in der Krise“ verweist Markus Lehner ausführlich auf die innere Dynamik der Kapitalakkumulation seit 2008, die selbst zu einer Krise der kapitalistischen Globalisierung geführt hat. Er beschäftigt sich mit der Entwicklung in allen Kernsektoren der globalen Ökonomie, darunter auch in China. Alle sind von fallenden oder stagnierenden Profitraten geprägt. Eine Basis für ein neues, expansives Akkumulationsregime ist aus der inneren ökonomischen Entwicklung nicht abzusehen. Dieses würde eine Vernichtung überschüssigen akkumulierten Kapitals im historischen Ausmaß voraussetzen, sowohl im Finanzsektor wie auch und vor allem des industriellen Kapitalstocks. Und genau hier zeigt sich die enge Verbindung dieser Krise mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt, da alle großen Mächte ihr Kapital auf Kosten der Konkurrenz retten wollen.

Die Pandemie und der Ukrainekrieg wirken als Katalysatoren dieser Entwicklung. Inflation bis hin zur Hyperinflation in den Halbkolonien haben die Welt fest im Griff. Zugleich erleben wir eine weitere Fragmentierung des Weltmarktes, Schritte zur „Deglobalisierung“ und zur partiellen, im Fall Russlands der praktisch vollständigen Umstellung auf Kriegswirtschaft. In den nächsten Jahren werden wir mit einer Welt von Krieg und Krisen konfrontiert sein, die auch eine grundlegende Neuausrichtung der Linken und der Arbeiter:innenklasse erfordern.

Der darauffolgende Artikel beschäftigt sich mit dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht. Dass die fetten Jahre der wirtschaftlichen Expansion vorbei zu sein scheinen, hängt vor allem mit zwei Faktoren zusammen. Einerseits machen sich auch in China die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation, ihre krisenhafte Logik und der Fall der Profitraten geltend. Zweitens bedeutet die Konkurrenz zu den USA und den anderen „traditionellen“ imperialistischen Mächten, dass die Zeiten wechselseitiger ökonomischen Vorteile längst vorbei sein. Vielmehr geht es zunehmend darum, welche Großmacht, welche Mächtegruppe, die Welt in ihrem Interesse neu organisiert. Damit einher gehen nicht nur ein immer heftigerer Kampf um Märkte und Einflussgebiete, sondern auch Formen eines regelrechten Wirtschaftskrieges, wechselseitige Drohungen, Tendenzen zur Abschottung des jeweils eigenen „Einflussgebietes“ vor der Konkurrenz sowie Militarisierung, Aufrüstung und wachsende Kriegsgefahr.

Der Artikel beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der enorm gewachsenen Rolle des chinesischen Imperialismus, sondern auch mit den historischen Wurzeln des bonapartischen Regimes und den inneren Widersprüchen dieser Großmacht.

Die Texte zur Weltlage werden durch zwei weitere Beiträge ergänzt. Beide erschienen ursprünglich in unserem Montagsmagazin Neue Internationale und wurden in unveränderter Form noch einmal veröffentlicht. Im Beitrag „Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs“ wird untersucht, wie dessen verschiedene Dimensionen – nationaler Verteidigungskrieg gegen die russische imperialistische Invasion einer-, innerimperialistischer Konflikt zwischen Russland und den NATO-Staaten andererseits – miteinander verwoben sind und welche Schlussfolgerungen Revolutionär:innen daraus ziehen.

Ein weiterer Artikel geht auf das Wachstum der extremen Rechten, sei es rechtspopulistischer oder gar faschistischer Kräfte, ein. Dabei wird nicht nur deren gesellschaftliche Basis in der gegenwärtigen Periode untersucht, sondern auch auf die Frage, wie ihr Aufstieg erfolgreich bekämpft werden kann, eingegangen.

Die Reihe der aus der Kongressdiskussion unserer Strömung erwachsenen Beiträge schließt der Artikel „Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse“ ab. Schon im „Kapital“ zeigt Marx, dass sein Wandel, Wachstum wie Stagnation, die Zusammensetzung und Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

Die ersten Abschnitte des Artikels skizzieren dabei die wichtigsten Veränderungen der Klasse der Lohnabhängigen während der Globalisierungsperiode, die Auswirkungen der Pandemie und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt seit Beginn des Ukrainekrieges. Die beiden folgenden Teile sind der Lage der Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien und ihrer politischen Entwicklung gewidmet. Die Politik des nationalen Schulterschlusses und der systematischen Klassenkollaboration, wie sie seit Jahren von den reformistischen Parteien und den Gewerkschaftsführungen betrieben wird, bildet selbst einen entscheidenden Faktor dafür, dass die herrschenden Klassen die Kosten von Krieg, Umweltzerstörung, Gesundheitskrise und Inflation den Lohnabhängigen aufbürden können.

Die Führungskrise des Proletariats nimmt weitere, dramatische Dimensionen an – und nicht nur, wenn wir die „traditionellen“ sozialdemokratischen und stalinistischen Massenparteien betrachten. Auch der linke Reformismus und scheinbar radikale kleinbürgerliche Kräfte bilden letztlich einen Teil des Problems der Führungskrise und nicht ihrer Lösung. Doch auch die subjektiv revolutionären, zentristischen Kräfte vermögen keine programmatische Antwort auf die Krise zu geben. Der Artikel skizziert daher nicht nur ein Bild deren aktuellen Zustands, sondern auch historische Lehren des Kampfes für revolutionäre Parteien und eine revolutionäre Internationale, die es gilt, für die heutige Lage fruchtbar zu machen, wenn erfolgreich neue revolutionäre Organisationen aufgebaut werden sollen.

Zwei Texte, die sich Fragen von Programm und Strategie widmen, schließen diese Ausgabe des Revolutionären Marxismus ab. Der Beitrag „Wohin treibt die DSA?“ von Andy Young wurde ursprünglich in unserem internationalen Magazin „Fifth International“ veröffentlicht und unterzieht die Politik der Democratic Socialists of America und vor allem ihren zweiten Kongress einer marxistischen Kritik.

Den letzten Beitrag bildet die Übersetzung des Artikels „Gramsci und die revolutionäre Tradition“. Auch wenn dieser 1987 verfasst wurde, so enthält er eine umfassende Darstellung des politischen Werdegangs von Gramsci und insbesondere auch eine Kritik seiner politischen Strategie, wie sie in den sog. Gefängnisheften entwickelt wird.

Damit schließt diese Ausgabe des Revolutionären Marxismus ab. Zweifellos kann sie nur Aspekte der gegenwärtigen Krise in der nötigen Tiefe und Komplexität darstellen – aber eine Schwerpunktsetzung ist leider unvermeidlich. Wir wollen aber vor allem die theoretisch interessierten Leser:innen auf die beiden vorhergehenden Ausgaben des Revolutionären Marxismus – „Umweltkrise. Eine Krise des Kapitalismus“ (RM 54) und „Imperialismus. Theorie, Kontroversen und Kritik“ (RM 53) – verweisen, die wichtige Grundlagenarbeit enthalten, die in dieser Ausgabe wieder aufgegriffen wird. Eine solche bildet einen unerlässlichen Bestandteil jeder marxistischen Organisation, denn ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Praxis geben.




Eine Welt in der Krise

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Der ökonomische Zusammenbruch Sri Lankas im Jahr 2022 und die ähnlichen Zuspitzungen, die sich etwa in Pakistan im Jahr 2023 angedeutet haben, sind symptomatisch für die aktuelle Weltlage. Sie bringen die tiefe Krise vieler Länder des „globalen Südens“ an die Oberfläche, die seit einem Jahrzehnt die Realität außerhalb der imperialistischen Zentren der Welt prägt. Während „Globalisierung“ einst mit dem Narrativ verbunden war, dass das Ende des Kalten Krieges und die weltweite Ausbreitung von Kapital und Demokratie nun auch den ärmeren Ländern eine nachholende Entwicklung ermöglichen würde, wenden sich heute selbst hoffnungsvolle Schwellenländer wieder in großer Zahlan den IWF, um den Kollaps abzuwenden. Immer mehr stehen vor der Wahl, ihre Ökonomien dem Diktat der westlichen Finanzmärkte oder Chinas zu unterwerfen.

Die Globalisierung, die als Explosion des Welthandels, der internationalen Finanzströme, des weltweiten Informations- und Meinungsaustauschs über offene Netze, der Ausdehnung eng miteinander verflochtener internationaler Produktionsketten, der Beschleunigung globaler Verkehrssysteme usw. verstanden wurde, scheint derzeit ins Stocken geraten zu sein. Was manchmal als vorübergehendes Stottern des Globalisierungsmotors verkauft wurde (Unterbrechung von Lieferketten, Transportprobleme, Kapitalabfluss aus bestimmten Ländern, Zahlungsprobleme …), trägt heute in vielerlei Hinsicht einen systematischeren Charakter: Liefer- und Produktionsketten werden neu ausgerichtet, Investitionen aus bestimmten Ländern politisch angegriffen, Zollschranken und Investitionsbeschränkungen in großem Stil wiederbelebt, Finanzinstitute als politische Waffe eingesetzt usw.

Die Welt erscheint wieder klar geteilt in imperialistische Mächte und ihre Halbkolonien (die Rede von „Schwellenländern“ kann man getrost vergessen), während die Großmächte dabei sind, die „Globalisierung“ in ihre Einflusssphären und Machtblöcke aufzuteilen. Nur haben sich in der Zeit der Globalisierung China und Russland als neue Konkurrenten gegen den „westlichen Block“ etabliert und sind damit als Herausforderer des schwächelnden Welthegemons USA auf den Plan getreten. In vielen Regionen des krisengeschüttelten globalen Südens konkurrieren diese Mächte nun um ihre Position, sei es als Handelspartnerinnen, Kreditgeberinnen, Rüstungslieferantinnen oder Bündnis„partnerinnen“. Mehr und mehr wird diese Konkurrenz auch zur offenen Konfrontation. Der Ukrainekrieg ist nur der schärfste Ausdruck dieser wachsenden Konfrontation bei der Neuaufteilung der Welt 3.0.

Doch diese Krise der Globalisierung und die damit verbundene neue politisch-ökonomische Weltunordnung sind nur ein Ausdruck tiefer liegender Krisenprozesse. Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das zum Wachstum, zur Akkumulation von Kapital verurteilt ist, scheinbar ohne Grenzen. Jede Stagnation der Akkumulation, sei es als Rezession, anhaltende Produktionsausfälle, Absatzprobleme oder Kurseinbrüche bei den Finanzwerten, führt zu Zahlungsausfällen, ausbleibenden Kapitalzuflüssen, Betriebsschließungen und Firmenzusammenbrüchen, kurz zur Unterbrechung der Geld-Waren-Metamorphose und damit letztlich der Verwandlung von Mehrarbeit in Profit, der Grundlage der kapitalistischen Klassengesellschaft. Aber diese erzwungene Grenzenlosigkeit der Kapitalakkumulation führt direkt zu ihrem Gegenteil: zur Schaffung oder Verschärfung von Schranken für die erweiterte Reproduktion.  Der Zwang zur Steigerung der intensivsten Ausbeutung von Mensch und Natur, wie er der kapitalistischen Rationalisierung inhärent ist, führt zu solchen Erscheinungen, wie sie Marx im Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zusammengefasst hat. Während der aus dem einzelnen Produktionsakt erwachsende Mehrwert also abnimmt, kann die Profitmasse durch die Steigerung der Gesamtproduktion ausgeweitet werden. Dies führt zu einem Punkt, an dem die gestiegenen Kapitalkosten, sei es für Energie, Maschinen, Rohstoffe, Produktionssteuerung und -planung usw. selbst die absolute Profitmasse aufzehren. Die Kapitalakkumulation gerät zur Überakkumulation, das Kapital in Form des investierten Bestands und seines Bedarfs an Material, Energie, Arbeit und neuem Kapital wird zu einem Hindernis für neues Wachstum.

Verbunden mit dieser wirtschaftlichen Wachstums- ist die soziale und ökologische Krise. Bereits durch die kapitalistische Rationalisierung bedroht, werden die arbeitenden Klassen durch die Mechanismen der kapitalistischen Krisenbewältigung, der Kapitalentwertung und -vernichtung, der Kapitalkonzentration, der Standortverlagerung usw. sowohl in der direkten Produktion als auch in abgeleiteten Bereichen (öffentliche Versorgung, staatliche Dienstleistungen, Kleinbürgertum usw.) existenziell bedroht. Andererseits stößt der Hunger der Kapitalakkumulation nach Energie und Rohstoffen zunehmend an die Grenzen der natürlichen Reproduktionssysteme.  Der Rockströmbericht nennt neun planetarische Grenzen, die bei Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsweise in absehbarer Zeit überschritten werden und damit die Existenz des menschlichen Lebens in Frage stellen.

Die 1,5-Grad- und 2-Grad-Szenarien und die daraus resultierenden Ziele für die Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase zumindest innerhalb der nächsten 2 Jahrzehnte bilden nicht einmal die größten Herausforderungen. Die zunehmende Verknappung von Süßwasser, die Versauerung der Meere, die Überlastung der Stickstoff- und Phosphorkreisläufe in Böden und Gewässern, das Artensterben etc. erfordern dringend globales Handeln. Viele der „Umwelterfolge“ im globalen Norden wurden einfach durch die Verlagerung in schlechterer Form in den globalen Süden erkauft. Global führt der Zwang zur Kapitalakkumulation zu einem ökologischen Bruch – der Entwicklung eines tiefen Widerspruchs zwischen expandierter wirtschaftlicher Reproduktion und der Anpassungsfähigkeit zentraler natürlicher Reproduktionssysteme. Es besteht kein Zweifel, dass sich dieser ökologische Bruch in der Zeit der Globalisierung zu einer Menschheitskrise verschärft hat. Die sich bereits abzeichnenden Umweltkatastrophen oder die verzweifelten Versuche der Gegensteuerung im Rahmen des Systems („Transformation“) wirken zwangsläufig auf das Wirtschaftswachstum zurück.

Das Kapital reagiert auf die oben beschriebenen immanenten Grenzen der Kapitalakkumulation mit dem, was Marx als „gegenläufige Tendenzen“ zum Fall der Profitrate bezeichnete. Dabei ist zu beachten, dass das Problem vor allem eins des Falles der „Durchschnittsprofitrate“ ist. Die Kapitalakkumulation findet in einem Raum statt, der zum einen in Sektoren mit unterschiedlicher Produktivität oder Kapitalintensität und zum anderen in Länder und Regionen mit sehr unterschiedlichem „Entwicklungsstand“ (in Bezug auf die Kapitalakkumulation) segmentiert ist. Ein grober und dynamischer Ausgleich der durchschnittlichen Profitraten findet nur zyklisch durch Kapital- und Arbeitsströme zwischen den Segmenten statt. Dieser kann vorübergehend gestoppt oder modifiziert werden, z. B. durch Monopolbildung, so dass z. B. Großkonzerne ihre Ausbeutungsprobleme für einen längeren Zeitraum auf andere Wirtschaftszweige abwälzen können (Monopolrentabilität). Andererseits ermöglichen es die unterschiedlich ausgeprägten Kapital- und Arbeitsströme auf dem Weltmarkt gegenüber nationalen/regionalen Märkten, dass Kapitalexporte und Welthandel genutzt werden, um höhere Ausbeutungsraten in weniger entwickelten Ländern („Entwicklung“ hier im Sinne der Akkumulationsbewegung) als Quelle für Extraprofite zu nutzen. Im Zeitalter des Finanz- und Monopolkapitals, d. h. des Imperialismus, können diese Momente ausgedehnt werden, so dass in den imperialistischen Zentren längere Perioden scheinbar stabiler Akkumulation und die Vermeidung ausgeprägter Krisenmomente erreicht werden. Die Krise der Überakkumulation bricht also zunehmend in der inneren und äußeren Peripherie aus, um über kurz oder lang auch die Monopolprofitrate in den Zentren selbst zu treffen.

Mit der Globalisierung seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Verteilung der direkten Industrieproduktion freilich noch stärker zu Ungunsten der klassischen imperialistischen Länder (wie sie in der G7 vertreten sind) verschoben: Noch im Nachkriegsaufschwung konzentrierten sich 80 % auf die „entwickelten“ OECD-Staaten mit nur 20 % der Weltbevölkerung, während für den Rest der kapitalistischen Welt die Rolle als Rohstofflieferant:in und die Herstellung weniger kapitalintensiver Produkte (z. B. Textilien) blieb. Dies hat sich heute radikal geändert: USA/CND/EU/J mit inzwischen nur noch 15 % der Weltbevölkerung produzieren nur noch 42 % des Welt-BIP (etwa so viel wie in Asien ohne Japan). Ein entscheidender Faktor hat sich jedoch kaum verändert: die Verteilung des Kapitals. 70 % des Vermögens- und Investitionskapitals sind nach wie vor in der genannten Ländergruppe konzentriert. Zählt man China und Russland zur imperialistischen Welt hinzu, bleiben für den Rest, d. h. für den „globalen Süden“, nur noch 10 % des investierbaren Kapitals übrig (wovon der größte Teil davon dann auch noch auf Rentierkapital entfällt, z. B. Fonds von Ölkartellstaaten).

Die Globalisierung hat zwar die industrielle Produktion weltweit stärker verteilt, nicht aber die Anfangs- und Endpunkte der Kapitalakkumulation, das Kapital, das nach profitablen Investitionsfeldern sucht. Bei krisenhaften Entwicklungen in den Zielländern der Kapitalströme kommt es sehr schnell zur Rückkehr in die „sicheren Häfen“ des globalen Nordens. Dies haben verschiedene als „Schwellenländer“ angepriesene Kandidat:innen wie die Türkei, Brasilien oder Pakistan im letzten Jahrzehnt schmerzlich erfahren. Letztlich waren nur China und Russland in der Lage, sich als neue imperialistische Mächte in der Globalisierungsperiode zu etablieren, während Indien als einziges der ehemaligen Schwellenländer dem Absturz bis jetzt noch widerstand.

Auf der Grundlage dieser Weltmarktbewegung des Kapitals können keine „vereinigten Staaten der Welt“, kann nicht einmal ein „Hyperimperialismus“, entstehen. Aufgeteilt in Zentrum und Peripherie bleiben auch die Finanzkapitale und Monopole im Wettbewerb und der letztendlichen Wirkung der Ausgleichsmechanismen unterworfen. Auf Perioden der relativen Stabilität folgen Krisen, Zusammenbrüche und Umverteilungsprozesse. Die Perioden der Stabilität werden auch immer von der Vorherrschaft eines Systems von Großmächten begleitet, welches die Weltordnung garantiert und so etwas wie eine globale politische Agenda bestimmt – allerdings letztlich immer im Rahmen der Vertretung der Weltmarktinteressen des „eigenen“ Kapitals, aber verkleidet als „Kampf um Fortschritt, Menschenrechte und Demokratie“. Das nationalstaatliche System, in dem der Kapitalismus ursprünglich entstanden ist, ist längst zu einem unpassenden Korsett für die imperialistische Entwicklungsstufe des Kapitalismus geworden – aber es gibt keine globale politische Struktur, die der Kapitalismus als Ersatz für das nationalstaatliche Konzept hervorbringen kann. Daher erweist er sich als unzureichend, um lebenswichtige globale Probleme wie Klimakatastrophe, Pandemien, Welternährung usw. durch eine global geplante Politik zu lösen. Auch „Demokratie“ und „nationale Selbstbestimmung“ erweisen sich im gegenwärtigen Zustand der globalen Kapitalentwicklung zunehmend als illusorische bürgerliche Ideen. In den stabileren Perioden der monopolistischen Zyklen kann das globale Kapital durch die hegemoniale Rolle einer der Großmächte eine gewisse politische Stabilität erreichen. Sie verfügt dann sowohl über die wirtschaftlichen und monetären Hebel als auch über die militärische Interventionsfähigkeit und die politischen und ideologischen Mittel, um politische und wirtschaftliche Krisen im Rahmen aller imperialistischen Mächte, aber vor allem im eigenen Weltmarktinteresse, mit seiner Bündnis- und Militärpolitik zu lösen.

War dies lange Zeit der britische Imperialismus, so ist er seit dem Zweiten Weltkrieg durch den US-Imperialismus abgelöst worden. Zu Beginn der Globalisierung wirtschaftlich angeschlagen, konnte er in dieser Periode vor allem aufgrund seines nach wie vor überlegenen Finanz- und Technologiekapitals wieder eine dominierende Rolle spielen – allerdings auf Kosten des Aufstiegs Chinas zu einem zentralen Akteur in der Welt des globalen Industriekapitals.

Der Rückgang der Produktivität und Rentabilität wichtiger Industriesektoren in den USA wurde durch immer größere Blasen in der Finanzwelt und durch fiktive Kapitalakkumulation kompensiert. Mit der Großen Rezession von 2008/2009 wurde der wirklich stagnierende Charakter der US-Wirtschaft immer deutlicher. Wir gehen daher davon aus, dass wir in eine Phase eintreten, in der mit der allgemeinen kapitalistischen Krise die Frage nach der Führungsrolle der USA zunehmend umstritten sein wird.

Die Periode der Globalisierung – Aufstieg und Weg in die Krise

Grafik 1 fasst den Zeitraum von 1990 bis 2019 anhand der Entwicklung der Profitraten einiger ausgewählter Länder zusammen. Die zugrundeliegende Berechnung der Profitraten ist den Extended Penn World Tables (Release 7.0) entnommen. Hier wird die Profitrate anhand der Kapitalquote (Anteil der Gewinne am Volkseinkommen), der Kapitalproduktivität und der Abschreibungsrate berechnet.

Grafik 1: Profitratenentwicklung ausgewählter Länder

Das Schaubild zeigt die Erholung der Profitrate der USA zu Beginn der 1990er Jahre als Impuls und Ausdruck einer veränderten Wirtschaftsdynamik sowie den großen Unterschied zur chinesischen Profitrate. Entgegen der oben genannten Tendenz zeigt die chinesische Profitrate, die den gesamten Zeitraum bestimmte, dass das Bewegungszentrum des Zeitraums die enorme Kapitalakkumulation in China bildete, die an seinem Ende in eine Phase der Überakkumulation des chinesischen Kapitals überging. Erst mit der Abschwächung der US-Profitrate und dem Aufblühen des China-Booms erholten sich die Profitraten in Deutschland und Japan und in ihrem Gefolge auch die Russlands, um dann mit der Großen Rezession in eine stagnierende bis fallende Richtung zu gehen. Nimmt man eine typische Halbkolonie wie Brasilien hinzu, so ist die Profitrate dort in der Regel viel höher (wie gesagt, das ist genau der Ausdruck einer abhängigen Entwicklung, die sich in geringerer Kapitalintensität und höherer Ausbeutungsrate manifestiert), aber mit viel stärkeren Ausschlägen nach oben und unten (in Brasilien zwischen 14 und 10 Prozent) – als Ausdruck der Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen und den Verwertungsbedingungen auf dem Weltmarkt.

Anmerkung: Die Berechnung der Profitrate in China ist umstritten. Die statistischen Daten, insbesondere zu Beginn des Zeitraums, sind fragwürdig und können im Hinblick auf die Gewinn- und Abschreibungswerte ungenau sein. Daher gibt es mehrere Schätzungen der Rate. Im Allgemeinen sind die in den obigen Statistiken aufgezeigten Tendenzen jedoch ähnlich.

Was waren die Startbedingungen, die vor allem das US-Kapital bot? Die Überwindung der vorangegangenen Krisenperiode (gekennzeichnet durch zwei Jahrzehnte sinkender Profitraten, Überakkumulation, Verschuldung, Zunahme der Klassenkämpfe und eine Eskalation der Blockkonfrontation) wurde durch einige entscheidende Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, der Kämpfe in den Halbkolonien und den Zusammenbruch der degenerierten Arbeiter:innenstaaten ermöglicht. Die Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zugunsten des Kapitals führte zu dem, was damals „Neoliberalismus“ genannt wurde: der Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungskraft, Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, einer neuen Qualität der Privatisierung und des Abbaus sozialer und öffentlicher Dienstleistungen, dem Abbau von Handels- und vor allem von Investitions-„Schranken“, der Verringerung staatlicher Interventionsmöglichkeiten in der Wirtschaft und zu all dem der Deregulierung der globalen Finanzmärkte mit unbegrenzten Möglichkeiten für den Kapitalfluss zu den günstigsten Produktions- und Investitionsmöglichkeiten auf der ganzen Welt. Dadurch wurden nicht nur die bereits erwähnte globale Differenz der Profitraten optimal genutzt (Ausgleich des eigenen Profitratenverfalls), sondern auch die absolute und relative Mehrwertrate als weitere Stabilisierungsmaßnahme erhöht. Hinzu kommen technische Innovationen im Transportwesen (z. B. das globale System der Containerlogistik), in der Steuerungs- und Regelungstechnik (Elektronik und IT) usw., die zur Bildung sehr großer Produktions- und Versorgungsnetze auf Weltebene geführt haben. Diese Produktionsketten werden häufig als „Wertschöpfungsketten“ bezeichnet, weil die Produktion und die Aneignung von Werten entlang der Kette von der Investitionsentscheidung, der Planung, der Konstruktion, der Einbindung von Zulieferer:innen, der Teile- und Systemproduktion, dem Vertrieb und dem Marketing bis hin zur Verteilung der Erträge und der Kontrolle ihrer Verwendung sehr ungleich verteilt sind. Während sich die arbeitsintensiven Produktionsprozesse in Ländern mit hoher Ausbeutungsrate konzentrieren, werden die qualifizierteren Spezialaufgaben, die technische und finanzielle Gesamtplanung und letztlich die Gesamtkontrolle weiterhin in den „Zentren“ wahrgenommen. Diese Form der Wertschöpfungskette ist also eine neue Form des Werttransfers aus den Halbkolonien in die imperialistischen Zentren, die direkter mit dem Produktionsprozess verbunden ist als die klassischen Direktinvestitionen. Für die Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren resultierte das in vielen Abwehrkämpfen um die Verlagerung von Produktionsstätten oder auch nur von Arbeitsbereichen in „Billiglohnländer“.

Mit der Verfestigung dieser Formen der internationalen Arbeitsteilung wurde auch die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stabilisiert, so dass die oben als Imperative des Kapitals beschriebenen Elemente des Neoliberalismus zu „Sachzwängen“ wurden. Der „Neoliberalismus“ war nicht nur eine schlechte Ideologie, die plötzlich von Manager:innen und Politiker:innen in den Zentren und in der Peripherie übernommen wurde und der, wie viele Linke meinten, mit „Argumenten“ begegnet werden müsste. Vielmehr gibt es zu ihm keine Alternative, solange es der Arbeiter:innenklasse nicht gelingt, ein Netzwerk des Widerstands gegen die Kapitalströme und die damit verbundene Bildung von Produktionsketten auf ebenso globaler Ebene zu schaffen.

Insgesamt hat die neue Qualität der Globalisierung des Kapitals den Spielraum für soziale Reformen und damit auch für Demokratie und nationale Selbstbestimmung im Rahmen der bürgerlichen Politik weltweit weiter eingeschränkt, wenn auch in unterschiedlichem Maße in den Halbkolonien und in den imperialistischen Zentren. Die Gewöhnung an die Grenzen demokratischer oder sozialer Forderungen ist so groß geworden, dass solche, die den neoliberalen Rahmenbedingungen widersprechen, leicht als „Populismus“ diffamiert werden können. Am erfolgversprechendsten waren Klassenkampfzyklen, die supranationale Bedeutung erlangten (z. B. ausgehend von Frankreich oder Griechenland sich ausbreitend auf den Rest der EU), die Sozialforumsbewegung (die regionale und internationale Proteste lose zusammenführte), die „Pink Tide“ (die mehrere lateinamerikanische Linksregierungen hervorbrachte), die internationalen Protestbewegungen nach der Großen Rezession (Arabischer Frühling, die „Aufstände“ in Südeuropa, vor allem Griechenland, Occupy). Aber es gelang nicht, diese in eine international koordinierte Kraft des antikapitalistischen Widerstands zu verwandeln (fälschlicherweise als „Antiglobalisierungsbewegung“ bezeichnet). Nach der daher unvermeidlichen Niederlage dieser Bewegungen zogen sich ihre Anhänger:innen auf den nationalen linken Reformismus oder stark lokal konzentrierte „Arbeit vor Ort“ zurück. Einem Kapital, das noch immer seinen globalen Hebel ansetzen kann, steht also kein international koordinierter Widerstand gegenüber, schon gar nicht in Krisenzeiten der Globalisierungsperiode.

Dennoch waren diese Klassenkämpfe, Bewegungen und politischen Widerstände wichtig, um die anfänglichen Steigerungsraten des absoluten Mehrwerts abzuschwächen. Wie in jeder Aufschwungsperiode folgte auf die Phase, in der die verstärkte unmittelbare Ausbeutung und Intensivierung der Arbeit im Vordergrund stand, die, in welcher die Rationalisierung und Modernisierung des Kapitaleinsatzes dominierte. Vor allem aber ging es um die Ausweitung internationaler Produktionsketten – zunächst mit der verstärkten Tendenz, China in ihren Mittelpunkt zu stellen. Grafik 1 zeigt die Abschwächung der Profitrate in den USA seit Mitte der 1990er Jahre. Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt haben, beruht diese auf einem viel ausgeprägteren Abwärtstrend der industriellen Gewinnraten (aufgrund der sinkenden Kapitalproduktivität). Dies wurde in den frühen 2000er Jahren durch das stark kreditfinanzierte Chinageschäft kompensiert (Fortsetzung der Kapitalakkumulation auf der Grundlage der fiktiven Wertsteigerung von unproduktivem Kapital, z. B. Immobilien, als finanzielle Grundlage für einen sehr starken Anstieg der Importe aus China). Daher die Eile, mit der China 2001 in die WTO aufgenommen wurde (Beseitigung wichtiger Handelshemmnisse), auch ohne dass die üblichen Öffnungen des Finanzmarktes oder Übernahmemöglichkeiten für chinesische Unternehmen durchgesetzt wurden. Auf der anderen Seite nutzten imperialistische Volkswirtschaften wie Deutschland und Japan diese Zeit, um ihre Produktionsketten in Richtung China auszudehnen und so ihre Exportindustrien nach Nordamerika und in die übrige EU wesentlich wettbewerbsfähiger zu machen. Die fiktive Erholung der Profitrate in den USA in den Jahren 2000 – 2005 ist somit eng mit dem großen Sprung der chinesischen Profitrate und der deutlichen Erholung der Profitraten in Deutschland und Japan bis zur Großen Rezession verbunden.

Abbildung 2: Globale Wertschöpfungsketten

Abbildung 2 zeigt einen Überblick über die Entwicklung der globalen Wertschöpfungsketten in einem gewichteten Diagramm, je nach Ausmaß der Aufteilung der Teilprozesse der Produktion zwischen einigen Zentren und ihrer „Peripherie“ (aus dem Global-Value-Chain-Bericht der WTO 2017). Es ist zu erkennen, dass zu Beginn der 2000er Jahre China noch als untergeordneter Zuliefererstandort für den NAFTA-Sektor auftrat (mit den USA als Zentrum und Mexiko als Hauptlieferanten), während sich das europäische Produktionskettennetz mit Deutschland im Zentrum noch relativ separat entwickelte. Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre, dem Höhepunkt der Globalisierung, entwickelte sich China zu einem eigenen Zentrum der Wertschöpfungsketten in Asien, in engem Zusammenhang mit dem Ausbau solcher Industriemodelle in Japan und Südkorea. Bis 2011 scheinen diese drei Zentren auch zunehmend miteinander verbunden zu sein, wobei Deutschland sowie die anderen großen EU-Volkswirtschaften (Frankreich, Benelux, Vereinigtes Königreich, Italien, Spanien) ihre Produktionsprozesse zunehmend internationalisierten. Erwähnenswert sind auch Länder wie Brasilien, die bis in die 1990er Jahre überwiegend Nordamerika belieferten, dann mehr in den europäischen Block exportierten und heute in den chinesischen Wertschöpfungsketten auftauchen. Mitte des letzten Jahrzehnts, im Zuge der Großen Rezession und ihrer Auswirkungen, ist ein leichter Bedeutungsverlust der globalen Wertschöpfungsketten und ein erneutes Auseinanderdriften der Hauptblöcke zu beobachten. Es muss betont werden, dass es hier um Produktionsketten geht – bei den klassischen Direktinvestitionen, Handelsströmen und vor allem Finanzmarktbewegungen gibt es ganz andere Zentren und Netzwerke (z. B. in letzteren New York, London, Singapur, Hongkong), die für die Dynamik der Globalisierung mindestens genauso wichtig sind.

Die große globale Rezession von 2008/2009 wurde durch die anhaltende Finanzmarktkrise nach dem Platzen der US-Immobilienblase ausgelöst. Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, offenbarte die Schwächung der Möglichkeiten, überakkumuliertes Kapital in fiktive Anlagen zu investieren, das Problem der Masse des anlagesuchenden Kapitals, das nur noch Anlagemöglichkeiten mit deutlich geringerer Rendite fand oder in solchen mit geringerer Rendite gebunden war. Der Einbruch bei der Finanzierung bestehender Unternehmen, die Refinanzierung von Schulden und das Ausbleiben großer Investitionen führten 2009 zu einem Wachstumseinbruch von rund 5 % synchron in den USA, den wichtigsten EU-Ländern, Japan und in der Folge zu einer Verlangsamung der Wirtschaft im Rest der Welt, auch in China. Der normale Verlauf der kapitalistischen Krise hätte darin bestanden, die unrentablen Kapitalien einfach zu vernichten (Konkurs von Schuldner:innen, Realisierung von Verlusten in der Gläubigerkette, Firmenzusammenbrüche, massenhafte Privatkonkurse, Massenarbeitslosigkeit, -entlassungen). Tatsächlich ist dies nicht im erwartbaren Umfang geschehen (bzw. hat vor allem auf die unteren Einkommensschichten Auswirkungen gehabt), aber das Szenario von 1929 wurde von den zentralen imperialistischen Finanzinstitutionen auf der Grundlage des Prinzips „too big to fail“ abgewendet: Der größte Teil des „überschüssigen“ Kapitals wurde durch die Politik des „quantitative easing“ (QE) vorm Untergang bewahrt. Einerseits retteten die Zentralbanken das gefährdete Kapital durch den Ankauf von Vermögenswerten in Billionenhöhe, andererseits sorgte die Nullzinspolitik der großen Zentralbanken (FED, EZB, BoJ) dafür, dass Refinanzierung und Neuinvestitionen nicht durch Zinsen belastet wurden. Hinzu kamen staatliche Beihilfen und Investitionsprogramme in Milliardenhöhe.

All dies hat jedoch nicht zu einem neuen Aufschwung geführt. Die 2010er Jahre waren in den alten imperialistischen Ländern durch noch niedrigere Wachstumsraten als in den Jahrzehnten zuvor, wiederkehrende Verschuldungsprobleme, niedrige Investitionsquoten, sinkende Arbeitsproduktivitätszuwächse und stagnierende Profitraten auf niedrigem Niveau gekennzeichnet. Die Halbkolonien (insbesondere die „Schwellenländer“) waren von massiven Kapitalabflüssen, einer Verdünnung der Lieferketten, einem Rückgang der Nachfrage nach Rohstoffen und Halbfertigwaren und damit der Rückkehr der Schreckgespenster Rezession, Verschuldung, Währungskrisen und Inflation betroffen. Insbesondere war das Jahrzenht aber auch durch eine deutliche Veränderung der Rolle Chinas in der Weltwirtschaft gekennzeichnet.

Die geringe krisenbedingte Kapitalvernichtung, d. h. die Aufrechterhaltung eines großen Teils des überakkumulierten Kapitals, führte zu einem stetigen Anstieg der Zahl der Unternehmen oder Investitionen, die eigentlich nur durch ständiges Subventionskapital (sei es durch Anleihekäufe oder direkte Unterstützung) am Leben erhalten werden können.

Abbildung 3: Anteil der Zombie-Unternehmen

Abbildung 3 zeigt den Anteil der „Zombie“-Unternehmen, d. h. der Firmen, die ihre Schulden langfristig nicht aus ihren Gewinnen finanzieren können. Nicht nur, dass der Anteil nach der Großen Rezession weiter auf rund 16 % gestiegen ist, auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unternehmen aus diesem Status nicht mehr herauskommen, hat sich erhöht. Allein diese hohe Ziffer macht deutlich, dass ein erheblicher Teil des Kapitals in unrentablen Investitionen gebunden ist und nicht für neue Investitionen genutzt werden kann.

Darüber hinaus führte die Gefahr von Verlusten in den Jahren 2008/2009 dazu, dass die Anleger:inen eher Risiken vermieden und sich auf Anlagen konzentrierten, die weniger Rendite versprachen, aber sicher erschienen. Insbesondere die Erklärung der großen Zentralbanken, dass sie die Investitionen in ihrem Bereich schützen würden, „koste es, was es wolle“ (EZB-Chef Mario Draghi), führte dazu, dass die internationalen Investor:innen (deren Kapital sich ohnehin größtenteils aus den klassischen imperialistischen Ländern und den Ölrentiers speist) ihre Gewinne so schnell wie möglich repatriierten oder wieder auf sichere Anlagen wie Staatsanleiehn, Immobilien- und Energierenten setzten.

Grafik 4, die die Entwicklung der Auslandsinvestitionen aus den klassischen imperialistischen Ländern in die „unterentwickelten“ Halbkolonien nach Kategorien darstellt, zeigt, dass es nach 2013 zu einer Rückflut von Kapital in historischem Ausmaß kam (um kurze Zeit später unter „günstigeren Bedingungen“ wieder zurückzukehren). Insbesondere die Kategorie „Portfolioinvestitionen“, also kurz- und mittelfristiges, schnell abbaubares Investitionskapital, wurde rapide reduziert; aber auch das Volumen der Direktinvestitionen ging zurück.  In allen imperialistischen Ländern ist aus der Leistungsbilanz im Kapitel „Einkommen aus Auslandsvermögen“ ersichtlich, dass diese Erträge in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts jährlich etwa 2 – 4 % zum BIP beitrugen. Dies sind die Profiteinkommen, die aus Anlagen im Ausland ins Heimatland zurückfließen. Da es sich um reine Profiteinkommen aus Auslandsinvestitionen handelt, müssten sie eigentlich mit den Profiteinkommen im Inland und nicht mit dem gesamten Inlandsprodukt ins Verhältnis gesetzt werden: D. h., tatsächlich steigerten die Zuflüsse aus dem Ausland die Gewinne um bis zu 10 %.  Auch dies ist ein Indikator für die verstärkte Überschussextraktion aus den Halbkolonien durch Kapitalzu- und -abflüsse. Diesen positiven Bilanzen in den imperialistischen Ländern stehen in den Halbkolonien je nach Region negative Vermögenvon 2 % – 5 % im entsprechenden Kapitel gegenüber, die als US-Dollarverpflichtungen (d. h. reale Werttransfers aus dem dort erbrachten Mehrwert) mit großem Aufwand erfüllt werden müssen. Zusammen mit dem Abbau von Lieferketten führte dies zu massiven wirtschaftlichen Schocks in vielen Halbkolonien (in Lateinamerika, Nordafrika, Südafrika, der Türkei, Pakistan und einigen anderen asiatischen Ländern), die für ihre Kapitalakkumulation ohnehin stark von Kapitalzuflüssen abhängig waren.  Die daraus resultierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Instabilitäten, Kriege und Bürgerkriege führten wiederum zu weiteren Investitionsverlusten oder zum Wiedererstarken der Rolle von IWF und Weltbank bzw. zu direkten militärischen Interventionen.

Mit der Großen Rezession änderte sich Chinas Rolle in der Weltwirtschaft. Statt als Quelle für billig produzierte Waren für die USA zu fungieren, konzentrierte es sich auf eine selbsttragende Kapitalakkumulation und stieg in der Wertschöpfungskette (auch bei den Arbeitskosten) auf. Angestachelt durch ein Billionen-US-Dollar-Konjunkturprogramm begann China, seinen eigenen Markt zu entwickeln und selbst in die höheren technologischen Sphären der Wertschöpfungsketten zu klettern. Nichts macht die Entwicklung der 2010er Jahre so deutlich wie die Entwicklung der Profitraten Chinas und der USA in Grafik 1: Entgegen dem, was viele über die Entwicklung der Profitraten missverstehen, ist paradoxerweise eine sinkende Profitrate (wenn sie mit hohen Wachstumsraten verbunden ist) ein Indikator für eine besonders dynamische, von kapitalintensiven Investitionen getriebene Wirtschaftsentwicklung, während eine „gleichbleibende“ Profitrate bei schwachem Wachstum genau das Gegenteil, eine stagnierende Entwicklung mit wenig Verbesserung der Kapitalproduktivität und schwacher Modernisierung des Anlagekapitals (Neuinvestitionen), offenbart. Vor allem Anfang der 2010er Jahre war China in allen wichtigen Bereichen des Produktivkapitals zu einem ernsthaften globalen Konkurrenten für das US-Kapital mutiert.

Dass dieses Wachstum Mitte der 2010er Jahre ins Stocken geriet, lag nicht nur an Fehlern bei der Planung der Konjunkturprogramme (z. B. Bau ganzer Städte, die nie gebraucht wurden) oder an den immer offensichtlicher werdenden Schwächen des Finanzsektors (Rolle der Schattenbanken, Immobiliengesellschaften etc.). All das war vielmehr nur Ausdruck der Tatsache, dass mit der rasanten Kapitalakkumulation und Investitionstätigkeit immer mehr Kapital in Anlagen investiert wurde, seien es hochproduktive oder unsinnige, und damit ab einem bestimmten Punkt, als die Profitrate sank, das Kapital für neue Investitionen einfach knapp wurde. Deshalb kamen Schattenbanken und durch Bodenspekulation getriebene Immobilienblasen zum Tragen, da solche Kapitalien verstärkt zur Finanzierung eingesetzt werden mussten. Darüber hinaus war China auch vom Rückzug von Direkt- und Portfolioinvestitionen betroffen (sei es direkt oder über zwischengeschaltetes Kapital in Hongkong, Singapur oder Taiwan), und das Geschäft zwischen den USA und China ging sowohl in Bezug auf den Handel als auch auf die Lieferketten zurück.

Andererseits expandierte China, um seine Profitratenentwicklung durch den Aufbau von Produktionsketten (siehe oben, z. B. Indien, Indonesien, Malaysia, Vietnam, Thailand, Brasilien), durch verstärkte Direktinvestitionen (z. B. „Neue Seidenstraße“, als Kreditgeber in Afrika und Lateinamerika) und durch die Einrichtung internationaler Zahlungssysteme als Alternative zu den von den USA dominierten US-Dollar-Systemen zu kompensieren. Auch in China sind in den letzten Jahren die Einnahmen aus Auslandsvermögen (wenn auch oft über Hongkong vermittelt) gestiegen. Dies ist ein klarer Hinweis auf den imperialistischen Charakter der chinesischen Wirtschaft und die wirtschaftlichen Vorteile des Imperialismus in Zeiten der Überakkumulation (und Pech für diejenigen, die sich bei China Geld geliehen haben, z. B. in Afrika und Lateinamerika).

Die beschriebene Dynamik der verschiedenen regionalen Volkswirtschaften spiegelt sich letztlich in der Entwicklung der Akkumulation über den gesamten Zeitraum wider, wie sie in Abbildung 5 im Verhältnis von Kapitalstock zu Investitionen, d. h. dem Gewicht des aus Gewinnen neu investierten Kapitals im Vergleich zu dem in bestehenden Investitionen gebundenen Kapital, dargestellt ist.

Grafik 5: Akkumulationsraten im Vergleich

Das Beispiel USA zeigt, dass es in den 1990er Jahren einen leichten Anstieg der Akkumulationsrate gab, die dann mit der Großen Rezession in eine Abwärtsbewegung überging und dann auf niedrigem Niveau stagnierte (man muss bedenken, dass eine Abschreibungsrate von 4 % in den 2010er Jahren bedeutet, dass die tatsächlichen Neuinvestitionen marginal waren). Die gleiche Abwärtsbewegung ist auch in der deutschen Wirtschaft zu beobachten, allerdings von einem noch niedrigeren Niveau aus (wenn auch mit einer Abschreibungsrate von nur 3 %). Auf der anderen Seite ist in China in der Zeit nach dem WTO-Beitritt ein starker Kapitalaufbau durch Investitionen zu beobachten, der sich aber nach dem oben beschriebenen Übergang zum unabhängigen Akkumulationsmodell nach 2010 deutlich abschwächt – ein deutliches Zeichen für die Überakkumulation von investiertem Kapital, was auch gut zu der sinkenden Gewinnrate in diesem Zeitraum passt. In der ausgewählten Halbkolonie Brasilien hingegen ist deutlich zu erkennen, wie der seit Anfang der 2000er Jahre steigende Akkumulationszyklus (fast parallel zu dem Chinas) 2014 abrupt abbricht (Doppeleffekt aus Kapitalabzug und Nachfragerückgang auf dem Weltmarkt). In den Folgejahren entspricht dies einer leichten wirtschaftlichen Erholung in den USA/EU/J im Vergleich zur Rezession in vielen Halbkolonien (wie Brasilien) und der Abschwächung der Wachstumsraten in China.

Insgesamt ist zu erkennen, dass sich die imperialistischen Länder (einschließlich Chinas) nach großen Unterschieden in der Profitrate, der Kapitalzusammensetzung und den Akkumulationsraten gegen Ende des Zeitraums stärker angenähert haben – und das bei geringer Profitabilität und Investitionstätigkeit. Offensichtlich hat die „entgegenwirkende Ursache“ der Globalisierung viel von ihrer Kraft verloren, so dass nach 2019 ein klarer Trend zur globalen Rezession erkennbar war. Dass diese im Jahr 2020 eintrat, hatte aber natürlich einen ganz anderen Grund, auf den wir später noch eingehen werden.

Entwicklung des Weltmarkts, des Weltwährungssystems und der globalen Schuldenproblematik

Ein zentrales Moment der Globalisierungsperiode war nicht nur die neue Qualität der Internationalisierung der Produktion und der globalen Finanzströme, sondern auch die enorme Expansion des Welthandels. Während der Anteil des Welthandels am Welt-BIP nach dem Nachkriegsboom auf 40 % anstieg, erhöhte er sich in der Globalisierungsperiode nochmals auf über 60 %. Das bedeutet, dass heute weit mehr als die Hälfte der für Investitionen oder Konsum erworbenen Güter über den Weltmarkt beschafft und nicht im Inland produziert werden. Dies ist in den imperialistischen Ländern natürlich noch stärker ausgeprägt als in den Halbkolonien. In letzteren ist der Anteil des im Inland produzierten BIPs größer, insbesondere was die Güter des Massenkonsums oder den Umfang des informellen Sektors und der Subsistenzwirtschaft betrifft.

Dies bedeutet, dass die Kosten für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft viel niedriger sind, was sich in den „Kaufkraftparitäten“ widerspiegelt (d. h., mit einem viel niedrigeren Lohn kann immer noch der „Standardwarenkorb“ gekauft werden). Zusammen mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität bedeutet dies, dass der inländische Sektor einer anderen Wertbildung unterliegt als der, der für den Weltmarkt produziert – wo in US-Dollar und nicht in Kaufkraftparitäten bezahlt wird. Aus der Sicht der Halbkolonie muss also weit mehr Wert als Äquivalent für importierte Güter aus Ländern mit höherer Kapitalzusammensetzung produziert werden, als zurückgewonnen wird. Während aus Sicht des Weltmarktes ein gleichwertiger Austausch stattfindet, erscheint dies aus der Sicht der Halbkolonie als „ungleicher“ und Werttransfer in die imperialistischen Volkswirtschaften. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Wert der Außenhandelsgüter in Kaufkraftparitäten und in US-Dollar vergleicht. Hier wird in fast allen Halbkolonien der Wert der Weltmarktgüter in Kaufkraftparitäten etwa doppelt so hoch bewertet wie zumWeltmarktpreis, während in den imperialistischen Ländern der Wert in Kaufkraftparitäten meist unter dem Weltmarktpreis liegt.

Dies drückt eben aus, dass die Halbkolonien einen viel größeren Teil ihrer Arbeitskraft und Produktionsmittel für den Erwerb von Weltmarktprodukten aufbringen müssen als die imperialistischen Länder. Das Problem ist nun, dass viele Studien (z. B. Ocampo/Parra) gezeigt haben, dass sich diese „Terms of Trade“ zwischen dem globalen Norden und Süden in der Globalisierungsperiode weiter zu Ungunsten des letzteren verschlechtert haben. In den imperialistischen Ländern führt dies z. B. zu einer Erhöhung der relativen Mehrwertrate durch billigere Importe von Konsumgütern. Wenn diese vom imperialistischen Kapital angeeignet werden, resultiert dies in einer Steigerung der Profitrate.

Ein wichtiger Faktor dabei ist der Wandel im weltweiten Agrar- und Rohstoffhandel in diesem Zeitraum. Beide Sektoren waren durch bisher nicht gekannte Monopolisierungstendenzen großer, internationaler Privatkonzerne gekennzeichnet. Angetrieben von Fortschritten in der Saatgut-, Düngemittel- und Mechanisierungstechnologie haben die Agrarkonzerne vor allem in den Halbkolonien riesige Flächen übernommen und bewirtschaften sie in großem Stil, um direkt für den Weltmarkt zu produzieren. Nach Angaben der FAO kontrollieren nur 2 % aller landwirtschaftlichen Betriebe mehr als zwei Drittel der weltweiten Agrarnutzfläche, in den Halbkolonien sogar mit Großbetrieben von rund 10.000 Hektar.

Die 2,6 Milliarden Kleinbauern/-bäuerinnen auf der Welt bewirtschaften jeweils weniger als 2 Hektar. Bis vor wenigen Jahren zeichneten diese Kleinstbetriebe für 80 % der Nahrungsmittelversorgung im globalen Süden verantwortlich. Die Expansion des Agrobusiness im Zuge der Globalisierung hat nicht nur immer mehr Kleinbauern/bäuerinnen von ihren Feldern vertrieben, sondern durch billige Industriegüter auch immer mehr solcher Selbstversorgungsnetze zerstört. Die Auseinandersetzungen um die Folgen dieses Verdrängungswettbewerbs haben in den letzten Jahren zu großen Agrarprotesten, z. B. in Indien, geführt. Zudem tendiert die Abhängigkeit der Grundversorgung solcher Länder vom Weltmarkt dazu, dass dessen Preisschwankungen, z. B. durch Währungsabwertungen oder Ereignisse wie den Ukraine-Krieg, sich unmittelbar in den betroffenen Ländern manifestieren – wo sie z. B. zum Arabischen Frühling führten.

Auch im Bergbau wurden fast alle ehemaligen Staatsbetriebe privatisiert und von einigen wenigen großen internationalen Konzernen übernommen. Auch diese sind nahtlos in die globalen Lieferketten integriert worden. Durch die Kontrolle seitens der multinationalen Agrar- und Rohstoffkonzerne verlieren die Volkswirtschaften des globalen Südens weitere Punkte bei den „Terms of Trade“, indem ihre internen Märkte weiter geschwächt werden und der Werttransfer in die imperialistischen Zentren ausgeweitet wird.

Diese Bedeutung des Weltmarktes für die globale Umverteilung sowie für Direktinvestitionen und Finanzmarkttransaktionen unterstreicht die Notwendigkeit für den Imperialismus, ein „Weltgeld“, heute den US-Dollar, durchzusetzen. Es gibt einen Angleichungsprozess zwischen den imperialistischen Ländern und eine starke gegenseitige Abhängigkeit durch gegenseitige Direktinvestitionen, die auch zu geringen Schwankungen zwischen ihren Währungen in der Zeit der Globalisierung geführt haben. Andererseits müssen die Länder mit abhängiger Entwicklung große Anstrengungen unternehmen, damit ihre Währungen gegenüber dem US-Dollar nicht abwerten – sonst werden die Kosten für die benötigten Weltmarktprodukte noch höher und es droht eine Inflation.

Daher müssen sie eine möglichst ausgeglichene Leistungsbilanz und die Bildung großer US-Dollarreserven anstreben. Beides erzwingt zwangsläufig eine so genannte neoliberale Politik, d. h. Öffnung für ausländische Investor:innen – vor allem als Profiteur:innen von Privatisierungen, Haushaltskürzungen –, niedrige Sozialbudgets, minimaler Spielraum für eigene wirtschaftliche Interventionen usw. Und wenn, wie geschehen, dennoch in größerem Umfang Kapital abgezogen wird, müssen die Devisenreserven vergeudet werden, um die eigene Währung zu stabilisieren. In den letzten Jahren haben wir dieses Drama in Ländern wie Brasilien, der Türkei und vor allem Argentinien erlebt.

Nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods (Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars) ist er selbst zu einem Objekt der Finanzspekulation geraten. Heute wird er vor allem durch Kreditvergabe und Anleihekäufe der US-Notenbank geschaffen, was bedeutet, dass seine Deckung von regelmäßigen, weltweiten Zinserträgen und der Entwicklung der Wertpapiermärkte abhängt. Das geht so lange gut, wie die großen Kapitalvermögen letztlich die Finanzinstitute im US/Euro-Raum/J als sichere Häfen für Investitionen bevorzugen.

Die Finanzmarktkrise 2007/2008 hat diese kurzzeitig erschüttert, aber letztlich nur zu deren Stärkung angesichts fehlender Alternativen (durch Rückkehr zu den klassischen Anlagemärkten) geführt. Die Kehrseite dieser weiteren Rettung der US-Dollarwirtschaft war die mit QE verbundene Ausweitung von Schulden und Geldmenge. Angesichts der stagnierenden Akkumulation und der niedrigen Profitraten ist jedoch weder ein rascher Abbau von Schuldverpflichtungen noch eine Ausweitung des Warenangebots im Vergleich zur Geldmenge zu erwarten. Die inflationäre Tendenz war also bereits in der Endphase der Globalisierung angelegt. Andererseits würde eine rasche Abschreibung von Billionen wertloser Geldeinlagen und Zombie-Unternehmen, z. B. nach einem erneuten Platzen der Immobilienblasen, sowie eine damit verbundene Abwertung von US-Dollar/Euro/Yen das derzeitige Finanzsystem wohl erneut in Frage stellen – und die Frage nach konkurrierenden Währungen aufwerfen.

Durch die Russlandsanktionen im Zuge des Ukrainekrieges dürfte diese Frage für viele Länder immer dringlicher werden: Die Beschlagnahme seiner US-Dollar-/Euro-/Yen-Devisenreserven und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System zur Abwicklung des internationalen Zahlungsverkehrs in US-Dollar haben hier die imperialistische Macht des US-Dollar-Systems überdeutlich gemacht. Daher führten die von China entwickelten Alternativen wie CIPS (internationale Zahlungsabwicklung für Banken, angesiedelt bei der Bank of China), China Union Pay (für globale Kreditkartensysteme), Universal Digital Payments Networks (basierend auf Blockchain) zu einer größeren Rolle Chinas bei globalen Finanzoperationen.

Zusammen mit seiner zunehmenden Bedeutung als Direktinvestor und internationaler Kreditgeber könnte dies den RMB zu einem Konkurrenten des bisher vom US-Dollar geprägten Systems machen. Gegenwärtig hat der US-Dollar seinen Anteil an den weltweiten Devisenreserven zwischen 2000 und heute von 70 % auf 59 % verringert, was jedoch durch einen Anstieg der Anteile von Euro, Pfund und Yen auf zusammen etwa 30 % kompensiert wurde. Der RMB gehört nur zu den 10 % „Nicht-Standard“-Währungen in den Devisendepots. Sein Anteil nimmt jedoch seit einigen Jahren stark zu. Bei einer erneuten Finanzkrise, einer Stabilisierung des chinesischen Finanzsektors und einer weiteren Expansion Chinas auf dem Weltmarkt könnten wir daher in eine Phase einer multilateralen Währungswelt ähnlich der 1970er Jahre (damals mit US-Dollar, Pfund, Yen und D-Mark) abgleiten, in der auch Euro und Yen wieder eine eigenständigere Rolle spielen könnten. Dies würde die globale Steuerungsfähigkeit der Krisenprozesse nicht gerade stärken und ähnlich wie in den 1970er und frühen 1980er Jahren zu einer Phase von Währungsturbulenzen, Inflations- und Rezessionsrisiken führen.

Die EU und Russland als die schwächsten Glieder des Imperialismus

Rein quantitativ gesehen ist die EU mit einem Anteil von 17,2 % am Welt-BIP der größte Wirtschaftsraum der Welt. China und die USA liegen nur etwa 1 % dahinter (die EU ist auch die mit Abstand größte Exporteurin weltweit). Sie ist jedoch durch innere Widersprüche gekennzeichnet. Im Zentrum der EU steht ein industriell starkes Deutschland, das die EU-Peripherie von Ost- bis Südeuropa als Zuliefererin für seine Produktionsketten nutzt. Gleichzeitig verfügt es weder über global bedeutendes Finanzkapital noch über politisch-militärisches Gewicht in der Sicherheits- und Außenpolitik. Im Vergleich zu Großbritannien (solange es noch Teil der EU war) und Frankreich ist dies umgekehrt. Ergänzt wird dieser Kern durch Italien und Spanien, die zu einer Zwischenkategorie gehören. Diese 4 – 5 führenden Nationen werden durch kleinere imperialistische Mächte ergänzt, von denen die meisten mit Deutschland einen Schwerpunkt in der Exportindustrie haben, sowie durch die Benelux-, die skandinavischen EU-Länder und Österreich. Gleichzeitig ist die EU ein Wirtschaftsblock, der eine Reihe von sehr unterschiedlichen Halbkolonien integriert: südeuropäische Länder wie Portugal, Griechenland, Zypern und Malta, Balkanländer, die sehr unterschiedlichen osteuropäischen Länder (mit Polen als einem der größten EU-Länder) und die baltischen Staaten.

Die Länder des Baltikums, Osteuropas und des Balkans, die aus den ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten hervorgegangen sind, wurden während der Globalisierung stark in die Produktionsketten des deutschen, niederländischen und skandinavischen Imperialismus integriert. Dies führte zu einer Stabilisierung der Industriesektoren nach ihrem Zusammenbruch während der Restaurationsphase. Dies zeitigte jedoch auch große Einkommensunterschiede bei den Beschäftigten in den Exportindustrien und Dienstleistungsunternehmen, in den ruinierten öffentlichen Sektoren, in den von EU-Agrarsubventionen profitierenden landwirtschaftlichen Betrieben und in verlassenen, prekären Gebieten. Nachdem ein großer Teil der ehemaligen Bürokratie ins Lager der Bourgeoisie und des Managements gewechselt ist, gibt es seit den 2000er Jahren kaum noch nennenswerte linke Kräfte mit Massenunterstützung auf der politischen Bühne dieser Staaten. Die Gewerkschaften vertreten vor allem sektorale Schichten (z. B. recht erfolgreich in der Automobilindustrie mit hohen Lohnerhöhungen; dagegen eher verzweifelte Abwehrkämpfe im Gesundheitssektor).

Infolgedessen konnten in fast allen diesen Staaten politische Kräfte die Führung übernehmen, die populistisch vorgeben, die Interessen der Zurückgebliebenen zu vertreten, während sie gleichzeitig die Opposition mit einer stark nationalistischen und autoritären Politik klein halten. Während sie sich scheinbar im „Widerstand“ gegen die imperialistischen Herr:innen in Berlin, Brüssel und Co. befinden, sind sie, wenn es um „konservative Werte“ geht, die der Nation angeblich wichtig sind, umso radikaler in der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Besonders deutlich wurde dies während der Eurokrise, als die baltischen und osteuropäischen Regierungen die radikalsten Kritikerinnen „linker“ Projekte waren, die im Gegensatz zum Brüsseler Spardiktat standen.

Die Eurokrise brachte den Widerspruch deutlich zum Ausdruck, dass zwar eine gemeinsame Währung mit bestimmten Haushaltsregeln geschaffen wurde, die Akkumulationsmodelle dieser Länder aber keineswegs angeglichen waren. Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, der Niederlande und der skandinavischen Länder standen in der Krise in starkem Kontrast zum Gegenteil in Südeuropa. Dies führte zwangsläufig zu niedrigen Zinssätzen für die einen und enorm steigenden für die anderen. Die Weigerung des Europäischen Rates und der EZB, auf den Kapitalmärkten gegenzusteuern, führte unweigerlich zu einem Problem bei der Refinanzierung des enormen Schuldenanstiegs in der Zeit der Überakkumulation und im Gefolge der Großen Rezession. Um den Zusammenbruch Griechenlands oder den Austritt aus dem Euro zu vermeiden, wurden schließlich umfangreiche EU-Programme aufgelegt, um die Zahlungsfähigkeit gegenüber den privaten (meist europäischen) Gläubiger:innen zu sichern, was letztlich zu einer Verstaatlichung dieser Schuldenrisiken führte und den Südeuropäer:innen enorme Opfer für die jahrelange Bearbeitung dieser Schulden auferlegte. Der Bankrott des linken Widerstands dagegen, z. B. der Syriza-Regierung in Griechenland, führte daher zur Zementierung von Varianten neoliberaler Politik auch in Südeuropa – mit der nahezu zwangsläufigenFolge des Aufstiegs des Rechtspopulismus (z. B. in Italien und Spanien).

Der Aufstieg der europäischen Exportindustrien und ihrer internationalen Produktionsketten ist eng mit der zunehmenden Zusammenarbeit mit einem wieder erstarkenden russischen Imperialismus verbunden. Bereits in der Lissabon-Agenda wurde das Ziel eines mit dem US-Imperialismus konkurrenzfähigen EU-Blocks mit der Idee neuer Partnerschaften verknüpft. Im Hinblick auf China soll dies insbesondere für die deutsche Industrie durch eine engere Einbindung in die Produktions- und Handelsbeziehungen erreicht werden, die mittlerweile die mit den USA bei den Importen übertreffen. Der VW-Konzern generiert inzwischen 40 % seines Umsatzes in China.

Die Stabilisierung des russischen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch Ende der 1990er Jahre (der „Russlandkrise“) führte dazu, dass mit dem Putin-Regime nach der „wilden“ Privatisierungsphase eine Wiederherstellung der Staatsmacht gelang. Insbesondere die großen Energiekonzerne und die Banken wurden einer strengen staatlichen Kontrolle unterworfen, die auch ein starkes direktes Eingreifen beinhaltete (eine besondere Rolle spielte dabei die Kontrolle über die Justiz). Mit den Gewinnen der Energiekonzerne konnte auch das Leid der vielen Verlierer:innen der Restauration etwas gemildert werden (z. B. Rentner:innen). Putins Populismus gewann gerade durch die Unterstützung der ärmeren und ländlichen Bevölkerung an Stabilität und konnte so die Unzufriedenheit der verschwindend kleinen „Mittelschichten“ in Russland verkraften. Die Stabilisierung des russischen Imperialismus ist auch in Grafik 1 zu sehen, wo die Perioden starker Erholung (oder sogar Wiederherstellung) der Profitrate offensichtlich mit der gestiegenen Nachfrage nach Energie und Rohstoffen in den aufstrebenden Industriezyklen der EU und Chinas zu tun haben.

Insbesondere die starke Ausrichtung des deutschen Kapitals auf Russland („Energiepartnerschaft“, die Nord-Stream-Projekte usw.) sorgte in der EU, vor allem in den baltischen Staaten und in Osteuropa, lange Zeit für Kritik und Polemik. Dies deckte sich mit den Interessen der USA, die sich durch die EU in ihren Russland-China-Partnerschaften herausgefordert sahen. Länder wie Polen und die baltischen Staaten witterten die Chance, unabhängig von Berlin/Brüssel zu agieren und sich der Unterstützung des US-Imperialismus sicher zu sein, der auf dem europäischen Kontinent ohnehin durch die NATO engagiert ist, die in der Sicherheitspolitik eine weitaus größere Rolle spielt als die EU. Die USA wiederum nutzten vor allem ihre baltischen und osteuropäischen Verbündeten, um die Osterweiterung der NATO voranzutreiben und deren Aufrüstung zu fördern. Die sich daraus zwangsläufig ergebende Konfrontation mit Putin-Russland musste auch die „Partnerschaft“ des EU-Projekts mit ihm als Konkurrenz zur US-Hegemonie erschüttern. In den bekannten „Pufferstaaten“ Ukraine, Belarus (Weißrussland), Georgien, wo es sowohl westliche als auch russische Machteinflüsse gab, musste diese Konfrontation schließlich in heiße Konflikte umschlagen.

Die genaueren Hintergründe und Verläufe dieser Konflikte werden an anderer Stelle behandelt. Wichtig ist hier, dass mit dem Ukrainekrieg das Projekt des EU-Blocks gegenüber Russland völlig gescheitert ist. Selbst die engen Beziehungen zu China geraten angesichts der engeren Beziehungen zwischen diesem und Russland ins Wanken. Das ist eine Katastrophe vor allem für den deutsch-französischen Kern der EU. Einerseits ist die Exportwirtschaft Deutschlands (aber auch der Niederlande und Österreichs) durch den Wegfall der russischen Energieimporte enorm betroffen. Der Anstieg der Energiepreise trifft Industrien, die bereits stark unter Versorgungsproblemen und Preisschocks leiden. Kurzfristig wird dies sicherlich zu Rezessionstendenzen führen. Insgesamt aber muss sich ein geschwächtes europäisches Kapital wiederum dem US-Kapital unterwerfen und sein Geschäftsmodell radikal auf eine atlantische Anbindung umstellen. Dies wird in der EU auch von den Regierungen in Polen und den baltischen Staaten vorangetrieben, die sich nun auf der Siegerstraße mit den USA sehen. Nach dem Brexit kann der britische Imperialismus auch eine neue Rolle als Vermittler in der Unterordnung unter die USA spielen und mit der Nordirlandfrage weiter an der Integrität der EU rütteln. Ein wirtschaftlich und politisch stark geschwächtes Kerneuropa um Deutschland, Frankreich und Italien ohne hegemoniales Projekt wird die Tendenzen, die EU zu einer immer loseren Interessengruppe zu transformieren, kaum aufhalten können – während die Integrationstendenzen immer schwächer werden.

Russland wird, wie immer der Krieg ausgeht, wirtschaftlich und politisch enorm geschwächt sein. Es hat seine wichtigsten Handelsbeziehungen verloren ebenso wie die Aussicht, über die EU und insbesondere Deutschland eine Alternative zum Bündnis mit China aufzubauen. Dies wird es dazu zwingen, seine zentralen Verbündeten, wahrscheinlich aus einer schwachen Position heraus, in China und Indien zu suchen. Dieses Bündnis trüge sicherlich das wirtschaftliche Potenzial, dem von den USA geführten Block zu widerstehen. Es ist jedoch noch nicht klar, ob China weiterhin versuchen könnte, in diesem Block zu operieren und seine wirtschaftlichen Beziehungen (die weitaus stärker sind als die zu Russland) auszubauen. Insbesondere in Lateinamerika, Afrika und vielen Regionen Asiens kann China den US-Imperialismus bereits herausfordern. Ob Russland für China als Lieferant von Öl, Waffen und Söldner:innen wichtig ist, bleibt abzuwarten. Andererseits gibt es in einigen zentralasiatischen (sehr rohstoffreichen) Ländern und an den Tausenden von Kilometern gemeinsamer Grenze genügend Konfliktpunkte zwischen China und Russland.

Energie, Wachstum und ökologische Krise

Wie in vielen Studien bestätigt, ist eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und entsprechendem Anstieg des Energieverbrauchs aus globaler Sicht bis heute nicht gelungen. Das bedeutet, dass die „Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“ entgegen den Ankündigungen unter dem Schlagwort „Green Economy“ auf der „Nachhaltigkeitskonferenz“ von Rio 2012 nicht gelungen ist. Die versprochenen „neuen Technologien“ und „effizienteren Wirtschaftsweisen“ ändern nichts an der Tatsache, dass der Zwang zu ständig steigender Kapitalakkumulation mit einem ebenso zunehmenden Energie- und Rohstoffhunger verbunden ist.

Grafik 6: Verhältnis BIP-Wachstum und Energieverbrauch

Abbildung 6 zeigt die enge Korrelation zwischen dem Wachstum des BIP (nach Angaben der Weltbank) und dem des Energieverbrauchs (gemessen in Litern Öläquivalenten, nach EPWT). Die Schwankungen des Energieverbrauchs sind stärker, da sie enger mit den physischen Zyklen in der Industrie verbunden sind (dennoch beträgt die Korrelation 0,75). Auch wenn der Anstieg des Energieverbrauchs in den USA im letzten Jahrzehnt geringer war (da auch die Wachstumsraten zurückgingen), wird dies weltweit durch seinen enormen Anstieg in China kompensiert (Wachstumsraten von bis zu 14 % im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre; danach immer noch Raten von bis zu 10 %) und, nachdem sich der Anstieg in China Mitte der 2010er Jahre verlangsamt hat, durch einen Anstieg des Energieverbrauchs insbesondere in den asiatischen Lieferländern für China wie Indonesien um 5 % von einem viel niedrigeren Niveau aus.

Während der weltweite Energieverbrauch im Globalisierungszeitraum (1990 – 2019) um rund 60 % gestiegen ist, hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien nur von 22 % auf 29 % erhöht. Weltweit, insbesondere in den Halbkolonien, stand und steht die Wasserkraft im Vordergrund (16 %). Allerdings besitzen die großen Staudammprojekte auch enorme ökologische Nachteile (siehe die Auseinandersetzungen um den Grand Ethiopian Renaissance Dam oder den Staudamm am Rio San Francisco in Brasilien). Auch Photovoltaik und Windkraft erzeugen bei der Rohstoffgewinnung, der Produktion, dem Flächenverbrauch, der Lieferung und dem Betrieb Treibhausgase, sind also nicht 100 %ig „CO2-frei“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge der Globalisierung die Treibhausgasemissionen insgesamt gestiegen sind, ebenso wie der Ressourcen- und Flächenverbrauch für die Energieerzeugung. Jede neue Wachstumswelle wäre daher im Kapitalismus mit neuen ökologischen Katastrophen verbunden. Entweder beschleunigt sich die Klimakatastrophe durch die Beibehaltung fossiler Energieträger oder der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien verbraucht massiv Land, Rohstoffe, Ökosysteme (z. B. Wasserkraft) oder Nahrungsmittel (z. B. für Biokraftstoffe). In jedem Fall wird die Frage nach einer nachhaltigen Wirtschaft, die die massenhafte Energieverschwendung durch eine effiziente Planung im globalen Maßstab ersetzt, zunehmend zu einer des Überlebens für die Menschheit. Die in der ökologischen Bewegung verbreitete Illusion einer „Gesellschaft ohne Wachstum“ („Degrowth“) oder der „Entkopplung von Wachstum und Energieverbrauch“ („Green Economy“) wird sich im Kapitalismus nicht realisieren lassen. Die unmittelbare Folge der Grenzen des bestehenden Energiesystems und der Umstellung auf erneuerbare Energien wird ein langfristiger Anstieg der Energiepreise sein. Die „billige Energie“, auf der die Zeit der Globalisierung basierte (z. B. durch die Autarkie der USA durch steigenden Verbrauch fossiler Ressourcen, billiges russisches Öl und Gas), wird kaum wiederkommen.

Corona und Ukrainekrieg als Krisenauslöser

Bereits 2019 deuteten viele Indikatoren auf ein erneutes Abgleiten der Weltwirtschaft in eine globale Rezession und eine tiefere Krise zu Beginn der 2020er Jahre hin. Auch wir haben diese Erwartung in unsere Perspektiven aufgenommen. Im Jahr 2018 schrieben wir: „Die Überwindung des stagnierenden Aufschwungs 2010 – 2016 und die gravierenden Widersprüche des aktuellen Aufschwungs bedeuten, dass wir auf eine nächste Rezession vorbereitet sein müssen, die um das Jahr 2020 eintreten könnte. Die Probleme der Schwellenländer und die Handelskonflikte machen es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Rezession handeln wird, die nicht auf einige Länder oder Regionen beschränkt sein wird. Wie tief die Krise sein wird, hängt von der Verlangsamung in China, den Turbulenzen in den Schwellenländern, der EU-Krise und sicherlich von den Schockwellen der Schulden- und Finanzkrise ab.“ Wir hatten die kurze Erholungsphase nach 2016 bereits als Ergebnis der Rückkehr des Kapitals gesehen, die nicht auf einer nachhaltigen Verbesserung der Rentabilität und Modernisierungsinvestitionen beruhte, sondern durch Probleme wie Schwellenländerkrisen, verstärkte Deglobalisierungstendenzen, das Abwürgen des chinesischen Aufschwungs und die anhaltende EU-Krise ins Gegenteil verkehrt werden würde. Die Prognose war insgesamt nicht falsch – nur der Auslöser der Krise im Jahr 2020 war ein ganz anderer, der von kaum jemandem vorhergesehen werden konnte.

Wie so oft in der Geschichte des Kapitalismus war es ein äußerer Schock, der die Krise auslöste, aber letztlich nur zum Beschleuniger der tieferen Krisenmomente wurde: das plötzliche Auftreten einer sich schnell ausbreitenden Pandemie Anfang 2020, die durch das hochansteckende Coronavirus (Sars-CoV-2) verursacht wurde und zu einer lebensbedrohlichen Krankheit, Covid-19, führte. Das Auftreten von Pandemien ist für die kapitalistische Epoche nichts Neues (Spanische Grippe), wurde aber durch die Fortschritte in der Medizin und insbesondere Mikrobiologie als reale Gefahr stark aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Die industriellen Formen der Massentierhaltung und der weltweite Handel mit exotischen Tieren sind ideale Brutstätten für Erreger, die vom Tier auf den Menschen überspringen (Zoonose). Die genauen Ursprünge des Erregers Sars-CoV-2, der erstmals in der chinesischen Stadt Wuhan registriert wurde, werden noch erforscht. Klar ist jedoch, dass die starke zwischenmenschliche Interaktion auf internationaler Ebene aufgrund der Globalisierung dazu geführt hat, dass dieses Virus, das sich durch die Luft verbreitet, überall auf dem Globus auftaucht.

Tatsächlich erwiesen sich die üblichen epidemiologischen Schutzmaßnahmen im internationalen Reiseverkehr als völlig unzureichend. In nur einem Monat war im Frühjahr 2020 praktisch jedes Land der Welt mit einem Ausbruch konfrontiert. Es wurde auch schnell klar, dass ein ausreichend großer sofort zu einem exponentiellen Wachstum der Viruserkrankungen führen würde, was in kurzer Zeit die Kapazitäten der intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten fast aller bestehenden Gesundheitssysteme übersteigen würde. Die drei bekannten Reaktionsmodelle bestanden in (1) der Entwicklung einer Herdenimmunität, indem die Infektion durch die Bevölkerung weitergegeben wird; (2) strengen Quarantänemaßnahmen zur Isolierung der Ausbrüche und damit zum Austrocknen der Infektion (Null-Covid); (3) der Begrenzung des Anstiegs der Infektion auf ein Niveau, das die Gesundheitssysteme kontrollieren können, in der Hoffnung auf frühzeitige Einführung eines wirksamen Impfstoffs.

Alle diese Strategien trugen auf ihre Weise ernste wirtschaftliche Folgen: Der Ansatz der Herdenimmunität führt zu vielen Krankheiten und Todesfällen und natürlich zu Produktionsausfällen. Die Null-Covid-Strategie in China schien zunächst äußerst erfolgreich zu sein, da sie die Sperrungen auf einige wenige, „kleinere“ Zentren beschränkte, während der Großteil der chinesischen Wirtschaft weiterlaufen konnte. Doch schließlich waren im Jahr 2022 auch sehr große Wirtschaftszentren betroffen, in denen die strengen Isolierungsmaßnahmen selbst mit den autoritären Methoden des chinesischen Seuchenschutzes nur schwer durchsetzbar waren, was zu einer Kettenreaktion von Einbrüchen der Wirtschaftstätigkeit in ganz China führte.

In den westlichen imperialistischen Ländern wurde zumeist die „Eindämmungs“strategie verfolgt, eine Mischung aus Kontakt- und Reisebeschränkungen und kleineren Abriegelungen, die nur eine sehr kurzfristige Unterbrechung der Produktion zum Ziel hatten. Die geringeren Restriktionen führten zwar zu weniger direkten wirtschaftlichen Folgen, machten das Virus aber auch langfristig „heimischer“ und förderten zusammen mit der Strategie der Herdenimmunität weltweit eine rasche Abfolge neuerer Mutationen des Virus, die mit Kontaktbeschränkungsmaßnahmen immer schwerer zu bekämpfen sind. Eine Entspannung ergab sich erst durch die überraschend schnelle Entwicklung wirksamer Impfstoffe, die bereits Ende 2020 klinisch erfolgreich getestet wurden. Hier wiederum begann die irrationale, global ungeplante Herangehensweise des Kapitalismus an ein weltweites Problem zu wirken: Anstatt Impfstoffe systematisch und je nach Ansteckungsdichte weltweit zu verteilen, wurde ein Großteil von den westlichen imperialistischen Zentren aufgekauft.

In diesen Ländern konnte zwar eine gewisse Beruhigung der Coronapandemie erreicht werden, aber vor allem im globalen Süden (der mit Testkits bereits schlecht versorgt war) war die Versorgung, vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu gering, um einen angemessenen Schutz zu bieten. Infolgedessen kam es 2021 zu weiteren Todesfällen und die Möglichkeit neuer Mutationen und Infektionswellen auf der ganzen Welt wurde ebenfalls vorbereitet. Während viele imperialistische Länder Mitte 2021 bereits das Ende der Pandemie feierten, wurde die Welt in der zweiten Hälfte des Jahres erneut von einer heftigen Infektionswelle getroffen. Mit den Omikronvarianten und den erreichten Impfquoten hat sich die Lage seit dem Frühjahr 2022 zwar beruhigt, von einer Entwarnung kann aber keine Rede sein. Nach Ansicht der meisten Expert:innen ist das Virus nicht endemisch geworden (d. h. auf das Niveau einer normalen Grippewelle gesunken). Es kann immer noch eine gefährlichere, ansteckende Variante von Sars-CoV-2 auftreten, die eine weitere Welle auslösen könnte, die die Intensivstationen wieder füllt. Es kann also nur eine vorläufige wirtschaftliche Bilanz gezogen werden.

Abbildung 7: Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden nach 2019

Im Gegensatz zur Großen Rezession von 2008/2009 wurde die Krise von 2020/2021 nicht direkt durch die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation ausgelöst. Aber die Unfähigkeit des Kapitalismus, diese Krise tatsächlich auf globaler Ebene zu bekämpfen, bedeutete, dass der externe Schock der Pandemie zum Verstärker der bereits bestehenden Krisentendenz geriet. Die unmittelbare Auswirkung der Pandemie im Frühjahr 2020 bestand darin, dass innerhalb von ein bis zwei Monaten die Produktions- und Handelsströme fast überall auf der Welt zum Erliegen kamen (aufgrund von verschiedenen Schließungen, Einschränkungen am Arbeitsplatz, Grenzschließungen usw.). Auch wenn in der Folgezeit mit Ausnahme Chinas keine drastischen Maßnahmen ergriffen wurden, so wurden doch einige Wirtschaftszweige langfristig eingeschränkt. Vor allem kam es zu einem starken Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden aufgrund von Krankheiten, der viele Monate anhielt. Abbildung 7 zeigt den von der ILO gemessenen Einbruch der globalen Arbeitsstunden nach Ende 2019. Er geriet im zweiten Quartal 2020 zum stärksten, der jemals gemessen wurde, sogar schlimmer als in den Jahren 2008/2009: Während die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2020 um 2,6 Stunden sank, waren es in der „Großen Rezession“ nur 0,6 Stunden (ILO Monitor Covid-19, 2021). Der Einbruch war regional deutlich gestaffelt: Lateinamerika, Südostasien, Nordafrika und Südeuropa waren die Länder mit den größten Arbeitszeitverlusten.

Vor allem in Anbetracht des letztgenannten Punktes ist es nicht verwunderlich, dass es zu enormen Einbrüchen in den globalen Lieferketten und im Welthandel kam. Der Welthandel mit Gütern ging bis 2020 um 8,2 % zurück, der mit Dienstleistungen sogar um 16,7 %. Die Störungen der „globalen Wertschöpfungsketten“ (GVC) sind schwieriger zu quantifizieren. Studien der WTO zeigen jedoch, dass die GVC in Korrelation mit dem Welthandel Versorgungsprobleme aufwiesen, die Störung aber viel langfristiger anhielt (asynchrone Wellen in den verschiedenen Regionen, häufige Unterbrechungen der Transportketten, Dominoeffekte bei Versorgungskettenproblemen, Nachfrageschwankungen usw.). Darüber hinaus rückte ein weiteres wichtiges Moment in den Vordergrund: Bereits in der kurzfristigen Erholungsphase der Industrien des klassischen Imperialismus nach 2016 begann das Phänomen des „Reshoring“ (im Gegensatz zum „Offshoring“ Anfang der 2000er Jahre): Durch verstärkte Automatisierung und KI können westliche Industrien im Rahmen der „Industrie 4.0“ angesichts gestiegener Transportkosten billigere Arbeitskräfte in Halbkolonien einsetzen. Im Zuge der Versorgungsrisiken in der Coronakrise hat sich diese Tendenz zum Reshoring nun offensichtlich verstärkt – um mit dem Ukraine-Krieg nochmals beschleunigt zu werden.

Ursprünglich verkündeten die meisten Wirtschaftsforscher:innen zu Beginn der Coronakrise, dass nach einem kurzen Produktionsstillstand, der durch staatliche Hilfen abgefedert werden konnte, das Wachstum der Vorkrisenzeit nach einer ebenso schnellen Erholungsphase nach dem scharfen Abschwung nahtlos in einer Art V-Form fortgesetzt werden könne. Zu Beginn des Jahres 2021 schien sich diese optimistische Prognose zusammen mit dem Beginn der Impfkampagnen zumindest in den imperialistischen Ländern zu erfüllen. Doch in der zweiten Hälfte des Jahres schlug nicht nur eine neue Coronawelle zu, sondern auch die langfristigen Probleme im Welthandel und in den globalen Wertschöpfungsketten machten sich bemerkbar. So klagten drei Viertel der deutschen Industriebetriebe über wesentliche Lieferprobleme (VW musste wegen fehlender Teile auf Kurzarbeit zurückgreifen), weltweite Produktionsausfälle, gestiegene Rohstoff- und Energiepreise usw. Der versprochene Aufschwung brach also sofort zusammen. Dies hatte aber noch eine weitere unangenehme Folge: Die zu Beginn der Coronakrise ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft bewahrten viele Unternehmen vor dem Zusammenbruch und hielten die Nachfrage nach Konsumgütern auf hohem Niveau – allerdings in der Annahme, dass Produktion und Welthandel bald wieder in Gang kommen und diese Nachfrage dann befriedigen könnten. Das fehlende Wachstum des Angebots führte im Jahr 2021 zu einem Nachfrageüberhang, der zu einem Preisanstieg führen musste.

Es sind also nicht die „lockere Geldpolitik“, die „mangelnde Haushaltsdisziplin“ oder gar „zu hohe Löhne“, die die Inflation auf den Stand der 1970er Jahre zurückbrachten, sondern ist eindeutig das Problem der Stagnation des globalen Produktionsprozesses, das zu einem Angebotsschock führte.  In diesem Punkt können wir Michael Roberts zustimmen: „Die kapitalistische Produktion und die Investitionen verlangsamten sich, weil die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften vor der Pandemie nahezu historische Tiefstände erreicht hatte. Die Erholung der Investitionen und der Produktion nach COVID war nur ein ,Zuckerrausch’, als sich die Volkswirtschaften wieder öffneten und aufgestaute Ausgaben freigesetzt wurden. Jetzt wird deutlich, dass das Produktions- und Investitionswachstum in den großen Volkswirtschaften einfach zu schwach ist, um auf die wiederbelebte Nachfrage zu reagieren.  Daher ist die Inflation in die Höhe geschossen“ (M. Roberts,  https://thenextrecession.wordpress.com/2022/06/18/a-tightening-world/).

