Ampelkoalitionsverhandlungen: Drei Mal freie Fahrt fürs Kapital

Leo Drais, Neue Internationale 260, November 2021

Die Ampelregierung von SPD, Grünen und FDP kommt wohl. Entgegen der Regierungsbildung von 2017 scheint es dieses Jahr eine schnelle und reibungslose Einigung zu geben.

Die Grünen mit dem geplatzten Kanzlerintraum und die FDP preschten vor und verkündeten Selfie postend, dass sie gemeinsam auf die Kanzlersuche gehen. Sie entschieden sich für Scholz, Jamaika war angesichts der inneren Krise der Union schnell vom Tisch. Dabei war dieses Manöver kein zufälliges: Nach der Wahl war klar, dass Grüne und FDP die Königsmacherinnen spielen, die zwar in manchem wie der Klimafrage einiges trennt, aber beide bedienen wichtige Teile der Mittelschichten und sind im Gegensatz zur SPD rein bürgerliche Parteien ohne enge Verbindung zu den Gewerkschaften.

Die SPD wiederum steht im Gegensatz zur Union wie auferstanden und einig wie lange nicht da. Zettelte Kevin Kühnert als Juso-Vorsitzender 2017 noch einen Minibasisaufstand gegen die Große Koalition an, ist er als Vizeparteichef mittlerweile fein ins sozialdemokratische Dasein integriert und bringt wie zum Lohn für den Gehorsam auch gleich 49 seiner Juso-FreundInnen mit ins Parlament. Vergessen ist, dass man mal BMW enteignen wollte. Derweil räumt Norbert Walter-Borjans vom linken Flügel das Feld. Den Platz neben Saskia Esken werden wohl – wenn sie denn an der Parteispitze bleibt – Lars Klingbeil vom Seeheimer Kreis oder Hubertus Heil einnehmen. Es kann ja nicht sein, dass ein Kanzler Olaf Scholz einer rein „linken“ Parteiführung gegenübersteht.

Sondierungsergebnisse

In die Sondierung gingen die drei zur Zeit innerlich stabilsten Bundestagsparteien und präsentierten rund vier Wochen nach der Wahl ein zwölfseitiges Ergebnis. Neben dem üblichen Gelaber von Innovation, Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit bürgerlicher Berufspolitik boten die Gespräche doch einen gewissen Aufschluss darüber, was wohl kommt, was nicht, wo es präsentierbare Einigkeit oder unerwähnte Kontroversen gibt.

Ein paar kleine Reförmchen enthält natürlich auch das Sondierungspapier. So wird wohl die Cannabis-Legalisierung in der einen oder anderen Form beschlossen werden. Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 soll kommen, vielleicht auch eine verbesserte staatliche Anerkennung der Rechte nicht-binärer Menschen. Alles unzureichend, aber immerhin.

Von der SPD wird vor allem die Mindestlohnanhebung auf 12 Euro zum Jahrhundertereignis hochstilisiert. Dabei reichen diese schon heute nicht. Die Steuern reduzieren sie weiter und schließlich wird sie großteils, ohne zu kauen, von der Inflation gefressen werden. Darüber hinaus ist unklar, ob der Mindestlohn für alle sofort erhöht oder das, wie in der Vergangenheit, für ganze Branchen stufenweise über mehrere Jahre umgesetzt werden soll.

An die Stelle von Hartz IV soll ein Bürgergeld treten, das Betroffenen gewiss nicht aus der Armut helfen wird. Ein bundesweiter Mietendeckel kommt nicht, stattdessen soll mehr und schneller gebaut werden, was zwar die Wohnungskrise nicht löst und hohe Mieten auch nicht senkt, dem Kapital aber nach wie vor satt Profite bringt.

Zumutungen

Die Coronapandemie scheint für die SondiererInnen um Scholz, Baerbock und Lindner auf dem Papier zumindest schon nicht mehr zu existieren. Booster-Impfung und Herdenimmunität werden’s für den Standort BRD und Europa wohl schon richten. Dafür werden die Überlastung des Gesundheitssystems und der Tod Tausender letztlich billigend in Kauf genommen.

Ausgebaut und aufgerüstet sollen dafür Polizei und Überwachung werden. Gegen alles, was als politisch extrem betrachtet wird, soll ein „Demokratieförderungsgesetz“ kommen, was auch immer das mit sich bringen wird.

Was das grüne Steckenpferd des Pseudoklimaschutzes angeht, wurde das Autobahntempolimit entsorgt, das passioniert-religiöse Rasen bleibt den Deutschen dank der FDP bewahrt. Der Kohleausstieg wird vielleicht doch schon 2030 kommen, vielleicht aber auch nicht. Ansonsten ist die sogenannte Klimapolitik der Ampel eigentlich ein Investitionsprogramm: Unternehmen sollen bei der „sozialökologischen Transformation“ gefördert werden, ansonsten heißt es: mehr Ökostrom, mehr Ökolandbau, mehr E-Mobility – auf der Straße natürlich. Das 1,5 °C-Ziel steht auch auf dem Papier, wenigstens dort, denn Realität wird es mit der Ampel sicher nicht.

Auch abgesehen davon will man viel investieren: Digitalisierung und Bildung sollen dem deutschen Kapital konkurrenzfähige Infrastruktur und Fachkräfte schaffen.

Wie, als würde das alles nichts kosten, bekennen sich die SondiererInnen zur Schuldenbremse. Steuererhöhungen soll’s keine geben, schon gar nicht auf große Vermögen und hohe Einkommen – vor der Wahl noch gegen die FDP kämpferisch angekündigt, hat die SPD es nun, wenn auch etwas kontrovers, vergessen.

Hier zeichnet sich schon jetzt ab: Die Finanzierung der Erneuerung des deutschen Kapitals wird bezuschusst, öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen fehlt es an Mitteln. Abhilfe schaffen soll dabei wohl ein erneuter Privatisierungsschub – sei es durch Verkauf oder durch „Partnerschaften“ von öffentlichen Einrichtungen und privaten AnlegerInnen.