Grafik 8: Verschuldung der Industrieländer, in Prozent des BIP (1970 – 1918)

Darüber hinaus gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt der Krisenverschärfung: die Rolle der Schulden. Die Krisenpolitik nach der Großen Rezession hat die globale Schuldenlast enorm erhöht. Zu Beginn der Coronakrise betrug das globale private und öffentliche Schuldenvolumen das 2,6-fache des Welt-BIP (siehe Grafik 8: Verhältnis zwischen Schulden und BIP, nach „Die Volkswirtschaft“, einer Publikation des Schweizer Wirtschaftsministeriums). Mit den Rettungspaketen, Anleihekäufen, Wirtschaftshilfen usw. der Coronawirtschaftspolitik beträgt die Schuldenlast heute mehr als das Dreifache des Welt-BIP. Für imperialistische Länder, deren privates Kapitalvermögen das 4- bis 6-Fache des jeweiligen nationalen BIP ausmacht, mag das noch finanzierbar sein – in Halbkolonien muss es jedoch zu den bekannten Mustern von Schuldenkrisen führen. Auch in den imperialistischen Ländern zieht dies einen wachsenden Anteil an Kapital nach sich, das in Anlagen mit geringer Rendite gebunden ist. Laut Bloomberg stieg der Index der in Grafik 3 erwähnten Zombie-Unternehmen im Jahr 2022 auf über 20 % (31/05/22 „Zombie Firms Face Slow Death in US as Era of Easy Credit Ends“). Das bedeutet, dass das Kapital, das jetzt für Reshoring, „Industrie 4.0“ oder die Energiewende benötigt würde, fehlt. Zudem treibt die schuldenfinanzierte Nachfrage die Inflation weiter auf hohem Niveau an. Eine weitere Ausweitung des Schuldenregimes stößt daher derzeit auf den erbitterten Widerstand mächtiger Kapitalfraktionen, insbesondere der nach profitablen Investitionen suchenden Finanz- sowie der profitablen Industriekapitale. Diese drängten die Zentralbanken zu einem Ende des „Quantitative Easing“.

Die Einstellung der Anleihekäufe für angeschlagene Unternehmen und die Anhebung der Zinssätze, auf die sich die großen Zentralbanken nun konzentrieren (QT; Quantitative Tightening), wird unweigerlich zu einem mehr oder weniger schnellen Ausfall der Zombie-Unternehmen führen. Da es sich dabei um große Unternehmen, z. B. in der Luftfahrt- oder Energiebranche, handelt, werden sich sicherlich wieder einige die Frage stellen, ob der Zusammenbruch eines Unternehmens eine Kettenreaktion wie beim Zusammenbruch von Lehman im Jahr 2008 auslösen könnte. Die Zentralbanken und Regierungen werden die nächsten 2 – 3 Jahre damit verbringen, die verschuldeten Unternehmen abzuwickeln, ohne dass es zu einer Pleitewelle oder dem Platzen von Finanzblasen kommt. Die Bankenkrise vom März 2023 markierte bereits ein deutliches Anzeichen der Anpassungsprobleme der Geschäftsbanken an die restriktivere Geldpolitik der Zentralbanken (Zusammenbruch der zweitgrößten Schweizer Bank). Andererseits könnte ein zu langsames Tempo den Trend zur Stagflation weiter verstärken. Denn eine steigende Inflation könnte zusammen mit den bereits bestehenden Wachstumshemmnissen schnell zu einer Abwärtsspirale aus ungünstigen Inputkosten und mangelnden Investitionen führen, die auch durch steigende Kreditzinsen behindert werden. Die Zusammenbruchsszenarien hingegen können zu rasch steigender Arbeitslosigkeit, Ausfall von Produktions- und Lieferketten und schließlich zusätzlich über eine Angebots- zu einer Nachfragekrise führen – also zu Deflation und Stagnation, d. h. zu einer Depression. In jedem Fall kommt das Kapital unter diesen Bedingungen nicht mehr umhin, seine Überakkumulationskrise durch Kapitalvernichtung zu lösen. Ob dies nun durch Stagflation, Depression oder ein gefährliches Manöver dazwischen geschieht und wie die Ausmaße regional unterschiedlich ausfallen werden, sicher ist, dass jede dieser Lösungen mit massiven Verschlechterungen für die Arbeiter:innenklasse und heftigen Angriffen auf ihre Errungenschaften verbunden sein wird.

Wie auch immer sich die Inflation entwickelt, die Höhe der Löhne und Sozialleistungen bildet sicher nicht ihre Ursache. Die Arbeit„nehmer“:innen haben im letzten Jahr damit begonnen, ihre in einigen Bereichen durch Reshoring und „angespannte Arbeitsmärkte“ gestärkte Verhandlungsposition für Kämpfe zum Schutz des Lohnniveaus zu nutzen. Insbesondere darf man sich durch das Gerede von der „Lohn-Preis-Spirale“ nicht dazu drängen lassen, auf einen nachhaltigen Inflationsausgleich zu verzichten: Jede kurzfristige Entlastung, die jetzt angeboten wird, führt nur dazu, dass bei einer weiteren Verschärfung die Kampfkraft zur Abwehr weiterer Lohneinbußen noch schlechter ausfällt. Der Verzicht auf einen Inflationsausgleich ist keine „Inflationsbekämpfung“, sondern ein Mittel zur Gewinnsteigerung (so wie bestimmte staatliche Subventionen für die Mineralölindustrie in Deutschland nicht zur Senkung der Benzinpreise, sondern zur „Förderung“ der Gewinne der Unternehmen eingesetzt wurden).

In Zeiten der Inflation müssen die Preissteigerungen durch Klassenkampf gegen die Profite aufgefangen werden, sei es durch gleitende Lohntarife, Preiskontrollen oder Gewinnsteuern – jeweils verbunden mit entsprechenden Kontrollgremien der Arbeiter:innenklasse. Da sich die Preissteigerungen vor allem um die Bereiche Energie, Wohnen und Verkehr drehen, müssen auch hier weitere Kämpfe geführt werden, für die Verstaatlichung der Energieunternehmen, der Wohnungsbaugesellschaften und für den Ausbau des kostenlosen öffentlichen Verkehrs. Wir müssen uns auf die kommende Welle von Betriebsschließungen und Entlassungen vorbereiten, damit nicht jeder einzelne Betrieb auf verlorenem Posten für sich kämpft. Die Krise muss mit einer Welle von Besetzungen, Streiks, letztlich dem Generalstreik, um die Verteilung der immer noch steigenden Arbeit auf alle, verbunden mit einer entsprechenden Anpassung der Wochenarbeitszeit, einhergehen.

Krieg und Kriegswirtschaft

Natürlich wird die derzeitige Krisenphase dadurch verschärft, dass die neue Blockbildung der imperialistischen Mächte zunehmend auf eine militärische Konfrontation drängt. Nachdem das Ende der Coronakrise Anfang 2022 die schlimmsten wirtschaftlichen Einbrüche abzumildern schien, begann Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dies hat zu einer Konfrontation zwischen dem „westlichen“ und russischen Imperialismus geführt, die es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Die EU hat gemeinsam mit der NATO und den USA weitreichende Wirtschaftssanktionen ergriffen, die auch Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft nach sich ziehen. Länder wie China, Indien oder Brasilien, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen, sind von den Sekundärsanktionen nicht betroffen, müssen aber eine langfristige Schwächung ihrer Handelsbeziehungen mit „dem Westen“ befürchten, insbesondere was China betrifft. Kurzfristig werden China und Indien jedoch vom billigeren Zugang zu russischem Gas, Öl, Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen profitieren.

Die Sanktionen beinhalten zum einen den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT und die Sperrung von russischen Devisenkonten in „westlichen“ Währungen. Damit sind Direktinvestitionen in Russland unmöglich bzw. weitgehend eingestellt worden. Ebenso ist der Handel praktisch zum Erliegen gekommen – mit der wichtigen Ausnahme von Gas und Öl, da ein sofortiger Stopp in den meisten EU-Ländern akut zu einer tiefen Rezession geführt hätte. Die Wirtschaftssanktionen betreffen also hauptsächlich die EU-Imperialist:innen selbst. Während Russland große Probleme mit der Einfuhr westlicher Hochtechnologie bekommt, kann es sein Öl weiterhin zu guten Preisen an die nicht sanktionierenden Länder liefern. Hinzu gesellt sich das Problem des Weltagrarmarktes: Vor dem Krieg belegten Russland und die Ukraine einen Anteil von 15,8 % bzw. 9,8 % am weltweiten Getreideexport – beide sind durch die Blockade der Schwarzmeerhäfen und des Bosporus gefährdet bzw. extrem eingeschränkt. Angesichts des oben beschriebenen Wandels in den Subsistenzwirtschaften der Halbkolonien drohen in vielen Ländern des globalen Südens Hungerkrisen. Während der Weltmarktindikator „Food Price Index“ während der Coronakrise von 100 % in den Jahren 2014 – 2016 auf über 150 anstieg, nahm er während des Ukrainekrieges auf 250 zu. Auch die Energiepreisindizes sind durch den Krieg von ihrem bereits hohen Coronaniveau aus so stark angestiegen, dass die EU-Industrie allein in diesem Jahr voraussichtlich 30 % höhere Energiekosten zahlen muss (sofern es nicht noch schlimmer kommt). Damit hat der Krieg die bereits bestehende inflationäre Tendenz weiter beschleunigt. Insbesondere für das EU-Kapital stellen der Energiepreisschock und der Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland einen weiteren Krisen- und Inflationsbeschleuniger dar. Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt man aber auch über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome Russland in die Schuhe zu schieben und die wirtschaftlichen Angriffe auf soziale Errungenschaften als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen.

Natürlich bringt der Krieg auch direkte wirtschaftliche Auswirkungen mit sich: Die Ukraine selbst ist natürlich das Hauptopfer der massiven Zerstörung und der extremen menschlichen Verluste. Wer die Kosten für den Wiederaufbau des ohnehin bitterarmen und hoch verschuldeten Landes (die Ukraine hat das halbe Pro-Kopf-Einkommen Bulgariens, des bisher ärmsten EU-Lands, und war bereits Opfer mehrerer IWF-Umschuldungsprogramme) tragen wird, ist mehr als unklar und wird in einem EU-Beitrittsprozess Milliarden verschlingen, mit entsprechenden Auflagen für einen mehr oder weniger offenen Kolonialstatus des Landes in der EU. Für Russland bedeutet der Krieg jeden Tag Kosten in Milliardenhöhe (von den menschlichen Opfern ganz zu schweigen). Es ist durchaus möglich, dass es nach dem Krieg angesichts der Kosten und der Folgen von Sanktionen in den Staatsbankrott schlittert, je nachdem wie lange er dauert. Ein möglicher Wechsel an der Spitze des Staates macht aber eine weniger nationalistische Ausrichtung Russlands keineswegs wahrscheinlicher. Sicherlich muss es sich finanziell, handelspolitisch und auch bei der militärischen Ausrüstung sehr stark an China anlehnen, um überhaupt als (untergeordnete) imperialistische Macht überleben zu können.

Obwohl die westlichen imperialistischen Mächte noch nicht direkt mit kämpfenden Einheiten in der Ukraine zusammengearbeitet haben (auch wenn freiwillige „Ex-Soldat:innen“ ermutigt werden), haben sie die ukrainischen Streitkräfte bereits vor dem Krieg massiv ausgerüstet und ausgebildet und sie im Krieg mit Waffen, Logistik und Informationsdiensten sowie mit der Ausbildung an den neueren Waffensystemen unterstützt. Darüber hinaus wurde der Krieg genutzt, um die Präsenz der NATO-Truppen und aller Arten von Waffen entlang der Ostfront auszubauen. Mehrere EU-Staaten haben umfangreiche Aufrüstungsprogramme beschlossen (darunter auch Deutschland). Nach Angaben der Washington Post haben allein die USA von 2014 bis 2021, also bereits vor dem Krieg, 2,7 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe bereitgestellt. Im ersten Jahr des Ukrainekriegs haben die USA 48 Milliarden US-Dollar an finanzieller und militärischer Hilfe geleistet, während die EU-Staaten (und die Union) 52 Milliarden US-Dollar aufbrachten. Zusammen mit der Hilfe des Vereinigten Königreichs und anderer Länder (Kanada, Australien, … ) hat die Ukraine im ersten Kriegsjahr eine Hilfe erhalten, die dem BIP entspricht, das sie im Jahr vor dem Krieg produziert hat. Allein die USA haben seit Beginn des Krieges bis November 2022 direkte Militärhilfe in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar geleistet (alle diese Daten stammen aus dem „Ukraine Support Monitor“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“, das der deutschen Regierung und dem Deutschen Arbeit„geber“verband nahesteht). Im Vergleich dazu haben die USA in einem durchschnittlichen Jahr vor 2021 280 Millionen US-Dollar in Afghanistan investiert.

Der Großteil der bis Ende 2022 an die Ukraine gelieferten Ausrüstung stammte aus den Beständen westlicher Armeen. Dies ging mit einer langfristigen Erneuerung mit moderneren Waffen in diesen einher. Schon vor dem Krieg gehörte die Rüstungsindustrie im Westen zu den am schnellsten wachsenden Bereichen der imperialistischen Länder. Während der Coronakrise wuchs sie im Jahr 2021 um 2 %. Im ersten Quartal 2022 konnten Panzer- und Artilleriehersteller:innen wie Rheinmetall ihre Gewinnspanne um 10 % steigern. Doch das Beste für diese Unternehmen steht noch bevor. Ende 2022 wird immer deutlicher, dass die Lieferungen aus Lagerbeständen für die ukrainische Armee nicht ausreichen. Sie verbraucht pro Tag Munition, die den Vorrat ganzer NATO-Armeen aufbraucht, so dass Anfang 2023 ein erheblicher Munitionsmangel entsteht, vor allem für die moderneren Waffen (z. B. die Leopardpanzer, die Munition aus Schweizer Produktionsstätten benötigen würden). Dies erfordert nun eine direkte Lieferung aus westlichen Produktionsstätten. Normalerweise dauert es bei komplexeren Waffen 28 Monate von der Bestellung bis zur Lieferung. Einiges davon war zwar bereits vorbereitet, aber die NATO-Regierungen haben nicht mit einem so langen Zermürbungskrieg gerechnet – vor allem nicht mit der Menge an konventionellen Waffensystemen wie Panzern und Artillerie. Die westliche Führung appelliert nun an die Industrie, riesige Rüstungsprojekte auf die Beine zu stellen, um Vorräte anzuhäufen und schnell auf den Kriegsschauplatz liefern zu können. Die Vertreter:innen der Rüstungsindustrie reagierten eifrig, verwiesen aber gleichzeitig auf die gestiegenen Produktionskosten und verlangten strenge Zahlungsverpflichtungen. Während also die militärische Unterstützung bisher nur über die Lieferung aus Vorratsdepots finanziert wurde, wird deren Kalkulation nun direkt zur Staatsverschuldung beitragen.

Da die westlichen Imperialist:innen also auf eine Kriegswirtschaft zusteuern, wird dies spezifische Auswirkungen auf die weltwirtschaftlichen Krisentendenzen mit sich führen. Einerseits hat das Wachstum der Rüstungsindustrien kurzfristige Auswirkungen in Form von Nachfrage- und Beschäftigungswachstum. Da es sich dabei aber um unproduktive Arbeit für den Kapitalkreislauf handelt, löst sie in keiner Weise die langfristigen Probleme der Kapitalverwertung. Dies kommt in der Frage der Finanzierung dieses Wachstums zum Ausdruck. Wie beim Vietnamkrieg in den 1960er/1970er Jahren ist nicht zu erwarten, dass die Kriegsanstrengungen über Steuererhöhungen finanziert werden. Er (wie später auch Afghanistan) wurde vor allem über eine massive Erhöhung der Staatsverschuldung und eine Ausweitung der verfügbaren Geldmenge finanziert. Der Vietnamkrieg verkörperte somit den Beginn der ersten Inflationsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wir bereits in das zweite Jahr des Ukrainekrieges mit hohen Inflationsraten und einem astronomischen Schuldenstand eintreten, wird der Drang zur Kriegswirtschaft das QT-Projekt des Schulden- und Inflationsabbaus konterkarieren. Hinzu kommen die unmittelbaren Probleme der Rüstungsindustrie selbst: Wie alle Industrien weist sie Versorgungsprobleme (z. B. im wichtigen Bereich der Halbleiter oder Rohstoffe) durch Preissteigerungen bei Vorprodukten und Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auf. Letzteres hängt auch mit der Notwendigkeit zusammen, die Produktionsketten der Rüstungsindustrie in den „zuverlässigen“ imperialistischen Kern zu verlagern. Nicht zuletzt gehört sie auch zu den größten Produzentinnen von Treibhausgasen und muss vor allem in den imperialistischen Kernländern zunehmende Restriktionen einhalten. All dies führt zu explodierenden Kosten des neuen Wettrüstens. Wie im Fall des Vietnamkriegs könnten die hohen wirtschaftlichen Risiken, die auf dem Spiel stehen, die USA dazu veranlassen, eine direkte Beteiligung in Betracht zu ziehen, um einen schnellen Sieg sicherzustellen.

Der Faktor China

Nach eher pessimistischen Prognosen für 2023 in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres sind die bürgerlichen Ökonom:innen seit Anfang dieses Jahres wieder erstaunlich optimistisch. Während sie in allen großen imperialistischen Volkswirtschaften rezessive Tendenzen sahen, erwarten sie jetzt nur noch im Vereinigten Königreich einen Einbruch. Während sie einen Trend zu einem globalen Wachstum von unter 2,7 % voraussagten, reden sie nun über einen in Richtung 3 % – eine mögliche „sanfte Landung“ nach der „Überhitzung nach der Pandemie“. Eine Grundlage für den Optimismus sind Daten über sinkende Inflationsraten, insbesondere fallende Preise im Energie- und Wohnungssektor. Hinzu kommen Daten über hohe Beschäftigungsquoten und abnehmende Probleme in den Lieferketten. Sollten wir also eine Rückkehr zu den stetigen Wachstumstrends der Zeit vor der Pandemie erwarten, wie es Weltbank und IWF suggerieren?

Wie wir bereits erwähnt haben, gibt es mehrere Probleme mit dieser Perspektive: Erstens war dieses „vorpandemische Wachstumsniveau“ bereits eines der schlechtesten in der Geschichte des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist Ausdruck eines historisch niedrigen Produktivitäts- und Rentabilitätsniveaus, das keine gute Grundlage für eine Zunahme der für ein nachhaltiges kapitalistisches Wachstum erforderlichen Investitionen darstellt. Zweitens ist die derzeitige Preissenkung Ausdruck des Nachfragerückgangs aufgrund der weltweit sinkenden Wachstumsraten am Ende des letzten Jahres (Wachstum von nur 0 bis 1 % in den meisten imperialistischen Ländern) – und insbesondere des historisch niedrigen Wachstums in China (2 % im letzten Quartal). Gerade letzteres hatte auch einen enormen Einfluss auf den Rückgang der Ölpreise. Drittens hat sich der Anstieg der Zinssätze auf das Investitions- und Ausgabenniveau ausgewirkt, so dass die sinkende Nachfrage auch Auswirkungen auf die Preise hatte. Viertens haben die notwendigen Lohnkämpfe der Arbeiter:innenklasse, um zu verhindern, dass die Krise über die Inflation bezahlt wird, die Löhne in einer Weise erhöht, die sich im Jahr 2023 auf das Preisniveau auswirken wird. Fünftens werden die genannten Auswirkungen der Kriegswirtschaft erst im Jahr 2023 spürbar werden. All diese gegensätzlichen Elemente sowie die Probleme bei der Umstellung der Volkswirtschaften auf Reshoring und die Abkehr von fossilen Brennstoffen machen diese optimistischen Aussichten ziemlich obsolet.

Aber es gibt noch einen viel wichtigeren Faktor: China. Es hat die Coronakrise in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 schneller als erwartet überwunden. Wirtschaftswissenschaftler:innen erwarten, dass es in diesem Jahr auf einen Wachstumspfad von bis zu 4 bis 5 % zurückkehren wird. Dies ist wichtig für exportorientierte Volkswirtschaften, die ansonsten mit Märkten konfrontiert sind, die mit Wachstumsraten von 1 % zu kämpfen haben. Der Druck, die chinesische Expansion wieder als Vehikel für die eigene Erholung zu nutzen, wird groß sein. Dies geht einher mit einer wachsenden politischen Nutzung der wirtschaftlichen Macht durch die chinesische Regierung und die Kapitalist:innen auf der anderen Seite. Zwar könnten westliche Regierungen versuchen, ihre Kapitalist:innen unter Druck zu setzen, einen Teil ihrer Chinainvestitionen zu verlagern, doch wird dies schwierig sein, wenn das Land den Zugang zu Rohstoffen und Produktionsprozessen blockiert, die der Westen dringend benötigt, wie beispielsweise die Auseinandersetzungen um die Solarindustrie in jüngster Zeit gezeigt haben. China zu sanktionieren oder die „Abhängigkeit“ von ihm zu verringern, wird für die Wachstumsperspektiven des Westens äußerst kostspielig sein und kann zu einer schnellen Wende hin zu einem Einbruch der Weltwirtschaft führen.

Dies trägt zu der zunehmenden geopolitischen Konfrontation zwischen China und den USA bei. China ist im Vergleich zu Russland eine wirtschaftliche Supermacht, mit der die USA auf rein wirtschaftlicher Ebene nur schwer zurechtkommen, obwohl sowohl Trump als auch Biden dies durch Handels- und protektionistische Maßnahmen versucht haben. Es liegt auf der Hand, dass sich Chinas wirtschaftliche Stärke zunehmend auch auf die politische und rüstungspolitische Ebene überträgt. Der Ukrainekrieg zeigt, dass es eine vom Westen unabhängige Rolle spielen und eine eigene Einflusssphäre um sich scharen kann. Während der Westen in Bezug auf den Ukrainekrieg vorgibt, dass „die Welt geschlossen hinter uns gegen Russland steht“, gelang es China, einen großen Block von Ländern anzuführen, die nicht bereit sind, Sanktionen gegen Russland zu unterstützen und Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus wurde Russland in eine untergeordnete Rolle als billiger Energielieferant gedrängt. China ist somit ein Gewinner der neuen Blockkonfrontation. Da es sich nun als möglicher Friedensvermittler (zusammen mit Brasilien und Indien) präsentiert, ist dies eine gewaltige Provokation für die US-Hegemonie. Sicherlich wird dies den Taiwankonflikt anheizen, da es zu neuen Anschuldigungen führen wird, dass China in Wirklichkeit Waffen und Munition an Russland liefert. Der Ukrainekrieg wird also nur ein Vorspiel für die viel größere Konfrontation zwischen den beiden größten Supermächten abgeben – mit unvorhersehbaren Folgen für das weitere Schicksal der Weltwirtschaft, da die Spannungen zunehmen werden.

Eine neue Periode der „Deglobalisierung“?

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass wir weit davon entfernt sind, uns in einer neuen Periode des Aufschwungs der Kapitalakkumulation zu befinden. Die nächsten Jahre werden weiterhin von der Krise des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geprägt sein. Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode gibt es keine entscheidenden neuen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die zu noch höheren Ausbeutungsraten führen könnten. Auch gibt es im Gegensatz zu damals keine aufstrebende Wirtschaftsmacht wie China, die mit wesentlich höheren Profitraten in das Konzert der imperialistischen Akkumulation einsteigen kann. Im Gegenteil, die Profitraten aller imperialistischen Volkswirtschaften haben sich auf einem niedrigen Niveau angeglichen. China ist selbst von einem Motor der globalen Akkumulationsdynamik zu einem Krisenfaktor geworden.

All diese Krisenfaktoren: Energie und Ökologie, Pandemie, Verschuldung, Inflationsgefahr, Zusammenbruch von Zombie-Unternehmen, die aussichtslose Krise fast aller halbkolonialen Regionen, insbesondere der Absturz der Schwellenländer, wachsende Kriegsgefahr und Aufrüstungsspiralen lassen einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Investitionswelle in klimaneutrale und intelligente Technologien (Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 etc.) höchst unwahrscheinlich erscheinen. Die Phänomene der „Deglobalisierung“, wie der Rückgang der Direktinvestitionen, das geringere Gewicht globaler Wertschöpfungsketten, die Schwächung des Welthandels, z. B. durch neue Zölle, stellen vor allem ein Zeichen der Krise und nicht das Merkmal einer neuen Blüteperiode dar.

Auch wenn die „Globalisierung“ nicht mehr dynamisch voranschreitet, wird der Kapitalismus kaum vom neuen Grad der Internationalisierung seiner Produktionsweise ablassen. In der gegenwärtigen Zeit bedeutet dies, dass auch die Krise eine viel internationalere und globalere Dynamik annimmt.  Wir werden mit einer Welt der Krisen und Kriege konfrontiert sein, in der die internationale Arbeiter:innenklasse für ihre Grundrechte und einen sozial und ökologisch bewohnbaren Planeten für alle kämpfen muss. Deshalb ist der Kampf um die Führung der Klasse, die Stärkung ihrer grundlegenden Kampforgane, ihre Gewinnung für eine internationalistische und kommunistische Transformation der Gesellschaft sowie die Verteidigung gegen die verschiedenen populistischen Pseudoreaktionen auf die Krise notwendiger denn je!




China nach dem 20. Parteikongress der KP

Peter Main, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

In den letzten Monaten des Jahres 2022 wurden der Welt zwei sehr unterschiedliche Bilder von China präsentiert. Der 20. Parteitag der KPCh, der Mitte Oktober stattfand, war das China, wie seine Herrscher:innen es von der Welt sehen wollten: geordnet, geeint, mächtig, ein Staat, mit dem man rechnen muss, ein Staat, der die Fremdherrschaft abgeschüttelt und sich unter einer entschlossenen und einfallsreichen Führung zu einer Weltmacht entwickelt hat.

Einige Wochen später verbreiteten sich Szenen von Straßenschlachten zwischen Tausenden von Bürger:innen und schwer bewaffneten Bereitschaftspolizist:innen nicht nur in Chinas Wirtschaftsmetropole S(c)hanghai, sondern auch in Provinzstädten im ganzen Land, in den sozialen Medien Chinas und anschließend in der ganzen Welt. Mitte Dezember wurde die Null-Covid-Politik, die vom Parteivorsitzenden und Staatspräsidenten Xi Jinping selbst nicht nur als notwendig, sondern auch als vorbildlich verteidigt wurde, vollständig abgeschafft.

Es lohnt sich, Xis Hinweis auf die Covid-Politik des Regimes, Zero-Covid, in seinem Bericht an den Parteitag ausführlich zu zitieren:

„Als wir auf den plötzlichen Ausbruch von Covid-19 reagierten, stellten wir die Menschen und ihr Leben über alles andere, arbeiteten daran, sowohl importierte Fälle als auch das Wiederaufflammen im eigenen Land zu verhindern, und verfolgten beharrlich eine dynamische Null-Covid-Politik. Indem wir einen umfassenden Volkskrieg gegen die Ausbreitung des Virus geführt haben, haben wir die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung so weit wie möglich geschützt und sowohl bei der Bekämpfung der Epidemie als auch bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung äußerst ermutigende Erfolge erzielt.“ (1)

Kein Wort über die Umkehrung dieser Politik. In der Tat wurde die Verpflichtung zur „dynamischen Null-Covid“-Politik in den folgenden Wochen immer wieder wiederholt, bis sie angesichts des breiten Widerstands nicht nur der aufbegehrenden Bevölkerung, sondern auch der Provinzbehörden, die es sich nicht mehr leisten konnten, sie durchzusetzen, kurzerhand fallen gelassen wurde. Auch die Sorge um den „größtmöglichen Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung“ scheint sich verflüchtigt zu haben, obwohl bei einer zu schnellen Aufhebung der Null-Covid-Bestimmungen eine Welle von Covid-Infektionen unvermeidlich gewesen wäre.

Die Kehrtwende in der Politik war nicht nur dramatisch, sondern auch ganz offensichtlich nicht geplant. Dies ist vielleicht noch bedeutsamer als der Wandel selbst und deutet darauf hin, dass Xis Führungsteam im Ständigen Ausschuss des Politbüros das Land nicht so vollständig im Griff hat, wie die Bilder der dicht gedrängten Reihen von Kongressdelegierten vermuten ließen.

In jüngster Zeit gab es weitere Anzeichen für weitreichende Änderungen der Politik. Im Zuge der dramatischen Schuldenkrise auf dem Immobilienmarkt, die durch Evergrande symbolisiert wird, aber keineswegs auf dieses Unternehmen beschränkt ist, wurden die „drei roten Linien“, die das Verhältnis von Schulden zu Vermögenswerten beschränken und die Krise ausgelöst hatten, im Dezember gelockert. Berichten zufolge sollte die Frist für die Einhaltung der neuen Quoten verlängert werden, um den Unternehmen und ihren Gläubiger:innen mehr Zeit zu geben, halbfertige Projekte abzuschließen und zu verkaufen.

Im Januar folgte dann eine plötzliche Lösung der Probleme, die das Regime bei einigen der reichsten und erfolgreichsten Privatunternehmen Chinas, den Hightechgiganten wie Alibaba, Tencent und Didi Chuxing (DiDi), entdeckt hatte. Die Unternehmen räumten ihre Fehler ordnungsgemäß ein, wie aus Berichten der Regulierungskommission für das Banken- und Versicherungswesen hervorgeht, und die Möglichkeit künftiger Fehler wurde dadurch beseitigt, dass der Staat „goldene Aktien“ erwarb, die eine größere Transparenz und, sagen wir, eine bessere Koordinierung mit den Prioritäten der Regierung gewährleisten werden. Oder, wie einige sagen würden, mit den Prioritäten der chinesischen Kommunistischen Partei.

Im Bereich der Außenbeziehungen wurde der Verfechter der „Wolfskrieger:innen“-Diplomatie, Zhao Lijian, in die Abteilung für Grenz- und Meeresangelegenheiten des Außenministeriums versetzt, d. h. degradiert, und stattdessen sahen wir Liu He, Vizepremier und ehemaliges Mitglied des Politbüros, wie er den Reichen und Einflussreichen in Davos freudig die Hand reichte und ihnen versicherte, dass Peking nichts so sehr wünsche wie herzliche gegenseitige Beziehungen.

Dass Regierungen ihre Politik ändern, manchmal sogar drastisch, ist natürlich nichts Neues. In den imperialistischen Demokratien ist es praktisch selbstverständlich, dass im Wahlkampf geäußerte Versprechen routinemäßig zurückgenommen oder ganz fallen gelassen werden, sobald man im Amt ist. In China gibt es jedoch keine Wähler:innen, die sich täuschen lassen, und so kurz nach der Präsentation des Parteikongresses passt das Fallenlassen von Null-Covid einfach nicht in das Schema einer Partei, die populäre Maßnahmen vorstellt, um die Zustimmung der Öffentlichkeit zu gewinnen, und dann auf die unpopuläre Politik zurückgreift, die sie schon immer umsetzen wollte. Im Gegenteil, es war die unpopuläre Politik, die hervorgehoben wurde.

Bedeutet dies also, dass die KPCh durchaus die Absicht hatte, mit Null-Covid fortzufahren, aber einfach nicht in der Lage war, ihre gewählte Politik durchzusetzen, da die scheinbar unwiderstehliche Kraft auf ein wirklich unbewegliches Objekt traf? Wenn ja, was war dieses unverrückbare Objekt? Und wie könnte eine Partei mit 96 Millionen Mitgliedern, 1,6 Millionen Ausschüssen in Privatunternehmen und einer entscheidenden Kontrolle über riesige staatliche Unternehmen nicht wissen, dass ihr ein solches Hindernis im Weg steht? Oder, wenn die Partei wusste, dass es unmöglich sein würde, Null-Covid durchzusetzen, und sicherlich hatten viele Kommentator:innen diese Meinung vor dem Kongress geäußert, warum hat sie sich dennoch auf die denkbar öffentlichste Weise für diese Politik eingesetzt?

Es ist bezeichnend, dass viele westliche Kommentator:innen die Antworten auf diese sehr offensichtlichen Fragen in der Persönlichkeit von Xi Jinping selbst gefunden haben, aber das erklärt wirklich nichts. Zweifellos muss man härter und entschlossener sein als der Durchschnitt, um an die Spitze der KPCh zu gelangen, aber die Erklärung liegt nicht in der Psychologie oder Persönlichkeit von Xi Jinping, sondern in der politischen Pathologie der Partei, die er führt.

Eine solch gigantische Partei, deren Mitgliederzahl größer ist als die Bevölkerung eines jeden EU-Staates und die in den meisten Gemeinden und Unternehmen das Sagen hat, bringt zwangsläufig eine Vielzahl unterschiedlicher Strömungen, Interessengruppen und politischer Fraktionen hervor. Um all das zusammenzuhalten, braucht die Partei als Ganze einen „starken Führer“, quasi einen Bonaparte, dem alle Fraktionen zu huldigen haben. In der Zeit vor und während der eigentlichen Tagung des Parteikongresses wurde es als absolut notwendig erachtet, in keiner Frage den Anschein zu erwecken, einer Fraktion nachzugeben, um nicht als Zeichen der Schwäche gesehen zu werden, das ausgenutzt werden könnte.

Der Charakter einer Partei, ihr grundlegendes Wesen, ist in ihrem Programm zu finden, das als die Gesamtheit ihrer Philosophie, ihrer Prinzipien, ihrer Praxis und ihrer Prioritäten und deren Entwicklung im Laufe der Zeit verstanden wird. Ein Überblick über die Geschichte der Entwicklung der KPCh findet sich in der Zeitschrift Fifth International 22 oder unter https://fifthinternational.org/content/china-centenary-chinese-communist-party, aber kurz gesagt, ist sie eine stalinistische Partei. Nicht in dem Sinne, dass Stalin selbst ihren Charakter bestimmt hätte, sondern in dem programmatischen Sinne, dass sie im Laufe der Zeit die Schlüsselelemente von Stalins Negation des revolutionären Marxismus übernommen hat:

  • in den 1920er Jahren: Klassenkollaboration, gefolgt von ultralinkem Abenteurertum;

  • in den 1930er Jahren die Volksfront und die menschewistische Theorie vom schrittweisen Aufbau des Sozialismus;

  • 1949 die Bildung einer Volksfrontregierung und die Orientierung auf eine langjährige kapitalistische Entwicklung;

  • 1953 die Ablehnung dieser Entwicklung zugunsten einer bürokratischen Planwirtschaft mit Zwangskollektivierung und beschleunigter industrieller Entwicklung, die zum Massenhunger führte;

  • in den 1960er Jahren Fraktionskriege und das Chaos der Kulturrevolution;

  • in den späten 1970er Jahren die Entscheidung, die Marktkräfte zu stimulieren, um die Wirtschaft wiederzubeleben;

  • in den 1980er Jahren die Einladung an ausländisches Kapital, in Sonderwirtschaftszonen zu investieren, und das Massaker an der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens und dann

  • in den 1990er Jahren die Restauration des Kapitalismus.

Obwohl die chinesische KP Mitte der 1920er Jahre über eine echte Massenbasis in der Arbeiter:innenklasse verfügte, hatte sie nie ein Programm, das auf der Machtergreifung durch Arbeiter:innenräte beruhte, und bis 1928 war diese Arbeiter:innenmitgliedschaft von den ehemaligen Verbündeten der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang buchstäblich ausgelöscht worden. Diejenigen, die Chiang Kai-sheks (Tschiang Kai-scheks) Weißen Terror überlebten und der Partei treu blieben, flohen in die Berge, wo sie über mehrere verzweifelt schwierige Jahre hinweg einen Organisations- und Militärapparat aufbauten, der von der städtischen Arbeiter:innenklasse völlig abgekoppelt war, aber immer noch KP China hieß. Wie Trotzki über die Apparatschiks sagte, die den ersten Fünfjahresplan umsetzten, bestand ihr grundlegender Fehler darin, dass sie glaubten, sie seien die Revolution. Daraus folgte, dass alles, was notwendig war, um ihren Apparat zu erhalten, legitim war.

Selbst nach all den Irrungen und Wirrungen der chinesischen Geschichte seit 1927 ist dieser Apparat, diese Aneignung von Legitimität der Schlüssel zum Verständnis der heutigen Merkmale, der heutigen Probleme des chinesischen politischen und wirtschaftlichen Systems. In der Tat trugen die Irrungen und Wirrungen zur Konsolidierung des Apparats bei. Jede der großen politischen Strategien der Partei war ein Irrtum und führte in eine Krise. Innerhalb der Partei bildeten sich immer wieder Fraktionen, die andere Lösungen für diese Krisen vorschlugen. In jeder Phase gewann diejenige Fraktion, die die Interessen, ja das Überleben des Apparats am besten zum Ausdruck brachte. Wie Rosa Luxemburg von den Führer:innen der sozialdemokratischen Partei vor 1914 sagte, glaubten die der KPCh zunehmend, dass die wichtigste Tugend, die innerhalb der Mitgliedschaft gelobt und belohnt werden sollte, die des Gehorsams sei. Unabhängig von der konkurrierenden Politik war das Kriterium, nach dem sie beurteilt wurden, das Überleben und vorzugsweise die Expansion des Apparats selbst. Folglich war die soziale Basis der Partei der Apparat selbst, das, was wir in Anlehnung an Trotzki die „bürokratische Kaste“ genannt haben.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Annahme, in „rückständigen Ländern“ müsse es eine Periode oder Stufe der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte geben, bevor von der Macht der Arbeiter:innenklasse und einer sozialistischen Entwicklung die Rede sein könne – die Position der Menschewiki in Russland –, damals weithin als orthodoxe marxistische Position angesehen wurde. Im Jahr 1917 galten Trotzki und Lenin als „Ketzer“, weil sie die Auffassung vertraten, dass die notwendige Entwicklung von einem Arbeiter:innenstaat mit Hilfe sozialistischer Enteignungs- und Planungstechniken durchgeführt werden könne. In China war die von Mao vor 1949 verfolgte Strategie der „Neuen Demokratie“, d. h. einer Volksfrontregierung, im Wesentlichen eine Neuformulierung der menschewistischen Perspektive.

Spätestens 1952 hatten jedoch der Koreakrieg und die Unterstützung der Gegner:innen der KPCh durch die USA und die Kuomintang den utopischen Charakter einer solchen Politik bewiesen. Als der bürokratische Apparat unter der Leitung von Planer:innen aus der Sowjetunion die Kontrolle über die Entwicklung der Wirtschaft übernahm, verfestigte sich der Charakter der KPCh als politischer Ausdruck dieses Apparats, der sich nun enorm ausweitete, noch mehr. Obwohl der Frieden und der systematische Wiederaufbau die wirtschaftliche Stabilität, wenn nicht gar den Wohlstand, wie in den Anfangsjahren der Sowjetunion recht schnell wiederherstellten, führte die Frage, wie es weitergehen sollte, welche strategischen Prioritäten zu verfolgen waren, zu heftigen Kontroversen innerhalb der Bürokratie und damit auch der Partei.

Im Grunde waren diese Auseinandersetzungen Ausdruck der Unmöglichkeit, China als autarke Wirtschaft nach dem Programm des Sozialismus in einem Land zu entwickeln. Als Parteiführer Deng Xiaoping sich 1992 für die Wiederherstellung des Kapitalismus entschied, kehrte er zum ursprünglichen, menschewistischen Programm zurück und behielt nicht nur die bürokratische Diktatur, sondern auch das programmatische Ziel des Sozialismus in einem Land bei, das von Stalin 1924 übernommen, aber ursprünglich von Georg von Vollmar, einem bayerischen Sozialdemokraten, 1894 formuliert worden war.

Die Politik der Restauration brachte eine qualitative Veränderung des Charakters des Staates und der Rolle der Bürokratie und ihrer Partei mit sich. Während die Form des Staates mit seiner nicht rechenschaftspflichtigen Regierung und dem stehenden Heer schon immer bürgerlich gewesen war, waren die Eigentumsverhältnisse, auf denen er beruhte – vergesellschaftetes Eigentum und integrierte Produktionsplanung – die eines Arbeiter:innenstaates. Die Überbrückung dieses Widerspruchs verkörperte sich in der bürokratischen und militärischen Kaste und ihrer Partei, die im Wesentlichen parasitär auf der vergesellschafteten Wirtschaft basierte und scheinbar „über“ der Gesellschaft stand, was Trotzki als „Sowjetbonapartismus“ bezeichnete.

Die Abschaffung der Planung und die Förderung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse, sei es in Form staatlicher kapitalistischer Unternehmen oder in Form von Privateigentum, löste diesen Widerspruch auf: ein bürgerlicher Staatsapparat schützte und förderte nun eine bürgerliche Wirtschaft, behielt aber die politische Kontrolle der Bürokratie und ihrer Partei bei. Nichtsdestotrotz bleibt die bürokratisch-militärische Kaste mit ihren eigenen Kasteninteressen parasitär und muss ihr bonapartistisches Regime aufrechterhalten.

All dies macht deutlich, dass die KPCh zwar den Kapitalismus in China so effektiv restauriert hat, dass sie zu einer imperialistischen Macht geworden ist, aber dennoch keine Partei der Bourgeoisie im Sinne einer Verwurzelung in dieser Klasse geworden ist. Ihre gesamte Politik sorgt jedoch für das Wachstum einer neuen kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht immer mit den Prioritäten der Kaste und ihrer Partei übereinstimmen mögen. Dies erklärt die zunehmend nationalistische, sogar fremdenfeindliche Rhetorik des Regimes. Wie Xi Jinping selbst auf dem Kongress betonte, „hat sich unsere Partei dem Ziel verschrieben, dauerhafte Größe für die chinesische Nation zu erreichen“ (2).  Dies impliziert die Vorstellung, dass jedes Klasseninteresse und jede Partei, die ein Klasseninteresse vertritt, automatisch spalterisch und unpatriotisch sind. Wie wir noch sehen werden, ist dies der Grund, warum sie, selbst während sie den Kapitalismus entwickelt, es für notwendig erachten kann, Kapitalist:innen systematisch zu unterdrücken. Längerfristig ist dies jedoch auch der Grund, warum sich die Bourgeoisie gegen die KPCh wenden kann.

Xi Jinping

Die lange Geschichte der KPCh-internen Fraktionskämpfe, von denen einige äußerst gewalttätig waren, hat sich seit der Restauration des Kapitalismus fortgesetzt. In einer Einparteiendiktatur könnte es nicht anders sein. Politische Unterschiede, die ihren Ursprung in den zwangsläufig unterschiedlichen Erfahrungen nicht nur der verschiedenen Regionen, sondern auch der verschiedenen Klassen haben, können sich innerhalb der einen Partei nur in Form von Fraktionsunterschieden äußern. Es ist bekannt, dass Xi Jinping die Führung der KPCh erst nach einem langwierigen Streit mit den Anhänger:innen der früheren Führung um Jiang Zemin erlangte, der 2011 im 18. Parteitag gipfelte.

In seinem Bericht an den 20. Parteitag listete Xi Jinping die Probleme auf, mit denen sich seine Führung damals auseinandersetzen musste:

„Innerhalb der Partei gab es viele Probleme im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Parteiführung, einschließlich eines Mangels an klarem Verständnis und wirksamen Maßnahmen sowie einer Tendenz zu einer schwachen, hohlen und verwässerten Parteiführung in der Praxis. Einige Parteimitglieder und Funktionär:innen schwankten in ihrer politischen Überzeugung. Trotz wiederholter Warnungen hielten sinnlose Formalitäten, Bürokratismus, Hedonismus und Extravaganz in einigen Orten und Abteilungen an. Das Streben nach Privilegien und Praktiken stellte ein ernstes Problem dar und es wurden einige schockierende Fälle von Korruption aufgedeckt.“ (3)

Als ob das nicht genug wäre, betonte XI Jinping  auch, dass „das traditionelle Entwicklungsmodell uns nicht länger vorwärts bringen kann“ (4).  Die Konfrontation mit und die Überwindung von solch schwerwiegenden Problemen stellt nach Xis eigenen Worten eine „neue Ära“ dar, die sich an seinem eigenen theoretischen Werk „Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Merkmalen für eine neue Ära“ orientiert. Ein Merkmal davon scheint jedoch keineswegs neu zu sein: „Die Führung der Kommunistischen Partei Chinas ist das bestimmende Merkmal des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen und die größte Stärke des Systems des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen, dass die Partei die höchste Kraft der politischen Führung ist und die Aufrechterhaltung der zentralisierten, einheitlichen Führung des Zentralkomitees der Partei das höchste politische Prinzip ist.“ (5)

Formelle Reden können natürlich in der Übersetzung etwas verlorengehen, aber was der Parteivorsitzende hier anspricht, ist real genug. Seine Führung musste sich mit Problemen auseinandersetzen, die sich aus der Tatsache ergaben, dass China zu einer Weltmacht, einer imperialistischen Macht, geworden war, was durch die Fähigkeit des Regimes bewiesen wurde, die Finanzkrise von 2008 – 2010 nicht nur zu überstehen, sondern gestärkt aus ihr hervorzugehen. Diese neue Realität brachte ganz andere Aufgaben und Prioritäten mit sich als die, mit denen die vorherige Führung bei der Restauration des Kapitalismus konfrontiert war. Die Spannungen und Konflikte innerhalb der Partei erklären den zunehmend bonapartistischen Charakter der Führung.

Chinas neuer Status zeigt sich auch in der Entwicklung der Volksbefreiungsarmee (VBA) seit 1979, als sie von ihrem viel kleineren (aber sehr erfahrenen!) vietnamesischen Nachbarn gedemütigt wurde. Heute ist sie reorganisiert, von der industriellen Produktion abgekoppelt, mit technologisch hochentwickelten Waffen ausgestattet und verfügt über Abteilungen für Weltraum- und Cyberkriegsführung. Peking hat nicht nur zum ersten Mal seit dem frühen 15. Jahrhundert eine Flotte in den Indischen Ozean entsandt, sondern auch Streitkräfte als „UN-Friedenstruppen“ im Libanon, im Kongo, im Sudan und sogar in Haiti stationiert. Während Russlands Erfahrung in der Ukraine Peking viel zu denken geben wird, besteht kaum ein Zweifel daran, dass ein zukünftiger Krieg praktisch als selbstverständlich angesehen wird. Dies machte Chinas Staatspräsident auf bedrohliche Weise deutlich, als er in seiner Kongressrede „die Missionen und Aufgaben der KPCh“ umriss, zu denen auch die Notwendigkeit gehörte, „die Ziele für den hundertsten Jahrestag der Volksbefreiungsarmee im Jahr 2027 zu erfüllen“ (6).  Eines der oft genannten Ziele bildet natürlich die Eingliederung Taiwans in die VR China.

Zu Beginn von Xis dritter Amtszeit wird bei der Betrachtung seiner ersten beiden Regierungsperioden die Interaktion zwischen der bürokratischen Kaste, deren prägende Erfahrungen in einer Planwirtschaft gesammelt wurden, in der Wirtschaftspolitik und -ziele einfach von politischen Prioritäten abgeleitet wurden, und einer aufstrebenden Klasse von Kapitalist:innen deutlich. Die Kapitalist:innen waren zwar für eine gute Ordnung und billige Arbeitskräfte auf die vom Regime durchgesetzten sozialen Kontrollen angewiesen, setzten aber im Kontext der zyklischen Dynamik des Kapitalismus und der bereits bestehenden Dominanz anderer imperialistischer Mächte zunehmend ihre eigenen Prioritäten fest. Zum Zeitpunkt des 20. Kongresses hatten diese Faktoren bereits dazu geführt, dass die Wirtschaftswachstumsraten zum ersten Mal in der Amtszeit von Xi deutlich zurückgingen.

Ein Überblick über die Wirtschaftsleistung Chinas vor und während der ersten Amtszeit von Xi wird den Hintergrund liefern, vor dem spezifischere Themen und Probleme bewertet werden können. Es ist sehr schwierig, chinesische Wirtschaftsdaten zu interpretieren, selbst für einen Vergleich mit anderen großen kapitalistischen Volkswirtschaften, ganz zu schweigen von dem Versuch, sie in marxistische Analysekategorien zu übertragen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass die Statistiken des Staates bei der Festlegung der Politik eine Rolle spielen, und die nachstehende Grafik zeigt eine wichtige Reihe, nämlich die Nettogewinne der Industrie:

Grafik 1 zu Reingewinnen von Industrieunternehmen (7)

Aus diesem Schaubild geht eindeutig hervor, dass nach einem Jahrzehnt und mehr mit ständig steigenden Gewinnen 2011, im Jahr vor Xis Amtsantritt, eine Abschwächung mit kaum einem Anstieg zu verzeichnen war, und die fünf Jahre seiner ersten Amtszeit waren die ersten mit uneinheitlichem Wachstum und sogar einer Phase des Rückgangs. Sie endeten jedoch mit einem Höhepunkt im Jahr 2017.

Eine gewisse Vorstellung von der Beziehung zwischen Investitionen und Profiten, die zumindest einen Eindruck von der „Profitrate“ nach marxistischem Verständnis vermittelt, zeigt ein Vergleich der Schlussfolgerungen vieler verschiedener Analyst:innen (8), die alle versuchen, „konventionelle“ Statistiken als „Stellvertreter“ für die marxistischen Kategorien zu verwenden.

Betrachtet man diese beiden Zahlenreihen zusammen, kann man zum Schluss kommen, dass das Wachstum der chinesischen Wirtschaft von etwa 2004 bis zur Krise 2008 von einem recht starken Rückgang der Profitrate begleitet war, dann eine kurzzeitige Erholung durch das Konjunkturprogramm und ein recht allgemeiner Rückgang bis 2015/6 erfolgten. Insbesondere in der ersten Amtszeit von Xi gab es zwar ein Wachstum der Profitmasse, aber auch einen Rückgang der Profitrate, was auf schwierige Zeiten hindeutete.

Politisch musste sich Xi mit zwei oppositionellen Fraktionen auseinandersetzen. Die eine war der Meinung, dass die Partei mit ihrer Förderung des Privatkapitals bereits zu weit gegangen war, und war diejenige, mit der man am leichtesten fertig wurde. Korruptionsvorwürfe waren das Mittel der Wahl gegen Leute wie Bo Xilai, den Parteichef in Chongqing, der die Führung anstrebte, indem er sich den Mantel von Mao Zedong umhängte. Die andere, die im Allgemeinen mit Jiang Zemin in Verbindung gebracht wird, der in den 1990er Jahren die Restauration des Kapitalismus beaufsichtigt hatte, war sowohl in der Partei als auch im Staatsapparat viel besser verankert. Offensichtlich war sie nicht prinzipiell gegen den Kapitalismus, aber ihr Hauptanliegen scheint der Schutz dieses Apparats gewesen zu sein, den sie durch Xi Jinpings Engagement für ein schnelleres Wachstum durch ein größeres Vertrauen in die „Marktkräfte“, d. h. den privaten Sektor, bedroht sah.

Die Zeitschrift The Economist beschrieb kürzlich die ersten drei oder vier Jahre von Xis Führung als „die Blütezeit der Privatwirtschaft“, in der Technologieunternehmen wie Alibaba und Tencent zu Global Playern aufstiegen und ihre Gründer:innen als die neuen Milliardär:innen gefeiert wurden. Ihr Erfolg in China bestätigte schnell, dass das Kapital international expandieren muss. Im Jahr 2014 brachte Jack Ma Alibaba an die New Yorker Börse (NYSE) und sammelte 25 Mrd. US-Dollar ein – zum damaligen Zeitpunkt der größte Börsengang (Börseneinführung; Initial Public Offering, IPO), der Welt, der den Konzern mit 231 Mrd. US-Dollar bewertete. Seitdem sind weitere 240 chinesische Unternehmen an die Börse gegangen, deren Gesamtwert sich im Dezember 2021 auf 2 Billionen US-Dollar belief. Solche Bewertungen sind Ausdruck der wachsenden Bedeutung des Privatkapitals, d. h. der Bourgeoisie, in China, die eine potenzielle, unzuverlässige alternative Macht im Land darstellt.

Im Inland war die „Blütezeit der Privatwirtschaft“ nicht von Dauer. Im Juni 2015 brach die Börse in Shanghai, an der die Aktienbewertungen im Jahr zuvor um 150 % gestiegen waren, plötzlich um 28 % ein – das entspricht 3,5 Billionen US-Dollar. Die geplatzte Blase war durch eine gezielte Regierungspolitik mit billigen Krediten aufgeblasen worden, die „Kleinanleger:innen“, d. h. einfache Menschen, zum Kauf von Aktien ermutigte. Dies war Ausdruck der Gesamtstrategie von Xi, die Kapitalallokation auf den Markt und weg von den staatlichen Banken zu verlagern. Diese Strategie hat sich auch nicht geändert, trotz aller Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre. In seinem Bericht an den Kongress betonte Xi: „Wir werden darauf hinwirken, dass der Markt die entscheidende Rolle bei der Ressourcenallokation spielt und die Regierung ihre Rolle besser wahrnimmt.“ (9)

Während die Börsenkrise durch ein faktisches Verkaufsverbot schnell unter Kontrolle gebracht wurde, zeigten ihre Folgen einen anderen Aspekt der Kaste-gegen-Klasse-Frage. Für Millionen von Apparatschiks und Parteimitgliedern in Ministerien, Banken und Staatsbetrieben war dies der Beweis dafür, dass man dem „Markt“ tatsächlich zu viele Zugeständnisse gemacht hatte. Es erschien zwar nicht als klug, sich der fortgesetzten marktfreundlichen Politik der Führung offen zu widersetzen, aber das war auch nicht notwendig, um die Stabilität zu gewährleisten. Obwohl Xi weitere Reformen durchführte und beispielsweise ausländischen Banken erlaubte, in ausgewählten Regionen tätig zu werden, herrschte im größten Teil der chinesischen Wirtschaft weiterhin die alte Ordnung.

Einer der wichtigsten dieser „alten Wege“ war die Immobilienentwicklung. Diese hatte seit den 1990er Jahren eine zentrale Rolle gespielt, nach dem Motto: „Wenn du baust, werden sie kommen“. Ursprünglich bedeutete dies in den Sonderwirtschaftszonen, dass, wenn eine lokale Behörde z. B. die Grundlagen für einen Industriepark baute und Grundstücke zu niedrigen Preisen anbot, Unternehmen angelockt wurden, die dann Fabriken errichteten und in der Regel die Produktion von billigen Konsumgütern aus Hongkong verlagerten. Dies würde an sich schon eine Nachfrage nach Arbeitskräften, Lagerräumen, Geschäften, Unterkünften, Transportmöglichkeiten usw. erzeugen.

Aus diesen kleinen Anfängen entwickelte sich ein ganzes Erschließungssystem: Die Kommunalverwaltungen verkauften Grundstücke an Erschließungsunternehmen und erhielten so Einnahmen zur Finanzierung ihrer eigenen Aufgaben. Die Erschließungsunternehmen bauten, was immer die Marktbedingungen als rentabel erscheinen ließen, und die Firmen siedelten sich an, zahlten Miete an die Erschließungsunternehmen und erzielten im Allgemeinen einen guten Gewinn mit ihrer für den Export bestimmten Produktion. Die weitere Expansion brachte den Kommunen mehr Einnahmen. Neue Gebäude kurbelten die Bauindustrie und das Materialangebot an, der Zustrom neuer Arbeitskräfte schuf eine Nachfrage nach Wohnraum usw. Sowohl nach dem finanziellen Schock von 2008/09 als auch nach den Schwierigkeiten an den Börsen im Jahr 2015 bot dieses Entwicklungsmodell eine Grundlage für die Stabilisierung der nationalen Wirtschaft. Ein Aspekt dieses Modells, der Wohnungsbau, wurde im Zusammenhang mit der Verstädterung besonders wichtig, da er etwa 30 Prozent der Einnahmen der lokalen Behörden ausmachte.

Die Bedenken hinsichtlich der Politik sind natürlich nicht verschwunden. Sowohl die Kapitalist:innen als auch die Parteiführer:innen, die bereits über Obamas „Schwenk zum Pazifik“ beunruhigt waren, mussten nun mit Trumps offener Feindseligkeit und seiner Unterstützung für Beschränkungen des chinesischen Exporthandels rechnen. Darüber hinaus waren ausländische Unternehmen inzwischen so gut in China verankert, dass sie ihre eigenen Einschätzungen des Wirtschaftswachstums entwickeln konnten – und diese zeigten durchweg, dass die offiziellen Zahlen übertrieben waren, das BIP wuchs nicht mit bis zu 7 % pro Jahr, sondern eher mit etwa 5 %.

China und die Welt

Die obigen Grafiken liefern den Hintergrund für den heftigen Fraktionsstreit, der vor und auf dem 18. Parteitag 2011 ausgetragen wurde und aus dem Xi Jinping als Sieger hervorging. Chinas Fähigkeit, sich nicht nur von der Krise 2008/9 zu erholen, sondern auch viele andere Länder aus der Rezession zu ziehen, machte deutlich, dass das quantitative Wachstum seit der Restauration des Kapitalismus nun eine qualitative Veränderung des Status des Landes mit sich gebracht hatte: Es war nun eine Weltmacht, eine imperialistische Macht. Das erforderte eine Neuordnung der Beziehungen zum Rest der Welt, insbesondere zur dominierenden Macht, den USA.

Dies ist die materielle Realität, die das größere Durchsetzungsvermögen, ja sogar die Aggressivität erklärt, die auf der Weltbühne an den Tag gelegt und oft der Persönlichkeit Xi Jinpings zugeschrieben wird. Die weitere Entwicklung erforderte nun eine Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielten, diesen neuen Status zu konsolidieren, indem andere Mächte gezwungen wurden, Chinas Prioritäten und Anforderungen zumindest zu berücksichtigen.

Das eigentliche Kernstück von Xis Programm war daher abseits fraktionellen Disputs eine Strategie, die Chinas neuem Status entsprach: die Belt-and-Road-Initiative, BRI (Initiative See- und Straßenwege). Was genau die Führung der KPCh von Marx‘ „Das Kapital“ oder Lenins „Imperialismus“ hält, werden wir wohl nie erfahren, sie wird beides sicherlich studiert haben, aber die Notwendigkeit, Kapital zu exportieren und Macht global zu projizieren, war zu dem Zeitpunkt, als Xi die Macht übernahm, keine theoretische Frage mehr.

Grafik 2: Die Initiative See- und Straßenwege

Schon ein kurzer Blick auf die Karte der BRI-Initiativen macht ihr Ziel deutlich: die langfristige Integration der eurasischen Landmasse und der angrenzenden Regionen Afrikas unter chinesischer „Führung“ oder Kontrolle, wie manche sagen würden.

Das Projekt verbindet den Ausbau der Infrastruktur mit „sozialen Entwicklungen“ wie Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, während die damit verbundene Asiatische Infrastrukturinvestitionsbank, deren größter Anteilseigner mit rund 26 % China ist, zweifellos ein alternatives Finanznetzwerk auf Renminbi-Basis (Yuan; chinesische Währung) bereitstellen soll. Kredit aufnehmende Länder können die Projekte selbst als Sicherheiten für die Ausleihe verwenden. Auf diese Weise wurde der neue Hafen von Hambantota in Sri Lanka zu einem chinesischen Vermögenswert, der für 99 Jahre in Mietkauf  gepachtet wurde, wenn Kredite nicht zurückgezahlt werden konnten.

Die BRI bietet auch einen Absatzmarkt für die Produkte von Chinas Überinvestitionen in die – grob gesagt – „Schwerindustrie“, so dass der Kapitalexport nicht nur Finanzmittel umfasst, sondern auch das, was nach Abschluss der Projekte zu Anlagevermögen wird.

Doch so beeindruckend das Ausmaß der BRI auch sein mag, wie das Beispiel Hambantota zeigt, muss sich Chinas Fähigkeit, den Rest der Welt auszubeuten, erst noch beweisen. Das Hafenprojekt war ein finanzielles Desaster, und dasselbe gilt für mehrere Elemente des China-Pakistan Wirtschaftskorridors (CPEC), der oft als eine der Schlüsselkomponenten der gesamten BRI dargestellt wird. Andere Länder nehmen nicht nur diese Misserfolge zur Kenntnis, sondern auch die Feindseligkeit, die entsteht, wenn deutlich wird, dass die Projekte keine Investitionsmöglichkeiten für lokales Kapital bieten und nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung schaffen, da auch Arbeitskräfte aus China exportiert werden.

Dies zeigt nicht nur die chinesische Unerfahrenheit bei der Planung und dem Bau von Projekten im Ausland, sondern auch, dass es etwas ganz anderes ist, mit den etablierten Imperialist:innen auf globaler Ebene zu konkurrieren, was Bankwesen, Technologie, Planung, Produktspezifikationen und eine Unzahl von Vorschriften einschließt, als die Preise für Konsumgüter zu unterbieten.

Sowohl innenpolitisch als auch global gesehen war die erste Amtszeit von Xi Jinping also bestenfalls ein bedingter Erfolg. China konnte nun zweifellos als wichtiger globaler Akteur gelten. Viele Länder waren nun auf die chinesische Expansion angewiesen, um ihren eigenen Exporthandel aufrechtzuerhalten, aber die etablierten imperialistischen Mächte begannen, den Neuling eher als potenziellen Rivalen denn als nützliche Quelle für billige Waren zu betrachten. Im Inland hatte sich das Wachstum fortgesetzt, wenn auch nicht mit den außergewöhnlichen, manche würden sagen unglaublichen, Raten von bis zu 13 Prozent, die 2010 – 2012 verzeichnet wurden, aber der Versuch, die Investitionen von einem staatlich gelenkten auf ein marktgesteuertes Modell umzustellen, war nicht sehr erfolgreich gewesen.

Diese Angelegenheiten bildeten den Hintergrund für den 19. Parteitag im Jahr 2017, auf dem Xis Streben nach mehr Kontrolle deutlich gemacht wurde. Dies war der Kongress, der seinen Beitrag zur Philosophie und zum Programm der Partei mit dem von Mao Zedong (Mao Tse-tung) gleichsetzte. Eine solche Förderung des Großen Führers ist ein deutlicher Hinweis auf ernsthafte Fraktionsstreitigkeiten, die unterdrückt werden müssen, um das Regime als Ganzes zusammenzuhalten. Dass Xi dennoch auf die innerparteilichen Fraktionen Rücksicht nehmen musste, zeigte sich daran, dass deren Vertreter:innen wie Hu Jintao und Li Keqiang nicht nur im Politbüro, sondern auch im Ständigen Ausschuss, dem eigentlichen Entscheidungsgremium im Land, vertreten waren.

Wie genau sich Xis Pläne entwickelt haben könnten, werden wir natürlich nie erfahren, da die Covid-19-Pandemie gegen Ende des zweiten Jahres seiner zweiten Amtszeit ausbrach. Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch bereits die von Deng Xiaoping eingeführte Begrenzung der Amtszeit auf zwei Wahlperioden aufgehoben, die einen reibungslosen Übergang von einem Staatsoberhaupt zum nächsten gewährleisten sollte, und es wurde offen diskutiert, ob er beabsichtigte, Staatsoberhaupt auf Lebenszeit zu werden.

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie gab es Anzeichen für eine Verlangsamung der chinesischen Wirtschaft. Die Exporte gingen 2019 gegenüber dem Vorjahr um 0,5 % zurück, und die offizielle Zahl für das BIP-Wachstum lag bei 6,1 % und nicht bei den angestrebten 6,5 %. Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten, die in der Struktur des Regimes und der Wirtschaft begründet sind, müssen wir die Probleme berücksichtigen, die sich aus der Pandemie und der Reaktion darauf auf nationaler und internationaler Ebene ergeben haben. Auch wenn sie nicht durch dieselben Faktoren verursacht wurden, zeigen sie doch die wesentlichen Merkmale des Regimes.

Abgesehen von der Beziehung zwischen Klimawandel, Umweltveränderungen und sozialer Organisation, dem „Metanarrativ“ der Pandemie, reichten die Reaktionen und Maßnahmen des Regimes von einem anfänglichen, typisch bürokratischen Versuch, die Existenz eines Problems zu leugnen, bis hin zu einer einzigartig autoritären, aber recht wirksamen Abriegelung, die die Ausbreitung des Virus stoppte, aber auch einen Großteil der Wirtschaft zum Erliegen brachte.

Danach erholte sich die inländische Produktion schnell und erreichte innerhalb von nur sechs Wochen wieder 80 % der Produktion vor der Pandemie, doch zu diesem Zeitpunkt geriet der internationale Handel in eine Krise, die sich in Form von Lieferengpässen und Transportstörungen bemerkbar machte, was sich wiederum auf die chinesische Wirtschaft auswirkte, die natürlich in hohem Maße auf den Handel angewiesen ist. Das Regime griff auf sein übliches Rezept zur Ankurbelung der Wirtschaft zurück, indem es mehr Kredite für den Bau und die Infrastruktur bereitstellte.

Damit verschärfte es jedoch tief sitzende Probleme in der Wirtschaft, die sich bereits seit mehreren Jahren entwickelt hatten. Diese hängen mit der Rolle des Immobilienwesens zusammen, insbesondere dem Wohnungsbau, und veranschaulichen sehr gut die Funktionsweise des Gesetzes der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung, wie es China betrifft.

Dass sich der Kapitalismus sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen ihnen ungleichmäßig entwickelt, war schon immer ein offensichtliches Merkmal, aber insbesondere Trotzki erweiterte dieses Gesetz mit seiner Feststellung, dass in der imperialistischen Epoche das Vordringen des Kapitals in weniger entwickelte Regionen der Welt nicht einfach zu einer Wiederholung des Entwicklungsprozesses führte, der in den ersten kapitalistischen Gesellschaften stattgefunden hatte. Die sich entwickelnden kapitalistischen Unternehmen und Institutionen mussten sich zwangsläufig an die bestehenden sozialen Strukturen und Klassen anpassen, oder, wie er es ausdrückte: „ … es gibt eine Kombination der einzelnen Schritte, eine Verschmelzung archaischer mit moderneren Formen.“ (10)

Diese Einsicht, die Trotzkis Strategie der Permanenten Revolution untermauerte, lässt sich in der Tat an jedem beliebigen Land demonstrieren. In Großbritannien beispielsweise gibt es noch immer eine Erbmonarchie, ein Relikt des Feudalismus, das sich vor Jahrhunderten mit der aufstrebenden Bourgeoisie arrangiert hat. Im Falle des heutigen China haben wir es jedoch mit einer ganz anderen Kombination von Faktoren zu tun, da sich der Kapitalismus im Kontext eines bereits bestehenden degenerierten Arbeiter:innenstaates entwickelt hat. Vor allem aber hat sich eine kapitalistische Klasse neben einem bereits bestehenden Staatsapparat herausgebildet, der auf den Eigentumsverhältnissen einer bürokratischen Planwirtschaft gründete.

Wir haben bereits festgestellt, wie die wirtschaftlichen Ziele des Staates erreicht werden konnten, indem er durch lokale Planungsentscheidungen Anreize für kapitalistische Investitionen stiftete. Zwanzig Jahre, nachdem diese Zusammenarbeit zwischen dem Staat und dem Privatkapital erstmals das industrielle Wachstum angekurbelt hatte, war sie zu einem festen Bestandteil der gesamten Volkswirtschaft geworden.

Im Rahmen der bürokratischen Planung waren die wirtschaftlichen Ziele im Wesentlichen der praktische Ausdruck der politischen Prioritäten, d. h. der Parteipolitik. Da weder die Arbeitskraft noch die Produkte Waren waren, gab es kein objektives Kriterium für das Wertmaß und die Preise waren in Wirklichkeit nur Buchhaltungsinstrumente zur Überwachung der Produktion und des Austausches innerhalb der geschlossenen Wirtschaft.

Mit der Restauration des Kapitalismus und der Verwandlung der Arbeitskraft in Ware gab es nun eine Grundlage für die Wertberechnung, die jedoch selbst in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften nicht automatisch oder transparent vor sich geht. In China reichte es sicherlich nicht aus, das Verhältnis zwischen politischen Zielen und wirtschaftlichen Entscheidungen sofort zu verändern. Das Ergebnis war im Laufe der Zeit eben eine Praxis, die einige Aspekte der Planung mit anderen Momenten der kapitalistischen Wirtschaft verband.

Im Wesentlichen wird die Wirtschaftspolitik nach wie vor von politischen Zielen bestimmt: Die Ministerien entscheiden, welche Wachstumsrate erforderlich ist, und dieses Ziel wird an die Regional- und Stadtregierungen weitergegeben, die dann die Projekte genehmigen, die diese Wachstumsrate erzeugen sollen. Beispiel Wohnungsbau: Die lokale Regierung bewilligt den Verkauf von Grundstücken (oft aus Enteignung von bäuerlichem Besitz!), lokale Zweigstellen der staatlichen Banken bieten Bauträgern Kredite an, Bauträger bauen die gewünschten Wohnblöcke und verkaufen sie, oft „außerplanmäßig“, d. h., bevor sie tatsächlich gebaut werden. Hauskäufer:innen nehmen Hypotheken auf und beginnen mit der Abzahlung, noch bevor ihr zukünftiges Heim gebaut ist – allerdings in der Gewissheit, dass der Wert ihres zukünftigen Heims ohnehin steigen wird.

Nach dem Verkauf der Wohnungen kann der Bauträger sowohl die erforderlichen Materialien und Arbeitskräfte einkaufen als auch das Darlehen der staatlichen Bank rechtzeitig zurückzahlen. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten: Die Kommunalverwaltung erfüllt ihre Ziele, die Bank wird mit Zinsen belohnt, der Bauträger macht einen ordentlichen Gewinn, die Hauskäufer:innen ziehen in ihre neuen Wohnungen ein, verschiedene Wirtschaftszweige wie das Baugewerbe, die Haushaltsgeräteindustrie, der Straßenbau usw. haben reichlich Arbeit und die Regierung erreicht ihr politisches Ziel.

Dieser glückliche Ausgang hängt jedoch letztlich davon ab, ob das ursprüngliche Wachstumsziel selbst rational war, und zwar nicht nur für eine bestimmte, sondern für alle Kommunalverwaltungen. Als der Immobiliensektor vollständig etabliert war, machte er etwa 25 Prozent des BIP aus und finanzierte 30 Prozent der Aktivitäten der lokalen Gebietskörperschaften. Vieles hing davon ab, dass diese ursprünglichen Ziele auf genauen Bewertungen und Prognosen des Bedarfs und der Ressourcen beruhten.

Die Wirtschaftspolitik des Regimes ist in hohem Maße dem Erbe des degenerierten Arbeiter:innenstaates geschuldet, als die Planung auf dem Ausgleich der materiellen Inputs und Outputs verschiedener Sektoren basierte, um politische Prioritäten zu erreichen. Diese Denkweise, bei der die Wirtschaftspolitik zur Erreichung politischer Ziele eingesetzt wird, prägt auch heute noch die Entscheidungsfindung auf verschiedenen Ebenen des Staatsapparats.

In einer kapitalistischen Wirtschaft ist es unmöglich, das Gesamtwachstum zu planen, weil die Zusammensetzung des Kapitals zwischen und innerhalb der verschiedenen Sektoren so stark variiert. Die Existenz riesiger Industriemonopole sowie kleiner lokaler Dienstleister:innen und alle möglichen Variationen zwischen ihnen sorgen dafür, dass die Wachstumsraten nicht einheitlich sein können. Selbst wenn es möglich wäre, einen ausgewogenen Austausch von Werten in der gesamten Wirtschaft zu berechnen, würde dies die Beobachtung von Marx ignorieren, dass eine Wirtschaft, um im Gleichgewicht zu bleiben, nicht nur eine Wertäquivalenz beim Austausch von Waren zwischen den Sektoren aufweisen muss, sondern dass diese Waren auch die von der Gesellschaft benötigten Gebrauchswerte liefern müssen.

Die Geschichten über unbewohnte Städte mögen übertrieben sein, aber der Zusammenbruch des Immobiliensektors oder die immer noch wachsende Bewegung der Verweigerung der Rückzahlung von Hypothekendarlehen für unbewohnte Wohnungen waren nicht fiktiv. Der Bausektor veranschaulicht somit die Wechselwirkung zwischen dem „planerischen“ Erbe des degenerierten Arbeiter:innenstaates und der Dynamik eines restaurierten Kapitalismus.

Nimmt man zu der zwangsläufig unausgewogenen Wirtschaft noch die Folgen der Beteiligung des Privatkapitals an ihr hinzu, wird sofort klar, wie es zu einer Krise im Immobiliensektor kommen konnte. Die Spekulant:innen, die untereinander und mit anderen kapitalistischen Sektoren um Finanzmittel konkurrieren, haben ihre Kosten gesenkt und ihre Umsätze beschleunigt, indem sie die Nachfrage antizipiert haben, immer noch nach der Philosophie „Wenn du es baust, werden sie kommen“. Die lokalen Behörden, die davon ausgingen, dass der Staat immer einspringen würde, um die Bilanzen auszugleichen, förderten die kontinuierliche Expansion des Sektors, unabhängig von der „effektiven Nachfrage“ oder gar dem Gleichgewicht der Wirtschaft. Die Schuldenspirale wurde noch dadurch verstärkt, dass die größten Bauträger Gelder auf den globalen Anleihemärkten aufnahmen und ihr Ansehen in China als Sicherheit für Kredite nutzten.

Die Fähigkeit des Immobiliensektors, eine zentrale Rolle bei den Bemühungen um die Ankurbelung der nationalen Wirtschaft nach dem anfänglichen Stillstand im Frühjahr 2020 zu spielen, war daher wirklich sehr begrenzt. Mitte 2021 war die Zentralregierung so besorgt über das Ausmaß der Verschuldung des Sektors, dass sie strenge Grenzwerte für das Verhältnis von Schulden zu verschiedenen Formen von Vermögenswerten festlegte, die so genannten „drei roten Linien“. Damit geriet ein Element der Entwicklungsstrategie der Kaste, nämlich das Vertrauen auf die Marktkräfte oder auf gierige Kapitalist:innen, wie sie manchmal genannt werden, in Konflikt mit einer anderen Priorität, der politischen Stabilität. Der Effekt war fast unmittelbar: Die Finanzierung der Immobilienentwicklung trocknete aus und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Unfähigkeit der großen Unternehmen, ihre bestehenden Schulden zu bedienen. Im Oktober erklärte der größte Schuldner von allen, Evergrande, dass er nicht in der Lage sei, die Zinsen, geschweige denn das Kapital für internationale Anleihen in Höhe von 350 Milliarden US-Dollar zurückzuzahlen.

Die Krise von Evergrande warf ein Schlaglicht auf den gesamten Immobiliensektor, deckte die enorme Verschuldung auf und führte zu einem Baustopp in Städten im ganzen Land. Dies ließ sofort Zweifel an den vielen Unternehmen, ja an den vielen Sektoren der gesamten Wirtschaft aufkommen, die von der Immobilien- und Bauträgerbranche abhängig geworden waren. Sie alle sahen sich nicht nur mit einem Rückgang der Nachfrage konfrontiert, sondern auch mit der Nichtbezahlung von Schulden für von ihnen bereits gelieferte Waren.

Darüber hinaus wurde die Finanzierung der Provinz- und Stadtregierungen, die zuvor auf die Einnahmen aus Grundstücksverkäufen angewiesen waren, in Frage gestellt. Diese wirtschaftliche Sackgasse in der heimischen Wirtschaft stand zwangsläufig in Wechselwirkung mit dem Abschwung im internationalen Handel und darüber hinaus mit den Auswirkungen der Sanktionen, die insbesondere von den USA gegen verschiedene chinesische Waren und Unternehmen verhängt wurden.

Die Situation wurde durch das Eintreffen von Varianten des Covidvirus aus dem Ausland noch verschärft, da andere Regierungen außerhalb Asiens keine „Null-Covid“-Strategie verfolgt hatten. Die Entscheidung Pekings, die gleichen „Null-Covid“-Großquarantänemaßnahmen, die „Abriegelungen“, durchzuführen, wie sie nach dem ersten Ausbruch in Wuhan angewandt wurden, hatte nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft, sondern rief auch im eigenen Land Proteste und Widerstand in einem Ausmaß hervor, das selbst die von der Partei kontrollierten Medien nicht verbergen konnten.

Es war diese Kombination aus systemischen Widersprüchen und den konjunkturellen Auswirkungen der Pandemie, die zu dem dramatischen Wachstumsrückgang im letzten Jahr führte: Berichten zufolge im Quartal April – Juni auf 0,4 % pro Jahr.

Alles in allem wurde Xis Gesamtstrategie angesichts des bevorstehenden 20. Parteitags im Oktober 2022 in Frage gestellt, was den Widerstand innerhalb der Partei anheizen könnte, insbesondere seitens der „Jungen Kommunistischen Liga“, die mit den Anhänger:innen von Jiang Zemin, Li Keqiang und Hu Jintao identifiziert wurde. Xi reagierte auf diese Bedrohung mit einem offensichtlichen Linksruck, einer stärkeren Betonung der staatlichen Kontrolle und einer Politik zur Erreichung des „gemeinsamen Wohlstands“.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der den Eindruck verstärkte, dass die KPCh eine feindseligere Haltung gegenüber einer Kapitalist:innenklasse einnimmt, die zu selbstbewusst und unabhängig geworden ist, war eine Welle von Maßnahmen gegen einige der bekanntesten kapitalistischen Geschäftsleute. Dies begann im November 2020, als Jack Ma, den wir bereits kennengelernt haben, als er sein „Plattformunternehmen“ Alibaba an die New Yorker Börse brachte, daran gehindert wurde, den Finanzzweig seines Unternehmens, ANT, an die Hongkonger Börse zu bringen, angeblich auf ausdrücklichen Befehl von Xi selbst. Kommentator:innen sahen darin eine Bestrafung für die Notierung in New York, die in Peking als „unpatriotisch“ gilt. Aber es geschah auch kurz, nachdem Ma die staatlichen Kontrollen der Investitionsentscheidungen von Unternehmen kritisiert hatte.

Dies markierte den Beginn einer Kampagne gegen mehrere große chinesische Technologieunternehmen, darunter „Pony Mas“ (Ma Huatengs) Tencent, eines der reichsten Unternehmen nicht nur in China, sondern der ganzen Welt, und Didi Chuxing, ursprünglich ein Mietwagenunternehmen, das in die Bereiche Fahrzeugvermietung, Lieferungen und andere verbrauchernahe Apps expandierte. Die ganze Episode wurde anschließend als Teil der Strategie des „gemeinsamen Wohlstands“ der chinesischen KP dargestellt. Im Vorfeld des 20. Parteitags schien dies ein Zeichen für eine „antikapitalistische“ Politik zu sein. Es gibt jedoch viele sehr reiche Kapitalist:innen in China, Berichten zufolge 400 US-Dollar-Milliardär:innen, und die große Mehrheit von ihnen geriet nicht ins Visier. Der reichste von ihnen, Zhong Shanshan, Vorsitzender von Nongfu Spring, einem Getränkeunternehmen, das laut Forbes 62,3 Milliarden US-Dollar wert ist, hat offenbar nichts zu befürchten. (11)

Die weniger radikale, aber realistischere Erklärung für die Parteipolitik liegt in dem gemeinsamen Merkmal der Unternehmen, die ins Visier genommen wurden: der Kontrolle über riesige Mengen an Verbraucher:innendaten und Kapital. Diejenigen, die versuchen, den kapitalistischen Charakter Chinas zu leugnen, weisen oft darauf hin, dass viele der größten Unternehmen und Banken in China in „Staatsbesitz“ sind. Dies hat dazu geführt, dass sich einige der dynamischsten und innovativsten Privatkapitalist:innen auf die neuen Branchen und Technologien gestürzt haben, um ihr Geld zu verdienen. Ein Großteil ihres Erfolgs hängt mit der Verarbeitung riesiger Datenmengen über die Verbraucher:innen zusammen.

Wie ihre Gegenspieler:innen im Westen sind die „Plattform“-Unternehmen in der Lage, Informationen wie Kaufgewohnheiten, Kreditwürdigkeit, Freizeitaktivitäten, E-Mail-Verbindungen, Internetnutzung, Vorlieben und Abneigungen in sozialen Medien, Beschäftigungsdaten, kurzum alles über ihre Hunderte von Millionen Kund:innen zu integrieren. So können sie gezielt Werbung schalten, Finanzdienstleistungen maßschneidern und gute und schlechte Kreditrisiken erkennen.

Die Datenauswertung in diesem Umfang bringt sie jedoch in das Gebiet des staatlichen Überwachungssystems und könnte sogar einige Aspekte dieses Systems gefährden. Darüber hinaus können die von diesen Unternehmen kontrollierten Kapitalmengen und ihre Aktivitäten auf den Weltmärkten die finanziellen und wirtschaftlichen Prioritäten des Staates in Frage stellen. Ein Beispiel hierfür sind die an der New Yorker Börse notierten Unternehmen. Börsennotierte Unternehmen sind verpflichtet, ihre Bücher nach den Standards der NYSE prüfen zu lassen. Dies würde jedoch höchstwahrscheinlich Informationen über die chinesische Binnenwirtschaft und das tatsächliche Ausmaß des staatlichen Einflusses offenbaren, die Peking den US-Behörden nicht bekanntgeben möchte. Im Grunde ist dies also ein Aspekt des Kampfes zwischen bürokratischer Kaste und Kapitalist:innenklasse.

Die Art und Weise, wie diese sehr realen Interessenkonflikte gelöst wurden, ist sehr aufschlussreich. Am 16. Januar 2023 wurde berichtet, dass Guo Shuqing, der Vorsitzende der Regulierungskommission für das Bank- und Versicherungswesen, sagte, dass die Kommission ihre Arbeit praktisch abgeschlossen habe, während die Bemühungen zur „Bereinigung der Finanzgeschäfte von 14 Plattformunternehmen“ weitergingen. (12)  Die Internet-Regulierungsbehörde ist nun dazu übergegangen, kleine Kapitalbeteiligungen an vielen der größten Unternehmen zu erkaufen, und setzt Regierungsbeamt:innen als Vorstandsmitglieder ein, um deren Geschäftstätigkeit zu überwachen. Mit anderen Worten: Diese gigantischen kapitalistischen Unternehmen werden weiterhin im Geschäft bleiben, aber der Staat wird Zugang zu den Entscheidungsprozessen erhalten.

Am selben Tag erhielt Didi Chuxing die Erlaubnis, neue Kund:innen zu werben, und ist damit wieder im Geschäft, nachdem es im letzten Juli eine Strafe von 1,18 Mrd. US-Dollar bezahlt hatte. Am 18. Januar 2023 stieg der Börsenwert von Tencent und Alibaba um 350 Mrd. US-Dollar gegenüber dem Tiefstand vom Oktober 2022.

Was die Bauträger anbelangt, so stellte die Regierung Ende Dezember 16 Unterstützungsmaßnahmen für den Immobiliensektor vor. Danach sagten die staatlichen Banken dem Sektor den Gegenwert von etwa 256 Mrd. US-Dollar an potenziellen Krediten zu, allerdings nur für bestimmte Bauträger. (13) Damit haben die Finanzbehörden festgestellt, welche Unternehmen potenziell lebensfähig sind und welche keine Zukunft haben. Es wird erwartet, dass die umfangreichen Mittel für Fusionen und Übernahmen sowie für den Aufkauf von Vermögenswerten der in Konkurs gegangenen Unternehmen verwendet werden. Das Verfahren ähnelt stark dem, das in den USA zur Bewältigung der Finanzkrise von 2008 – 2009 angewandt wurde: Rationalisierung des Sektors und Übertragung der Schulden auf den Staat. Auch hier führten die angeblich antikapitalistischen Prioritäten der Kaste in Wirklichkeit zu einem Deal mit den größten Kapitalist:innen.

Auf internationaler Ebene war die Gefahr eines Ausschlusses chinesischer Unternehmen von der NYSE das potenziell größte Hindernis für die wirtschaftliche Stabilität. Die Wurzel des Problems lag darin, dass Chinas Wertpapiergesetz von 2019 Prüfungsunterlagen als Staatsgeheimnis einstuft, so dass sie das Land nicht verlassen und von den US-Behörden nicht eingesehen werden können. Der Holding Foreign Companies Accountable Act (HCFAA) der Vereinigten Staaten, der im Dezember 2020 verabschiedet wurde, schreibt jedoch vor, dass in den USA notierte ausländische Unternehmen die Vorschriften des Public Company Accounting Oversight Board (PCAOB) (Aufsichtsbehörde über die Firmenbilanzen) für die Prüfung von Abschlüssen einhalten müssen, andernfalls droht ihnen nach drei aufeinanderfolgenden Jahren der Nichteinhaltung die Streichung von der Liste.

Die Pattsituation wurde im August 2022 beendet, als Peking zustimmte, den PCAOB-Inspektor:innen in Hongkong Zugang zu den erforderlichen Unterlagen zu gewähren – um das Gesicht zu wahren, durften die Unterlagen China nicht verlassen. Im Dezember bestätigte die PCAOB-Vorsitzende Erica Williams, dass die Inspektionen abgeschlossen seien. Das bedeutet nicht, dass sie die Prüfungsberichte vollständig akzeptiert haben, sondern nur, dass sie vollen Zugang zu ihnen hatten.

Aussichten

Nachdem Xi Jinping seine eigene Position gesichert und die führenden Parteigremien von parteiinternen Gegner:innen gesäubert hatte, musste er sich nun allgemeineren politischen Anliegen zuwenden. Die neue Parteiführung musste von den unechten „repräsentativen“ Institutionen des Nationalen Volkskongresses und der Nationalen Konsultativkonferenz des Volkes auf der so genannten „Doppeltagung“ im März in neue Regierungspositionen und Minister:innen umgesetzt werden. Das war eine rein formale Überlegung. Wichtiger sind die neuen politischen Prioritäten, die sich nicht nur aus dem politischen Manövrieren für den Kongress ergeben, sondern auch aus dem chaotischen Ende des „Null-Covid“ und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im In- und Ausland.

Die bereits unternommenen Schritte in Bezug auf den Immobiliensektor, die Hightechunternehmen und die Börsennotierungen an der NYSE deuten darauf hin, dass Xi wieder auf Wachstum im Privatsektor setzen wird, allerdings mit einer stärkeren Kontrolle durch die Partei. Die Abkehr von der „Wolfskrieger:innen“-Diplomatie und die vorgeschlagenen Treffen mit Antony Blinken und später mit Joe Biden selbst deuten auf eine Neubewertung der Außenpolitik hin. Die Choreographie dafür wurde durch die bizarre Saga des „Spionageballons“ unterbrochen, aber die Kombination aus globalen Wirtschaftstrends und den Auswirkungen des Ukrainekriegs lässt vermuten, dass der Tanz im Laufe der Zeit wieder aufgenommen werden wird.

Im Inland haben viele Kommentator:innen eine Rückkehr zu höheren Wachstumsraten vorausgesagt, die auf einen steilen Anstieg der Verbraucher:innenausgaben zurückzuführen ist. Han Wenxiu, ein führender Beamter der einflussreichen Zentralen Kommission für Finanz- und Wirtschaftsangelegenheiten, sagte im Dezember 2022, dass das erste Quartal 2023 noch von den Störungen nach der Schließung betroffen sein, aber für das zweite Quartal mit einer beschleunigten wirtschaftlichen Verbesserung gerechnet werde.

Die Ankurbelung dieser Ausgaben war auch ein Thema auf der zentralen Wirtschaftskonferenz Mitte Dezember 2022 . Die Konferenz findet jährlich statt, aber dieses Treffen wurde als besonders wichtig angesehen, weil es direkt nach dem Kongress erfolgte und daher als eine Absichtserklärung für Xi Jinpings neue Regierung angesehen werden konnte.

Grundlage für diesen Optimismus ist das riesige Reservoir an erzwungenen Ersparnissen, das die breite Bevölkerung aufgrund der Lockdowns besitzt. Diese werden seit Anfang 2020 auf 4,8 Billionen US-Dollar geschätzt (14). Das ist mehr als das britische Bruttoinlandsprodukt und würde, wenn es ausgegeben würde, eindeutig einen beträchtlichen Anreiz darstellen. Das ist jedoch ein großes „Wenn“, denn die Lebenserfahrung der riesigen chinesischen Arbeiter:innenklasse zeigt, dass Sparen eine hohe Priorität hat, um sich gegen Krankheit und die Realität einer alternden Bevölkerung zu schützen, die weitgehend nicht durch staatliche Sozialausgaben abgesichert ist.

Welche offensichtlichen Zugeständnisse an das Privatkapital und den „Markt“ die neue Führungsriege von Xi Jinping auch immer machen mag, ob im Inland oder im Ausland, ihr Ziel wird es sein, eine schwer angeschlagene Wirtschaft wieder zu stabilisieren und damit ihr eigenes Regime zu stärken. Ihr Programm, eine kapitalistische Wirtschaft unter ihrer eigenen rigiden politischen Kontrolle zu entwickeln, die von ihren eigenen politischen Prioritäten geleitet wird, bleibt utopisch. Sie verfügt zwar über ein außerordentliches Maß an Kontrolle und Überwachung, aber die Entwicklung des Kapitalismus selbst wird sich als stärker erweisen.

Nachdem wir die Aufmerksamkeit auf das „kombinierte“ Element des chinesischen Kapitalismus, das Erbe des degenerierten Arbeiterstaates, gelenkt haben, müssen wir auch den „ungleichen“ Charakter aller Kapitalismen berücksichtigen. Es ist zwangsläufig so, dass sich verschiedene Kapitalblöcke unterschiedlich schnell entwickeln. Unterschiede im Umfang der Anlageinvestitionen, im Verhältnis zwischen diesen und den Investitionen in die Arbeitskraft, in der Umschlagdauer der verschiedenen Wirtschaftssektoren, in der Proportionalität oder dem Mangel an Proportionalität zwischen den verschiedenen Sektoren und Unternehmen und in den Auswirkungen der globalen Märkte und Investitionsentscheidungen sind nur einige der Faktoren, die eine ungleiche Entwicklung gewährleisten.

Entsprechend dieser Ungleichheit werden auch die Prioritäten und Pläne derjenigen, die die verschiedenen Kapitalblöcke kontrollieren, unterschiedlich sein und möglicherweise nicht nur untereinander, sondern auch mit denen der herrschenden Kaste in Konflikt geraten. Angesichts des Grades der personellen Durchdringung zwischen der Kapitalist:innenklasse und der bürokratischen Kaste werden sich diese Unterschiede auf den Regimeapparat übertragen. Dies wird sich zunehmend in der Bildung von Fraktionen ausdrücken, de facto oder de jure. Ihre Existenz wird eine ständige Tendenz zu einer strengeren internen Disziplinierung innerhalb der Kaste durch den Mechanismus, der alles zusammenhält, die Partei, erfordern.

Zur Veranschaulichung dieses Prozesses genügt es, die Auswirkungen der Krise im Immobiliensektor zu betrachten. Sowohl die Kapitalist:Innen selbst als auch die Bürokrat:innen, die mit ihnen zu tun haben, wissen, dass es die Parteipolitik und die Parteifunktionär:innen waren, die sein übermäßiges Wachstum und schließlich Bankrott gefördert haben. Buchstäblich Tausende von Kapitalist:innen und Manager:innen in allen damit verbundenen Branchen wissen das auch. Die Aushöhlung der Autorität und Legitimität der Partei ist praktisch garantiert, und deshalb werden Unzufriedenheit und der Druck auf Veränderungen wachsen. Und das sind nur die Spannungen zwischen der Bourgeoisie und der bürokratischen Kaste. Millionen und Abermillionen von Arbeiter:innen wissen auch, wo die Schuld für ihre unfertigen Häuser, den Verlust ihrer Arbeit, ihre Hypotheken und ihren sinkenden Lebensstandard liegt.

Weder verärgerte Geschäftsleute noch wütende Arbeiter:innen sind an sich eine große Bedrohung für die KP China und ihr Regime. Die Anwesenheit von Parteimitgliedern in praktisch allen Gemeinden und an den meisten Arbeitsplätzen sowie die durch die pandemischen Abriegelungen erheblich verbesserten Überwachungsmöglichkeiten sind mächtige Instrumente zur Unterdrückung der Opposition. Dennoch macht das schiere Ausmaß der Parteikontrolle angesichts der unvermeidlichen Reibungen des wirtschaftlichen Wandels und der Auswirkungen globaler Ereignisse die Partei zur offensichtlichen Zielscheibe von Unzufriedenheit, und das schafft ein Umfeld, in dem unter den richtigen Bedingungen die Feindseligkeit gegenüber dem Regime wachsen kann.

Die Geschwindigkeit, mit der die vom „Mann auf der Brücke“ kurz vor dem Parteitag vorgetragenen Slogans über die sozialen Medien aufgegriffen wurden, macht deutlich, wie weit verbreitet diese Unzufriedenheit bereits ist. Sie lauteten: „Wir wollen keine Diktator:innen, wir wollen Wahlen“, „Rettet China mit einer Person, einer Stimme, um den/die Präsident:in zu wählen“ und „Streikt in der Schule und am Arbeitsplatz, setzt den Diktator und Landesverräter Xi Jinping ab!“

Es sollte niemanden überraschen, dass demokratische Forderungen sofort auf große Resonanz stoßen, wann immer sie erhoben werden können. Die Gefahr für Sozialist:innen besteht darin, dass sie zwar an sich fortschrittliche und daher unterstützenswerte Forderungen sind, ihre Herkunft aus der bürgerlich-demokratischen Bewegung aber bedeutet, dass sie auch von bürgerlichen Gegner:innen der bürokratischen Diktatur unterstützt werden können. Das hat sich sowohl beim Zusammenbruch der Sowjetunion als auch bei den verschiedenen „Farbenrevolutionen“ in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts sehr deutlich gezeigt.

Die Aufgabe der Sozialist:innen besteht darin, solche populären und unterstützenswerten Forderungen mit einer Strategie zu verbinden, die nicht nur das Regime stürzen kann, sondern dabei auch Organisationen der Arbeiter:innenklasse aufbaut, die sicherstellen können, dass ein Sieg in diesem Kampf nicht einfach die Tür für eine Machtergreifung durch kapitalistische Kräfte mit einem Programm für eine effizientere Ausbeutung sowohl im Inland als auch in Übersee öffnet. Mit anderen Worten: Der revolutionäre Sturz der bürokratischen Kaste in China wird die Strategie und Taktik der Permanenten Revolution erfordern.

Aus den Erfahrungen der demokratischen Bewegungen des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts können wir die Hauptmerkmale dieser Strategie erkennen. Das zentrale Ziel, das alle anderen Elemente der Strategie miteinander verbindet, ist der Aufbau unabhängiger, demokratisch rechenschaftspflichtiger Organisationen der Arbeiter:innenklasse wie Betriebsräte, Gewerkschaften, Gemeindeorganisationen, Frauenorganisationen, Jugendorganisationen und andere Organisationen unterdrückter Schichten wie Immigrant:innen und LGBTQ+. Sobald es zu einem bestimmten Zeitpunkt praktisch möglich ist, müssen diese Organisationen die Grundlage sein, von der aus abrufbare Delegierte in Organisationen auf höherer Ebene, auf Stadt-, Landes- oder Bundesebene, entsandt werden. Die genauen Formen und Organisationsstrukturen, die die Klassenorganisation am besten voranbringen, können nicht vorhergesagt werden, aber aus den Erfahrungen der Protestbewegungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten häufig entstanden sind, können Lehren gezogen werden.

Politisch gesehen besteht die größte Gefahr für jede Arbeiter:innenbewegung in der Unterordnung unter bürgerliche Kräfte, die ihre eigenen Gründe haben, sich der Bürokratie entgegenzustellen. Die Erfahrungen mit den farbigen Revolutionen in Osteuropa unterstreichen diese Gefahr sehr deutlich. Unabhängig davon, ob diese vom Ausland unterstützt werden oder nicht, müssen die Organisationen der Arbeiter:innenklasse eine vollständige Unabhängigkeit von ihnen gewährleisten.

Das Vorhandensein von proletarischen Organisationen ist zwar eine Voraussetzung für einen fortschreitenden Sturz der Bürokratie, doch reicht dies nicht aus. Wie die Welt zu oft gesehen hat, z. B. beim Arabischen Frühling oder der griechischen Finanzkrise, stehen und fallen diese Organisationen mit ihren politischen Führungen. Um das tragische Schicksal dieser großen Massenbewegungen zu vermeiden, müssen revolutionäre Marxist:innen in jeder Phase der Entwicklung eingreifen. Dazu müssen die Revolutionär:innen selbst organisiert werden, das heißt, sie müssen eine Partei aufbauen, die auf der Strategie der Permanenten Revolution basiert, auf die chinesischen Verhältnisse angewandt.

Daraus folgt, dass die erste Aufgabe der Revolutionär:innen hier und jetzt darin besteht, diese Strategie zu entwickeln, ein Programm für den revolutionären Sturz der Bürokratie und die Bildung eines Arbeiter:innenstaates auf der Grundlage demokratisch verantwortlicher Arbeiter:innenräte auszuarbeiten. Den Kern einer solchen Partei werden diejenigen bilden, die bereits erkannt haben, dass dies ihre Hauptziele sind, und die sich der Entwicklung der Mittel zur Erreichung dieser Ziele widmen. Dies wird sowohl Studium als auch praktisches Engagement erfordern, um die Führer:innen der chinesischen Arbeiter:innenschaft und der unterdrückten Schichten Chinas für dieses Programm zu gewinnen. An diese Genossinnen und Genossen ist dieser Artikel gerichtet.

Endnoten

(1) https://english.news.cn/20221025/8eb6f5239f984f01a2bc45b5b5db0c51/c.html

(2) ibid

(3) ibid

(4) ibid

(5) ibid

(6) ibid

(7) https://chuangcn.org/2020/06/measuring-profitability/

(8) https://chuangcn.org/2020/06/measuring-profitability

(9) op.cit.

(10) L D Trotsky, History of the Russian Revolution, Haymarket 2008, p. 5

(11) https://www.forbes.com/profile/zhong-shanshan/?sh=40cb72c849ae

(12) Financial Times, London, January 16, 2023

(13) Financial Times, London, December 28, 2022

(14) Financial Times, London, January 10, 2023




Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Seit ihrer Entstehung bildete die Arbeiter:innenklasse nie eine „geschlossene“ soziale Gruppe, sondern ihre Existenz wird immer von inneren Schichtungen und Differenzierungen gezeichnet. Im Unterschied zum Nominalismus der bürgerlichen Soziologie, die, sofern sie überhaupt auf „Klasse“ rekurriert, diese als Attribut bestimmter Personen fasst (Einkommenshöhe, Berufsstand usw.), kennzeichnet den marxistischen Klassenbegriff, dass er Klassen als Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen begreift. Ohne Kapital keine Lohnarbeit und umgekehrt. Die Wandlung des Kapitals bestimmt dabei wesentlich die Schichtung, Umwälzung, stetige Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen.

Im „Kapital“ entwickelt Marx im Kapitel über das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, dass das Wachstum und der Wandel des Kapitals selbst die Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

„Wir behandeln in diesem Kapitel den Einfluß, den das Wachstum des Kapitals auf das Geschick der Arbeiterklasse ausübt. Der wichtigste Faktor bei dieser Untersuchung ist die Zusammensetzung des Kapitals und die Veränderungen, die sie im Verlauf des Akkumulationsprozesses durchmacht.“[i]

Dabei zeigt er, dass selbst bei unveränderter technischer Grundlage des Produktionsprozesses die Zusammensetzung der Lohnabhängigen, die Zahl der beschäftigten, unterbeschäftigten und erwerbslosen Arbeiter:innen bedingt wird durch die Kapitalbewegung. Da Kapitalismus aber notwendigerweise mit einer ständigen Umwälzung der Produktion einhergeht, prägt er in einem noch viel größeren Umfang die Zusammensetzung der Klasse, ja, ihre gesamte Existenz.

„Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, in fortwährendem qualitativen Wechsel seiner Zusammensetzung, in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteils.“[ii]

Das einzig wirklich Konstante an der Arbeiter:innenklasse ist also ihre ständige Veränderung. In Phasen der Expansion und Prosperität kann dabei die Ausbeutung vergleichsweise dehnbare, „bequeme und liberale“ Formen annehmen. Davon sind wir freilich seit Jahrzehnten weit entfernt. Die gegenwärtige Krisenperiode geht nicht nur mit einer grundlegenden Veränderung der Arbeiter:innenklasse und aller gesellschaftlichen Beziehungen einher, sondern vor allem auch mit einer Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage der Klasse insgesamt. Dies vollzieht sich jedoch keineswegs linear, für alle gleich. Im Gegenteil. Die ungleiche und kombinierte Entwicklung des globalen Kapitalismus manifestiert sich auch in einer globalen Veränderung der Zusammensetzung der Klasse. Bestehende grundlegende Ungleichheiten wie jene zwischen den Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren und in den Halbkolonien werden massiv verschärft. Aber auch die innere Differenzierung, z. B. zwischen der Arbeiter:innenaristokratie einerseits und den unteren Schichten der Lohnabhängigen, den Working Poor, andererseits, wird tendenziell größer.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir daher die wichtigsten Veränderungen skizzieren, um deren Rückwirkung auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten. Im letzten Abschnitt werden wir kurz auf die Frage der revolutionären Politik als Antwort auf diese Krise eingehen:

1.) Eine Darstellung wesentlicher Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode;

2.) die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends;

3.) die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats;

4.) die Verbindung zur Krise der Arbeiter:innenbewegung und zur Führungskrise des Proletariats;

5.) Historische Erfahrungen, strategische und taktische Schlussfolgerungen für den Aufbau revolutionärer Parteien.

1. Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode

Seit Beginn der Globalisierungsperiode, also seit dem Zusammenbruch der ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, macht auch das Proletariat weltweit einen grundlegenden Wandlungsprozess durch. Dies trifft sowohl auf die Jahre vor der Rezession und Krise 2008 – 2010 zu wie auch auf jene bis zur Coronakrise. In mehrfacher Hinsicht traten dabei die Entwicklungen in den Jahren der Globalisierungsperiode nach 2010 noch deutlicher hervor, die Umwälzungen vollzogen sich im beschleunigten Tempo.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir die wichtigsten dieser Veränderungen zusammenfassen, um danach die Rückwirkung dieser Veränderungen auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten.

1.1 Die Verlagerung der industriellen Arbeiter:innenklasse

Bis 2019 ist die Arbeiter:innenklasse weltweit weiter gewachsen. Allerdings haben sich mit veränderter Produktionsstruktur die Zentren der Klasse verlagert, v. a. nach Asien. Das betrifft hauptsächlich das massive Anwachsen des Proletariats in China, aber auch in Indien und anderen Ländern Ost- und Südostasiens. Die gewaltige Umwälzung und das Wachstum der Arbeiter:innenklasse in China bilden letztlich die Basis für die Etablierung einer neuen imperialistischen Macht und deren Expansion. Dabei entstand zugleich eine neue gesellschaftliche, revolutionäre Kraft, die sich allerdings ihrer politischen Möglichkeiten (trotz enormer ökonomischer Kampfaktivität) noch kaum bewusst ist.

Neben China ist die Arbeiter:nnenklasse auch in einer Reihe von Ländern in Ostasien und in Indien gewachsen. Länder wie Brasilien erlebten diesen Proletarisierungsschub schon in den 1980er Jahren, städtische Zentren wie der Großraum Sao Paulo gehören seither zu den konzentriertesten Industriegebieten der Welt mit Millionen Lohnabhängigen. Die Erfahrungen der Tigerstaaten Asiens (Indonesien, Südkorea) infolge der Währungskrise Ende der 1990er Jahre zeigten jedoch schon damals, wie fragil der industrielle Aufschwung und die Kapitalbildung in solchen, letztlich von einer oder mehreren imperialistischen Mächten dominierten, im Weltmarkt untergeordneten Staaten sind.

So bedeutsam das Anwachsen der Arbeiter:innenklasse in Ländern wie Brasilien, Vietnam, Indonesien, Indien oder auch der Türkei ist,  handelt es sich letztlich um die Formierung eines Proletariats in halbkolonialen Ländern, dessen Entwicklung in letzter Instanz vom Fluss des imperialistischen Anlagekapitals abhängt (was keineswegs ausschließt, dass sich in diesen Staaten auch weltmarktfähige einzelne Großkapitale bilden).

An dieser Stelle müssen wir genauer zwischen verschiedenen Ländern und ihrer ökonomischen Entwicklung im XI. Weltmarktzyklus nach dem Zweiten Weltkrieg (2010 – 2019) differenzieren. China und Indien durchliefen einen lang anhaltenden, expansiven Zyklus. Verglichen mit dem Jahr 2007 verdoppelte sich das preisbereinigte BIP in China bis 2016 und in Indien bis 2017. Diese Entwicklung spiegelt natürlich nicht direkt das Anwachsen der Profitmasse und auch nicht der beschäftigten Lohnarbeit wider, aber es reflektiert kapitalistisches Wachstum in einem gigantischen Ausmaß – inklusive des massiven Wachstums der Arbeiter:innenklasse in beiden Ländern.

Diese Entwicklung kontrastiert extrem mit der anderer BRICS-Staaten, deren Wachstum im Vergleichszeitraum 2007 – 2017 bescheiden ausfällt: Südafrika (plus 19 %), Brasilien (plus 16 %), Russische Föderation (plus 12 %). In bereinigten BIP-Größen ausdrückt, verblieben sie damit entweder auf dem Niveau der G7-Staaten oder, im Falle Russlands, deutlich darunter. Hinzu kommt, dass viele sog. Schwellenländer ab Mitte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts selbst in verstärkte Krisen geraten sind, darunter auch solche wie die Türkei, die unmittelbar nach der großen Rezession als ökonomisch recht dynamisch erschienen. Der Grund dafür liegt wesentlich in den Bewegungen des globalen Finanzkapitals begründet und der Antikrisenpolitik der USA und der EU, die zu einem Abzug von Kapital aus vielen Halbkolonien führten und Währungen sowie ganze Volkswirtschaften unter Druck setzten. Das äußert sich auch in viel instabileren, rasch nach oben und unten ausschlagenden Konjunkturbewegungen dieser Länder.

Auch wenn sich Russland z. B. als imperialistische Macht neu etabliert hat, so entspricht der Anteil der produktiven Arbeit (Arbeit, die Mehrwert für das Kapital schafft) zahlenmäßig nur einem Bruchteil der Arbeiter:innen in der früheren Sowjetunion. Der Anteil an der Industrieproduktion ist historisch gering, während die Sowjetunion noch bis zu ihrem Zusammenbruch die zweitgrößte Industrienation der Welt war.

In den tradierten imperialistischen Zentren (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien) können wir schon vor dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Verringerung des industriellen Proletariats feststellen. Der Anteil der „Dienstleistungen“ ging generell nach oben, auch wenn die bürgerliche Statistik den Trend systematisch übertreibt, weil etliche Dienstleistungen durchaus Formen produktiver Arbeit darstellen und Mehrwert für das Kapital schaffen. Hinzu kommt darüber hinaus eine große Ungleichheit in der Entwicklung unter den verschiedenen lange etablierten, westlichen imperialistischen Mächten. Japan und Deutschland haben sich bis heute eine vergleichsweise stärkere industrielle Basis (und einen industriellen Exportsektor) erhalten. Das industrielle Kapital – und damit auch die industrielle Arbeiter:innenklasse – spielen eine vergleichsweise größere Rolle als in den USA oder Britannien. Frankreich und Italien wiederum kämpfen damit, dass ihr nationales

Kapital in der Konkurrenz dem deutschen strukturell unterlegen ist.

1.2 Vertiefte Unterschiede

Die letzten Jahrzehnte und besonders die Krise 2008 – 2010 haben auch hier die Unterschiede enorm vertieft. In den meisten „alten“ imperialistischen Staaten brach infolge der Krise die Industrieproduktion ein und erreichte über Jahre nicht das Niveau der Phase vor 2007. Wenn wir April 2008 als Bezugspunkt nehmen – also den Beginn der globalen  Krise –, so erreichte die Industrieproduktion in Frankreich bis November 2013 nur 85 Prozent dieses Niveaus, jene Britanniens 87,3 Prozent und jene Japans 85,1 Prozent. Nur die USA hatten zu diesem Zeitpunkt das Niveau des Jahres 2008 übertroffen – um ein Prozent. Deutschland hatte es fast erreicht und lag nur 1,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008.[iii]

Die Entwicklung in den USA, Deutschland und Kanada im XI. Weltmarktzyklus unterscheidet sich signifikant von jener Britanniens, Italiens, Frankreichs und Japans, wenn wir die Jahre 2007 – 2017 vergleichen. Die USA profitieren davon, dass sie mehr als andere Nationen die Kosten der Krise auf den „Rest der Welt“ abwälzen konnten und weiter der größte und wichtigste Binnenmarkt der Welt sind. Deutschland konnte sich einigermaßen schadlos halten, weil sein Exporterfolg auch auf der Dominanz über seine Konkurrent:innen in der Eurozone basiert.

Jedenfalls durchlaufen die USA, Deutschland und Kanada nach der großen Rezession einen zyklischen Aufschwung, was auf andere Konkurrent:innen nicht oder nur eingeschränkt zutrifft.[iv]

Die massive Verlagerung der produktiven Arbeit im Weltmaßstab geht mit einer Entwicklung einher, die wir schon seit Jahren beobachten können: Das Schrumpfen des industriellen Proletariats bis hin zur weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Länder. In Südeuropa hat sich, v. a. in Griechenland, der Prozess rasant fortgesetzt. Bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse sind langfristig arbeitslos oder unterbeschäftigt. Solche Länder folgten damit dem Beispiel Osteuropas, wo nach 1990 ein großer Teil der Industrie vernichtet wurde. Anders als der Süden Europas erlebten jedoch einzelne Länder oder industrielle Branchen dort eine Stärkung als Zulieferer:innen oder Vorproduzent:innen von westlichen, v. a. deutschen Konzernen.

Außerhalb Europas entwickelte sich die Lage noch weitaus dramatischer, besonders in Afrika. Hier sind ganze Länder praktisch seit Jahrzehnten deindustrialisiert oder davon bedroht. Dasselbe gilt für einige Länder der arabischen Welt (also jene, die nicht im Golfkooperationsrat vertreten sind).

Im Extremfall hat sich in diesen Staaten – insgesamt die am härtesten getroffenen Opfer imperialistischer Ausplünderungen oder „Neuordnungsversuche“ (siehe Irak, Afghanistan) – die gesellschaftliche Krise vertieft und verstetigt. Es existiert kaum eine Industriearbeiter:innenschaft, ja, die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und damit selbst die eines staatlichen Gebildes und gesellschaftlicher Klassen ist in Frage gestellt. Die Gesellschaften und Staaten zerfallen: Sie zeigen in extremis, was immer größeren Teilen der Menschheit bei einem Fortschreiten der Krise droht.

1.3 Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats

Während die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, nahmen die Differenzierungen, die Schichtungen und Unterschiede im Proletariat weiter zu. Natürlich stellt dies keine ungebrochene Tendenz dar. Gerade die zunehmende Verschlechterung der Lebenslage der Mehrheit der Lohnabhängigen hat auch eine nivellierende, vereinheitlichende Wirkung. Eindeutig ist jedoch der Unterschied zwischen der Lebenslage der „oberen“, bessergestellten Schichten der Klasse und dem wachsenden Anteil „prekärer“, überausgebeuteter Teile größer geworden.

In praktisch allen imperialistischen Ländern sind seit den 1980er Jahren immer größere Teile der Klasse von Unterbeschäftigung, von „prekären“ Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit usw. betroffen und bilden ein wachsendes Segment der Lohnabhängigen, das von „Niedriglohn“ leben muss. Darunter ist nicht einfach „schlechte Bezahlung“ zu verstehen. Ein immer größerer Teil der Arbeiter:innenklasse wird gezwungen, seine Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen.

In den meisten imperialistischen Ländern (wie auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst einigen Halbkolonien) hatten sich in der Nachkriegsperiode Verhältnisse etabliert, die ab den 1950er, spätestens jedoch in den 1960er und auch 1970er Jahren (also grob gesagt bei einer ganzen Generation) den Eindruck erwecken konnten, dass die nächste Generation der Lohnabhängigen materiell besser gestellt wäre als ihre Eltern.

Doch dies war an historisch außergewöhnliche Bedingungen geknüpft: die Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Erneuerung des Produktionsapparates in zahlreichen Ländern, die Möglichkeit, „überschüssiges“ US-Kapital zum Aufbau auf der ganzen Welt zu nutzen, bei gleichzeitiger Wiederbelebung und Expansion wichtiger imperialistischer Rival:innen (v. a. Deutschlands und Japans), die enorm gesteigerte Ausbeutungsrate der Arbeiter:innenklasse während des Krieges in den faschistischen und demokratischen Ländern, die Etablierung der USA als klare Führungsmacht unter den imperialistischen Staaten und damit des US-Dollars als Weltgeld und die Öffnung der Kolonialmärkte Britanniens und Frankreichs (was letztlich die Abschaffung des Kapitalismus in Osteuropa und China kompensieren konnte).

So konnten Akkumulationsbedingungen geschaffen werden, die es für mehrere Konjunkturzyklen ermöglichten, die Steigerung der Profitmasse mit einer Erhöhung des Konsums der Arbeiter:innenklasse zu kombinieren – nicht zuletzt, weil die vorherrschende Form der Erhöhung des Mehrwerts die Produktion des relativen Mehrwerts war. Das Proletariat wuchs enorm, und zugleich war die Nachkriegsperiode auch von einer weit größeren Bedeutung der Konsumgüterindustrie geprägt.

Die „neoliberale Wende“ mit historischen Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse unter Reagan und Thatcher und der Umstrukturierung in Lateinamerika änderte das. Der Zusammenbruch der bürokratischen Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas verschärfte das noch dramatisch, schuf eine industrielle Reservearmee und eröffnete neue Ausbeutungsgebiete. Die Rekapitalisierung Russlands, Osteuropas und Chinas ging mit einer grundlegenden Veränderung des globalen Kräfteverhältnisses am Beginn der 1990er Jahre einher, was den USA die zeitweilige Festigung einer hegemonialen Vorherrschaft erlaubte, die seit den 1970er Jahren schon mehr und mehr erodiert war.

Alle diese Veränderungen haben bezüglich der Neuzusammensetzung der Klasse zu zwei grundlegenden Erscheinungen geführt: erstens der Entstehung eines permanenten Sockels von Langzeitarbeitslosen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert werden können. Selbst in den Perioden des Aufschwungs verschwindet er längst nicht mehr. D. h., ein beachtlicher Teil des Proletariats kann seine Arbeitskraft nicht verkaufen, droht ins Sub- oder gar Lumpenproletariat abzusinken.

Laut ILO waren Ende 2013 199,8 Millionen Lohnabhängige arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit um 30,6 Millionen größer als vor der großen Krise und wurde v. a. in den „Industrieländern“, also, grob gesprochen, den imperialistischen Staaten, kaum abgebaut.[v] Der aktuelle Bericht der ILO vom Januar 2023 spricht von rund einer halben Milliarde Lohnarbeiter:innen, die entweder als statistisch erfasste Arbeitslose oder als „permanent“ aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschiedene dem Markt entzogen sind.[vi]

Zweitens hat sich in allen lang etablierten imperialistischen Ländern eine bedeutende Schicht von Arbeiter:innen gebildet, die unter ihren Reproduktionskosten entlohnt werden, „Working Poor“, Billigjobber:innen, „Prekariat“. Diese oft weiblich, jugendlich und migrantisch geprägten Teile der ArbeiterInnenklasse machen z. B. in Deutschland mittlerweile rund ein Viertel der Lohnabhängigen aus, in vielen anderen Ländern sogar mehr.

In den Halbkolonien hat diese Entwicklung noch weit extremere Formen angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit „Megastädte“ gebildet – einschließlich erbärmlicher Wohn- und Lebensverhältnisse für Abermillionen Proletarier:innen. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt.

2013 müssen rund 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar/Tag ihr Auskommen fristen; geschätzte 2 Milliarden (also fast ein Viertel der Weltbevölkerung) leben heute von 2 US-Dollar/Tag oder noch weniger. Dazu zählen natürlich große Teile der Landarmut, von Bauern/Bäuerinnen, Landlosen, Flüchtenden usw. –, aber eben auch Abermillionen Einwohner:innen dieser riesigen städtischen Ballungszentren. Von den LohnarbeiterInnen der Welt leben lt. ILO geschätzte 447 Millionen von einem Einkommen unter 1,25 US-Dollar/Tag.[vii]

Dabei speist sich die Verstädterung aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits sind v. a. in Asien (davor aber auch in Brasilien) Städte gewachsen, teilweise regelrecht aus dem Boden gestampft worden, die zu riesigen industriellen Zentren auswuchsen, samt einer überausgebeuteten Industriearbeiter:innenschaft. So hatten die Wanderarbeiter:innen – die weltweit größte Welle der Arbeitsmigration – einen enormen Anteil am chinesischen „Wirtschaftswunder“.

Ähnlich der Entwicklung des Frühkapitalismus wurde „überschüssige“ Landbevölkerung, die ihrerseits keine oder kaum noch Existenzmöglichkeiten auf dem Land hatte, von industriellen Investor:innen angezogen und folgte ihnen. Etliche der chinesischen Städte, die heute Millionenstädte sind, waren noch vor einigen Jahrzehnten Kleinstädte oder gar Dörfer. Manche mögen auch mit dem „Weiterziehen“ des Kapitals im nächsten Zyklus wieder schrumpfen.

Entscheidend ist jedoch, dass sich bei dieser Form der Migration zur Stadt eine neue, produktive Arbeiter:innenklasse samt aller möglichen weiteren Bevölkerungsgruppen, die zu Großstädten gehören, bildet. Auch wenn diese Lohnabhängigen als extrem ausgebeutete, entrechtete, oft auch „illegale“ Arbeitskräfte beginnen, so entwickeln sie mehr oder weniger „spontan“ Formen des ökonomischen Kampfes und beginnen früher oder später, für höhere Einkommen zu kämpfen, um ihre eigene Reproduktion zu sichern.

Das Anwachsen von Megastädten führt aber auch zu einer anderen Tendenz, die für bestimmte Ballungszentren geradezu typisch ist. Millionen werden vom Land vertrieben, weil sie dort kein Auskommen finden, was natürlich oft noch durch Kriege, sozialen Niedergang, klimatische Katastrophen verschärft wird. Doch in den städtischen Zentren werden sie auch als Lohnabhängige nicht gebraucht. In immer mehr Halbkolonien bilden sie eine wachsende Masse von Menschen, die sich abwechselnd als Gelegenheitsarbeiter:innen, kleine „Händler:innen“, Kriminelle, Paupers usw. verdingen muss. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Existenz selbst als extrem ausgebeutete und marginalisierte Schichten kaum sichern können. Der Kapitalismus hat für sie sogar als billigstes Ausbeutungsmaterial keine oder nur gelegentliche Verwendung.

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreiben Marx und Engels eindrücklich, dass die Krisen im Kapitalismus einen solchen Zustand hervorrufen, der die Reproduktion des/der Lohnsklav:in als solche/n immer prekärer macht.

„Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden.“[viii]

Für Milliarden Menschen ist heute das Leben als Pauper oder an der Grenze zum Pauperismus Realität – und nur Phantast:innen können davon träumen, dass der Kapitalismus für diese eine bessere Zukunft bieten kann.

Neben den Wanderungsbewegungen in städtische Zentren ist die Migration von der „Peripherie“ in die Zentren des Weltkapitalismus ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche, v. a. der letzten Jahrzehnte. Die Verheerungen des globalen Kapitalismus haben Millionen in Mexiko und anderen zentralamerikanischen Ländern oder in Osteuropa weiter entwurzelt, „überflüssig“ gemacht. Das gilt ebenso für zahlreiche Länder des arabischen Raums, Afrikas oder Asiens. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und Arbeitsmigrant:innen versucht dabei, die eine Lebensperspektive versprechenden Zentren Nordamerikas oder Westeuropas zu erreichen. Die meisten scheitern an den rassistisch abgeschotteten Außengrenzen. Zehntausende krepieren beim Versuch, „illegal“ in die Zentren des Weltimperialismus zu gelangen.

Dort drohen ihnen Abschiebung und entwürdigende Behandlung als Bittsteller:innen. Bestenfalls werden sie als passgerechte Arbeitskräfte mit weniger oder gar keinen sozialen Rechten, geringeren Löhnen, als Menschen zweiter Klasse verwendet. „Integration“ ist trotz ihrer permanenten Beschwörung letztlich nicht gewünscht. Daher werden auch Menschen der zweiten und dritten Generation, also die Kinder von Migrant:innen, bis heute als „Ausländer:innen“ behandelt, als „Gastarbeiter:innen“, die nach getaner Arbeit möglichst wieder verschwinden sollen.

Dieses System findet sich in fast noch extremerer Form in manchen Halbkolonien, v. a. in den arabischen Golfstaaten oder Ländern wie Libyen, deren Nationaleinkommen sich im Wesentlichen aus der Grundrente speist und wo ein Großteil der Arbeit von Migrant:innen geleistet wird.

Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Lebensaspekt der weltweiten Arbeiter:innenklasse geworden. Ein immer größerer Teil ist gezwungen, Grenzen zu überschreiten – oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Diese mit unendlichem menschlichen Leid verbundenen Wanderungsbewegungen haben aber auch einen enorm revolutionierenden Aspekt. Sie stellen lokale oder nationale „Traditionen“ in Frage, untergraben den oft jahrzehntelang etablierten Konservatismus der „einheimischen“ Arbeiter:innen (einschließlich früherer Generationen von Migrant:innen), schaffen länder- und sprachübergreifende Verbindungen.

Die Integration der Migrant:innen und Flüchtlinge in die Arbeiter:innenbewegung kann dabei letztlich nur über den gemeinsamen Klassenkampf erfolgen – sie ist folglich eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen Periode. Sie kann nur durch einen unversöhnlichen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch „mildere“ Formen der Bevormundung und des unkritischen Verteidigens der „eigenen“ etablierten „Arbeiter:innen“kultur (in der Regel ohnedies nur als eine unter den Lohnabhängigen etablierte Form der bürgerlichen Kultur) bewältigt werden.

Abschließend wollen wir die globale Expansion der unteren Schichten des Weltproletariats noch an einigen Zahlen aus dem Jahr 2019, also vor der Coronapandemie und der damit verbundenen Rezession, illustrieren.

Lt. Berechungen der ILO[ix] waren 2019 2 Milliarden Arbeiter:innen im informellen Sektor beschäftigt oder rund 60 % aller Beschäftigten. D. h., die Masse der lohnabhängig Beschäftigten betrug rund 3,33 Milliarden, was nicht mit der Gesamtgröße der Arbeiter:innenklasse gleichgesetzt werden darf, da diese auch nicht-erwerbstätige Angehörige (zumeist Frauen), Kinder und nicht-beschäftigte Jugendliche, nicht mehr Arbeitssuchende und Rentner:innen inkludiert. Zweitens verbergen sich hinter dem Verhältnis enorme Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen der Welt.

Dies zeigt ein Vergleich der „informality rate“ (Prozentsatz der informellen Arbeit) in verschiedenen Regionen im Jahr 2021:

Region Gesamt Männer Frauen
Afrika 82,9 80,0 86,6
Nordamerika 19,1 19,1 19,1
Lateinamerika und Karibik 56,4 56,2 56,7
Arabische Staaten (Gesamt, ohne Nordafrika) 60,2 61,1 55,6
Ostasien (inklusive China und Japan) 50,9 52,3 48,8
Südostasien und Pazifik 69,1 69,4 68,5
Südasien (Indien, Pakistan, Bangladesch) 87,6 87,2 89,3
Süd-, Nord- und Westeuropa 17,5 16,1 19,1
Osteuropa (inkl. Russland) 21,7 23,3 19,8
Zentral- und Westasien 45,1 43,3 47,7

Quelle: ILO, World Econmic Outlook 2021, Tabelle selbst erstellt

Obige Tabelle spiegelt natürlich nicht direkt die Verteilung der Arbeiter:innenklasse wider. Informelle Arbeit ist beispielsweise nicht identisch mit Löhnen, die unter den Reproduktionskosten liegen (das kann einerseits auch im „formellen“ Sektor vorkommen, andererseits erstreckt sich die informelle Beschäftigung in manchen Ländern, z. B. in Indien, auch auf höher qualifizierte Berufe und kann in solchen Fällen auch ein Einkommen über den Reproduktionskosten schaffen). Darüber hinaus sind die statistischen Zahlen in einigen Ländern sehr unzuverlässig und auch die Vergleichbarkeit der Erhebungen ist schwierig. Aber diese Zahlen bieten einen Indikator für die globale imperialistische Ausbeutung.

Auch wenn in den imperialistischen Zentren der informelle Sektor in den letzten Jahrzehnten massiv zugelegt hat, so liegt er dort bei 20 % oder darunter. China hat zweifellos einen für eine imperialistische Macht vergleichsweise großen informellen Sektor, und die Zahlen bedürfen sicher einer gesonderten Analyse. Sie verweisen aber auf die große Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung in diesem Land, die sich in einem großen informellen Sektor und einem enorm gewachsenen Gegensatz von Stadt und Land äußert.

Auch die geschlechtliche Zusammensetzung verweist zwar auf ein Übergewicht von Frauen, keinesfalls jedoch in allen Regionen. Das hängt sowohl mit der Struktur der Ökonomie zusammen als auch mit dem Arbeitsregime. So ist eine Ursache des relativ hohen Anteils informeller männlicher Arbeit in den arabischen Staaten in der Arbeitsmarktstruktur der Golfstaaten zu finden. Die beschäftigten Staatsbürger:innen arbeiten dort in der Regel nicht im informellen Sektor. Die Masse der produktiven Arbeiter:innenklasse besteht wiederum aus Migrant:innen, wobei bestimmte informelle Sektoren fast ausschließlich männliche Arbeitskräfte umfassen (z. B. Bauwirtschaft).

Grundsätzlich können wir sagen, dass die Zentren der globalen informellen Arbeit in den halbkolonialen Ländern liegen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Osteuropa) beträgt der Anteil des informellen Sektors praktisch überall 50 % oder mehr. Extreme Formen der Ausbeutung der Lohnarbeiter:innenklasse sind für die Mehrheit des Proletariats seit Jahrzehnten die Regel.

Die Zentren der informellen Arbeit finden wir in Afrika (und hier noch einmal besonders südlich der Sahara) und in Südasien. Dort kann der Anteil informeller Arbeit von Lohnabhängigen nur noch durch weitere Proletarisierung nicht-lohnabhängiger Schichten gesteigert werden. Die hohen Anteile an informeller Arbeit in beiden Weltregionen dürfen jedoch auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf sehr unterschiedlichen Quellen beruhen. In Afrika, und vor allem südlich der Sahara, ist der Anteil industrieller Arbeit (mit Ausnahme Südafrikas) sehr gering. Diese Region ist seit einer ganzen Periode für die imperialistischen Staaten im Wesentlichen wegen der Plünderung von Rohstoffen (extraktive Industrie, teilweise Landwirtschaft) interessant. Im Gegensatz dazu wird ein beträchtlicher Teil der informellen Arbeit in Südasien, und hier wiederum v. a. in Indien, auch im produzierenden Gewerbe beschäftigt, also zur Produktion industriellen Mehrwerts genutzt.

Es ist in dem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass der Anteil informeller Arbeit in Ost- und Südoststasien relativ geringer ausfällt. Dies wird natürlich auch dadurch bedingt, dass sich dort auch wichtige imperialistische Ökonomien befinden, die den Schnitt drücken. Es handelt sich zweitens auch zum Teil um relativ entwickelte Halbkolonien mit einer starken industriellen Basis (Südkorea, Taiwan) sowie auch ärmere Halbkolonien, die zu wichtigen Produktionsstandorten für globale, auch industrielle, Wertschöpfungsketten mitierten.

Die Verbreitung industrieller Produktion im großen Maßstab führt dabei nicht nur zu einem Wachstum der Arbeiter:innenklasse, sie begünstigt früher oder später auch ökonomische Kämpfe zur Einschränkung extremer (informeller) Formen der Ausbeutung.

In diesen Ländern haben wir es in der Globalisierungsperiode, generell betrachtet und im Gegensatz zu den alten imperialistischen Zentren, aber auch in Afrika und Lateinamerika, mit einer extrem rasch wachsenden industriellen Arbeiter:innenklasse zu tun.

Diese agierte generell unter extremen Bedindungen – seien es direkt diktatorische oder despotische Regime oder Demokratien mit extremen bonapartistischen Tendenzen. Dennoch ist in vielen dieser Länder nicht nur eine neue Klasse von Lohnabhängigen, sondern auch eine Arbeiter:innenbewegung entstanden.

Während sie in den Jahren vor der Pandemie vor allem unter den Bedingungen der kapitalistischen Expansion kämpfen musste/konnte, muss sie seit 2020 unter den Bedingungen einer kapitalistischen Krise agieren, die sowohl durch globale Probleme bedingt ist als auch durch die zyklische Bewegung des eigenen Kapitals (Überakkumulation).

1.4 Alte und neue Arbeiter:innenaristokratie

Nicht nur die unteren und mittleren Schichten des Proletariats, sondern auch die bessergestellten Teile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert.

Schon im 19. Jahrhundert, beim Übergang zur imperialistischen Epoche, hatte Friedrich Engels bei der Analyse des britischen Imperialismus festgestellt, dass sich im Kerngebiet des Empire eine relativ privilegierte Schicht der ArbeiterInnenklasse – die Arbeiter:innenaristokratie – abzusondern begann und so zu einer erweiterten sozialen Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in den Reihen der Klasse der Lohnabhängigen geworden war.[x] Engels leitete die Entstehung einer solchen Schicht von „bessergestellten“ Arbeiter:innen aus der vorherrschenden Stellung des britischen Imperialismus, aus dessen Weltmarktmonopol, ab und aus der starken ökonomischen Stellung dieser Arbeiter:innenschichten in der großen Industrie.

Lenin griff den Gedanken auf und erkannte, dass die imperialistische Epoche die Grundlage für die Entstehung und Reproduktion einer ganzen Schicht der Arbeiter:innenaristokratie in allen dominierenden kapitalistischen Staaten schuf. Britannien bildete nicht länger eine Ausnahme:

„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848–1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit in mehreren Ländern die Oberhand behalten könnte.“[xi]

Gegen Lenins Theorie der Arbeiter:innenaristokratie sind in den letzten hundert Jahren viele Einwände erhoben worden – insbesondere auch, indem ihm aus einzelnen Zitaten eine recht primitive „Bestechungstheorie“ unterstellt wurde. Unter „Bestechung“ dürfen wir uns keineswegs ein quasi kriminelles „Kaufen“ der oberen Schichten der Klasse vorstellen (wiewohl es das auch gibt).

Die Entstehung der Arbeiter:innenaristokratie vollzieht sich vielmehr wesentlich über den ökonomischen, gewerkschaftlichen Kampf, der für die Lohnabhängigen in zentralen Industrien und strategischen Sektoren ermöglicht, dauerhaft relativ gute Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu erringen (im Gegensatz nicht nur zu den Arbeiter:innen in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten, sondern auch zu den unteren Schichten und zum Durchschnitt der Klasse). Kurzum, diese Schichten sind in der Lage, die Ware Arbeitskraft über eine längere Periode über ihrem Wert zu verkaufen, was nichts daran ändert, dass sie weiter Lohnarbeiter:innen bleiben und ihre Ausbeutungsrate extrem, ja sogar höher als die anderer Lohnabhängiger ausfallen kann.

Darüber hinaus bedeutet die Zugehörigkeit zur Arbeiter:innenaristokratie keineswegs, dass diese Schichten immer weniger Kampfbereitschaft zeigen würden als andere. Im Gegenteil, unter bestimmten historischen Bedingungen können sie sogar Kernschichten der Avantgarde umfassen. So bildeten z. B. die Revolutionären Obleute in der Novemberrevolution eindeutig einen Teil der Arbeiter:innenaristokratie.

Wichtig für uns ist jedoch, dass Lenin erkannte, dass die Bildung einer Arbeiter:innenaristokratie und deren Reproduktion zu einem Kennzeichen aller imperialistischen Staaten wurde. Inmitten des Ersten Weltkriegs konnte er realistisch mit einer objektiven Aushöhlung der Stellung dieser Schicht und damit auch der bürgerlichen Arbeiter:innenpolitik und der dominierenden Stellung „bürgerlicher Arbeiter:innenparteien“ rechnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Arbeiter:innenaristokratie in den imperialistischen Ländern jedoch in einem bis dahin nicht dagewesenen Maße und konnte sich als solche über eine historisch außergewöhnlich lange Periode  reproduzieren. Mehr noch, solche Formen der Bildung einer, wenn auch zahlenmäßig deutlich kleineren, „Aristokratie“ lassen sich auch in den halbkolonialen Ländern, v. a. in den industriell fortgeschritteneren, wie, historisch betrachtet, auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten finden.

Mit dem Ende des „langen Booms“ und v. a. mit der Wende zum Neoliberalismus wurden auch Kernschichten der Arbeiter:innenaristokratie (z. B. die Bergarbeiter:innen und Docker:innen unter Thatcher, die Fluglots:innen unter Reagan) zu Angriffszielen, ja, teilweise zu bevorzugten. Deren Niederlagen zogen unmittelbar demoralisierende Auswirkungen auf die große Masse der Lohnabhängigen nach sich, denen so deutlich gemacht wurde, dass ihr Widerstand erst recht zwecklos sei.

In jedem Fall haben wir in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Beschleunigung des Wandels der Arbeiter:innenaristokratie beobachten können. Erstens wurden diese Schichten aufgrund von technischem Wandel, Verlagerungen und Niederlagen massiv geschwächt. Die „traditionelle“ Aristokratie ist im Schrumpfen begriffen.

Zweitens sind aber auch neue Schichten der Arbeiter:innenaristokratie infolge der Proletarisierung von lohnabhängigen Mittelschichten, der realen Subsumtion ihrer zuvor oft nur formell dem Kapital unterworfenen Arbeit, entstanden.

Zum Dritten ist in neuen imperialistischen Ländern (v. a. China) und in einigen wirtschaftlich stärkeren Halbkolonien, z. B. den BRICS-Staaten, eine neue Arbeiter:innenaristokratie entstanden oder im Entstehen begriffen.

1.5 Restrukturierung des Produktionsprozesses

Die Jahrzehnte seit Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland, Osteuropa und China haben zu einer massiven Ausdehnung des Weltmarktes geführt. Der Welthandel ist dabei deutlich stärker gewachsen als die Produktion selbst. Dies hat zugleich die Arbeiter:innenklasse selbst zu einer Klasse gemacht, wo wachsende Teile der Lohnabhängigen in den globalen Austausch integriert sind. Ihre Arbeit ist in sehr unmittelbarem Sinn Arbeit, die auf eine globale Vergesellschaftung bezogen ist.

Das betrifft zum einen die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen für globale Märkte. Diese Entwicklung wird jedoch ergänzt und vertieft durch die Etablierung international integrierter Produktionsketten. Die Planung in den großen Monopolen findet heute oft länderübergreifend statt, unmittelbar bezogen auf den Weltmarkt (bzw. dessen zentrale Märkte). Das hat auch dazu geführt, dass z. B. in der Autoindustrie ein globaler industrieller Zyklus etabliert wurde, so dass über den nationalen Rahmen hinaus eine Tendenz zur Bildung einer globalen Durchschnittsprofitrate für einzelne Industrien entsteht.

Heute arbeiten Hunderte Millionen Lohnabhängige in multinationalen Konzernen, deren Produktionsstätten weltweit vernetzt sind, wo praktisch globale Planung – wenn auch für die bornierten Zwecke eines Einzelkapitals – erfolgt.

Kapitalexport, die globalen Geldströme und spekulative Anlagen – kurz, sämtliche Operationen von Kapital in Geldform – haben in den letzten Jahrzehnten gigantische Ausmaße angenommen, was selbst zu einer enormen Veränderung der Struktur des Produktionsprozesses, der Eigentumsstruktur geführt hat. Mehr und mehr Kapital ist in privater Hand und der des imperialistischen Großkapitals konzentriert.

Das ist die andere, im imperialistischen System unvermeidliche, Seite des „kapitalistischen Internationalismus“.

Das Niederreißen von Handelsschranken und Hemmnissen für den „freien Kapitalverkehr“ zwischen den einzelnen Ländern – wobei „Niederreißen“ für die kapitalistischen Zentren höchst selektiv ist – ist ein Moment, das diesen Prozess massiv beschleunigt, zum Teil erst möglich gemacht hat. Das andere waren Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die die Durchsetzung dieser Umstrukturierung erlaubten.

Diese Form der Internationalisierung geht freilich einher mit zunehmender Konkurrenz. Der Nationalstaat gerät letztlich zu einem Hindernis für die weitere Durchdringung der Weltwirtschaft, weil er einerseits zwar Instrument der kapitalistischen Globalisierung, andererseits aber der nationalen Kapitale (und als imperialistischer Staat dementsprechend dominierender Finanzkapitale ist), so dass diese Entwicklung der Internationalisierung im Nationalstaat eben auch ihre Schranke findet – eine Schranke, die auf kapitalistischer Basis nicht überwunden werden kann.

Wir müssen daher damit rechnen, dass die zunehmende Konkurrenz vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation der Weltwirtschaft früher oder später auch zu Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Einbrüchen der heute so vernetzten Weltwirtschaft führen wird, dass die „Open Door“-Policy mehr und mehr durch die Bildung von Blöcken abgelöst werden wird.

Für die Arbeiter:innenklasse hat die Internationalisierung der Produktion, die Ausdehnung des Weltmarktes, der immer raschere Transfer des Kapitals von einem Land, einem Anlage- oder Spekulationsobjekt zum anderen enorme Probleme mit sich gebracht, insbesondere, weil ganze Gruppen von Arbeiter:innen, ganze „Standorte“, ja, ganze Klassen gegeneinander direkt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Andererseits hat diese Entwicklung auch die Möglichkeit direkter international koordinierter Aktionen geschaffen. Die Verschlankung der Produktion und die Reduktion der Lagerhaltung haben auch die Konzerne anfälliger gemacht für die Aktionen selbst relativ kleiner Gruppen von Lohnabhängigen.

Während die Gewerkschaften und die tradierten Organisationen der Arbeiter:innenklasse noch dabei sind, sich auf die Neuzusammensetzung des Kapitals und der Klasse einzustellen, zeichnet sich für die Zukunft freilich eine neue, katastrophale Entwicklung ab.

Seit 2020, also mit Beginn der synchronisierten Rezession, die durch die Coronapandemie ausgelöst wurde, aufgrund der Erschütterungen globaler Wertschöpfungs- und Lieferketten und infolge der massiven Zunahme der imperialistischen Konkurrenz bis hin zum Ukrainekrieg und den damit einhergehenden Turbulenzen der Weltwirtschaft nähern wir uns jedoch einem Punkt, wo die Internationalisierung des Kapitals in ihr Gegenteil umzuschlagen beginnt. Zweifellos kann dieser Moment hinausgeschoben werden, können die führenden Mächte dem bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Aber auf dem Boden des Imperialismus und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist ein solcher Umschlag letztlich unvermeidlich. Seit 2020 befinden wir uns in einer Situation, in der diese Tendenz immer stärker wird – z. B. auch in Form der Rückholung bestimmter, vormals ausgelagerter Produktion.

Mit dem Produktionsprozess wurden in den letzten Jahren auch die Reproduktionsbedingungen der Klasse umgekrempelt. „Soziale Absicherung“ gab es für große Teile der Lohnabhängigen dieser Welt ohnedies nie. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden die von der Arbeiter:innenklasse erkämpften oder von der herrschenden Klasse zugestandenen sozialen Sicherungssysteme, Versicherungen, staatliche Vorsorge, Bildungs- und Sozialleistungen, Renten usw. massiv zurückgefahren und oft privatisiert. Dasselbe gilt generell für staatliche Dienstleistungen. Einerseits wurden auf diese Weise Anlage suchenden Kapitalien Investitionsmöglichkeiten geboten zur mehr oder weniger sicheren, raschen Bereicherung. Andererseits geht es v. a. darum, die Reproduktionskosten der Klasse zu senken. Vorher über Steuern finanzierte Leistungen müssen nun zunehmend aus dem Nettolohn bestritten werden. Insgesamt findet so eine Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft statt.

1.6 Reproduktionsprozess

Zugleich hat die Minderung der Reproduktionskosten enorme Auswirkungen auf Frauen, die Jugend, Kranke und Rentner:innen. Die Lage der proletarischen Frauen war im Kapitalismus schon immer durch die Doppellast von Ausbeutung als Lohnabhängige und privater Hausarbeit gekennzeichnet. Die Reorganisation des Reproduktionsbereiches unter dem Neoliberalismus hat diese Doppelbelastung noch erhöht. Die Kürzung bzw. Verteuerung von Sozialleistungen bedeutet für Millionen und Abermillionen proletarischer Frauen, dass sie diese Dienste nun zusätzlich und „kostenlos“ zu verrichten haben – und verstärkt aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Mit dem Ende des langen Booms und der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mitprägen, wird auch die Widersprüchlichkeit der Reproduktion deutlicher, gerät sie in eine Krise.

Für die Arbeiter:innenklasse und vor allem für die proletarischen Frauen bedeutet das:

Reproduktionsarbeit im staatlichen, kommunalen, öffentlichen Bereich, die nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausgedehnt wurde, wird seit vielen Jahrzehnten faktisch zurückgedrängt. Dies führt generell zu einer Kürzung des Soziallohns, also faktisch zur Reduktion des Lohnfonds der gesamten Klasse.

Dieses Rollback geht oft mit einer Privatisierung vormals öffentlicher/staatlicher Reproduktionsarbeit oder zumindest mit der Einführung kapitalistischer Rechnungsführung in formal staatlichen oder genossenschaftlichen Institutionen einher.

Im fürs Kapital günstigsten Fall soll die Reproduktionsarbeit Profit für Eigentümer:in/Investor:in erwirtschaften. Die Dienstleistung (Gesundheit, Pflege, Bildung, Jugendbetreuung) wird durch Privatisierung zum Selbstzweck, unproduktive Arbeit zu produktiver fürs Kapital.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt das eine Katastrophe dar, vor allem für Frauen, Jugend, Alte und die unteren Schichten des Proletariats. Die Verschlechterung öffentlich geleisteter Reproduktionsarbeit geht Hand in Hand mit der Ausdehnung von Billiglohn, prekären Verhältnissen, Kürzungen bei Renten, Verteuerung von Gesundheit, Kitas einher. Für die Lohnabhängigen bedeutet das, dass größere Bestandteile ihres Einkommens für diese Reproduktionsarbeiten aufgewendet werden müssen – oder dass sie diese Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen können.

Die Folge davon ist eine tendenzielle Ausweitung der privaten Reproduktionsarbeit, v. a. in den Halbkolonien und bei den einkommensschwachen und unterdrückten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Nur rund die Hälfte der globalen Arbeiter:innenklasse von rund 4 Milliarden Menschen verfügt über irgendeine Form sozialer Absicherung.[xii]

Für Millionen, wenn nicht Milliarden Lohnabhängige (und auch große Teil der verbliebenen Kleinbauern und -bäuerinnen) bedeutet dies, dass sie ihre Arbeitskraft nicht voll reproduzieren können.

All dies verstärkt die Ungleichheit und die reaktionären Tendenzen im Proletariat und in der Gesellschaft. Lohnabhängige Frauen werden verstärkt in Familien oder Ehen gezwungen; Kinder länger an diese gebunden, Alte ebenfalls.

Ebenso wie beim tendenziellen Abbau etablierter Formen international vernetzter produktiver Arbeit haben wir es auch hier mit einer offenkundigen Tendenz zur gesellschaftlichen Regression zu tun, mit einem globalen Zurückfallen hinter den zuvor erreichten Stand der Entwicklung.

Doch diese Entwicklungen laufen keineswegs ohne Widersprüche ab. Die Entstehung einer neuen Frauenbewegung (Frauen*streiks) und die Betonung der Frage der Reproduktion reflektiert diese Entwicklung. Zugleich wird sie jedoch von den vorherrschenden Strömungen des linken Feminismus[xiii] (Feminism for the 99 %) falsch ideologisiert, faktisch auf den Kopf gestellt. Die aktuelle Entwicklung der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus zeigt schlagend, wie sehr die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion von der Produktion bestimmt wird.

Wie die Frauen sind auch andere sozial Unterdrückte besonders von Kürzungen, der Umstrukturierung des Reproduktionsprozesses betroffen: MigrantInnen, Jugendliche, RentnerInnen sowie alle, die aus dem Produktionsprozess wegen Krankheit ausscheiden müssen.

2. Die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends

Nachdem wir oben auf einige zentrale Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der gesamten Globalisierungsperiode eingegangen sind, wollen wir uns näher mit den Auswirkungen der Rezession 2020 und 2021 befassen. Sie sind enorm und, was die Lage der Weltarbeiter:innenklasse betrifft, einschneidender als die jeder anderen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind in vieler Hinsicht deutlich größer als die Folgen der Krise 2008 – 2010, weil diese (a) weit weniger synchronisiert war, (b) mit keinem zeitweiligen Zusammenbruch globaler Produktions- und Vertriebsketten einherging und (c) die imperialistischen Staaten vergleichsweise einheitlicher, koordinierter agierten.

Im Folgenden wollen wir hier kurz einige der wichtigsten Auswirkungen auf die Arbeiter:innenklasse betrachten.

Die weltweite Wirtschaftskrise ging mit einem massiven Verlust an geleisteten Arbeitsstunden einher. 2020 wurden im Vergleich zu 2019 weltweit 8,8 % weniger geleistet. Das entspricht der Gesamtarbeit von 255 Millionen voll beschäftigten Arbeiter:innen pro Jahr bei einer 48-Stunden-Woche. 2021 waren es immer noch 125 Millionen Vollzeitjobs weniger als 2019. Zum Vergleich dazu: Während der Krise 2008/2009 stieg die Zahl der global geleisteten Arbeitsstunden, wenn auch nur um vernachlässigbare 0,2 %. Dies zeigt den synchronisierten Charakter der Rezession 2020 und die zeitweilige, erzwungene Einstellung bedeutender Teile der weltweiten Produktion. 2008 bis 2010 waren hingegen keineswegs alle Länder in gleichem Maße betroffen, und China konnte schon rasch als Lokomotive der Weltwirtschaft agieren. Die ILO rechnet damit, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zwar 2022 weiter zunimmt, insgesamt aber selbst 2023 das Niveau von 2019 noch nicht erreicht werden wird (selbst unter der Annahme, dass der Krieg und die Sanktionen um die Ukraine beendet, die Inflation erfolgreich bekämpft und eine globale konterzyklische Politik in Gang gesetzt werden).

Der Rückgang der global geleisteten Arbeitsstunden entfällt 2020 zu etwa gleichen Teilen auf, teilweise staatlich finanzierte, Kurzarbeit (Äquivalent von 131 Millionen Vollzeitjobs) oder auf das direkte Anwachsen von Arbeitslosigkeit (124 Millionen). Die globale Rate von Bevölkerung zu Beschäftigung (global employment-population-ratio) fiel 2020 gegenüber 2019 um 2,7 % (im Vergleich dazu lag der Fall 2008 – 2009 bei 0,7 %). Insgesamt stieg die registrierte Arbeitslosigkeit in der Krise 2020 und 2021 auf rund 220 Millionen Menschen. Auch wenn sie 2022 etwas absank, lag sie noch immer deutlich über den 186 Millionen registrierten Arbeitslosen 2019. Darüber hinaus sind diese Zahlen außerdem wahrscheinlich sehr geschönt, weil von einigen Ländern kaum oder nur sehr verspätet Daten eintreffen. Außerdem inkludieren sie nur Menschen, die aktiv nach Arbeit suchen, nicht solche, die aus dem Arbeitsmarkt „dauerhaft ausgeschieden“ sind. Die Verteilung zwischen (keineswegs immer bezahlter) Kurzarbeit und direkter Arbeitslosigkeit von 50 % zu 50 % lässt sich lt. ILO in den meisten Ländern konstatieren, außer in den einkommensstärksten. In diesen bestand die vornehmliche Antwort auf die Krise in der Kurzarbeit, was auch bedeutete, dass diese auf ein Ende der Pandemie oder deren Einschränkungen rascher und besser reagieren konnten. Die Erholung des Arbeitsmarktes fiel in den reicheren Ländern daher auch weit stärker aus.

Die Krise hat zu enormen Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse geführt. Das globale Lohneinkommen (also die staatlichen Transfers nicht eingerechnet) sank 2020 um 3,7 Billionen US-Dollar (8,3 %) gegenüber 2019. Dieser Trend hielt im ersten Quartal 2021 an (1,3 Billionen US-Dollar). Die ILO schätzt, dass die Anzahl der Arbeiter:innen in extremer (bis zu 1,9 US-Dollar pro Haushalt und Tag) oder „moderater“ Armut (1,9 – 3,2 US-Dollar je Haushalt und Tag) um 100 Million anwuchs. Damit wurden faktisch alle von den Vereinten Nationen im letzten Jahrzehnt proklamierten „Erfolge“ in der Armutsbekämpfung zunichtegemacht.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verteilung von extremer und „moderater“ Armut von Lohnarbeitenden in den Jahren 2019 und 2020. Die Zahlen beziehen sich dabei auf Haushalteinkommen mit mindestens einer/m beschäftigen Lohnarbeiter:in.

  Extreme Armut (weniger als 1,90 US-Dollar/Tag in PPP) Moderate Armut (1,90 US-Dollar/Tag – 3,20 US-Dollar/Tag in PPP
Region 2019 2020 2019 2020
Afrika   31,8 % 145 Mil 34 154 24,1 110 26,2 119
Lateinamerika und Karibik 3,0 8,8 3,8 9,9 5,0 14 6,8 18
Arabische Staaten (Nicht-Golfstaaten, ohne Nordafrika) 17,6 4,5 Mil 18,7 4,7 14,9 3,8 17,0 4,2
Ostasien 0,5 5 0,8 7 2,9 29 3,9 34
Südostasien und Pazifik 2,6 9 3,9 13 11 38 14 47
Südasien 6,7 45 9,8 62 26,7 178 35,9 225
Zentral- und Westasien 1,6 1,1 1,9 1,3 6,1 4,3 7,4 5,0

Auch in den imperialistischen Ländern dürfen die Auswirkungen der Reallohnverluste keineswegs unterschätzt werden. Generell hat die Krise jedoch die Arbeiter:innenklasse in den halbkolonialen Staaten weit mehr getroffen.

Das hat mehrere Gründe. Erstens war der Anstieg der Arbeitslosigkeit viel größer als in den westlichen, imperialistischen Zentren. Zweitens waren die Kurzarbeitsschemata knapper, weniger dauerhaft und auch weit häufiger nicht oder nur zu sehr geringen Teilen bezahlt. Drittens bedeutete die Dominanz informeller und ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse, dass die Arbeiter:innen in den meisten Halbkolonien über keine Sicherung und Reserven verfügten. Viertens traf die Rezession den informellen Sektor besonders hart, weil in vielen Halbkolonien hunderttausende kleine Unternehmen pleitegingen und, im Gegensatz zu den imperialistischen Ländern, staatlich nicht gestützt werden konnten oder sollten. Fünftens wurden in den Halbkolonien seit der Krise neue Jobs im Wesentlichen in Sektoren mit geringer Arbeitsproduktivität geschaffen. So schätzte die ILO (2021), dass die durchschnittliche globale Arbeitsproduktivität von ohnedies schon mageren +0,9 % in der Periode 2016 – 19 in der 2019 – 2022 um 1,1 % sinken wird. Auch das ist ein untrügliches Zeichen von Stagnation und faktischem Niedergang.

Generell lässt sich sagen, dass die Krise die Arbeiter:innen in den Halbkolonien, die Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen weit härter traf als den Durchschnitt. Das trifft auch auf das Verhältnis von gelernten und ungelernten, von unqualifizierten, Arbeiter:innen mit mittlerer Qualifikation und akademisch ausgebildeten Kräften zu. Letztere waren am wenigsten von der Krise betroffen, konnten deutlich schneller und dauerhafter zum Homeoffice wechseln und erlitten deutlich geringere Job- und Einkommensverluste, zumal wenn sie in größeren Unternehmen arbeiteten oder staatlich Beschäftigte waren.

Die Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiter:innenklasse wollen wir nur an einzelnen Zahlen illustrieren. 2020 sank die Beschäftigung von Frauen um 5 %, jene von Männern um 3,9 %. Hinzu kommt, dass geschätzt 90 % (!) dieser Arbeiterinnen, die ihre Jobs verloren, dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Dies ist das Resultat (a) geschlechtlicher Diskriminierung und Unterdrückung am Arbeitsplatz und (b) besonders hoher Jobverluste in einigen Berufen mit hohem Frauenanteil oder (c) besonders hoher Gesundheitsrisiken in bestimmten Bereichen (Einzelhandel, Gesundheitswesen). Vor allem aber hängt es damit zusammen, dass Frauen in die private Carearbeit gezwungen wurden und werden, sei es, weil sie staatliche Einrichtungen (Kindergarten, Schule, Gesundheit, Altersvorsorge) nicht mehr bezahlen können oder diese gar nicht existieren. Die massive Verarmung der unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse befördert zudem auch die Zunahme von Kinderarbeit in einigen Halbkolonien.

Ebenso sind Jugendliche besonders betroffen in Form von Arbeitslosigkeit, Jobverlusten, überproportional hohem Anteil von befristeten Arbeitsverhältnissen (faktisch die Regel für junge Arbeiter:innen).

Dies betrifft ebenso migrantische Arbeiter:innen und rassistisch Unterdrückte. Im Fall migrantischer Arbeiter:innen hat deren Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit auch massive Auswirkungen auf ihre Angehörigen in ihren Ursprungsländern, sei es, weil sie teilweise in diese mit Zwang zurückgeschickt wurden, sei es, weil sie keine oder deutlich weniger Lohnbestandteile an ihre Angehörigen schicken konnten, was zusätzlich die Verarmung der Arbeiter:innenklasse in den Ursprungsländern vergrößert.

Die Lage in den Halbkolonien wird zusätzlich durch das massive Anwachsen der Schulden verschlimmert. In den Jahren 2020 und 2021 setzten Kreditgeber:innen wie der IWF die Schuldenrückzahlung etlicher Halbkolonien aus, so dass diese die Krise etwas abfedern, zeitweise sogar kurzlebige konjunkturelle Feuerwerke entfachen konnten. Damit ist jetzt Schluss. Seither müssen die Schulden, teilweise mit zusätzlichen Auflagen verknüpft, zurückgezahlt werden.

Hier kommt ein weiteres mit der Rezession und Pandemie einhergehendes Phänomen hinzu. Seit 2020 können wir massive Preissteigerungen auf dem Weltmarkt für agrarische Rohstoffe beobachten. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine explodierten sie geradezu. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022. Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

Die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien trifft das besonders hart, weil sie einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben muss (50 – 100 %, verglichen mit 12 bis 30 % in den Industrieländern). Kein Wunder also, dass Millionen, auch Arbeitenden, Hunger droht.

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärfen die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leiden an Mangelernährung.

Zusammen mit der Inflation der Nahrungsmittelpreise trifft die Erhöhung der Energiepreise, der für Wohnraum und eine generelle Erhöhung der Preise die Massen mit voller Wucht. Der Krieg um die Ukraine und die Sanktionen wirken hier als Katalysatoren. In vielen Halbkolonien tritt außerdem zur Schulden- eine veritable Währungskrise.

Schließlich wird die drohende ökologische Katastrophe auch weitere Millionen in die Flucht zwingen. Diese ist eng verbunden mit einer Krise des gesamten Agrarsektors und seiner Abhängigkeit vom imperialistischen Finanzkapital.

Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls nachlassen. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen und erst recht angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Prognosen

Gegenüber dem Jahr 2020 brachte die Wende des Jahres 2021/22 eine gewisse Entspannung. So wuchs die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten im Jahr 2022 lt. ILO um 2,3 %. Für das laufende Jahr wird ein Wachstum von einem Prozent vorhergesagt.[xiv]

Die Ursachen dafür sind direkt Resultat der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre. Schon während der Pandemie wurden globale Lieferketten unterbrochen. Das schrumpfende Angebot führte schon damals zu signifikanten Steigerungen der Lebensmittelpreise für die Masse der Weltbevölkerung.

Angesichts der düsteren ökonomischen Aussichten können wir in den kommenden Jahren mit einer Stagnation der Größe der Arbeiter:innenklasse rechnen, wenn auch mit großen regionalen Unterschieden.

Für die arabischen Staaten (d. h. in erster Linie in den reicheren Ländern) und Teile Afrikas wird eine Ausdehnung der Beschäftigung prognostiziert. Rohstoffreichtum begünstigt dabei vor allem die Rentierökonomien in den arabischen Staaten und einige Länder Afrikas. Bei den Prognosen für Afrika muss außerdem die große Ungleichheit, vor allem aber das schlechte Ausgangsniveau mit in Rechnung gestellt werden. Aufgrund des Wachstums der Bevölkerung und damit der Arbeitssuchenden werden die Arbeitslosenraten deshalb kaum zurückgehen.

In Asien, Lateinamerika und der Karibik wird von einem Beschäftigungswachstum von maximal einem Prozent ausgegangen – ein Wachstum, dem jedoch ein noch größeres der Bevölkerung in vielen Ländern entgegensteht. In den USA und Kanada rechnet die ILO 2023 mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit, für Europa und Zentralasien sagt sie ein Schrumpfen der Anzahl der Beschäftigten voraus. In etlichen Ländern (auch Deutschland) wird das jedoch durch einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter konterkariert, was die Arbeitslosenraten relativ gering hält, ja, in etlichen Sektoren mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht.

Eine stagnierende Weltwirtschaft wird also begleitet von einem Arbeitskräftemangel in den technologisch fortgeschritteneren Sektoren der Produktion wie auch im Bildungs- und Gesundheitswesen. Das betrifft auf den ersten Blick vor allem die reicheren, entwickelteren Volkswirtschaften. Obwohl hier das Bildungs- und Ausbildungsniveau weiter über dem globalen Durchschnitt liegt, fehlt es an Fachkräften. Das hängt nicht nur mit einer veränderten Altersstruktur zusammen, sondern auch mit massiven Einsparungen (z. B. im Gesundheitswesen) und einem seit Jahren aufgebauten Mangel.

Global betrachtet, stellt sich das Problem noch viel schärfer. Die Kürzungen im Ausbildungssektor betreffen die Halbkolonien noch weit mehr als die imperialistischen Länder. Generell ist in den letzten Jahren der Anteil junger Menschen, die sich in Arbeit, Ausbildung oder Bildung befinden, nach Jahrzehnten der Zunahme rückläufig. 2022 waren lt. ILO 289 Millionen junge Menschen ohne Arbeit, Ausbildung und Schulbildung.[xv] Davon waren zwei Drittel junge Frauen. Generell liegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung unter jungen Lohnabhängigen deutlich höher als bei älteren.

Grundsätzlich wurden die Bildungskosten für die nächste Generation von Lohnabhängigen massiv reduziert, weil diese vom kapitalistischen Standpunkt aus Abzüge vom Gesamtprofit, „unnütze“ Kosten für das Einzelkapital bedeuten. Für dieses stellt eine Reduktion der Bildungskosten für die Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar, dem Fall der Profitrate durch Erhöhung der Ausbeutungsrate entgegenzuwirken. Allerdings mit einer fatalen, langfristigen Folge: Es werden nicht mehr ausreichend Arbeitskräfte mit der geforderten Qualifikation ausgebildet. Die imperialistischen Ländern haben dabei noch eher die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, weil sie erstens über größere Reserven für Ausbildungs- und Bildungsinvestitionen verfügen, zweitens auf einen größeren Pool von ausgebildeten verrenteten Arbeiter:innen zurückgreifen können und drittens mittels einer selektiven Migrationspolitik vor allem qualifiziertere Lohnabhängige aus ärmeren Ländern mit geringeren Lohnniveaus anziehen können (ohne einen Cent für deren Bildungskosten auszugeben).

Insgesamt schätzt die ILO, dass 2022 3,6 Milliarden Menschen lohnabhängig beschäftigt waren. Die Beschäftigungsrate (Labour Force Participation Rate) an der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt bei 60 % und somit unter dem Niveau von 2019. Für die Jahre 2023 und 2024 wird ein weiterer, leichter Rückgang prognostiziert.

Von den 3,6 Milliarden waren 2 Milliarden informell beschäftigt. 2022 gab es zudem weltweit 473 Millionen Jobsuchende (davon 213 Millionen Arbeitslose). Auch nach der Pandemie und in der kurzen „Erholung“ 2021/22 setzten sich die globalen Ungleichheiten weiter fort. Frauen sind nicht nur weiterhin auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Die Krise hat auch insofern zu einer Verschlechterung geführt als 80 % der Frauen, die 2021/22 wieder Arbeit fanden, dies im informellen und in schlechter bezahlten Sektoren der Wirtschaft taten, was ihre abhängige Rolle weiter verstärkt.

Von den 3,6 Milliarden Beschäftigten verfügen 2 Milliarden über keine Form der sozialen Absicherung, sei es durch den Staat oder durch Versicherungsleistungen. Betrachten wir die gesamte Weltbevölkerung, so beläuft sich diese Zahl auf rund 4 Milliarden, also praktisch die Hälfte aller Bewohner:innen dieses Planeten. Wie die Pandemie, Inflation und Klimakatastrophen zeigen, verfügen diese Menschen kaum über Reserven – und die kommenden Jahre werden ihre Lage tendenziell noch prekärer machen.

2022 sanken im globalen Durchschnitt die Arbeitseinkommen und blieben unter den Inflationsraten. Diese Entwicklung betrifft vor allem die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo der Reallohnverlust durchschnittlich 2,2 % betrug.[xvi] Allerdings spiegeln die Inflationsraten nur sehr unzureichend die Veränderung der Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen, so dass es erscheinen mag, dass die Arbeiter:innen in den imperialistischen Ländern stärker als jene in den Halbkolonien betroffen wären. Das ist aber falsch. In den Halbkolonien müssen die Arbeitenden einen weitaus größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse aufwenden, da die Preissteigerung für Nahrungsmittel und anderer für die Lohnabhängigen essentieller Güter oft deutlich über der Inflationsrate liegt.

Alle oben beschriebenen Entwicklungen wurden durch den Krieg um die Ukraine verschärft, der seinerseits Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist. Er geht mit einem offenen Wirtschaftskrieg zwischen den westlichen Mächten und Russland einher, der aber letztlich nur einen Faktor einer weit größeren Konfrontation mit China darstellt. Diese Konkurrenz drängt zur Bildung von politischen und ökonomischen Einflusssphären der verschiedenen Blöcke, zu einer Fragmentierung des Weltmarktes und damit verbunden auch zu einer Veränderung globaler Produktions- und Lieferketten. Der Krieg um die Ukraine führt außerdem auch zur massiven Forcierung der Rüstungsproduktion. Das wird sich in den kommenden Jahren weiter fortsetzen, selbst wenn es zu einer (zeitweiligen) Befriedung in der Ukraine kommen sollte.

All dies wird damit einhergehen, dass die Nahrungsmittelpreise weiter hoch bleiben. Gerade in den Halbkolonien wird das auch auf die Energiepreise zutreffen, sei es, weil die Streichung staatlicher Preisstützungen für die Massen zu den Grundbedingungen der IWF-Maßnahmen gehören, in die mehr und mehr Länder des globalen Südens aufgrund von Schulden- und Währungskrisen gezwungen werden, sei es aufgrund geringer Versorgungssicherheit und Knappheit. Inflation wird für die Arbeiter:innenklasse dieser Welt also weiter ein zentrales Problem bleiben.

Zu diesen aus der verschärften Konkurrenz und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt kommenden Faktoren tritt die ökologische Krise. 2022 verdeutlicht die enorme Gefahr, die der Weltbevölkerung droht, vor allem und zuerst im globalen Süden. Die Weltlage verschärft dieses Problem, das der Kapitalismus ohnedies schon unfähig ist zu lösen. Extremwetterlagen und Fluten wie 2022 in Pakistan, als rund ein Drittel der Bevölkerung von der Katastrophe direkt betroffen war, werden sich in den kommenden Jahren wiederholen. Für die Arbeiter:innenklasse bedeutet dies vor allem in den halbkolonialen Ländern eine dauerhafte, ja sich verschärfende Ernährungskrise, eine dramatische Zerstörung von Wohnraum. Die Folgen sind Hungersnöte und Massenflucht von Abermillionen.

Schon die Coronapandemie und die Wirtschaftskrise in den Jahren 2020 und 2021 haben weltweit zu Millionen von Toten, massiven Einkommensverlusten und einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbeiter:innenklasse geführt. Aufgrund von Rezession, Gesundheitskrise und Krieg sind die Rücklagen (sofern sie überhaupt welche hatten) der Masse der Lohnabhängigen im globalen Süden, aber auch der unteren und ärmeren Schichten in den imperialistischen Ländern aufgebraucht. Dabei stehen wir längst nicht am Ende, sondern mitten in einer weiteren Welle von Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse.

3. Die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats

Nationaler Schulterschluss und Klassenkollaboration

Seitens der Gewerkschaften, sozialdemokratischen, stalinistischen, linkspopulistischen und linksreformistischen Parteien und Organisationen gab es wenig bis gar keinen organisierten Widerstand gegen die Angriffe der Jahre 2020 – 22. Stattdessen suchten die Führungen der Massenorganisationen in den meisten Ländern in den ersten beiden Jahren der Pandemie die nationale Solidarität mit der herrschenden Klasse und verfolgten eine Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen effektiv denen des Kapitals unterordnete. Sie unterstützten eine inhärent widersprüchliche und halbherzige Pandemiepolitik der herrschenden Klasse, die, von wenigen Ausnahmen wie in China abgesehen, zwischen einer Strategie der Abflachung der Kurve (d. h. der Begrenzung der Pandemie auf ein Niveau unterhalb des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems) und Durchseuchung schwankte. Obwohl die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, hat sich in den meisten Ländern letztere Strategie, einschließlich der dauerhaften Inkaufnahme von gesundheitlichen Folgeschäden, durchgesetzt.

Die Politik des nationalen Schulterschlusses trug maßgeblich zu massiven Einkommensverlusten für die Arbeiter:innenklasse, die in den vorhergehenden Abschnitten dargestellt wurden, bei. In den imperialistischen Staaten und einigen Halbkolonien wurden diese zwar durch staatliche Interventionen und Kurzarbeit abgefedert, an der grundlegenden Entwicklung ändert das aber nichts. Die Gewerkschaften und auch die reformistischen Parteien fungierten in den imperialistischen Kernländern als Co-Managerinnen der Krise. Die meisten von ihnen sicherten den industriellen und gewerkschaftlichen Frieden. In vielen Ländern wurden im Gegenzug für (unzureichende) staatliche Rettungspakete und Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen und zur Begrenzung von Einkommensverlusten die gewerkschaftlichen Kämpfe faktisch ausgesetzt und Tarifverhandlungsrunden verschoben.

Das bedeutet nicht, dass wir in dieser Phase gar keine erlebten. Vielmehr wurden diese in Ländern wie Italien und Spanien zu Beginn der Pandemie organisiert, um Gesundheitsschutzmaßnahmen und Fabrikschließungen überhaupt erst durchzusetzen.

In den meisten Ländern suchten die etablierten Führungen der Arbeiter:innenbewegung (Sozialdemokratie, Labour, viele „kommunistische Parteien“, linksreformistische Parteien, Gewerkschaftsführer:innen und Linkspopulismus) in der Regel ein Bündnis mit dem „vernünftigen“ Teil der herrschenden Klasse und versuchten, (informelle) Koalitionen unter dem Banner der nationalen Einheit und Sozialpartnerschaft zu bilden. Dies geschah entweder in Form einer direkten Regierungsbeteiligung oder politischen Unterstützung der „demokratischen“ bürgerlichen Parteien (US-Demokrat:innen, Liberale, Grüne). Diese Politik der offiziellen Führungen der Arbeiter:innenbewegung trug ihrerseits wesentlich zum weiteren Aufstieg der Rechten bei, was wiederum als weitere Legitimation für eine Politik der Klassenkollaboration herhalten sollte.