Konkurrenz als Rahmen

Außenpolitisch scheint die Ampel den bisherigen Kurs fortsetzen zu wollen: klares Bekenntnis zur EU, NATO und transatlantischen PartnerInnenschaft. Abseits aller Beschwörungsformeln zeichnet sich aber ab, dass die rassistische Abschottung der EU fortgesetzt wird und die Bundeswehr massiv aufgerüstet werden soll, inklusive der Anschaffung neuer Waffensysteme (Drohnen für Angriffe) für den Cyberwar und weitere Auslandseinsätze. Offengehalten wird die Suche nach alternativen Verbündeten mit dem Willen zum Multilateralismus.

Zugleich drückt sich in den, öffentlich wenig umstrittenen Bestimmungen der Außenpolitik auch schon das Dilemma der nächsten Regierung wie überhaupt des deutschen Imperialismus aus. Einerseits drängt die starke Exportwirtschaft dazu, vehement beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt mitzuspielen, andererseits ist man politisch und militärisch alleine zu schwach dafür. Das nächste Außenministerium wird weiter zwischen Kooperieren und Konfrontieren lavieren, im Gravitationsfeld zwischen den beiden Hauptpolen China und USA versuchen müssen, irgendwie den marodierenden EU-Hinterhof beisammen zu halten, um zumindest halbwegs eigenständig auftreten zu können.

Für die Einschätzung der künftigen Scholz-Regierung ist es zentral, diese Erfordernisse der globalen Konkurrenz im Blick zu behalten. Sie bilden letztlich auch den Rahmen für die Innenpolitik und den Verteilungsspielraum insbesondere gegenüber der ArbeiterInnenklasse. Ohne eine politische oder militärische Strategie, die sie auch nur ansatzweise allein und eigenständig international durchsetzen könnten, auch wenn hier sicher mehr Aggression unter dem Mantel der Verantwortungsübernahme zu erwarten ist, müssen Regierung und Kapital vor allem auf das stärkste Moment des BRD-Imperialismus setzen: die Industriekonzerne und dabei nicht zuletzt auf die AutoherstellerInnen.

Schon am Tag nach der Wahl hat VW 10 Punkte für die Koalitionsbildung gefordert, die klar darauf abzielten, dass der Staat bitteschön die E-Mobilität auf der Straße ordentlich bezuschussen soll, Stichworte: Ladesäulen und Kaufprämien. Auch sonst zieht sich der Tenor des subventionierten Klimaschutzes, der keiner ist, sowie der Digitalisierung durch die Forderungen diverser Unternehmensverbände. Unter grünem Label soll mit massiver Investition das Kapital erneuert werden, um ihm auf dem Weltmarkt neue Wettbewerbsvorteile zu ermöglichen. Gleichzeitig bedingt die globale Konkurrenz aber eben auch, das Kapital steuerlich nicht groß zu belasten sowie die Staatsverschuldung einzudämmen – womit wir wieder bei der Schuldenbremse sind.

Bleibt also die Frage: Wer zahlt das Ganze? Einerseits soll es natürlich die Konkurrenz tun, andererseits die überausgebeutete halbkoloniale Welt im EU-Hinterhof oder dort, wo das Lithium für die E-Autos herkommt. Letztlich stellen sich Regierung und Konzerne gerade dafür auf, dass auch die hiesige ArbeiterInnenklasse dafür aufkommt.

Angriff auf die Lohnabhängigen

Auch wenn unmittelbar keine politisch geführten Großangriffe anstehen wie die Agenda 2010, von der die deutschen Konzerne gerade jetzt massiv profitieren, so werden der von der Ampel angestrebte Umbau der Industrie und die Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse ohne ausbleibende Gegenwehr weiter abgewälzt werden.

Vor dem Hintergrund einer volatilen globalen Wirtschaftslage, einer gebremsten Konjunktur, einer weltweit weiter grassierenden Pandemie und Krise werden sich die Konjunkturprogramme der USA und der EU wahrscheinlich als unzureichend erweisen, längerfristig die Weltwirtschaft zu beleben. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass sie nach einer gewissen konjunkturellen Sonderwirkung rasch verpuffen, weil die grundlegenden Krisenmomente – fallende Profitraten, Überakkumulation von Kapital und damit verschärfte globale Konkurrenz – durch diese nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben werden.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus denkbar, dass die Ampelkoalition im Laufe der Legislaturperiode auf ein größeres, grundlegendes Angriffsprogramm umschaltet. Die sog. Rentenreform zeigt, wohin die Reise dabei gehen könnte. Die Deutsche Rentenversicherung soll auf dem Kapitalmarkt die Rente bei 48 % des Einkommens sichern. Eine solche weitere Privatisierung und Finanzialisierung bedeutet natürlich auch, dass die Altersversorgung selbst an die krisenhaften Zyklen des Finanzkapitals gekoppelt wird.

Ebenso wenig wird der Inflation entgegengesetzt, die Mieten bleiben exorbitant, viele durch Corona zerstörte Jobs wohl verloren, Niedriglohnsektor und Prekarisierung wachsen, verdächtig oft spricht das Sondierungspapier von Flexibilisierung am Arbeitsplatz. Proletarische Frauen und rassistisch Unterdrückte werden davon üblicherweise Hauptbetroffene sein, von allem Diversitätsbekenntnis und Gerechtigkeitsgerede der Ampel haben sie so gut wie nichts.

Sämtliche Versprechungen von mehr soziale Gerechtigkeit werden an der kapitalistischen Realität verbogen oder brechen an ihr, die Abkehr der SPD von einer Vermögenssteuer ist Teil davon.