Diese Politik wird in vielen Ländern im Grunde bis heute fortgesetzt – nur diesmal unter dem Vorzeichen der notwendigen Zurückhaltung zugunsten der Unterstützung der Bourgeoisie im neuen Kalten Krieg und insbesondere in der Sanktionspolitik gegen Russland. Faktisch unterstützen im Krieg um die Ukraine sowohl alle großen sozialdemokratischen Parteien, die Führungen der meisten Gewerkschaftsverbände als auch zahlreiche Linksparteien die Kriegsziele des westlichen Imperialismus. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die dortigen staatsnahen Gewerkschaften verteidigen derweil den Angriffskrieg und die Eroberungen des russischen Imperialismus.

Gewerkschaften

Insgesamt hat die Politik der Klassenzusammenarbeit seit Jahren den anhaltenden Trend eines sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades weiter verschärft. Natürlich wird dieser nicht nur durch die falsche bürgerliche Politik der Führung bedingt, sondern ist  selbst eine Folge der Umstrukturierung des Kapitals und der damit verbundenen Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse. Die Gewerkschaften unter Führung der Bürokratie haben aber darauf keine Antwort gefunden. Vielmehr hoffen sie, die verlorene Organisationsmacht durch Korporatismus und Integration in ein System der Klassenkollaboration auszugleichen. Dies wird zum Teil auch mit aktivistischen Kampagnen (z. B. Organizing) verknüpft, die aber die Kontrolle der Bürokratie nicht in Frage stellen sollen (und können). Teilweise gelingt es den Gewerkschaftsapparaten in einigen Staaten noch, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und Verhandlungsmacht auch in gewerkschaftlich schwach organisierten Bereichen aufrechtzuerhalten. Doch dies stellt nur ein Nebenprodukt ihrer Stellung im nationalen Gefüge von Korporatismus und Sozialpartner:innenschaft dar (und steht und fällt mit der Fähigkeit, diese aufrechtzuerhalten).

Dies wird aber immer schwieriger. Denn grundsätzlich schwächt die Politik der Klassenkollaboration die etablierten Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen. Sie werden reduziert auf Schichten der Arbeiter:innenaristokratie oder Beschäftigte im staatlichen Sektor. Auch dort findet diese Politik eine gewisse soziale Basis – allerdings eine, die tendenziell schrumpft, was zu einer Schwächung der Bürokratie, aber auch der Organisationen selbst führen könnte.

Die unmittelbare, sehr kurzlebige, Erholung und der Aufschwung nach der Rezession 2020/21 führten in einigen Ländern zu einer Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Militanz und zu teilweise sehr beeindruckenden Kämpfen um die Organisierung zuvor nicht organisierter Sektoren. Doch diese neue Schicht von Gewerkschaftsaktivist:innen wird sich nun unter veränderten Bedingungen massiver Preissteigerungen bewähren müssen. Die Auseinandersetzungen haben zwar kleinere oder größere Schichten von Aktiven und Kampferfahrungen hervorgebracht, aber die Kontrolle der bürokratischen Apparate nicht wesentlich in Frage gestellt (in einigen Fällen sogar gestärkt). In der Regel sind sie nicht über die Ebene der wirtschaftlichen Klassenkämpfe oder von der Bürokratie kontrollierten Mobilisierungen hinausgegangen.

Dies gilt auch für die massiven Streikbewegungen in Indien, die Hunderte von Millionen mobilisierten – allerdings letztlich für begrenzte eintägige Aktionen ohne weitere Kampfperspektiven.

Auch in Europa erlebten wir trotz Krieges gegen die Ukraine einen Aufschwung von politischen und gewerkschaftlichen Abwehrkämpfen (Britannien, Spanien, Frankreich und sogar in Deutschland). Diese führen zweifellos zur Politisierung neuer Schichten. Die Strategie der Gewerkschaftsführungen stellt aber ein zentrales Hindernis im Kampf dar, so dass sowohl den Millionen, die im Kampf gegen die Rentenreform Macrons mobilisiert wurden, als auch den Tarifkämpfen in Britannien und Deutschland Ausverkauf und Niederlagen drohen.

Insgesamt befindet sich die Gewerkschaftsbewegung in einer tiefen Krise – einer Krise, die allerdings in den einzelnen Ländern unterschiedliche Formen annimmt.

Zugleich ist die Arbeiter:innenklasse in allen Ländern mit gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen und Einschränkungen des Streikrechts konfrontiert. Aber diese fallen sehr unterschiedlich aus. In den meisten europäischen Ländern unterstützt die Bürokratie diese Gesetze nicht nur stillschweigend, sondern nutzt sie auch, um ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu festigen. In den USA hingegen ist die Machtposition der Gewerkschaften in der Gesellschaft wesentlich schwächer, so dass auch der Kampf um ihre Anerkennung eine größere Rolle einnimmt.

In diesen Ländern (aber auch in vielen lateinamerikanischen) stützen sich die Gewerkschaftsbürokratien entweder auf „ihre“ sozialdemokratischen Arbeiter:innenparteien oder auf ihre Verbindungen zu den Demokrat:innen oder populistischen Parteien, um auf nationaler Ebene jene Gesetze durchzusetzen, die ihnen einen branchen- und betriebsübergreifenden Gestaltungsspielraum für das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ermöglichen. Im Gegenzug sind sie bereit, als soziale Stütze der Regierungen zu fungieren. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaftsführungen betreiben aktiv eine Politik der Klassenkollaboration (die sich mitunter auch auf Arbeit„nehmer“:innenschichten stützen kann, insbesondere in den Großbetrieben).

Insgesamt ist auch eine weitere Zersplitterung der Gewerkschaften zu beobachten, deren Kehrseite die eher willkürliche Verschmelzung verschiedener Branchengewerkschaften darstellt. In den Halbkolonien ist diese Zersplitterung noch viel stärker ausgeprägt.

Wenn sich die Gewerkschaftsapparate und mit ihnen auch die Gewerkschaften selbst dem bürgerlichen Staat annähern (entweder direkt oder vermittelt über reformistische, populistische, nationalistische oder linksbürgerliche Parteien), wird umgekehrt der Spielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse kleiner. Zwar haben die Pandemiekrise und teilweise die Kosten des Ukrainekrieges dazu geführt, dass staatliche Hilfsmaßnahmen über Schulden finanziert und damit auch als Verhandlungserfolg der Gewerkschaftsbürokratie dargestellt werden konnten, doch droht die Inflation, dies nun aufzufressen, und die herrschende Klasse wird über kurz oder lang ihren finanzpolitischen Kurs ändern, was verstärkte Angriffe nach sich ziehen wird.

In den Halbkolonien hat dies alles längst viel dramatischere Formen angenommen. Dort findet zwar auch Korporatismus statt, aber auf einer viel schmaleren wirtschaftlichen Basis. Daher ist der Organisationsgrad im Allgemeinen niedriger, manchmal sogar extrem niedrig (weniger als 5 % der Klasse), und die Gewerkschaftslandschaft ist gleichzeitig viel stärker zersplittert. Zahlreiche kleine Gewerkschaften, die oft nur auf betrieblicher und regionaler Ebene existieren, verfügen über keine wirkliche Kampfkraft.

In diesen Ländern stellt die Organisierung der Unorganisierten und die Reorganisation der Gewerkschaften in Branchengewerkschaften (Industriegewerkschaften) auf einer demokratischen, klassenkämpferischen Basis ein zentrales, unmittelbares Kampfziel dar.

In Ländern, in denen die Gewerkschaften unter diktatorischen Bedingungen arbeiten müssen, stehen wir einem weiteren, anders gelagerten Problem gegenüber. Auch dort stellt sich zwar das Problem der Einbindung staatlich anerkannter Gewerkschaften ebenso wie der Versuch des Staates, korporatistische Betriebsstrukturen für die Beschäftigten zu schaffen und damit Konflikte institutionell zu regeln. Verschärft wird dieses Problem jedoch durch die Illegalität bzw. eingeschränkte Legalität der politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, sogar der mit reformistischem Charakter.

Schließlich konfrontiert die aktuelle Situation die Gewerkschaften und betrieblichen Aktivist:innen mit politischen Fragen (Krieg, Pandemiepolitik), der tieferen wirtschaftlichen und sozialen Spaltung der Klasse und dem Verhältnis zum Staat und den bürgerlichen Institutionen.

Politische Organisationen

Dabei verbinden die Gewerkschaftsbürokratien den Ökonomismus mit bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik. Dies geschieht entweder in Form eines Bündnisses mit offen bürgerlichen Parteien oder mit dem Linkspopulismus als deren linkester Variante.

Auch wenn der Linkspopulismus oft ähnliche Forderungen wie sozialdemokratische oder stalinistische Parteien vertritt, ist das Verhältnis von reformistischen und populistischen Parteien zur Arbeiter:innenklasse grundlegend verschieden. Reformistische Parteien stützen sich organisch auf die Arbeiter:innenklasse und sind durch einen inneren Widerspruch zwischen der proletarischen sozialen Basis und der bürgerlichen Politik gekennzeichnet. Die populistischen Parteien hingegen, die sich auf ein Bündnis verschiedener Klassen stützen, die zum „Volk“ ideologisiert werden, sind letztlich Volksfronten in Parteiform.

Die Tatsache, dass sich in der gegenwärtigen Periode verschiedene Zwischen- und Übergangsformen, einschließlich linkspopulistischer (oder sogar liberal-bürgerlicher) Flügel, in reformistischen Parteien bilden, dass einige linkspopulistische Formationen noch keinen festen Rückhalt in Teilen der Bourgeoisie haben, bedeutet, dass an der gesellschaftlichen Oberfläche der Unterschied zwischen linkspopulistischen Parteien und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verschwinden scheint. Hinzu kommt, dass sowohl populistische als auch reformistische Parteien klassenübergreifende Blöcke und Bündnisse in Regierungen anstreben und daher auch als Teile einer bürgerlichen Koalitionsregierung oder einer Volksfront auftreten.

Diese direkte Suche nach Koalitionsregierungen mit dem „linken“ oder „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie, die Tendenz zur Volksfrontpolitik entspricht der Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaften und markiert einen weiteren Rechtsruck der traditionellen reformistischen Parteien. Dies geht oft mit deren Niedergang und manchmal auch mit internen Tendenzen einher, die organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse zu lösen.

All dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hinwendung oder der Wandel zum Populismus eine weitere Entwicklung weg von einer Politik bedeutet, die auf organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse beruht. So stellt das Schrumpfen des Reformismus zugunsten des Linkspopulismus eine allgemeine Schwächung der Arbeiter:innenklasse dar, auch wenn dies, wie z. B. das Wachstum der frühen „Grünen“ auf Kosten der Sozialdemokratie (und des Stalinismus), oberflächlich betrachtet, als Linksentwicklung erscheinen mag. Das kleinbürgerliche oder populistische Strohfeuer entpuppt sich regelmäßig als ein Weg nach rechts.

Im Grunde ist der Vormarsch klassenübergreifender Ideologien wie des Populismus Ausdruck der Niederlagen der Arbeiter:innenklasse und eine Folge der verräterischen Politik der Führungen von Gewerkschaften und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.

Gleichzeitig ist der Vormarsch von Populismus, Identitätspolitik und Formen des bürgerlichen Individualismus (Queertheorie) nicht nur in der politischen und ideologischen Krise der Arbeiter:innenklasse begründet, sondern auch in der veränderten Situation der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und auch der Kleinunternehmer:innen in der Krise. Unter stabilen Bedingungen fungieren sie eigentlich als Stütze der bürgerlichen Ordnung und Demokratie.

In der Krise allerdings entdecken sie ihre „Unabhängigkeit“. Sie kritisieren die „Elite“, indem sie zwischen „guten“ und „schlechten“ Strömungen des Kapitals unterscheiden; aber sie gerieren sich auch „radikal“ und fordern einen Bruch mit der „traditionellen Klassenpolitik“ oder dem, was Sozialdemokratie und Stalinismus daraus gemacht haben. Im linken Spektrum äußert sich diese kleinbürgerliche Strömung ideologisch auf unterschiedliche Weise: als linker Populismus, Identitätspolitik, Queertheorie, Befreiungsnationalismus, Postkolonialismus und in vielen anderen Schattierungen. Philosophisch-methodologisch stehen sie in engem Zusammenhang mit der Postmoderne und, vermittelt durch diese, mit den reaktionärsten, oft subjektiv-idealistischen und irrationalistischen Strömungen der westlichen Philosophie.

Die gegenwärtige Krise wird auch weiterhin einen Nährboden für diese kleinbürgerlichen Ideologien bieten – natürlich nicht nur in ihren linken, sondern vor allem auch in ihren rechten Spielarten – zumal einige dieser Ideologien bereits tief in die organisierte Arbeiter:innenbewegung und die politische Linke eingedrungen sind.

Kleinbürgerliche Ideologien stellen schon längst eine besonders wichtige und prägende Kraft in der Frauen*streikbewegung und im zeitgenössischen Feminismus dar, aber auch in klassenübergreifenden Massenbewegungen (Ökologie, Antirassismus). Das Beispiel der Gilets Jaunes in Frankreich veranschaulicht die Gefahr, wenn Populismus zur führenden politischen Ideologie einer Massenbewegung wird. Die Gefahr, dass die radikale Rechte diese Bewegung auf elektoraler Ebene wie überhaupt im politischen Raum für sich vereinnahmt oder eine dominante Rolle ausübt, spiegelt einen weiteren Rückgang des sozialen Gewichts der Arbeiter:innenklasse wider.

Der Populismus und andere kleinbürgerliche Ideologien sind jedoch nicht die einzigen, die versuchen, die Krise der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien auf der Linken zu lösen.

In den letzten Jahren ist auch eine neue Strömung des linken Reformismus entstanden – zum Beispiel in Teilen der europäischen Linksparteien, im Corbynismus in der Labour Party oder auch in Teilen der DSA in den USA. Das Scheitern Corbyns zeigt deutlich die Grenzen dieser Strömung, ist aber keineswegs mit ihrem Ende zu verwechseln.

Zeitschriften wie „Jacobin“ oder die Stiftungen der ELP (Luxemburg Foundation) haben in den letzten Jahren begonnen, eine „neue“ reformistische Strategie zu etablieren und versuchen, sie als Alternative zur alten Sozialdemokratie, zu den „Grünen“ und zum Linkspopulismus zu verbreiten. Unter dem Titel „Transformationsstrategie“ berufen sie sich auf Theoretiker wie Kautsky, Gramsci, Poulantzas, um eine antibolschewistische, „sozialistische“ Strategie zu rechtfertigen, die den revolutionären Sturz der herrschenden Klasse und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats durch einen langwierigen Kampf um die „Hegemonie“ und eine „schrittweise Transformation“ von Staat und Gesellschaft ersetzen will. Dieser „neue“ Reformismus ist natürlich nicht neuer als seine historischen Vorbilder im marxistischen Zentrum der II. Internationale, dem Austromarxismus oder dem Eurokommunismus. Aber die Theoretiker:innen und Ideolog:innen dieser Strömung stellen ihn als Versuch dar, einen „neuen Marxismus“ zu begründen, der den Gegensatz von Reform und Revolution versöhnt. In Wirklichkeit entpuppt sich das als wieder aufgewärmter Revisionismus.

Die „radikale“ Linke und der Zentrismus

Im Allgemeinen konnte die „radikale“ Linke wenig oder gar nicht von den politischen Krisen des Reformismus und der Anpassung der Gewerkschaftsführungen an Kapital und Staat profitieren. Im Gegenteil, sie erlebt einen weiteren politischen Niedergang.

Die Linke aus „postmarxistischen“ und (post)autonomen Bewegungen schwankt zwischen einer opportunistischen Anpassung an andere Kräfte (kleinbürgerlich geführte Bewegungen oder auch den linken Apparaten in Gewerkschaften und reformistischen Parteien) einerseits und einer romantisierenden Rückkehr zu ultralinken Formen von „Militanz“ andererseits. Beiden gemeinsam ist eine Fetischisierung von Formen des spontanen Prozesses, die je nach ideologischer Ausrichtung durch Teile der Klimabewegung, Organizing-Kampagnen in den Gewerkschaften, „Nachbarschaftsarbeit“ oder direkte Aktionen verkörpert werden. Diese Fetischisierung der Form ersetzt jede systematische Entwicklung eines Programms, einer Strategie und Taktik.

Auch wenn diese Strömungen theoretisch und programmatisch in einer Sackgasse stecken und vor allem keine Antwort auf die Kriegsfrage und die zunehmende imperialistische Blockkonfrontation geben, können wir keineswegs ausschließen, dass sie – ähnlich wie verschiedene Spielarten des Anarchismus – Anziehungskraft auf sich radikalisierende Teile der Jugend und kämpferische Arbeiter:innen entwickeln können, gerade weil sie eine einfache Antwort auf den Niedergang des Reformismus und die Krise der Arbeiter:innenbewegung zu liefern scheinen.

Diese Formen des kleinbürgerlichen Linksradikalismus müssen von zentristischen Kräften unterschieden werden, also solchen, die zwischen Reform und Revolution, zwischen bürgerlicher und revolutionärer Arbeiter:innenpolitik schwanken. Der Zentrismus ist im Grunde ein kurzlebiges politisches Phänomen, denn ein länger andauerndes Pendeln zwischen diesen Polen im Klassenkampf ist für eine Partei, die bedeutende Teile der Klasse führt, unmöglich.

In den letzten Jahren, ja, sogar Jahrzehnten, hat sich keine zentristische Massenpartei gebildet, die mit der Partido dos Trabalhadores (PT = Arbeiter:innenpartei) bei ihrer Gründung oder der USPD im Ersten Weltkrieg vergleichbar wäre. Einem solchen Phänomen am nächsten kam die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA = Neue antikapitalistische Partei), die es aber aufgrund ihrer inneren Widersprüche nie vermochte, über das Stadium einer großen Propagandaorganisation hinauszuwachsen und wirklich eine Partei zu werden.

Wir haben es heute entweder mit zentristischen Wahlfronten zu tun, wobei die erfolgreichste und größte zweifellos die Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad (FIT-U = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) in Argentinien darstellt, oder mit rechtszentristischen Strömungen innerhalb reformistischer Formationen (z. B. in Teilen der Democratic Socialists of America, DSA).

Es ist jedoch keineswegs auszuschließen, dass solche zentristischen Formationen in der nächsten Zeit eine größere Anhänger:innenschaft gewinnen werden. Solche können natürlich nicht nur aus sozialdemokratischen Formationen oder trotzkistischen Kräften entstehen, sondern auch aus linksstalinistischen oder politischen Differenzierungen innerhalb von Massenbewegungen. Wo diese Kräfte zu einem Phänomen werden, das bedeutende Teile der Avantgarde umfasst, müssen Revolutionär:innen in diesen Prozess eingreifen und für eine wirklich revolutionäre Ausrichtung kämpfen.

Im Allgemeinen befinden sich die trotzkistisch-zentristischen Organisationen jedoch in einer tiefen Krise. Mehrere Strömungen – allen voran das Vereinigte Sekretariat, das sich vor einigen Jahren ironischer Weise in Vierte Internationale umbenannt hat – sind nach rechts gerückt und haben Sektionen und Mitglieder verloren. Andere, wie die International Socialist Tendency (IST = Internationale Sozialistische Tendenz), treten kaum noch als internationale Strömungen in Erscheinung. Das Committee for a Workers International (CWI = Komitee für eine Arbeiter:inneninternationale) hat sich in zwei etwa gleich große Teile gespalten. Das Gleiche gilt für die Partido Obrero (PO = Arbeiter:innenpartei) und ihre internationale Strömung.

Unter den größeren zentristischen Strömungen haben sich die aus dem Morenismus hervorgegangenen (Liga Internacional dos Trabalhadores, LIT; Unidad Internacional de Trabajadoras y Trabajadores, UIT) konsolidiert, wenn auch mit einer abenteuerlichen Politik, die zwischen Opportunismus und Sektierertum schwankt. Nur zwei große internationale Strömungen sind gewachsen oder befinden sich im Wachstum: Die International Marxist Tendency (IMT = Internationale Marxistische Tendenz), die sich als eine eher „orthodoxe“ Form des Marxismus mit einer starken propagandistischen Ausrichtung präsentiert, und die Fraccíon Trotskista (FT) mit der argentinischen Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) als größter Sektion.

IMT und FT/PTS (wie letztlich auch LIT und UIT) versuchen, sich als orthodoxe Kräfte zu präsentieren, die eine marxistische oder klassenunabhängige Alternative zum Reformismus und verschiedenen kleinbürgerlichen Strömungen darstellen. Ihre Stärke liegt zweifellos in einer umfangreichen propagandistischen Tätigkeit und, insbesondere im Fall der FT, in einer sehr systematischen Nutzung der sozialen Medien. Die Frage der Neuformulierung des revolutionären Programms stellt sich bei beiden nicht wirklich (ebenso wie bei UIT und LIT). Beide sind ironischer Weise durch ein Abgleiten in Richtung Ökonomismus und Spontaneität und eine Ablehnung von Lenins Konzeption der Entstehung von Klassenbewusstsein (und damit des Kerns der leninistischen Parteitheorie) gekennzeichnet.

Beide Strömungen könnten in naher Zukunft weiter wachsen. Allerdings sind die inneren Widersprüche, die die jeweiligen Organisationen in eine Krise stürzen können, sehr unterschiedlich. Die IMT lebt von der Isolierung ihrer Mitglieder vom „Rest“ der Linken in einer höchst sektiererischen Weise. Es ist die Konfrontation mit der Realität des Klassenkampfes und verschiedenen anderen Strömungen, die das Weltbild der IMT-Anhänger:innen erschüttern kann und wird, wie bei früheren Abspaltungen dieser Strömung.

Die Widersprüche der PTS/FT-Strömung ergeben sich aus ihrer theoretischen Hinwendung zu Gramsci (und weg von Marx‘ Ideologiebegriff und Lenins Verständnis von Klassenbewusstsein), den methodischen Schwächen ihres Imperialismusverständnisses (und der damit verbundenen Fehlcharakterisierung Chinas und Russlands), ihrem Missverständnis von Reformismus und Einheitsfronttaktik sowie den inneren Widersprüchen der FIT in Argentinien.

Wir müssen die Entwicklung sowohl der krisengeschüttelten als auch der wachsenden zentristischen Strömungen genau verfolgen und unsere Kritik vor allem an ihren inneren Widersprüchen und programmatischen Schwächen ansetzen.

Die Krise des Zentrismus hat auch zur Entwicklung kleinerer linksgerichteter Organisationen und Gruppen geführt, die als Opposition innerhalb bestehender internationaler Tendenzen agieren oder eine revolutionäre Umgruppierung vorantreiben wollen (so die International Trotskyist Opposition, ITO, oder die Internationale Revolutionäre Tendenz, TIR, oder der linke Flügel der NPA). Natürlich gibt es auch mit diesen Gruppen wichtige programmatische und methodologische Unterschiede. Aber ihre Entwicklung verweist darauf, dass sich in der kommenden Periode auch Gruppierungen nach links entwickeln oder in eine Krise geraten können, die eine Möglichkeit für revolutionäre Umgruppierung schafft, für den Aufbau einer größeren revolutionären Tendenz, die viel effektiver in den Klassenkampf weltweit eingreifen und sich auf eine neu entstehende Avantgarde beziehen kann, denn die aktuelle Krise wird alle Strömungen und Ideologien auf die Probe stellen.

Die „radikale“, subjektiv nicht-reformistische Linke war und ist dabei gezwungen, auf die Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse und deren Organisationen zu reagieren. Das betrifft insbesondere auch die politische Neuformierung der Klasse. Auch wenn sie zahlenmäßig und politisch schwach sein mögen, so hat auch die Intervention (oder das Unterlassen ebendieser) von linken, antikapitalistischen Strömungen und Gruppierungen einen wichtigen Einfluss auf die Neuformierung der Klasse in den letzten Jahren gehabt. Allerdings hat diese Intervention keineswegs zur Realisierung des Potentials für eine revolutionäre Neuformierung der Klasse auf allen Ebenen geführt, sondern leider oft genug zum Gegenteil. Es macht daher Sinn, sich wichtiger Lehren der revolutionären Arbeiter:innenbewegung zu besinnen, wie aus dem Zustand der Schwäche, ja, Marginalisierung eine Stärke der revolutionären Kräfte möglich ist, ohne in Sektierertum oder Opportunismus abzugleiten.

4. Historische Lehren

Schließlich stellt sich für alle Strömungen der „extremen Linken“ die Frage, wie sie mit ihren geringen Kräften in einen Prozess der historischen Neuformierung der Klasse, der grundlegenden Erschütterung ihrer bestehenden Organisationen, der raschen Bildung „neuer“ politischer Kräfte und ihres oft ebenso raschen Niedergangs intervenieren sollten.

Wir müssen unsere Taktik dabei nicht mit Blick auf die mehr oder weniger radikale Linke, sondern vor allem in Hinblick darauf bestimmen, wie wir die reale Avantgarde in ihrer gewerkschaftlichen, sozialen und vor allem politischen Neuformierung beeinflussen, an ihrer Seite arbeiten und sie für ein revolutionäres Programm und den Aufbau einer revolutionären Partei gewinnen können.

Wir tun dies als sehr kleine Propagandagesellschaft. Anders als revolutionäre Parteien, die wenigstens einige tausend, wenn nicht zehntausende Kader zählen und signifikante Teile der Arbeiter:innenklasse anführen können, müssen kleine revolutionäre Gruppierungen v. a. auch versuchen, Wege und Taktiken zu entwickeln, wie sie überhaupt in größere Veränderungen der Klasse eingreifen können.

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Trotzkismus von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg für unsere heutige Situation von enormer Bedeutung. Bis zur Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse gegen den Faschismus hatten die Trotzkist:innen als „externe Fraktion“  für eine Reform der Kommunistischen Internationale gekämpft. Die Losung einer neuen Internationale wurde bis dahin von den Gruppierungen der „Internationalen Linksopposition“, also den „Trotzkist:innen“, vehement abgelehnt, da es ihrer Meinung nach v. a. darum ging, den Kampf um eine politische Kursänderung der Kommunistischen Internationale zu führen, die sich noch auf Millionen revolutionäre Arbeiter:innen stützen konnte. Die Avantgarde der Klasse war damals im Großen und Ganzen in diesen Parteien zu finden.

Die Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse offenbarte aber auch das komplette Scheitern der Komintern-Strategie und der ultralinken Politik der „Dritten Periode“. Die KPD hatte ganz in diesem Sinne jahrelang die Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie abgelehnt und so den reformistischen Führer:innen die Ablehnung der Einheitsfront mit den Kommnist:innen erleichtert und somit die Einheit der Klasse gegen die Faschist:innen und die Gewinnung der sozialdemokratischen Arbeiter:innen massiv erschwert. All das führte dazu, dass die Arbeiter:innenklasse den Faschismus nicht stoppen konnte und für den offenen Verrat der Sozialdemokratie und die fatale, ultralinke Politik der KPD (garniert mit reichlich Nationalismus) mit der schwersten Niederlage des 20. Jahrhunderts zahlen musste.

Die Komintern und die KPD wurden zu diesem Zeitpunkt von Trotzki und der Linken Opposition nicht als reformistisch, sondern als zentristisch, genauer als „bürokratischer Zentrismus“, charakterisiert. Trotzdem drängte Trotzki nach der Niederlage darauf, dass die Linke Opposition nunmehr ihren Kurs auf eine „Reform“ der Komintern aufgeben müsse, weil sich die KPD wie die Komintern als unfähig erwiesen, selbst nach dieser historischen Niederlage, ihre Fehler zu analysieren. Im Gegenteil, die KPD und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale bestätigten nach der Machtergreifung Hitlers, dass der Kurs grundsätzlich richtig gewesen wäre, ja man ging noch davon aus, dass Hitler rasch „abwirtschaften“ würde und dann die KPD die Macht ergreifen könne. Gegen diesen Kurs regte sich in der Komintern nicht nur an der Spitze, sondern auch in den Sektionen kein offener Widerstand – auch wenn sich Arbeiter:innen mehr oder weniger demoralisiert von ihr abwandten.

Daraus zog Trotzki den Schluss (zuerst hinsichtlich der KPD, dann gegenüber der gesamten Komintern), dass eine „Reform“ der stalinistischen Parteien für die Zukunft auszuschließen  und daher auch eine Neuausrichtung der Linken Opposition notwendig geworden sei, die sich fortan „Internationale Kommunistische Liga“ nannte. Das Ziel war nunmehr der Aufbau einer neuen revolutionären Internationale. Die Entwicklung einer recht kleinen Propagandagruppe hin zu einer Kaderpartei kann freilich nicht ohne entschlossene taktische Manöver im Parteiaufbau bewerkstelligt werden – Manöver, die auch in den 1930er Jahren zu vielen sektiererischen Einwänden wie zu opportunistischen Fehlern führten. Hinzu kommt, dass die Fragmente der Vierten Internationale diese Taktiken nach dem Zweiten Weltkrieg pervertierten und ihres revolutionären Gehalts beraubten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Entrismustaktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich einen opportunistischen Charakter erhielt.

Wir haben uns an anderer Stelle ausführlich mit den verschiedenen Taktiken auseinandergesetzt. Für uns geht es hier darum, die grundlegenden Methoden, die Trotzki in den 1930er Jahren angewandt und entwickelt hat, zu skizzieren, da wir sie für unsere heutigen Aufgaben für besonders interessant halten. Wir können dabei drei zentrale politische Taktiken/Methoden unterscheiden, die wir im Folgenden darstellen wollen: a) Die „Blocktaktik”, b) Entrismus und c) die ArbeiterInnenparteitaktik.

Die Blocktaktik

Vor allem nach der Niederlage gegen den Faschismus orientierte sich Trotzki auf die Einheit mit nach links gehenden zentristischen Organisationen, die sich von Sozialdemokratie oder Stalinismus abgespalten hatten. Entscheidend für Trotzki war dabei, diese Organisationen für einen klaren organisatorisch-politischen Bruch mit den bestehenden Zweiten und Dritten Internationalen zu gewinnen und für einen Aufbau einer gemeinsamen neuen Internationale.

Das brachte ihn einerseits in scharfen politischen Gegensatz zur Mehrheit der „Zwischengruppen“ zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie, die sich einerseits formierten (Pariser Konferenz 1933, Gründung des „Londoner Büros“), andererseits das Hintertürchen zu einer zukünftigen Einheit mit den Reformist:innen oder Stalinist:innen offen halten wollten.

So unterzeichneten schließlich vier Organisationen im August 1933 die „Erklärung der Vier“. Diese beinhaltet auf einigen Seiten eine gemeinsame Einschätzung des Scheiterns von Stalinismus und Sozialdemokratie, die grundsätzliche Notwendigkeit, deren politische Abweichungen zu bekämpfen und eine eigene revolutionäre Alternative auf Grundlage der Anwendung der politischen Grundsätze und Prinzipien von Marx und Lenin aufzubauen.

Die beteiligten Organisationen waren die IKL sowie drei zentristische Gruppierungen: die SAP aus Deutschland, RSP und OSP aus den Niederlanden. Sie einigten sich außerdem auf die Einsetzung einer Kommission: „a) mi der Ausarbeitung eines programmatischen Manifests als der Geburtsurkunde der neuen Internationale; b) mit der Vorbereitung einer kritischen Übersicht über die gegenwärtigen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung (Kommentar zum Manifest); c) mit der Ausarbeitung von Thesen zu allen Grundfragen der revolutionären Strategie und Taktik des Proletariats; …“[xvii]

Auch wenn der Block letztlich auseinanderbrach, weil sich die SAP rasch wieder nach rechts hin zum „Londoner Büro“ entwickelte, so brachte er sehr wohl einige Erfolge. OSP und RSP fusionierten rasch und bildeten eine gemeinsame Organisation und spätere Sektion der IKL in den Niederlanden.

Vor allem aber bestimmten die IKL und der Trotzkismus ihre grundlegende Herangehensweise an den Zentrismus, an „Vereinigungsprojekte“. Programmatische Einheit war dabei von entscheidender Bedeutung, insbesondere die Konkretisierung der Programmatik, auf die jeweiligen aktuellen Ereignisse bezogen. Trotzki weist darauf hin, dass es überhaupt keinen Wert habe, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ anzuerkennen, wenn es kein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit der Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die faschistische Gefahr gebe. Das trifft auch auf entscheidende Taktiken zu. So reicht es offenkundig nicht aus, dass die Einheitsfronttaktik „allgemein“ anerkannt wird, wenn zugleich nicht konkretisiert wird, an wen sie sich zu richten hat, ob an die Basis und Führung der Massenorganisationen oder, ob sie praktisch nur eine Spielart der Einheitsfront von unten darstellt.

Hinsichtlich der konkreten Hinwendung zu einer bestimmten Gruppierung ist nicht die formelle Ähnlichkeit des Programms entscheidend, sondern die Bewegungsrichtung der vorgeblich revolutionären Organisation. Trotzki verdeutlicht das mit dem Verweis darauf, dass sich der stalinistische Zentrismus der „Dritten Periode“ aus dem Bolschewismus entwickelte und zu einer dogmatischen, ultralinken Doktrin (einschließlich etlicher rechter Schwankungen) degenerierte. Das bedeutete auch, dass die „offizielle“ Kommunistische Internationale als dem Marxismus näherstehend erscheinen konnte, da sie sich selbst militanter oder kämpferischer inszenierte und für einen ganz und gar nicht bolschewistischen Inhalt noch immer die Terminologie des Bolschewismus verwandte. Die aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Strömungen erschienen demgegenüber oft weicher, tendierten zur Fetischisierung der „Einheit“ und waren auch stärker durch deren Mentalität geprägt. Entscheidend war daher für Trotzki die Bewegungsrichtung – nicht die formelle Nähe.

Das bedeutete auch, dass Blöcke die Möglichkeiten zu größerer revolutionärer Einheit boten und nur für begrenzte Zeit notwendig waren. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die zentristische Organisationen und ihre Führer:innen nach links stießen, sind in einer Krisenperiode oft nur von kurzer Dauer. Eine neue Wendung der Ereignisse kann leicht zu einem Kurswechsel der Zentrist:innen führen. So waren der Zulauf des Faschismus in Frankreich und die Niederlage des österreichischen Proletariats 1934 Faktoren, die zu einer Linksentwicklung der Sozialdemokratie insgesamt führten, bis hin zu „zentristischen Anwandlungen“ ganzer Parteien. Viele linke Zentrist:innen der 1930er Jahre verleitete das jedoch zu einem Rechtsschwenk, gewissermaßen, um den nach links gehenden Sozialdemokrat:innen auf halbem Wege entgegenzukommen.

Falsch war daran nicht, sich auf die politischen Erschütterungen dieser Parteien zu orientieren, wohl aber, sich an sie programmatisch anzupassen.

Bei der taktischen Zusammenarbeit und der Bildung von Blöcken mit ihrem Wesen nach zwischen Reform und Revolution schwankenden Organisationen und deren Führer:innen muss deren Schwanken also in Rechnung gestellt werden. Das heißt, es darf keine politischen Zugeständnisse geben und ist notwendig, die unvermeidlichen Zickzacks der Partner:innen zu kritisieren. Zugleich ist es aber auch notwendig, sich auf organisatorischer Ebene überaus flexibel zu verhalten. In „Der Zentrismus und die Vierte Internationale“ fasst Trotzki die Lehren aus dem Block der Vier zusammen:

„Wir können unsere Erfolge in relativ kurzer Frist ausbauen und vertiefen, wenn wir:

a) den historischen Prozess ernstnehmen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen, was ist;

b) uns theoretisch Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Situation, die in der gegenwärtigen Epoche nicht selten den Charakter von schroffen Wendungen annehmen;

c) aufmerksam auf die Stimmung der Massen achten, ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbsttäuschung, um, aufgrund einer richtigen Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb des Proletariats, weder dem Opportunismus noch dem Abenteurertum zu verfallen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurückzuwerfen;

d) uns jeden Tag und jede Stunde fragen, welches der nächste praktische Schritt sein soll; wenn wir diesen sorgfältig planen und den Arbeitern auf der Grundlage lebendiger Erfahrung den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Bolschewismus und all den anderen Parteien und Strömungen klar machen;

e) die taktischen Aufgaben der Einheitsfront nicht mit der grundlegenden historischen Aufgabe – der Schaffung neuer Parteien und einer neuen Internationale – verwechseln;

f) für das praktische Handeln auch den schwächsten Bündnispartner nicht geringschätzen;

g) die am weitesten ‚links‘ stehenden Bündnispartner als mögliche Gegner kritisch beobachten;

h) jenen Gruppierungen größte Aufmerksamkeit widmen, die tatsächlich zu uns tendieren; mit Geduld und Feingefühl auf ihre Kritik, ihre Zweifel und Schwankungen reagieren; ihre Entwicklung in Richtung auf den Marxismus unterstützen; keine Angst vor ihren Launen, Drohungen und Ultimaten haben (Zentristen sind immer launisch und mimosenhaft); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen;

i) und, noch einmal sei es gesagt, nicht scheuen auszusprechen, was ist.“[xviii]

Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorischer Anschluss

Die Frage revolutionärer Taktik, der Schwerpunkte für den Aufbau, ist notwendigerweise immer mit einer Einschätzung verbunden, wo sich zu einem bestimmten konkreten Zeitpunkt die wichtigsten politischen Veränderungen in der Avantgarde der Klasse bemerkbar machen.

Unter bestimmten Umständen kann sich eine solche Krise sowohl innerhalb bestehender politischer Parteien der Klasse ausdrücken als auch in Neuformierungen. Die Voraussetzung dafür ist in der Regel eine politische Erschütterung (Krise, Entwicklung der Reaktion, historischer Angriff, Revolten, …), die den tradierten Führungen und Organisationen nicht mehr erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Oft sind Niederlagen oder drohende Niederlagen Katalysatoren für solche Entwicklungen. So waren sicher der Sieg des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Österreich 1934 neben der innenpolitischen Lage in Frankreich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für den Entrismus in die dortige Sozialdemokratie, die SFIO, entstanden, das „klassische Modell“ für diese Taktik.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass der Entrismus, also der Eintritt einer gesamten Organisation in eine bestehende Partei, keine „Neuerfindung“ des Trotzkismus ist.

Schon Marx und Engels hatten erkannt, dass Kommunist:innen unter Umständen auch in nicht-revolutionären oder sogar in nicht-proletarischen Parteien arbeiten können, um so überhaupt erst die Grundlagen zur organisatorischen Formierung des Kommunismus, zur Gewinnung erster Mitstreiter:innen zu legen.

In etlichen asiatischen Ländern entstanden die Kommunistischen Parteien aus ideologischen und organisatorischen Absetz- und Abspaltungsbewegungen aus bürgerlich-nationalistischen Parteien (China) oder gar aus islamistischen Parteien (Indonesien).

Lenin hatte der britischen KP in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ nachdrücklich die Unterstützung von Labourkandidat:innen bei Wahlen empfohlen. Im Jahr 1920 und auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale spricht er sich darüber hinaus ausdrücklich für den organisatorischen Anschluss an die Labour Party aus. Labour hatte damals noch einen relativ föderalen Charakter, der auch den Beitritt von Organisationen ermöglichte (nicht ganz unähnlich wie Syriza bis 2013).

Er trat dafür ein, dass sich die KP als Organisation anschließen solle, also nicht „nur“ die Mitglieder individuell beitreten sollten. So sollte die kleine Kommunistische Partei nicht nur näher an die damals wachsende Labour Party und deren Arbeiter:innenbasis herankommen, es sollte so auch vor den Augen der Massen der Anspruch der Labour Party einem Test unterzogen werden, die gesamte Arbeiter:innenklasse zu repräsentieren: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter:innenklasse bewahrt.”[xix]

Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunist:innen eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“[xx]

Diese Zitate zeigen die Ähnlichkeit in der methodischen Herangehensweise zur Entrismustaktik, wie sie von Trotzki in den 1930er Jahren entwickelt und in etlichen Ländern zu verschiedenen Perioden angewandt wurde.

Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der französischen Bolschewiki-Leninist:innen (wie die Trotzkist:innen sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Aber er erkannte, dass die fortgeschrittensten Arbeiter:innen angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nicht nur die Einheitsfront mit der KPF forderten, sondern die SFIO nach dem Bruch mit ihrem rechten Flügel und unter dem Druck der Ereignisse auch zum Attraktionspol für die Klasse und deren Avantgarde wurde. Hinzu kam, dass sich auch die KPF nicht mehr länger der Einheitsfront entziehen konnte, einen Schwenk weg von der „Dritten Periode“ machte (allerdings auch den Übergang zur Volksfront vorbereitete). Trotzki machte nicht nur auf die Möglichkeiten dieser Lage aufmerksam, er erkannte auch die Gefahr für die französische Sektion, nämlich praktisch von der Bildung einer Einheitsfront gegen die Rechte und den politischen Debatten in der Klasse ausgeschlossen zu werden.

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“[xxi]

Die Taktik brachte etliche Probleme mit sich. Ein Teil der Sektion verweigerte zu Beginn den Eintritt, um dann, als er mehr und mehr in die Selbstisolation geriet, nachzufolgen. Das änderte nichts an den großen Gewinnen, die die Bolschewiki-Leninist:innen erzielten, v. a. unter der Jugend. Aber der Erfolg führte auch dazu, dass ein Teil der Sektion die Prinzipien über Bord warf und den Entrismus als langfristige Taktik aufzufassen begann, die Kritik an der Parteiführung und v. a. an der versöhnlerischen Haltung der Zentrist:innen in der SFIO abschwächte. Es kam daher um die Frage des Austritts zur Spaltung der Sektion und einer längeren Krise. All das führte Trotzki dazu, die „Lehren des Entrismus“ folgendermaßen zusammenzufassen:

„1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben Gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) (…) fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“[xxii]

Die Entrismustaktik war keineswegs nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde in etlichen Ländern ausgeführt: In Britannien in die „Independent Labour Party“ (1933 – 1936) und später in die Labour Party, in die Socialist Party in den USA (1936/37) unter sehr schwierigen Bedingungen des Fraktionsverbotes, in die belgische Arbeiter:innenpartei oder in die POUM in Spanien.

Neben dem Eintritt in zentristische oder reformistische Parteien sprach sich Trotzki außerdem auch für die Fraktionsarbeit in den linken Flügeln von bürgerlichen Parteien aus. So forderte er in „India faced with imperialist war“ die Arbeit in der Congress Socialist Party, dem linken Flügel der Kongresspartei, der damals von Jawaharlal Nehru und Chandra Bose geführt wurde.

„Anders als selbstgefällige Sektierer müssen die revolutionären Marxisten aktiv an der Arbeit der Gewerkschaften, der Bildungsvereinigungen, der Congress Socialist Party und grundsätzlich in allen Massenorganisationen teilnehmen.“[xxiii]

Propagandagesellschaft und Avantgarde

Trotzki schlägt hier die Arbeit in einer Fraktion einer bürgerlich-nationalistischen Partei vor. Auf den ersten Blick scheint das – so argumentierten Sektierer:innen damals wie heute – „prinzipienlos“. Revolutionär:innen würden, so argumentierten z. B. viele gegen den Entrismus in die SFIO, ihre organisatorische Unabhängigkeit aufgeben. Trotzki antwortete damals folgendermaßen:

„Für formalistische Köpfe schien es in absolutem Widerspruch zu stehen. für eine neue Internationale und neue nationale revolutionäre Parteien aufzurufen und in Verletzung des Prinzips, dass eine revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit aufrecht erhalten müsse; manche betrachteten es als einen Verrat an den Prinzipien, andere argumentierten taktisch dagegen. […] Unabhängigkeit war ein Prinzip für revolutionäre Parteien, aber dieses Prinzip konnte nicht für kleine Gruppen gelten. […] Es bedurfte taktischer Flexibilität, um Gebrauch von den hervorragenden Bedingungen zu machen und aus der Isolation herauszubrechen.“[xxiv]

Vor ähnlichen Bedingungen stehen wir auch heute und werden wir in der kommenden Periode immer wieder stehen. Die Notwendigkeit von Taktiken wie Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorische Angliederung folgt im Grunde immer daraus, dass die kommunistische Organisation noch keine Partei ist, sie nur als ideologische Strömung oder als kämpfende Propagandagruppe existiert. Einer solchen Gruppierung ist es unmöglich, sich direkt an die Masse des Proletariats zu wenden, ja die meisten von ihnen, die nur Hunderte Mitglieder zählen, können auch nur kleine Teile der Avantgarde der Klasse erreichen.

Die Avantgarde der Klasse ist dabei, solange es keine Kommunistische Partei gibt, selbst nur bedingt Avantgarde, sprich, sie ist nicht zu einer Partei formiert, die die politisch bewusstesten Teile der Klasse auf Basis eines wissenschaftlichen, kommunistischen Programms organisiert. Es gibt keine kommunistische Avantgarde im Sinne des Marxismus, wie sie im Kommunistischen Manifest bestimmt ist, also jene proletarische Partei, die sich durch ihr Bewusstsein der allgemeinen Interessen, Aufgaben, Ziele und des Werdegangs der proletarischen Bewegung auszeichnet, die als Strategin der Klasse handeln und diese führen kann.

In diesem Sinn gibt es heute auf der ganzen Welt keine oder nur eine auf kleine Gruppen reduzierte proletarische Avantgarde. Aber im weiteren Sinne gibt es natürlich eine Avantgarde der Klasse, so wie sich in jedem Kampf, in jeder Auseinandersetzung fortgeschrittenere und rückständigere Teile formieren.

Über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Avantgarde der Klasse in Teilen der Gewerkschaften, oft in starken Industriegewerkschaften wie den Autoarbeiter:innen in Deutschland oder bis in die 1980er Jahre die Bergarbeiter in Britannien, formiert. Diese „ökonomische Avantgarde“ hat sich in den letzten Jahren natürlich auch verändert. So führten z. B. die Kämpfe der Krankenhausbewegung in den letzten Jahren auch zur Bildung neuer Avantgardeelemente.

Entscheidend für uns ist dabei, dass die bloße Führung und größere Militanz in einzelnen Kämpfen diese noch nicht zur Avantgarde für eine ganze Klasse macht. Ein solches Verhältnis wird über längere politische Entwicklungen etabliert und wirkt dann nicht nur im Sinne einer kämpferischen Vorhut, sondern kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen. So kann z. B. die geringe Aktivität der etablierten Avantgarde den Effekt haben, dass auch die anderen Sektoren der Klasse für eine ganze Periode relativ wenige Kämpfe führen. Eine solche negative Rolle spielte z. B. die IG Metall mit dem „Bündnis für Arbeit“ und v. a. seit dem Ausverkauf des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten.

Die „wirtschaftliche“ Avantgarde ist oft eng verbunden mit einer bestimmten politischen Strömung in der Klasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Rollen sozialdemokratische und stalinistische Parteien für sich monopolisiert. In manchen Ländern gab es nicht einmal solche reformistischen Parteien. Hier bildete sich über die ökonomische Sphäre hinaus gar keine Avantgarde. Allenfalls fand sich diese in Strömungen des kämpferischen Syndikalismus oder in kleinen reformistischen (einschließlich solcher, die auch in populistischen Parteien anzutreffen sein können).

Die Krise des Reformismus hat dazu geführt, dass die Bindung der kämpferischeren Schichten an die Gewerkschaften schwächer wurde, dass es oft v. a. die politische Tradition und der Apparat sind, die diese Bindung noch herstellen und reproduzieren. Ganz offenkundig hat diese Entwicklung auch die Form angenommen, dass linksreformistische Parteien Teile der Avantgarde der Klasse organisieren oder anziehen. In Ländern wie Griechenland repräsentiert Syriza einen wichtigen Teil deren (neben der KKE).

Diese Entwicklung macht Trotzkis Bemerkungen zum Verhältnis von Klassenbewegung, Parteikeim und „Unabhängigkeit“ heute brandaktuell. Revolutionär:innen, die diesen Veränderungen in der Klasse keine Aufmerksamkeit schenken und die Notwendigkeit einer Intervention negieren oder kleinreden, sind keine. Sie sind letztlich eine Mischung aus Sektierer:innen und Ökonomist:innen.

Arbeiter:innenparteitaktik

Das trifft auch auf die Frage der Arbeiter:innenparteitaktik zu. Ursprünglich wurde diese von Trotzki für die USA mit einigem Zögern entwickelt, da er eine opportunistische Anwendung dieser fürchtete. Trotzki befürchtete, dass diese als Forderung nach einer reformistischen, nicht-revolutionären Partei interpretiert werden könne oder gar nach einer klassenübergreifenden Partei wie der politisch falschen Losung der „Arbeiter:innen- und Bäuerinnenpartei“.

Die Entwicklung in den 1930er Jahren zeigt andererseits nicht nur verschiedene Initiativen zur Schaffung einer Arbeiter:innenpartei in den USA im Gefolge des Wachsens der Arbeiter:innenbewegung. Die Losung hat auch einen enormen Wert, um die Klasse und die Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei (sei sie nun demokratisch, liberal, populistisch oder nationalistisch) zu lösen.

1938 kam er schließlich zu den entscheidenden, methodischen Schlussfolgerungen:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z. B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiter:innenklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiter:innenklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.”[xxv]

In der gegenwärtigen Periode besitzt die Losung der Arbeiter:innenpartei in einer Reihe von Ländern auch eine enorme Bedeutung. Wo sie angemessen ist, sollten Revolutionär:innen diese aktiv propagieren und von Beginn an dafür kämpfen, dass diese Partei eine revolutionäre wird, und ein Aktionsprogramm als deren Basis vorschlagen. Sie dürfen das aber keinesfalls zur Bedingung ihrer Teilnahme am Kampf für eine solche Partei machen. Dies wäre ein sektiererischer Fehler, der im Grunde die ganze Taktik, also eine Form der Einheitsfront gegenüber anderen, nicht-revolutionären Teilen der Klasse, v. a. gegenüber den Gewerkschaften, zunichtemachen würde.

Schlussfolgerungen

Dieser kurze Überblick über Taktiken der kommunistischen Bewegung zeigt, wie fruchtbringend sie heute auch für die Intervention in die Neuformierung der Arbeiter:innenklasse sind.

Natürlich erschöpft sich die Frage der Neuformierung nicht in der der politischen Organisation, in Taktiken zum Parteiaufbau. Aber zweifellos muss jede kommunistische Organisation, jede Organisation, die eine neue antikapitalistische Kraft in der Klasse werden will, darauf grundlegende Antworten und Vorschläge liefern.

In den Gewerkschaften und auf betrieblicher Ebene steht heute unbedingt der Kampf gegen jede Einschränkung der Organisationsfreiheit und des Streikrechts, für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften, strukturiert nach Branchen und Wertschöpfungsketten, im Zentrum.

Für eine solche Politik braucht es nicht nur die organisierte revolutionäre Tätigkeit (revolutionärer Gewerkschaftsfraktionen und Betriebsgruppen), sondern auch die Sammlung aller antibürokratischen, klassenkämpferischen Kräfte, die Schaffung einer Basisbewegung, die für eine klassenkämpferische Führung kämpft.

Auf der Ebene des Abwehrkampfes treten wir für die Bildung von Aktionskomitees in Betrieben, an Schulen, Unis, in den Stadtteilen und Kommunen ein, die nach den Grundsätzen der Arbeiter:innendemokratie organisiert sein sollen. Sie sollen auf Massenversammlungen von ihrer Basis gewählt, dieser gegenüber rechenschaftspflichtig und von ihr abwählbar sein.

Der Klassenkampf erfordert heute intensive internationale Zusammenarbeit, d. h., es geht darum, dass wir auch internationale Koordinierungen schaffen, die real Aktionen verabreden und gemeinsam durchführen, sei es gegen imperialistische Interventionen, gegen soziale Angriffe oder rassistische Abschottung.

So wie wir in den Gewerkschaften und Betrieben die existierenden Organisationsformen umkrempeln müssen, so wirft die Krise neben der Frage von Einheitsfronten gegen Rassismus, Faschismus und Angriffe auf demokratische Rechte auch die nach Massenbewegungen der gesellschaftlich Unterdrückten auf. Das betrifft v. a. den Kampf für eine revolutionäre Jugend- und eine proletarische Frauenbewegung.

All diese Kampfbereiche, alle politischen und organisatorischen Antworten zur Reorganisation und Revolutionierung der Arbeiter:innenklasse bilden einen unverzichtbaren Bestandteil kommunistischer Aktivität.

Aber es gibt einen Grund, warum wir die Frage der politischen Neuformierung der Klasse ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Das größte Problem der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer genuin kommunistischen Partei und erst recht einer solchen Internationale – und das in einer Periode, die objektiv die Alternative „Sozialismus oder imperialistische Barbarei“ aufwirft.

Natürlich gibt es auch ohne revolutionäre Partei revolutionäre Krisen, Situationen, ja auch Revolutionen – aber keine siegreichen. Ohne revolutionäre Führung bleiben sie auf halbem Wege stecken und enden, wie die Arabische Revolution gerade zeigte, früher oder später unvermeidlich mit dem Sieg der Konterrevolution.

Natürlich werden in den aktuellen Kämpfen und erst recht in vorrevolutionären oder revolutionären Krisen neue Schichten aktiviert und politisiert. Das trifft sicher auch auf die Arabischen Revolutionen, auf den kurdischen Kampf, auf den Iran, auf China oder Lateinamerika zu. Aber allein aus diesen Kämpfen entwickelt sich keinesfalls spontan eine politische Alternative oder gar eine bewusste revolutionäre Kraft.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung um die Lösung der Führungskrise der Klasse bilden die politischen Neuformierungsprozesse. Aus den ökonomischen und sozialen Kämpfen, aus Bewegungen können nur Impulse zur Suche nach einer politischen Alternative entstehen, kann die Notwendigkeit einer solchen bewusst werden, und zwar nicht als direkte „Verlängerung“ dieser Kämpfe, sondern aufgrund der Schranken, auf die sie in ihrer eigenen Entwicklung gestoßen werden.

Bei all ihren Mängeln, bei aller notwendigen Kritik an den (neo)reformistischen, kleinbürgerlichen oder zentristischen Fehlern findet dort die Auseinandersetzung um die politische Neuformierung der Klasse statt. Hier werden die Kämpfe um die zukünftige politische Ausrichtung, Strategie und Taktik, um die Programmatik der Klasse ausgefochten. Die Reformist:innen versuchen natürlich, dem Ganzen einen bürgerlichen Charakter zu verleihen bzw. die bestehende politische Dominanz bürgerlicher Ideen und Programme, wenn auch vielleicht in neuer Form, zu verteidigen.

Ob es sich nun um eine „Neuformierung“ der antikapitalistischen Linken, einen Kampf in  einer nach links gehenden reformistischen Partei oder den Bruch mit einer bestehenden handelt – auf jeden Fall bilden diese Formationen den Rahmen für einen politischen und ideologischen Klassenkampf, dessen Ausgang entscheidend für die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiter:innenklasse werden wird.

So wie sich von Land zu Land die Form dieser Entwicklung unterschiedlich gestaltet, so werden unterschiedliche Taktiken oder auch eine Kombination dieser notwendig sein, um möglichst effektiv in diese Auseinandersetzung eingreifen zu können. Mögen die Taktiken auch unterschieden sein – das aktive, offensive Eingreifen ist eine strategische Notwendigkeit zur Überwindung der Führungskrise des Proletariats.

Die Fetischisierung einzelner Formen oder gar das Fernbleiben vom politischen Kampf in Massenparteien oder „Umgruppierungsprojekten“ mit der Begründung, dass diese ja reformistisch wären, hat nichts mit dem „Kampf gegen den Reformismus und Zentrismus“ zu tun, sondern bedeutet nur, ihnen das Feld zu überlassen. Natürlich werden angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses die meisten dieser „Neuformierungen“ und auch der Projekte zur „revolutionären Einheit“ mit dem Sieg der Reformist:innen oder Zentrist:innen oder gar Populist:innen wie bei Podemos enden. Ihr Potential mag dann rasch erschöpft sein.

Doch den Kampf um eine revolutionäre Ausrichtung mit dem Argument abzulehnen, dass er wahrscheinlich ohnedies nicht gewonnen werde, ist der „Realismus“ von Passivität und vorweggenommener Kapitulation.

Als Liga für die Fünfte Internationale haben wir uns dazu entschieden, dass unsere Sektionen aktiv an den Umgruppierungen der Klasse teilnehmen, weil, unabhängig vom konkreten Ausgang dieses oder jenes Projekts, sich in diesen politischen und ideologischen Kämpfen die Kader einer zukünftigen kommunistischen Bewegung bewähren, lernen können und müssen, ihre Politik und ihr Programm auf der Höhe der Zeit zu vertreten.


Endnoten

[i] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, MEW 23, Berlin/DDR 1971, S. 640

[ii] A. a. O., S. 657

[iii] OECD, World Economic Report 2014, http://dx.doi.org/10.1787/persp_glob_dev-2014-en

[iv] Vergleiche Krüger, Stephan: Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft, Hamburg 2019, S. 218/219

[v] ILO, World Work Report 2014, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/world-of-work/2014/lang—en/index.htm, S. 2

[vi] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/weso/WCMS_865387/lang—en/index.htm, S. 12

[vii] ILO, World Work Report 2014, a. a. O., S. 6

[viii] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Berlin/DDR 1959, S. 473

[ix] World Economic and Social Outlook, 2021, https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2021/10/12/world-economic-outlook-october-2021

[x] Siehe Engels, Friedrich: England 1845 und 1885, MEW 21, Berlin/DDR 1975, S. 191 – 198

[xi] Lenin, W. I.: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in LW 23, Berlin/DDR 1972, S. 113

[xii] Siehe ILO Bericht 2023, a. a. O.

[xiii] Z. B. in Arruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser, Nancy: Feminismus für die 99 % Berlin 2019. Zur Kritik siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/04/feminismus-fuer-die-99-prozent/

[xiv] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, a. a. O., S. 13

[xv]  Ebenda, S. 30

[xvi] Ebenda, S. 42

[xvii] Trotzki, Leo: Die Erklärung der Vier, in: Ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, Köln 2001, S. 460

[xviii] Ders.: Der Zentrismus und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, a. a. O., S. 530

[xix]  Lenin, V. I.: Collected Works, Bd. 31, S. 199

[xx] Ebenda

[xxi] Trotsky, Leon: Writings, Supplement 1934-40, New York 2004,  S. 565/566

[xxii] Ders.: The Crisis of the French Section, (Die Krise der französischen Sektion), New York 1996, S. 125/126

[xxiii] Ders.: Writings 1939-40, New York 1973, S. 36

[xxiv] Ders: „The Crisis of the French Section“ (Die Krise der französischen Sektion), a. a. O., S. 20 (Vorwort)

[xxv] Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale), Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, Berlin 2012, S. 156




Dirty Talk. Democratic Socialists of America hängen weiter an Demokratischer Partei

Andy Yorke, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Das Wachstum der Democratic Socialists of America (DSA, Demokratische Sozialist:innen Amerikas) auf fast 95.000 Mitglieder in den letzten Jahren der Massenkämpfe und politischen Mobilisierungen spiegelte sich in ihrem alle zwei Jahre stattfindenden nationalen Kongress in der ersten Augustwoche 2021 wider, als über 1.000 Menschen tatsächlich zusammenkamen, um über Entschließungen zu debattieren, die den weiteren Weg betreffen. Dabei zeigte sich auch eine Polarisierung innerhalb der Organisation und ein deutlicher Rechtsruck der Führung.

Während der Parteitag ein radikal-reformistisches Programm verabschiedete, wurde die Konzentration auf die Kandidatur als oder Unterstützung linke/r Kandidat:innen als Teil der Demokratischen Partei, die genauso wie die Republikanische eine Partei des Großkapitals ist, bekräftigt. Diese Ausrichtung entspricht jedoch immer weniger den Bedürfnissen der radikalen Kämpfe und Bewegungen, die in den krisengeschüttelten USA entstanden sind.

Der linke Flügel der DSA, der diese Taktik des so genannten „schmutzigen Bruchs“ ablehnt, muss die Einheitsfront nutzen, um seine eigene Uneinigkeit zu überwinden und eine koordinierte Kampagne gegen die Kandidatur oder Unterstützung demokratischer Kandidat:innen bei Wahlen zu starten und stattdessen die DSA für die Schaffung einer neuen Arbeiter:innenpartei zu gewinnen.

Ein polarisiertes Amerika

Der Zeitpunkt des Kongresses hätte nicht besser gewählt werden können, um die bisherige Arbeit der DSA und ihre zukünftigen Pläne zu untersuchen, angesichts der bedeutsamen Entwicklungen seit dem letzten Kongress. Die amerikanische Linke steht vor stürmischen Jahren unter einer wackeligen Präsidentschaft Bidens und mit einer bösartigen rechtsgerichteten Republikanischen Partei, die von ihren Hochburgen innerhalb des us-amerikanischen Gemeinwesens, der Polizei, der Justiz und dem Kongress, Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse, Frauen und Farbige startet. Der lange Niedergang der USA als imperialistische Supermacht ist durch den demütigenden Rückzug aus Afghanistan deutlich geworden. Wirtschaftlich stehen sie seit 2008 im Zentrum der historischen Depression des Kapitalismus. Politische und ökonomische Entwicklungen haben die Klassengegensätze im In- und Ausland verschärft und zu einer historischen Polarisierung geführt.

Selbst unter der relativ populären Präsidentschaft Obamas, die diesen Niedergang bis zu einem gewissen Grad kaschierte, zeigten Umfragen, dass eine Mehrheit der jungen Amerikaner:innen Bänker:innen, den  amerikanischen Großunternehmen und dem Kapitalismus feindlich gegenübersteht. [1] Dies führte dazu, dass der „unabhängige Sozialist“ Senator Bernie Sanders zum ersten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei gewählt wurde, und zwar 2015/16, als er bei den Vorwahlen dreizehn Millionen Stimmen für die Nominierung erhielt, und dann weit weniger erfolgreich 2019 – 20. Beide Male blockierte ihn das mächtige Democratic National Committee (Nationales Komitee der Demokratischen Partei). Diese Klassenwidersprüche wurden mit dem Wahlsieg von Trump 2016 zur Weißglut getrieben, als sich eine offen faschistische Bewegung mit der triumphierenden populistischen Rechten der Republikanischen Partei vermischte.

Im Jahr 2018 stürzte DSA-Mitglied Alexandria Ocasio-Cortez, (AOC), einen der mächtigsten Amtsinhaber der Demokratischen Partei und wurde die erste Sozialistin, die in den Kongress einzog (als Mitglied der Demokratischen Partei), was landesweit für Aufsehen sorgte. In ihrem Windschatten kandidierte eine Reihe von DSA-Kandidat:innen für den Kongress, fast alle unter dem Firmenschild der Demokratischen Partei. Darüber hinaus gibt es viele weitere von der DSA unterstützte „fortschrittliche“ Demokrat:innen, die (wenn überhaupt) noch weniger von sich behaupten, Sozialist:innen zu sein, so dass inzwischen 150 DSA-Mitglieder oder von ihnen befürwortete Politiker:innen in Stadträten, Landesparlamenten und anderen staatlichen Gremien vertreten sind. Mit der Wahl des DSA-Mitglieds Cori Bush in den Kongress im vergangenen Jahr sitzen nun fünf DSA-Mitglieder im Repräsentantenhaus.

In der Zwischenzeit vertiefte sich die epochale Krise des Kapitalismus, als die Feuer der Klimakatastrophe von Australien bis nach Amerika loderten, und dann, bevor eine vielfach vorhergesagte Rezession im Stil von 2008 eintreten konnte, erfasste eine Pandemie das System. Historische Massenkämpfe erschütterten die letzten Jahre von Trumps Amtszeit, von der Lehrer:innenrevolte 2018, die sich über mehrere republikanisch dominierte Bundesstaaten ausbreitete, bis hin zur Black-Lives-Rebellion 2020 nach dem Polizeimord an George Floyd.

Seit ihrem Parteitag 2019 behauptet die DSA, für den Aufbau einer „unabhängigen Arbeiter:innenpartei“ zu stehen. Diese Großereignisse warfen selbst die Frage auf, wie sie aufgebaut werden soll: in erster Linie durch Massenbewegungen oder durch Wahlkampagnen, die sich an der Demokratischen Partei orientieren und diejenigen, die im Amt sind, wie Sanders und AOC, unter Druck setzen, links zu bleiben?

Welche Art von Partei?

Die DSA wuchs durch die beiden Nominierungskampagnen von Sanders, den Sieg von Trump und den viel beachteten Sieg von AOC von einer alternden Gruppe von 6.500 Mitgliedern zu der heutigen dynamischen Organisation mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren

und von 148 Ortsgruppen im Jahr 2019 auf 240 (und 130 Jugend-DSA-Ortsgruppen) heute. Mit einer landesweiten Präsenz in allen Bundesstaaten und Großstädten ist die DSA die größte sozialistische Organisation in den USA in den letzten hundert Jahren und hegemonial in der Linken. [2] Allein in den acht Wochen nach Beginn der Covid-Krise im März 2020 traten zehntausende Mitglieder bei, als sie sich der Organisation gegenseitiger Hilfe in der Gemeinde zuwandte. [3] Die dazugehörige Webseite und die Zeitschrift Jacobin haben die sozialistische Tradition in den Vereinigten Staaten wiederbelebt, sie buchstäblich wieder auf die Landkarte gebracht und das Interesse an den Ideen von Marx verbreitet.

Doch trotz aller Diskussionen über marxistische Persönlichkeiten, verschiedene Revolutionen und Massenstreiks in Jacobin stehen bei der DSA die Wahlen im Vordergrund. Während ihre Gewerkschaftsmitglieder und die von der Sanders-Kampagne inspirierten Aktivist:innen eine wichtige Rolle bei den Lehrkräftestreiks spielten, ist der Aufbau der Linken in den Gewerkschaften nach wie vor mit relativ wenig Ressourcen ausgestattet. Nach allem, was man hört, wurde die DSA von der Radikalität des Aufstands nach dem Tode von George von Floyd überrascht und spielte im Allgemeinen kaum eine Rolle bei der Organisation, geschweige denn bei der politischen Gestaltung der Erhebung. Die DSA-Führung, die für ihre Passivität angesichts dieser radikalen Ereignisse kritisiert wurde, rechtfertigte dies sogar mit dem Argument, dass es falsch wäre, eine Führungsrolle zu beanspruchen, und plädierte stattdessen dafür, dass ihre Abteilungen „respektvoll“ sein und versuchen sollten, Koalitionen mit bestehenden Protestführer:innen aufzubauen. Damit verzichtet sie auf den vollen Einsatz für Klassenpolitik und sozialistische Führung, fügt sich aber nahtlos in ihre Wahlstrategie ein.

Angesichts des seit Jahren ungebremsten Wachstums der DSA in alle Richtungen war es für alle ein Schock, als die nationale Direktorin Maria Svart auf dem Kongress die „ernüchternde Tatsache“ verkündete, dass „der Zuwachs an neuen Mitgliedern auf ein Rinnsal gesunken ist“ [4). Es ist eine offene Frage, ob dies eine Taktik war, um in Panik geratene Stimmen dazu zu bringen, den wahlpolitischen Status quo der DSA zu unterstützen, oder das Ergebnis von Bidens 7 Billionen US-Dollar schweren Plänen für Wohlfahrts- und Infrastrukturausgaben, die die Peripherie der DSA wieder zur Demokratischen Partei hinwenden und den Wachstumshahn für die DSA zudrehen sollten.

Die Angelegenheit des Wahlverhältnisses zur Demokratischen Partei verdeckt oft existenzielle Fragen der Partei und des Programms: Wird die DSA eine von Aktivist:innen kontrollierte Partei sein oder eine, die um gewählte Funktionär:innen herum aufgebaut ist? Sind Wahlen eine Taktik im Klassenkampf oder das zentrale Element der sozialistischen Strategie? Historisch gesehen gibt es zwei Möglichkeiten, eine Massenpartei aus der Arbeiter:innenklasse aufzubauen. Die erste konzentriert sich auf den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, Krieg, Imperialismus und Klimakatastrophe und fördert eine sozialistische Strategie zur Entwicklung von Kadern aus radikalen Aktivist:innen, die sich an Streiks und Massenprotesten beteiligen. Die zweite konzentriert sich darauf, mit einer Reformplattform politische Ämter zu gewinnen, indem sie einen soliden und zwangsläufig bürokratischen Wahlapparat auf der Grundlage von Politiker:innen und Parteifunktionär:innen aufbaut.

Auch wenn sich beide Parteien als sozialistisch bezeichnen, wie Rosa Luxemburg betonte, handelt es sich nicht nur um unterschiedliche Wege, um dasselbe Ziel zu erreichen. Für die erste Partei ist der Sozialismus eine Gesellschaft, in der die Wirtschaft von den eigenen Organisationen der Arbeiter:innen kontrolliert wird, die im Zuge des Klassenkampfes aufgebaut wurden. Für die zweite ist der Sozialismus durch eine gewählte Regierung einzuführen, die mit Hilfe der bestehenden staatlichen Institutionen arbeitet.

Die derzeitige DSA-Führung behauptet, sie könne beide Strategien mit dem, was sie „Klassenkampfwahlen“ nennt, verfolgen, aber das letzte Jahr, seit dem zweiten Scheitern von Sanders, hat immer deutlicher gezeigt, dass ihre Strukturen und ihr Ansatz immer mehr zu einem Wahlkampf nach Schema F tendieren, und der Parteitag 2021 hat dies zementiert. Darüber hinaus hat die wachsende Erfahrung mit „ihren“ Politiker:innen im Amt, die für kapitalistische Haushalte (sogar für Polizeibudgets) stimmen und sich dem Druck von Unternehmen, Entwickler:innen oder dem demokratischen Establishment beugen, gezeigt, dass die DSA keine Möglichkeit hat, ihre Kandidat:innen zur Rechenschaft zu ziehen, selbst wenn sie Mitglieder sind.

Der Grund dafür ist ganz einfach. Echte Marxist:innen haben nichts dagegen, bei Wahlen zu kandidieren und sich energisch dafür einzusetzen, so viele Stimmen wie möglich für ein sozialistisches Programm zu erhalten und so viele Wähler:innen wie möglich zu Aktivist:innen für die gesamte Bandbreite der Politik und der Kampagnen der Partei zu machen. Ihr Programm und ihre Politik werden jedoch nicht davon bestimmt, was die meisten Stimmen bringt, und sie glauben nicht, dass die Macht (im Gegensatz zu einem Amt) durch Wahlen errungen werden kann. Die Reformist:innen hingegen richten ihr Programm danach aus, was ihrer Meinung nach Wahlen gewinnen kann.

In Europa und einigen anderen Teilen der Welt gründete die Arbeiter:innenbewegung unabhängige Parteien. In den USA begnügten sich die Reformsozialist:innen nach mehreren gescheiterten Versuchen mit der Aussicht, die Demokratische Partei unter Druck zu setzen oder sogar selbst als Demokrat:innen aufzutreten. Auf diesem Weg gelang es selbst einem blassrosa demokratischen Sozialismus nicht, auch nur einen Wohlfahrtsstaat nach schwedischem Vorbild zu schaffen. Heute scheint der Kompromiss zwischen einer unabhängigen sozialistischen Partei und Sozialist:innen, die als Demokrat:innen auftreten oder sogar solche Mitglieder der Demokratischen Partei unterstützen, die bereit sind, sich bei schönem Wetter als Sozialist:innen zu präsentieren, in der Hoffnung auf progressive Reformen unter Biden ad acta gelegt worden zu sein.

Konsens an der Spitze

Einige bezeichneten diesen Parteitag als „Konsenskongress“, weil sich die Debatten um die Demokratische Partei stabilisiert haben. Es wurden weniger Anträge eingebracht, und für das Nationale Politische Komitee (NPC) kandidierte ein viel kleineres Feld von Bewerber:innen, das keine wirkliche Alternative zu den wichtigsten prodemokratischen Caucuses, wie die Fraktionen und Tendenzen in der DSA genannt werden, bot. [5] Ein neues, undemokratisches Verfahren, bei dem vor der Konferenz darüber abgestimmt wurde, welche Anträge als „Konsens“ angenommen werden sollten, schaltete viele aus. Der Onlinecharakter der Konferenz bedeutete, dass sie schwer zu managen und chaotisch war, aber er machte auch die Arbeit der Oppositionellen noch schwieriger. Zusammen genommen bedeuteten diese Faktoren, dass wichtige politische Veränderungen wie die neue Plattform, die Wahlstrategie und der Antiimperialismus mit fast minimaler Debatte verabschiedet wurden.

Der Rechtsruck erstreckte sich nicht nur auf die Plattform und die Wahlen. Anträge auf eine teilweise Demokratisierung der DSA, die eine Abberufung der in das NPC, das DSA-Führungsgremium, Gewählten und Wahlen für den hochrangigen Posten des/r Nationaldirektors/in vorsahen, scheiterten. Das Kräfteverhältnis im NPC verschob sich weiter in Richtung Wahlreformismus, wobei die neue „Green New Deal“-Liste das Kräftegleichgewicht hielt.

Die linken Fraktionen haben die Verabschiedung der Entschließung 8 „Auf dem Weg zu einer Massenpartei in den Vereinigten Staaten (Wahlpriorität)“ beklagt. Darin wurden die Wahlen als „einzigartige Priorität“, „ vor allen anderen Prioritäten, eingestuft. Sie verpflichtete sich, „ihren erfolgreichen Ansatz des taktischen Antritts zu Parteiwahlen auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei fortzusetzen“, ein Rechtsruck gegenüber dem Parteitag von 2019, der lediglich feststellte, dass „dies nicht ausschließt, dass von der DSA unterstützte Kandidat:innen taktisch auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei kandidieren“, um das Ziel zu erreichen, „eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse zu bilden“. [6] Dies war natürlich die offene Stalltür, durch die das prodemokratische Pferd davonlief.

In Wirklichkeit spiegelt diese offene Formel lediglich die tatsächliche Praxis der DSA wider, die sich auf Wahlen und „Machtgewinn“ konzentriert, den kapitalistischen Staat für seine wahren Herr:innen führt, indem sie Kandidat:innen als Demokrat:innen aufstellt oder, was noch üblicher ist, „progressive“ demokratische Kandidat:innen unterstützt. Im Gegensatz zur Ära vor Sanders sind fast alle Kandidat:innen, die die DSA bei Wahlen aufstellt oder unterstützt, Mitglieder der Demokratischen Partei (und nicht etwa Unabhängige, Grüne oder andere Strömungen).

Das ist nicht überraschend, denn die Orientierung auf die Demokratische Partei ist tief in der DNA der DSA verankert, und zwar seit ihrer Gründung im Jahr 1982 bis heute. Der Vater der US-Sozialdemokratie, Michael Harrington, Amerikas bekanntester Sozialist in den sechziger und siebziger Jahren, berühmt für seinen politischen Bestseller „Das andere Amerika“ von 1962, der dazu beitrug, den „Krieg gegen die Armut“ auszulösen und die Reformen der „Großen Gesellschaft“ in den sechziger Jahren beeinflusste, war in der Demokratischen Partei verwurzelt.

Er argumentierte, dass demokratische Sozialist:innen das Ziel haben sollten, der „linke Flügel des Möglichen“ zu sein und sich in der Demokratischen Partei zu beteiligen, um sie neu auszurichten, die Rechte zu besiegen und die Gewerkschaften aufzubauen, um eine sozialdemokratische Partei nach europäischem Vorbild zu schaffen. Harrington starb 1989 und mit ihm jede Aussicht auf eine Neuausrichtung. Die Demokrat:innen beschleunigten ihren Weg nach rechts, von Jimmy Carters Monetarismus und Austerität in den 1970er Jahren bis hin zu Bill Clintons offen neoliberalen, auf Recht und Ordnung ausgerichteten Regierungen mit ausgeglichenem Haushalt zwischen 1993 und 2001. Dies vervollständigte die Marginalisierung des bereits untergeordneten Flügels der Partei, der für Sozialstaat und Förderung der Unterdrückten eintrat, sich auf die Gewerkschaftsbürokratie konzentrierte und die Führer:innen der sozialen Bewegungen einbezog. Das letzte Aufbäumen der Partei war Jesse Jacksons Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur für die Demokratische Partei mit der „Regenbogenkoalition“ 1984.

Spulen wir drei Jahrzehnte zurück, und der jüngste Aufstieg der DSA spiegelt sich im Aufstieg der 2010 gegründeten Zeitschrift Jacobin wider, die eine Auflage von 75.000 Exemplaren hat und deren Webseite jeden Monat von Millionen Menschen besucht wird. Sie steht in Verbindung mit den dominierenden selbsternannten „Marxist:innen“ des Bread and Roses Caucus, B&R. (Brot-und-Rosen-Caucus) [7] Die Autor:innen von Jacobin haben die Ausrichtung der DSA auf die Demokratische Partei überarbeitet und ihr mit einer neuen „Schmutziger Bruch“-Strategie einen radikalen Anstrich gegeben. Damit wird Harringtons alte Strategie, die Demokratische Patei in eine sozialdemokratische Partei „umzuwandeln“, als unrealistisch zurückgewiesen, aber auch ein sofortiger, „sauberer“ Bruch durch die Aufstellung unabhängiger sozialistischer Kandidat:innen oder das entschiedene Eintreten für eine neue Partei jetzt.

Stattdessen sieht ihre „Klassenkampfwahl“-Strategie, der „schmutzige Bruch“, vor, dass demokratisch-sozialistische Kandidat:innen Stimmen der Demokratischen Partei in den Vorwahlen im Stil von Sanders in einem „Guerillaaufstand“ übernehmen. Ziel ist es, die zugegebenermaßen großen rechtlichen Hindernisse für Wahlanfechtungen durch Dritte zu überwinden und so ins Rennen zu kommen und Wahlerfolge zu erzielen. Sie glauben, dass der Kampf für „revolutionäre Reformen“, große strukturelle Veränderungen wie „Medicare for All“ (Gesundheitsfürsorge für alle) und den „Green New Deal“ (grüner neuer Plan), sie in die Lage versetzen wird, die für den Wiederaufbau der Arbeiter:innenbewegung erforderliche Linkskoalition aufzubauen. Erst dann sollten sie sich von der Demokratischen Partei abspalten und den Weg für eine demokratische sozialistische Regierung und den „Bruch“ mit dem Kapitalismus öffnen. Dieses linke Schema, das das Traditionsritual der Demokratischen Partei rechtfertigt, ist zur Orthodoxie der neuen jungen Massenmitglieder der DSA geworden.

Für beide Flügel der DSA, von der alten „Neuausrichtungs“-Rechten (die sich heute auf den Socialist Majority Caucus [Sozialistischer Mehrheitscaucus] konzentriert) bis hin zur schmutzigen Mitte-Links-Fraktion um Brot und Rosen, wird dies mit einer Reihe falscher Argumente begründet. Erstens behaupten sie, die Demokrat:innen seien keine echte Partei, wie auf dem Parteitag bekräftigt wurde:

„ … das US-amerikanische Parteiensystem erlaubt derzeit keine traditionellen politischen Parteien, private Organisationen mit Kontrolle über ihre Mitgliederlisten und Stimmzettel, sondern besteht vielmehr aus Koalitionen von nationalen, bundesstaatlichen und lokalen Parteikomitees, angeschlossenen Organisationen, Spender:innen, Anwält:innen, Berater:innen und anderen Agent:innen.“ [8]

Ihr zweites Hauptargument ist, dass das US-amerikanische Wahlsystem manipuliert ist, dass die Republikanische und Demokratische Partei das Mehrheitswahlrecht mit staatlichen Gesetzen blockiert haben, die es Unabhängigen und Drittparteien unmöglich machen, überhaupt auf den Wahlzettel zu kommen. Diese Hindernisse sind zwar real, aber außer für kleine Propagandagruppen nicht unüberwindbar. Diese Ausrede hat sich mit dem Wachstum der DSA als immer hohler erwiesen, denn eine Partei mit einer großen Anzahl von Mitgliedern in den Städten kann diese Hindernisse umgehen. Die Frage ist nicht, welche Möglichkeiten der DSA offenstehen, sondern die prodemokratische Politik der führenden Kräfte der DSA, von Sozialistischer Mehrheit, Brot und Rosen und des neuen Akteurs, des Green New Deal Caucus.

Der schmutzige Bruch auf Nimmerwiedersehen

Die Strategie des schmutzigen Bruchs wurde entwickelt, um die Ausrichtung auf die Demokratische Partei nach der Niederlage von Sanders im Jahr 2016 zu rechtfertigen, aber nach dem AOC-Erdbeben diente sie als Deckmantel für die enorm ausgeweitete Nutzung der Demokratischen Partei, entgegen dem ultimativen erklärten Ziel der DSA, mit der Partei zu brechen, um eine Arbeiter:innenmassenpartei zu gründen, das auf ihrem Parteitag 2019 verabschiedet wurde. Selbst hier hält die DSA-Linke eine einstudierte Zweideutigkeit aufrecht, wobei der Widerspruch durch ausweichende Formeln überdeckt wird. Der Erfinder des Begriffs „schmutziger Bruch“, Eric Blanc, plädierte am Beispiel der Minnesota Farmer Labor Party in den frühen 1920er Jahren für einen zweistufigen Ansatz, bei dem die Sozialist:innen als Demokrat:innen auftreten, bis die Partei gezwungen ist, sich zu verteidigen, und die Gesetzgeber:innen der Bundesstaaten die Wahlgesetze weiter einschränken, die Aufständischen rausschmeißen und sie in eine unabhängige Existenz zwingen. Die einflussreichste (und erste) Formulierung dieser Strategie (Seth Ackermans Artikel „A Blueprint for a New Party“ (Blaupause für eine neue Partei) von 2016) besteht jedoch darauf, dass eine neue Arbeiter:innenpartei die Wahlkampflinie immer noch als „zweitrangige Frage“ betrachten würde und ihre Kandidat:innen immer noch als Demokrat:innen aufstellen könnte – kaum eine überzeugend klingende Erklärung der Unabhängigkeit! [9]

Neben dem Hin und Her der Debatten innerhalb von Jacobin und der linken Fraktionen darüber, wie, wann und wo Schritte in Richtung eines schmutzigen Bruchs unternommen werden sollten, ist der rechte Flügel in aller Stille mit der Post-AOC-Flut weitergeschwommen, hat die Wahlarbeit vorangetrieben und die Unterstützung für Demokrat:innen, ob progressiv oder nicht, auf lokaler und nationaler Ebene verteidigt. Wie der rechtsgerichtete deutsche sozialdemokratische Politiker Ignaz Auer bekanntlich feststellte, „sagt man solche Dinge nicht, man tut sie einfach“. Die Zahl der Kandidat:innen, die als Demokrat:innen in das Wahlrennen gehen oder unterstützt werden, hat sich zur Norm ausgeweitet, und es gibt nur sehr wenige Unabhängige, ebenso wie die Zahl von 150, die in ein Amt gewählt wurden – warum sollte man also das Ruder herumreißen? Nur in entscheidenden Momenten sah sich die Rechte gezwungen, sich einer Politik zu widersetzen, die sie als schädlich für ihre Ausrichtung auf die Demokratische Partei ansieht, z. B. wenn die mangelnde Rechenschaftspflicht der neu gewählten DSA- oder progressiven Demokrat:innen zu Gegenreaktionen in Anbetracht  ihrer Abstimmungen gegen die DSA-Politik geführt hat.

Dies geschah erstmals, nachdem der DSA-Kongress 2019 dafür gestimmt hatte, bei den Präsidentschaftswahlen 2020 keine/n demokratischen Kandidat:innen außer Sanders zu unterstützen. Nachdem Joe Biden nominiert wurde und Trump seine Wiederwahlkandidatur einleitete, veröffentlichten Hunderte prominenter DSA-Führer:innen und lokaler Organisator:innen einen offenen Brief, in dem sie erklärten, sie würden sich dafür einsetzen, ihn zu besiegen, mit anderen Worten, sie würden sich für Biden einsetzen, und rieten anderen, dasselbe zu tun. [10]

Anfang 2020 wurden AOC und andere von der DSA unterstützte Kongressabgeordnete im Rahmen der Kampagne #ForceTheVote (Stimmen erzwingen) zu Medicare for All (Gesundheitsvorsorge für alle), einer der wichtigsten Strukturreformforderungen der DSA, unter Druck gesetzt, ihre Unterstützung für Nancy Pelosi als Sprecherin des Repräsentantenhauses zurückzuhalten, bis eine Abstimmung garantiert sei. AOC und die DSA-Führung wiesen diesen Druck in einer offiziellen Erklärung zurück und beriefen sich dabei auf technische Schwierigkeiten. [11]

Nun hat eine Welle der Empörung darüber, dass DSA-Mitglied und Kongressabgeordneter Jamaal Bowman für Militärhilfe an Israel gestimmt und an einer offiziellen, von der israelischen Regierung organisierten Reise nach Israel teilgenommen hat, entgegen der klaren DSA-Politik, die die palästinensische Kampagne für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel unterstützt, eine neue Krise ausgelöst. Vorhersehbar hat der rechte Flügel eine Erklärung gegen die Forderung nach seinem Ausschluss veröffentlicht, in der er sich für „Einigkeit, nicht Einstimmigkeit“ ausspricht. Diese Rückkehr zu Harringtons Sichtweise der DSA als „linker Flügel des Möglichen“, der innerhalb der Demokratischen Partei dahinvegetiert, zeigt, dass all die radikalen Denkanstöße, Debatten und die Geschichte des Klassenkampfes in Jacobin, so wertvoll sie auch sind, kaum mehr als ein Deckmantel für das „Weiter so“ waren.