Großangriff auf Jobs

Der angestrebte Umbau der Industrie bedeutet aus Kapitalsichtweise, Arbeitskräfte einsparen zu können. Genau darauf zielt die Digitalisierung zu einem Gutteil ab. Hier läuft der Großangriff bereits. In der Autoindustrie ist der Stellenabbau längst eine Realität und wird weitergehen: Mit über 170 000 Stellenstreichungen wird für die nächsten Jahre gerechnet.

Die Rolle der SPD als führende Regierungs- und bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist hierbei nicht zu unterschätzen. Sie macht Politik für das Kapital, hat aber noch immer soziale Wurzeln in den schweren Bataillonen der deutschen IndustriearbeiterInnenschaft – um deren Arbeitswelt und -platz es in den nächsten Jahren gehen wird. Einerseits muss die SPD dem Kapital irgendetwas abringen und der ArbeiterInnenklasse anbieten, das Sterbebett der Sozialdemokratie ist immerhin noch warm. Gerade im gemeinsamen Regieren mit der FDP liegt hier Sprengstoff, selbst wenn die Vermögenssteuer vom Tisch ist. Andererseits bietet die SPD in ihrer engen Verbindung mit der DGB-Bürokratie und der dadurch ausgeübten Kontrolle über zentrale Sektoren der Klasse dem deutschen Kapital auch einen Vorteil in der Durchsetzung der geplanten „Transformation“.

Und der DGB?

Dazu passt, dass der DGB im Grunde kaum was zu den Verhandlungen der letzten Wochen gesagt hat. Er setzt damit auf seine Weise den Kurs des Burgfriedens mit dem Kapital fort. Die IG Metall und ihre Betriebsräte begleiten den Jobkahlschlag, der durch Investitionen der Ampelregierung mitfinanziert wird – Gelder, die letztlich über Steuern ebenfalls zu großen Teilen von der ArbeiterInnenklasse kommen. Anstatt den Abwehrkampf anzugehen, wird mitgestaltet und die Beschäftigten werden ruhig gehalten, Lohnkämpfe, die die Inflation ausgleichen, gibt es nicht – über die unmittelbar tariflichen Fragen hinausgehende politische Streiks, die z. B. die Wohnungsfrage oder den Klimaschutz zum Thema machen, schon mal gar nicht. Es liegt hier schon der Verweis darauf verborgen, wie wichtig der Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition zu den Gewerkschaftsapparaten gerade wird.

Natürlich werden die Koalitionsverhandlungen nicht ohne Kontroversen ablaufen. Die Frage der Investitionsfinanzierung und die Begleichung der Coronaschulden ist noch nicht abschließend geklärt. Die Möglichkeiten zur Investition sind begrenzt. Worauf wird sich also konzentriert? Auf das E-Auto oder doch auf die Bahn? Gibt’s 5G nur für die Stadt oder auch auf dem Land? Wie hoch wird das Bürgergeld? Und: Wer besetzt welches Ministerium?

Wie auch immer diese Fragen von Scholz und Co beantwortet werden: Für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten gibt’s in der kommenden Periode nicht viel mehr als ein paar Krümel. Sie sind gut beraten, sich auf Abwehrkämpfe vorzubereiten.

In vielerlei Hinsicht könnten die kommenden Jahre entscheidende für eine längere Periode werden. In der Klimakrise wird in vier Jahren schon sehr absehbar sein, wie es um die 1,5 °C steht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt drängt früher oder später zu Entscheidungsschlachten. Der Umbau und die Erneuerung der Industrie finden jetzt statt – nicht für den Klimaschutz, wohl aber für die Stellung des deutschen Kapitals in der Welt entscheidend. Entlassungen, Kürzungen, Armut werden zunehmen.

Warum wir eine Aktionskonferenz brauchen

Der Rechtsruck hat tiefe Spuren hinterlassen, die Zerbröckelung des bürgerlichen Lagers zeigt sich nicht zuletzt in der ersten 3-Parteien-Regierung seit Adenauer. Je nachdem, wie sie sich den Massen verkauft, kann sie das Hinsterben der „bürgerlichen Mitte“ und den Rechtsruck verzögern oder verstärken. Angesichts neuer Geflüchtetenbewegungen, Pandemie und vielfachen sozialen Abstiegs liegen rechtspopulistische bis faschistische Kräfte von AfD bis Dritter Weg schon auf der Lauer.

Die Stärkung bürgerlicher und rechter Kräfte ist aber nur eine mögliche Entwicklung. Eine fortschrittliche Alternative dazu wird jedoch nur zu einer realen Möglichkeit werden, wenn die Reorganisation der ArbeiterInnenklasse angegangen, sie zur zentralen, eigenständigen Kampfkraft gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe wird. Der Sieg des Berliner Volksentscheides Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die riesigen Demonstrationen von Fridays for Future, die zahlreichen Waldbesetzungen und eine Reihe anderer großer Mobilisierungen in den letzten Jahren zeigen nicht nur, dass neue Bewegungen entstanden bzw. im Entstehen begriffen sind, sie verweisen auch auf ein Potential des Widerstandes.

Diese Mobilisierungen gilt es, zu stärken und zugleich das politische Bewusstsein der AktivistInnen zu erhöhen. Wie können wir Enteignungen wirklich durchsetzen? Wie können wir Massentlassungen und Privatisierungen stoppen? Wie können wir verhindern, dass Inflation und Preissteigerungen mühsam erkämpfte Lohnerhöhungen gleich wieder wegfressen? Wie können wir der imperialistischen Außenpolitik und der rassistischen Abschottung Deutschlands und der EU entgegentreten? Wie können wir den Kampf für reale, sofortige Verbesserungen mit dem um eine andere Gesellschaft verbinden?

Es braucht daher dringend die Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes und darum, wie wir diese Auseinandersetzungen wirklich verbinden können. Das aber fällt nicht vom Himmel. Es braucht einen konkreten Startpunkt dafür, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren – eine Aktionskonferenz. Sie sollte nicht aus einem linken Für-sich-Selbst bestehen, sondern im Gegenteil größtmöglich die Organisationen der ArbeiterInnenklasse einbeziehen, allen voran die Gewerkschaften oder jedenfalls deren oppositionelle Kräfte, Linkspartei und SPD-Linke oder mindestens alle, die nicht stramm hinter Scholz oder der Koalitionspolitik der Realos in der Linkspartei stehen.