Der Parteitag 2021 war also eher eine Formalisierung der DSA-Praxis als eine dramatische Verschiebung nach rechts. Wenn überhaupt, dann verbarg der Antrag von 2019 den zunehmenden Einsatz der Demokrat:innen, und die wichtigere Veränderung liegt wohl eher in der Organisation als in der Sprache. Das Nationale Wahlkomitee stellt bereits sicher, dass die Wahlarbeit die einzige ist, die eine maßgebliche, gut ausgestattete nationale Leitung hat, und stellt damit die ohnehin schwache Demokratisch-Sozialistische Laborkommission in den Schatten (Arbeit in Arbeiter:innenorganisationen ist auch eine Priorität der DSA, wenn auch nicht als „einzigartig“ deklariert). [12] Resolution 8 fügt eine weitere Organisationsebene mit landesweiten Gremien zur Unterstützung der Wahlarbeit hinzu. In einer zersplitterten DSA, die nur auf Ortsgruppen- und Wohnviertelebene organisiert ist, wird die DSA dadurch noch stärker auf diesen opportunistischen Wahlkampf ausgerichtet (und zentralisiert).

Die Linke unterlag auf dem Parteitag auf ganzer Linie, indem sie Entschließungen oder Änderungsanträge verlor, die auf eine Stärkung oder Beschleunigung der Schritte zum „schmutzigen Bruch“ abzielten. Die prodemokratische Ausrichtung spiegelt zweifellos die Ansichten der Mehrheit der DSA-Mitglieder wider, zu denen Zehntausende von relativ neuen, unerfahrenen und oft inaktiven Mitgliedern gehören, die im Rahmen dieser Taktik angeworben wurden. Die Zahl der DSA-Mitglieder hat sich seit Beginn der Coronapandemie fast verdoppelt, aber nur 10 – 15 Prozent nehmen regelmäßig an Aktivitäten teil.

In einer neuen Wendung schließt sich die DSA mit Entschließung 14 dem Forum von São Paulo an und erklärt sich unkritisch mit dessen sozialdemokratischen und linkspopulistischen Parteien und Regierungen solidarisch, einschließlich des autoritären Regimes von Maduro in Venezuela, obwohl dies mit 35 Prozent abgelehnt wurde. Die zunehmende antiimperialistische Politik, die sich innerhalb der DSA entwickelt, ist zu begrüßen, aber dies ist ein Rückschritt und bis zu einem gewissen Grad ein Zurückrudern hinter die Entscheidung des Parteitags von 2017, die reformistische, weitgehend neoliberalisierte Zweite Internationale zu verlassen, und sagt gleichzeitig viel darüber aus, welche Art von Partei die DSA aufbauen will. Sozialistinnen und Sozialisten müssen eine bedingungslose Verteidigung dieser Parteien vor der Rechten, national und international, mit praktischer Solidarität und Unterstützung für den linken Flügel, die Arbeiter:innenklasse oder unterdrückte Gruppen verbinden, die sich ihren Kürzungen und Kompromissen an der Macht widersetzen. Sie sind die einzige Kraft, die diese Regierungen wirklich von unten verteidigen, weitere Reformen von ihnen erzwingen und schließlich über ihre Grenzen hinausgehen kann, um den Weg zum Sozialismus zu öffnen, durch Massenkampf und Revolution.

Trotz des scheinbaren Konsenses zeichnet sich innerhalb der DSA eine Polarisierung ab, wie die Abstimmungen zu wichtigen Resolutionen zeigen. Die Plattform selbst wurde nur mit einer knappen Mehrheit von 43 Prozent angenommen, und 23 Prozent stimmten gegen die Resolution R8 zu den Wahlen. Neue Fraktionen und Tendenzen haben sich auf dem linken Flügel der DSA ausgebreitet, am dramatischsten mit dem Beitritt der Sozialistischen Alternative (SAlt), der größten verbliebenen Organisation, die sich in den USA als trotzkistisch bezeichnet, die einen Teil ihrer Mitglieder entsandt hat, darunter das prominente Mitglied und Abgeordnete des Stadtrats von Seattle Kshama Sawant, die 2014 gegen die Demokrat:innen gewählt wurde. Der dominierende Brot-und-Rosen-Caucus, der sich in der Mitte der DSA befindet, spaltete sich in seiner Unterstützung für Änderungsanträge zur Beibehaltung der 2019 eingegangenen Verpflichtung, eine unabhängige Partei zu gründen, mit 45 Prozent dagegen, was die Möglichkeit einer politischen Neuzusammensetzung zeigt, die die B&R-Linke befreien würde.

Die große Zahl der oppositionellen Stimmen zeigt das Potenzial für eine Organisierung, die sich von der Demokratischen Partei löst. Die Teilnahme an Streiks und Kämpfen in den kommenden zwei Jahren ist neben der politischen Debatte von entscheidender Bedeutung, um die vielen neuen Mitglieder als Aktivist:innen und ihr Verständnis für sozialistische Strategien zu entwickeln. Die Frage bleibt, ob ein bedeutender Teil der DSA-Linken seine eigene Verwirrung über den schmutzigen Bruch aufklären, ihn als „Taktik“ zurückweisen und sich zusammenschließen kann, um für einen sauberen Bruch mit den Demokrat:innen und eine neue Arbeiter:innenpartei entschlossen aufzutreten.

Marxismus und die DSA

Neben der Position zu den Wahlen und der Demokratischen Partei stellt sich die Frage nach der sozialistischen Strategie der DSA, die mit ihrem Anspruch verbunden ist, die Ideen von Marx zu vertreten. Es bleibt die Frage, wie dieses Ziel erreicht werden soll: durch Massenkämpfe der Arbeiter:innenklasse, die durch eine Revolution eine alternative, demokratische Macht zum kapitalistischen Staat schaffen, oder dadurch, dass eine sozialistische Mehrheit in die Regierung gewählt wird und über Jahre oder Jahrzehnte hinweg der Staat und der Kapitalismus in den Sozialismus umgewandelt werden, friedlich, wie sie hoffen. Der springende Punkt ist, ob die DSA für die Selbstermächtigung der Arbeiter:innenklasse und ihre politische Unabhängigkeit steht, das Herzstück der Marx’schen Politik, oder für eine Version des Sozialismus „von oben“, die in Wirklichkeit den sozialistischen Übergang blockiert und es dem Kapitalismus ermöglicht fortzufahren oder, schlimmer noch, sich an der Bewegung zu rächen.

Der linke Flügel der DSA um die Zeitschrift Jacobin würde empört gegen die Bezeichnung „Sozialismus von oben“ protestieren. Doch das gesamte Meinungsspektrum ist sich über diese grundlegenden Punkte einig. Der der Sozialdemokratie nahestehende Jacobin-Gründer Bhaskar Sunkara legt seine Version des demokratischen sozialistischen Schemas oder der Strategie in seinem 2019 erschienenen Buch The Socialist Manifesto (Das sozialistische Manifest) vor, das weithin als die wichtigste Fibel für demokratisch-sozialistisches Denken gilt:

„Demokratische Sozialist:innen müssen sich entscheidende Mehrheiten in den Parlamenten sichern und die Vorherrschaft in den Gewerkschaften gewinnen. Dann müssen unsere Organisationen bereit sein, unsere soziale Macht in Form von Massenmobilisierungen und politischen Streiks einzusetzen, um der strukturellen Macht des Kapitals entgegenzuwirken und sicherzustellen, dass unsere Führer:innen die Konfrontation der Anpassung an die Eliten vorziehen. Nur so können wir nicht nur unsere Reformen dauerhaft machen, sondern mit dem Kapitalismus ganz brechen und eine Welt schaffen, in der der Mensch vor dem Profit steht.“ [13]

In dem radikaleren, populären Jacobin-Buch über die DSA-Strategie, Bigger than Bernie (Größer als Bernie Sanders), sehen die Autor:innen eine gewählte demokratische sozialistische Regierung voraus, „die die Staatsmacht ausübt, um den Weg für diese Bewegungen freizumachen, während sie sich ihren Klassenfeind:innen stellen“, obwohl sie zugeben, dass es kein „Kinderspiel sein wird, den Kapitalismus zu beseitigen, selbst mit unseren Leuten an der Macht“! [14] Eric Blanc, der in Bigger than Bernie zitiert wird und der radikalste der B&R/Jacobin-Führer ist, erkennt an:

„Sozialist:innen müssen damit rechnen, dass ernsthafte antikapitalistische Veränderungen notwendigerweise außerparlamentarische Massenaktionen wie einen Generalstreik und eine Revolution erfordern, um die unvermeidliche Sabotage und den Widerstand der herrschenden Klasse zu besiegen.“ [15]

Wie alle demokratischen Sozialist:innen lehnt er jedoch jede Strategie der Doppelherrschaft und des Aufstands zugunsten einer gewählten demokratischen sozialistischen Regierung, die den sozialistischen Übergang überwacht, entschieden ab. Jede Strategie, die Doppelherrschaft und Aufstand ablehnt, in welcher Form auch immer, d. h. die Machtergreifung gegen den alten Staat, ist ein Bruch mit Marx und der Selbstermächtigung der Arbeiter:innenklasse.

Der Begriff „Doppelherrschaft“ wurde erstmals von Lenin verwendet, um die Situation in Russland nach der ersten demokratischen Revolution im Februar 1917 zu beschreiben, als Arbeiter:innenräte (oder, auf Russisch, Arbeiter:innensowjets), unterstützt durch die Waffen revolutionärer Soldat:innen und Betriebs- und Parteimilizen, neben einer bürgerlichen Regierung existierten. Die Bolschewiki führten den erbitterten Kampf gegen die Unterdrückung dieser Räte, die die bürgerlichen Regierung schließlich in der Oktoberrevolution stürzten, und setzten eine Räteregierung ein, um die Revolution zu vertiefen, zu verteidigen und im Ausland zu verbreiten. Sie verstanden ihre Revolution als die erste von vielen in ganz Europa, die gemeinsam den Weg zum Ziel des Sozialismus, ihrem Ziel des Sozialismus, sichern würden. Andere revolutionäre Bewegungen, vor allem die in Deutschland, wurden jedoch besiegt und ließen Sowjetrussland isoliert zurück. Obwohl es einen schrecklichen Bürger:innenkrieg überlebte, führte diese Isolation dazu, dass sich innerhalb des Parteistaats eine mächtige Bürokratie entwickelte, die Jahre später, 1928, unter Stalin die Macht übernahm. [16]

Doppelherrschaft ist ein Merkmal jeder größeren Herausforderung des Kapitalismus, von Russland 1917 über Spanien in den dreißiger Jahren bis zu Chile in den siebziger Jahren. Sowjetähnliche Einrichtungen entstanden in Krisenzeiten aus verschärften Klassenkämpfen, die um Kontrolle über die Produktion rangen und schließlich die Macht des kapitalistischen Staates herausforderten. Das bedeutet in erster Linie, die Bewegung gegen Polizei und faschistische Banden zu verteidigen und schließlich die Armee zu spalten, um einen Teil auf ihre Seite zu bringen. Nur eine mächtige Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse hat die soziale Macht und vor allem die politische Autorität, um einen solchen Appell auszusprechen, die Soldat:innen zu gewinnen und den Einsatz der Armee durch die Kapitalist:innen zu verhindern, wie neuere Beispiele aus Argentinien, Bolivien und Venezuela aus den frühen 2000er Jahren zeigen.

Nur wenn solche Bewegungen Arbeiter:innenräte hervorbringen, können sie die Macht als „Kommune“staat übernehmen, der auf Arbeiter:innendemokratie und bewaffneter Macht beruht. Marx nannte dies die Diktatur des Proletariats, weil die Arbeiter:innenklasse durch ihre demokratischen Räte die herrschende Klasse sein würde, die die alten Ausbeuter:innenklassen und ihre Konterrevolution in Schach hält, bis sie im sozialistischen Übergang entscheidend absterben.

Die revolutionäre Dritte Internationale einte die Vorstellung, es sei möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, dass eine echte Arbeiter:innenregierung, die sich der Abschaffung des Kapitalismus verschrieben hat, durch Wahlen an die Macht kommen kann. Sie könne sich aber nur dann halten und mit dem Kapitalismus brechen, wenn sie sich auf Arbeiter:innenräte und Milizen stützt, wenn sie eine andere, die Doppelmacht entwickelt, die letztlich an die Stelle von Polizei und Militär tritt. [17]

Die erste Frage, die sich den „Jacobins“ stellt, lautet, wie sie die Entwicklung der Doppelherrschaft in den radikalen Massenkämpfen, die ihrer Meinung nach notwendig sind, verhindern würden. Durch Demobilisierung der Arbeiter:innenklasse über die Gewerkschaftsbürokratie? Oder durch die gewalttätigeren Methoden der Polizei, wie es die deutsche Sozialdemokratie in der Revolution von 1918 tat? Welche andere Kraft könnte sie aufhalten? Noch grundlegender ist, dass, wenn Arbeiter:innenräte ausgeschlossen werden, nur eine Macht übrig bleibt: die Regierung der demokratischen Sozialist:innen, und diese ist die Agentur für den Aufbau des Sozialismus. Die Ablehnung der Doppelherrschaft bedeutet also nicht die Ablehnung eines revolutionären Weges zum Sozialismus zugunsten eines demokratisch-sozialistischen Weges. Es bedeutet, dass nicht die Arbeiter:innenklasse durch ihre eigenen Organisationen, sondern die demokratisch-sozialistische Regierung die Trägerin der Emanzipation ist. Dies ist eindeutig eine Version des „Sozialismus von oben“, und alles Gerede über parallele Bewegungen und Volksinstitutionen dient nur dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass Erstere in diesem Schema keine Macht haben.

Eine solche Regierung würde nämlich selbst mit dem Rest des Staatsapparats konfrontiert werden, der immer noch verfassungstreu ist und zweifellos regierungsfeindliche Mobilisierungen fördert. Unabhängig davon, wie links die Führer:innen der Regierung auch sein mögen, ist dies nicht ein fataler Fehler in dem Modell? Sicherlich lassen die Erfahrungen von Sanders, AOC und anderen wie Bowman einen Übergang zum Sozialismus mit ihnen am Ruder unwahrscheinlich erscheinen. Das linke DSA-Schema für eine gewählte Regierung ist ein Rezept für das Scheitern und in Wirklichkeit ein Bruch mit dem Marxismus, zu dem sich Sunkara, Blanc, Jacobin und die DSA selbst alle bekennen.

Marx und Engels vertraten „von Anfang an“ den Grundsatz, dass „die Emanzipation der Arbeiter:innenklasse das Werk der Arbeiter:innenklasse selbst sein“ muss. (18) Zweitens hielten sie die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse für grundlegend, um sie zu einer „herrschaftsfähigen“ Klasse zu machen, die über die Organisation, die Erfahrung und das Bewusstsein verfügt, die notwendig sind, um die Macht durch Revolution zu erringen, ihren Arbeiter:innenstaat und ihre Regierung zu verteidigen und den Sozialismus aufzubauen. Dies war die wichtigste Lehre, die sie unmittelbar aus der Niederlage der Revolution von 1848 zogen. [19] Statt der demokratisch-sozialistischen Strategie der „Umwandlung“ des Staates in einen sozialistischen, schrieb Marx, dass der kapitalistische Staat „zerschlagen“ werden müsse. Wie dies genau geschehen konnte, zeigte 1871 die Pariser Kommune, deren Herrschaft durch abrufbare Delegierte Marx als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnete. Dieses Konzept war so wichtig, dass Marx und Engels sagten, es sei die einzige größere Änderung, die sie am Kommunistischen Manifest von 1848 vorgenommen hätten, wenn es nicht bereits ein historisches Dokument gewesen wäre, das sie nicht ändern durften. [20]

Insbesondere betonten sie zustimmend, dass die Kommune „kein parlamentarisches, sondern ein arbeitendes Organ“ sei, das legislative und exekutive Funktionen verbinde, das auf abrufbaren Delegierten auf der Grundlage des Durchschnittslohns der Arbeiter:innen beruhe, die aus den Arbeiter:innenbezirken und Basisorganisationen gewählt würden, was die Erfahrungen der Sowjets in Russland vorwegnahm. Und natürlich kam die Pariser Kommune durch einen erfolgreichen Aufstand der plebejischen Nationalgarde gegen die offizielle Armee an die Macht, was die DSA-Mitglieder vergessen, wenn sie versuchen, sie der bolschewistischen Erfahrung gegenüberzustellen.

Die DSA und die Jacobin-Anhänger:innen erheben keine dieser Maßnahmen zur Kontrolle und Rechenschaftspflicht. Sie klammern sich an das Schema einer normal gewählten Regierung, die sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützt und den Sozialismus im Laufe vieler Legislaturperioden und sogar Jahrzehnte einführt, ohne auch nur einen Grad der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse zu erreichen, der einer Doppelherrschaft gleichkäme.

Marx und die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse

Als Marx gegen den Verrat der „kleinbürgerlichen Demokrat:innen“ in den Revolutionen von 1848 in Europa argumentierte, wies er sogar ausdrücklich das Argument des „kleineren Übels“ zurück, das in der einen oder anderen Form vorgebracht wird, um die Wahl der Demokratischen Partei heute in den USA zu rechtfertigen, und demontierte jedes seiner Argumente:

„Selbst dort, wo es keine Aussicht auf eine Wahl gibt, müssen die Arbeiter:innen ihre eigenen Kandidat:innen aufstellen, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, um ihre eigene Stärke zu messen und um ihre revolutionäre Position und ihren Parteistandpunkt in der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Sie dürfen sich nicht von den leeren Phrasen der Demokrat;innen in die Irre führen lassen, die behaupten werden, dass die Arbeiterkandidat:innen die demokratische Partei spalten und den reaktionären Kräften die Chance auf einen Sieg bieten würden. All dieses Gerede bedeutet im Endeffekt, dass das Proletariat betrogen werden soll. Der Fortschritt, den die proletarische Partei durch eine solche unabhängige Arbeit machen wird, ist unendlich wichtiger als die Nachteile, die sich aus der Anwesenheit einiger weniger Reaktionär:innen in der Vertretungskörperschaft ergeben.“ [21]

Bei allen schrecklichen Folgen des Trump-Siegs 2016 erwies sich diese Einschätzung von Vorteil und Nachteil als richtig, was durch den Sieg Bidens unterstrichen wurde, dessen magere Sozialmaßnahmen, so willkommen sie auch waren, bevor sie vom demokratischen Kongress ausgeweidet wurden, einfach in eine Kluft der sozialen Not gefallen wären, die sich in den letzten Jahrzehnten in den neoliberalen USA entwickelt hat. Marx und Engels waren unerbittlich gegen britische Gewerkschaftsführer:innen, die als Liberale auftraten, entgegen der lächerlichen Behauptung von Blanc, dass dies die Kräfte für die Gründung der Labour Party stärkte. Sie tat dies nur negativ, als Ablehnung und Reaktion auf diesen groben Opportunismus, der die Entwicklung zu einer Arbeiter:innenpartei jahrzehntelang blockierte. Die Sozialistische Partei von Eugene Debs, auf die sich Sanders und die DSA berufen, sowie Karl Kautsky, der marxistische Theoretiker der Zweiten Internationale, der in DSA-Kreisen immer beliebter wird, bestanden unbeirrt auf politischer Unabhängigkeit von den Parteien der Bourgeoisie und waren keines Sinnes, die Demokrat:innen zu unterstützen, geschweige denn als solche aufzutreten! [22]

All diese Zitate und Positionen sind der DSA-Linken wohlbekannt, ebenso wie die Formel, die den Opportunismus als das Ausnutzen kurzfristiger Vorteile auf Kosten von Prinzipien definiert. Das gilt auch für die nichtjakobinische Linke in der SAlt, den Reform und Revolution Caucus, die Tempest (Sturm)-Webseite oder marx21, die sich ihr anschließen: Keine von ihnen war in der Lage, der Anziehungskraft in Richtung Demokratische Partei zu widerstehen, die mit Sanders begann. Alle diese „revolutionären“ Alternativen zum B&R-Caucus akzeptieren, wenn auch widerwillig, die „Taktik“ der Wahlkampflinie der Demokratischen Partei, zumindest für den Moment. Ja, es ist eine Taktik, eine opportunistische Taktik. Die Taktik sollte sich aus der Strategie ergeben, und die Priorität der sozialistischen Linken in den USA sollte darin bestehen, sich mit allen Mitteln des Klassenkampfes, einschließlich Wahlen, für eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse zu engagieren. Das hindert Sozialist:innen nicht daran, bei Wahlen anzutreten, wo dies sinnvoll ist, aber es bedeutet, sich von den Demokrat:innen zu lösen und die Kandidatur von Arbeiter:innen in Groß- und Industriestädten mit der Agitation für eine neue Partei zu verbinden, die sich an die Linke in den Gewerkschaften, die radikalen Flügel der sozialen Bewegungen und Jugendorganisationen wie die DSA-Jugendverbände richtet.

In diesem Sinne hat der von Schwarzen angeführte Aufstand gegen die Polizei im Jahr 2020 mehr Reformen angestoßen und mehr dazu beigetragen, die Legitimität und den Handlungsspielraum der Polizei zu untergraben, als jede noch so große Anzahl von DSA-unterstützten Progressiven oder Strukturreformkommissionen, die sich mit Medicare for All oder dem Green New Deal beschäftigen. Lenin unterstrich die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes für die Entwicklung des Klassenbewusstseins mit Worten, die speziell für dieses historische Ereignis hätten geschrieben werden können, dessen Folgen noch nicht vollständig abzusehen sind:

„Die wirkliche Erziehung der Massen kann niemals von ihrem selbstständigen politischen und vor allem revolutionären Kampf getrennt werden. Nur der Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse. Nur der Kampf offenbart ihr das Ausmaß ihrer eigenen Macht, erweitert ihren Horizont, steigert ihre Fähigkeiten, klärt ihren Verstand, schmiedet ihren Willen.“ [23]

Der Beweis dafür, dass das Eintreten für die Demokratische Partei auf deren Wahlzetteln nicht nur eine Taktik, sondern eine Strategie ist, wird durch die Entwicklung der Intervention der DSA bei den Demokrat:innen selbst erbracht. Anstelle des alten sozialdemokratischen Slogans „keinen Mann, keinen Pfennig“ für dieses verrottete System, folgen DSA-Politiker:innen der Parteidisziplin, wenn sie für den Haushalt stimmen oder sich enthalten. DSA-Mitglieder im Amt haben sogar (direkt gegen die DSA-Politik) als Teil der Demokratischen Partei für Polizeibudgets gestimmt, während drei DSA-Kongressabgeordnete (AOC, Jamaal Bowman und Rashida Tlaib) sich eher der Stimme enthielten, als gegen die Erhöhung der Mittel für die Kapitolspolizei im Zuge des Trump-Putsches zu stimmen. Diese Kräfte werden hauptsächlich gegen Proteste der Linken, der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten eingesetzt. [24] AOC lehnt wie die anderen DSA-Politiker:innen eine Stimme für rechte Demokrat:innen nicht ab und rief beispielsweise 2018 dazu auf, sich „hinter alle  Kandidat:innen der Demokratischen Partei zu stellen“, einschließlich Andrew Cuomo, dem rechtsgerichteten Ex-Gouverneur von New York. [25] Das sind keine Sozialist:innen im Kongress, sondern linke Demokrat:innen, die zum „progressiven“ Flügel gehören. Sie haben nicht die Absicht, sich von der Demokratischen Partei zu trennen, es sei denn, sie werden ausgeschlossen. Im März 2021 erreichte die Ausrichtung auf die Demokratische Partei eine weitere Stufe, als fünf von der DSA unterstützte Kandidat:innen, vier davon Mitglieder, tatsächlich die Führung der DP von Nevada gewannen und die Partei nicht mehr nur „benutzten“, sondern leiteten! Die Schlussfolgerung ist klar: Die Demokratische Partei gehört nicht zum Taktikarsenal der DSA, die DSA ist der linke Flügel dieser Partei!

Das fast völlige Fehlen von Mechanismen oder einer Debatte über die Rechenschaftspflicht, selbst in der DSA-Linken, ist der konkreteste Beweis für das oberflächliche Engagement für eine weit entfernte sozialistische Transformation zugunsten von kurzfristigem Erfolg und Wachstum. In der offiziellen Wahlstrategie der DSA, die sich über vierzehn detaillierte Seiten erstreckt, wird die Frage der Rechenschaftspflicht für ihre Kandidat:innen nicht einmal erwähnt, ebenso wenig wie in der Resolution 8 des Konvents, während die Änderungsanträge, die zumindest versuchten, den Kandidat:innen einige Kriterien aufzuerlegen, abgelehnt wurden. [26] Jacobin seinerseits enthält nur wenige Artikel, wenn überhaupt, die sich mit der Frage der Rechenschaftspflicht befassen. Bigger than Bernie, das sich als großes Buch über die Strategie der demokratischen Sozialist:innen darauf konzentrierte, den Erfolg des DSA-Wahlkampfs und der Unterstützung für die Demokratische Partei zu rechtfertigen (und zu übertreiben), ist an mehreren Stellen gezwungen, das Thema anzusprechen. Doch am Ende kann es nur die lahme Schlussfolgerung ziehen, dass die DSA „keine vollständig durchdachte Methode zur Disziplinierung ihrer Wahlkandidat:innen hat“. Ihre unzureichende Lösung besteht darin, mehr Kader zu „prägen“ und sie als Kandidat:innen aufzustellen, „die organisch aus der DSA selbst hervorgegangen sind … echte DSA-Kandidat:innen, die vom politischen Programm der Organisation durchdrungen sind und sich als engagierte sozialistische Organisator:innen erwiesen haben“. (27)

Doch die Geschichte ist voll von Linken, die unter den undemokratischen Strukturen der Gewerkschaften zu Bürokrat:innen wurden, oder von reformorientierten Politiker:innen, die im Amt dem Druck durch übertrieben komplizierte Beschränkungen und Vorschriften, Unternehmenslobbyist:innen und anderen mächtigen Interessen erlagen. AOC selbst hat diesen enormen Druck eingeräumt, und er erklärt viele ihrer Zugeständnisse. Nur Sozialist:innen, für die Wahlen eine Taktik sind, nicht der Königsweg zu sozialistischem Wandel, und die sich der Parteidisziplin unterordnen, könnten einem solchen Druck standhalten oder zumindest auf Linie gehalten werden.

Das „Big-Tent“-(Großes Zelt)-Parteimodell der DSA ist in Verbindung mit dem Wahlsystem nur ein Rezept dafür, dass die Amtsinhaber:innen ein nicht rechenschaftspflichtiger, aber immer mächtigerer Kern über der Demokratie der Partei bleiben. Der Pluralismus, der gegen die vermeintlich „monolithische“ revolutionäre Linke gefeiert wird, ist letztlich nur für sie. [28] Der heuchlerische, in sich widersprüchliche Ruf der Rechten nach „Einheit, nicht Einstimmigkeit“ in der Bowman-Kontroverse unterstreicht dies: Sein Recht, seine eigene politische Linie zu bestimmen, bricht in Wirklichkeit die Einheit mit den Mitgliedern und ihren demokratischen Entscheidungen. Dieser Stab von Politiker:innen und der Wahlapparat der DSA werden auf Kosten der Demokratie, der Radikalität und letztendlich der Stabilität der DSA wachsen. Die Linke tut gut daran, einen Blick auf die griechische Linkspartei Syriza zu werfen, die ebenfalls auf Wahlen fokussiert ist, und wie sie sich parallel zu ihren Wahlerfolgen in Richtung Bürokratie entwickelt hat, wobei die neuen Strukturen die Linke zunehmend marginalisieren. [29]

Dieser Flügel der Partei will eine DSA, die sich stark von den Mitgliedern unterscheidet, die in vielen Städten den Wunsch geäußert haben, über den Wahlkampf hinauszugehen und sich im Klassenkampf zu engagieren. Wenn er Erfolg hat, würde das alle Probleme der alten Sozialistischen Partei von Debs wieder aufleben lassen, in der die 1.000 gewählten Mandatsträger:innen rechts von den Mitgliedern standen, in der Praxis reformistisch waren und oft andere bürgerliche Vorurteile wie Rassismus an den Tag legten und sich jeder echten Kontrolle entzogen, und letztlich die Linke besiegten und vertrieben. Doch diese Lektion in Sachen Rechenschaftspflicht wird nicht nur von der Rechten, sondern auch Linken in der DSA ignoriert. [30] Stattdessen ist eine Übertreibung des Radikalismus der linken Demokrat:innen, ob DSA-Mitglieder oder nicht, zwangsläufig Teil der DSA-Orientierung und notwendig, um sie zu rechtfertigen. Dies ist auch ein schwerwiegender Fehler in der gesamten Arbeit von Jacobin.

Die Kontroverse, die über Jamaal Bowman ausgebrochen ist, ist nicht die erste, sondern nur die eklatanteste Zerrüttung der DSA-Politik im Amt. DSA-Mitglieder und -Aktivist:innen müssen auf seinen Ausschluss drängen, als ersten Schritt zur Neuausrichtung der Partei weg von den Demokrat:innen und zum Aufbau von Verantwortlichkeit für Führungskräfte und gewählte Amtsträger:innen, ohne die es keine sinnvolle Demokratie gibt.

Die Linke debattiert über den schmutzigen Bruch

Die weit verbreitete Begeisterung für die Idee des „schmutzigen Bruchs“ hat dazu geführt, dass sie unter den jungen radikalen Aktivist:innen der DSA zu einer neuen Orthodoxie geworden ist, die durch die Wahlerfolge nur noch gefestigt wurde. Die DSA-Linke ist gegen diesen Druck nicht immun, ein Teil bewegt sich nach rechts mit einer eher unschlüssigen Annäherung an die Frage der „Neuausrichtung“, während die Fraktionen der „revolutionären“ Linken die Taktik des schmutzigen Bruchs prinzipiell akzeptiert oder es vermieden haben, sie im Fall von SAlt direkt anzugreifen, und lediglich darüber debattiert haben, wie man sich von ihr entfernen kann.

Die wichtigste linke Fraktion, Brot und Rosen, lehnt eine Neuausrichtung der Demokrat:innen ab und steht für den endgültigen Aufbau einer Massenpartei der Arbeiter:innen. In einer Diskussion über die Unterstützung eines Änderungsantrags zu Resolution 8, in dem die Notwendigkeit eines schmutzigen Bruchs bekräftigt wird, spaltete sich die Fraktion jedoch mit 55 % Ja- und 45 % Nein-Stimmen. Aufgrund der knappen Abstimmung beschloss die Fraktionsführung undemokratisch, den Änderungsantrag nicht zu unterstützen. Eric Blanc, das prominente DSA- und Brot-und-Rosen-Mitglied, das die radikale „Schmutziger Bruch“-Linie geprägt hat, argumentierte nun gegen die Durchsetzung dieser Linie als schädliche „Propaganda“. Er übertrieb die Bilanz von Sanders und AOC und behauptete, sie würden etwas Neues tun, weil sie versuchten, eine „unabhängige sozialistische Organisation und ein unabhängiges Profil“ aufzubauen. In Wirklichkeit tun sie nur sehr wenig, um die DSA aufzubauen, aber er argumentierte, dass es für das „demokratische Establishment eine wichtige Propagandawaffe gegen uns bedeutet“, wenn man die Organisation für den schmutzigen Bruch in den Vordergrund stellt, indem man als Unabhängige kandidiert oder sogar offen als Anti-Demokrat:innen auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei erscheint, als ob sie nicht schon alle von der DSA unterstützten aufständischen Kandidat:innen verleumden und versuchen würden, sie zu besiegen.

Es kommt noch schlimmer. In seinem ursprünglichen Artikel aus dem Jahr 2017, in dem er die Idee des schmutzigen Bruchs vorstellte, wies er Versuche, die Demokratische Partei neu auszurichten, als „Illusion“ zurück, aber jetzt hat er dies umgekehrt und stellt jede Annahme in Frage, dass die „Demokratische Partei keine Arbeiter:innenpartei sein wird“:

„Wir klingen wie Dogmatiker:innen, wenn wir die Möglichkeit ausschließen, dass Linke den nationalen Parteigipfel der Demokrat:innen durch eine feindliche Übernahme mittels klassenkämpferischer Vorwahlen erobern, die sowohl die Präsident:innenschaft als auch die Führung des Kongresses gewinnen. Bisher hat noch niemand überzeugend dargelegt, warum dieser Ansatz garantiert scheitern wird.“

Unterstützt wurde dies durch verzerrte Argumente, dass frühere Versuche in den 1930er und 1960er Jahren gescheitert seien, weil sie „auf die Arbeit innerhalb der offiziellen demokratischen Strukturen angewiesen waren“. Doch so verhängnisvoll es auch war, die Unterstützung der Kommunistischen Partei für Roosevelt in den 1930er Jahren war kaum eine Arbeit innerhalb der Demokrat:innen. Die Katastrophe bestand darin, dass sie statt für den Zusammenschluss der lokalen Arbeiter:innenparteien zu einer neuen, nationalen Partei, die die Linke und die Arbeiter:innenklasse auf eine neue Ebene gebracht hätte, zu kämpfen, diese Bewegung deckelte und in ihren politischen Verfall förderte. [31]

Weitere Brüche in Brot und Rosen haben sich abgezeichnet. Die Fraktion Reform und Revolution, eine frühere Abspaltung von SAlt, die sich als revolutionär-marxistischer Flügel der DSA ausgibt, organisierte im März 2021 eine Diskussion über den schmutzigen Bruch mit Redner:innen aus den wichtigsten linken Fraktionen. Darunter waren Referent:innen aus der gesamten Linken: Jeremy Gong, Co-Vorsitzender von Brot und Rosen und Mitglied der Arbeiter:innenpartei-Linken, die „revolutionären“ Marxist:innen der Tempest-Webseite (Ex-ISO) und Reform und Revolution selbst sowie Aktivist:innen der größten lokalen linken Fraktionen Emerge (Empor, New York Stadt) und Red Star (Roter Stern, San Francisco). [32) Alle waren sich einig, dass es vorerst keine Alternative zur Wahl der Demokrat:innen gab, aber die Diskussion drehte sich darum, wie man den schmutzigen Bruch für eine neue Arbeiter:innenpartei vorantreiben könnte.

Mit erfrischender Offenheit nahm Gong die üblichen Begründungen zum Einsatz für die Demokratische Partei auseinander. Er wies das (in Resolution 8 wiederholte) Argument zurück, dass die Demokrat:innen nicht wirklich eine Partei sind, sondern eine diffuse Koalition von Kräften mit einer leeren, neutralen Wahlliste, die es auszufüllen gilt, das Feigenblatt für die Taktik:

„Sie sieht aus wie eine Partei, sie redet wie eine Partei, die Leute denken, dass sie eine Partei ist, sie muss eine Partei im US-amerikanischen Kontext sein … in unserer Zeit ist die Demokratische Partei eine Partei, und ich denke, eine Wahlliste ist ein wesentlicher Aspekt dessen, was eine Partei zu sein hat … [und das ist der Grund, warum] es wichtig ist, dass wir uns formell trennen und eine neue Partei gründen.“ [33]

Einen weiteren Mythos spießte er auf, indem er argumentierte, dass die gesetzlichen Wahlrechtsbeschränkungen in den Bundesstaaten nicht so entscheidend seien. In Kalifornien, „größer als Spanien“, gebe es keine, außer bei den Präsident:innenschaftswahlen, und in New York City sei „der Ortsverband stark genug, mit 10.000 DSA-Mitgliedern und der fortschrittlichsten Organisation und Erfahrung, um diese Hindernisse zu überwinden und unabhängige Kandidat:innen aufzustellen“. Andere merkten an, dass ein Kandidat auf der von der DSA unterstützten Liste der in den Stadtrat von Chicago gewählten Delegierten ein Unabhängiger war – was wäre, wenn alle sieben unabhängig gewesen wären? Der Vorsitzende von Labor Notes, Kim Moody, wies in seinem 2018 erschienenen Buch On New Terrain (Auf neuem Gebiet) (geschrieben vor dem Sieg von AOC) darauf hin, dass gewerkschaftlich unterstützte Kandidat:innen in „mittelgroßen industriellen oder ehemals industriellen Stadtzentren mit einer großen Arbeiter:innenbevölkerung“, in denen die Demokrat:innen so hegemonial sind, dass ihre übliche Erpressung, die Republikaner:innen ins Rennen zu schicken, nicht funktioniert, allmählich Fuß fassen.“ [34]

Gong wies darauf hin, dass die Aufstellung unabhängiger Kandidat:innen im Grunde „ein politisches Problem“ sei:

„Ich würde sagen, es wird viel darüber geredet, dass es so schwer ist, eine unabhängige Wahlliste zu haben. Die Gesetze sind schwierig, aber ich denke, das ist ein Ablenkungsmanöver. Es ist eigentlich gar nicht so schwer. Man muss nur den Willen haben, es zu tun. Und im Moment ist dieser Wille bei einer sehr kleinen Anzahl von Leuten vorhanden, das ist das eigentliche Problem … Ich würde einen analogen Punkt anbringen, wie wir uns zu DSA verhalten, es gibt ein geringes Maß an Kampf und Erfahrung für DSA-Mitglieder in vielen dieser Fragen.“

Er argumentierte, dass die Bedingungen für eine unabhängige Partei heute nicht gegeben sind, da das Niveau des Klassenkampfes im Gegensatz zu den 1930er und 1940er Jahren niedrig ist, aber trotzdem „konnten sie damals keine Arbeiter:innenpartei gewinnen“. Er nimmt die Führungskrise in der Arbeiter:innenbewegung mit dem Verrat der KP an dieser Bewegung nicht zur Kenntnis, aber die gleiche Frage stellt sich heute, wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt aus: Wie blockiert die Linke die Entwicklung einer solchen Bewegung? Und ist der Klassenkampf wirklich so niedrig? Zeigen die explosiven Kämpfe von 2018 und 2020 nicht, dass eine DSA, die sich bei jedem Streik, jeder Protestbewegung und jedem Aufstand für die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse einsetzt, Fortschritte machen könnte, was das Bewusstsein, die Organisation und, ja, die Kandidat:innen angeht?

Die Konzentration von Mitgliedern und Erfahrungen in den großen städtischen Zentren, New York, Chicago und einigen anderen, würde zumindest den Versuch erlauben, unabhängige gewerkschaftliche oder sozialistische Kandidat:innen aufzustellen, auch wenn dies in kleineren Gebieten schwierig wäre. Gong wies auf diese hin und erklärte: „Einige müssen führen“. In seinem Artikel forderte Eric Blanc die Linke auf, es irgendwo zu versuchen. Dies würde eine starke linke Organisation in der DSA voraussetzen, aber selbst dann sollte die Linke nicht einfach „alternativ“ experimentieren, während sie den Rest der DSA ignoriert, wenn dieser damit fortfährt, demokratische Kandidat:innen zu unterstützen, sondern sie sollte dies ablehnen.

Ironischerweise halten die zentristischen Sozialist:innen, die in Tempest und Brot und Rosen in die DSA eingetreten sind, an der Mehrheitslinie fest, obwohl aus ihren Argumenten klar hervorgeht, dass sie nicht wirklich dafür sind, auf der demokratischen Liste zu stehen, während Blanc den „schmutzigen Bruch“ abstellen oder sogar aufgeben will und die DSA sich in der Praxis davon weg entwickelt. Anstatt den Brot-und-Rosen-Linken entgegenzukommen, die immer noch an der DSA festhalten, und sich im Kreis zu drehen, wie und wann man mit der Demokratischen Partei brechen oder sich darauf vorbereiten sollte, sollte die marxistische Linke die Schlussfolgerungen aus der Entwicklung der DSA und der Bilanz ihrer Mitglieder in den Ämtern ziehen und jetzt für den „sauberen Bruch“ agitieren, indem sie sich für eine neue Arbeiter:innenpartei einsetzt.

In den Groß- und Industriestädten könnten die Fraktionen aller Sozialist:innen, die für den Bruch sind, für unabhängige Arbeiterkandidat:innen werben und sich kollektiv weigern, Kandidat:innen zu wählen, die auf dem Wahlzettel der Demokratischen Partei stehen oder von ihnen unterstützt werden. Wenn die Rechte sich 2020 gegen die „Niemand außer Bernie“-Linie auflehnen kann, warum kann die Linke dann nicht offen die Unterstützung für demokratische Kandidat:innen ablehnen? Sie sollten Druck auf Brot-und-Rosen-Linke wie Gong (mit 45 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder vor dem Kongress) ausüben, um den Caucus dazu zu bringen, ihn zu unterstützen oder sich von ihm abzuspalten. Dies erfordert nicht, dass irgendeine der Tendenzen oder Fraktionen, seien sie „revolutionär“ oder demokratisch-sozialistisch, ihre eigene Organisation oder ihre Programme aufgibt, sondern dass sie die Einheitsfront nutzen, um die Forderung nach einer neuen Partei innerhalb und außerhalb der DSA voranzutreiben. In der Zwischenzeit könnten sie auch darauf drängen, dass die Sektionen Streiks unterstützen und Aktionskomitees für soziale Kämpfe aufbauen, um sie zu demokratisieren, ihr Wachstum zu fördern und Siege zu erringen, während sie gleichzeitig über die Politik debattieren, die die DSA mit kämpferischen Klassenkampftaktiken in sie einbringen möchte.

Wohin weiter?

In England folgte auf die stürmische Zeit des Chartismus der Arbeiter:innenklasse (1838 – 48) und die Beteiligung der Gewerkschaften an der Seite von Marx in der Ersten Internationale (1864 – 72) eine lange Periode der politischen Unterordnung der Arbeiter:innenklasse unter Gladstones Liberale Partei. Ihre materielle Grundlage bildete die Vorherrschaft des britischen Kapitalismus in der Weltwirtschaft und die Ausdehnung seines Kolonialreichs. In dieser Liberal-Labour-Periode saßen viele Gewerkschaftsführer:innen als liberale Abgeordnete im Unterhaus.

In den 1880er Jahren stellte Engels fest, dass der Verlust der Vorherrschaft des imperialen Britanniens im Welthandel zu Angriffen auf die eigenen Arbeiter:innen führen würde, dessen schwindende Position bedeuten würde, dass es „wieder Sozialismus in England geben wird“. [35] Der lange Niedergang der USA als imperialistische Supermacht ist durch ihren demütigenden Rückzug aus Afghanistan deutlich geworden, während sie wirtschaftlich seit 2008 im Zentrum der historischen Wirtschaftskrise des Kapitalismus stehen. Beide Entwicklungen haben die Klassengegensätze im In- und Ausland verschärft und eine historische Polarisierung vorangetrieben.

Der spektakuläre Aufstieg der DSA spiegelt nicht nur die Tiefe der Krise des amerikanischen Kapitalismus wider, sondern zeigt vor allem, dass sozialistische Massenstimmung in materielle Organisationsgewinne umgesetzt werden kann, dass Sozialismus und Klassenpolitik vorankommen können. Doch mit dem Anstieg an Mitgliederzahlen wachsen auch die Widersprüche der DSA. Vielleicht wird die Aushöhlung von Bidens Wohlfahrtsreformen die Stimmung gegen die Demokratische Partei und das Wachstum der DSA kurzfristig wiederbeleben, aber ihre zunehmende Absorption in die Demokratische Partei ist eine Sackgasse und zeigt, dass sie trotz ihrer formalen Position, eine Massenpartei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, dies nie ernst genommen hat und sich in Wirklichkeit in die andere Richtung bewegt, tiefer in die Demokratische Partei. Die Mehrheit der relativ neuen, oft inaktiven DSA-Mitglieder, die im Rahmen dieser Taktik rekrutiert wurden, könnten am Ende eine Basis für den rechten Flügel und die Führung abgeben, wenn dies nicht durch die Hinwendung der Sektionen zum Kampf überwunden wird.

Erhebliche Minderheiten gegen die rechtsgerichteten Anträge des Parteitags zeigen das Potenzial, eine Opposition aufzubauen, die sich auf die Neuausrichtung der DSA weg von den Demokrat:innen und hin zum Klassenkampf und den Streit für eine neue Partei der Arbeiter:innenklasse konzentriert. Ein Teil des Hindernisses für die Verwirklichung dieses Potenzials ist die DSA-Linke selbst, die zwar wächst, aber zersplittert ist und, was am schädlichsten ist, die „Taktik des schmutzigen Bruchs“ akzeptiert und die Demokratische Partei „vorerst“ unterstützt. Dies ist eine durch und durch opportunistische Taktik. Die Möglichkeit, diesen Weg freizumachen, besteht darin, zu Marx‘ Position der klassenpolitischen Unabhängigkeit zurückzukehren und die Methode aufzugreifen, die Trotzki für den Aufbau einer neuen Arbeiter:innenpartei im Amerika der 1930er Jahre befürwortete.

Wenn die Linke dies tut, wird sie sich letztlich einem Kampf mit dem Mitte-Rechts-Block in der Führung stellen müssen, der bisher noch keine ernsthafte Herausforderung für seine unausgesprochene Strategie zur Neuausrichtung der Demokratischen Partei erlebt, für die die Strategie des schmutzigen Bruchs als Deckung diente. Die stalinistischen Anti-Trotzki-Memos, die den Beitritt der Sozialistischen Alternative begleiteten, liefern einen kleinen Vorgeschmack auf diese Spannung. Letztendlich wird eine reformistische Führung niemals einen wirklich klassenkämpferischen, revolutionären Flügel dulden, sondern versuchen, ihn zu unterdrücken. Wenn die Linke es zulässt, eine zahme Opposition zu bleiben, die in einer platonischen Debatte darüber gefangen ist, wie und wann Schritte in Richtung des schmutzigen Bruchs unternommen werden sollen, wird sie nur ihre eigene Ohnmacht verlängern.

Die Sozialistische Alternative, die Brot-und-Rosen-Linke und die anderen Fraktionen wiederholen alle, dass es keine objektive Grundlage für eine neue Massenpartei gibt. Dennoch geben viele zu, dass die Politik der DSA selbst das größte unmittelbare Hindernis für Schritte in Richtung Klassenunabhängigkeit und einen schmutzigen Bruch verkörpert. Die Antwort darauf ist eine unermüdliche und konsequente Kampagne, um diese Führungskrise zu lösen, indem wir eine solche Anleitung geben. Die Linke kann sich um eine offene Kampagne für eine neue Arbeiter:innenpartei scharen, die jegliche Unterstützung für Kandidat:innen auf der demokratischen (oder grünen) Wahlliste klar ablehnt. Sie sollte Druck auf Brot und Rosen ausüben, damit es sich wieder dieser Linie widmet oder spaltet. Dies ist der Schlüssel, um die dissidenten Mitglieder über die Caucuses hinaus zu organisieren und die Masse der neuen Mitglieder zu entwickeln, um die Kluft zwischen ihnen und der Linken zu schließen. Die Hinwendung der Sektionen zum Klassenkampf würde nicht nur neue Mitglieder als Aktivist:innen und Kader hervorbringen, sondern auch Militante aus den Streiks und Kämpfen der nächsten zwei Jahre rekrutieren, die der Demokratischen Partei gegenüber misstrauischer sein werden.

Ein Einheitsfrontansatz im Eintreten für einen sauberen Bruch würde auch Debatten über andere Aspekte des Programms erleichtern, als Antwort auf neue Kämpfe wie die Lehrer:innenstreikwelle und die Black-lives-matter-Revolte. Ziel sollte es sein, ein alternatives, revolutionäres Programm zur neuen Plattform zu entwickeln, das deren beste politische Elemente aufgreift und sie mit Übergangsforderungen kombiniert, die die heutigen Massenkämpfe mit dem entschlossenen Vorgehen für den Sozialismus durch Selbstorganisation und Aktivität der Arbeiter:innenklasse verbinden. Dies würde nicht nur mehr Diskussionen zwischen den Gruppierungen ermöglichen, sondern auch ein neues Publikum von Tausenden von Menschen einbeziehen, die eine Rolle dabei spielen könnten, die Politik im Lichte der Geschichte und ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Klassenkampf zu prüfen, indem sie sich daran beteiligen und veraltete oder opportunistische Ideen verwerfen.

Nur durch einen radikalen Richtungswechsel können Sozialist:innen sicherstellen, dass der nächste Parteitag eine echte Herausforderung für den prodemokratischen Konsens darstellt und den Weg für einen weiteren politischen Fortschritt hin zu einer klassenkämpferischen, internationalistischen und revolutionären DSA öffnet. Alle, die die Notwendigkeit einer solchen Neuausrichtung sehen, sollten mit uns Kontakt aufnehmen und gemeinsam daran arbeiten, die immensen Möglichkeiten für den Fortschritt der Arbeiter:inneklasse und eine sozialistische Zukunft zu nutzen, die zum Teil im Wachstum der DSA zum Ausdruck kommen.

Endnoten

1 „Top GOP Pollster: Young Americans Are Terrifyingly Liberal“, [https://theintercept.com/2016/02/24/top-gop-pollster-young-americans-are-terrifyingly-liberal/].

2 Nur Eugene Debs‘ Socialist Party of the USA war mit 113.000 Mitgliedern auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1912 größer, allerdings bei einer Bevölkerung von 95 Millionen, weniger als ein Drittel der heutigen 333 Millionen.

3 Damit stieg die Mitgliederzahl auf 66.000. Fast 30.000 sind seitdem beigetreten.

4 „2020 DSA Convention Reports and Summaries“, [https://www.tempestmag.org/2021/08/2021-dsa-convention/].

5 Rückgang von 42 Kandidaten für sechzehn Positionen im Jahr 2017 auf 33 im Jahr 2019 und 20 im Jahr 2021: Nation, R&R.

6 2021: „Toward a Mass Party in the United States (Electoral Priority)“; 2019: „Class Struggle Elections“.

7 https://jacobinmag.com/about; https://breadandrosesdsa.org/. Der linke B&R Co-Vorsitzende Jeremy Gong sagt, dass B&R 2019 gegründet wurde, um „für eine marxistische DSA zu kämpfen“. Siehe unten: Debatte  über Reform und Revolution.

8 Siehe Resolution 8: „Bigger than Bernie“ von Micah Uetricht und Megan Day behauptet dasselbe, Kapitel 2: „Die beiden großen US-Parteien sind keine wirklichen Parteien im traditionellen Sinne (keine Mitgliedschaftskriterien, keine verbindliche demokratische Entscheidungsfindung, keine politische Bildung, keine Disziplinierung von Kandidat:innen, keine Rechenschaftspflicht gegenüber einer Plattform)“.

9 Oder die Partei könnte „theoretisch Kandidat:innen auf der eigenen Wahlkampflinie der Organisation aufstellen“. Seth Ackerman: „A Blueprint for a New Party“, Nov. 2016, https://www.jacobinmag.com/2016/11/bernie-sanders-democratic-labor-party-ackerman/; Eric Blanc: „The Ballot and the Break“, https://www.jacobinmag.com/2017/12/democratic-party-minnesota-farmer-labour-floyd-olson/.

10 Entschließung 15.

11 „Should House Progressives #ForceTheVote on Medicare for All?“, https://www.dsausa.org/statements/should-house-progressives-forcethevote-on-medicare-for-all/.

12 Weit davon entfernt, die Gewerkschaftsarbeit der DSA-Ortsgruppen und -Mitglieder zu leiten und zu koordinieren, wurden die beiden großen nationalen DSA-Laborinitiativen – das 2020 gegründete Emergency Worker Organising Committee und die 2021 gestartete Kampagne zur Lobbyarbeit bei der Bidenregierung zur Verabschiedung des PRO Act (Protect the Right to Organize) – beide vom NPC im Bündnis mit den Gewerkschaften initiiert.

13 Bhaskar Sunkara, The Socialist Manifesto, (London: Verso, 2019), S. 22; siehe: https://fifthinternational.org/content/bhaskar-sunkaras-socialist-manifesto.

14 Meagan Day und Micah Uetrecht, Bigger Than Bernie, (London: Verso, 2020), S. 102 f–

15 Eric Blanc hat sich als antibolschewistischer Theoretiker und Historiker der DSA etabliert, einflussreich, aber auch wie Sunkara eigenwillig – die Jacobin-Linke hat keine einheitliche, kohärente Vision des demokratisch-sozialistischen Übergangs, abgesehen von ein paar groben Punkten – die Demokrat:innen, Wahlen, eine Regierung, kein Aufstand, keine Doppelmacht. Bigger than Bernie hingegen zitiert Eric Blanc und nimmt dessen Position auf. Seine alternative „revolutionäre“ Strategie geht auf Karl Kautsky, den bekanntesten Theoretiker der Zweiten Internationale und Gegner Lenins und der Revolution von 1917 in Russland, zurück. Blanc argumentiert wie die Demokratischen Sozialist:innen im Allgemeinen, dass „das Doppelherrschafts-/Aufstandsmodell von Russland 1917“ für „kapitalistische Demokratien“ nicht relevant sei, und zwar mit dem üblichen liberalen Argument, dass „unter den arbeitenden Menschen die Unterstützung für die Ersetzung des allgemeinen Wahlrechts und der parlamentarischen Demokratie durch Arbeiter:innenräte oder andere Organe der Doppelherrschaft immer marginal geblieben ist.“ Das stimmt nur insofern, als keine andere Revolution des 20. Jahrhunderts auf eine Partei wie die Bolschewiki traf, die entschlossen war, sie über den Kapitalismus in Russland hinaus zu führen, und so eine Niederlage erlitt.

Blancs Alternative, die auf seiner fehlerhaften Analyse der Finnischen Revolution 1917 – 18 mit ihrer blutigen Niederlage beruht, hat ebenfalls keinen Erfolg gehabt. Das hält ihn nicht davon ab, darauf zu bestehen, dass der einzige Weg zum Sozialismus für Sozialist:innen darin besteht, „für eine allgemeine sozialistische Wahlmehrheit in der Regierung/im Parlament zu kämpfen, und (b) Sozialist:innen müssen damit rechnen, dass ernsthafte antikapitalistische Veränderungen notwendigerweise außerparlamentarische Massenaktionen wie Generalstreiks und Revolutionen erfordern, um die unvermeidliche Sabotage und den Widerstand der herrschenden Klasse zu besiegen.“

Diese defensive Revolution, die in der Realität manchmal notwendig ist (Spanien 1936), würde sich als Strategie als katastrophal erweisen, wie es in Finnland der Fall war.

Der Punkt ist, dass Blanc behauptet, dies müsse gelingen, ohne eine Doppelmacht zu schaffen. Dies ist jedoch ein Widerspruch – das Wesen jeder Revolution besteht darin, dass eine Macht eine andere besiegt und ersetzt, sie stürzt. In Wirklichkeit ist dies – wie der „schmutzige Bruch“ eine weitere Idee Blancs – eher rhetorisch als real, um die Konzentration der DSA auf Wahlen und Reformen gegen sozialistische Kritik zu verteidigen, allerdings mit größerer theoretischer Distanz. BTB 108, 103; Originalzitate von Blanc in „Why Kautsky Was Right (and Why You Should Care)“, Jacobin, und „The Democratic Road to Socialism: Reply to Mike Taber“, Cosmonaut.

16 Dieser Prozess und seine materiellen Wurzeln in der nationalen Isolation sind ausführlich dokumentiert in The Degenerated Revolution: The Rise and Fall of the Stalinist States, (London: Workers Power, 1983, 2012), siehe: https://fifthinternational.org/content/key-documents/degenerated-revolution.

17 „Die vorrangigen Aufgaben der Arbeiter:innenregierung müssen darin bestehen, das Proletariat zu bewaffnen, die bürgerlichen, konterrevolutionären Organisationen zu entwaffnen, die Kontrolle der Produktion einzuführen, die Hauptlast der Besteuerung auf die Reichen zu übertragen und den Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie zu brechen. Eine solche Arbeiter:innenregierung ist nur möglich, wenn sie aus dem Kampf der Massen hervorgeht, von kampffähigen Arbeiter:innenorganen getragen wird, von Organen, die von den am meisten unterdrückten Teilen der arbeitenden Massen geschaffen wurden“, in: „Theses on Comintern Tactics“, Fourth Congress of the Communist International, Marxists Internet Archive (MIA), [https://www.marxists.org/history/international/comintern/4th-congress/tactics.htm].

18 Marx, „IWMA rules“, 1864; Engels, „1888 Preface to the Communist Manifesto“, beide: MIA.

19 „1850 Address to the Central Committee of the Communist League“, MIA.

20 Marx, „1872 Preface“, MIA.

21 Marx, „1850 Address to the Central Committee of the Communist League“, MIA.

22 Das Gleiche gilt für Ralph Miliband, den bevorzugten antileninistischen Marxisten von Bread and Roses, [https://breadandrosesdsa.org/where-we-stand/#democratic-road].

23 Wladimir Lenin, Lecture on the 1905, MIA.

24 „Demokrat:innen verabschieden nach chaotischer Verzögerung 1,9-Milliarden-Dollar-Gesetz für die Sicherheit im Kapitol mit einer Stimme Mehrheit“, [https://www.forbes.com/sites/andrewsolender/2021/05/20/democrats-pass-19-billion-capitol-security-bill-by-one-vote-after-chaotic-delay/].

25 „AOC warnt die Demokrat:innen, sich hinter dem/r Kandidat:in zu versammeln, egal wer es ist“ [https://uk.news.yahoo.com/aoc-warns-democrats-rally-behind-221155192.html].

26 „Nationale DSA-Wahlstrategie 2021-2022“, [https://electoral.dsausa.org/national-electoral-strategy/].

27 Day und Uetrecht, Bigger Than Bernie, S. 125 – 127.

28 A. a. O., S. 60 – 61, S. 99.

29 https://fifthinternational.org/content/greece-syriza-congress-eye-witness-report.

30 https://jacobinmag.com/2017/02/rise-and-fall-socialist-party-of-america.

31 https://fifthinternational.org/content/why-there-no-socialism-united-states%E2%80%9D.

32 „Putting the Break in the Dirty Break“, Podiumsdiskussion organisiert von Reform & Revolution. https://www.youtube.com/watch?v=yS8eW83NGEk&t=22s.

33 A. a. O., ab Minute 97.

34 Kim Moody, On New Terrain (Chicago, Haymarket, 2017), S. 162.

35 Engels, „England in 1845 and 1885“, MIA.




Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Vorwort der Redaktion

Als der hier neu übersetzte Artikel „Gramsci and the revolutionary Tradition“ vor 36 Jahren in der Zeitschrift „Permanent Revolution“ unserer Schwesterorganisation „Workers Power“ aus Anlass des 50. Todestages von Antonio Gramsci erschien, ging gerade eine der vielen „Gramsci-Wellen“ in der internationalen Linken ihrem Ende entgegen. Es sollten noch einige weitere bis zum heutigen Tage folgen. Deshalb lohnt sich die Lektüre dieses historisch sehr genauen Artikels zum tatsächlichen politischen Wirken Gramscis ungemein, um seine politischen Ideen von den imaginären Zusätzen zu trennen, die sich inzwischen in den besagten Rezeptionswellen in Schlagwörtern wie „Hegemonie“, „Politik des Stellungskrieges“, „Zivilgesellschaft“, etc. niedergeschlagen haben.

Gramsci befand sich seit 1926 in faschistischer Haft, in der er – in vorsichtig verklausulierter Sprache – weiterhin politische Schriften verfasste, die „Gefängnishefte“. Die mehrdeutigen Ausdrücke, die er dabei benutzte, um Begriffe wie „Diktatur des Proletariats“ oder „bürgerliche Ideologie“ zu vermeiden, wurden in diesen späteren Rezeptionen geradezu zu einer Neuerfindung des Marxismus hochstilisiert. Mit Begeisterung wurde darin eine „Modernisierung“ gesehen, die die verpönte „Sprache“ des „dogmatischen Traditionsmarxismus“ vermeidet. Wie weit dies von den tatsächlichen Intentionen Gramscis entfernt ist bzw. mit seinen tatsächlichen politischen Schwächen in Verbindung steht, wird in dem folgenden Artikel herausgearbeitet.

In den 1970er Jahren hatte die „Kommunistische Partei Italiens“ (KPI) ihren ehemaligen Vorsitzenden (1924 – 1927) einmal wieder neu „entdeckt“. Im Zuge der Integration der KPI in das politische Krisenregime der 1970er Jahre wurde das Konzept der „Diktatur des Proletariats“ zugunsten der Zielsetzung einer Umgestaltung Italiens unter „Hegemonie“ der KPI aufgegeben. Luciano Gruppis „Gramsci. Philosophie der Praxis und die Hegemonie des Proletariats“ (1972 unter der Ägide des langjährigen Chefideologen Pietro Ingrao herausgegeben; auf Deutsch: 1977, VSA) ist Ausdruck des Versuchs der Parteiführung, ihren „Historischen Kompromiss“ mit der italienischen Bourgeoisie als Weiterentwicklung der bereits von Gramsci verfolgten „Überwindung“ der Fixierung der kommunistischen Parteien auf das Modell der Russischen Revolution darzustellen.

Schon in der Nachkriegszeit hatte die KPI-Führung um Togliatti den zunächst vergessenen Gramsci als Wegbereiter der Volksfrontpolitik „wiederentdeckt“. Wie der folgende Artikel zeigt, waren beide Vereinnahmungen Gramscis nicht berechtigt. Gramscis politische Revision (die er als Parteivorsitzender verfolgte) war tatsächlich die der „strategischen Einheitsfront“ zwischen Kommunist:innen und Reformist:innen mit dem Ziel einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung als erster Etappe der Diktatur des Proletariats. Er hegte im faschistischen Italien keinerlei Illusionen in Bündnisse mit der Bourgeoisie, allerdings ein illusorisches Verständnis der revolutionären Dynamik übergreifender Bündnisse „der Linken“ – und damit tatsächlich der Notwendigkeit, die Einheitsfront als Vehikel des Kampfes zum Bruch auch mit dem Reformismus und Zentrismus zu gestalten.

Einen anderen Interpretationsstrang von Gramsci findet man im „Neomarxismus“ der Nach-68er-Bewegung, z. B. begründet in der „strukturalistischen“ Marxexegese. So führte Luis Althusser (z. B. in „Für Marx“, 1968, Suhrkamp) Gramsci und das Hegemoniekonzept als Beleg dafür an, dass im „westlichen Marxismus“ schon früher die Unterschätzung der „Überbauphänomene“ erkannt wurde. In seinem Bestreben, Marx vom „Hegel’schen Objektivismus“ zu reinigen, ersetzte Althusser die Dialektik von Ökonomie und politisch-ideologischem Überbau durch ein System vielfältiger Widersprüche, in denen den Zusammenstößen im Überbau (den „ideologischen Staatsapparaten“) immer mehr Gewicht zukommt gegenüber den zusehends entpolitisierteren ökonomischen Klassenkämpfen. Von dort gibt es eine gerade Linie zur Transformationspolitik (im Gefolge von Poulantzas), die den Verschiebungen der Kräfteverhältnisse durch „revolutionäre Realpolitik“ in den „zivilgesellschaftlichen Strukturen“ die Rolle der vorantreibenden Kraft bis hin zum „revolutionären Bruch“ beim Übergang zum Sozialismus zuschreibt (zur näheren Kritik hierzu siehe den Artikel „Modell Oktoberrevolution“ im Revolutionären Marxismus 49).

So wenig man eine solche Bewertung von politischen und kulturellen Mikrokämpfen im „antikapitalistischen Stellungskrieg“ Gramsci direkt zuschreiben kann, so ist in seiner Konzeption der Hegemonie tatsächlich eine methodische Schwäche angelegt. Während bei Marx die Ideologiekritik und die daraus folgende Analyse von Überbauphänomenen materialistisch-dialektisch aus der Kritik der politischen Ökonomie abgeleitet wird, so ist dies bei Gramsci in den „Gefängnisheften“ wenig ausgeführt bzw. kann als „nur letztlich bestimmt“ verstanden werden. Wie im Artikel herausgearbeitet, kann es hier zu einer, von seinem idealistischen philosophischen Lehrmeister Benedetto Croce inspirierten Überbewertung des „subjektiven Faktors“ kommen, dem in den vielfältigen politischen Strukturen von Kultur, Wissenschaft, politischen Institutionen etc. eine weitgehende Selbstständigkeit eingeräumt wird.

Dies wird um so auffälliger, wenn man Gramscis Ideologiekritik mit der seines unmittelbaren Zeitgenossen und Kominterngenossen Georg Lukács vergleicht. Lukács hatte in den frühen 1920er Jahren mit der Theorie der „Verdinglichung“ dargelegt, wie die in der kapitalistischen Ökonomie (insbesondere in der Zirkulationssphäre) angelegten Denkmuster (Fetischformen) Politik und Alltag derartig durchdringen, dass jegliche „Alternativen“ oder „Gegenmachtansätze“ immer wieder in das herrschende bürgerliche System eingegliedert und zu systemstabilisierenden Faktoren umstrukturiert werden (Gramsci hatte im Konzept der „passiven Revolution“ übrigens eine ähnliche Bemerkung gemacht, diese stellt aber letztlich einen Fremdkörper in seiner Hegemoniekonzeption dar). Lukács’ zog die Schlussfolgerung (in „Geschichte und Klassenbewusstsein“), dass nur vom Standpunkt des revolutionär organisierten Proletariats aus so etwas wie eine unabhängige, über die Kapitalreproduktion hinausgehende Gegenposition möglich ist. Nur ein revolutionäres Proletariat unter der Führung einer kommunistischen Partei kann auch die Antinomien und Rückführungsmechanismen des bürgerlichen Bewusstseins und seiner gewaltbewehrten Organe überwinden und einen wirklichen „revolutionären Bruch“ mit dem Bestehenden ermöglichen.

Auch wenn „Geschichte und Klassenbewusstsein“, wie Lukács selbstkritisch schon 1925/26 in „Chovstismus und Dialektik“ anmerkt, etliche Schwächen enthielt, so stellt es bis heute einen wichtigen Referenzpunkt der Kritik und Abgrenzung von sich auf Gramsci berufenden Gegenmachtkonzepten dar.

Mehr noch als vergangene Gramsci-Wellen ist die gegenwärtige von einer weitgehenden Unkenntnis, um nicht zu sagen Ignoranz, gegenüber Gramscis eigener politischer und theoretischer Entwicklung geprägt. Umso umstandsloser lassen sich auch daher seine Konzepte in aktuelle reformistische Strategien integrieren. Der folgende Artikel umfasst daher sowohl eine historische Einschätzung wie eine marxistische Kritik Gramscis, die sich einerseits gegen seine nicht-revolutionäre Vereinnahmung, andererseits aber auch gegen eine unkritische Übernahme seines Werkes richtet.

Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell

Es gilt, den italienischen Revolutionär Antonio Gramsci zu würdigen. 1926 wurde er von Mussolinis Faschisten verhaftet und zwei Jahre später nach einem Schauprozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Seine Entlassung aus der Haft 1937 überlebte er, da er im Gefängnis schwer erkrankt war, nur kurz. Er starb im April desselben Jahres.

Das Gedenken an seinen Tod hat einmal wieder ganz verschiedenen Tendenzen auf der Linken die Gelegenheit verschafft, um sein Erbe zu streiten. Marxism Today (MT), die Zeitschrift der eurostalinistischen CPGB, erinnerte ihr Publikum in ihrer Aprilausgabe daran:

„Ohne Zweifel ist Gramsci der wichtigste einzelne theoretische Einfluss auf Marxism Today im Verlauf des letzten Jahrzehntes gewesen.“ (1)

Dieser Einfluss wurde durch die italienische kommunistische Partei gefiltert (KPI). Doch war die KPI nicht immer so bereit gewesen, Gramscis Beitrag zum Marxismus anzuerkennen. Es vergingen zehn Jahre nach Gramscis Tod, bevor die KPI sich entschied, eine Ausgabe von Gramsci Gefängnisnotizbüchern zu veröffentlichen, passend zensiert, um irgendwelche günstigen Verweise auf Trotzki oder Andeutungen von Opposition zu Stalins Politik in den 1930er Jahren zu entfernen.

Aber die Krise des Stalinismus nach 1956 schuf ein ideologisches Vakuum in den Reihen der westlichen stalinistischen Parteien. In Gramsci fand die KPI einen „italienischen Marxismus“, der der Erwartung gerecht werden konnte. Er konnte Kontinuität mit der Gründung der KPI beanspruchen, doch sich von den „Übertreibungen“ des Stalinismus in den 1930er Jahren distanzieren. Er konnte behaupten, in Gramscis Arbeit eine Kritik am „Dirigismus“ zu finden, mit deren Hilfe der monolithische Anspruch des Stalinismus abgelehnt werden konnte, ohne in Sozialdemokratismus zu verfallen oder der revolutionären (d. h. trotzkistischen) Kritik am Stalinismus Zugeständnisse zu gewähren.

Die KPI argumentierte, dass Gramscis Vorstellung von „Hegemonie“ ihre Politik in den 1970er Jahren für parlamentarische Unterstützung der arbeiter:innenfeindlichen Regierung der Christdemokratie (der „historische Kompromiss“) bekräftigte.

In den letzten paar Jahren aber hat die reformistische Laufbahn der KPI diese Partei dazu geführt, einen gewissen Abstand zwischen sich und Gramsci zu setzen. Anfang 1987 behauptete der KPI-Chef Natta, dass Gramsci auch „Fundamentalist“ war. Es ist daher keine Überraschung, dass Antistalinist:innen es zunehmend für normal halten, Gramscis Erbe für sich zu beanspruchen.

Vor fünfzig Jahren sagte der italienische Trotzkist Pietro Tresso in einem Nachruf auf Gramsci, dass es lebenswichtig war, den Stalinist:innen nicht zu erlauben, „Gramscis Persönlichkeit für ihre eigenen Zwecke auszunutzen“ (2). Dies gilt weiterhin. Aber der moderne Zentrismus versucht, weiter zu gehen. Einer der Führer:innen des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, Livio Maitan, versucht bspw. mit seiner Würdigung des Lebens des italienischen Revolutionärs im mandelistischen Rückblick zu begründen, dass es einen „vollkommen revolutionären Kern“ in Gramscis Arbeit gibt, und dass „revolutionäre Marxist:innen das Recht und die Pflicht haben, das Erbe Antonio Gramscis zu beanspruchen“. (3)

Zwar zieht die Sozialistische Arbeiter:innenpartei (SWP/GB) den Stalinismus korrekt zur Rechenschaft für den Versuch, Gramsci als Reformisten zu schildern, doch sie ist wie Maitan gänzlich damit gescheitert, aus dem Leben des italienischen Revolutionärs eine kommunistische Bewertung seines Beitrages zum Marxismus zu verallgemeinern. John Molyneux sagt von den Jahren 1922 – 1926:

„Selbst ein ungezwungener flüchtiger Blick auf Gramscis Schriften dieser Periode zeigt, dass er fest auf dem Terrain der Revolution bleibt.“ (4)

Chris Harmans Pamphlet für die SWP – Gramsci gegen den Reformismus – bezieht eine ähnlich einseitige Sicht auf Gramsci. Für Harman reicht es aus, dass Gramsci an Revolution, nicht Reform glaubte, nie die Straße zum Aufstand verließ und beides anerkannte – die Notwendigkeit für eine Partei bolschewistischen Typs wie die Samenkörner für einen  Arbeiter:innenstaat, die innerhalb der Fabrikrätebewegung angelegt waren.

Im Wesen legen Harman, Molyneux und Maitan nur einen umgekehrten Fehler zu den Stalinisten an den Tag. In ihrer Darstellung ist Gramscis Beitrag zur KPI bis zu seiner Verhaftung unproblematisch und zeigt ihn ehrlich auf dem Boden der revolutionären Komintern stehend. Die „Lyon-Thesen“ von 1926 werden als Gipfel seiner politischen Arbeit gewertet. Seine Arbeit nach dieser Zeit, wie in den Gefängnisnotizbüchern vorgefunden, enthält zwar gewisse Irrtümer, stellt ihrer Meinung nach jedoch keinen Bruch mit dem revolutionären Gramsci dar. Für Maitan gibt es „eine unleugbare Kontinuität in Gramscis Denken und Herangehensweise seit seinen Schriften in den Jahren der Russischen Revolution bis zu den Notizen von 1935, als die Notizbücher endeten.“ (5). Gemäß Harmans Sicht haben die Faschisten „ … ihn daran gehindert, das Potenzial seines Marxismus, das er in L’Ordine Nuovo und den ,Lyon-Thesen’ zeigte, voll zu verwirklichen.“ (6)

Praktisch dienen diese Resümees nur dazu, die Wahrheit von Trotzkis Sprichwort zu unterstreichen, dass es für Zentrist:innen sehr schwierig ist, Zentrismus in anderen zu erkennen. Es ist notwendig, die Dinge tiefer zu analysieren. Genau weil die gegenwärtige SWP oder das VS der IV. Internationale Sachverhalte aus einer Reihe revolutionärer Prinzipien heraus beurteilen, statt ihre eigenen (oder andere) Beiträge mit dem Maßstab des Programms zu messen, scheitern sie daran, Gramscis politische Theorie und Praxis vor dem Hintergrund von Führung und Politik der Komintern in der Periode 1919 – 26 zu bewerten.

Aus dieser Perspektive analysiert, ist es möglich zu zeigen, dass Gramsci zwar nie Reformist war, sich seine Politik dennoch in ernsthaftem Maße von Praxis und Theorie Lenins und Trotzkis unterschied, während diese in der Leitung der Komintern waren. Kurz, es kann gesehen werden, dass Gramsci in der Tat eine klassische zentristische Entwicklung durchlief, in seinem Fall vom Ultralinkstum zum Rechtszentrismus.

Gramsci 1915 – 21

In Ales auf der Insel Sardinien geboren, ging Gramsci 1911 nach Turin, um an der Universität zu studieren. Dort sollte er in Kontakt mit der mächtigen Turiner Arbeiter:innenbewegung kommen, deren Schwerkraftzentrum in den FIAT-Autobetrieben und verwandten Industrien zu finden war. 1913 trat er der Sozialistischen Partei (PSI) bei.

Immer mehr in die Arbeit der Partei eingebunden, gab Gramsci im November 1915 sein Studium auf, um sich dem Redaktionsstab der PSI-Zeitung Il Grido del Popolo (Der Schrei des Volkes) anzuschließen. Innerhalb von Monaten schrieb er für die Turiner Ausgabe der offiziellen PSI-Tageszeitung Avanti!. In diesen Jahren als aktiver Kämpfer, aber bevor die Russische Revolution von 1917 die Fundamente der europäischen Sozialdemokratie erschütterte, war Gramscis Politik beträchtlich entfernt von jener Lenins und der Bolschewiki trotz der Tatsache, dass sich für Italien und Russland sehr ähnliche strategische und taktische Aufgaben stellten. Zu der Zeit, als Gramsci ein bewusster Revolutionär wurde, 1915, waren die Bolschewiken durch die Erfahrung von einer Revolution und Gegenrevolution gegangen und  hatten in deren Verlauf ihre Positionen zur revolutionären Partei und der Agrarfrage eindeutig formuliert. Die Bedeutungen dieser Positionen entgingen den Linken in der PSI bis 1921. Um 1915 begriff Lenin die Gründe für den Zusammenbruch der Zweiten Internationale angesichts des imperialistischen Kriegs und die Notwendigkeit eines vollständigen politischen Bruchs. Gramsci und die Linke in der PSI missachteten Lenins Einstellung zu diesen Ereignissen.

Gramscis eigene politische Lehrzeit war merklich anders als Lenins gewesen. Es war nicht die klassisch „orthodoxe“ marxistische Tradition von Kautsky und der deutschen SPD oder Plechanow, die Gramscis Hintergrund bildeten, sondern eher eine besondere, italienisierte Version von Marxismus, der seinen Weg zu Gramsci durch die Arbeiten von Croce, Labriola und Gentile fand. An diese Personen wandte sich Gramsci, um nach einem Heilmittel für die Schwächen zu suchen, die er in Praxis und Theorie der Politik der Rechten in der  Zweiten Internationale und der PSI wahrnahm. Gramsci glaubte, dass die Passivität und der Fatalismus dieser Strömung mit einem ursprünglichen Mangel im historischen Materialismus von Marx und Engels zusammenhingen. Er war der Ansicht, dass Marxens Kritik der politischen Ökonomie, wie im Kapital zu finden, in der Tat mechanischer Materialismus war, der die Rolle und die Macht des subjektiven Faktors (die arbeitende Klasse) ignorierte, sich ihrer eigenen Ausbeutung bewusst zu werden und zum Umsturz eines Systems ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Bedingungen zu erheben. So sah er den Materialismus des Marxismus als ungenügend und eine Rückkehr zu Hegel als notwendig an, die Croce befürwortete, um der Theorie eine Dosis Idealismus zu injizieren und eine adäquate Einschätzung des subjektiven politischen Faktors in revolutionärer Politik zu leisten.

Lenins und Trotzkis Ansätze zu den Problemen der russischen Revolution waren im Vergleich damit sehr verschieden. Bereits 1899 argumentierte Lenin in Polemiken mit den Narodniki (Volkstümlerrichtung) gegen ihre mechanistische Auslegung von Marxens Politökonomie. Sie führte die Narodniki zur Schlussfolgerung, dass die Rückständigkeit von Russlands innerem Markt bedeutete, die Entwicklung des Kapitalismus in Russland könne vermieden werden. Schon 1905 umriss Trotzki in seiner Theorie der „permanenten Revolution“, dass der russische Kapitalismus im Kontext der ungleichen und kombinierten Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab verstanden werden musste. Im Bündnis mit dem europäischen, besonders dem französischen, Kapitalismus hatte die zaristische Autokratie die schnelle Ausbreitung des Kapitalismus in Russland beaufsichtigt. Genau deswegen bestritten Lenin wie auch Trotzki die damals vorherrschende Sichtweise des Marxismus, die darauf bestand, dass wegen dieser Entwicklung der russischen Bourgeoisie die Führung der bürgerlichen Revolution gegen den Zaren zufalle.

Sie bewiesen, dass die Schwäche einer einheimischen russischen Bourgeoisie sie dazu bringen würde, einen Block mit der Reaktion gegen die Arbeiter:innenklasse einzugehen, angesichts des gesellschaftlichen Gewichts des Proletariats und eines wirklichen Kampfes um bürgerlich-demokratische Forderungen.

Während für Gramsci die Revolution im rückständigen Italien trotz seiner gesellschaftlichen Verhältnisse durch einen Willensakt durchgeführt werden musste, würde für Lenin und Trotzki die Revolution im rückständigen Russland genau wegen der Widersprüche in der materiellen  Struktur des russischen Kapitalismus geschehen. Die Fehler in Gramscis methodologischem Begriff von Marxismus verrieten eine wirkliche Schwäche in seinem Verständnis vom historischen Materialismus. Für eine Weile wurde in den 1920er Jahren, als Gramsci zu den Positionen der revolutionären Komintern hingetrieben wurde, die Bedeutung dieser Schwächen verdeckt. Deren volle Bedeutung sollte erst vollständig in den Gefängnisnotizbüchern in seiner Diskussion über „Zivilgesellschaft“ und den „Staat“ enthüllt werden.

Gramsci und die Russische Revolution

Mit dieser Methode begrüßte Gramsci die Russische Revolution von 1917. Während er sie willkommen hieß als eine „proletarische Tat …  welche natürlich in einem sozialistischen Regime resultieren muss“ (7), betrachtete er sie als Bestätigung für seine eigene Sichtweise von Marxismus. Er sah sie als eine „Revolution gegen ,Das Kapital’“ und erblickte in der Arbeit der Bolschewiki „die Fortsetzung italienischen und deutschen idealistischen Gedankenguts, welches bei Marx von positivistischen und naturalistischen Verkrustungen verunreinigt wurde.“ (8)

Doch trotz dieses Angriffes auf den „Marxismus“ richtete er sich methodologisch in Wahrheit gegen die menschewistische Strategie, die glaubte, es existiere eine: „ … schicksalhafte Notwendigkeit für die Bildung einer Bourgeoisie in Russland, für den Beginn einer kapitalistische Ära, bevor das Proletariat an das Aufgreifen eigener Klassenforderungen, oder sogar an die Durchführung seiner eigenen Revolution denken könnte.“ (9)

In Lenin sah er die Art von Anführer:in, die das Geschichtstempo durch eine Tat organisierten Willens eher beschleunigen konnte, als jemand, der/die die sozialen Widersprüche in der russischen Gesellschaft bewusst zum Ausdruck bringen konnte.

Als sich die revolutionäre Krise in Italien in den Jahren nach der Russischen Revolution vertiefte, hatte Gramsci Gelegenheit, weiter über die Lektionen nachzudenken, die von Lenin gelernt werden konnten. Im August 1917 führten  Arbeiter:innen in Turin einen Aufstand gegen die örtliche Staatsgewalt, der von einem allgemeinen Streik in der ganzen Region Piemont unterstützt wurde. Obwohl schließlich der Aufstand um den Preis von 500 Toten und weiteren 2.000 Versehrten niedergeschlagen wurde, verweigerten sich die Turiner Arbeiter:innen ihrer Unterwerfung . Die Arbeiter:innenbewegung erhob sich wieder in einer beispiellosen Art während der Jahre 1919 – 1920. In diesen Jahren wuchs die PSI von 81.000 1919 auf 216.000 Mitglieder 1920. Der Gewerkschaftsverband unter der Leitung der PSI – die GCL – wuchs explosionsartig von 320.000 auf 2,3 Millionen zwischen 1914 und 1920.

Im April 1919 gründete Gramsci mit anderen die Zeitung L’Ordine Nuovo (Die Neue Ordnung). Sehr schnell steuerte Gramsci sie weg von einer einfachen Kost abstrakten Propagandismus‘ mit einer starken Betonung auf kulturellen Themen zu einer Zeitschrift, die die wachsende Bewegung von Fabrikausschüssen angelehnt an die Sowjets in Russland umzugestalten suchte. Im Juni schrieb er über den Arbeiter:innenstaat:

„Dieser Staat entspringt nicht durch Zauber: die Bolschewiki arbeiteten acht Monate daran, ihre Slogans zu verbreiten und zu verfeinern: alle Macht den Sowjets; die Sowjets waren den russischen Arbeiter:innenn schon 1905 bekannt. Italienische Kommunist:innen müssen die russische Erfahrung schätzen lernen und so Zeit und Mühe sparen.“ (10)

Im Oktober 1919 gliederte die PSI sich der Komintern an und im folgenden Monat bestritt sie eine allgemeine Wahl auf einem Programm, das die Gewaltherrschaft des Proletariates forderte. Sie gewann den größten Block von Sitzen im neuen Parlament – 156 Sitze von 508. Anfang 1920 schickte die PSI sich an, die Kontrolle in über der Hälfte der Stadträte zu gewinnen. Ohne Frage suchten die italienischen Arbeiter:innen den Pfad der Revolution.