Eine solche Aktionskonferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den wichtigsten Angriffen gemeinsam auf der Straße und im Stadtteil, in den Betrieben und Büros, an Schulen und Unis entgegenzutreten. Wir schlagen vor, sie Anfang 2022 Spektren übergreifend zu organisieren und dort einen bundesweiten Mobilisierungsplan zu beschließen und überall Bündnisse aufzubauen, die diesen Kampf koordinieren.




Tarifrunde Öffentlicher Dienst: Gebt uns fünf!

Christian Gebhardt, Neue Internationale 260, November 2021

Gebt uns fünf! So lautet eine Forderung der derzeit laufenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder: 5 % mehr Lohn, mindestens 150 Euro und eine Laufzeit von einem Jahr. Zusätzlich zu diesen Hauptpunkten fordern die beteiligten Gewerkschaften – allen voran die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di – 100 Euro mehr für alle Auszubildenden, eine Höhergruppierung der Beschäftigten sowie einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte neben besseren Arbeitsbedingungen für prekär beschäftigte Hochschulangestellte.

Klingen 5 % mehr Lohn bei einer Tariflaufzeit von einem Jahr zunächst einmal sehr radikal, vergeht einem das Lachen innerhalb von Minuten, wenn man dies mit der aktuellen Inflation von über 4 % vergleicht. Gleichzeitig steht natürlich wie bei jeder Tarifverhandlung auch noch die Frage im Raum, ob es überhaupt zu einem Abschluss von 5 % kommt oder  die Gewerkschaften Kompromisse eingehen und entweder bei der Frage der Prozente zurückschrauben oder die Vertragslaufzeit verlängern werden.

Gerade für die unteren Lohngruppen spielt der finanzielle Aspekt eine zentrale Rolle. Schon in den letzten Jahren blieben große Teile des öffentlichen Dienstes mehr und mehr hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurück. Die Preissteigerung lebensnotwendiger Güter wie Wohnung, Heizung und Strom liegt zudem noch deutlich über der Inflationsrate, sodass eigentlich 5 % längst nicht genug sind, um die Kaufkraft zu halten. In Anbetracht dieser Fakten müsste eigentlich ein Plus von 8 – 10 % gefordert werden.

Führung der Kampagne

Dabei ist der finanzielle Aspekt der Tarifrunde für viele KollegInnen längst nicht das einzige, für manche nicht einmal das drängendste Problem.

Die KollegInnen im öffentlichen Dienst – vom Gesundheitswesen, über Verwaltungen bis hin zum Bildungswesen stehen angesichts der Inflation voll hinter den monetären Forderungen. Jedoch spielen die Fragen des Gesundheitsschutzes, der weiteren Strategie der Pandemiebekämpfung, der Arbeitsüberlastung und des Personalmangels eine zentrale, wenn nicht die entscheidende Rolle im Alltagsgeschäft – und faktisch keine in der Tarifrunde.

Die ersten zaghaften Mobilisierungen der LehrerInnen in Berlin rund um die Initiative „Tarifvertrag Gesundheit“ sowie die lang anhaltenden Arbeitskämpfe in den Berliner Krankenhäusern haben gezeigt, dass diese Themen den Beschäftigten wichtig sind und sich auch darum mobilisieren lässt. Warum wurde dies aber nicht zum bundesweiten Fokus der derzeitigen Tarifverhandlungen gemacht bzw. lokal in die Kampagne integriert? Wieso hält sich die Berliner GEW derzeit mit ihrer Mobilisierung rund um ihre Forderungen nach einem „Tarifvertrag Gesundheit“ zurück und verschiebt weitere Aktionen ins nächste Jahr?

Das Argument der Gewerkschaftsführungen lautet hier, dass Forderungen nach Gesundheitsschutz in dieser Tarifrunde nicht verhandlungsfähig wären, d. h. diese „Punkte“ würden derzeit nicht zur Diskussion auf dem Tisch liegen. Hier wird aber gerne vergessen, dass es auch die Gewerkschaftsführungen sind, die die Diskussionspunkte und Schwerpunkte beschließen. Somit könnten sie auch Gesundheitsfragen auf die Tagesordnung setzen und zum Fokus dieser Verhandlungsrunde erklären.

Ein solcher zusätzlicher Schwerpunkt der Verhandlungsrunde würde aber bedeuten, dass die Gewerkschaftsführungen mit ihrer derzeitigen Strategie im Umgang mit der Pandemie brechen müssten: die Ausfüllung ihrer Rolle als stillhaltende SozialpartnerInnen! Hierbei stellen sie sich eng an die Seite der Regierung sowie des Kapitals und malen das Bild einer gemeinsam notwendigen Anstrengung, um die Coronapandemie zu überwinden. Dies bedeutete für die Beschäftigten letztes Jahr absolute Passivität auf der Straße, Nullrunde, erhöhten Arbeitsaufwand bzw. Mehrarbeit im Beruf und gesundheitlich unsichere Arbeitsbedingungen. Jetzt, wo die Regierung den pandemischen Notstand für beendet erklärt, zeigt sich das Fatale der SozialpartnerInnenschaft erneut. Die Beschäftigten müssen sie in Form erhöhter Gesundheitsrisiken und zusätzlicher Belastung nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in den Kitas oder Schulen ausbaden.

Die Gewerkschaftsspitzen wiederum sind nicht daran interessiert, diese Strategie aktiv zu ändern. Ein Ausdruck dessen ist hier das Ausklammern der Arbeits- bzw. Gesundheitsschutzfragen in der laufenden Tarifrunde.

Die GEW

Exemplarisch lässt sich dies am Verhalten der GEW erkennen. Sie stellt während der Tarifverhandlungen die kleine Partnerin neben der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di dar, welche auch den Verhandlungsvorsitz innehat. Ver.di gibt somit den Ton vor und die anderen Gewerkschaften haben sich daran zu orientieren. Dies wird innerhalb der GEW gerne als Ausrede verwendet, um ihre Inaktivität damit zu begründen, dass ver.di alles vorgibt und sie selbst „nichts zu sagen hätte“. Aber auch hier muss wieder kritisch die Frage gestellt werden: „Warum tritt die Gewerkschaftsführung der GEW nicht aktiver auf?“

Ihre oben schon angesprochene Initiative in Berlin „Tarifvertrag Gesundheit“ wäre eine gute Möglichkeit, um sich nicht nur als aktive Gewerkschaft während der Tarifverhandlungen darzustellen, sondern auch ein Thema zu besetzen, welches den Beschäftigten wichtig ist und um das auch größere Mobilisierungen durchgeführt werden könnten. Auch wenn der Punkt „Gesundheit“ in den Tarifverhandlungen nicht „auf dem Tisch liegt“, könnte die GEW dies als „Begleitmusik“ ihrer Tarifkampagne in den Fokus stellen und die beiden Themenkomplexe wirtschaftliche Forderungen und Gesundheitsschutz miteinander verbinden. Sie könnte es nicht nur in Berlin zur Mobilisierung nutzen, sondern auch Solidaritätsaktionen für die Berliner Initiative in weiteren Bundesländern fördern, um den Berliner KollegInnen solidarisch bei ihrem Kampf um den „Tarifvertrag Gesundheit“ zur Seite zu stehen, wie auch eine Debatte in anderen GEW-Landesverbänden zu diesem Thema anstoßen und einen Vorstoß „Tarifverträge Gesundheit“ auf Bundesebene lancieren.

Eine solche Initiative müsste, ja dürfte sich nicht nur auf die GEW begrenzen, sondern sollte innerhalb der DGB-Gewerkschaften auf Bundesebene kommuniziert und vorbereitet werden. Hierfür könnten ebenfalls die derzeitigen Tarifverhandlungen genutzt werden, um die Debatte unter den KollegInnen verschiedener Gewerkschaften zu organisieren und zu strukturieren.

Digitale Kampagne?

In den Jahren seit dem Ausbruch der Pandemie spielten aber nicht nur das Thema Gesundheitsschutz eine wichtige Rolle im Arbeitsalltag der KollegInnen, sondern auch die Frage, ob Aktionen auf der Straße überhaupt legitim sind und wir uns nicht eher nur im digitalen Rahmen aufhalten sollten. Wie die katastrophale Fehlentscheidung der Gewerkschaften, die Erster-Mai-Mobilisierungen 2019 nicht stattfinden zu lassen, gezeigt hat, ist eine aktive Mitgliedschaft auf der Straße von großer Bedeutung. Wie wird aber die derzeitige Tarifkampagne geführt? Kurz gesagt: Altbekannte Tarifrituale werden mit Onlinekampagnen garniert!

Als Beispiel kann hier wieder die GEW dienen. Anstatt aktiv auf die Belegschaft zuzugehen und in Diskussionsveranstaltungen und Mitgliederversammlungen die Tarifrunde zu verbreitern und führen, wird dafür eine externe Agentur engagiert. Anstatt dies in die Hände der KollegInnen zu legen, wird es der Berliner Agentur „Ballhaus West“ überlassen. Dadurch wird gewährleistet, dass die Gewerkschaftsführung politisch die Kontrolle über die Kampagne behält und die Schwerpunkte vorgeben kann. Dass eine solche von oben aufgestülpte „Mobilmachung“  von den KollegInnen nicht angenommen wird, zeigt auch eindrücklich die Resonanz auf die Onlinekampagne der GEW in den „sozialen“ Medien. Bis zum 30.10.21 haben sich gerade einmal 393 AbonnentInnen in den Telegram-Informationskanal der GEW für die laufende Tarifrunde verirrt. Eine aktive Beteiligung der Belegschaft bundesweit wie auch eine Mitgestaltung dieser sieht anders aus.

Raus auf die Straße – Aufbau von Streikkomitees!

Den obigen Punkten wird als Argument schnell entgegengebracht: „Wie sollen sich denn die VerhandlungsführerInnen neben den Verhandlungen auch noch um das alles kümmern?“ Wir würden entgegnen: „Das müssen sie gar nicht! Es müssen Basisstrukturen in den jeweiligen Betrieben, Einrichtungen und Verwaltungen aufgebaut werden.“ Diese könnten nicht nur Streikmobilisierungen für die derzeit laufenden Tarifverhandlungen unterstützen, vorbereiten und durchführen, sondern auch Solidaritätsarbeit mit der Bevölkerung entfachen, Gespräche mit betroffenen Menschen wie z. B. Eltern oder PatientInnen führen. Man darf sich ruhig ein Beispiel an der vorbildlichen Öffentlichkeitsarbeit im Berliner Krankenhausstreik nehmen, der zeigte, wo’s langgehen kann.

Gleichzeitig könnten solche, den Mitgliedern verantwortliche und von diesen gewählte  Streikkomitees auch den Kontakt zu KollegInnen unterschiedlicher Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes bzw. einer Bildungseinrichtung aber auch darüber hinaus organisieren. So könnten Themenfelder und Forderungen gemeinsam erarbeitet werden, um mobilisierungsstark und dynamisch die Tarifrunde zu führen.

Eins ist klar: Die 5 % werden auch nur durch eine starke Gewerkschaft auf der Straße und durch einen massiven, bundesweiten und unbefristeten Streik durchgesetzt werden können, ganz zu schweigen von anderen Forderungen wie nach besserem Gesundheitsschutz.