Bis zum Frühling 1920 hatte sich der Kampf in den Fabriken zu einem höheren Stadium mit der Bildung der Innenausschüsse aufgeschwungen, die den Arbeiter:innen ermöglichten, ganze Bereiche der Fabrik zu kontrollieren. Den ganzen Sommer 1920 lang waren weit mehr als eine halbe Million Arbeiter:innen in die Ausschüsse und Räte eingebunden. Gramsci begriff das, was auf dem Spiel stand, genau:

„Unter den Kapitalist:innen war die Fabrik ein Miniaturstaat, regiert durch einen despotischen Stab. Heute, nach den Arbeiter:innenbesetzungen, ist diese despotische Macht in den Fabriken zerschlagen worden; das Recht zu wählen ging in die Hände der arbeitenden Klasse über. Jede Fabrik, die über Industrieexekutiven verfügt, ist ein illegaler Staat, eine proletarische Republik, die von Tag zu Tag lebt, in Erwartung des Ausgangs der Ereignisse.“ (11)

Aber dieses war der Kern der Sache: Wie den „Ausgang der Ereignisse“ lenken? Wie Doppelmacht in den Fabriken in eine Kampfansage gegen die nationale Staatsmacht verwandeln? Hier wurden Gramscis Schwächen in der Parteifrage grausam freigelegt.

Bestimmt war die maximalistische Führung um Serrati schuld an der Ablehnung, die Verantwortung für die Organisierung der arbeitenden Klasse durch die Partei auf sich zu nehmen, um sich auf die Eroberung der Staatsmacht vorzubereiten. Aber Gramsci hatte immer versäumt, sich um eine revolutionäre kommunistische Partei zu bemühen. Sogar nach dem Anschluss an die Komintern widerstrebte es Gramsci, den reformistischen Turati-Flügel bis zum Bruchpunkt von Ausschlüssen zu bekämpfen. Er teilte sogar nicht Bordigas Einsicht ins Erfordernis, sich zu organisieren, um für seine fraktionellen Ansichten im nationalen Maßstab innerhalb der PSI zu streiten.

Es ist dann eine bemerkenswerte Tatsache, dass Harman in seinem Pamphlet über die Schwächen Gramscis und der Partei hinweggleitet und in Bezug auf die Rolle marxistischen Eingreifens im Klassenkampf sagt:

„Seine eigene Aktivität 1919 – 20 und 1924 – 26 war ein leuchtendes (obwohl natürlich nicht perfektes) Beispiel für eine solche Intervention.“ (12)

Lenin und Trotzki waren bezüglich des Versagens aller Teile der PSI viel härter. Trotzki sagte über die PSI: „Die Partei betrieb Agitation für die Sowjets, für Hammer und Sichel, für Sowjetrussland usw. Die italienische Arbeiter:innenklasse nahm dies massenhaft ernst und betrat die Straße offenen revolutionären Kampfes. Aber genau im Moment, als die Partei zu allen praktischen und politischen Schlüssen aus ihrer eigenen Agitation gekommen sein sollte, erschrak sie vor ihrer Verantwortung und lief feige weg, ließ dabei die rückwärtigen Reihen des Proletariates ungeschützt.“ (13)

Lenin war ebenso barsch: „Zeigte ein/e einzelne/r Kommunist:in, was in ihm/r steckt, als die Arbeiter:innen die Fabriken in Italien eroberten? Nein. Damals gab es als noch keinen Kommunismus in Italien.“ (14)

In der Tat urteilte Gramsci rückblickend auf sich viel härter, als Harman dies tun will. 1924 schrieb er:

„1919/20 machten wir äußerst schwere Fehler, für die wir schließlich heute zahlen. Aus Angst,  Emporkömmlinge und Karrierist;innen gerufen zu werden, bildeten wir keine Fraktion und organisierten diese überall in Italien nicht. Wir waren nicht bereit, den Turiner Räten ein autonomes Direktivzentrum zu geben, das einen riesigen Einfluss überall im Land ausgeübt haben könnte, aus Angst vor einer Spaltung in den Gewerkschaften und, vorzeitig aus der Sozialistischen Partei ausgestoßen zu werden.“ (15)

Diese  Qualität von Selbstkritik – unbedeutend, wie eng persönlich mit den Ereignissen verbunden und als wie kostspielig sich die Fehler erwiesen –, eine Güte, die allen großen Revolutionär:innen zukommt, befähigte Gramsci, sich zur Komintern zu wenden.

Die Gründung der KPI

Der Misserfolg der PSI in der revolutionären Situation in Italien 1920 zwang wenigstens die Linke in der Partei, schließlich mit der reformistischen Führung zu brechen. Die Kommunistische Partei Italiens (KPI) wurde dann im Januar 1921 in Livorno gebildet. Sie wurde in einer Periode der Ebbe im internationalen Klassenkampf geschaffen, in Italiens Fall einer Periode erstarkender Reaktion und des Wachstums des Faschismus.

Auf ihrer Gründungskonferenz hatte die KPI zwischen 40.000 und 60.000 Mitglieder. Zur Zeit von Mussolinis Marsch auf Rom (ein faschistischer Putsch) im Oktober 1922 war die Partei auf 25.000 geschrumpft. Unter der Auswirkung der ersten Runde von Unterdrückung, die folgte, sank die Mitgliedschaft auf ungefähr 5.000 Anfang 1923.

In diesen schwierigen Jahren befand sich die Führung der KPI in Konflikt mit der der Komintern, als sie versuchte, ihre Perspektiven für die frühen 1920er Jahre zu entwickeln. Zur Zeit der Formation der KPI hatte es schon zwei Kominternkongresse gegeben (1919, 1920). Die Perspektiven und die Taktiken, die auf diesen umrissen wurden, waren entworfen worden, um vollen Vorteil aus der Krise des Bürgertums in Europa und der Schwäche der Sozialdemokratie zu ziehen. Es war eine Zeit entschiedener Brüche mit dem Reformismus und der Entstehung kommunistischer Parteien, die sich auf die Machtergreifung vorbereiteten.

Um die Zeit des Gründungskongresses der KPI und Dritten Kongresses der Komintern im Juni/Juli 1921 veränderte sich die Situation. Gelegenheiten waren versäumt worden, die Bourgeoisie hatte das Schlimmste ertragen und überlebte. Sie gewann Zuversicht und ging zurück in die Offensive. Die Sozialdemokratie war trotz ihrer verräterischen Hilfe für die herrschende Klasse gestärkt worden. Eine Neueinschätzung von Perspektiven und Taktiken war wesentlich.

Diese Neubeurteilung erfolgte am klarsten um die Frage der Einheitsfronttaktik herum. Diese Taktik, von den Bolschewiki in den Jahren angewandt, die bis zur Revolution führten, wurde auf den Dritten und Vierten Kongressen der Komintern 1921 und 1922 in ein System gebracht und verallgemeinert. Eher mit Reformismus als Kommunismus in einflussreicherer Position war es wesentlich, die arbeitende Klasse von reformistischen und zentristischen Organisationen zu brechen.

Die Resolution zur Taktik auf dem Vierten Kongress stellte fest:

„Die systematisch organisierte internationale kapitalistische Offensive gegen alle Gewinne der arbeitenden Klasse ist über die Welt wie ein Wirbelwind gefegt … zwingt die arbeitende Klasse, sich zu verteidigen.

Es gibt infolgedessen ein offensichtliches Bedürfnis für die Einheitsfronttaktik. Die Losung des Dritten Kongresses – heran an die Massen! – ist jetzt relevanter denn je … Die Anwendung der Einheitsfronttaktik bedeutet, dass die kommunistische Vorhut an der vorderen Front des Tageskampfs der breiten Massen für ihre lebenswichtigsten Interessen steht. Um der Sache dieses Kampfes willen sind Kommunist:innen sogar bereit, mit den Streikbrecherfunktionär:innen der Sozialdemokratie zu verhandeln.“ (16)

Natürlich war eine erbarmungslose Kritik an den Mängeln und dem Verrat der Spitzen von reformistischen Parteien und Gewerkschaften zwingend notwendig, wenn diese gemeinsame Handlung zur Verstärkung der kommunistischen Partei führen sollte.

Die PSI lehnte diese Einstellung ab. Überdies gab es 1921 kaum einen wägbaren Unterschied zwischen der politischen Perspektive von Gramsci und der ultralinken Führung, die um Amadeo Bordiga gruppiert war. Beide widersetzten sich Versuchen, die Linie der Dritten und Vierten Kominternkongresse vollständig auszuführen, und wurden stattdessen zu den ultralinken Positionen Bucharins hingezogen, der in Trotzkis Worten:

„ … gegen die Politik der Einheitsfront und der Übergangsforderungen stritt und mit seinem mechanischen Verständnis von der Dauerhaftigkeit des revolutionären Prozesses fortfuhr.“ (17)

Im Dezember 1921 erstellte der Leitende Ausschuss der Kommunistischen Internationale (EKKI) ein Dokument, das seine Einheitsfrontpolitik gegenüber den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften umriss. Im Januar 1922 veröffentlichte die Komintern einen Aufruf an die internationale Arbeiter:innenschaft, der darauf aufbaute. Ein Monat später fand eine Versammlung des erweiterten EKKI mit anwesenden Vertreter:innen der KPI statt, um die Frage der Einheitsfront zu diskutieren, bei der die KPI-Delegierten mit ihrer Meinung in einer Minderheit waren.

Zur gleichen Zeit wie diese Ereignisse entwarfen die KPI-Führer:innen einschließlich Gramsci Thesen für den bevorstehenden Kongress der KPI in Rom. Sie wurden im Januar 1922 veröffentlicht und enthüllten, wie weit sich eigentlich die KPI von der Denkweise der Komintern entfernt befand.

Einerseits akzeptierten die „Thesen von Rom“, es gebe keinen Widerspruch zwischen:

„ … Teilnahme an den Kämpfen für eingeschränkte und begrenzte Ziele und der Vorbereitung des letztendlichen und allgemeinen revolutionären Kampfes.“ (18)

Zu diesem Zweck stimmte die KPI auch zu:

„ … am Organisationsleben in allen Formen von wirtschaftlicher Organisation des Proletariats, die offen für Arbeiter:innen aller politischen Überzeugungsrichtungen sind … (teilzunehmen), … was bedeutet, sich in die intensivsten Kampfhandlungen zu begeben und den Arbeiter:innen zu helfen, die nützlichsten Erfahrungen daraus herzuleiten.“ (19)

Aber die KPI lehnte es ab, Abmachungen für gemeinsames Handeln zwischen verschiedenen politischen Parteien trotz der Tatsache ins Auge zu fassen, dass die Mehrheit der Arbeiter:innenvorhut in Italien weiterhin der PSI die Treue hielt, wohingegen die KPI eher:

„die Forderungen (unterstützen würde), die von den linken Parteien vorgeschlagen werden … von solcher Art, die geeignet sind, ans Proletariat zu appellieren, direkt zu mobilisieren, sie auszuführen …  die kommunistische Partei wird sie als Ziele für eine Koalition aus Gewerkschaftsorganen vorschlagen und vermeiden, Ausschüsse zu bilden, um den Kampf und die Agitation zu lenken, in denen die kommunistische Partei neben anderen politischen Parteien vertreten und tätig wäre.“ (20)

Sie glaubte, nur so bliebe die KPI: „ … frei  von irgendeinem Anteil an Verantwortung für die Aktivität der Parteien, die mündlich Unterstützung für die Sache des Proletariates durch Opportunismus und mit gegenrevolutionären Absichten ausdrücken.“ (21)

Dieser Unterschied zwischen Gewerkschaft und politischen Blockgebilden war ein künstlicher, geht man von einem korrekten Verständnis der Einheitsfront aus. Ein solcher Ansatz geht davon aus, sich für beschränkte politische oder wirtschaftliche Forderungen abzumühen, wenn es breite Schichten in einem Kampf um diese Forderungen mobilisieren kann und ihre Durchsetzung ein begrenzter Gewinn für die Arbeiter:innenklasse wäre und außerdem ihre politische Unabhängigkeit und Organisation stärken und das Proletariat weiter so auf den Revolutionspfad bringen würde. Die Kommunist:innen übernehmen keine Verantwortung für den Misserfolg der Sozialist:innen weder in der wirtschaftlichen noch der politischen Sphäre.

Die Gefahr des KPI-Ansatzes ist, dass er Opportunismus in Verbindung zur gewerkschaftlichen Einheitsfront in sich birgt, nur um von einem starren Sektierertum auf politischem Gebiet aus Furcht vor den Folgen solchen Opportunismus’ für die kommunistische Partei, also mit einem anderen Fehler begleitet zu werden. Zum Beispiel gaben die römischen Thesen an:

„Kommunist:innen, die an Kämpfen in proletarischen wirtschaftlichen Körperschaften teilnehmen, die von Sozialist:innen, Syndikalist:innen oder Anarchist:innen geführt sind, werden sich nicht weigern, ihren Handlungen zu folgen, außer wenn die Massen als Ganzes in einer spontanen Bewegung dagegen rebellieren sollten.“ (22)

Es ist diese Einstellung zur Spontaneität, eingemauert in den Grundsteinen von Gramscis Politik, die das Ultralinkstum der KPI anstiftete. Jahre später gab Gramsci zu, dass solche Positionen ‚m Grunde durch Croces Philosophie inspiriert‘ wurden (23). Spontane wirtschaftliche oder Gewerkschaftskämpfe sind an und für sich gut und ihnen kann unkritisch gefolgt werden. Politische Kämpfe außer unter der Führung der KPI sind es nicht. Aber „bittere Polemiken“ und Prophezeiungen vom Verrat werden die Massen schließlich dahin führen, mit der PSI zu brechen. Das war die KPI-Methode.

Die doppelten Gefahren von Opportunismus und Sektierertum kommen eindeutig in einer Passage der Thesen durch, die die Methode der Einheitsfront ganz falsch auf die Reihe bringt:

„Sie [die KPI] kann keine Taktik mit einem gelegentlichen und vorübergehenden Kriterium vorschlagen und  damit rechnen, dass sie anschließend dazu in der Lage sein wird, im Moment, wenn so eine Taktik nicht mehr anwendbar ist, eine abrupte Kehrtwende und einen Frontwechsel auszuführen, indem sie ihre Verbündeten von gestern zu Feind:innen stempelt. Wenn man nicht wünscht, seine Verknüpfung mit den Massen und ihre Verstärkung genau in dem Moment zu kompromittieren, wenn es gerade darauf ankommt, dass diese in den Vordergrund treten, wird es notwendig sein, in öffentlichen und offiziellen Erklärungen und Haltungen eine Kontinuität von Methode und Absicht, die mit der ununterbrochenen Propaganda und der Vorbereitung für den letzten Kampf genau übereinstimmt, zu verfolgen.“ (24)

Für Lenin und Trotzki stellt das Abschließen prinzipienfester Übereinkünfte und deren Bruch, wenn die „Verbündeten“ – wegen deren Unentschlossenheit oder Verrats während der Umsetzung dieser Abmachungen – sich in „Feind:innen“ verwandeln, gerade eine „Kontinuität“ in der Methode dar, die den Weg zum „Endkampf“ vorbereitet.

Gramsci stand zu dieser KPI-Position während 1922 und des Vierten Weltkongresses und setzte seinen Block mit den Bordigist:innen auf dem Junitreffen der Erweiterten Exekutive der Komintern-Führung 1923 fort. Diese Versammlung, bei der Trotzki und Sinowjew den Vorsitz einer vereinten Exekutivdelegation führten, sah die KPI-Mehrheit (einschließlich Gramsci) und die Minderheit um Tasca ihre Unterschiede ausdebattieren. Trotzki unterstützte Tascas Minderheitsbericht, der die Bilanz der KP- Führung kritisierte.

Dieser Bericht umriss, wie die KPI den Beschluss des Vierten Kongresses, die Verschmelzung zwischen der KPI und der PSI anzustreben, durch Aufzwingen von Ultimaten blockiert hatte. Während die KPI die Öffentlichkeitsarbeit für den Fusionsaufruf gering hielt, veröffentlichte sie  einen Leitartikel, der die PSI als ,Leiche’ charakterisierte, was natürlich Vereinigungsgegner:innen in der PSI in die Hände spielte. Diese konnten den „Patriotismus“ von Arbeiter:innen ausnutzen, die eine Anhänglichkeit an ihre Partei spüren (25). Die KPI zeigte gerade, wie wenig sie die Einheitsfronttaktik Lenins und Trotzkis angenommen hatte, als sie im Mai 1923  weiter in Il Lavoratore (Der Arbeiter) schrieb:

„Wir betrachten die Taktik der Blöcke und Einheitsfront als ein Mittel, den Kampf gegen jene auf einem neuen Niveau zu verfolgen, die das Proletariat verraten … Darum haben wir sie vorgeschlagen.“ (26)

Wie Tasca und die Kominternführung über Gramsci und die KPI-Mehrheit die Schlüsse zogen:

„Die Vorstellung, die diese Genoss:innen von der Partei und ihren Verbindungen mit den Massen haben, ist vollkommen geeignet, die ,Sekten’mentalität beizubehalten, einen der ernstesten Mängel unserer Organisation.“ (27)

Gramscis Einwände

Über seine falsche Einstellung zur Spontaneität hinaus gab es andere Gründe hinter Gramscis Opposition gegen die Politik der Komintern. Auf konjunkturell-taktischer Ebene widersetzte er sich ihr, weil er fühlte, die rechte Minderheit in der KPI um Tasca, die die Kominternthesen unterstützte, würde gestärkt. Sie stellte für ihn eine liquidatorische Tendenz in der KPI dar, die nicht völlig mit der PSI-Politik gebrochen hatte und sich der notwendigen Neuorientierung auf illegale Arbeit unter den Bedingungen faschistischer Unterdrückung widersetzte. Im Juni 1923 sagte er, dass:

„Die Einstellung der Komintern und die Aktivität ihrer Vertreter:innen bringen Uneinigkeit und Korruption in die kommunistischen Reihen. Wir sind fest entschlossen, gegen die Elemente anzugehen, die unsere Partei liquidieren würden.“ (28)

Gramsci glaubte, Blockbildungen mit den Befürworter:innen der Wahlenthaltung um Bordiga trotz der Unterschiede zu ihnen seien nötig, um den verspäteten Bruch mit Reformismus und Zentrismus in der Periode 1921/22 zu vervollkommnen. Eine gewisse Bestätigung dessen findet sich in einem Brief, den er im Februar 1924 an die KPI-Chef:innen innerhalb Italiens schrieb. Er argumentierte, dass er die „Rom-Thesen“ der KPI über Taktiken guthieß:

„ … nur aus beschränkten Motiven von Parteiorganisation und sprach mich zugunsten einer Einheitsfront geradewegs bis zu ihrer normalen Konsequenz in einer Arbeiter:innenregierung aus.“ (29)

In der Tat existiert keine Aufzeichnung so einer ablehnenden Position zu dieser Zeit. Dieser Brief wurde geschrieben, nachdem Gramsci seine Position zu den Beschlüssen des Vierten Kominternkongresses verändert und sich entschieden hatte, mit Bordiga zu brechen. Wenn wahr, wäre eine prinzipienlose Position bezogen worden und eine, die nur dazu diente, die Kristallisation einer wirklich bolschewistischen KPI weiterhin unglückselig aufzuschieben.

Aber es gibt einen weit tieferen Grund für Gramscis unversöhnliche Einstellung zur Politik von Lenin und Trotzki in diesen Jahren. Sie beruhte auf einer Vorstellung unterschiedlicher Strategien für „Ost“ und „West“ in Europa. Nur wenn wir diese Vorstellung Gramscis verstehen, können wir begreifen, wie und warum er seine Einstellung zu den Beschlüssen des Vierten Kongresses ändern sollte, ohne zur gleichen Zeit seine falsche politische Methodik zu korrigieren.

Die Idee von „Ost“ und „West“ war weniger eine Frage der Geographie und mehr eine Sache politischer Ökonomie. Für Gramsci bestand der „Osten“ aus der „rückständigen“ kapitalistischen Welt, wohingegen der „Westen“ die fortgeschrittene Welt Westeuropas war. Diese Trennungslinie war für Gramscis Opposition zur Komintern wesentlich. Er schrieb:

„In Deutschland stützt sich die Bewegung, die zur Einsetzung einer sozialdemokratischen Regierung tendiert, auf die Massen der Arbeiter:innenklasse; aber die Taktik der Einheitsfront hat keinen Wert außer für Industrieländer, wo die rückständigen Arbeiter:innen hoffen können, eine Verteidigungsanstrengung durch das Erobern einer parlamentarischen Mehrheit fortsetzen zu können. Hier [in Italien] ist die Situation anders … Wenn wir die Parole einer Arbeiter:innenregierung aufstellten und umzusetzen versuchten, würden wir zur sozialistischen Zweideutigkeit zurückkommen, als die Partei zu Inaktivität verdammt wurde, weil sie sich nicht entscheiden konnte, einzig und allein eine Partei von Arbeiter:innen zu sein oder einzig und allein eine Partei von Bauern/Bäuerinnen … Die Gewerkschaftsfront hat dazu im Gegensatz ein Ziel, das von primärer Wichtigkeit für den politischen Kampf in Italien ist …

Wenn man von einer politischen Einheitsfront spricht und daher von einer Arbeiter:innenregierung, muss man darunter eine ,Einheitsfront’ zwischen Parteien verstehen, deren gesellschaftliche Basis nur aus Industrie- und Landarbeiter:innen besteht, und nicht aus Bauern/Bäuerinnen … 

In Italien existieren nicht wie in Deutschland ausschließlich Arbeiter:innenparteien, zwischen denen eine politische Einheitsfront auch denkbar ist. In Italien ist die einzige Partei mit solchem Charakter die kommunistische Partei.“ (30)

Nachdem er mit Bordiga gebrochen hatte, beschrieb Gramsci Bordigas Ablehnung solcher Taktiken und begründete dies so:

„Weil die Arbeiter:innenklasse in der italienischen arbeitenden Bevölkerung in einer Minderheit ist, gibt es eine dauernde Gefahr, dass ihre Partei vom Eindringen anderer Klassen verdorben wird, insbesondere vom Kleinbürgertum.“ (31)

An erster Stelle war diese Sicht gründlich uneins mit dem Konzept eines internationalen Programms, Perspektiven und Taktiken. Die Einheitsfront ist eine Taktik, konzipiert, um die Einheit der arbeitenden Klasse in einem Ringen gegen die Bosse und ihren Staat zu maximieren. Aber die Arbeiter:innenklasse findet sich mit diesen Aufgaben weltweit konfrontiert, wo immer sie existiert. Der internationale Charakter dieser Schlachten bedeutet, dass die Taktik nicht entweder auf „Ost“ oder „West“ begrenzt werden kann.

In der Tat, in jenen Ländern, wo die Bauern-/Bäuerinnenschaft eine große Klasse ist und der Imperialismus die Probleme von Landhunger vervielfacht hat – so wie in Italien –, findet die „politische“ Einheitsfront häufiger Anwendung. Dies ist so, weil sie als kleinbürgerliche Schicht Parteien außerhalb der kommunistischen oder sozialistischen Parteien hervorbringt, mit denen es im Anrennen gegen das vereinigte Lager aus Industriekapital und Großgrundbesitz möglich ist, Blöcke einzugehen. Das war der Fall in Italien.

Eine solche Möglichkeit lag dem Block der Bolschewiki mit den Linken Sozialrevolutionären nach Oktober 1917 zugrunde. Die Tatsache, dass in Italien PSI und KPI weniger gut in der Bauern-/Bäuerinnenschaft Süditaliens verankert waren, als sie hätten sein sollen, hat nur geheißen, dass die Taktik der Einheitsfront mehr und nicht weniger dringlich war.

Eine Positionsänderung?

Im Verlaufe von 1923/24 hatte die Kominternführung einen gewissen Erfolg damit, einen Keil zwischen Gramsci und Bordiga zu treiben. Obwohl sie einen Block innerhalb der KPI bildeten, war deren Politik nie gleich. Die Unterschiede in ihrer Haltung zu den Fabrikräten 1920 waren symptomatisch. Die Politik von Passivität und Enthaltung war Kennzeichen Bordigas. Worin auch immer sein Ultralinkstum bestand, dies war Gramsci total fremd, der die Notwendigkeit sah, über passiven Propagandismus hinauszugehen, der wesentliche Wahrheiten bloß feststellte und auf den für ihn unvermeidlichen Prozess an Enttäuschung unter den Arbeiter:innen zum Nutzen der KPI wartete. Nach dem Vierten Weltkongress 1922 wurde Bordiga immer kompromissloser und nach innen orientiert. Bordigas Fraktion lehnte es ab, in den leitenden Ausschüssen der KPI wegen ihrer Divergenzen mit der Komintern zu arbeiten. Gramsci spürte, dass dies dazu führen musste, die KPI in die Hände der Minderheit um Tasca auszuliefern, der, wie Gramsci merkte, Opportunist gegenüber den Gewerkschaftsbonzen war.

Ereignisse in Italien überzeugten auch Gramsci, dass Passivität die KPI daran hinderte, in der Krise des faschistischen Regimes einzuschreiten. Im Frühling 1923 brachen wichtige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Volkspartei aus, die bisher Mussolinis Herrschaft fest unterstützt hatte. Bedeutende Unzufriedenheit mit dieser Unterstützung begann sich sowohl in der Volkspartei (welche eine große Bauern./Bäuerinnengefolgschaft aufwies) wie zunehmend innerhalb der städtischen republikanischen Kleinbourgeoisie im Verlaufe von 1923 und 1924 zu regen. Die KPI brauchte Taktiken, zugeschnitten auf diese Unzufriedenheit und so angelegt, dass sie die republikanische Bourgeoisie und Sozialdemokratie daran hindern würden, die Nutznießerinnen der Krise zu sein.

Also kam Gramsci gegen Ende 1923 zur Auffassung, dass es unmöglich sei, irgendwelche Zugeständnisse an Bordiga zu machen. Ein vollständiger Bruch mit ihm und die Schaffung einer neuen Führung des „Zentrums“ war wesentlich, wenn die Partei sich der Massenarbeit widmen und den antifaschistischen Widerstand lenken wollte.

Zusammen genommen trieben diese Überlegungen Gramsci hin zur Komintern. Im September 1923 gab er seinen Widerstand gegen die „politische“ Einheitsfront in Italien auf und drängte die KPI, den Aufruf für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung in Italien anzunehmen. Für all diese Absichten und  Zwecke hatte Gramsci sich mit den Positionen von Lenin und Trotzki versöhnt. Im Januar 1924 schrieb er: „Ich glaube absolut nicht, dass die Taktiken, die vom erweiterten EKKI-Plenum und dem Vierten Kongress entwickelt worden sind, sich irren.“ (32)

Er betonte in diesem Brief an Scoccimarro, eine Auseinandersetzung für die Umorientierung der KPI anfachen zu wollen. Dabei würde er: „ … Doktrin und Taktiken der Komintern als Basis für ein Aktionsprogramm für zukünftige Aktivitäten annehmen.“ (33)

Gramsci artikulierte seinen Positionswechsel in einer Art, die mit den Argumenten Lenins und Trotzkis identisch war. In einem Brief an Togliatti, im Februar 1924 aus Wien geschrieben, äußerte er, dass er Bordiga nicht mehr zur Einheitsfront beipflichten könne:

„Erstens, weil das politische Konzept der russischen Kommunist:innen auf internationalem und nicht einem nationalen Terrain geformt wurde. Zweitens, weil in Mittel- und Westeuropa die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur die Bildung breiter proletarischer Schichten geprägt hat, sondern auch – und als eine Konsequenz – die höheren Schichten, die Arbeiter:innenaristokratie, mit ihren Anhängseln in der Gewerkschaftsbürokratie und den sozialdemokratischen Gruppen. Die Entschlossenheit, die in Russland greifbar war und die Massen auf die Straßen zu einem revolutionären Aufstand trieb, wird in Mittel- und Westeuropa von allen diese politischen Überbauten kompliziert, die durch die weitere Entwicklung des Kapitalismus erzeugt wurden. Dies macht die Handlung der Massen langsamer und umsichtiger und erfordert deshalb von der revolutionären Partei eine Strategie und komplexere und längerfristige Taktiken als diejenigen, die in der Periode zwischen März und November 1917 für die Bolschewisten notwendig waren.“ (34)

Dies war ein echter Schritt vorwärts für Gramsci und ein wichtiger Bruch mit der Methodik und theoretischen Rechtfertigung für seine vorausgegangene Position.

Vorher hatte Gramsci analysiert, dass Italien Teil des „Ostens“ war, in dem die Einheitsfront ungültig sei. Nun jedoch übergibt er Italien nicht einfach nur dem „Westen“, sondern vielmehr und viel wichtiger stellt er fest, dass die Taktik internationale Relevanz hat. Die Möglichkeit, ultralinke Züge im „Osten“ und Opportunismus im „Westen“ zu vermeiden, hat zumindest eine Änderung der Analyse zur Vorbedingung.

Aber die praktischen Folgen dieser Änderung für die KPI 1924 waren weniger klar zu sehen. Im Januar 1924 schlug die KPI den anderen Arbeiter:innenparteien einen Wahlblock für die Wahlen im April 1924 vor. Aber die Bedingungen dieses Paktes wurden so frisiert, um auf Ablehnung zu stoßen. Togliatti – der die Partei in Italien in Gramscis Abwesenheit leitete – schrieb an die Kominternexekutive über den Grundstock für die Propaganda dieses Paktes:

„Der Faschismus hatte eine Periode der permanenten Revolution für das Proletariat eröffnet, und eine proletarische Partei, die diesen Punkt vergisst und hilft, die Illusion unter den Arbeiter:innen zu nähren, es sei möglich, die gegenwärtige Situation zu verändern, während man auf dem Gebiet der liberalen und verfassungsmäßigen Opposition verbleibt, wird in letzter Analyse den Feind:innen der italienischen Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft Unterstützung geben.“ (35)

Als praktizierende Reformist:innen und Verfassungsanhänger:innen wurden die Mitglieder der PSI aufgefordert, ihre Daseinsberechtigung aufzugeben, um Teil des Blocks zu sein. Das konnte natürlich kaum von ihnen erwartet werden.

Gerade als er mit dem Ultimatismus Bordigas brach, (Ablehnung der Einheitsfront aus Prinzip) traten Ereignisse in der Kominternführung ein, die es verhinderten, dass Gramsci  seinen Weg zu den Positionen von Lenin und Trotzki vollendete. Darin liegt Gramscis Tragik.

Der Aufstieg des Stalinismus

Veränderungen innerhalb der Komintern am Ende von 1923 und ihre Rückwirkungen in der russischen Partei sollten Gramscis positive Entwicklung beschneiden. Es war die Niederlage der deutschen Revolution im Oktober 1923, welche dem Stalinismus Auftrieb verlieh. Trotzki war der Meinung, dass mit dieser Niederlage der Kapitalismus für sich eine Periode verhältnismäßiger wirtschaftlicher und politischer Stabilisierung gesichert hatte. Diese unvorteilhafte Verschiebung im internationalen Gleichgewicht von Klassenkräften forderte von der Komintern und ihren Sektionen die Erkenntnis, dass beträchtliche vorbereitende Arbeit gebraucht wurde, um die Massen wieder zu gewinnen. Er legte deshalb die Betonung fest auf die Einheitsfronttaktik.

Andererseits weigerten sich Sinowjew und Stalin zuzugeben, dass die revolutionäre Bewegung eine schwere Niederlage erlitten hatte. Im Gegenteil bestanden sie darauf, dass die Komintern besonders in Deutschland mit einer nahe bevorstehenden revolutionären Situation konfrontiert war.

Im Juni 1924 verlieh der Fünfte Kominternkongress dieser ultralinken Sicht Rückhalt. Im gleichen Monat nahm Stalin die Feder in die Hand, um Trotzkis Auffassung zu bestreiten, die bürgerliche Stabilisierung zeige sich auch in einer Stärkung der Sozialdemokratie in Europa. Stalin lehnte dieses ab und behauptete, die Sozialdemokratie sei eine Form des Faschismus:

„Es wäre deshalb ein Fehler zu denken, dass ,Pazifismus’ die Auslöschung des Faschismus bedeutet. In der gegenwärtigen Situation ist der ,Pazifismus’ die Kräftigung des Faschismus durch seinen gemäßigten, sozialdemokratischen Flügel, der in den Vordergrund geschoben wird.“ (36)

„Und da Faschismus und Sozialdemokratie einander nicht verneinen, sondern ergänzen, sind sie keine Gegenpole, sie sind Zwillinge“. (37) Eine Einheitsfront mit den Spitzen solcher Parteien kam deshalb nicht in Frage. Sie schlossen die Anwendung der Einheitsfronttaktik außer „von unten“ aus, ohne die Häupter der reformistischen und zentristischen Gewerkschaften und politischen Parteien. Der Fünfte Kongress erklärte:

„Die Taktiken der Einheitsfront von unten sind die wichtigsten, das bedeutet: eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die für Kommunist:innen, sozialdemokratische und parteilose Arbeiter:innen in Fabrik, Betriebsrat, Gewerkschaft gilt.“ (38)

In Kürze war es wenig mehr als ein an die Arbeiter:innenmitgliedschaft in diesen Organisationen gestelltes Ultimatum, ihre Parteien bedingungslos zu verlassen. Weil diese Arbeiter:innen an ihre Vorstände glaubten, konnte es von ihnen nur als ein Trick betrachtet werden. Dieses Einheitsfrontdiktat konnte in der Tat nur helfen, die Sozialdemokratie zu stärken, statt sie zu schwächen.

Gerade als Gramsci die unbestrittene Führung der KPI erlangt hatte und sich in Richtung der Positionen des Vierten Kominternkongresses bewegte, machte sich die Komintern praktisch auf, Gramscis eigenes Ultralinkstum einzuholen. Während des Herbstes 1924 – Gramsci war zurück in Italien – startete die KPI eine Kampagne für Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenausschüsse und den Bauern-/Bäuerinnenverteidigungsverband, den die KPI organisierte. Er wurde dem sozialistisch gesteuerten Bauern-/Bäuerinnengewerkschaftsverband entgegengesetzt.

Außerdem stellte die KPI während 1924 und 1925 Agitationskomitees Proletarischer Einheit auf, unter ihrer Führung, aber in offenem Konflikt mit den Gewerkschaften des Allgemeinen Arbeiter:innenverbands (CGL). Während Gramsci die Anwendbarkeit der Einheitsfront für Italien befürwortete, wurde sie in der Form des Fünften Kominternkongresses ausgeführt. Zwar bewegte er sich im Prinzip weg von Bordigas Ablehnung der Einheitsfront, steuerte aber zugleich auf einen Standpunkt der Einheitsfront von unten zu.

In der Tat sind die Beschlüsse des Fünften Kongresses zu Taktiken und Perspektiven für ein Verständnis von Gramscis Werdegang von 1924 bis zu den Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern entscheidend. Während Ultralinkstum seit der deutschen Niederlage Einfluss erlangt hatte, wurden die Perspektiven vor dem Kongress abgemildert, nicht zuletzt wenigstens, weil Trotzki gegen sie stritt. In Teil 13 der „Thesen zur Taktik“ mit der Überschrift  „Zwei Perspektiven“ umriss Sinowjew alternative Entwicklungsmöglichkeiten:

„Die Epoche internationaler Revolution hat begonnen. Der Entwicklungsgrad als Ganzes oder teilweise, die Entwicklungsrate revolutionärer Ereignisse auf irgendeinem besonderen Kontinent oder in irgendeinem besonderen Land können nicht mit Genauigkeit vorausgesagt werden. Die ganze Situation ist so, dass zwei Perspektiven offenstehen: (a) eine mögliche langsame und anhaltende Entwicklung der proletarischen Revolution und (b) andererseits, dass der Boden unterm Kapitalismus in so einem Ausmaß vermint ist und sich die Widersprüche im Kapitalismus als ein Ganzes so schnell entwickelt haben, dass die Lösung in einem Land oder einem weiteren vielleicht in nicht so entfernter Zukunft kommt.“ (39)

Dies war eine sehr vage und flexible Perspektive. Auf der einen Seite gab sie dem damals machtvollen Ultralinkstum Raum und doch konnte sie auch dazu herhalten, wenn notwendig, eine rechtsopportunistische Wende zu rechtfertigen. Natürlich kehrte sich Mitte 1925 die Politik um. Auf dem Sechsten Plenum des EKKI Anfang 1926 nutzte Sinowjew den Beschluss des Fünften Kongresses, sie zu verteidigen.

Die rechtszentristische Kehrtwende von 1925 gründete auf einer verspäteten Anerkennung, dass Stabilität in Europa eingetreten war. Angesichts dessen und des stalinistischen Konzepts, der Sozialismus könne in der Sowjetunion aufgebaut werden, falls Eingriffe von außerhalb verhindert werden konnten, fing die Kominternleitung die Suche nach Bündnissen in den europäischen Ländern an, die helfen könnten, solche Übergriffe zu verhindern. In Britannien wurde das Anglo-Russische Komitee 1925 zwischen den russischen und britischen Gewerkschaften mit diesem Hintergedanken etabliert.

Wie wirkte sich dieser Rechtsschwenk auf Gramscis Verständnis der Einheitsfront aus? Auf einer Ebene vermochte Gramsci das Problem von Strategie und Taktiken auf formell korrekte Art zu formulieren. So warf Gramsci das Problem in den „Lyon-Thesen“ für den Dritten KPI-Kongress im Januar 1926 auf folgende Weise auf:

„Die Taktik der Einheitsfront, als politische Aktivität (Manöver) gestaltet, um sogenannte proletarische und revolutionäre Parteien und Gruppen zu demaskieren, die eine Massenbasis haben, hängt eng mit dem Problem zusammen, wie die kommunistische Partei die Massen führen und wie sie eine Mehrheit gewinnen sollte. In der Form, in der sie von den Weltkongressen definiert worden ist, ist sie in allen Fällen anwendbar, in denen wegen der Massenunterstützung für gegnerischen Gruppen eine frontale Auseinandersetzung mit ihnen nicht genügt, uns schnelle und weitreichende Ergebnisse zu liefern … In Italien muss die Einheitsfronttaktik weiterhin von der Partei insoweit gebraucht werden, als sie noch weit weg davon ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Mehrheit der Lohnarbeiter:innenschaft und die werktätige Bevölkerung gewonnen zu haben.“ (40)

In einer Beziehung ist diese Stellungnahme korrekt und eine Wiederholung der Erklärung von Anfang 1924. Aber zusammen mit anderen Schriften Gramscis 1926 betrachtet kann man den Einfluss des rechtszentristischen Kurses in der Komintern entdecken, den wir verstärkt in den Gefängnisnotizbüchern vorfinden. In einem Bericht an die Parteiexekutive vom August 1926 zur italienischen Situation zeichnete Gramsci einmal wieder einen Unterschied zwischen „fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern“ (England und Deutschland) und „peripheren Staaten“ wie Italien. In der ersten Gruppe „besitzt die herrschende Klasse politische und organisatorische Reserven“. Das bedeutet, dass ¡sogar die schlimmsten Wirtschaftskrisen keine unmittelbaren Rückwirkungen auf die politische Sphäre haben“, weil der „Staatsapparat weit immuner ist, als oft geglaubt werden kann.“ (41)

In Ländern wie Italien „sind die Staatsmächte weniger tüchtig“. Aber Gramsci sagt nicht weiter, wie in der Auseinandersetzung mit Bordiga in den frühen 1920er Jahren, dass die Einheitsfront nur im ersten Fall anwendbar ist, aber nicht im zweiten. Im Gegenteil behält er bei, dass die Taktik in beiden Fällen einsetzbar ist.

Der Zweck, diese Unterscheidung zu machen, ist ein anderer. In den „peripheren Staaten“ gibt es zwischen Proletariat und Bourgeoisie viele dazwischenliegende Klassen. Diese Klassen im Europa Mitte der 1920er Jahre werden in so einem Ausmaß radikalisiert, dass die verschiedenen Aufgaben von Partei und Klasse jene „zwischen der politischen und technischen Vorbereitung der Revolution sind“. In Italien zu dieser Zeit bedeutete das eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die auf einer Perspektive vom nahe bevorstehenden Abgang Mussolinis aufgebaut war. In den fortgeschrittenen Ländern aber ‚besteht das Problem noch in „politischer Vorbereitung“.

Die Darlegung dieser Unterscheidung ist keine müßige Sache für Gramsci, denn in jedem Fall will er ein „wesentliches Problem“ anpacken, nämlich:

„ … das Problem vom Übergang von der Einheitsfronttaktik, verstanden in einem allgemeinen Sinn, zu einer bestimmten Taktik, die die konkreten Probleme nationalen Lebens angeht und auf der Basis der Volkskräfte operiert, wie sie geschichtlich geformt sind.“ (42)

Im Fall von England argumentiert Gramsci, die Gewerkschaften seien die konkrete Form, in der die „Volkskräfte“ agierten. An diesem Punkt bemerken wir die rechtszentristische Auslegung, die Gramsci der Einheitsfront verlieh, wo lange politische Vorbereitung notwendig ist. Trotz der Erfahrung mit dem Verrat des Generalstreiks von 1926, einschließlich durch die Linken im TUC, glaubte Gramsci, dass:

„der Anglo-Russische Ausschuss beibehalten werden sollte, weil es das beste Terrain ist, um nicht nur die englische Gewerkschaftswelt zu revolutionieren, sondern auch die Amsterdamer Gewerkschaften. Bei nur einem Ereignis sollte dort ein Bruch zwischen den Kommunist:innen und der englischen Linken stattfinden: wenn England am Vorabend der proletarischen Revolution steht und unsere Partei stark genug isti, den Aufstand allein zu führen.“ (43)

Dies stand in scharfem Kontrast zur revolutionären Einschätzung von der Rolle des Anglo-Russischen Gewerkschaftskomitees, wie von Trotzki nach dem Generalstreik ausgedrückt:

„ … die Politbüromehrheit hat eine grundlegend falsche Politik in der Frage des Anglo-Russischen Ausschusses verfolgt. Der Punkt, an dem die arbeitenden Massen Britanniens die größte gegnerische Macht zum Generalrat (des britischen Gewerkschaftsbundes TUC; Red.) ausübten, war, als der Generalstreik gebrochen wurde. Was notwendig war, war, Schritt mit den aktivsten Kräften des britischen Proletariates zu halten und in diesem Moment mit dem Generalrat als Verräter des Generalstreiks zu brechen … ohne dieses droht der Kampf für die Massen immer, sich in einen opportunistischen Kotau vor der Spontaneität zu verwandeln … Die Linie der Politbüromehrheit in der Frage des Anglo-Russischen Komitees war eindeutig ein Verstoß in Hinsicht auf den revolutionären Gehalt der Einheitsfrontpolitik.“ (44)

Auf Gramscis Seite ist all dies eine Abkehr weg von der internationalen Anwendung der Einheitsfront, für die er zu Beginn 1924 eintrat, und zurück zu einem unterschiedlichen Gebrauch, der schließlich auf der falschen Trennung zwischen „Ost“ und „West“ beruht. So wie er sich mit England auseinandersetzt, fällt er zur gleichen Zeit auf eine rechte, opportunistische Variante dieser Taktik zurück. Gramsci nutzte gewissermaßen die Positionen des Fünften Kongresses für seine eigenen doppelten Perspektiven für „Ost“ und „West“ aus. Seine Haltung zum Anglo-Russischen Ausschuss ist ein konkreter Ausdruck von Sinowjews Perspektive der „langsamen und anhaltenden Entwicklung der proletarischen Revolution“.

Dennoch gab es einen beträchtlichen Abstand zwischen Gramscis strategischen und taktischen Rezepten und denjenigen, die in der Komintern unter Stalin im Einsatz waren. Es war genau 1926, als Stalin darauf bestand, dass in China die kommunistische Partei sich in die Kuomintang auflöst, und unter der Losung der „demokratische(n) Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ die leninistische Position zur anführenden und lenkenden Rolle des Proletariats verließ.

Gramsci erkannte auf dem Lyoner Kongress im Januar 1926, dass:

„das Proletariat sich abmühen muss, die Bauern/Bäuerinnen dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und sie unter seine eigene politische Leitung stellen muss.“ (45)

Angesichts dessen, dass sich die schwache italienische Bourgeoisie für ihre Macht auf die Bauern./Bäuerinnenschaft stützte, bestand Gramsci für die KPI darauf, diese Frage sei „der zentrale Punkt der politischen Probleme, die die Partei in unmittelbarer Zukunft lösen muss“. (46)

Er erkannte, dass die Losung der „Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung“ ein Weg sei, um das Bauern-/Bäuerinnentum hinter die Lohnarbeiter:innenschaft zu ziehen, „das Mittel, sie auf den Boden der fortgeschrittenen proletarischen Vorhut zu transportieren (Kampf für die Diktatur des Proletariates).“ (47)

Anders als Stalin fand er nicht, das Regierungsbündnis zwischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen sei eine unterscheidbare Etappe, getrennt zum und vorausgehend dem Kampf für Sozialismus, sondern Gramsci argumentierte:

„ … die Partei kann  sich nicht eine Verwirklichung dieses Schlachtziels außer als Anfang eines direkten revolutionären Kampfes vorstellen: eines Bürgerkriegs, der vom Proletariat im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft mit dem Ziel geführt wird, die Macht zu erheischen. Die Partei könnte in ernste Abweichungen von ihrer Aufgabe als Kopf der Revolution geführt werden, wenn sie die Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung so interpretieren sollte, als entspreche sie einer wirklichen Phase in der Entwicklung des Ringens um die Macht: mit anderen Worten, wenn sie es so einschätzt, dass mit dieser Parole die Möglichkeit gegeben sei, das Problem des Staates im Interesse der Lohnabhängigen auf irgendeine andere Weise zu lösen als durch die Diktatur des Proletariats“. (48)

Gramscis Formulierungen zeigen bis zu seiner Inhaftierung einen Schwenk in Richtung Ultralinkstum.

Gefangene Gedanken

Gramcis Nachdenken über Probleme von Strategie und Taktik in den Gefängnisnotizbüchern setzt seinen Bruch mit ultralinken Einstellungen fort. Aber an seiner Stelle entwickelte er die Vorstellung weiter, die dem rechtszentristischen Kurswechsel von 1925 – 27 ihren Ursprung verdankt. Der letztendliche Triumph des Faschismus 1926 bewog Gramsci, seine Anschauungen über die Stabilität und Stärke von bürgerlichem Regime im Westen einschließlich Italiens neu zu bewerten. In den Gefängnisnotizbüchern stellt er fest:

„Es scheint mir, dass Iljitsch [Lenin] die Notwendigkeit eines Wandels vom Manöverkrieg, der siegreich im Osten 1917 angewandt wurde, zu einem Stellungskrieg verstand, der die einzig mögliche Form im Westen war – wenn, wie Krasnow bemerkt, Armeen endlose Mengen von Nachschub schnell ansammeln und wo die gesellschaftlichen Strukturen noch von sich aus zu schwer bewaffneten Befestigungen werden konnten. Dies scheint mir die Bedeutung der Formel von der ,Einheitsfront’ zu sein, und sie entspricht dem Konzept einer einheitlichen Front für die Entente unter dem alleinigen Befehl von Foch (französischer Oberbefehlshaber).“ (49)

Hier hat Gramsci die Idee der Einheitsfront als Kriegsmanöver von 1928 aufgegeben und verwandelte sie in einen Stellungskrieg im Westen; d. h., er hat die Einheitsfront in eine langfristige Strategie verwandelt, durch welche Partei und Klasse erfolgreich Stützpunkte in der Gesellschaft erobern und dadurch allmählich den Staat umzingeln und belagern können. Dies ist die Antithese zur revolutionären Nutzung der Einheitsfront, wie in der Komintern unter der Führung von Lenin und Trotzki ausgearbeitet und praktiziert.

Zu ein und der gleichen Zeit skizziert Gramsci in den Gefängnisnotizen eine vereinfachte, einseitige Sicht der russischen Revolution mit seinem absurden Hinweis, die Einheitsfront habe im bolschewistischen taktischen Arsenal gefehlt und Lenin hätte einen ununterbrochenen „revolutionären Angriff“ gegen einen unbefestigten zaristischen Staat geführt. Doch andererseits hält er eine zu opportunistische strategische Sichtweise im Westen aufrecht, die eine nahtlose Einheitsfront aus Kommunist:innen und Reformist:innen (und sogar liberalen/bürgerlich-demokratischen Kräften) regelrecht bis zur Machtergreifung in Aktion sieht. Gramsci scheint sich nicht bewusst zu sein, dass sich Zwecke und Mittel in dieser Betrachtung widersprechen. Die Machteroberung hängt vom zunehmenden Einfluss der kommunistischen Partei ab, und der kann im Gegenzug nur auf Kosten von und im Kampf gegen Reformist:innen und Zentrist:innen erzielt werden. Dies kann nur geschehen, wenn gemeinsame Fronten für bestimmte begrenzte Handlungen mit rücksichtsloser Kritik an den Beschränktheiten der Bündnispartner:innen im Kampf kombiniert werden und deren Halbherzigkeit und Schwankungen zusammen mit den Beschränkungen ihrer eigenen Rezepte enthüllen.

Lief all dies bereits auf Reformismus hinaus, worauf die Eurostalinist:innen beharren? Nicht ein bisschen! Gramsci hat vielleicht eine Taktik in eine Strategie verwandelt, aber dies ist nicht das Gleiche wie das Verdrehen von Revolution in Reform. Zum Teil war Gramscis rechtszentristische Vorstellung in den Gefängnisnotizbüchern eine undialektische Antwort auf die Konfrontationsstellung, die er zur ultralinken Wende Stalins 1928/29 beibehielt, als er anfing, seine Notizbücher zu schreiben. Es ist eher eine bucharinistische rechte Kritik an der Dritten Periode, die wir in Gramscis Notizbüchern finden. Dies betont die Distanz zwischen ihm und Trotzki, aber es dient auch dazu, die Kluft zu verdeutlichen, die Gramsci von Stalin scheidet.

Diese Lücke wird offensichtlicher durch die Berichte von Diskussionen mit einem Mithäftling, Athos Lisa, von 1930. Beauftragt und dann unterschlagen von Togliatti, unterstreichen sie, dass Gramsci sich der Dritten Periode widersetzte, dem Rauswurf von Oppositionellen aus der KPI nicht zustimmen konnte, und dass er seinen Glauben an die Notwendigkeit eines Aufstands behielt:

„Die gewaltsame Machteroberung erfordert die Schaffung einer Organisation militärischen Typus‘ durch die Partei der Arbeiter:innenklasse, die in jeden Zweig der bürgerlichen Staatsmaschinerie durchdringend eingeimpft wird und fähig ist, ihr im entscheidenden Kampfmoment Wunden und ernste Schläge zuzufügen.“ (50)

Gramsci sollte 1935, im Jahr des definitiven Übergangs der stalinistischen Komintern von bürokratischem Zentrismus zu Gegenrevolution und Reformismus, zum Schreiben nicht mehr gesund genug sein. Die Unterschrift unter den Stalin-Laval-Pakt in diesem Jahr gab grünes Licht für die französischen Stalinist:innen, sich dem Patriotismus mit voller Unterstützung des Kreml an den Hals zu werfen. Es gibt nichts in Gramscis Leben oder Arbeit, das heutigen Eurostalinist:innen erlauben würde, Gramsci in den Schutzheiligen der Volksfront zu verwandeln.

Ganz im Gegenteil. In ein paar bemerkenswerten Abschnitten von 1926 polemisiert Gramsci ausdrücklich gegen eine Volksfront, die den Faschismus besiegen soll, auf eine Weise, die die entschuldigenden Argumente Togliattis, die er fast zehn Jahren später für die stalinistische Politik im spanischen Bürgerkrieg gebraucht hat, vorwegnimmt. Er bestreitet die Einlassungen der Bourgeoisie, die: „ … ein Interesse daran hegt, zu behaupten, Faschismus sei ein vordemokratisches Regime: dieser Faschismus wird auf eine beginnende und noch rückständige Phase des Kapitalismus verwiesen.“ (51)

Dies führt zur Ansicht:

„Wenn nicht ein wirklicher bürgerlich-proletarischer Block für die verfassungsmäßige Beseitigung des Faschismus, wäre das beste taktische Ziel wenigstens eine Passivität der revolutionären Vorhut, eine Nichteinmischung der kommunistischen Partei in den unmittelbaren politischen Kampf, was der Bourgeoisie so gestattet, das Proletariat als Wahltruppe gegen den Faschismus zu benutzen.“ (52)

Wohingegen:

„Für uns Kommunist:innen ist das faschistische Regime Ausdruck der entwickeltsten Etappe kapitalistischer Gesellschaft. Es dient genau dazu zu demonstrieren, wie alle Eroberungen und alle Institutionen, die die werktätigen Klassen erfolgreich realisieren … zur Vernichtung verdammt sind, wenn in einem gegebenen Moment die Arbeiter:innenklasse nicht die staatliche Macht mit revolutionären Mitteln an sich reißt.“ (53)

„Permanente Revolution“ oder „Sozialismus in einem Land“?

Es gibt noch einen Weg, Gramscis Werdegang zu beurteilen: Was war seine Einstellung zur theoretischen Untermauerung des Zentrismus in der Komintern – „Sozialismus in einem Land“ – und zu seiner revolutionären Kritik – „permanente Revolution“?

Seine Kapitel in den Gefängnisnotizen zu diesen Fragen geben den Argumenten keine Nahrung, die wie Perry Anderson eine Ähnlichkeit zwischen den Positionen Gramscis und Trotzkis in ihren jeweiligen Kritiken am Ultralinkskurs Stalins nach 1928 sehen.

Die Wahrheit ist, dass Gramsci von Mitte 1924 an ein heftiger Kritiker von Trotzkis Theorie ist. Der letzte wohlwollende Hinweis auf Trotzki kommt bei Gramsci im Februar 1924 vor. Er verfolgt die Angriffe der Opposition auf die Bürokratie in der UdSSR mit Sympathie und sagt weiter:

„Es ist gut bekannt, dass Trotzki schon 1905 dachte, eine sozialistische und Arbeiter:innenrevolution könne in Russland stattfinden, während die Bolschewiki nur anstrebten, eine politische Diktatur des Proletariats im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft zu schaffen, die als ein Rahmen für die Entwicklung des Kapitalismus dienen würde, der nicht in seinen ökonomischen Fundamenten berührt werden würde. Es ist wohlbekannt, dass Lenin im November 1917 … und die Mehrheit der Partei sich Trotzkis Sicht angeschlossen hatten und beabsichtigten, nicht bloß die politische Macht zu übernehmen, sondern auch die wirtschaftliche.“ (54)

Doch innerhalb von sechs Monaten, um die Zeit des Fünften Weltkongresses, hatte Gramsci diesen Standpunkt verlassen und war zur Fraktion der Stalin/Sinowjew/Kamenew-Troika übergelaufen. Der unmittelbare Antrieb dazu ist Gramscis Einstellung zu fraktioneller Aktivität:

„Trotzkis Vorstellungen … stellen eine Gefahr dar, wenn die Einheit der Partei in einem Land fehlt, in dem es nur eine Partei gibt, dies Risse im Staat erzeugt. Dies produziert eine konterrevolutionäre Bewegung; es bedeutet aber nicht, dass Trotzki ein Gegenrevolutionär ist, denn in diesem Fall würden wir für seinen Ausschluss plädieren.

Schließlich sollten aus der Trotzkifrage Lehren für unsere Partei gezogen werden. Vor den letzten disziplinarischen Maßnahmen war Trotzki in der gleichen Position wie Bordiga gegenwärtig in unserer Partei.“ (55)

Dieser tragische Fehler, nämlich eine rechtsopportunistische Gleichsetzung des Marxismus mit Ultralinkstum, wird wiederholt und oft in den Gefängnisnotizbüchern verstärkt. In der Hitze seines eigenen Bruches 1924 mit Bordiga war er nur zu willig, die Mehrheit in der KPdSU in der Bolschewisierungskampagne zu unterstützen, die auf dem Fünften Kongress lanciert wurde. Dies war in der Tat der erste Schritt zur Erdrosselung des innerparteilichen Lebens in den kommunistischen Parteien und führte Gramsci zum Widerstand gegen alle Fraktionstätigkeit.

Während Gramsci bis Oktober 1926 noch bereit war, sich für disziplinarische Nachsicht in Hinsicht auf die Vereinte Opposition einzusetzen, so argumentierte er in den frühen 1930er Jahren wie folgt:

„Die Tendenz, die von Leo Dawidowitsch [Trotzki] vertreten wird, war eng mit dieser Reihe von Problemen verbunden … ein übermäßig resoluter (und deshalb unvernünftiger) Wille, Industrie und industriellen Methoden eine Vormachtstellung im nationalem Leben zu geben, durch Zwang von außerhalb die Steigerung von Produktionsdisziplin und -ordnung zu beschleunigen und Gewohnheiten an die Arbeitserfordernisse anzupassen. Angesichts der allgemeinen Form, in der alle mit dieser Tendenz zusammenhängenden Probleme wahrgenommen wurden, endete das schicksalhaft notwendig in Bonapartismus. Daher rührt die erbarmungslose Notwendigkeit, sie zu zermalmen.“ (56)

Bei dieser Haltung und Einschätzung war es nicht überraschend, dass Gramsci seine Einstellung von 1924 zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution überprüfen würde:

„Bronstein [Trotzki] erinnert in seinen Memoiren daran, und wir bekommen das noch einmal erzählt, dass seine Theorie sich als wahr erwiesen habe … fünfzehn Jahre später … In Wirklichkeit war seine Theorie als solche weder fünfzehn Jahre früher gut noch fünfzehn Jahre später. Wie es bei Sturköpfen vorkommt … riet er mehr oder weniger korrekt. Er hatte in seiner allgemeineren Prophezeiung recht. Es ist, als ob man prophezeien sollte, dass ein kleines vier Jahre altes Mädchen Mutter würde, und als sie um zwanzig es tatsächlich wurde und man dann sagte: ,Ich erriet, dass sie Mutter werden würde’. Dabei übersieht man aber die Tatsache, dass man das Mädchen mit vier Jahren zu vergewaltigen versucht hatte, im Glauben, dass sie sogar damals Mutter würde.“ (57)

Diese Ablehnung dessen, was er als Trotzkis Theorie versteht, steckt im Kern seiner gesamten strategischen und taktischen Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern wie z. B.:

 „ … das politische Konzept der sogenannten permanente(n) Revolution, welches vor 1848 entstand als wissenschaftlich entwickelter Ausdruck des jakobinischen Experiments von 1789 bis zum Thermidor. Die Formel gehört zu einer historischen Periode, in der die große Masse der politischen Parteien und die großen wirtschaftlichen Gewerkschaften noch nicht existierten und die Gesellschaft unter vielen Gesichtspunkten sich noch sozusagen in einem Flüssigzustand befand: größere Rückständigkeit des Dorfes und fast vollständiges Monopol politischer und staatlicher Macht bei wenigen Städten oder sogar nur einer einzelnen (Paris im Fall von Frankreich); ein relativ rudimentärer staatlicher Apparat und größere Unabhängigkeit ziviler Gesellschaft von staatlicher Aktivität; ein bestimmtes System militärischer Macht und von nationalen bewaffneten Diensten; größere Autonomie der Nationalökonomien von den wirtschaftlichen Verbindungen des Weltmarktes usw. In der Periode nach 1870, mit der kolonialen Ausdehnung Europas, verändern sich alle diese Elemente, die inneren und internationalen organisatorischen Verbindungen des Staates werden komplexer und dichter, und die 1848er Formel von der ,permanenten Revolution’ wird erweitert und in der Politologie in die Formel von ,ziviler Hegemonie’ überführt. Die gleiche Sache passiert in der Politikkunst wie in militärischer Raffinesse: Bewegungskrieg wird zunehmend Stellungskrieg, und es kann gesagt werden, dass ein Staat einen Krieg gewinnen wird, sofern er sich ganz akkurat und technisch darauf in Friedenszeiten vorbereitet.“ (58)

Deshalb wird Trotzki bezichtigt, hinsichtlich der Strategie für den fortschrittlichen Westen hinter der Zeit zurückgeblieben zu sein. Er klagt Trotzki an, „der politische Theoretiker des Frontalangriffes in einer Periode zu sein, wenn er nur zu Niederlagen führt.“ ( 59)

Solch eine Vorstellung bildet die Basis der Kritik am Trotzkismus seitens des Eurostalinismus. Zunächst einmal muss dagegen eingewendet werden, dass Gramscis Darlegung, die die „permanente Revolution“ mit frontalem Angriff oder Bewegungskrieg gleichsetzt, nichts mit Trotzkis Theorie zu schaffen hat. Trotzki nahm zu seinem Ausgangspunkt den kombinierten, ununterbrochenen Charakter von bürgerlichen und proletarischen Revolutionen in bestimmten Situationen. Deshalb konnte Trotzki nicht diesen Aspekt seiner Theorie auf den „Westen“ anwenden, wo die Bürgerrevolution in allen wichtigen Grundfesten vollständig war, und machte es auch nicht.

Wenn auf jemanden zutrifft, was Gramsci Trotzki vorwirft, dann ist es Bucharin auf dem Dritten und Vierten Kongress der Komintern: „der an seinem Standpunkt von der Dauerhaftigkeit sowohl der Wirtschaftskrise als auch der Revolution als Ganzes scholastisch festhielt.“ (60)

Gramsci stimmte Bucharin zu der Zeit zu. Es könnte auch eine Konzeption sein, die  Sinowjew und Stalin auf dem Fünften Kongress zuzuordnen war, von der wieder Gramsci nicht abwich.

Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass Gramsci zwischen 1922 und 1924 auf einem Standpunkt beharrte, der sich nicht von dem unterschied, den er hier kritisiert. Er argumentierte, dass der Kollaps des faschistischen Regimes nahe bevorstehe, zugleich aber keinem Übergangsregime bürgerlicher Demokratie Platz machen könne. Im Januar 1924 behauptete er:

„ … in Wirklichkeit hat der Faschismus ein sehr rohes, scharfes Dilemma in Italien erzeugt: das der permanenten Revolution und der Unmöglichkeit, nicht nur die Staatsform, sondern sogar die Regierung anders als durch bewaffnete Gewalt zu verändern.“ (61)

Nachdem seine ultralinken Illusionen durch seinen Bruch mit Bordiga geschwächt waren und mit dem endgültigen Triumph Mussolinis 1926 ein für allemal zerbrachen, änderte Gramsci seinen Strategieentwurf nach rechts; aber während er Trotzkis Theorie angriff, focht er in Wirklichkeit seine eigene ultralinke Vergangenheit an.

Gramscis Identifikation seiner eigenen vorherigen Haltung mit der Trotzkis kann nur mit damit erklärt werden, dass er die stalinistischen Lügen über  den „Trotzkismus“, die nach 1923 in der Komintern Einzug hielten, ganz bejahend aufnahm. Wenn Trotzki tatsächlich, wie die Stalinist:innen behaupteten, befürwortet hätte, das bürgerliche Stadium der Russischen Revolution zu überspringen, wenn Trotzki tatsächlich „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ unterschätzt hätte, worauf seine Gegner:innen immer wieder herumritten, und der russischen Revolution so einen rein „sozialistischen“ (Arbeiter:innen-)Klassencharakter verliehen hätte, dann hätten Gramscis Sticheleien vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt gehabt. Aber diese Unterstellungen waren haltlos. Wenn überhaupt, war es Gramsci, der „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ in seiner ultralinken Periode unterschätzte.

Ein nationaler Weg

Noch blieb Gramsci in der anderen Frage, die zwischen Trotzki und Stalin auf dem Spiel stand, schweigsam während seines Gefängnisaufenthaltes. Er schrieb mehrere Passagen zu den methodologischen anstehenden Fragen im Streit über „Sozialismus in einem Land“, der gründlich mit dem Problem der ununterbrochenen Revolution zusammenhängt. Er überlegte wie folgt:

„Gehen internationale Verbindungen voraus oder folgen sie (logisch) grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen? Es kann keinen Zweifel geben, dass sie folgen. Irgendeine endogene Neuerung in der Gesellschaftsstruktur modifiziert organisch absolute und relative Verhältnisse auch auf internationaler Ebene durch ihre technisch-militärische Auswirkung. Sogar die geographische Position eines Nationalstaates geht nicht voraus, sondern folgt (logisch) strukturellen Änderungen, obwohl sie auch in gewissem Maße auf die Verhältnisse zurückwirkt (in genau dem Maß, zu dem Überbauten auf die Struktur reagieren, Politik auf Wirtschaft usw.).“ (62)

Gramsci stellt alles auf den Kopf. Mit „wesentlichen Gesellschaftsverhältnissen’“meint er kapitalistische Produktionsverhältnisse. Er stellt diese „internationalen Verhältnissen“ gegenüber und tritt somit stillschweigend dafür ein, dass Kapitalismus national definiert ist. Nach dieser Definition ist es dann möglich, argumentiert Gramsci, die Verhältnisse zwischen den nationalen und den internationalen Belangen zu untersuchen. Mittels Analogie sind die internationalen Verhältnisse die „Überbauten“ und ist das Nationale der „Unterbau“. Dies ist der Ausgangspunkt für Stalins „Sozialismus in einem Land“.

Der Marxismus denkt in entgegengesetzter Weise. Er geht von der Tatsache aus, dass Kapitalismus ein Weltganzes ist und seine Verhältnisse den Globus umspannen. Nationalökononomien können in diesem Licht untersucht und bestimmt werden.

Für Gramsci spielte der Beginn mit der „nationalen“ Ebene die gleiche Rolle wie der Ausgangspunkt vom „ungleichen“ Charakter der Weltwirtschaft statt des „ungleichen und kombinierten“ wie Trotzki. Gramsci glaubte wie Stalin, dies sei der einzige Weg einzuschätzen, was „einmalig“ und „besonders“ in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit war:

„In Wirklichkeit sind die inneren Verhältnisse irgendeiner Nation das Ergebnis einer Kombination, die ,ursprünglich’ und (in einem bestimmten Sinn) einmalig sind: diese Verhältnisse müssen in ihrer Originalität und Einmaligkeit verstanden und gedacht werden, wenn man wünscht, sie zu dominieren und lenken. Sicher, die Entwicklungslinie richtet sich zum Internationalismus hin, aber der Ausgangspunkt ist ,national’ – und von diesem Startpunkt muss man anfangen. Doch ist die Perspektive international und kann nicht anders sein. …  Die führende Klasse ist in der Tat nur eine solche, wenn sie diese Kombination – von der sie selbst ein Bestandteil ist – minutiös interpretiert und genau als solche fähig ist, dem Moment eine bestimmte Richtung innerhalb bestimmter Perspektiven zu verleihen. Es ist meiner Meinung nach dieser Punkt,  um den die wesentliche Uneinigkeit zwischen Leo Dawidowitsch [Trotzki] und Wissarionowitsch [Stalin] als Interpreten der Mehrheitsbewegung [Bolschewismus] sich wirklich dreht. Die Vorwürfe von Nationalismus sind unangebracht, wenn sie sich auf den Kern der Frage beziehen. Wenn man den Kampf der Mehrheitler:innen von 1902 bis 1917 studiert, kann man sehen, dass seine Originalität in der Säuberung des Internationalismus von jedem vagen und rein ideologischen (im herabsetzenden Sinn) Element bestand, um ihm einen realistischen politischen Inhalt zu geben. In diesem Hegemoniekonzept sind jene dringlichen Erfordernisse, die von nationalem Charakter sind, zusammen verknotet.“ (63)

So war für Gramsci Lenins „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ herrschaftsfähig und national, während die Theorie der „permanenten Revolution“ unfähig war, die konkrete Wirklichkeit der russischen Gesellschaft zu begreifen bzw. damit umzugehen.

Natürlich hat Trotzki genau das getan, was Gramsci ihm als nicht erfüllt vorhält. Trotzkis Analyse Russlands war auf einer ausführlichen Untersuchung seiner Geschichte und besonderen Gesellschaftsverhältnisse gegründet. In seiner Arbeit „Ergebnisse und Perspektiven“ von 1906 vergleicht Trotzki und stellt einander gegenüber das Russland von 1905 mit Frankreich von 1870 und Deutschland von 1848 auf der Basis der Nachzeichnung der Entwicklung internationaler Ereignisse. Damit war er fähig, in einer bemerkenswerten Art die bestimmten Merkmale zu umreißen, die im zaristischem Russland gegenwärtig waren und es dazu bestimmten, eine sozialistische Revolution vor den „fortgeschrittenen“ und „reifen“ Ländern zu erleben und doch nicht in der Lage zu sein, sie ohne internationale Hilfe aufrechtzuerhalten.

Weil die nationale Eigenheit  eine bestimmte Kombination der internationalen Trends ist, ist es genau unmöglich, die nationalen Besonderheiten wirklich zu begreifen, ohne zuerst die internationalen Zusammenhänge zu verstehen.

Die Verbindung zwischen Gramscis Sicht der Beziehung zwischen nationalen und internationalen Verhältnissen und den strategischen und taktischen Aufgaben der arbeitenden Klasse wird vollständig enthüllt. Nur das Nationale ist bestimmt und hegemoniefähig; was Länder trennt, ist wichtiger als das, was sie verbindet. Obwohl Italien und England in einer Periode sehr verschiedene Arten von Nation und dann später im gleichen Lager sein können, ist es daher Tatsache, dass verschiedene Einheitsfronttypen anwendbar sind, je nach dem, mit welchem Typ Land wir es zu tun haben; Einheitsfront von unten und Kriegszüge in „rück- oder randständigen“ Staaten, eine strategische Einheitsfront und ein Stellungskrieg in den vorangeschrittenen kapitalistischen Ländern. Kurz nur, Anfang 1924, nachdem er sich entschieden hatte, politisch mit Bordiga zu brechen, warf Gramsci das Problem korrekt auf. Aber diese Einsichten wurden nicht durchgehalten, und Gramsci ergab sich einer Rechtsentwicklung.

Schlussfolgerungen

Der Staatsanwalt bei Gramscis Gerichtsverfahren forderte, dass jedes Urteil „dieses Gehirn für zwanzig Jahre zu arbeiten abhält“. Sie scheiterten. Aber es hat jetzt fünfzig Jahre lang aufgehört zu arbeiten. Viele sind begierig, ihn als ihr Eigentum zu beanspruchen. Diese legendenbildnerische Einstellung zum größten italienischer Revolutionär hätte Gramsci entsetzt. Wir gehen an Gramscis politisches Leben kritisch heran. Beim Bruch mit  Bordigas Ultralinkstum 1923 – 24 setzte Gramsci sich das bewusste Projekt, die junge und unterdrückte KPI zwischen dem ultralinken Kurs Bordigas und dem Opportunismus Tascas hindurchzusteuern. Dabei war sein Ziel, zu den Positionen der revolutionären Komintern Lenins zurückzukehren.

Beim Versuch, dieses Ziel zu erreichen, war Gramsci für einen beträchtlichen Beitrag an scharfsichtiger Arbeit über die Fehler des Bordigismus, über Geschichte, Klassenstruktur und strategische Probleme der italienischen Gesellschaft verantwortlich. Jede/r revolutionäre Kämpfer:in heute wird viel in seiner Arbeit finden, was wertvoll und inspirierend ist.

Aber Gramsci versagte dabei, den Bolschewismus in Italien aufzubauen, genau deshalb, weil die bürokratisch-zentristische „Bolschewisierung“ Stalins und Sinowjews seinen Werdegang durchschnitt. In der Periode bis zu seiner Verhaftung bedeutete dies, dass die KPI unter Gramscis Leitung eine mildere Form von ultralinker Politik in Italien und eine Neigung zum zunehmenden Rechtsopportunismus im „Westen“ nicht ausmerzen konnte. Im Gefängnis führten seine weiteren,  auf einer einseitigen Ablehnung seines eigenen Ultralinkstums basierenden und vom Mythos der Stalinist:innen über Trotzki genährten Reflexionen Gramsci weiter ins Camp des rechten Zentrismus‘. Gramsci dehnte nicht so sehr die Grenzen des Marxismus aus, sondern engte eher dessen Horizont ein. Seine Einblicke waren oft nicht eigenständig, sobald sie die Grenzen von italienischer Geschichte und Gesellschaft überschritten und oft übermäßig abstrakt und sogar zweideutig. In der historischen Periode, die mit der Degeneration der UdSSR beginnt, ist es der Trotzkismus, nicht der Gramscianismus, der auf den Schultern des Leninismus steht und den Marxismus um einen Kopf größer macht.

Trotzdem können wir während dieses fünfzigsten Jahres seit Gramscis grausamem und schmerzhaftem Tod Anregungen in seinem Leben und Kampf finden. Wir können nur hoffen, ihn vor dem Zugriff seiner „Freund:innen“ zu bewahren.

Endnoten

1 Marxism Today, April 1987

2 O. Blasco [Tresso], „Ein großartiger Kämpfer ist gestorben … Gramsci, La Lutte Ouvrière Nr. 44, 14. Mai 1937

3 L. Maitan, „The Legacy of Antonio Gramsci“ [Das Vermächtnis Antonio Gramscis], in: International Marxist Review, Sommer 1987

 4 Socialist Worker Review, April 1987

 5 Maitan, a. a. O., S. 35

 6 C. Harman, Gramsci versus Reformism, S. 28

 7 Zitiert in: A. Davidson, „Gramsci and Lenin, 1919-22“, Socialist Register 1974, S. 131

 8 A. Gramsci, Selections from the Political Writings [Ausgewählte politische Schriften], Vol. 1 (SPW1), S. 34 (London 1977)

 9 Ebda.

 10 a. a. O., S. 68

 11 Ebda.

 12 Harman, a. a. O., S. 16

 13 L. D. Trotzki, Speech to the General Party Membership in Moscow [Rede an die allgemeine Parteimitgliederversammlung in Moskau]

 14 Lenin, Collected Works, Vol. 32, S. 465 (Moscow) [Gesammelte Werke (Moskau)]

 15 A. Gramsci, Selections from the Political Writings, Vol. 2 (SPW2) S. 189 (London 1978)

 16 Theses, Resolutions and Manifestoes of the First Four Congresses of The Communist International, S. 391 – 396 (London 1980) [Thesen, Resolutionen und Manifeste der ersten 4 Kongresse der Kommunistischen Internationale]

 17 L. D. Trotzki,The Third International After Lenin, S. 90 (New York 1970) [Die 3. Internationale nach Lenin]

 18 SPW2, S. 96

 19 a. a. O., S. 97

 20 a. a. O., S. 107 – 108

 21 a. a. O., S. 108

 22 a. a. O., S. 99

 23 a. a. O., S. 392

 24 a. a. O., S. 105

 25 a. a. O., S. 148

 26 a. a. O., S. 146

 27 a. a. O., S. 153

 28 a. a. O., S. 155

 29 a. a. O., S. 196

 30 a. a. O., S. 121 – 124

 31 a. a. O., S. 359

 32 a. a. O., S. 174 –175

 33 Ebda.

 34 a. a. O., S. 199 – 200

 35 a. a. O., S. 489

 36 J. W. Stalin, Concerning the International Situation, Collected Works, Vol. 6, S. 295 [Über die internationale Lage, Gesammelte Werke]

 37 Ebda.

 38 „Theses on tactics“, in: Resolutions and Theses of the Fifth Congress, (London 1924) [„Thesen zur Taktik“, in: Resolutionen und Thesen des 5. Kongresses]

 39 Ebda.

 40 SPW2, S. 373

 41 a. a. O., S. 410

 42 Ebda.

 43 a. a. O., S. 411

 44 L. D. Trotzki, On Britain, S. 253 – 255 (New York 1972) [Über Britannien]

 45 SPW2, S. 331

 46 Ebda.

 47 Ebda.

 48 a. a. O., S. 75

 49 A. Gramsci, Selection from the Prison Notebooks (SPN), S. 237 – 278 (London 1971) [Auswahl aus den Gefängnisbüchern]

 50 Zitiert in Perry Anderson, The Antinomies of Antonio Gramsci, New Left Review No100, S. 72 [Die Widersprüche Antonio Gramscis]

 51 SPW2, S. 414

 52 a. a. O., S. 359

 53 a. a. O., S. 414

 54 a. a. O., S. 192

 55 a. a. O., S, 284

 56 SPN, S. 301

 57 Ebda., S. 237

 58 a. a. O., S. 242 – 243

 59 a. a. O., S. 238

 60 Trotsky, The Third International After Lenin, a. a. O., S. 90

 61 SPW2, S. 176

 62 SPN, S. 176

 63 a. a. O., S. 240 – 241




Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs

Markus Lehner, Neue Internationale 271, Februar 2023

Der Krieg in der Ukraine ist sicherlich eine historische Zäsur. Da hilft es auch nicht, wenn Linke wie Sahra Wagenknecht immer wieder betonen, dass er nur einer von vielen sei – und die meisten würden ja vom „Wertewesten“ geführt oder unterstützt. Tatsächlich waren die meisten Kriege mit Beteiligung von Großmächten seit dem 2. Weltkrieg „asymmetrische“ (außer dem Koreakrieg oder den beiden Vietnamkriegen), bei denen eine Seite militärisch vollkommen überlegen war.

Der Ukrainekrieg ist ein grausamer „konventioneller“, zerstörerisch wie der Zweite Weltkrieg, mit allen Schrecken von Artillerie- und Panzerschlachten, Schützengrabenkämpfen, Bombardements, wochenlangen Belagerungen und Kesselschlachten. Dazu kommt, dass dahinter die Konfrontation der wichtigsten Großmächte im europäischen Raum steht und somit auch die industrielle Massenfertigung der Tötungsmaschinerien auf beiden Seiten dafür immer weiter hochgefahren wird – mit der Gefahr einer sehr langen Dauer und wachsender Eskalation, was die Art der Waffen bis hin zu Nuklearsprengsätzen betrifft. Dieser Konflikt ist eingebettet in eine krisenhafte Entwicklung des imperialistischen Weltsystems, in dem eine schwächelnde kapitalistische Weltwirtschaft zur Neuaufteilung der Welt unter die Großmächte, insbesondere China und die USA, drängt. Ob dabei der Ukrainekrieg auch noch gekoppelt wird etwa mit einer Verschärfung des Taiwankonflikts oder nicht – wir sind jedenfalls in eine neue Periode der gesteigerten, auch militärischen Konfrontation der großen imperialistischen Mächte eingetreten, die die rein ökonomische Globalisierungskonkurrenz auf eine neue Ebene hebt.

Problematische Vergleiche

Es wurden schon verschiedene Vergleiche mit den beiden Weltkriegen bzw. deren Vorläuferkonflikten angestellt. In der bürgerlichen Debatte herrscht der mit dem Zweiten Weltkrieg vor, insbesondere um an den „antifaschistischen Kampf“ bzw. die „historischen Lehren“ aus den Fehlern von „Appeasementpolitik“ anzuschließen. Vorherrschend ist die Erzählung vom „durchgedrehten“ Autokraten Putin, der analog zu Hitler sein Land mit einer faschistischen Diktatur überzogen habe und dessen irre Gefährlichkeit von den „naiven“ demokratischen Regierungen insbesondere in Europa lange nicht gesehen worden wäre. Aus marxistischer Sicht ist das Putinregime natürlich kein Faschismus, wohl aber ein über Jahre gefestigtes autoritäres, das dem nach der Restauration des Kapitalismus entstandenen russischen Imperialismus aus einer Position der Schwäche heraus mit allen Mitteln einen Platz im Orchester der Großmächte zu sichern versucht. Das „System Putin“ ist damit auch nicht an seine besondere Person gebunden, sondern umfasst eine mit den großen Rüstungs- und Rohstoffkonzernen eng verflochtene politische Führungsschicht, deren imperialistische Extraprofite aufs Engste mit dem Erhalt von Einflusssphären und militärischer Potenz verbunden sind. Die Expansion der NATO bzw. USA in Osteuropa und Zentralasien ebenso wie seine wachsende ökonomische Schwäche mussten daher Russland um seine Stellung als Weltmacht fürchten lassen. Konkret in der Ukraine wurde nach 1990 lange Zeit eine Art Patt zwischen prorussischen und -westlichen Kräften aufrechterhalten, das mit der Maidanbewegung um 2014 kippte und zum Konflikt um die Ostukraine und Krim führte. Die Geschichte des Hineinschlitterns in den Krieg mitsamt der Rolle der verschiedenen Großmächte und nationalistischen Kräfte in der Ukraine erinnert dann auch mehr an den Prolog zum Ersten Weltkrieg und die „schlafwandlerische“ Eskalation rund um den Balkan.

Umgekehrt gibt es auch in Teilen der Linken den Missbrauch des Faschismuslabels. So bezeichnet die „Junge Welt“ die Selenskyjregierung gerne als „faschistischen Büttel der NATO“, die mit dem „Maidanputsch“ 2014 in der Ukraine eine naziähnliche Diktatur errichtet hätte. Auch wenn ukrainische Nazis für den unmittelbaren Machtwechsel 2014 eine wichtige Rolle spielten, reicht dies keinesfalls aus, um das danach entstandene westlich orientierte System eines oligarchischen Kapitalismus in der Ukraine treffend zu charakterisieren. Die ökonomische Dauerkrise zwingt dieses Regime, den Nationalismus als gesellschaftlichen Kitt zu verwenden und insbesondere im Sicherheitsapparat viele extrem rechte Kräfte einzusetzen. Doch sind dies eher untergeordnete Aspekte gegenüber einer generellen Westorientierung, die bei den Massen in der Ukraine mit großen Illusionen in „westliche Demokratie und Wohlstand“ verbunden sind.

Beide Seiten des „Lager“kampfes gegen den „Putinfaschismus“ oder die Maidannazis begehen eine üble Verschleierung des tatsächlichen Charakters des Krieges. Die Beschwörung des angeblich faschistischen Charakters der jeweils anderen Seite dient offenbar der Rechtfertigung einer Parteinahme für einen „demokratischen“ oder „antifaschistischen“ Imperialismus, also für eine offene Unterstützung der NATO oder Russlands im „antifaschistischen Kampf“. Wie immer nützt die „antifaschistische Volksfront“ hier der Aufgabe von Klassenpolitik zugunsten der politischen Unterordnung unter die reaktionären Ziele eines der sich bekämpfenden bürgerlichen Lager. Der Charakter dieses Krieges sollte also zunächst mal jenseits dieser falschen Fährte Krieg gegen den Faschismus verstanden werden.

Susan Watkins hat im „New Left Review” in dem Artikel „Five Wars in One” eine hilfreiche Aufschlüsselung seiner verschiedenen Ebenen erstellt. In Analogie zur bekannten Analyse von Ernest Mandel zum Zweiten Weltkrieg hat sie für diesen als „Weltordnungskrieg“ fünf Konfliktebenen dargestellt. Anhand dieser lassen sich gut die Probleme für eine linke Positionsfindung und die Gefahren von Verkürzungen darstellen.

1. Imperialistischer Angriffskrieg

Der erste und sicher offensichtlichste Aspekt ist, dass es sich um einen brutalen imperialistischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine handelt. Anders als in der bürgerlichen Öffentlichkeit wird dabei nicht auf eine „imperialistische“ Ideologie des Putinregimes Bezug genommen, sondern auf die in der gegenwärtigen Epoche des Weltkapitalismus bestehende imperialistische Weltordnung. Der Imperialismus ist dabei Ausdruck der Unfähigkeit des globalen Kapitalismus, die historisch überholte Form des Nationalstaates durch ein den globalen Problemen angemessenes politisches Weltsystem zu ersetzen. An dessen Stelle tritt ein System von Großmächten und deren Einflusssphären, das notwendig mit den Prinzipien nationalstaatlicher Souveränität in Konflikt geraten muss. Die westlichen imperialistischen Mächte sichern ihre heute im günstigsten Fall durch „Softpower“.

Die Halbkolonien des Westens scheinen sich freiwillig für „Demokratie und Menschenrechte“ zu entscheiden, die von der NATO und ähnlichen Mächten dann „geschützt“ werden (und nur zu oft mit militärischen Mitteln). Wenn jetzt zu Russland gesagt wird, die Verteidigung seiner „Einflusssphäre“ wäre „veraltetes Denken“, so wird nur verschleiert, dass es bei z. B. der NATO-Osterweiterung oder der EU-Ausdehnung natürlich auch um deren Sicherung geht. Anders als „der Westen“ hat Russland jedoch immer weniger ökonomische und politische Vorteile anzubieten und erscheint sicherlich nicht als eine weniger unterdrückerische und demokratischere Alternative. Ein schwächelnder Imperialismus neigt, wie die Geschichte, zeigt, dazu, seine Einflusssphäre dann eben militärisch zu sichern.