Daher müssen kämpferische GewerkschafterInnen, Basisversammlungen, Betriebsgruppen und andere gewerkschaftliche Strukturen auch dafür kämpfen, dass es keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, keine Geheimabsprachen mit den Arbeit„geber“Innen gibt. Die Verhandlungen sollten vielmehr öffentlich übertragen werden.

Zweitens sollten die Gewerkschaften zur Kenntnis nehmen, dass es ohne große Mobilisierung keinen Abschluss geben kann, der die Löhne auch nur sichert. Ver.di und GEW sollten daher so rasch wie möglich die Verhandlungen für gescheitert erklären und die Urabstimmung einleiten.

Belegschaftsversammlungen, Wahl und Abwählbarkeit von Tarifkommission und Streikkomitees sind dabei unerlässlich, um den Kampf zu organisieren und demokratisch zu kontrollieren; um sicherzustellen, dass am Ende keine faulen Kompromisse, sondern Abschlüsse herauskommen, die die Lage der Beschäftigten verbessern und deren Kampfkraft stärken.




Das Ende des chilenischen Modells?

Markus Lehner, Neue Internationale 260, November 2021

Viele Jahrzehnte war Chile eines der Lieblingsländer von Wallstreet & Co. Das Land galt als Modell für den „Weg nach oben“ im Sinne des Neoliberalismus. Natürlich konnte schlecht bestritten werden, dass am Beginn dieser Erfolgsgeschichte die „unschöne“ brutale Militärdiktatur des Pinochet-Regimes mit seinen Toten und Folteropfern stand, aber nach der „Transition“ zu angeblich demokratischen Verhältnissen sei es zu einem Vorbild für den globalen Süden geworden.

Erfolg für wen?

Erfolgreich war die „Transition“ tatsächlich nur für die Reichen und globalen Konzerne, während die soziale Ungleichheit enorm zunahm. Die „Reformen“ der Militärdiktatur hatten praktisch alles nur Mögliche privatisiert. Die „Transition“ brachte zwar gewisse soziale Rechte zurück, aber die Gewerkschaften blieben in ein strenges Reglement eingespannt und konnten insbesondere im privaten Bereich kaum wirkungsvoll für Einkommenssteigerungen der arbeitenden Massen auftreten.

Auch die mit dem Gewerkschaftsverband CUT verbundenen Parteien (Sozial- und ChristdemokratInnen, KommunistInnen) brachten in den Jahren, als sie an der Regierung beteiligt waren, wenig Änderung. Allenfalls wurden die schlimmsten Folgen des Neoliberalismus abgefedert wie etwa durch Anhebungen von Mindest- und Soziallöhnen. So kommt es, dass im Paradies der Wallstreet heute der Monatsdurchschnittslohn eine/r ArbeiterIn bei 530 US-Dollar liegt.

Massenproteste

Als im Oktober 2019 die Ticketpreise für die Metro in Santiago um fast 4 % erhöht werden sollten, kam es in Folge zu einem regelrechten Aufstand. Mit Verzögerungen schlossen sich auch die Gewerkschaften mit Arbeitsniederlegungen an – und drohten gar mit Generalstreik.

Das Ziel der Massenbewegung war schnell klar: das Ende des „chilenischen Modells“! Dieser Wunsch wurde auch noch durch die Reaktion der Herrschenden bestärkt, die einen Polizeieinsatz befahlen, der an die schlimmen Zeiten der Diktatur erinnerte. Insbesondere die Übergriffe gegen Frauen und Indigene führten zu einem Zusammengehen der schon vorher starken Frauen- mit der sozialen Bewegung, aber auch mit den Protesten gegen den Rassismus gegen Indigene. Der Ruf nach dem Rücktritt von Piñera war so stark, dass die Kommunistische Partei und die mit ihr verbündete Frente Amplio (Breite Front von Linksparteien; FA) zunächst die Aufforderung der Regierung zu Verhandlungen ausschlugen.

Während sich ArbeiterInnen, Frauen, Indigene, kommunale AktivistInnen immer mehr in selbstorganisierten Strukturen vernetzt hatten und auf den Sturz der Regierung hinarbeiteten, fanden die reformistischen BürokratInnen einen anderen Ausweg – die Einleitung der Erarbeitung einer neuen Verfassung, die die noch von Pinochet verantwortete und in der Transition kaum veränderte ablösen sollte. Auch wenn die Einleitung eines verfassunggebenden Prozesses mit demokratischen Vorgaben für die Wahl und Durchführung einer Konstituante von großen Teilen der Bewegung als Erfolg gefeiert wurde, blieb die Regierung damit an der Macht und konnte ihre Krisenpolitik weiter durchziehen und zusätzlich noch den Verfassungsprozess so gut wie möglich beschneiden.

Damit war auch klar, dass letztlich die Proteste weitergehen würden. Ihr Wunsch nach einer Kehrtwende weg von einem privatisierten Gesundheits-, Renten-, Erziehungssystem etc. war mit dem Versprechen einer neuen Verfassung in keiner Weise garantiert. Die reformistischen Organisationen versprachen, diese Reformen mit Hilfe der Wahlurne umzusetzen – im „Superwahljahr“ 2021. In diesem Jahr fanden nicht nur die Wahlen zur Konstituante (im Mai) und zu den Provinzregierungen statt, sondern steigt im November die erste Runde der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Die eigentliche Entscheidung werden die Stichwahlen im Dezember bringen, da für beide Wahlen 50 % der gültigen Stimmen nötig sind, um die Präsidentschaft oder ein Abgeordnetenmandat zu erringen.