Diese Erklärung des russischen Angriffs ist aber natürlich in keiner Weise eine Rechtfertigung. Es ist vor allem ein Argument dafür, dass das imperialistische System als Ganzes menschenverachtend und krisenbehaftet ist und als solches überwunden werden muss. Dies bedeutet vor allem auch, dass die Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Staaten ihren Führungen die Waffen aus den Händen schlagen und sie gegen ihre Kriegsherr:innen selber richten müssen. Die Position von Sozialist:innen in der russischen Föderation muss eine des verstärkten Klassenkampfes gegen das reaktionäre, nationalistische Putinregime sein. Hier vertreten wir den revolutionären Defaitismus und die Umwandlung des Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des russischen Imperialismus.

Wir lehnen daher auch die Scheinlösungen ab, die in Linkspartei und DKP zur Beilegung des Konflikts vorherrschen: Man müsse eine Friedensordnung erreichen, die die „berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“ garantiere. Diese Position beinhaltet sowohl eine Erzählung von der NATO-Osterweiterung u. a. als Grund, warum „fehlende Sensibilität“ gegenüber Russland zum Krieg geführt habe. Sie beinhaltet aber auch den „Plan“, dass eine Friedenslösung mit Russland über ein Abkommen mit den westlichen Mächten zur „Sicherheitsarchitektur“ in Europa den Konflikt nachhaltig entwirren könne. Einerseits wird bei dieser Art von Lösung ausgeblendet, dass es hier tatsächlich um den Kampf um Einflusssphären imperialistischer Mächte geht, der noch weit von einer Entscheidung wie dem seinerzeitigen Potsdamer Abkommen entfernt ist.

Es wird vor allem stillschweigend darüber hinweggegangen, dass es hier auch um die Frage der Selbstbestimmung von Ländern wie der Ukraine geht, die im Rahmen solcher „Sicherheitsarchitekturen“ tatsächlich durch das eine oder andere halbkoloniale System unterjocht werden. Die Frage ist dabei auch nicht, ob Beitritt zu einem Bündnis oder durch Sicherheitsgarantien begleitete „Neutralität“ Auswege wären, sondern dass nur eine antiimperialistische Bewegung in der Ukraine und in den Arbeiter:innenklassen Europas für ein Ende des Zwangs zur Einbindung in welche Einflusssphären, Militärbündnisse, Wirtschaftsunionen auch immer sorgen könnte. Nicht irgendwelche Abkommen zwischen EU, Russland und den USA über die zukünftige Ordnung in Europa können, sondern nur der Kampf um vereinigte sozialistische Staaten von Europa durch soziale Revolution von unten kann eine wirkliche Friedensordnung auf diesem Kontinent herstellen.

2. Selbstverteidigungskrieg

Der zweite Aspekt ist der eines nationalen Selbstverteidigungskrieges von Seiten der Ukraine. Sie ist eines der ärmsten Länder des Kontinents, das gleichzeitig reich an mineralischen und agrarischen Rohstoffen ist. In ganz Europa wird ukrainische Arbeitskraft aufs Blut ausgebeutet. Im Land selbst herrscht ein extrem korrupter Oligarchenkapitalismus, der seine ausbeuterische Fratze hinter demokratischen Phrasen und der nationalistischen Verteidigungspose verbirgt.

All dies ist nicht ungewöhnlich für ausgebeutete Halbkolonien auf der ganzen Welt. Im Fall des Angriffs einer imperialistischen Macht, die sich dieses Land einverleiben will, gibt es bei den Massen trotz aller Entfremdung zu ihrer Führung den klaren Impuls, das demokratische Selbstbestimmungsrecht auf einen eigenen Staat zu verteidigen. Insbesondere war die Ukraine seit Jahrhunderten von ihren Nachbarstaaten unterjocht – nicht nur von Russland, sondern auch von Polen/Litauen und der Habsburger Monarchie. Auch wenn jetzt sowohl von Putin als auch den ukrainischen Nationalist:innen verhöhnt, waren es Lenin und die Bolschewiki, die zuerst den Kampf gegen Zarismus und Habsburger:innen nicht nur mit dem internationalen Klassenkampf sondern auch mit dem um die Selbstbestimmung der Ukraine verbunden haben.

Seit Jahrhunderten wurde damit nach dem Bürgerkrieg zum ersten Mal ein ukrainischer Staat gebildet – auch wenn dessen Unabhängigkeit in der stalinisierten Sowjetunion mehr als prekär geriet. Aber nur so wurde in den Wirren der Auflösung der Sowjetunion die Ukraine als eigenständiger Nationalstaat möglich. Auch wenn sie selbst ein Vielvölkerstaat ist, gibt es eine große Mehrheitsbevölkerung, die sich der ukrainischen Identität zugehörig fühlt und sich keineswegs wieder einem anderen Nationalstaat unterordnen will. Sozialist:innen müssen diesen demokratischen Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung respektieren – so wie sie das auch im Freiheitskampf um Irland oder Kurdistan immer schon getan haben.

Bei aller Klassenspaltung in der Ukraine werden die Arbeiter:innen kaum für ihre zentralen sozialen Kämpfe gewonnen werden können, wenn man nicht zugleich mit ihnen gegen die nationale Unterjochung kämpft, was ihnen als Voraussetzung dafür erscheint, auch ihre ureigensten Klassenkämpfe auf vertrautem Terrain führen zu können. Bei aller Kritik an der korrupten, proimperialistischen Führung des Verteidigungskrieges rufen wir, zumindest bis eigenständige Kampfverbände aufgebaut sind, dazu auf, in die bestehenden Verteidigungsstrukturen zu gehen (sofern sie nicht offen faschistische Einheiten sind). Auch dort müssen wir den verräterischen und klassenfeindlichen Charakter der politischen Führung aufzeigen wie auch die Gefahr des Missbrauchs des Verteidigungskrieges für die westlichen imperialistischen Interessen – also auch für die Fortsetzung des Kampfes nach Abwehr des russischen Angriffs. Diese Kritik kann aber nicht dazu führen, die Niederlage der Ukraine einfach billigend in Kauf zu nehmen. Diese würde die Kampfbedingungen der ukrainischen Arbeiter:innen um ein Vielfaches verschlechtern und es zugleich faktisch unmöglich machen, sie von ihren Illusionen in das prowestliche Regime zu lösen.

Insofern lehnen wir die pazifistischen Positionen gegenüber dem berechtigten Kampf für Selbstverteidigung genauso ab wie die Versuche, die Verteidigungskräfte der Ukraine insgesamt nach dem Bild des Asowregiments zu charakterisieren. Auch wenn wir die Einheiten, die an die Nazikollaborateurtruppen des Stepan Bandera anknüpfen, ablehnen und sie nicht als „Kampfgenossinnen“ akzeptieren, so weigern wir uns, diese mit dem ukrainischen Kampf insgesamt gleichzusetzen. Auch im palästinensischen Widerstand ist es unvermeidlich, z. B. mit der Hamas auf denselben Barrikaden zu stehen. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukrainer: innen verteidigen, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

3. Bürger:innenkrieg

Der dritte Aspekt ist der des innerukrainischen Bürger:innenkriegs. Das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und -russischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine genauso wie der Ausgleich zwischen den Nationalitäten im Vielvölkerstaat Ukraine wurden mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwendete zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und den Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war der letztlich auch bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedrohten Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine und auf der Krim vorprogrammiert. Der Kampf um Minderheitenrechte und Autonomie, der dort begann, war sicherlich berechtigt und musste von Sozialist:innen ebenso im Sinn des Selbstbestimmungsrechtes verteidigt werden. Allerdings wurde er letztlich vom russischen Imperialismus für seine Intervention und Annexionspolitik missbraucht.

In der gegenwärtigen Situation ist diese Frage daher der des Selbstverteidigungsrechts der Ukraine untergeordnet. Andererseits wird keine Lösung des Konflikts zentral auch um den Status von Donbas(s) (Donezbecken), Luhansk und der Krim herumkommen. Dabei wird auch die Heuchelei aller „Verteidiger:innen des Völkerrechts“ klar, die betonen, die Ukraine müsse um jeden Preis in ihren ursprünglichen Grenze, also sogar mit Eroberung der Krim wiederhergestellt werden. In den genannten Regionen gibt es historische und ethnische Gründe, die durchaus dafür sprechen, dass die Bevölkerung dort selbst bestimmen können sollte, in welchen Grenzen sie zukünftig leben will – ob in der Ukraine, Russland, als autonome Region bei einem von beiden, selbstständig etc.

Die Fetischisierung bestehender Grenzen erwies  sich bei von Nationalitätenkonflikten gebeutelten Grenzregionen noch nie als Frieden stiftend. Es ist auch eine ziemliche Heuchelei, wenn heute gegen eine Lostrennung der Krim von der Ukraine das Völkerrecht ins Spiel gebracht wird, im (ebenso berechtigten) Fall des Kosovo gegenüber Serbien jedoch nicht. Hier zeigt sich letztlich, dass es dem westlichen Imperialismus nicht um das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker geht, sondern um den Sieg ihres nationalistischen Stellvertreterregimes unter Inkaufnahme einer brutalen Unterdrückung der russischen Minderheit. Daher müssen Revolutionär:innen auch in der Ukraine deutlich machen, dass die Zukunft der sog. Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein! Zugleich verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht für die Krim und die „Volksrepubliken“.

4. Westlicher Imperialismus

Der vierte Aspekt des Krieges ist die massive Unterstützung des westlichen Imperialismus für die Ukraine, die ihn de facto zu einem Stellvertreterkrieg macht. Angefangen bei den USA sprechen auch alle deren Verbündeten von einem „Krieg der Demokratie“ gegen den „Autoritarismus“. Wenn also aus bestimmten Gründen keine direkte Beteiligung von NATO-Verbänden gegeben ist, so ist doch sowohl der Wirtschaftskrieg gegen Russland wie auch das Ausmaß ökonomischer, logistischer und waffentechnischer Unterstützung von bisher nicht gesehenem Umfang in einem solchen Konflikt.

Die Ukraine, die vor dem Krieg praktisch zahlungsunfähig war, erhielt im ersten Kriegsjahr Hilfspakete und Waffen im Umfang von zwei Dritteln ihres Sozialprodukts – praktisch täglich die Summe an Unterstützung, die zu Hochzeiten jährlich in Afghanistan investiert wurde. Sie stellt sogar die der USA für Israel in den Schatten. Dabei werden nicht einfach nur Waffen geliefert. Die ukrainische Armee wurde und wird systematisch an neuen Waffensystemen technisch und taktisch ausgebildet ebenso wie offensichtlich die modernsten Kommunikationssysteme zur Gefechtsunterstützung umstandslos zur Verfügung gestellt werden.

Ziemlich unverhohlen werden nachrichtendienstliche Erkenntnisse über den Gegner sofort an die Ukraine weitergeleitet wie auch Taktik und Strategie mit Militärberater:innen aus den NATO-Stäben abgestimmt. Über Ringtausche ist die Bewaffnung der Ukraine dabei auch ganz klar in Aufrüstungsprogramme aller NATO-Staaten, auch der Bundesrepublik, einbezogen. In Kombination mit den Wirtschaftssanktionen, die ähnlich der alten Kriegstaktik der „Kontinentalsperre“ wirken sollen, kann man mit voller Berechtigung davon sprechen, dass der westliche Imperialismus den ukrainischen Verteidigungskrieg dazu benützt, den russischen Imperialismus per Stellvertreterkrieg entscheidend zu schwächen. Dies entspricht der langfristigen globalen Strategie der USA, die gegenüber China und Russland als globalen Hauptkonkurrenten entwickelt wurde. Der Ukrainekrieg wurde da als günstige Gelegenheit ergriffen, um die EU-Imperialist:innen ebenso auf diese Konfrontation einzuschwören und Russland als Hauptverbündeten Chinas auf Jahre in die zweite Reihe zu verbannen.

Es scheint aber auch so zu sein, dass die USA nicht zu unbeschränkter Unterstützung der Ukraine bereit sind. Die umstrittenen Äußerungen des US-Generalstabschefs (CJCS) Mark A. Milley, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen könne, kann wohl als Ausplaudern der Pentagonstrategie verstanden werden: Wenn die USA wollten, könnten sie natürlich solche militärische Unterstützung leisten, die den Krieg längst beendet hätte – aber das ist wohl nicht bezweckt. Sie wollen offenbar Russland aufgrund seiner geostrategischen Bedeutung nicht gänzlich zum Zerfallskandidaten machen und andererseits auch nicht in Europa neue militärische Rivalen entstehen lassen. Insofern nimmt man im Pentagon wohl gerne einen langwierigen, blutigen Stellungskrieg in der Ukraine in Kauf, der Europa und Russland auf lange Sicht als globale Rivalen schwächt.

Von daher müssen wir in den westlichen imperialistischen Staaten gegen diesen Missbrauch des Verteidigungskrieges der ukrainischen Bevölkerung und seine blutige Verstetigung als Stellvertreterkrieg protestieren. Wir müssen daher auch gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland Stellung beziehen, da sie nicht getrennt werden können von den Aufrüstungsprogrammen der NATO und dem globalen Konflikt, der hier mithilfe der Ukraine geführt wird. Auf globaler Ebene ist dieser Aspekt das dominierende Element, auch wenn dies nicht bedeutet, dass deshalb der Kampf um Selbstverteidigung in der Ukraine keine Berechtigung hätte. Alle Waffenlieferungen an sie, ob über Ringtausche oder direkt, sind einerseits ganz klar mit eigenen Rüstungsprojekten, dem Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie und deren Profiten verbunden, andererseits an die US-Strategie zur Niederringung der chinesischen und russischen globalen Rivalen gekettet. Ebenso müssen wir die ukrainischen Arbeiter:innen davor warnen, dass die große Hilfe aus „dem Westen“ nicht ohne Kosten für sie daherkommen wird. Die Rechnung dafür wird genau ihnen und den Ärmsten präsentiert werden, die dafür mit Überausbeutung in Sonderaufbauprogrammen der westlichen Imperialist:innen für ihre neue Halbkolonie bezahlen werden.

5. Weltkriegspotential und das Verhältnis der verschiedenen Dimensionen des Krieges zueinander

Schließlich beseht der fünfte Aspekt des Krieges darin, dass er jederzeit das Potential birgt, zu einer unmittelbaren Konfrontation zwischen Russland und der NATO – also zu einem offenen Weltkrieg – zu eskalieren. Durch die Art der Unterstützung des Westens für die Ukraine ist dies zwar angelegt, aber bisher noch nicht Realität geworden. Die ukrainische Führung und einige osteuropäische und baltische Staaten sind an sich für eine „Endlösung der russischen Bedrohung“ und tun viel dafür, dass die Bereitschaft dazu im Westen wächst. Andererseits stellt die russische Führung ebenso den Westen bereits als kriegsführende Partei dar und deutet bei ungünstigem Verlauf auch die Möglichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen an – was wahrscheinlich rasch zu Gegenschlägen führen würde.

Diese mögliche Eskalation wird auch von einigen Linken als Grund genannt, den Ukrainer:innen de facto zu raten, möglichst rasch zu einem Waffenstillstand zu kommen. Eine zynische Position: Insofern müsste dann in jedem Konflikt mit imperialistischen Mächten eigentlich sofort kapituliert werden, weil ansonsten vielleicht ein Welt- oder Nuklearkrieg drohen. Angesichts der globalen Zuspitzung der imperialistischen Gegensätze und dem beginnenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt erweist sich der Pazifismus als hoffnungslos desorientiert. Nur internationaler Klassenkampf zur Zerschlagung, Entwaffnung der mörderischen Arsenale, Aufdeckung und Bekämpfung der räuberischen Absichten aller Seiten kann den drohenden Weltkrieg tatsächlich abwenden.

Den Charakter eines Krieges unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen, würde zu einem schweren Fehler führen. Viele Linke kommen heute zu dem Schluss, dass die Invasion eines halbkolonialen Landes wie der Ukraine durch eine imperialistische Macht mit dem Ziel, es zu einer Kolonie Russlands zu machen oder zumindest große Teile seines Territoriums zu annektieren, reaktionär ist und deshalb die Unterstützung der Ukraine durch die NATO in Form einer beispiellosen wirtschaftlichen und militärischen Hilfe ebenfalls gerechtfertigt und fortschrittlich sein muss.

Dabei wird aber die Tatsache ignoriert, dass die Intervention der NATO nicht durch demokratische Ideale motiviert ist, sondern durch den Wunsch, Russland als ihren imperialistischen Rivalen auf der Weltbühne zu schwächen und es so unfähig zu machen, die USA auf Schauplätzen wie dem Nahen Osten und Afrika südlich der Sahara herauszufordern. Andere Motive Washingtons waren, die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Russland zu sabotieren und China eine Warnung vor seiner unverminderten militärischen Macht und anhaltenden wirtschaftlichen Dominanz zu senden. Kurz gesagt, die demokratische Rhetorik der NATO ist nur eine zynische Tarnung, um Handlungen zu rechtfertigen, die ausschließlich durch ihre imperialistischen Eigeninteressen motiviert sind.

Die Entwicklungen, die zu dem reaktionären Einmarsch Russlands geführt haben, bestätigen in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht nur um einen Krieg der Landesverteidigung handelt, sondern auch der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluss der NATO selbst ein entscheidender Faktor ist und zu einem zwischenimperialistischen Krieg von beispielloser Zerstörungskraft für die Menschheit führen könnte.

Angesichts einer Weltlage, in der multiple Krisen und der zunehmende Kampf um die Neuaufteilung der Welt viele solch komplexer Situationen wie den Ukrainekrieg hervorrufen (z. B. Taiwan), ist es notwendig, dass die Linke zu einer programmatisch klaren sozialistischen Antikriegsposition findet. Diese kann nicht in abstrakt allgemeinen Formeln bestehen und muss sowohl die gegenwärtige Weltlage wie auch die konkreten Analyse der Kriegssituation beinhalten. Im gegenwärtigen Moment bedeutet das die Anerkennung des Rechts auf Selbstverteidigung der Ukraine bei gleichzeitiger Bekämpfung des Eingreifens der westlichen Imperialist:innen, die diesen Konflikt zur Niederwerfung ihres Konkurrenten nutzen.

Die Grundlinien einer solchen Positionsfindung müssen also beinhalten: Unterstützung der Antikriegsopposition in Russland und Umwandlung des Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des russischen Imperialismus; Verteidigung der Ukraine bei gleichzeitigem Aufzeigen des reaktionären Charakters der Führung des Kampfes, Verweigerung jeder politischen Unterstützung seines Missbrauchs als Stellvertreterkrieg; Verurteilung und Bekämpfung der Aufrüstungspolitik in den NATO-Staaten und des Missbrauchs der Waffenlieferungen an die Ukraine als Mittel zur Führung eines Stellvertreterkrieges; Aufbau einer Antikriegsbewegung, die sich der wachsenden Gefahr eines neuen Weltkriegs bei weiter wachsenden Atomwaffenarsenalen entgegenstellt.




Der Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus

Markus Lehner, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Die Polarisierung zwischen einem „autoritären“, konservativen und einem „demokratischen“ bürgerlichen Lager kennzeichnet die Situation in vielen imperialistischen wie auch halbkolonialen Ländern. Die aktuelle kapitalistische Krise selbst befördert diese Polarisierung und die Tendenz zum Populismus, zur Radikalisierung im bürgerlichen Lager, dem ein vorgeblich demokratisches gegenübersteht.

Letzteres versucht, sich als „fortschrittliche Alternative“ zu präsentieren, und reicht von der liberalen Bourgeoisie (einschließlich Teilen der Konservativen) über die Grünen bis hin zur Sozialdemokratie und Teilen der Linksparteien und des Linkspopulismus.

Scheinalternative

Politisch steht es für Elemente der staatlichen Intervention, des Korporatismus, der Einbeziehung von Unternehmer:innen und Gewerkschaften oder anderen Vertretungsorganen der Lohnarbeit in die Sozialpartner:innenschaft.

Ökologische und ökonomische Versprechen wie der Green (New) Deal, begrenzte Sozialreformen, formale demokratische Verbesserungen für Frauen oder rassisch Unterdrückte sollen die Masse der Lohnabhängigen und Unterdrückten bei der Stange halten, ohne jedoch die Akzeptanz des Finanzkapitals und eine Erneuerung des Kapitalstocks in den jeweiligen Ländern in Frage zu stellen. All dies wird mit einer demokratisch verbrämten imperialistischen Außenpolitik kombiniert.

Es ist kein Zufall, dass eine solche Politik vor allem in den reicheren imperialistischen Ländern mit einer relativ großen Arbeiter:innenaristokratie und umfangreichen lohnabhängigen Mittelschichten eine gewisse Grundlage finden kann. In den Halbkolonien, aber auch in den bonapartistischen imperialistischen Regimen, muss die „Demokratie“ durch nationalistische und chauvinistische Ideologie ersetzt werden. Die populistisch organisierte Massenunterstützung muss dort auf solche Ideologien zurückgreifen, wie z. B. den zunehmenden völkisch konnotierten Nationalismus in Russland oder den Hinduchauvinismus in Indien.

Die Polarisierung im bürgerlichen Lager ist jedoch auch das Ergebnis der inneren Krise der Bourgeoisie und der veränderten Lage der Mittelschichten und des Kleinbürgertums. Die Krise untergräbt nämlich ihre Stellung in der Gesellschaft und drückt ihre wirtschaftlich aktiven Teile an die Wand. Die Kombination aus internen Konflikten in der Bourgeoisie und der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse führt dazu, dass die Mittelschichten und das Kleinbürgertum, enttäuscht von den Hauptklassen der Gesellschaft, eine scheinbar unabhängige Kraft hervorbringen – sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, zusammen mit einer Reihe von Schwankungen zwischen den Polen.

Vor diesem Hintergrund präsentieren sich rechtspopulistische, scheinbar gegen das Establishment gerichtete Parteien und Organisationen als Scheinalternative des „kleinen Mannes“, der „normalen“ Menschen.

Faschismus

Neben dem bedrohlichen Anstieg rechtspopulistischer, rassistischer und rechtsextremer Organisierung darf die faschistische Gefahr in ihren verschiedenen Gestalten nicht vergessen werden. Nachdem die Linke lange Zeit in allen möglichen politischen Tendenzen und Verschärfungen staatlicher Repression bereits den „Faschismus“ ante portas (vor den Toren zur Machtergreifung) sah, stand sie lange Zeit fassungslos dem wachsenden populären Massenanhang für Antimigrationsmobilisierungen, Protesten gegen liberale Gesetzgebungen in Gender- oder Antidiskriminierungsfragen, Klimaschutzregeln, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gegenüber. Die Konfrontation mit diesen rechten Massenphänomenen war für die sogenannte „antifaschistische“ Linke viel schwieriger als das Stoppen kleiner Neonaziaufmärsche oder -aktionen der Vergangenheit. Dabei können sich gerade Faschist:innen im Windschatten dieser Bewegungen in viel wirksamerer Weise aufbauen als früher.

Der Faschismus ist nicht bloß eine bestimmte, besonders reaktionäre ideologische Strömung innerhalb bürgerlicher Politik. Er stellt vielmehr die äußerste Form des konterrevolutionären Bürgerkriegs gegen die Gefahr der sozialen Revolution in Zeiten zugespitzter sozialer Krisen dar. In den 1920er/-30er Jahren war er das letzte Mittel der Bourgeoisie, um durch Massenmobilisierung die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung zu zerschlagen. Normalerweise vertraut bürgerliche Politik auf die Integration der Massen durch politisch-demokratische Institutionen, die bürgerliche Öffentlichkeit („Zivilgesellschaft“) und repressive Mittel des Staatsapparates. Darüber hinaus sollen radikalere Klassenkämpfe und damit verbundene reformistische und gewerkschaftliche Organisationen auch durch Mittel des Bonapartismus im Zaum gehalten werden – und sei es, um „Schlimmeres zu verhindern“.

Doch ab einem gewissen Punkt der Zuspitzung des Klassenkampfs bedarf die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung radikalerer Mittel, die auf die Zerschlagung nicht nur der sich selbst organisierenden und revolutionären Bewegungen der Klasse und Unterdrückten, sondern der gesamten organisierten Arbeiter:innenbewegung zielen. Der Zweck der organisierten und militanten Massenbewegung des Faschismus besteht dabei darin, über die staatliche Repression hinaus eine politische Atomisierung der Arbeiter:innen und Unterdrückten herbeizuführen. Für die faschistische Herrschaft ist nicht einfach die Übernahme der Machtpositionen im bestehenden Staat entscheidend, sondern auch die Bewegung hin zur Machtübernahme, die die Unterklassen durchdringt und jeglichen Widerstand im Keim erstickt. Es ist daher für den Faschismus charakteristisch, dass er als Bewegung des rabiaten Kleinbürger:innentums samt demoralisiertem Anhang in anderen Klassen beginnt und diese gesellschaftliche Kraft zu einer Bewegung, einem Rammbock gegen die Arbeiter:innenbewegung – und oft zuerst gegen deren unterdrückteste Teile – zusammenschweißt.

Eine solche totalitäre Form des Kampfes um die Macht erfordert eine organisierte Massenbewegung, die sich auf verzweifelte, von Aggression und Irrationalismus getriebene Teile von Unterklassen stützt, die in der sozialen und ökonomischen Krise aus ihrer bisherigen „bürgerlichen“ Scheinwelt entwurzelt wurden. Traditionell waren dies Teile des Kleinbürger:Innentums und des Lumpenproletariats. Mit der sich seit einigen Jahrzehnten entwickelnden Krise der Arbeiter:innenklasse selbst, ihrer größer werdenden Differenzierung und Spaltung sind es auch vermehrt Schichten der von der Krise betroffenen Lohnabhängigen, die, vom Reformismus enttäuscht, sich den rechten Rattenfänger:innen anschließen. So z. B. die Teile der Arbeiter:innenaristokratie, die vom Abstieg durch Veränderungen des Produktionsprozesses ins Abseits geschoben wurden. Umgekehrt können der Faschismus – und als Vorstufe der Rechtspopulismus – eine Anziehungskraft für deklassierte, marginalisierte Teile der Lohnabhängigen, die aus tariflich gebundenen Arbeitsverhältnissen ausgeschlossen sind und von den Gewerkschaften nicht organisiert werden, verkörpern. Für diese Schichten erscheinen reformistische Teile der Arbeiter:innenbewegung als die „Krisengewinner:innen“ in der Klasse, die sich mit den Mittelschichtsgrünen arrangieren, als besondere Verräter:innen ihrer Interessen und damit neben den Migrant:innen als primäre Ziele ihres gesellschaftlichen Hasses.

Diese Formen der Entwurzelung, des Aufbaus von Ersatzhassobjekten, des Weltbildes von Verschwörungen eines „volksfremden“ Establishments gegen die eigentlich gute „bürgerliche“ Gesellschaft führen zu extrem aggressiven Formen von Massenmobilisierungen, die sich letztlich auch in bewaffneten Organen, von „Bürgerwehren“ bis hin zu Milizen, bündeln lassen. Zumeist besteht auch eine Nähe zum Personal der bewaffneten Kräfte des „normalen“ bürgerlichen Staatsapparates, wo es einen überdurchschnittlichen Anteil an Sympathien für rechte politische Strömungen gibt. So baut sich mit der Zeit ein Netzwerk von Waffenarsenalen, rechtem Terror und schließlich bewaffneten Organisationen auf, das zum Kampf um die Macht bereit ist.

Diese Form kam vielen Linken gerade in den westlichen Demokratien lange als Relikt der Vergangenheit vor und über Jahrzehnte hinweg bestand in vielen Ländern auch nicht die gesellschaftliche Basis für eine faschistische Massenbewegung (auch wenn es durchaus bedeutsame Ausnahmen gibt).

Faschistische Frontorganisationen

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren faschistische Parteien in Europa und Nordamerika nach den Erfahrungen des Nazi- und italienischen Faschismus außerdem weitgehend diskreditiert. Die überlebenden faschistischen Kräfte hatten daher drei Optionen: erstens das Überleben als mehr oder weniger unauffälliges Netzwerk in bürgerlich-parlamentarischen Parteien; zweitens als kleine, sektenartige Randgruppen; drittens aber auch durch den Aufbau von faschistischen Frontorganisationen. Insbesondere in Italien wurde mit der MSI (Movimento Sociale Italiano) eine Organisation gebildet, die weiterhin einen faschistischen Kern und entsprechende Ideologien enthielt, aber darüber hinaus als „normale“ Partei im parlamentarischen Rahmen agierte. MSI und später in Frankreich der FN (Front National) des Jean-Marie Le Pens konnten beschränkte Massenwirksamkeit erreichen, ohne die eigentlichen faschistischen Formen des Kampfes einzusetzen. Ihre respektable bürgerliche Fassade, ihr gewöhnlicher Rechtspopulismus konnten trotzdem faschistische Kerne an sich binden, die diese Form der Frontorganisation als Mittel ihres langfristigen Aufbaus für den eigentlichen militanten Kampf sahen.

Faschistische Frontorganisationen tragen somit wesentlich widersprüchliche Tendenzen in sich. Zwischen reinem Verbreiten „faschistischer Ideologie“ (die letztlich immer einen Mischmasch verschiedener, schon vorgefundener extrem reaktionärer Ideen darstellt) und dem tatsächlichem Kampf des Faschismus um die Macht besteht ein weites Feld. Sofern solche Fronten dann tatsächlich Funktionen im bürgerlichen Staat übernehmen ohne die entsprechenden Formen der faschistischen Machtergreifung, transformieren sich Teile ihrer Führung schnell zu gewöhnlichen rechtspopulistischen oder rechtskonservativen Politiker:innen und die faschistischen Kräfte spalten sich ab. So geschehen in den 1990er Jahren in der ersten Regierung Berlusconi in Italien, als seine Partei zusammen mit der Lega Nord und der zur Alleanza Nazionale (AN) gewandelten MSI eine Koalition einging. Dies war natürlich keine „faschistische Machtübernahme“. Die Regierungsbeteiligung führte vielmehr zur „Verbürgerlichung“ eines Teils der MSI und der Abspaltung der „traditionellen Faschist:innen“, aus denen später die Fratelli d’Italia (FdI) entstand. Offenbar wiederholt sich gegenwärtig derselbe Prozess mit letzterer – auch wenn die faschistische Front diesmal sogar die stärkste Kraft in der Koalition ist. Der FN in Frankreich machte schon vor der möglichen Regierungsbeteiligung einen solchen Wandlungsprozess durch, in dem er sich in das Rassemblement National (RN) umbaute.

Während der Globalisierungsperiode entwickelte sich ein breites Spektrum von rechtspopulistischen, rechtsextremen bis hin zu faschistischen Organisationen, die an diese Vorgeschichte anknüpften. War nationale Abschottung zwar angesichts der faktischen Gewalt der kapitalistischen Globalisierung kein realistisches Politikprojekt, so wurden nationalistische Scheinantworten auf die sozialen Folgen der Globalisierung immer verbreiteter. Dies betraf nicht nur Phänomene wie verstärkte Standortverlagerungen oder Arbeitsmigration, sondern auch wachsenden Verlust nationaler Gesetzgebungskompetenz angesichts der übermächtigen Kapitalströme. Mit dem Aufkommen verstärkter Krisentendenzen am Ende der Globalisierungsperiode haben irrationale nationalistische Alternativen zur Globalisierung immer mehr an politischem Gewicht gewonnen. Dies ist nicht nur in der völligen Überhöhung von Fragen der Migration oder von „Genderwahn“ & Co. zu sehen, sondern in Europa insbesondere an Fragen der EU-Integration. Letzteres führt im EU-Raum zu verschiedenen Formen von Austrittsbewegungen, zu Bewegungen oder Kampagnen gegen bestimmte EU-Vorgaben, an denen sich rechte und faschistische Kräfte aufrichten können. Die Rechte benutzt teilweise berechtigte EU-Kritik zur Selbstinszenierung als Antiestablishmentkämpferin gegen „Globalismus“, „EU-Establishment“, den „woken Totalitarismus“ etc.

Die AfD

Der Aufstieg der AfD muss im Rahmen dieser allgemeinen Tendenz betrachtet werden, auch wenn sich ihre Entstehung und Entwicklung deutlich von jener faschistischer Frontparteien unterscheidet. Gegründet wurde sie weitgehend von EU-kritischen rechten U-Booten in den etablierten konservativen Parteien (CDU, CSU, FDP), insbesondere aus der Ablehnung des Euro heraus. Massenwirksam wurde die AfD jedoch vor allem durch extrem rassistische Mobilisierung rund um Migrationsfragen. Dadurch konnten sich auch rechtsextreme Kreise in der Führung der AfD immer mehr durchsetzen. Einer Wählerschaft von 10 – 20 % in Deutschland sind angesichts der Wirkung von kritischer Demagogie bezüglich EU- und Migrationspolitik die offensichtlich rechtsextremen Figuren in verschiedenen Führungspositionen der Partei immer unwichtiger. Inzwischen wird die Partei durch den rechtsextremen „Flügel“ unter dem neuen „Führer“ Bernd Höcke dominiert. Er weist tatsächlich viele Merkmale einer faschistischen Frontorganisation auf, auch wenn sein Verhältnis zu offenen Naziorganisationen wie den „Freien Sachsen“ durchaus auch konfliktbehaftet ist. Gerade wo sich der AfD und auch den vom „Flügel“ geführten Organisationen parlamentarische Möglichkeiten eröffnen (z. B. bei parlamentarischen Manövern mit CDU und FDP in Thüringen), ist auch letzterer dem Spannungsverhältnis von bürgerlichem Politikbetrieb und offenem Faschismus ausgesetzt. Das Konstrukt der AfD erlaubt den faschistischen Kernen jedoch, sich genügend fern von der Diskreditierung durch etablierte bürgerliche Politik zu halten, aber gleichzeitig genügend nahe am bestehenden Politikbetrieb zu bleiben, um neue Anhängerschaft und Geldmittel zu rekrutieren. So bauen sie sich auf, als reale politische Kraft, die im Fall der Fälle für den Kampf um die politische Macht im faschistischen Sinn bereit steht. Auch wenn die AfD insgesamt als rechtspopulistische Partei charakterisiert werden muss, die ihre Klientel vor allem als Wähler:innen organisiert und weiter auf eine Koalition mit Konservativen und anderen Rechten abzielt, so enthält sie auch einen stärker werdenden inneren Teil, der eine faschistische Frontorganisation darstellt.

Anderswo in Europa gibt es verschiedene Formen ähnlicher „Konstrukte“, in denen sich Faschist:innen auf ihre zukünftige Rolle vorbereiten. Die „Schwedendemokraten“ entstanden direkt aus einer offen faschistischen Organisation, die sich ähnlich MSI/AN/FdI im letzten Jahrzehnt in eine rechtspopulistische Partei mit extrem rassistischen Positionen umwandelte. Erhalten blieben jedoch jeweils faschistische Kerne, die entsprechende Frontorganisationen innerhalb der „gemäßigten“ etablierten Partei bilden und sich oft auch auf eine breitere Unterstützung innerhalb der Mitgliedschaft dieser Organisationen stützen können. Bei Diskreditierung durch Teilnahme an Koalitionsregierungen oder deren Duldung besitzen die faschistischen Kerne genügend Spielraum, um weiterhin als „Opposition“ zu agieren oder eventuell auch Neugründungen anzustoßen. Auch hier wird mit diesen Konstrukten eine reale faschistische Machtalternative zumindest vorbereitet.

Halbkolonien

In Halbkolonien ist der Aufbau faschistischer Organisationen als Kampfmittel zur entsprechenden Machteroberung weiterhin schwieriger, da die entsprechenden vom Abstieg betroffenen Mittelschichten, die von reformistischen Organisationen enttäuscht sich nach alter nationaler Größe zurücksehnen, nicht so ausgeprägt sind wie in den imperialistischen Zentren. Solche faschistischen Kräfte treten daher eher in ökonomisch entwickelteren Halbkolonien wie Brasilien auf. In der islamischen Welt erfüllen extrem islamistische Kräfte oft die Rolle der Atomisierung und Zerschlagung von progressiver Organisierung der Arbeiter:innen und Unterklassen. Dabei rekrutierte z. B. der Islamische Staat (Daesch) seine Militanten tatsächlich sehr stark unter deklassierten Jugendlichen aus imperialistischen Ländern. Der Aufstieg Bolsonaros in Brasilien ist verbunden mit der Bildung verschiedener reaktionärer Organisationen z. B. rund um evangelikale Kirchen, bewaffnete Milizen von Agrarunternehmer:innen, Teile von Vereinigungen Angehöriger von Polizei und Armee, reaktionäre Transportunternehmer:innen und ihre Beschäftigten, offen rechtsextreme Organisationen (z. B. Movimento Direita in Minas Gerais) etc. Diesem Amalgam von bewaffneten Gruppierungen fehlte jedoch bisher die vereinigende politische Organisierung. Die reaktionäre Clownerie des Bolsonaro genügte zwar, um Wahlkämpfe zu führen und eine Welle von rechtem Terror auszulösen, aber nicht für eine faschistische Form der Machtübernahme – daher als (vorläufig) ultimative Losung der Aufruf zum Militärputsch. Ob die neuen Parteien des Bolsonarismus, die PL und die Republikaner:innen, faschistische Frontorganisation werden, hängt davon ab, ob sich jenseits der politischen Figuren im üblichen Politikbetrieb von Kongress, Einzelstaaten und Lokalverwaltungen tatsächliche faschistische Kader mit stabilen Organisationsstrukturen herausbilden, die in diesen Parteien eine wesentliche Rolle spielen können. Gerade bei Ex-Militärs und im Umfeld der Agrarbosse haben sich in den Mobilisierungen nach der Niederlage Bolsonaros bereits entsprechende Personen profiliert.

Auch wenn sich faschistische Kräfte heute vor allem im Windschatten reaktionärer rechter Parteien aufbauen, werden die Opfer der extremen Rechten immer zahlreicher. Zunächst bedeutet die allgemeine Rechtsverschiebung eine repressivere Politik gegenüber Migrant:innen und Minderheiten aller Art ebenso wie ein brutaleres Vorgehen rechtslastiger „Sicherheitskräfte“. Durch die Unterstützung von rechten Medienkonzernen oder die Kampagnen in den „sozialen Medien“ wird ein Klima der Angst und Hetze gegen Linke, unliebsame Journalist:innen und Lokalpolitiker:innen, Wissenschaftler:innen, Migrant:innen, Minderheiten etc. erzeugt, das sich auch über Drohungen hinaus bewegt. Verstärkt tritt rechter Terror nicht nur in Einzeltaten, sondern auch in geplanten Aktionen zutage. Es verwundert nicht, dass in diesen Gewaltakten auch der Antisemitismus wieder eine Rolle spielt. Rechte Parteien und ihre Sympatisant:innen im Polizeiapparat verharmlosen diesen Gewaltanstieg bzw. kriminalisieren den Widerstand dagegen.

Reformistische Irrwege

Die Reaktion der reformistischen Organisationen bzw. von progressiven Mittelschichtparteien wie den Grünen besteht zumeist in der Forderung nach Schulterschluss der „Demokratie“ zur Verhinderung der Machtbeteiligung der Rechtsextremen. Im Windschatten vertreten auch Teile der extremen Linken neue Varianten der Volksfrontpolitik in Form von „demokratischen Allianzen“ (wie jüngst bei der Wahl in Brasilien). Das Problem des Verbündens mit offen bürgerlichen Parteien, die noch nicht zur Zusammenarbeit mit der extremen Rechten bereit sind, liegt darin, dass sie die reformistischen Organisationen und die Linke zu noch mehr Zugeständnissen an die bürgerliche Krisenpolitik zwingen und sowieso viele Forderungen der extremen Rechten z. B. in der Migrationspolitik mit aufgegriffen werden. Die extreme Rechte kann so die Enttäuschung über den Reformismus noch weiter vorantreiben und sich als die „wahre Opposition“ des „kleinen Mannes“ gegenüber dem vereinigten Establishment der „Volksfeind:innen“ präsentieren. Wie schon in den 1930er Jahren geschehen, gerät die Volksfront so zur Wegbereiterin des Aufstiegs des Faschismus.

Gewisse Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit und auch der Linken vertreten die Ansicht, dass sich die extremen Rechten am besten durch tatsächliche Regierungsbeteiligung entlarven ließen, in der sie demonstrieren müssten, dass sie für den Großteil ihrer ärmeren Wähler:innen nicht nur nichts bewirken würden, sondern sogar weitere Verschlechterungen betreiben. Dies verkennt den irrationalen Kern der Basis der extremen Rechten, die durch solche Tatsachen nur davon überzeugt werden, dass der „tiefe Staat“ und die Machthaber:innen „hinter den Kulissen“ die eigenen Führer:innen an der Durchsetzung ihrer Politik hindern würden. Auch dies führt letztlich nur zur weiteren Radikalisierung und Bildung neuer, noch rechterer Organisationen. So wurde die österreichische FPÖ bei ihren Regierungsbeteiligungen jedes Mal in fürchterlicher Weise entlarvt – um dann kurze Zeit später in neuem, weiter rechts stehendem Gewand in alter Stärke wiederaufzuerstehen. Auch das Debakel der „Dänischen Volkspartei“, die während ihrer Regierungstolerierung von 20 % auf heute unter 3 % abstürzte, brachte nur die noch rechtere Partei der „Dänendemokraten“ hervor, die von ihr die Führungsrolle übernahm.

Das dänische Beispiel zeigt auch ein weiteres ungeeignetes Modell: Hier übernahm die größte reformistische Partei, die Sozialdemokratie, wesentliche Teile des rassistischen Migrationsprogramms der Rechten, um es mit klassischer Sozialpolitik für die „eigenen“ Unterschichten zu verbinden. Dieses Modell einer rechtsnationalen Sozialdemokratie wurde tatsächlich für einige sozialdemokratische Parteien nicht nur in Skandinavien zu ihrem modernen Weg ernannt. Auch wenn es teilweise in Wahlen erfolgreich war, verhindert es nicht, dass sich dadurch der rechte Irrationalismus weiter bestärkt fühlt und letztlich doch wieder das „Original“ gewählt wird – insbesondere wenn die so nach rechts gewendete Sozialdemokratie dann doch wieder klassische bürgerliche Krisenpolitik betreibt. Ähnlich verfehlt ist die Strategie, links von der Sozialdemokratie linkspopulistische Organisationen aufzubauen, die ebenso eine offene Flanke gegenüber Rassismus und sozialchauvinistischer Migrationspolitik aufweisen. Auch wenn Mélenchon in Frankreich oder Wagenknecht in Deutschland zeitweise in der Lage sind, Wähler:innen von den Rechten in ihre Richtung zu lenken, so bestärken sie ihrerseits die gesellschaftlichen Spaltungen in den Unterschichten, die gerade zum Aufstieg der Rechten führen.

Kampf

Mit dem Faschismus gibt es letztlich keine „diskursive“ politische Auseinandersetzung. Faschistische Kader müssen je nach Kräfteverhältnis in direkter Aktion an ihrer politischen Aktivität gehindert werden. Ihnen darf keine öffentliche Plattform gestattet werden. Dies betrifft auch Faschist:innen am Arbeitsplatz oder in Gewerkschaften, wo wir für ihren Ausschluss eintreten. Auch ihr Antritt bei Wahlen muss mit gebotenen Mitteln ver- oder behindert werden. Dabei vertrauen wir nicht auf den bürgerlichen Staat oder seine Organe (da etwaige Verbote sowieso vor allem gegen Linke eingesetzt werden), sondern auf die Einheitsfront von Arbeiter:Innenorganisationen und Vereinigungen anderer gesellschaftlich Unterdrückter.

Bei den rechtspopulistischen Organisationen wie der AfD oder auch der breiteren Wähler:innenschaft von Frontorganisationen ist ein differenzierteres Vorgehen notwendig, da ihre Anhängerschaft nur zu einem gewissen Teil aus Faschist:innen besteht. Entscheidend ist aber auch hier die Einheitsfront, insbesondere die Forderung an die führenden reformistischen Organisationen,  mit der bürgerlichen Krisenpolitik (die mit den „demokratischen Allianzen“ noch verstärkt wird) zu brechen und sich in einen gemeinsamen Kampf gegen kapitalistische Angriffe und rechte Hetze einzureihen. Den Rechten darf der Krisenprotest nicht überlassen werden aus lauter Angst vor „Querfronten“. Dabei muss in solchen Einheitsfrontaktionen auf den Ausschluss rechter Kräfte und die Verteidigung der Aktionen gegen Unterwanderung durch Rechte gedrängt werden. Aktionen der rechten Frontorganisationen, in denen faschistische Kader eine wichtige Rolle spielen, z. B. Mobilisierungen gegen Geflüchtete müssen ähnlich wie direkt faschistische Aktionen konfrontiert werden. Politische Veranstaltungen der klassischen Art wie z. B. Wahlkundgebungen oder Diskussionsveranstaltungen können je nach Kräfteverhältnis rein propagandistisch angegriffen oder gestört werden. Dabei steht das Aufzeigen der politischen Alternative und die Schwäche der Rechten bei den entscheidenden Fragen gerade gegenüber unentschlossenen, verunsicherten Personen aus den sozial bedrängten Unterschichten im Vordergrund.

Die wichtigste Waffe gegen den Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus ist jedenfalls das konsequente Vorantreiben einer internationalistischen antikapitalistischen Alternative und das Aufzeigen des revolutionären Weges dahin. Nur dies kann die Scheinalternativen der nationalen Abschottung, des Vorantreibens gesellschaftlicher Spaltungen und des Aufbaus von Ersatzfeind:innen für den/die eigentliche/n Klassenfeind:in als Irrwege entlarven. Die Einheitsfront bildet ein zentrales Instrument zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen, wie sie von den Rechten benutzt werden. In der Einheitsfront erleben die Arbeiter:innen und Unterdrückten die Solidarität über Grenzen der nationalen Herkunft, Geschlechteridentitäten, Verdienst- und Bildungsunterschiede, kulturellen und schichtspezifischen Verschiedenheiten hinaus.

Sie ist aber vor allem auch ein wichtiges Instrument, um die weiterhin bestehende Mobilisierungsfähigkeit reformistischer Organisationen und der Gewerkschaften zu nutzen und ihre Führung vor den Massen dem Test der Praxis zu unterziehen. Trotzki wies 1932 in „Was nun?“ darauf hin, dass die Lage der Arbeiter:innenbewegung angesichts von Niederlagen, Krise und Aufstieg der Nazis aussichtslos zu sein schien, dass aber gerade die aus der Situation der Defensive entstehenden Kämpfe eine Perspektive der Offensive eröffnen würden: „Man darf nicht vergessen, dass die Einheitsfrontpolitik im Allgemeinen in der Defensive viel wirksamer als in der Offensive ist. Konservativere oder zurückgebliebenere Schichten des Proletariats lassen sich leichter in den Kampf ziehen, um das zu verteidigen, was sie bereits besitzen, als um Neues zu erobern.“

Bei einem klaren strategischen Plan der revolutionären Partei für den erfolgreichen Aufbau der Einheitsfront besteht die weitergehende Perspektive: „Der Widerstand der Arbeiter gegen die Offensive von Kapital und Staat wird unvermeidlich eine verstärkte Offensive des Faschismus hervorrufen. Wie bescheiden die ersten Verteidigungsschritte auch sein mögen, die Reaktion des Gegners wird unverzüglich die Reihen der Einheitsfront zusammenschließen, die Aufgaben erweitern, die Anwendung entschiedenerer Maßnahmen erforderlich machen, die reaktionären Schichten der Bürokratie von der Einheitsfront abschütteln, den Einfluss des Kommunismus steigern, die Barrieren innerhalb der Arbeiterschaft schwächen und damit den Übergang von der Defensive zur Offensive vorbereiten.“




Vorwort

Redaktion Revolutionärer Marxismus, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Im Jahr 2009 veröffentlichte eine 28-köpfige Gruppe von NaturwissenschaftlerInnen um Johan Rockström einen Aufsatz zum Thema „planetare Grenzen“. Sie ging davon aus, dass es eine Reihe von globalen ökologischen Systemen gibt, bei denen die gegenwärtige Wirtschaftsweise Störungen hervorruft, die ab einer gewissen Grenze von den natürlichen Ausgleichsmechanismen nicht mehr auf ein für menschliches Leben geeignetes Gleichgewicht zurückgeführt werden können. Das damit begründete Projekt fand letztlich neun solche globalen Grenzen, für die Grenzwerte bestimmt wurden, ab denen solche lebensbedrohlichen Kipppunkte zu erwarten sind. Am bekanntesten ist sicherlich die 2 °C-Grenze für die Zunahme der globale Durchschnittstemperatur seit Beginn der Industrialisierung als Punkt, ab dem die Auswirkungen von Klimaveränderungen für menschliches Leben auf dem Planeten unkontrollierbar werden. Deswegen ist eine Haltelinie schon bei 1,5 °C erstrebenswert. Ähnliche Kipppunkte und Anleitungen für Reduktionen bestimmter Einträge (Treibhausgase, Phosphor, Quecksilber, Kernbrennstoffabfälle etc.) wurden aber auch für Gebiete wie Versauerung der Ozeane, Phosphor- und Stickstoffkreisläufe, Süßwasserverbrauch, Biodiversität etc. festgelegt und erstellt – und in mehreren Nachfolgeprojekten präzisiert. Während politisch vor allem der Klimawandel im Fokus der Aufmerksamkeit steht, wird leicht übersehen, dass etwa beim Artensterben oder den biochemischen Kreisläufen schon weitaus bedrohlichere Grenzbereiche erreicht sind und sogar die Ozeane in ihrer Rolle als globale Müllkippen ökologisch extrem gefährdet sind. In der Verengung der ökologischen Krise auf die Klimafrage werden sogar solche Sackgassen wie die Atomenergie wieder aus der Versenkung geholt.

Dies passt zur Fehlsicht, dass die Verhinderung der genannten ökologischen Katastrophen vor allem ein technisches Problem sei – die Verringerung der genannten Belastungen durch alternative Technologien und Substanzen, die die problematischen ersetzen könnten. Vorbild dafür ist die wahrscheinlich erfolgreiche Regeneration der Ozonschicht infolge des 1987 verabschiedeten Montreal-Protokolls. In diesem wurden Mechanismen gefunden, die Ozonschicht schädigenden Substanzen wie FCKW global aus dem Verkehr zu ziehen und letztlich durch ungefährlichere, wenn auch teurere Ersatzstoffe abzulösen. Offensichtlich ist eine solche Lösung für den Ausstieg etwa aus der Verbrennung von fossilen Energieträgern ungleich schwieriger. Hier wird offensichtlich eine wesentlich innigere Verschränkung von ökologischer und ökonomischer Krise deutlich. Dies hat wieder mal der letzte Klimagipfel in Glasgow gezeigt. Es ist nicht in Sicht, dass das Abkommen von Paris einen ähnlichen Erfolg wie das Montreal-Protokoll mit sich führen wird.

Einer der MitautorInnen der Rockströmstudie, Chemienobelpreisträger Paul J. Crutzen, hatte schon einige Jahre zuvor den Begriff „Anthropozän“ als Bezeichnung für ein neues Erdzeitalter vorgeschlagen, da seit Beginn des Industriezeitalters der Mensch zu einem entscheidenden Einflussfaktor für biologische und atmosphärische Systeme auf der Erde geworden ist. Richtig daran ist sicher: Die meisten menschlichen Zivilisationen behandelten die Natur gemäß dem Motto „Macht euch die Erde untertan“ als praktisch unerschöpfliche Ressource. Mit dem Kapitalismus haben die (re-)produktiven Kreisläufe von Ökonomie und Konsumtion Umfang und Tempo angenommen, die immer mehr natürliche Kreislaufsysteme überlasten oder sogar zum Zusammenbruch bringen. Es kommt, wie John Bellamy Foster es nennt, zu einem „metabolischen Bruch“ zwischen Mensch und Erde, der zu einem tiefgreifenden Riss zu werden droht.

Doch wie Elmar Altvater in einem seiner letzten Artikel zu Recht anmerkte, erweckt der Begriff des „Anthropozäns“ den Eindruck, als sei es „der Mensch“ selbst, der die herrschende Kraft in diesem neuen Erdzeitalter sei. Tatsächlich ist jede Form menschlicher Naturaneignung immer schon gesellschaftlich vermittelt und seit der Entstehung der Klassengesellschaft (Zivilisation) verbunden mit der Geschichte von Herrschaft, Klassen und Arbeit. Im Kapitalismus hat die Entfremdung des arbeitenden Menschen vom Produkt der Arbeit und damit auch dessen natürlicher Stofflichkeit in der Verselbstständigung der Wertform ihren Höhepunkt erreicht. Der Zwang zur Verwertung des Werts, inhärent im Begriff des Kapitals selbst, führt unmittelbar zur Schrankenlosigkeit der Kapitalakkumulation. Diese Maßlosigkeit der Tauschwertseite des Kapitals kennt nur in der ökonomischen Krise als Ausbruch der immanenten Widersprüche des Wertverhältnisses eine zeitweise Schranke. Ihr Durchbrechen mittels kapitalistischen Krisenbewältigung – selbst mit enormen sozialen und ökologischen Opfern verbunden – führt zwangsläufig jeweils zu einer neuen Qualität von Ausbeutung von Mensch und Natur. Im „Kapitalozän“ (Altvater) stößt die scheinbare Grenzenlosigkeit der Kapitalakkumulation auf Wertebene auf materielle, ökologische Grenzen auf der stofflichen Ebene (Gebrauchswert). Ökologische und ökonomische Krise verschränken sich. So wenig wie also „die Menschheit“ die gegenwärtige ökologische Krise verantwortet, ist sie auch als Abstraktum in der Lage, das Desaster aufzuhalten. Als geschichtliche Gesellschaftsformation schafft aber der Kapitalismus auch diejenigen sozialen Kräfte, die aufgrund ihrer Stellung im (Re-)Produktionsprozess zur Aufhebung der kapitalistischen Entfremdungsverhältnisse in der Lage sind. Es gibt keine Überwindung des ökologisch-metabolischen Risses ohne gesellschaftlichen Bruch mit der Herrschaft des Kapitals!

Die hier skizzierte Verknüpfung von ökologischer Krise mit den Widersprüchen des Kapitalismus und den sozialen Kräften, die beide in revolutionärer Weise überwinden können und müssen, ist das Thema dieser Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“. Im Artikel „Umwelt und Kapitalismus“ wird dieser Zusammenhang thesenhaft entwickelt, unter Berücksichtigung neuerer Diskussionen dazu, wie z. B. bei John Bellamy Foster, Brand/Wissen etc. und es wird dabei in Abgrenzung z. B. von Theorien des „ungleichen ökologischen Tausches“ der Begriff des „Umweltimperialismus“ als Kennzeichnung des gegenwärtigen globalen Regimes der Ausbeutung von Natur und Mensch entwickelt. Im Artikel „Umweltpolitik und Umweltbewegung“ werden dagegen die grundlegenden AkteurInnen und sozialen Kräfte analysiert, die derzeit als Reflex der ökologischen Krise nach Auswegen suchen. Mit AutorInnen wie Andreas Malm werden die Grenzen der gegenwärtigen Protestbewegungen auch in ihren scheinbar radikalsten Formen ausgeleuchtet und wird ungenügende Kapitalismuskritik, z. B. in Form der verschiedenen „Degrowth“-Ansätze, besprochen. Der Artikel „Die New Green Deals“ widmet sich einer grundlegenden Kritik der heute vorherrschenden „Rettungspläne“ für das Klimadesaster, die sich letztlich dem utopischen Ziel einer Heilung des ökologischen Bruchs im Rahmen kapitalistischer (keynesianischer) Krisenpolitik verschrieben haben. Die Fragen einer sozialistischen Alternative werden sowohl in einem Rekurs auf Rudolf Bahros „Die Alternative“ am Ende des Artikels zu „Umweltpolitik und Umweltbewegung“ als auch in einer Besprechung des Ökosozialismus-Buchs von Michael Löwy angesprochen. Dies ist sicher nur der Anfang einer weitergehenden Auseinandersetzung mit der Frage des Ökosozialismus. Heruntergebrochen werden die verschiedenen Ansätze der anderen Artikel am konkreten Beispiel der Verkehrspolitik im Artikel „Vom Kapitalismus, dem Verkehr und seiner Wende“. Diese Konkretisierung wird sich in einem der nächsten RMs zum Thema „Landwirtschaft“ fortsetzen. Schließlich veröffentlichen wir in diesem RM als zusammenfassende Antwort unserer Strömung auf die ökologische Krise die umweltpolitischen Forderungen aus dem Programm der Liga für die Fünfte Internationale, das diese auf ihrem letzten internationalen Kongress 2019 beschlossen hat.




Umwelt und Kapitalismus

Zu den grundlegenden Widersprüchen zwischen Nachhaltigkeit und der kapitalistischen Produktionsweise

Chris Kramer, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Einführung

Seit 1987 der berühmte Bericht „Our Common Future“ („Unsere gemeinsame Zukunft“) der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (auch bekannt als Brundtland-Kommission) veröffentlicht wurde, hat der Begriff der Nachhaltigkeit einen Siegeszug angetreten. Die UN-Konferenz in Rio de Janeiro 1992 (Earth Summit) benannte nach Jahrzehnten wichtiger außerparlamentarischer Auseinandersetzungen die Umweltfrage als globales Problem und erklärte eine „nachhaltige Entwicklung“ zum politischen und ökonomischen Ziel.

Seitdem hat die Bedeutung von Nachhaltigkeit und Umwelt-/Naturschutz im politischen Diskurs weltweit an Bedeutung gewonnen und auch Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit gefunden. Heute gibt es kaum noch eine Regierung, kaum ein Unternehmen oder eine Institution, die nicht von sich behaupten, „nachhaltig“ zu sein oder zumindest dieses Ziel anzustreben. Produkte, Konsum, Politik, Entwicklung – alles bekommt heute den Stempel der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist heutzutage im öffentlichen Diskurs allgegenwärtig.

Damit einhergehend gab und gibt es unzählige Gipfel, Konferenzen, Initiativen etc., die sich mit dem Thema auf verschiedensten Ebenen auseinandersetzen. Seit nunmehr über 20 Jahren – 1997 wurde das Kyoto-Protokoll zur Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen verabschiedet – wird auf globaler, regionaler und nationaler Ebene auch versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Politik umzusetzen.

Trotz all dieser Anstrengungen und Beteuerungen verschärft sich das Problem der Umweltzerstörung, das mit der Entwicklung des Kapitalismus globale Ausmaße erreicht und deren menschheitsbedrohende Folgen während der sogenannten Globalisierung immer dramatischer hervortreten. Umweltprobleme können allgemein in zwei große Kategorien eingeteilt werden: die Übernutzung von (erneuerbaren oder nicht erneuerbaren) Ressourcen einerseits und die Überlastung von Senken andererseits. Unter die erste Kategorie fällt z. B. der Raubbau an Ressourcen wie Boden, (Grund-)Wasser, Bodenschätzen oder Holz. Unter die zweite Kategorie fallen z. B. die zunehmende Verschmutzung von Flüssen, Seen und Meeren sowie die Übernutzung der Atmosphäre als Senke für Treibhausgase. Alle diese Umweltprobleme nehmen heute nie gekannte Ausmaße an, mit dramatischen Folgen. Dazu zählen z. B. der Verlust von Biodiversität, die Auslaugung, Versalzung und Versandung von Böden, der Zusammenbruch von Fischpopulationen, die Akkumulation von Schadstoffen in den Nahrungsketten, die Überdüngung, Vergiftung und Erschöpfung von Oberflächen- und Grundwasserressourcen und nicht zuletzt die globale Klimaerwärmung. Die kapitalistische Wirtschaftsweise fördert nicht nur spürbare negative Einflüsse auf die globale Umwelt, diese drohen mittlerweile auch, die Reproduktionsbedingungen der gesamten Menschheit zu zerstören. Deshalb kann zusammenfassend von Umweltzerstörung gesprochen werden, definiert als Überausbeutung von Ressourcen und/oder Überlastung von Senken. Zusammenhängend mit der fortschreitenden Umweltzerstörung steigt auch die Anzahl an Konflikten und Kämpfen, die durch diese Entwicklung verursacht werden.

Trotz aller Beteuerungen, Werbung und Propaganda: Von „nachhaltiger Entwicklung“ kann keine Rede sein – weder in Deutschland, der EU, noch weltweit. Die tatsächliche Entwicklung steht in krassem Gegensatz zu den Beteuerungen und erklärten Absichten der herrschenden Eliten. Es bestehen offensichtlich tiefgründigere Ursachen, die einen „Politikwechsel“ in Richtung „nachhaltige Entwicklung“ und eine Lösung der Probleme verhindern. Diese liegen in der aktuellen Wirtschaftsform der Menschheit begründet – dem Kapitalismus.

Green Economy – die falschen Antworten des Kapitalismus

In dem Brundtland-Bericht wurde nachhaltige Entwicklung folgendermaßen definiert: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ (WCED 1987, S. 41)

Diese Definition lässt die soziale Frage weitgehend offen und stellt die zukünftiger Generationen (Generationengerechtigkeit) in den Mittelpunkt. Sie impliziert zugleich, dass es ein weitgehend einheitliches, allgemeines Interesse „der Menschheit“ – unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihren sozialen Interessen – gäbe. Die Definition war und ist deshalb zu Recht Gegenstand vieler Kritik. Dass sie sich dennoch durchsetzte und einen so hohen Stellenwert im politischen Diskurs erhielt, liegt nicht in erster Linie an einem steigenden, abstrakten Umweltbewusstsein der Bevölkerung und/oder der PolitikerInnen, sondern daran, dass die Grundlagen der Kapitalakkumulation selbst langfristig durch die zunehmende Umweltzerstörung gefährdet werden und zugleich Massenkämpfe und Bewegungen die Stabilität des bürgerlichen Systems unterminieren könnten. Diese Besorgnis von Teilen der herrschenden Klassen wurde bereits 1972 in dem berühmten Bericht „The Limits to Growth“ („Die Grenzen des Wachstums“; Meadows et al. 1972) von dem elitären Club of Rome zusammengefasst. Die zentrale Besorgnis der Eliten liegt dabei nicht in der Integrität der Umwelt an sich oder den Auswirkungen der zunehmenden Umweltzerstörung auf arme oder weniger privilegierte Bevölkerungsgruppen, sondern der Aufrechterhaltung und Fortführung der kapitalistischen Wirtschaftsweise und Kapitalakkumulation.

In diesem Sinne wurden und werden im Rahmen des Diskurses der nachhaltigen Entwicklung nicht nur die Probleme im Zusammenhang mit Umwelt definiert, sondern auch deren Lösungen: „Green Economy“ und „Green Growth“ sind hier die wichtigsten Schlagworte. Sie umschreiben die Vorstellung, dass die Grundlagen unserer Gesellschaft und Ökonomie – die kapitalistische Wirtschaftsordnung – weiter bestehen und ihre negativen Umweltauswirkungen reduziert und/oder schließlich ganz überwunden werden könnten bei gleichzeitiger Beibehaltung des Wachstums in Form der kapitalistischen Akkumulation. Diese Konzepte sind heute im öffentlichen Umweltdiskurs vorherrschend. Sie werden nur selten hinterfragt, geschweige denn in Frage gestellt, sondern meistens als völlig selbstverständlich vorausgesetzt.

Eine Schlüsselrolle tragen in diesen Konzepten neue, sog. „grüne“ Technologien. Kern der Vorstellung ist, dass der Kapitalismus weiter, wenn auch nicht unbegrenzt, so doch „reguliert“ und zum Wohle von Mensch und Umwelt wachsen könne, wenn er nur auf grüne Technologien umgestellt würde. Diese müssten nur in „vernünftige“ staatliche und globale „Rahmenbedingungen“ eingebettet werden, die die Interessen der verschiedenen Klassen, zwischen Armen und Reichen, den „reichen“ Nationen und der sog. „Dritten Welt“ zum Wohle aller ausgleichen würden. Deshalb wird die Umweltfrage im vorherrschenden Diskurs immer und vordergründig im Zusammenhang mit technologischen Aufgaben diskutiert. Wo politische und gesellschaftliche Fragestellungen auftauchen, werden diese gewissermaßen sozialtechnisch betrachtet, die im Rahmen eines „Green New Deal“ prinzipiell lösbar wären. Die Frage, ob auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise, also der grundlegenden Verfasstheit der gegenwärtigen Ökonomie und Politik, eine ökologische Nachhaltigkeit etabliert werden kann, wird systematisch ausgeblendet.

Am deutlichsten wird dieser Ansatz im Bereich der Energiegewinnung und -versorgung. Die Energieversorgung ist nicht nur für die kapitalistische, sondern für jede Art von Ökonomie von zentraler Bedeutung. Die Entwicklung des Kapitalismus ist aufs Engste mit der Erschließung und Nutzung von fossilen Brennstoffen – Kohle, Öl und Gas – verbunden. Die gesamte moderne, kapitalistische Gesellschaft ist auf diesen Energieträgern aufgebaut, ihre ganze Infrastruktur darauf ausgelegt und danach geformt. Wie Marx bereits im im ersten Band von „Das Kapital“ im Kapitel über die relative Mehrwertproduktion zeigt, erfordert die kapitalistische Produktionsweise eine Antriebsmaschinerie und ein Energiesystem, das permanent, ohne Schwankungen und im großen Stil, Energie für das Fabriksystem und die dazu passende allgemeine Infrastruktur bereitstellt. Daher historisch die enorme Bedeutung der Dampfmaschine bei der Durchsetzung der großen Industrie, als der dem Kapitalismus angemessenen technischen Grundlage. Diese – und mit ihr die aus fossilen Brennstoffen entstandene Energieversorgung – ist von Beginn an auf den Weltmarkt und die Expansion über nationale Schranken hinaus angelegt, formt daher notwendigerweise auch die technologische Basis der Weltwirtschaft. Mit den fossilen Energieträgern und der dazu gehörigen Maschinerie (Dampfkraft, später Elektrizität) konnte die kapitalistische Logik der permanenten Beschleunigung und Expansion etabliert werden, die, im Kapital begrifflich schon vorausgesetzt, zur Wirklichkeit in jedem Land wird. Die zunehmenden Erkenntnisse über die Auswirkungen des steigenden Treibhausgasausstoßes bei ihrer Verbrennung haben die Einstellung gegenüber fossilen Brennstoffen jedoch grundlegend geändert. Wurden sie während eines Großteils des 20. Jahrhunderts als Grundlage von Entwicklung, Wachstum und Reichtum verherrlicht, werden sie heute zunehmend als Problem angesehen. Interessanterweise – und vom Mainstream der ökologischen Bewegung totgeschwiegen – stellten AutorInnen wie Marx und Engels schon im 19. Jahrhundert die unvermeidlichen negativen, gesellschafts- und naturzerstörenden Auswirkungen des Kapitalismus dar und verwiesen auf die widersprüchliche Natur des Fortschritts. Dieser kritische, der Marx’schen Kapitalismustheorie innewohnende Blick auf die ökologischen Folgen ging jedoch in der ArbeiterInnenbewegung aufgrund der Vorherrschaft des sozialdemokratischen und stalinistischen Reformismus verloren.

Doch zurück zum „grünen Kapitalismus“. In seiner Logik ist die Lösung für dieses Problem schon in Sicht, schon lange sogar: erneuerbare Energien. Wind, Sonne, Biomasse und Wasser (in etlichen Ländern auch Uran) sollen Öl, Gas und Kohle ersetzen. Damit könne der Treibhausgasausstoß gesenkt werden, bei gleichzeitigem Beibehalten der sog. „Versorgungssicherheit“ und wirtschaftlichen Wachstums – sprich der stetigen, wenn auch ökologisch regulierten Kapitalakkumulation.

Auch ein bedeutender Teil der klassischen Umweltbewegung, vor allem in den reichen, imperialistischen Ländern, ist inzwischen auf diese Linie eingeschwenkt. Dabei kann alles im Wesentlichen so bleiben wie heute, nur eben mit erneuerbaren Energien versorgt. Die Umwelt- und sozialen Auswirkungen von erneuerbaren Energien im Kapitalismus werden oft unterschätzt, übersehen oder sogar ignoriert.

Der massive Anbau von Biomasse für die Produktion von Treibstoffen hat in vielen Ländern zur Vertreibung der Landbevölkerung und Konzentration von Ackerland in der Hand von mächtigen Unternehmen und Konzernen geführt. Die mit dem Anbau verbundenen Monokulturen verursachen die Übernutzung von Böden, den massiven Einsatz von Kunstdüngern und Pestiziden und einen hohen Artenverlust. Darüber hinaus trug die gestiegene Produktion von Biotreibstoffen zu einer Erhöhung der Preise von Nahrungsmitteln, welche auf dem Weltmarkt gehandelt werden, bei und damit auch zu den negativen Auswirkungen auf die Nahrungsmittelsicherheit von Millionen Menschen. Noch heute werden native Wälder für den Anbau von Biotreibstoffpflanzen gerodet, z. B. in Kolumbien, Indonesien oder Malaysia. Biotreibstoff aus diesen Quellen führt oft absurderweise zu höheren Treibhausgasemissionen als fossile Brennstoffe (Transport and Environment o. D.).

Auch Wind- und Sonnenenergie sind – anders als oft suggeriert – nicht frei von negativen Auswirkungen. Beide Energieformen benötigen Rohstoffe zur Herstellung der Turbinen bzw. Solarzellen und haben je nach Anwendung einen hohen Landbedarf. In ihrer Produktion werden viele Materialien eingesetzt, die teilweise unter schwer umweltschädigenden Bedingungen gefördert werden. Das gilt z. B. für die „Seltenen Erden“, die zu überwiegendem Teil in China gewonnen werden, und für Coltan (Columbit-Tantalit; ein Tantal-Erz) aus dem Kongo (zu den heftigen Umweltauswirkungen der Gewinnung v. a. seltener Erden in China siehe z. B. den Bericht von Maughan [2015]). Aber auch soziale Konflikte, die durch erneuerbare Energien verursacht werden, zeichnen sich zunehmend ab. Z. B. hat die Errichtung großer Windparks von ausländischen InvestorInnen in Oaxaca, Mexiko, zu heftigen Konflikten mit der lokalen, kleinbäuerlichen Bevölkerung geführt, die durch die Windparks massiv beeinträchtigt werden (siehe z. B. Schenk 2012, oder – auf Spanisch – Castillo Jara 2011). Auch hier werden im Interesse des Profits der KapitalistInnen die negativen Auswirkungen auf die lokale, weniger privilegierte (Land-)Bevölkerung abgewälzt – dasselbe Prinzip wie bei fossilen Energieträgern, auch wenn die Auswirkungen andere sind.

Wasserkraft, vor allem große Staudämme, hat durch die Förderung erneuerbarer Energien eine Renaissance erlebt. Im Gegensatz zu den anderen zitierten Energieformen ist ihre Nutzung schon lange im Kapitalismus etabliert. 2015 hatte sie einen Anteil von 16 % der weltweiten Stromerzeugung und repräsentierte damit 70 % der weltweit erzeugten erneuerbaren Energien (IEA 2017). Die heftigen sozioökonomischen Auswirkungen von Staudämmen, die viel studiert und dokumentiert wurden und zu großen sozioökologischen Konflikten geführt haben (siehe z. B. Hess et al. 2016 oder Hess und Fenrich 2017), haben bis zur Jahrtausendwende zu einer abfallenden Dynamik des Wasserkraftsektors beigetragen, zumindest bei den großen Projekten. Seitdem haben sie aber vor dem Hintergrund der Treibhausgasdiskussionen wieder an Fahrt aufgenommen. Staudämme sind als (angeblich) treibhausgasarme Technologie in dem Clean Development Mechanism (Mechanismus sauberer Entwicklung; CDM) der UN anerkannt und können darüber gefördert werden. Dabei sind die Auswirkungen oft gigantisch: von der Umsiedelung bzw. Vertreibung von tausenden bis zu hunderttausenden von Menschen, über die Zerstörung von Fischpopulationen und der Ökologie ganzer Flusssysteme bis zu der Verletzung von Arbeitsrechten, offener Gewalt und struktureller Korruption. Und selbst die angeblich niedrigen Treibhausgasemissionen sind inzwischen widerlegt, da Stauseen enorme Mengen an Kohlendioxid und Methan ausstoßen können (Mendonça et al. 2012).

Die Politik der Umstellung auf erneuerbare Energien, in Deutschland als „Energiewende“ bekannt, verengt geradezu die Lösung des Problems auf eine der technischen Machbarkeit. Die neue grüne Ökonomie nimmt dies als eine ihrer ideologischen Grundlagen. Auch in anderen Bereichen kann diese Logik beobachtet werden. So werden die intensive Landwirtschaft und Gentechnik von der Agrarlobby als Antworten auf Klimawandel und wachsende Bevölkerung propagiert – als wären die massenhafte Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern und die Überausbeutung von Böden und Wasserressourcen nicht gerade auf sie zurückzuführen. Das Elektroauto gilt als neue Hoffnung für die Aufrechterhaltung nicht nur der wirtschaftlichen Bedeutung der Autokonzerne und ihrer Profite, sondern auch der Fixierung der Ober- und Mittelschichten, aber auch großer Teile der ArbeiterInnenklassen auf den Individualverkehr. Selbstredend unterliegt auch der Ökolandbau der Profitlogik und wird heute teilweise bereits in einer ökologisch wie sozial schädigenden Art und Weise betrieben (Biotreibstoffe).

Neben dem Einsatz neuer, umweltfreundlicherer Technologien ist die effizientere Nutzung von Ressourcen im Produktionsprozess das zweite technologische Standbein der Green Economy. In der Tat konnte der Kapitalismus in vielen Prozessen die Effizienz massiv steigern. Das führt aber keineswegs automatisch zu einem geringeren tatsächlichen Verbrauch der betroffenen Rohstoffe. Wird ein Produktionsprozess effizienter – im Sinne der benötigten Menge an Input von Energie und Rohstoffen zur Erstellung eines bestimmten Produktes – so sinkt damit natürlich der Wert der einzelnen Ware, weil weniger Rohstoff und/oder Energie zu ihrer Herstellung verbraucht werden muss. Das günstiger produzierende Unternehmen erzielt damit einen Vorteil gegenüber seinen KonkurrentInnen, da es die von ihm produzierten Waren billiger oder mit mehr Gewinn verkaufen kann. Diese Situation dauert aber notwendigerweise nur begrenzt an, nämlich solange, bis die KonkurrentInnen ebenfalls billigere Rohstoffe oder Energie einsetzen. So unterliegt die technische Basis der Produktion im Kapitalismus einem permanenten Druck zur „Revolutionierung“, zur Umwälzung. Die kapitalistische Art von Wachstum (Profit) führt zur Ausdehnung des erzeugten Tauschwerts und noch größerer der Gebrauchswerte. Ausbeutung der Arbeitskraft und der Natur als der beiden einzigen Quellen des materiellen Reichtums bedingen und verstärken sich also gegenseitig.

Darüber hinaus drängt die Konkurrenz auch zur Ausweitung der Produktion, zum ständigen Wachstum, zur Erschließung neuer Märkte (damit auch zur Vernichtung weniger effektiver Unternehmen), zur Überproduktion über den Bedarf, zur Krise und auch zur Vernichtung „überschüssiger“ Produkte, also solcher, die auf keine kaufkräftige Nachfrage treffen.

Daher geht in der Regel  die Verringerung des Verbrauchs an Rohstoffen und Energie beim Einzelprodukt durchaus mit der Steigerung des Gesamtverbrauchs einher, gerade in Phasen massiven Wachstums und ungebremster Akkumulation.

Dieses Phänomen war auch im 19. Jahrhundert nicht unbekannt und lässt sich im Übrigen, wenn auch in weitaus geringeren Zeitperioden, auch bei der menschlichen Arbeitskraft beobachten, namentlich dann, wenn die Expansion eines bestimmten Sektors so groß ist, dass trotz einer steigenden Arbeitsproduktivität mehr Lohnabhängige in die Produktion gezogen werden. Da die industrielle Produktion jedoch mit einer regelmäßigen Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinerie einhergeht, ist eine solche „paradoxe“ Entwicklung bei Rohstoffen und Energie natürlich ausgeprägter.

Der britische Ökonom William Stanley Jevons beschrieb diesen Effekt bereits im 19. Jahrhundert an dem Beispiel des Verbrauchs von Kohle in Großbritannien und führte diesen 1865 in seinem Buch „The Coal Question“ aus. Deshalb wird dieser Effekt als das Jevons-Paradoxon bezeichnet (siehe z. B. Foster et al. 2010, S. 169 ff.). Jevons verkennt, ja verklärt geradezu die Ursachen des Paradoxons, das auf Grundlage der Marxschen Kapitalismusanalyse leicht erklärbar ist. Jevons selbst war Malthusianer. Malthus bestritt, dass die „Überbevölkerung“ (also die Masse von Armen, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können und als „Überschussbevölkerung“ kein Auskommen finden) als Folge der kapitalistischen Akkumulation entsteht, und erklärte sie zu einem unabänderlichen Naturgesetz. In derselben Weise erklärt Jevons das Umweltparadox nicht aus den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise, sondern er behauptet, dass es als Naturgesetz jeder industriellen Großproduktion eigen wäre.

Heute wird dieses „Paradox“ auch oft unter dem Stichwort Reboundeffekt zusammengefasst. In der Autoindustrie führt es z. B. dazu, dass die Automodelle größer und schwerer anstatt sparsamer werden. Das Ziel ist hierbei nicht, möglichst sparsame und preiswerte Autos für KäuferInnen mit begrenzter Kaufkraft herzustellen, sondern neue attraktive Angebote für die kaufkräftigen Mittelschichten und ArbeiterInnenaristokratie zu schaffen (siehe hierzu z. B. Brand/Wissen 2017, S. 125 ff.).

Die im Mainstream der „Green Economy“ vorherrschende Reduktion der ökologischen Folgen des Kapitalismus wird hier zwar kritisiert, tendenziell jedoch bloß umgekehrt. Während den bürgerlichen IdeologInnen alles technisch lösbar erscheint, so wird auch im „Umweltparadoxon“ die Technik oder eine bestimmte Produktionsform als Ursache benannt, nicht die Produktionsweise. Selbst in den kritischen Arbeiten zum Reboundeffekt erscheint der Zusammenhang von Produktion und individuellem Konsum auf den Kopf gestellt. Wenn sich Autokonzerne in den imperialistischen Ländern stärker auf höherpreisige Produkte fokussieren, folgt dies aus keiner Präferenz gegenüber einkommensstärkeren KäuferInnen, sondern einfach aus der Tatsache, dass die Einkommen der mittleren und unteren Schichten der ArbeiterInnenklasse stagnieren, wenn nicht sinken. Höhere Gewinnmargen lassen sich daher nur in den Premiumsegmenten erzielen.

Auch im institutionellen und ökonomischen Bereich hat die hohe Bedeutung der Umweltfrage zu neuen Entwicklungen geführt. Diese sind allerdings, wie bereits erwähnt, in der Regel den technologischen Innovationen untergeordnet. Ein zentrales Beispiel hierfür ist der berühmte Emissionshandel, der mit dem Kyoto-Protokoll geboren wurde. Hintergrund ist die Förderung der Konkurrenzfähigkeit erneuerbarer Energien gegenüber fossilen Energieträgern. Das Prinzip folgt der Logik, dass eines der zentralen Probleme des Kapitalismus in Bezug auf Umwelt sei, dass viele Umweltfaktoren sich gar nicht oder nur unzureichend in den Preisen von Gütern und Dienstleistungen widerspiegeln – Auswirkungen auf die Umwelt werden von kapitalistischen Unternehmen, die einzig und alleine den Profit als Antrieb kennen, externalisiert.

Die „Externalisierung“ gesellschaftlicher Kosten prägt die kapitalistische Produktionsweise von Beginn an. Marx selbst diskutiert im „Kapital“ eine Reihe dieser Phänomene. So weist er auf ein ganz allgemeines hin: „Indem das Kapital sich die beiden Urbildner des Reichtums, Arbeitskraft und Erde, einverleibt, erwirbt es eine Expansionskraft, die ihm erlaubt, die Elemente seiner Akkumulation auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigne Größe gesteckten Grenzen, gesteckt durch den Wert und die Masse der bereits produzierten Produktionsmittel, in denen es sein Dasein hat.“ (Marx 1962, S. 630 f.)

So erfordert beispielsweise die extraktive Industrie kaum Ausgaben für den Rohstoff, dieses Naturprodukt wird einfach „nur“ abgebaut. Der Wert, der dem Produkt zugesetzt wird, besteht ausschließlich aus Arbeitskraft, Nutzung von Arbeitsmitteln und Transport. Dasselbe trifft auch auf die Kooperation von Arbeitenden zu. Deren kombinierte Produktivkraft und planmäßiger Einsatz werden vom Kapital während des Arbeitsprozesses einfach verwandt – da es sich die Arbeitskraft selbst einverleibt, diese als Teil von ihm fungiert. Wie sich die Arbeitskraft umgekehrt (re)produziert, wie Lebensmittel hergestellt, Kinder versorgt werden, ob es eine Schule gibt oder nicht, stellt sich dem/r individuellen KapitalistIn als außerhalb ihrer/seiner Verantwortung, ihrer/seiner Interessen liegende „Naturbedingung“ dar. Sie/Er nutzt diese Verhältnisse einfach, um so die Arbeitskraft möglichst effektiv und schrankenlos auszubeuten.

Dasselbe gilt auch für die ohne sein Zutun vorgefundenen oder neu geschaffenen gesellschaftlichen Entwicklungen, Infrastruktur, Kommunikationsmittel. Diese eignet sich das einzelne Kapital „gratis“ mit jeder seiner Umwälzungen an. So wird der „gesellschaftliche Fortschritt“, den z. B. Wissenschaft, öffentliche Universitäten, … verkörpern, „in seine neue Form einverleibt“ (Marx 1962, S. 632).

Diese „externalisierten“ Kosten umfassen also drei Elemente: erstens die Erde (Rohstoffe, Wasser, Luft, „Natur“ … ), zweitens die Arbeitskraft, deren private Reproduktion der „Familie“, also v. a. der Frau im Haushalt überlassen wird, und drittens allgemeine gesellschaftliche Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit (Wissenschaft, Bildung, Infrastruktur, öffentlicher Transport, … ).

Auf die Umweltproblematik übertragen bedeutet Externalisierung, dass Unternehmen umweltbezogene Kosten (z. B. Wasser- und Luftverschmutzung, die Extraktion von Wasser und anderen Ressourcen als Produktionsmittel, der Ausstoß von Treibhausgasen etc.) nicht in ihre Bilanzen mit einbeziehen und diese Kosten deshalb auf die Allgemeinheit bzw. die Gesellschaft abwälzen. Dabei können zwei grundlegende Praxen unter dem Begriff zusammengefasst werden: erstens die Externalisierung von diffusen Umweltauswirkungen, die nicht oder nur schwer eindeutig örtlich und räumlich zugeordnet werden können (z. B. Treibhausgasemissionen, die zu einem globalen Klimawandel mit vielfältigen Auswirkungen führen), und zweitens die bewusste Auslagerung umweltschädlicher Produktion in andere, meist ärmere Länder.

Im Falle von Treibhausgasemissionen wird die Atmosphäre der Erde als Senke für sie in Anspruch genommen – lange Zeit völlig sorgen- und kostenlos. Kapitalistische Unternehmen ändern dieses Verhalten nur, wenn sie durch gesellschaftliche Kämpfe und Bewegungen, vom Staat oder suprastaatlichen Institutionen durch Regelungen und Gesetze gezwungen werden oder attraktive finanzielle Anreize erhalten. Bei Treibhausgasen ist der erstere Weg aus mehreren Gründen schwierig bis unmöglich – schließlich ist die Verbrennung von fossilen Treibstoffen eng mit der vorherrschenden Ökonomie verzahnt und kann nicht einfach per Gesetz beschränkt werden, ohne massive Auswirkungen auf das Kerngeschäft der kapitalistischen Ökonomie, der Kapitalakkumulation, zu haben. Die kapitalistische Lösung ist der Emissionshandel. Treibhausgase sollen über Zertifikate einen Preis erhalten und damit in die Bilanzen der Unternehmen einfließen. Unternehmen, die viel Treibhausgas ausstoßen, müssen sich Zertifikate von anderen kaufen, die wenig ausstoßen. Darüber sollen emissionsarmen Technologien und Innovationen gefördert werden.

Während der Ansatz der Internalisierung von umweltbezogenen Kosten in die Bilanzen der Produktion von Gütern und Dienstleistungen durchaus positiv und richtig sein kann, wird er im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise oft in sein Gegenteil verkehrt. Der Emissionshandel hat in der Praxis bislang nicht zu einer Senkung von Treibhausgasemissionen geführt, dafür aber zu einer neuen lukrativen Quelle von Profiten für große Konzerne. Die Europäische Union war bisher die führende Institution bei dem Versuch, einen flächendeckenden Handel mit Emissionsrechten einzuführen. Die Zertifikate wurden aber über Jahre hinweg viel zu billig verkauft, was dazu geführt hat, dass sie im Überfluss gerade für die Unternehmen und Konzerne zur Verfügung standen, die am meisten Treibhausgase ausstoßen. Dadurch konnten sie sich billig Zertifikate erwerben, ohne jedoch irgend etwas zu verändern, und diese auch noch weiterverkaufen, um daran zu verdienen. Schließlich kann der Zertifikathandel grundsätzlich auch spekulative Züge annehmen, sobald Emissionsrechte selbst zu einer Ware werden, die auf eigenen Börsen gehandelt werden können. Im Kontext des internationalen Kapitalismus kann er  zu einer verstärkten Kapitalkonzentration und einer weiteren Unterdrückung der ärmeren Länder führen (siehe Kapitel Umweltimperialismus). Die Treibhausgasemissionen steigen derweil weiter an und der Emissionshandel ist als Instrument zu ihrer Reduzierung in der Krise.

Wie bereits erklärt liegt der „Grünen Ökonomie“ die Vorstellung zu Grunde, dass die Herausforderungen im Bereich von Umwelt und Klima im Wesentlichen durch die Umstellung auf neue Technologien und regulative wirtschaftliche Eingriffe bei gleichzeitiger Beibehaltung und sogar Intensivierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu meistern seien. So schafft der Emissionshandel einen riesigen neuen Markt. Im Rahmen seiner anhängenden Instrumente, wie z. B. des CDM erschließt er sogleich neue Märkte, Ressourcen und Flächen im globalen Süden zur Ausbeutung (Energieprojekte) und/oder Rechtfertigung von umweltschädigenden Aktivitäten anderswo (sog. Ausgleichsflächen). Das Prinzip der „Einpreisung“ von Umwelt-Faktoren („getting the prices right“) wird von vielen internationalen Entwicklungsinstitutionen wie z. B. der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, „Entwicklungshilfe“) als Rechtfertigung für die (Teil-)Privatisierung von Umweltgütern oder -dienstleistungen propagiert. In derselben Logik arbeitet das REDD-Programm der Vereinten Nationen. Während dessen löbliches Ziel die Reduzierung von Entwaldung (und den damit zusammenhängenden Treibhausgasemissionen) darstellt, führt es in der Praxis oft dazu, dass traditionelle Gemeinschaften die Kontrolle über ihr Territorium verlieren und neue Gebiete für global agierende Konzerne erschlossen werden (Fatheuer et al. 2015, S. 81). Im Bereich der Landwirtschaft sind gemäß der vorherrschenden neoliberalen Logik nicht die massenhafte Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern, die zunehmende Konzentration von Böden in der Hand multinationaler Konzerne und/oder lokaler Eliten und die zunehmende Orientierung auf kapital-, wasser- und pestizidintensive Cashcrops (Anbau von Feldfrüchten für den Export) das Problem, sondern es ist – ganz im Sinne der global agierenden Konzerne – die fehlende Klarheit der privaten Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden (Fritz 2010, S.115 f.).

Sicher spielen neue, weniger umweltschädigende Technologien eine Schlüsselrolle in der Überwindung der aktuellen, ausbeuterischen und räuberischen Wirtschaftsweise. Die Umstellung auf erneuerbare, emissionsarme Energien und ressourcenschonende, effizientere Produktionsformen ist angesichts der Erkenntnisse über den Klimawandel und dessen mögliche Folgen richtig und notwendig. Jedoch zeigen die Erfahrungen der letzten zehn bis zwanzig Jahre deutlich, dass eine rein technologische Umstellung im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht die erhofften Resultate und/oder neue Probleme hervorbringt.

Technologien und deren Auswirkungen sind immer abhängig von ihrer Verwendung, ihrer Einbettung in bestimmte sozioökonomische Verhältnisse und welchen bzw. wessen gesellschaftlichen Interessen sie entsprechen. Im Kapitalismus geht die technologische Entwicklung immer mit der Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinerie einher. Dies würde in einer zukünftigen, nachkapitalistischen Gesellschaft eine zentrale Quelle des gesellschaftlichen Fortschritts und der Ausweitung freier Zeit für alle bedeuten. Im Kapitalismus geht sie unvermeidlich mit der Festigung der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit, mit der Verschärfung der Ausbeutung der Beschäftigten und der Freisetzung der „überflüssig“ gemachten Lohnabhängigen einher.

Und so werden auch erneuerbare Energien und andere neue Technologien oder Ansätze (wie z. B. auch der Ökolandbau) im Interesse des Kapitals eingeführt und eingesetzt und unterliegen der Logik der Profitmaximierung um (fast) jeden Preis. Und in dieser Logik gehen sie mit Vertreibung, Landraub, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung einher, anstatt diese „Kollateralschäden“ der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu überwinden. Mittlerweile sind erneuerbare Energien ein etablierter, florierender Wirtschaftszweig und für Teile des Kapitals von hohem Interesse. Das zeigt nicht zuletzt der Protest von Teilen des US-amerikanischen Kapitals (inklusive großer Energiekonzerne wie Exxon) gegen die Entscheidung von Präsident Trump, das Pariser Klimaschutzabkommen zu verlassen. Anderseits verdeutlicht dieser Schritt auch, dass in der globalen Konkurrenz und im Kampf um die Neuaufteilung der Welt selbst halbherzige, zu wenig bis nichts verpflichtenden Abkommen keinen Bestand haben werden, wenn es darum geht, wem die Kosten der Zerstörung der Umwelt aufgebürdet werden sollen.

Das Umweltparadoxon

Obwohl sich die globalen Umweltprobleme weiter verschärfen und zuspitzen, ist die direkte Umweltverschmutzung und -zerstörung in den reichen, imperialistischen Ländern (im Wesentlichen in Westeuropa, USA, Kanada, Australien und Japan) seit den 1970er Jahren in einigen Bereichen zurückgegangen. Das mag angesichts von Dieselskandal und zunehmender Grundwasserverschmutzung mit Nitrat in Zweifel gezogen werden, betrifft aber z. B. die Wasserverschmutzung durch häusliches und industrielles Abwasser, die Luftverschmutzung durch Schwefeldioxid und Stickoxide, die heftigen Auswirkungen auf Boden und (Grund-)Wasser durch offene Mülldeponien oder direkte industrielle Umweltbelastungen durch das Freisetzen von toxischen Stoffen. In den meisten imperialistischen Ländern existieren heute umfangreiche Umweltvorschriften und -gesetze und in vielen gibt oder gab es auch (mehr oder weniger) bedeutende Umweltbewegungen und Parteien, die sich auf diese Bewegungen stützen. Darüber hinaus führten v. a. die ArbeiterInnenbewegung und die Gewerkschaften über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte einen erbitterten Kampf um einigermaßen menschenwürdige Lebensbedingungen, also solche, die eine dauerhafte Reproduktion der Arbeitskraft ermöglichen. Im Frühkapitalismus war deren Existenz oft durch absolute Verelendung gekennzeichnet. Die neu entstehende Industrie setzte sie in Fabrik und Wohnviertel unerträglichen Bedingungen aus (fehlende oder schlechte Kanalisation, kein Schutz vor gesundheitsgefährdenden Gasen und Chemikalien, fehlende Kranken- und Altersvorsorge, Kinderarbeit, … ), die in den Ländern der sog. Dritten Welt bis heute Realität sind.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es, dass sich die reichen Länder auf einem guten Weg befänden, während Umweltverschmutzung und -zerstörung heute vor allem ein Problem der armen Länder im globalen Süden seien. Bei näherem Hinschauen zeigt sich hier allerdings ein Paradoxon: In den Ländern, in denen der Verbrauch von Ressourcen (absolut und noch deutlicher pro Kopf) besonders hoch ist (imperialistische Länder), scheint die Umweltzerstörung geringer auszufallen als in denen, in denen der Ressourcenverbrauch weitaus geringer ist. Dieser Umstand wird in der (bürgerlichen) Soziologie als „environmental degradation paradox“ (Jorgensen/Rice 2005) oder „ökologisches Paradoxon“ (vgl. Lessenich 2016, S. 96 ff.) bzw. Umweltparadoxon bezeichnet.

Um dieses zu erklären, erweitert der Soziologe Stephan Lessenich das Prinzip der Externalisierung auf das Verhältnis zwischen Ländern. Mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes konnten die reichen Länder dazu übergehen, systematisch energieintensive, besonders umweltschädigende und auch sozial schädliche Produktionsbereiche in andere Länder zu verlagern. Lessenich (2016, ebd.) fasst zusammen, „dass die reichen Industriegesellschaften in der Lage sind, die Voraussetzungen und Folgen ihres ,überbordenden Konsums‘ systematisch in andere Weltregionen, nämlich an die Gesellschaften der ärmeren, rohstoffexportierenden Länder, auszulagern. Auf diese Weise säubern sie konsequent ihre eigene Umwelt- und Sozialbilanz – und überlassen das schmutzige Geschäft anderen. Bis auf die ökonomischen Profite natürlich, die daraus zu ziehen sind.“

Diese Verlagerung hat besonders in drei Bereichen stattgefunden: (i) Auslagerung naturzerstörender Rohstoffförderung (Energieträger wie Öl, Kohle und Uran sowie Rohstoffe wie Eisen, Aluminium, Kobalt, Kupfer und viele andere Metalle etc.); (ii) Auslagerung umweltschädlicher Industrieproduktion (z. B. Stahlproduktion, Textilsektor, Zement- und Papierherstellung, Elektronikindustrie); (iii) Auslagerung landvernutzender Agrarwirtschaft (z. B. Soja, Getreide, Fleisch, nachwachsende Rohstoffe wie Zuckerrohr oder ölhaltige Pflanzen) und intensiver Aquakultur (Fisch und Garnelen). Diese Entwicklung wurde in den vergangenen Jahrzehnten, während der Globalisierung, nochmals verschärft und beschleunigt. Ein großer Teil der Umweltzerstörung der reichen kapitalistischen Ökonomien wird somit auf dritte, ärmere Staaten abgewälzt. Das bedeutet auch, dass die negativen wie positiven Umweltauswirkungen eines Landes nicht alleine anhand interner Kenndaten beurteilt werden können (z. B. inländischer Strom- oder Ressourcenverbrauch), sondern die Material- und Energieflüsse an Ressourcen und Abfallprodukten mit anderen Ländern mit einbezogen werden müssen.

An dieser Stelle könnte argumentiert werden, dass für viele der genannten Auslagerungen nicht laxere Umweltauflagen, sondern niedrigere Lohnkosten die Hauptmotivation waren und sind. Diese Faktoren widersprechen sich jedoch nicht, sondern ergänzen sich. Die Motivation der KapitalistInnen für die Auslagerung ist die Senkung der Produktionskosten und die Steigerung der Profite sowie der Profitrate – dazu können sowohl niedrigere Löhne als auch laxere Umweltauflagen beitragen. Das Verhältnis zwischen diesen Faktoren mag von Branche zu Branche oder auch von Firma zu Firma unterschiedlich sein, die systematische Externalisierung sozioökologisch negativer Auswirkungen in ärmere, halbkoloniale Länder ist jedoch das Resultat.

Zweitens könnte eingewendet werden, dass manche natürlichen Rohstoffe wie Agrarprodukte nur in bestimmten Weltregionen ab- bzw. angebaut werden können und deshalb in den entsprechenden Ländern produziert werden. Oftmals hat die billige Verfügbarkeit dieser Ressourcen (aufgrund niedrigerer Löhne und Umweltauflagen in den Herkunftsländern) jedoch systematisch dazu beigetragen, einheimische Produkte zu ersetzen oder bestimmte technische Entwicklungen und Innovationen erst für das Kapital attraktiv zu machen. Ersteres gilt z. B. für den Import von Zucker als Nahrungs- oder von Soja als Futtermittel. Letzteres gilt z. B. für die billige, ständige Verfügbarkeit von Öl als Voraussetzung des ölbasierten Individualverkehrs.

Die Ökonomie von Europa (bzw. vor allem der EU) ist dafür beispielhaft. Im Vergleich zu den USA, Kanada oder Australien verfügen die europäischen Staaten über weit weniger Flächen. Die Bedeutung der Landwirtschaft ist in den westlichen europäischen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich gesunken. In Deutschland arbeiteten 2017 nur noch ca. 2 % der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft (ca. 940 000 von 44,7 Mio. Beschäftigten, siehe Statistisches Bundesamt 2017). Trotzdem hat sich die Ernährungssicherheit stark gesteigert. Ein Grund hierfür liegt zweifellos in der gestiegenen Produktivität der Landwirtschaft, ein anderer aber auch in der erfolgreichen Externalisierung des Flächenverbrauchs für landwirtschaftliche Produktion. Heute deckt Deutschland nur ca. 50 % seines Agrarflächen-, 25 % seines Waldflächen- und ca. 35 % seines Grünlandbedarfs durch die Produktion im eigenen Land (Umweltbundesamt 2017a). Für die EU sind die Anteile der Eigenbedarfsdeckung 77 %, 74 % und 60 % (Fischer et al. 2017). Auch bei der Bilanz von Energieträgern und metallischen Rohstoffen kann dieses Verhältnis festgestellt werden. Obwohl die EU –  und hier vor allem die sogenannten Kernländer Deutschland und Frankreich  – nach wie vor zu den führenden Regionen in der weltweiten Industrieproduktion zählt, verfügt sie über sehr wenige eigene Ressourcen. Eisen, Aluminium, Zement, Kupfer, Kobalt, Seltene Erden, Kohle, Uran und Gas – viele der für die Produktion notwendigen Ressourcen werden in anderen Teilen der Welt hergestellt und in die EU importiert. Mit Ausnahme von Norwegen und in geringerem Maße Großbritannien gibt es in West- und Zentraleuropa auch keine bedeutenden Erdölförderländer. Dazu kommt der massenweise Import von Textilien und Konsumgütern (vor allem Elektronikartikel), die in der EU verbraucht werden. Auf der Kehrseite steht dann der massenhafte Export von erzeugten Abfallprodukten wie z. B. der von Elektronikschrott in afrikanische Länder oder Plastik- und anderen Abfällen nach China. Im Jahr 2016 hat die EU 1,6 Mio. Tonnen Plastikmüll, davon Deutschland alleine 560 000 Tonnen, nach China exportiert (Tagesschau 2018). Mit dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht verschieben sich freilich die Gewichte. Ende 2018 verbot das Land die Einfuhr stark verschmutzenden und schlecht sortierten Altmülls – der Dreck soll zukünftig in andere asiatische Länder verfrachtet werden. Gleichzeitig beginnt China selbst, Müll zu exportieren.

Die Externalisierung von negativen Umweltauswirkungen hat jedoch ihre Grenzen. Auch in den reichen Ländern ist sie natürlich nicht vollständig gelungen und kann es auch nicht. Nach wie vor gibt es auch in diesen Ländern viele gravierende alte und neue Umweltprobleme, die sich weiter zuspitzen oder neu auftreten wie z. B. die Verschmutzung von Grundwasser mit Nitrat, Arten- und Biodiversitätsverlust, Degradierung von Böden, Luftverschmutzung durch Auto-, Kraftwerks- und Industrieabgase und Eintrag in die Umwelt von schädlichen Chemikalien oder solchen, deren Auswirkungen unbekannt sind. In der EU sind zehntausende von Chemikalien in der Industrie im Einsatz und gelangen in die Umwelt und laufend kommen neue dazu. Nur die wenigsten (einige Hundert) sind reglementiert und von einem Großteil gibt es überhaupt keine gesicherten Erkenntnisse über ihre (Langzeit-)Wirkungen in der Umwelt. Darüber hinaus kommt es bei der Externalisierung der negativen Auswirkungen von Treibhausgasemissionen zu natürlichen Grenzen und die Konsequenzen fallen durch den Klimawandel teilweise auch auf die reichen Länder zurück – wenn auch vermutlich in geringerem Ausmaß.

Des Weiteren gibt es gegenläufige Tendenzen und Interessen. Die hohe Subventionierung der Agrarproduktion in der EU ist z. B. ein Faktor, um weitere Auslagerung zu verhindern oder abzubremsen und damit erstens nicht noch abhängiger von Importen zu werden und zweitens selbst hochindustrialisierte Agrarprodukte international gewinnbringend verkaufen zu können und damit die importierenden Länder wiederum in Abhängigkeiten zu halten. Ein weiteres Beispiel ist der Fracking-Boom in den USA. Dieser führt zu einer Verringerung der Abhängigkeit von Erdölimporten zum Preis von sozioökologischen Auswirkungen innerhalb der eigenen Grenzen (das sind jedoch neue, teilweise unbekannte und/oder in ihrer Tragweite noch nicht kalkulierbare Auswirkungen, die bisher noch nicht in großen Ausmaß „an die Oberfläche“ gekommen sind und deshalb noch nicht zu großen Konflikten geführt haben). Donald Trump hatte als Präsident eine aggressive Agenda der Reinternalisierung von externalisierten Umweltauswirkungen wie z. B. die Wiederansiedlung und Stärkung der Kohle- und Erdölförderung zugesagt. Er versprach der US-amerikanischen ArbeiterInnenklasse dadurch Arbeitsplätze, verschwieg jedoch die sozioökologischen Auswirkungen, die damit einhergehen.

Natürlich geht es dabei nicht um die Interessen der Lohnabhängigen. Auch die kurzfristigen Gewinne, die die US-Ölindustrie daraus schöpfen kann und weiterhin wird, erklären diesen Kurs nur bedingt. Vielmehr bildet die Krise der Globalisierung, die verschärfte Konkurrenz zwischen den alten und neuen Großmächten den Hintergrund, vor dem solche Wendungen verstanden werden müssen. Die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Hauptmächten USA und China, aber auch Japan, Russland und Führungsmächten der EU (insbes. Deutschland und Frankreich) nimmt eine immer größere Schärfe an, was auch bedeutet, dass der exklusive Zugang zu Märkten und ganzen Kontinenten umkämpft ist. So haben sich die USA unter Trump von multilateralen Übereinkünften wie dem Pariser Klima-Abkommen verschiedet, weil sie – durchaus nicht unrealistisch – davon ausgingen, dass sie einzelnen Staaten politisch und wirtschaftlich (und natürlich auch in Klimafragen) viel leichter und umfassender ihre Bedingungen diktieren können als in multilateralen Verhandlungen und Abkommen. Biden ist als neuer Präsident zwar wieder zu einer mehr multilateral ausgerichteten Außenpolitik (und dem Pariser Klima-Abkommen) zurückgekehrt, die grundsätzliche Zuspitzung zwischen den imperialistischen Blöcken wird sich jedoch auch in seiner Politik äußern. Die Corona-Krise hat diese Zuspitzung noch mal verschärft, indem China bisher als größter Gewinner aus dieser Krise hervorgeht. China hat darüber hinaus ein eigenes Projekt aufgelegt – die „Neue Seidenstraße“ – , das durch Corona zwar sicherlich auch gebremst, keineswegs jedoch ganz verhindert wurde. Viele Länder werden sich für den wirtschaftlichen Wiederaufbau vermehrt in Richtung China wenden. Für Deutschland fungiert die EU als imperialer Herrschaftsraum, indem die Länder Süd- und Osteuropas als halbkoloniale Gebiete integriert werden.

All dies verdeutlicht, dass die Verschärfung der ökologischen Probleme untrennbar mit dem imperialistischen Entwicklungsstadium des Kapitalismus verbunden ist – und die ökologischen Fragen ohne Sturz des imperialistischen Weltsystems und dessen Ersetzung durch eine sozialistische Planwirtschaft nicht lösbar sind.

Umweltimperialismus

Die Externalisierung von negativen sozioökologischen Auswirkungen entsteht naturwüchsig in allen Ländern, wo kapitalistische Produktionsweise vorherrscht. Die Expansion des Weltmarktes, die Abschaffung von Regulierungen und die Durchsetzung des Neoliberalismus verschärfen diesen Prozess nur. Im Rahmen der imperialistischen Weltordnung geht er notwendigerweise mit einer Abwälzung und Auslagerung der Kosten der reichen, imperialistischen Länder auf die halbkolonialen einher. Hierbei ist – wie in der Kapitalanalyse generell – immer zwischen der stofflichen und der Wertseite dieser Transfers zu unterscheiden.

Die Stellung der „armen“, also halbkolonialen Länder innerhalb der internationalen Arbeitsteilung reflektiert das. Die reichen Länder importieren energie-, flächen- und umweltintensive Rohstoffe und Konsumgüter und exportieren kapital- und mehrwertintensive Industrieprodukte und Dienstleistungen.

Die armen Länder hingegen orientieren sich auf die Produktion für den Export von entsprechenden Rohstoffen oder Gütern, wodurch ihre sozioökologischen Probleme ständig verschärft werden. Grundlage hierfür ist die sich immer weiter verstärkende Konzentration von Kapital in den imperialistischen Zentren (USA, Kanada, West- und Mitteleuropa, Japan, China und Russland). Die großen Kapitale kontrollieren einerseits die jeweils gerade entscheidenden Technologien, die durch überlegene Produktivität Kosten- und Preisvorteile ermöglichen. Dadurch sind sie in der Lage, sich immer mehr Wert anzueignen, der von kleineren, unproduktiveren Kapitalen hergestellt wird (und letztere sind zumeist in den nichtimperialistischen Ländern angesiedelt). Hierauf beruht der ungleiche Warentausch auf dem Weltmarkt. Andererseits bestimmen die großen Kapitale auch durch massiven Kapitalexport die für die abhängigen Länder ungünstige ökonomische Struktur. Dieser Kapitalexport kann sich sowohl in direkten Investitionen und dem Aufbau von Zulieferketten als auch in wachsender öffentlicher und privater Verschuldung ausdrücken.

In der bürgerlichen ökonomischen Theorie wird von einer „Senke der Wertschöpfungskette“ gesprochen: Die „wertvollsten“ Tätigkeiten bei der Herstellung eines Produkts wie Erfindung, Design, Marketing und Verkauf werden den „minderwertigen“ Tätigkeiten der Rohstoffextraktion und der nötigen Handarbeit bei der Produktion gegenübergestellt. Hier werden die wahren Quellen des Wertes, die Verausgabung von notwendiger menschlicher Arbeitskraft und natürlichen Ressourcen, verschleiert. Es wird aber auch klar, dass sich diese „Senken der Wertschöpfung“ immer mehr in die abhängigen Länder verschieben. Je ausbeuterischer, Ressourcen verbrauchender und umweltschädlicher, umso mehr werden die Industrien und zugehörige Bereiche in die halbkoloniale Welt ausgelagert. Energie-, flächen- und umweltintensive ebenso wie arbeitsintensive, monotone und gefährliche Produktion verschwindet immer mehr in diese Länder, während in den imperialistischen Zentren die „sauberen“ Dienstleistungen, die Steuerungstätigkeiten und immer weniger werdende Endfertigungen verbleiben.

Dieser Prozess darf nicht einfach mit einer „Deindustrialisierung“ der imperialistischen Länder verwechselt werden, sondern bedeutet vielmehr, dass wir es mit einer internationalen Arbeitsteilung zu tun haben, die zu einer bloß selektiven und abhängigen Industrialisierung der restlichen Welt unter der Kontrolle durch die Großmächte führt. Daher gehen die Investitionen und kapitalistischen Projekte in den „armen“ Ländern notwendigerweise mit einer extremen Verschärfung der Ungleichheit einher – wie sich gerade in den „Schwellenländern“ wie Indien, Brasilien oder Südafrika zeigt. Diese ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung, bei der wichtige moderne Produktionsstätten mit extremer Rückständigkeit und Armut einhergehen, stellt ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche dar, wie es heute handgreiflich in allen „Megacities“ des Südens hervortritt. Alle diese extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung verschärft die ökologische Frage im Verhältnis von Stadt und Land wie auch im Rahmen der Urbanisierung.

Die ökonomische Entwicklung der semikolonialen Länder verharrt aufgrund der Dominanz des Finanzkapitals, das institutionell, politisch und militärisch durch die Großmächte abgesichert wird, in struktureller Abhängigkeit. Die Profite werden von den international operierenden Konzernen und Unternehmen angeeignet, deren Zentralen sich in den imperialistischen Ländern befinden, weshalb die Profite kontinuierlich in diese abfließen – womit der Kreislauf von vorne beginnt. Während zu Beginn der imperialistischen Epoche die kapitalarmen Länder vor allem Lieferanten billiger Rohstoffe im Austausch gegen Industrieprodukte aus den imperialistischen Zentren waren, so wurde dies inzwischen durch eine neue Form der Arbeitsteilung ergänzt. Im Zuge einer immer globaleren Produktion werden inzwischen auch Teile von globalen Wertschöpfungsketten in halbkolonialen Ländern angesiedelt wie z. B. in der Elektronik- und Textilindustrie. Die Hälfte des Welthandels besteht heute aus Zwischenprodukten. Neben Rohstoffen und Konsumgütern sind die halbkolonialen Länder für die Zentren auch als Standorte billiger Zulieferindustrien interessant. Dabei wird nicht nur Ausbeutung und Umweltzerstörung in die halbkoloniale Welt externalisiert – die zum Teil absurde Verteilung von Produktionsketten auf die ganze Welt und die damit verbundenen riesigen Transportflotten in der Luft, auf dem Wasser, der Straße etc. sind selbst schon eine massive Form ökologischer Verschwendung im Interesse kurzfristiger Kostenvorteile der großen Konzerne.

Die Handelsbeziehungen zwischen armen, halbkolonialen einer- und imperialistischen Ländern andererseits basieren auf einem Werttransfer, der Aneignung eines großen Teils des geschaffenen Reichtums durch die imperialistischen Zentren, wo nach wie vor der größte Teil des Kapitalstocks konzentriert bleibt. Dieser Werttransfer spiegelt sich in einer Arbeitsteilung wider, die mit der Fixierung der von den Zentren dominierten Ökonomien auf bestimmte Produkte einhergeht. Der Werttransfer zugunsten des globalen Finanzkapitals bestimmt wesentlich die Entwicklungsrichtung dieser Länder und reproduziert, ja verstärkt beständig deren Abhängigkeit.

Diese Strukturen drücken sich in einem ökonomisch wie ökologisch „ungleichen“ Tausch aus. Die (verschiedenen) Theorien des ökonomischen ungleichen Tausch beziehen sich auf ein quantitatives Problem im Austausch von Wert und gehen von einem systemischen Werttransfer von den halbkolonialen zu den imperialistischen Ländern aus, was sich einigen dieser Theorien zufolge auf den Tausch von mehr Arbeitskraft für weniger zurückzuführen lässt.

Die Grundlage für diese Theorien legte bereits Marx im dritten Band vom „Kapital“: „Kapitale, im auswärtigen Handel angelegt, können eine höhere Profitrate abwerfen, weil hier erstens mit Waren konkurriert wird, die von andern Ländern mit mindren Produktionsleichtigkeiten produziert werden, so daß das fortgeschrittnere Land seine Waren über ihrem Wert verkauft, obgleich wohlfeiler als die Konkurrenzländer. Sofern die Arbeit des fortgeschrittnern Landes hier als Arbeit von höherm spezifischen Gewicht verwertet wird, steigt die Profitrate, indem die Arbeit, die nicht als qualitativ höhere bezahlt, als solche verkauft wird. Dasselbe Verhältnis kann stattfinden gegen das Land, wohin Waren gesandt und woraus Waren bezogen werden; daß dies nämlich mehr vergegenständlichte Arbeit in natura gibt, als es erhält, und daß es doch hierbei die Ware wohlfeiler erhält, als es sie selbst produzieren könnte. Ganz wie der Fabrikant, der eine neue Erfindung vor ihrer Verallgemeinerung benutzt, wohlfeiler verkauft als seine Konkurrenten und dennoch über dem individuellen Wert seiner Ware verkauft, d. h., die spezifisch höhere Produktivkraft der von ihm angewandten Arbeit als Mehrarbeit verwertet. Er realisiert so einen Surplusprofit.“ (Marx 1983, S. 247 f.)

Das Konzept des ökologisch ungleichen Tauschs hat analog dazu den Austausch von mehr ökologischem Gebrauchswert (oder Naturprodukten) gegen weniger als Grundlage und bezieht sich somit auf die qualitativen Aspekte von Gebrauchswert (vgl. Foster/Holleman 2014, S. 205 und 207). Foster/Holleman (2014, S. 227) definieren ökologisch ungleichen Tausch als „den disproportionalen und unterkompensierten Transfer von Materialien und Energie von der Peripherie zu den Zentren und die Ausbeutung von Umweltraum innerhalb der Peripherie für intensive Produktion und Müllentsorgung.“

Während klassische marxistische Theoretiker wie Otto Bauer von den Unterschieden in der organischen Zusammensetzung des Kapitals von kapitalistisch fortgeschrittenen und rückständigeren Ländern als Ursache für ökonomisch ungleichen Tausch ausgehen, haben spätere AutorInnen wie Arghiri Emmanuel argumentiert, dass die hohen Lohnunterschiede zwischen den Ländern die Ursache seien (vgl. Howard/King 1992, S. 190). Aus diesen Theorien wurden reformistische Konzepte abgeleitet, die zumeist davon ausgehen, dass durch regulative Eingriffe und „Importsubstitution“ in den halbkolonialen Ländern ein gerechter, freier Welthandel erreicht werden könne. Sie beinhalten den Fehler, dass sie ein Symptom (die ungleichen Bedingungen auf dem Weltmarkt) für die (kurierbare) Ursache verkennen. Die ungerechten Weltmarktbedingungen sind jedoch nur die Folge: Nicht die Organisation der Warenzirkulation ist das Entscheidende, sondern die Form der Kapitalakkumulation, die ihren Bewegungsschwerpunkt in den imperialistischen Zentren hat. Nur der international koordinierte Kampf gegen die Macht der Konzerne und die mit ihnen verbundenen politischen Mächte kann diese strukturell bedingte Abwärtsspirale der armen Länder brechen. Zu diesem koordinierten Kampf ist nur die international organisierte ArbeiterInnenklasse in der Lage, die sich auch mit denjenigen verbinden muss, die gegen die ökologischen und agrarischen Zerstörungen dieses Systems aufstehen.

Die internationale Arbeitsteilung zu Gunsten der reichen Länder hat eine extreme sozioökologische Ungleichheit zwischen den reichen und den armen Ländern hervorgebracht. Diese unbestreitbare Tatsache ist auf dem Boden des Kapitalismus selbst ein Resultat der von den imperialistischen Zentren bestimmten Kapitalbewegung. Die Problematik bei den Theorien des ökologischen ungleichen Tausches besteht freilich darin, dass sie in der stofflichen Seite des Transfers die Ursache, wenn nicht den Kern des Problems erblicken, daher die begriffliche Scheidung von Gebrauchswert und Wert/Tauschwert aufgeben und verwässern und damit einen Schritt zurück hinter die Errungenschaften der Marx’schen Theorie darstellen. Dies trifft auch auf die Arbeiten von Foster/Holleman (2014) zu, wie ihr positiver Bezug auf Howard Odums Konzept von „emergy“ verdeutlicht. Dieses Konzept soll ein gemeinsames energetisches Maß zur Messung von realem Reichtum und Gebrauchswert darstellen, so dass ungleicher Transfer von Gebrauchswert anhand ungleicher Energiebilanzen dargestellt wird. Damit wird freilich selbst ein willkürliches und strittiges Moment zum Vergleich von Gebrauchswerten eingeführt, das Odum und seine SchülerInnen letztlich dazu führt, auf Geld als Maß des Gebrauchswerts zurückzugreifen (und zu einem Streit darum, wie weit und ob das zulässig sei). Die ganze Konfusion ergibt sich jedoch nicht zufällig, sondern daraus, dass versucht wird, eine alternative, gemeinsame Substanz der Werte außerhalb der in den Waren vergegenständlichten gesellschaftlichen Arbeit zu finden.

Typisch für diese Theorien ist dann, ein Hauptaugenmerk auf die Verteilung von Einkommen und Ressourcen zu legen, nicht auf die Bewegung der Kapitalakkumulation. So verweist z. B. Lessenich (2016) darauf, dass die Ungleichheit im Weltmaßstab noch größer als die Ungleichheit zwischen den Reichsten und Ärmsten innerhalb einzelner Länder sei. Solche Verweise haben eine Berechtigung, wenn es darum geht, auf Unrecht und Ungleichheit hinzuweisen. Der Verweis auf „arm“ und „reich“ bezieht sich jedoch nur auf das Verhältnis von EinkommensbezieherInnen. Die ihr zugrunde liegenden Klassenverhältnisse werden ausgeblendet oder tendenziell als nachrangig betrachtet, womit die Ausbeutung von Arbeitskraft in den imperialistischen wie in den halbkolonialen Ländern nicht mehr im Zentrum der Analyse steht.

Lessenich (2016) umschreibt die herrschenden Verhältnisse der internationalen kapitalistischen Produktionsweise mit dem Begriff „Externalisierungsgesellschaft“, Brandt/Wissen (2017) sprechen von „imperialer Lebensweise“. Beide Begrifflichkeiten verfehlen den Kern der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie lassen die Machtverhältnisse und die Möglichkeiten, die herrschende Ordnung zu gestalten und zu verändern, außen vor oder räumen ihnen einen untergeordneten Stellenwert ein. Denn die herrschende Gesellschaftsordnung ist im Wesentlichen eine Ordnung im Sinne der herrschenden Klasse, im Kapitalismus eine des Kapitals. Ob erstere mehr oder minder erfolgreich darin ist, untergeordnete, subalterne und ausgebeutete Klassen und Schichten dabei mit einzubeziehen und ihre Ordnung damit zu stabilisieren oder nicht, ändert dieses grundlegende Verhältnis nicht.

Wie Thomas Sablowski (2018) zeigt, blendet die These der „imperialen Lebensweise“ die Klassenfrage letztlich aus. Die meisten Menschen in den imperialistischen Ländern würden Bandt/Wissen zufolge „auf Kosten der Natur und der Arbeitskräfte anderer Weltregionen“ leben. Alle Gesellschaftsmitglieder – von der/dem superreichen KapitalbesitzerIn bis zum/r prekär Beschäftigten oder Langzeitarbeitslosen – wären in eine gemeinsame „Lebensweise“ oder „einheitliche Konsumnormen“ eingebunden, der Unterschied wäre letztlich bloß quantitativ. So problematisch es schon ist, den Armen und Reichen eine gemeinsame „imperiale Lebensweise“ zu unterschieben, so enthält die ganze Theorie eine Reihe falsche politischer Konsequenzen. Erstens wird der Blick auf den individuellen Konsum und weg von der Produktion gelenkt. Zweitens unterstellt die Theorie ein gemeinsames Interesse von AusbeuterInnen und Ausgebeuteten, dem gegenüber der Klassengegensatz in den Hintergrund tritt – und zwar nicht nur in den Zentren, sondern spiegelbildlich natürlich auch in den „peripheren Ländern“. Nicht die Klasse der Lohnabhängigen und deren gemeinsamer internationaler Kampf, sondern entweder individuelles „Ausscheren“ aus der „imperialen Lebensweise“ (z. B. durch Kauf von regionalen Bioprodukten) oder klassenübergreifende und letztlich nationalistische Allianzen in den abhängigen Ländern bilden die politisch fatale, aber logische Folge aus dieser Theorie.

So sehr diese Erklärungen auch das Verdienst haben mögen, den Blick auf wichtige Erscheinungsformen der ökologischen Verheerungen zu werfen, so greifen sie theoretisch zu kurz und führen politisch in eine Sackgasse, ja im Extremfall zu reaktionären Schlussfolgerungen.

Die Ganzheit des globalen kapitalistischen Regimes kann treffender als Imperialismus, bezogen auf die ökologische Frage als ökologischer oder Umweltimperialismus bezeichnet werden. Der Begriff des Imperialismus wurde und wird in der bürgerlichen Theorie heute oft als geopolitischer Begriff verstanden, als Umschreibung des Kolonialismus der europäischen Mächte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (auch wenn der Schöpfer des Begriffs, der britische linksliberale Ökonom Hobson, die Wurzel des Imperialismus korrekterweise im ökonomischen Expansionsstreben des Kapitals verortete).

Lenin hat in seiner berühmten Schrift über Imperialismus den Begriff weiterentwickelt und marxistisch interpretiert. Der Imperialismus beschreibt ein bestimmtes Entwicklungsstadium des Kapitalismus, in dem sich Finanz- und Industriekapital zu großen Kapitalgruppen vereinen – wobei ersteres die Oberhand über letzteres gewinnt –, die ganze Welt der kapitalistischen Verwertung erschlossen wird und der Kapitalexport der reichen, imperialistischen Länder die Verhältnisse auf den Weltmärkten bestimmt (Lenin 1975 [Original: geschrieben 1916, zuerst veröffentlicht 1917]). Der Imperialismus geht mit einer Aufteilung der Welt unter einige wenige Großmächte einher, die auf einer gewaltigen Konzentration des Kapitals in den imperialistischen Zentren beruht und zu deren Sicherung dient. Die politische Ordnung des Imperialismus schafft Institutionen, die die weltweiten Geschäfte der großen Kapitalgruppen absichern. War dies zu Beginn der imperialistischen Epoche der Kolonialismus, so kann der Imperialismus heute zumeist auf direkte koloniale Verwaltung verzichten. Die weltweiten Verschuldungs-, Währungs- und Investitionsstrukturen erzeugen über Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank, die internationalen Handelsorganisationen etc. zusammen mit bilateralen Kredit- und Handelsabkommen zumeist genug Druck zur indirekten Herrschaftssicherung. Sollte es dennoch Abweichungen geben, existieren immer noch genug Mittel für militärische, paramilitärische oder politische Interventionen, die zur Unterwerfung führen. Oft genügt aber schon die Androhung von Kapitalabzug oder von Handelssanktionen, verbunden mit Währungs- und Börsenturbulenzen, um das Einlenken ungehorsamer Regierungen zu bewirken. Die Form der Beherrschung hat sich zwar liberalisiert, aber dafür ist die Ausbeutung umso intensiver geworden und hat die ganze Welt in eine immer stärker vernetzte globale Arbeitsteilung eingebunden, die im Interesse der in den imperialistischen Zentren konzentrierten Kapitale funktioniert. Der koloniale Status für die armen Länder wurde daher durch einen halbkolonialen ersetzt.

In seiner Imperialismustheorie verweist Lenin auch schon darauf, dass die imperialistische Ausbeutung mit bestimmten Formen des materiellen Transfers von Kolonie/Halbkolonie zu den imperialistischen Zentren einhergeht. Vor allem aber hebt er gegenüber dem Kolonialismus die zentrale Bedeutung des Kapitalexports hervor.

Suchanek (2020) fasst die Bedeutung des Außenhandels und des Kapitalexports in der Epoche des Imperialismus wie folgt zusammen: 1. Der Import billigerer Lebensmittel und Konsumgüter für die ArbeiterInnenklasse führt zur Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft und damit, bei sonst gleichbleibenden Bedingungen, zur Erhöhung des relativen Mehrwerts und der Profitrate. 2. Kapitalexport stellt einen Weg dar, auf die Überakkumulation in den imperialistischen Zentren zu reagieren und überschüssiges Kapital im Ausland zu investieren. 3. Das Kapital aus den imperialistischen Ländern kann sich aufgrund der Konkurrenzvorteile gegenüber den Halbkolonien und Kolonien Extramehrwert aneignen. 4. Durch die geringere organische Zusammensetzung des Kapitals in der Halbkolonie bzw. Kolonie findet ein Werttransfer zu den imperialistischen Unternehmen statt.

Um die ökologische Dynamik des Kapitalismus zu verstehen, muss an diesem Verständnis angeknüpft und die Material- und Energieflüsse zwischen den imperialistischen und halb-/kolonialen Nationen als Teil des imperialistischen Gesamtsystems begriffen werden.

Dies hat notwendigerweise auch Folgewirkungen auf die Klassenstruktur in den imperialistischen Zentren – nicht nur hinsichtlich der Bereicherung der herrschenden Klasse, der oberen Schichten des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten, sondern auch für die ArbeiterInnenklasse. Ein bedeutender Teil der Lohnabhängigen kann über einen Anteil an der Ausbeutung der „Dritten Welt“ integriert werden, über längere Perioden Einkommen erkämpfen, die über den Reproduktionskosten liegen, die eine dem KleinbürgerInnentum ähnliche Lebensweise erlauben, wenn auch oft mit enorm hoher Ausbeutung verbunden (was sich z. B. in der enormen Arbeitsproduktivität und -intensität der Beschäftigen in den Exportindustrien zeigt).

Der Kapitalismus kann sich das nur unter drei Bedingungen leisten: (i) eine ständige Expansion der Kapitalakkumulation, (ii) die Extraktion von Extraprofiten aus armen Ländern und (iii) die systematische Externalisierung seiner sozioökonomischen Auswirkungen. Die soziale Stabilisierung „zu Hause“ durch die Externalisierung negativer sozialer und ökologischer Folgen des Kapitalismus bildet somit ein zentrales, herrschaftsstabilisierendes Element dieses Systems. In den halbkolonialen Ländern werden dafür Rohstoffe geplündert, Landstriche und Wasserressourcen zerstört, Bevölkerungen entwurzelt und zwangsumgesiedelt, Kleinbäuerinnen und -bauern von ihren Felder vertrieben, Wälder gerodet und geplündert. Das kennzeichnet das System des Umweltimperialismus und erklärt das „Umweltparadoxon“.

Foster et al. (2010, S. 370) beschreiben den Umweltimperialismus wie folgt: „Ökologischer Imperialismus bedeutet, dass die schlimmsten Formen der Umweltzerstörung, im Sinne von Plünderung von Ressourcen und Bruch von nachhaltigen Beziehungen zur Erde, vor allem auf die Peripherie anstelle der Zentren fallen. Ökologischer Imperialismus erlaubt imperialistischen Ländern eine Überziehung der ökologischen Tragfähigkeiten (environmental overdraft), die von den Naturressourcen der peripheren Länder zehrt. Während die materiellen Voraussetzungen für Entwicklung zerstört werden, werden Dritte-Welt-Länder mehr und mehr in der Schuldenfalle gefangen, die extraktive Ökonomien auszeichnet. Die Prinzipien des Umweltschutzes, welche die Unternehmen in den entwickelten Ländern teilweise eingeführt haben, um ihren Ressourcenverbrauch bis zu einem bestimmten Punkt zu rationalisieren, wurden nie in demselben Ausmaß in der Dritten Welt angewandt, welcher der Imperialismus eine offene ,Nach mir die Sintflut’-Philosophie auferlegt hat.“

Vandava Shiva beschreibt z. B. in einem Interview von 2011 sehr anschaulich, welche Auswirkungen der Umweltimperialismus in Indien hat und dass das vorherrschende, kapitalistische Wachstum nicht nur zu Umweltzerstörung, sondern auch zu einem Anstieg der Armut führt: „Denn Wachstum misst nur kommerzielle Transaktionen und externalisiert die Zerstörung der Natur sowie der Lebens- und Existenzgrundlagen der Armen. Wachstum ist de facto ein Prozess, der Armut hervorbringt und verschlimmert. Es ist keine Lösung für Armut.“ Ländliche Kleinbäuerinnen und -bauern werden u. a. durch Aluminium- und Stahlwerke enteignet und vertrieben und enden in den riesigen Slums der Großstädte, in denen sie wiederum durch die Immobilienspekulation, die eine Minderheit von Superreichen noch reicher macht, erneut vertrieben werden. Der Staat hilft durch Gesetzgebung und Militäraktionen kräftig nach.

Um an die leninistische Imperialismustheorie anzuknüpfen, fällt die Entstehung des Umweltimperialismus mit der Herausbildung des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus ca. um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zusammen. Es handelt sich dabei nicht um ein eigenes oder neues Stadium des Imperialismus – vielmehr bildet er von Beginn an einen Teilaspekt des ökonomischen Imperialismus, entwickelt sich mit diesem Hand in Hand. Da die Ökonomie auf der stofflichen und energetischen Basis der Natur beruht, führt die Ausbeutung der Menschen auch zur Ausbeutung der Natur – und umgekehrt.

Foster und Clark (Foster et al. 2010, S. 352 ff.; siehe auch Foster/Clark 2009) charakterisieren die Überausbeutung von Guano (einem natürlichen Dünger) in Peru im 19. Jahrhundert durch Großbritannien und andere europäische Mächte als klassisches Beispiel für ökologischen bzw. Umweltimperialismus. So gut dieses Beispiel auch geeignet ist, die Praxis der ökologischen Plünderung mit all ihren Folgen (inkl. der Überausbeutung von ArbeiterInnen und Krieg) zu illustrieren, so handelt es sich doch um eine methodische Ungenauigkeit. Wie der Kolonialismus bereits vor dem Kapitalismus entstand, gab es auch ökologische Plünderung durch kapitalistische Mächte vor der imperialistischen Epoche.

Marx (1962, S. 779) schreibt in Bezug auf die sogenannte ursprüngliche Akkumulation: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“

In Anlehnung an diese Analyse bezeichnen die ökologischen Plünderungen im 19. Jahrhundert wie der Guanoausbeutung die Morgenröte der Ära des Umweltimperialismus, der sich im 20. Jahrhundert mit der Entstehung des Imperialismus auf die gesamte Welt ausbreitete.

Dabei stellt der Imperialismus nicht nur eine quantitative Steigerung der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der damit einhergehenden Umweltzerstörung dar, sondern führte auch zu einer qualitativen Veränderung in den Ökonomien der peripheren Länder. Er führte und führt – wie bereits erwähnt – zu einer ungleichzeitigen und  kombinierten Entwicklung, in der einerseits industrielle Produktionen in diese Länder ausgelagert und z. B. Teile der Landwirtschaft massiv industrialisiert wurden, andererseits halbfeudale Strukturen nach wie vor fortbestehen.

Der Imperialismus hatte für die imperialisierte Welt immer schon verheerende sozioökologische Auswirkungen. Die Art der imperialistischen Ausbeutung hat sich jedoch verändert: Anfänglich waren Kolonialgesellschaften, Aktiengesellschaften für bestimmte Ausbeutungsprojekte, große Schuldverschreibungen an bestimmte Staaten etc. vor allem an der extensiven Ausbeutung ganz bestimmter Reichtümer ausgerichtet. In der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dies durch direkte Investitionen und Zweigstellen der großen Kapitale in der halbkolonialen Welt ergänzt. Inzwischen wurde die extensive Ausbeutung durch ein System der intensiven Ausbeutung in einer von den großen Kapitalen global ausgerichteten Arbeitsteilung weiterentwickelt. Flexible Finanzströme erlauben die rasche Verlagerung von Produktions- und Handelsströmen gemäß den Ausbeutungsbedingungen. Direkte Zweigstellen wurden durch Ketten von indirekt abhängigen Zulieferbetrieben abgelöst. Immer größer konzentrierte Kapitalgruppen kontrollieren unüberschaubare Netze von untergeordneten Firmengruppen, die weltweit vernetzt sind.

So wird der weltweite Agrarmarkt für Sojaöl, -mehl, -bohnen, Palm- und Rapsöl, Mais, Weizen, Grobgetreide und Zucker heute von fünf Großkonzernen aus den USA, den Niederlanden und China kontrolliert, die allein auf sich 70 % des Weltmarktes konzentrieren (Herre 2017, S. 26). Diese beherrschen nicht nur die Marktbedingungen für Zuliefer- und AbnehmerInnen, sondern können sich auch über Warenterminbörsen und ihre Derivate gegen Marktschwankungen absichern, ganz im Gegensatz zu den von Preisschwankungen betroffenen Bevölkerungen. Dabei sind die Rohprodukte nur noch das grundsätzliche Standbein der Konzerne, während die Weiterverarbeitung nicht nur für Lebensmittel zur viel interessanteren Gewinnquelle geworden ist (z. B. wird Palmöl auch für Reinigungsmittel, Kosmetik und zur Energiegewinnung genutzt). Ähnliche Konzentrationsprozesse finden sich auch bei der Fleischindustrie, Agrartechnologie und Lebensmittelkonzernen. Darüber hinaus wird die Agrarproduktion immer stärker von Pharmaunternehmen (Saatgutindustrie) und Chemiekonzernen (Pestizide, Gentechnik) bestimmt. Mit der Fusion von Bayer und Monsanto wird der Weltmarkt für Saatgut und Pestizide unter nur mehr 4 Großkonzerne aufgeteilt. Insgesamt führen diese Konzentration und globale Ausrichtung von Agrar- und Lebensmittelindustrie zu einer katastrophalen sozioökologischen Schieflage. Z. B. hat die globale Konzentration der Agroproduktion zu einer Vernichtung der agrarischen Selbstversorgung ganzer Regionen u. a. in Lateinamerika und Afrika geführt, die abhängig von den Importen billiger Agrarprodukte der weltweiten Agroindustrie geworden sind. Erschütterungen der Weltagrarmärkte – wie z. B. nach 2009, als alle wesentlichen Agrarpreise sich in kurzer Zeit verdoppelten – führen sofort zu massiven Versorgungsproblemen und Hungerkatastrophen.

Diese Aufzählung von Konzentrationsprozessen lässt sich auch in Bezug auf die extraktiven Industrien wie z. B. Bergbau und Energie fortführen. Mit ihren Großplantagen zum Anbau von Pflanzen für Energiegewinnung oder als Rohstoffe für die verarbeitende Industrie überschneiden sich Agro- und klassische Industrie auch zunehmend. Ob durch die Agroindustrie, Energie- und Bergbau oder Fleischindustrie – die von wenigen großen Konzernen für ihre Kapitalverwertung beherrschten und übernutzten Flächen steigen jährlich in atemberaubendem Tempo.

Unter dem Deckmantel der „Green Economy“ und des „Green New Deal“ entwickeln sich mittlerweile neue Formen des Umweltimperialismus unter ökologischen Vorzeichen. Dazu gehört z. B. die Aneignung von Wäldern, Ländern und anderen Ressourcen in halb-/kolonialen Ländern durch internationale Konzerne als Ausgleichsmaßnahmen für Umweltzerstörung (siehe auch die Kritik am CDM und dem REDD-Programm im Kapitel zur Green Economy). Auch der Emissionshandel könnte in besonderem Maße zu einer neuen Form des Umweltimperialismus führen. Bruno Kern (2019, S. 105) verweist darauf, dass der Zertifikatehandel die Kapitalkonzentration beschleunigen könnte: „Die Wirkweise der Marktkräfte könnte so dafür sorgen, dass sich die Verschmutzungslizenzen in den Händen weniger großer Firmen konzentrieren.“ Bei einem funktionierenden internationalen Emissionshandelssystem liegt die imperialistische Komponente auf der Hand: „Reiche Industrieländer mit hoher Kaufkraft könnten durch das Aufkaufen von Verschmutzungsrechten die globale soziale Kluft erheblich verstärken und sich auf Kosten der ärmeren Länder das Recht auf überproportionale Verschmutzung sichern.“

Alle Proteste der Betroffenen in den Halbkolonien gegen die Projekte der großen Agro-, Saatgut-, Bergbau-, Energieunternehmen etc. führen sofort zum Auftreten der internationalen GeldgeberInnen und Institutionen, die die Regierungen vor Ort dann meist als willige Vollzugsorgane vorfinden. Ob Proteste gegen Staudammprojekte, Landvertreibungen, Preis- und Abnahmediktaten bei Saatgut, Dünge- oder Lebensmitteln, gegen massive Rodungen z. B. im Interesse der Fleischindustrie etc. – überall hier zeigt der Umweltimperialismus sein wahres, brutales und repressives Gesicht. In den imperialistischen Zentren wird die tatsächlich betriebene Raubbaupolitik dann mit zynischen Kampagnen über angeblich „nachhaltige“ und für die Menschen vor Ort gerechte Produktion verbunden. Ökosiegel und Alibi-Ökoprojekte der Großkonzerne sind zumeist nichts anderes als „green washing“ für imperialistische Ausbeutung und Zerstörung. Nur eine Zerschlagung der Macht der großen internationalen Konzerne könnte es den Kleinbauern/-bäuerinnen und Landlosen in der semikolonialen Welt ermöglichen, zu einem Ausgleich zwischen notwendiger Selbstversorgung der einheimischen Bevölkerung und den inzwischen erreichbaren Standards für ökologisch nachhaltige Landwirtschaft zu kommen (z. B. durch regional selbst erzeugtes und gemeinschaftlich verwaltetes Saatgut).

Lenin hat im Zusammenhang mit seiner Imperialismustheorie auch auf die Bildung einer privilegierten Schicht in den imperialistischen Ländern innerhalb der ArbeiterInnenklasse, der sog. Arbeiteraristokratie, hingewiesen. Diese ArbeiterInnenaristokratie wird in besonderem Maße in das weltweite System des Imperialismus einbezogen und profitiert von guten, sich verbessernden Arbeitsbedingungen und steigenden Löhnen. Sie ist die Basis für einen weitverbreiteten Reformismus und eine ArbeiterInnenbürokratie in den imperialistischen Ländern und einigen entwickelteren Halbkolonien. Die ArbeiterInnenbewegung kann sich nicht internationalisieren und ihr revolutionäres Potential entfalten, solange sie von diesen reformistischen Strömungen dominiert ist.

Grundsätzlich unterminiert die Entwicklung des Kapitalismus heute die Stellung der ArbeiterInnenaristokratie in den imperialistischen Zentren, was einerseits den Nährboden für Konflikte und Klassenkampf, andererseits auch für reaktionäre populistische und nationalistische Lösungen bilden kann. Um diese Schichten wie die ArbeiterInnenklasse überhaupt für den Kampf um ihre unmittelbaren Interessen wie für eine Lösung der ökologischen Fragen zu gewinnen, muss freilich der sich objektiv verschärfende Klassenwiderspruch auch politisch zugespitzt werden.

An dieser Stelle müssen wir auf unsere Kritik des Konzepts der imperialen Lebensweise zurückkommen. Diese TheoretikerInnen behaupten, dass auch die unteren Schichten in den reichen Ländern von der Verschiebung gewaltiger Ausbeutungs- und Umweltprobleme erfolgreich z. B. durch die günstigen Preise von Konsumgütern aller Art profitieren würden. Dadurch könnten die Ärmeren in den reichen Ländern ihren Lebensstandard – bzw. genauer gesagt: Konsumstandard – steigern. „So wäre es ohne die auf Kosten von Mensch und Natur andernorts hergestellten und ebendeshalb billigen Lebensmittel womöglich weitaus schwieriger gewesen, die Reproduktion der unteren Gesellschaftsschichten des globalen Nordens auch angesichts der tiefen Wirtschaftskrise seit 2007 zu gewährleisten.“ (Brand/Wissen 2017, S. 13)

Natürlich hat die Senkung der Lebenshaltungskosten durch günstigere Konsumgüter auch einen stabilisierenden Aspekt. Vor allem aber erlaubte diese – und zwar nicht erst seit 2007, sondern während der gesamten Globalisierungsperiode –  eine Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft in den imperialistischen Ländern. Diese hatte die Ausweitung des Billiglohnsektors sozial erleichtert, mit zur Schaffung eines Millionenheeres von Working Poor beigetragen und zur Steigerung der Ausbeutungsrate in den imperialistischen Ländern!

Hier zeigen sich die reaktionären und antiproletarischen Seiten der „Theorie“ von der imperialen Lebensweise, indem die Erhöhung der Ausbeutungsrate der Lohnarbeit zu einem „Transfer“, nicht zugunsten des Kapitals, sondern der ArbeiterInnenklasse umgedichtet wird. Denken wir diese Annahme logisch zu Ende, so wäre jeder Lohnkampf, jeder Kampf gegen Hartz IV usw. letztlich einer für einen höheren Anteil an der Ausbeutung der halbkolonialen Welt und bloß ein Streit unter allen, die einer „imperialen Lebensweise“ frönen würden.

Der Begriff „imperiale Lebensweise“ von Brand/Wissen (2017) suggeriert, dass die ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern selbst zu einem Teil der herrschenden Klasse geworden sei. Das ist sie aber nicht. Sie stellt bloß einen im internationalen Kontext des globalen Kapitalismus relativ privilegierten Teil der unterdrückten und ausgebeuteten Klasse dar. Um den Kapitalismus zu bekämpfen, ist es zentral, diese Zusammenhänge und Mechanismen des Imperialismus und deren Wirkungen auf die ArbeiterInnenklassen sowohl in den imperialistischen, in den sog. Schwellenländern als auch in den Halbkolonien zu verstehen. Die ArbeiterInnenklasse des Nordens muss den Kampf gegen den sozioökologischen Raubbau im Süden als ihren aufgreifen, bei dem es letztlich um das Überleben der gesamten Menschheit geht. Wenn Menschen zu tausenden aufgrund dieses Raubbaus aus dem Süden in den Norden fliehen, heißt es schnell: „Fluchtursachen bekämpfen“. Tatsächlich bildet die eigentliche Ursache der Imperialismus, und solche Phänomene, bei denen die Auswirkungen dieses imperialistischen Systems vor aller Augen sichtbar werden, müssen zu der Schlussfolgerung führen, dass dieses insgesamt bekämpft werden muss. Jedes Programm im Kampf gegen den Imperialismus muss daher von den Betroffenen und den globalen Interessen der ArbeiterInnenklasse ausgehend auch zentral Forderungen zum Kampf gegen den weltumspannenden ökologischen Raubbau zu Lasten vor allem der Halbkolonien entwickeln.

Der grundlegende Widerspruch zwischen Kapitalismus und Umwelt

Eine nachhaltige Wirtschaftsweise ist im Kapitalismus unmöglich. Jede/r einzelne KapitalistIn sowie das Gesamtsystem sind zu der permanenten Steigerung der Kapitalakkumulation gezwungen. Foster et al. (2010, S. 201) bezeichnen diesen Zwang als „Tretmühle der Akkumulation“. Im herrschenden Diskurs wird Akkumulation allgemein als Wachstum bzw. Wirtschaftswachstum bezeichnet. Dahinter verbirgt sich ein grundlegendes Missverhältnis zwischen Gebrauchs- und Tauschwert. Im Kapitalismus werden Waren, Güter und Dienstleistungen nicht primär hergestellt, um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um Wert anzueignen. Der in einer Ware vergegenständlichte Wert (Tauschwert) ergibt sich aus der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die zu ihrer Produktion notwendig ist. Das bedeutet, dass dieser Wert abhängig von der sich gesellschaftlich durchsetzenden Produktivität der Arbeit ist. Die Natur geht in die Bestimmung des Tauschwertes nur insofern als „Kostenfaktor“ ein, wenn menschliche Arbeitskraft notwendig ist, um sie nutzbar zu machen (z. B. die notwendige Arbeit zur Extraktion eines Rohstoffes). Die von menschlicher Arbeitskraft unabhängige Natur wird im Kapitalismus als Quelle von Wert ausgeschlossen (vgl. Foster/Holleman 2014, S. 216). Die Reproduktion von Arbeitskraft oder Natur ist dieser Frage der möglichst günstigen Produktion der Waren untergeordnet. Die Produktion dient nicht der Reproduktion, sondern umgekehrt: Die Reproduktion der ArbeiterInnen und der Natur wird nur anerkannt, insofern sie der Produktion von Mehrwert für das Kapital dient.

Darüber hinaus besteht im Kapitalismus als der Produktionsweise der verallgemeinerten Warenproduktion der Hauptzweck der Produktion nicht mehr nur in der Produktion von Wert an sich, sondern vor allem von Mehrwert. Die Mehrarbeit über die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeit hinaus vergegenständlicht sich in diesem Mehrwert, der zur Quelle des Profits für das investierte Kapital wird. Damit wird für das Kapital der Produktionsprozess zum Verwertungsprozess. Im Gegensatz zu früheren Produktionsweisen resultiert daraus im Kapitalismus ein schrankenloses Bedürfnis nach Mehrarbeit: „Indes ist klar, daß, wenn in einer ökonomischen Gesellschaftsformation nicht der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert des Produkts vorwiegt, die Mehrarbeit durch einen engern oder weitern Kreis von Bedürfnissen beschränkt ist, aber kein schrankenloses Bedürfnis nach Mehrarbeit aus dem Charakter der Produktion selbst entspringt.“ (Marx 1962, S. 250)

Dies bestimmt das Wesen der Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus. Produktivitätsfortschritt aus Sicht des Kapitals bedeutet, weniger Arbeitskraft für dieselbe Produktionsmenge einsetzen zu müssen als die Konkurrenz. Dies erlaubt es, entweder (a) bei gleichbleibenden Preisen einen größeren Teil des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts anzueignen (Werttransfer in Richtung produktiveres Kapital), oder (b) durch niedrigere Preise die Konkurrenz aus dem Markt zu drängen (Konzentration des Kapitals). Pro Stück wird durch die Reduktion eingesetzter Arbeitskraft gegenüber dem notwendigen Einsatz von Maschinen und Rohstoffen dabei jedoch immer weniger Mehrwert erzielt, was zu einem tendenziellen Fall der Profitrate führt. Als Folge ist das Kapital zur ständigen Ausweitung der Produktion gezwungen, um den relativen Fall der Profitrate mit einem absoluten Wachstum der Profitmasse auszugleichen. Daher ist das Kapital aus seinem Wesen als Verwertungs„maschine“ heraus zu beständigem Wirtschaftswachstum gezwungen. Durch jeden Einbruch dessen muss die Tendenz zum Fall der Profitrate sofort in eine Verwertungskrise des Kapitals umschlagen.

Das Kapital muss beständig Auswege aus dem Fall der Profitrate suchen. Neben der Tendenz zur Kapitalkonzentration und der Erschließung billiger Finanzierungsquellen (z. B. Aktienkapital), zählen hierzu u. a. Methoden der Intensivierung von Arbeit und zur Einsparung bei den materiellen Grundlagen der Produktion („konstantes Kapital“, z. B. Energie- und Rohstoffquellen). Das Kapital ist daher auch zur rücksichtslosen Ausnutzung möglichst kostengünstig anzueignender Umweltressourcen gezwungen, um Verwertungskrisen zu vermeiden – und wälzt somit seine Verwertungsprobleme als langfristige Kosten von Umweltzerstörung auf „die Allgemeinheit“ ab.

Die kapitalistische Wirtschaft, die sogenannte Marktwirtschaft, ist auf globaler Ebene ineffizient, was die Verteilung von Waren und Dienstleistungen anbelangt. Gerne wird auf die sehr viel höhere Effizienz einer Marktwirtschaft im Vergleich zu den bürokratischen Planwirtschaften des „real existierenden Sozialismus“ hingewiesen. Im globalen Maßstab allerdings – und der Kapitalismus kann nur global verstanden und beurteilt werden – funktioniert die Verteilung extrem schlecht und ungerecht: Diejenigen, die bereits sehr viel haben, bekommen ständig mehr, während diejenigen, die fast nichts haben, nach wie vor am Existenzminimum und oft auch darunter verharren. Die kapitalistische Wirtschaft – und mit ihr der Großteil des produktiven und kreativen Potentials der ArbeiterInnen – ist weit mehr damit beschäftigt, ständig neue Feinheiten für die zahlungskräftigen Mittel- und Oberschichten zu entwickeln und zu vermarkten, als die grundlegenden Probleme der Welt zu lösen. Und selbst in den imperialistischen Zentren nimmt der Lebensstandard großer Teile der ArbeiterInnenklassen seit Jahrzehnten tendenziell ab.

An diesem grundlegenden Verhältnis ändert auch der wirtschaftliche „Aufstieg“ der sog. Schwellenländer nichts. Länder wie Brasilien, Mexiko oder Indien können ihre strukturelle Abhängigkeit und Unterordnung innerhalb der globalen Ökonomie nicht überwinden. Mit einer Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schlittern diese Länder schnell wieder in eine heftige Krise und die bescheidenen Verbesserungen für die ArbeiterInnenklassen und das KleinbürgerInnentum, die in Zeiten des Exportbooms tendenziell erreicht werden können, stehen damit ständig auf dem Spiel (während die gewaltigen Privilegien der Eliten geschützt werden). Zur Überwindung der Krise greifen die Regierungen dieser Länder dann zu den altbewährten Mitteln: einer Intensivierung der Ausbeutung und der Exporte zulasten der ArbeiterInnen, Kleinbauern/-bäuerinnen, der traditionellen Bevölkerungen und – nicht zuletzt und damit zusammenhängend – der Umwelt.

Die große Ausnahme in diesem Szenario stellt China dar. (Zora 2020) Das Land hat es aufgrund spezieller politischer und ökonomischer Konstellationen geschafft, selbst in den erwählten Kreis der imperialistischen Länder aufzusteigen. China hat systematisch daran gearbeitet, produktive Sektoren und die industrielle Entwicklung im eigenen Land zu verankern, zu festigen und zu fördern. Gleichzeitig ging mit der Entwicklung des chinesischen Kapitalismus eine Umweltzerstörung und –inwertsetzung einher, deren Ausmaß in der Kürze der Zeit in der Geschichte der Menschheit vermutlich einzigartig ist. Heute hat China begonnen, selbst daran zu arbeiten, Kapital und negative sozioökologische Auswirkungen in andere Länder und Regionen zu exportieren, auch wenn es das diesbezügliche Niveau der klassischen imperialistischen Länder noch nicht erreicht hat.

Der Zwang zur permanenten Steigerung der Kapitalakkumulation bewirkt, dass sich der Kapitalismus ständig einerseits revolutionieren und andererseits ausdehnen muss. Nie wurde das besser auf den Punkt gebracht als im Kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. [ … ] Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“ (Marx/Engels 1988 [Original: 1848], S. 48 f.) Wie Lessenich (2016, S. 41 f.) anmerkt, gilt dieses Bedürfnis nicht nur für neue Territorien, sondern auch für weitere Möglichkeiten, die Verwertung des Kapitals auszuweiten wie z. B. die Ausdehnung auf neue Wirtschaftszweige (Privatisierung), für neue Personengruppen und -kategorien, die als Arbeitskräfte in (weltweite) Produktionsketten eingegliedert werden, für Fähigkeiten und Eigenschaften dieser Arbeitskräfte oder für neu zu erschließende profitable Geschäftsfelder (z. B. Gentechnik oder Biotechnologie).

Die permanente Steigerung der Kapitalakkumulation bedeutet aber nicht nur eine äußerliche, rein quantitative Ausdehnung der Profitwirtschaft auf immer mehr Territorien und Wirtschaftszweige, sondern auch eine qualitative Umwälzung der Arbeitsprozesse selbst. Marx spricht davon, dass ab einem gewissen Entwicklungsstand der Kapitalakkumulation „an die Stelle der formellen die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital [tritt]“ (Marx 1962, S. 533). Dies bedeutet, dass bei neu vom Kapital erfassten Bereichen dieses zunächst nur als Käufer und Verkäufer von Waren und Arbeitskräften auftritt, den Arbeitsprozess selbst aber erstmal so weiter laufen lässt wie bisher (formelle Subsumtion). Die Profitabilitätszwänge des Kapitals führen jedoch früher oder später dazu, dass das Kapital beginnt, den Arbeitsprozess zu zerlegen, neu zu organisieren, zu rationalisieren, nach Kosteneinsparungen zu suchen, gewisse Arbeitsprozesse auszulagern, andere zu automatisieren, nach billigeren Rohmaterialien zu suchen etc. D. h. das Kapital beginnt, den Arbeitsprozess selbst in allen seinen Aspekten und Eingangsstoffen nach seinen Prinzipien zu organisieren und zu intensivieren (reelle Subsumtion).

So wird eine umfassende Wertschöpfungskette geschaffen von der kostengünstigen Rohstoffaneignung, über ausbeuterische Zulieferbetriebe, logistische Optimierung von Endfertigung und dazwischen liegendem Transport bis zu ebenso ausbeuterischen Verkaufs- und Auslieferbetrieben hin zu den EndkundInnen. In dieser Intensivierung und Verwissenschaftlichung der Verwertungsprozesse kommen natürliche Reproduktionssysteme im Wesentlichen als zu minimierende Kostenfaktoren und verwertungskonform zu erschließende Quellen für die Expansion der Produktion vor. Wenn hier von „Nachhaltigkeit“ die Rede ist, dann nur, insofern sie die Kostenziele insgesamt nicht wesentlich berührt und dann als billige Marketingstrategie verwendet werden kann. Natürlich können Umweltgesetzgebungen und Imageprobleme dazu führen, dass KapitalistInnen reagieren müssen. In diesem Fall fällt eine bestimmte Form von Produktivitätssteigerung auch für die Konkurrenz zeitweise aus – bis man entsprechende Schlupflöcher durch Produktionsverlagerung oder Gesetzesänderungen durch Lobbyarbeit etc. gefunden oder erreicht hat.

Auch wenn es den Kapitalismus historisch kennzeichnet, dass er nicht erschlossene Territorien oder Bereiche der Kapitalverwertung unterordnet, so sollte diese „Inwertsetzung“ von bisher nicht genutzten Ressourcen für die Kapitalverwertung nicht absolut gesetzt werden: Mit Bezug auf Rosa Luxemburg behaupten (vor allem feministische) ReproduktionstheoretikerInnen, die fortgesetzte Kapitalakkumulation würde ein beständiges nichtkapitalistisches „Außen“ erfordern, das erst die Kapitalreproduktion auf immer erweiterter Stufenleiter ermögliche. Marx hat dagegen im zweiten Band des „Kapital“ im Schema der erweiterten Reproduktion (Marx 1963) gezeigt, dass das Kapital, sobald es an die Grenzen des rein expansiven, einfachen Wachstums stößt, durch Wechsel zu intensivem, sogar zu beschleunigtem Wachstum fortschreitet. Durch Investieren in die Ausweitung der Produktion mithilfe der geschilderten Methoden der Subsumtion unter Verwertungsprinzipien schafft sich das Kapital gleichzeitig die Nachfrage für die steigende Kapitalakkumulation selbst. Dadurch werden auch neue, nichtkapitalistische Bereiche für die Inwertsetzung und damit für extensive Akkumulation erschlossen (z. B. Rohstoffe, Arbeitsbereiche, Techniken etc., die bisher für die Kapitalverwertung nicht von Interesse waren). Damit verschiebt sich die „Grenze“ der Kapitalexpansion in jedem Kapitalverwertungszyklus neu. Der Kapitalismus definiert sich sein „Außen“ immer wieder von Neuem selbst.

Die Steigerung der Kapitalakkumulation ist historisch eindeutig mit dem Verbrauch einer immer größeren Material- und Energiemenge gekoppelt. Zwar gibt es Diskussionen, wonach es für hochentwickelte kapitalistische Ökonomien möglich sei, das Wirtschaftswachstum – sprich die Kapitalakkumulation – vom steigenden Verbrauch von Ressourcen und Energie zu entkoppeln. Die Mechanismen des Umweltimperialismus lassen es auf den ersten Blick sogar so erscheinen, als sei eine solche Entkoppelung in einigen fortgeschrittenen Ökonomien tatsächlich gelungen. So sinken in Deutschland z. B. der Primärenergie- sowie der direkte Ressourcenverbrauch, der sog. abiotische direkte Materialeinsatz, seit 1990, während das Bruttoinlandsprodukt ansteigt. Der abiotische direkte Materialeinsatz erfasst jedoch nicht die Ressourcen, die im Ausland gewonnen und verarbeitet werden, um nach Deutschland exportierte Halb- oder Fertigwaren zu produzieren. Werden diese mit einbezogen, dann ergibt sich ein anderes Bild. Zwischen den Jahren 1994 und 2015 stiegen die Einfuhren an Fertigwaren um 109 %, während die von Halbwaren um lediglich 12 % zunahmen. Die Importe von Rohstoffen erhöhten sich um 23 %. Im selben Zeitraum sank die Gewinnung von Energieträgern in Deutschland um 30 %, während die Importe um 43 % anstiegen. Auch die Importe von Erzen und ihren Erzeugnissen (überwiegend Metallwaren) stiegen um 46 % an, während z. B. die inländische Gewinnung von mineralischen Baurohstoffen um 34 % sank (Umweltbundesamt 2017b). Das Umweltbundesamt (UBA) schlussfolgert: „Die starken Anstiege der Fertigwaren gelten gleichermaßen für metallische Güter wie auch für Produkte aus fossilen Energieträgern, etwa Kunststoffe. Mit dem zunehmenden Import von Fertigwaren werden rohstoffintensive Herstellungsprozesse mitsamt den meist erheblichen Umwelteinwirkungen der Rohstoffgewinnung und -aufbereitung verstärkt ins Ausland verlagert.“ (Ebenda) Werden die Im- und Exporte in die Statistik mit einbezogen, was in dem Indikator Rohstoffverbrauch der Fall ist, dann ist dieser für Deutschland nicht nur deutlich höher als der direkte Materialeinsatz, sondern hat auch zwischen 2000 und 2011 um ca. 2 % zugenommen. Da das BIP im selben Zeitraum deutlich stärker zunahm, stieg die sog. Gesamtrohstoffproduktivität (relative Entkopplung), es konnte jedoch keine absolute Entkopplung erreicht werden. Für den Energieverbrauch stellt das UBA keine analoge Statistik, unter Berücksichtigung der Im- und Exporte, für Deutschland zur Verfügung.

Die Natur erscheint im Kapitalismus als reine Ressource zur Vermehrung von Kapital, als notwendige Variable im Akkumulationsprozess. In der klassischen bürgerlichen Ökonomie sowie in der Neoklassik werden natürliche Ressourcen und Senken als „kostenfreie Geschenke“ angenommen, die es auszubeuten gilt (Foster et al. 2010. S. 61). Auch Marx wurde oft vorgeworfen, dass er mit seiner ökonomischen Theorie den Wert einer Ware rein auf die in ihr enthaltene menschliche Arbeit reduziert und deshalb die ökologische Basis der Ökonomie außer Acht gelassen habe. Foster et al. (2010, S. 61 f.) haben gezeigt, dass dieser Vorwurf auf einer Verwechslung von Wert und Reichtum basiert, die in der bürgerlichen Ökonomie als Synonyme verwendet werden. Nicht so jedoch bei Marx: „Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern. Noch mehr. In dieser Arbeit der Formung selbst wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter.“ (Marx 1962, S. 57 f.) In diesem Sinne kritisiert Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm der SPD die Behauptung, dass die Arbeit die Quelle allen Reichtums sei: „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.“ (Marx 1973, S. 15, Hervorhebungen im Original).

Ohne Zweifel war der Kapitalismus sehr erfolgreich darin, Gebrauchswerte in großer Masse zu produzieren und in diesem Sinne ein großer historischer Fortschritt gegenüber vorkapitalistischen Produktionsformen. Er hat die Grundlage dafür gelegt, materiellen Mangel und Not auf der Welt für alle Menschen zu überwinden. Doch mit seiner zunehmenden Entwicklung hat sich ein grundlegendes Missverhältnis zwischen Gebrauchs- und Tauschwerten eingestellt. Letztere werden zunehmend auf Kosten ersterer produziert und hergestellt. So führt z. B. die zunehmend massenhafte Produktion von Fleisch für eine kaufkräftige Minderheit auf der Welt zu einer enormen Profitmasse für die immer mehr monopolisierten ProduzentInnen, richtet gesamtgesellschaftlich gesehen jedoch immensen Schaden an, da sie mit zunehmender Umweltzerstörung und extremer Ausbeutung von Mensch und Tier einhergeht und dabei den Hunger eines großen Teils der Menschheit nicht verringert oder sogar verschärft. Noch offensichtlicher ist dieses inverse Verhältnis zwischen Gebrauchs- und Tauschwert z. B. bei der Rüstungsproduktion.

Dieses Missverhältnis ändert sich auch nicht in der neuen, grünen Ökonomie. Um eine nachhaltige Wirtschaftsweise zu erreichen, ist aber genau seine Überwindung notwendig. Das ist im Kapitalismus unmöglich. Durch die permanente Steigerung der Kapitalakkumulation wird erstens sichergestellt, dass sich die Profite des Kapitals allgemein ständig vermehren können (auch wenn natürlich einzelne KapitalistInnen immer auf der Strecke bleiben). Zweitens werden dadurch die Mechanismen des Umweltimperialismus aufrechterhalten. Die sog. Postwachstumstheorien gehen fälschlich davon aus, dass der Zwang zur Kapitalakkumulation innerhalb des Kapitalismus überwunden werden könne. Was sie dabei ausblenden oder ignorieren, ist, dass ohne permanente Steigerung der Kapitalakkumulation der Kapitalismus noch vermehrt Massenarbeitslosigkeit und -armut verursachen würde, auch und vor allem in den imperialistischen Zentren. So kann in dieser Produktionsweise selbst bei steigender Kapitalakkumulation Arbeitslosigkeit entstehen oder zunehmen, z. B. durch Automatisierung und Rationalisierung. Wachstum ist also keine hinreichende Bedingung oder Garantie dafür, dass sich Arbeitslosigkeit verringert, jedoch eine notwendige Voraussetzung für das stabile Fortschreiten des Systems.

Damit im Zusammenhang steht, dass im Kapitalismus als einzige Möglichkeit zur Steigerung der Lebensqualität der Menschen die ihrer Konsumfähigkeit erscheint. Das Bedürfnis, immer mehr zu konsumieren, wird gleichzeitig durch Werbung und Ideologie beständig gefördert. Foster et al. (2010, S. 398) argumentieren, dass während Gebrauchswerte authentische Bedürfnisse widerspiegeln und diese ein Limit zur Befriedigung haben, in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft die Menschen zunehmend dazu gebracht werden, stattdessen symbolische Werte wertzuschätzen und zu konsumieren, die von sich aus grenzenlos sind. Das wird z. B. deutlich an der hohen Bedeutung von Marken bei Textilien oder anderen Konsumgütern, bei denen der eigentliche Gebrauchswert schon mal ins Hintertreffen gerät: „Marken sind zunächst nichts anderes als Warenzeichen zur Kennzeichnung bestimmter Produkte im Unterschied zu anderen. Aber sie drücken schon bald auch das Versprechen an die KäuferInnen aus, mit dem Kauf der angebotenen Ware mehr als den konkreten Gebrauchswert zu erhalten. […] Der Name hat eine Selbständigkeit erlangt, die mit dem Produkt selbst, dem Gebrauchswert, nicht unbedingt oder auch gar nicht in Relation stehen muss. Der Markenfetisch fußt auf dem Warenfetisch, er ist eine Weiterentwicklung.“ (Waidhofer 2003, S. 132 f.) Diese Art der Konsumideologie entspricht dem Bedürfnis des Kapitals nach grenzenlosem Wachstum.

Während die steigende Produktion von Massenkonsumgütern zunächst ein bedeutender Fortschritt gegenüber vorkapitalistischen Produktionsweisen war, um z. B. die Ernährungssicherheit der Bevölkerung sicherzustellen und deren Lebensstandard zu erhöhen, hat sich diese mittlerweile in einen absurden Fetisch verkehrt. Das führt dazu, dass z. B. Bildung, Gesundheitsversorgung und Kultur entweder vernachlässigt werden (Bildung), degenerieren (Kultur) oder selbst zu großen Teilen privatisiert werden (Gesundheit).  Einkaufstempel sprießen dagegen in vielen Ländern geradezu aus dem Boden und werden als Inbegriff des Fortschritts verherrlicht.

Der Zwang zur permanenten Kapitalakkumulation ist ein struktureller Grund, warum im Kapitalismus keine nachhaltige Produktionsweise möglich ist. „Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug“, stellte bereits der antike Philosoph Epikur von Samos im 4. Jahrhundert vor unserer Zeit fest. Dieser Zwang führt aber nicht nur zu einem immer größer werdenden Verbrauch von Material und Energie, während gleichzeitig elementare menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt werden, sondern auch zu grundlegenden Brüchen in den natürlichen und gesellschaftlichen Stoffkreisläufen. Marx, inspiriert durch die Arbeiten des deutschen Chemikers Justus von Liebig, hatte bereits erkannt, dass die kapitalistische Landwirtschaft nicht nachhaltig ist: „Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt in Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Marx 1962,  S. 529 f.) In früheren Gesellschaften wurden die Nährstoffe aus der Landwirtschaft zu einem großen Teil den Böden wieder zugeführt. Im Kapitalismus jedoch ist ein „Riss“ in diesem Kreislauf entstanden: „Auf der anderen Seite reduziert das große Grundeigentum die agrikole Bevölkerung auf ein beständig sinkendes Minimum und setzt ihr eine beständig wachsende, in großen Städten zusammengedrängte Industriebevölkerung entgegen; es erzeugt dadurch Bedingungen, die einen unheilbaren Riß hervorrufen in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels, infolge wovon die Bodenkraft verschleudert und diese Verschleuderung durch den Handel weit über die Grenzen des eignen Landes hinausgetragen wird.“ (Marx 1983, S. 821)

Der steigenden Auslaugung und dem Verlust an Fruchtbarkeit der Böden wurde mit der Erfindung des Kunstdüngers im Haber-Bosch-Verfahren (technische Synthese von Ammoniak als Ausgangsstoff) begegnet, der endgültig das Zeitalter der Expansion der kapitalistischen Landwirtschaft einläutete. Viele KritikerInnen aus der neoklassischen Ökonomie argumentieren deshalb, dass das Argument des „unheilbaren Risses“ in der Landwirtschaft überholt sei. Die Realität hat die KritikerInnen aber inzwischen eingeholt. Die industrielle Landwirtschaft hat zwar kurz- und mittelfristig Produktionssteigerungen erzielt, führt aber langfristig durch die permanente Überdüngung der Böden, verursacht durch industrielle Düngemittel und die Konzentration tierischer Extremente in industriellen Großbetrieben, die stets steigende Anwendung von Pestiziden im Ackerbau und Antibiotika in der Tierhaltung sowie die durch die Herstellung von industriellen Düngemitteln verursachten Treibhausgasemissionen zu vielen, enormen ökologischen und sozialen Problemen. Der Verlust an fruchtbaren Böden ist heute ein zunehmendes sozioökologisches Problem in vielen Teilen der Welt (vgl. Fritz 2010). Foster et al. (2010, S. 78) argumentieren, dass der „Riss“ im Nährstoffkreislauf der Landwirtschaft nicht überwunden, sondern verlagert wurde – in diesem Fall durch die massenhafte Verwendung und die daraus resultierende Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, die notwendig sind, um die Düngemittel zu produzieren. Sie weisen auch darauf hin, dass dieses Prinzip nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für die gesamte kapitalistische Produktionsweise gilt, und sprechen in Anlehnung an Marx von einem ökologischen Riss im Kapitalismus. Die Logik des Kapitals und die permanente Konkurrenz und Expansion „[…] führen zu einer Reihe von Rissen und Verlagerungen, wobei Risse im Stoffwechsel kontinuierlich erzeugt werden und ihnen durch die Verlagerung auf andere Risse begegnet wird – typischerweise erst nachdem sie das Ausmaß einer Krise erreicht haben. Einem kurzsichtigen Beobachter mag es erscheinen, dass der Kapitalismus zu einem bestimmten Zeitpunkt einige Umweltprobleme erfolgreich bearbeitet, da in diesem Moment eine Krise gemindert wird. Ein weitsichtigerer Beobachter wird jedoch erkennen, dass neue Krisen entstehen, wo alte vermeintlich gelöst wurden. Das ist unvermeidlich, da das Kapital zu einer konstanten Expansion gezwungen ist.“

Deshalb ist die Lösung der ökologischen Frage aufs Engste mit der Überwindung des Kapitalismus verbunden. Die Schaffung einer Perspektive für eine sozialistische Gesellschaftsordnung, die in der Lage ist, diese grundlegende Widersprüche zwischen der menschlichen Ökonomie und den natürlichen Bedingungen zu überwinden, bei gleichzeitiger Befriedigung der materiellen und immateriellen Bedürfnisse aller Menschen, ist die zentrale Herausforderung für RevolutionärInnen im 21. Jahrhundert.

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