Wahlen

Die geschwundenen Illusionen darüber, was im Wahltheater und in einem jahrelangen Verfassungsprozess tatsächlich zu erreichen ist, drückten sich bereits in der geringen Wahlbeteiligung zur verfassunggebenden Versammlung aus (37 %) – im Jahr zuvor bei der Abstimmung über die Einberufung beteiligte sich noch über die Hälfte der ChilenInnen. Allerdings wurde der Plan der Herrschenden durchkreuzt, durch den Listenzwang etablierten Parteien wieder eine Mehrheit zu verschaffen. Die traditionell herrschenden Kräfte (die Konservativ-Liberalen Piñeras und die „Konzentration“ von Sozialistischer und Christdemokratischer Partei) fielen beide unter vernichtende 20 %.  Nur die FA konnte ein nennenswertes Ergebnis erzielen, während Listenverbindungen unabhängiger BasiskandidatInnen große Erfolge aufwiesen. Die FA errang außerdem auch bei den Gouverneurswahlen wichtige Erfolge, z. B. mit dem Gewinn einer ihrer FrauenaktivistInnen in Santiago.

Mit Gabriel Boric liegt auch für die Präsidentschaftswahlen momentan der Kandidat der FA in den meisten Umfragen in Führung. Der 35-Jährige war selbst einer der führenden Köpfe der StundentInnenrevolte 2011 und später Frontfigur in verschiedenen unabhängigen linken Organisationen, die im Umfeld der KP standen und zum Kern der FA wurden. Obwohl Boric am besagten Abkommen mit Piñera beteiligt war, wird er vom Zentralorgan des globalen Liberalismus, dem britischen „Economist“, in dessen Ausgabe vom 30. Oktober als „gefährlicher Radikaler“ gekennzeichnet. Angeprangert wird vor allem, dass die Linke in der neuen Verfassung Strafen gegen die Glorifizierung der Militärdiktatur bzw. für Verharmlosungen von deren Folterregime fordert. Dies wird als Beginn einer „Unterdrückung der Meinungsfreiheit“ gesehen.

Ebenso bedenklich findet der Economist, dass die Verfassung auch gegen die Stimmen der bisher herrschenden Parteien durchgesetzt werden solle – natürlich ein schlimmer „antidemokratischer“ Akt: Die liberale Bourgeoisie betrachtet es offenkundig schon als antidemokratisch, wenn sie überstimmt wird (und die Liberalen in der chilenischen Konstituante vereinen weniger als ein Drittel der Mandate). An die Wand gemalt werden natürlich die schlimmen Folgen von ökologischen Auflagen für den Bergbau und die Ankündigungen von Wiederverstaatlichung, die Boric wie auch die Linke in der Konstituante äußern. Das Wahlprogramm der FA konzentriert sich tatsächlich auf solche Punkte wie die Wiedereinführung eines staatlichen Gesundheitssystems. Boric will z. B. ein System ähnlich dem NHS in Britannien in Chile einführen.

Ende des Neoliberalismus?

Nun sind einige dieser Programmpunkte sicherlich auch wichtige Forderungen der Protestbewegungen. Aber wäre bei einem Wahlsieg von Boric tatsächlich mit dem Ende des „Neoliberalismus“ in Chile zu rechnen?

Dem stehen mehrere Hindernisse entgegen. Die FA-Spitzen wollen im Parlament, in der Konstituante und auch in den Gewerkschaften weiterhin mit Teilen des Establishments, vor allem aus der „Konzentration“ (Sozialdemokratie, Christdemokratie), zusammenarbeiten. Sie und die „unabhängigen Linken“ in der Konstituante sind ihrerseits nicht wirklich zu einem entscheidenden Bruch mit dem bisherigen System bereit.

Dabei erweist sich die Behauptung, erstmal ginge es „nur“ um ein Ende des Neoliberalismus, als hochproblematisch. Sie geht nämlich von der falschen Vorstellung aus, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen speziell der krisenhaften Entwicklung in Lateinamerika eine andere, „menschlichere“ Form von Kapitalismus in Chile geben könnte und diese dauerhaft von der herrschenden Klasse akzeptiert würde. Eine Infragestellung der wichtigen Rolle Chiles in den internationalen Produktionsketten wird schnell zu einer Konfrontation mit den mächtigen Kapitalien im In- und Ausland führen. Auch eine von Boric geführte Regierung müsste sich entweder schnell mit dem internationalen Kapital arrangieren (mit ein paar sozialen Regulierungen im Gesundheitssystem als Brosamen) – oder zu einer radikalen Konfrontation mit dem Kapital gezwungen sein.

Was letztere betrifft, ist die weitere Entwicklung und Verstärkung der sozialen Proteste von entscheidender Bedeutung. Nachdem einige der mit Corona begründeten Einschränkungen jetzt im Oktober gelockert worden waren, hat sich diese Bewegung wieder in ihrer vollen Radikalität gezeigt. Gerade zum Jahrestag des 2019er Protestes kam es wieder zu Straßenschlachten, bei denen die Hauptlosung laut „Economist“ die Forderung nach dem Ende des Kapitalismus war. Einmal mehr ging die Polizei mit aller Härte vor und es kam landesweit zu 3 Todesopfern. Natürlich benutzen die bürgerliche Presse und ihre FreundInnen im liberalen Ausland die Zuspitzung auf der Straße, um vor der „Anarchie“ und der „Zertrümmerung“ der ökonomischen Sicherheit zu warnen, sollte Boric die Wahlen gewinnen.

Zuspitzung

Bezeichnend auch, was sich dann im bürgerlichen Lager getan hat: War lange Zeit der „gemäßigte“ Liberale Sebastián Sichel der Piñera-Gruppierung der Wunschkandidat der Bourgeoisie, so rückte jetzt der Pinochetfan José Kast in den Vordergrund. In einigen Medien wird bereits behauptet, er würde Boric in den Umfragen überholen. Das Projekt Kast setzt ganz auf die Law-and-Order-Schiene, die Abwendung der drohenden „Anarchie“ – daneben verkündet Kast den Bau von Grenzbefestigungen gegen die „Migrationsflut“, die angeblich den chilenischen Wohlstand bedroht, wie auch entschiedene Maßnahmen gegen „kriminelle“ Mapuche.

Dies zeigt, dass die krisenhafte Entwicklung in Lateinamerika nun auch in Chile wie zuvor in Brasilien zur Konfrontation zwischen der Linken und einer Bourgeoisie führt, die nicht mehr davor zurückschreckt, solche Clowns und Rassisten wie Bolsonaro oder Kast als ihre „Retter“ aufs Schild zu heben, so wie es Marx schon am Aufstieg des Louis Bonaparte beschrieben hatte.

Eine politische Zuspitzung ist in der kommenden Periode daher unvermeidlich. Programm und Strategie der KP und FA bilden dabei jedoch selbst ein zentrales Problem für die Lösung der Krise im Interesse der Lohnabhängigen, der Bauern/Bäuerinnen und Unterdrückten. Warum? Weil sich ihre Volksfrontpolitik, also das Verfolgen eines Regierungsbündnisses mit den gemäßigten Teilen der herrschenden Klasse, wie schon unter Allende als Fessel für den heroischen Kampf der chilenischen Massen erweisen wird müssen. Andererseits stützen sich KP und FA auf die Gefolgschaft von Millionen und feste Stützen in den Gewerkschaften. Daher werden weit über eine Million Lohnabhängige und AktivistInnen der sozialen Bewegungen diesen Parteien ihre Stimme geben, um so die verschiedenen Fraktionen des chilenischen und internationalen Kapitals zu schlagen.

Taktik

Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, diesen Prozess zu vertiefen und zuzuspitzen. Zur Zeit gibt es in Chile keine alternative, revolutionäre Partei der Klasse, auch wenn verschiedene linke Organisationen in Teilbereichen über eine gewisse Verankerung verfügen. Dazu zählt sicherlich auch die PTR („Revolutionäre ArbeiterInnenpartei“, chilenische Sektion der „Trotzkistischen Fraktion“). Mit ihren wenigen Kräften trat sie im Mai bei den Wahlen zur Konstituante an und erzielte 50.000 Stimmen – sicherlich ein achtbares Ergebnis, aber mit 0,8 % weit von einem signifikanten Einfluss in der Klasse entfernt. Für die kommenden Wahlen ging die PTR ein Wahlbündnis mit anderen linken Kleingruppen ein, die „Front für ArbeiterInneneinheit“.

Sehr wahrscheinlich wird diese Kandidatur angesichts der Konfrontation von FA und der Rechten kein sehr viel besseres Ergebnis als die PTR für die Konstituante erzielen. Hinzu kommt, dass das Programm dieses Wahlblocks zwar korrekte Kritik an der FA und ihrem Verrat mit dem „Abkommen“ enthält, selbst aber kein revolutionäres, antikapitalistisches Aktionsprogramm aufstellt. Es enthält zwar richtige Forderungen nach Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle, es fehlt jedoch das Aufzeigen der notwendigen Mittel zu ihrer Durchsetzung wie die Frage des Kampfes um eine ArbeiterInnenregierung, des Bruches mit dem bürgerlichen Staat und der Errichtung der Räteherrschaft der ArbeiterInnenklasse. Die Kandidatur stellt somit auch auf programmatischer Ebene keine revolutionäre, sondern bloß eine zentristische, zwischen Reform und Revolution schwankende, Alternative dar.

Kritische Unterstützung für Boric!

Vor allem aber beantwortet die Kandidatur eines Bündnisses kleiner linker Gruppierungen nicht die Frage, welche Haltung RevolutionärInnen in der Konfrontation zwischen Boric und den offen bürgerlichen KandidatInnen bei den Präsidentschaftswahlen einnehmen sollen bzw. zwischen denen der FA/KP und den offen bürgerlichen Kräften bei den Parlamentswahlen.

Die aktuelle zugespitzte Situation erfordert, in dieser Konfrontation zur Wahl von Boric und der FA/KP aufzurufen. RevolutionärInnen müssen deutlich machen, dass sie diese gegen den unvermeidlichen Angriff der herrschenden Klasse und direkt konterrevolutionärer Kräfte verteidigen. Zugleich müssen sie von der FA/KP fordern, mit den offen bürgerlichen Kräften – konkret jenen der  „Konzentration“ zu brechen.

Dies ist umso wichtiger, als ein großer Teil der organisierten ArbeiterInnenklasse, der sozial Unterdrückten und selbst der AktivistInnen der Protestbewegung weiterhin der Führung reformistischer Organisationen folgt. Das betrifft vor allem die Kernschichten der Lohnabhängigen. Trotz „Neoliberalismus“ hat sich in Chile der „informelle Sektor“ (deregulierte Beschäftigungsbedingungen) nur auf unter 30 % belaufen, während er im Rest des Kontinents auf über 60 % gestiegen ist. In Chile hat sich das Bruttosozialprodukt von 1990 bis 2015 verdreifacht. Auch wenn, wie anfangs ausgeführt, für die Masse der Bevölkerung dabei nur Brosamen abfielen, so hat sich doch eine besser bezahlte mittlere Schicht von ArbeiterInnen herausgebildet, die auch stark in den Gewerkschaften vertreten ist und für die reformistischen Parteien (KP und SP) eine feste soziale Basis darstellt. Sicher ist auch, dass ohne den Gewinn dieser Schichten und der Gewerkschaften keine wirkliche Umwälzung in Chile möglich sein wird.

Gerade die Krise der letzten Jahre hat auch viele dieser besser bezahlten ArbeiterInnen getroffen und zwingt sie zu einer politischen Neuorientierung. Die politische Stärkung der FA gegenüber der „Konzentration“ ist ohne diese Entwicklung gar nicht zu erklären – natürlich ebenso wie der Aufstieg Kasts durch die sich bedroht fühlenden Mittelschichten.

Ein Wahlaufruf für Boric bedeutet nicht, die Kritik an seinem Programm und seiner Rolle beim „Abkommen“ zurückzustellen. Aber er bedeutet, dass man den Millionen ArbeiterInnen und sozial Unterdrückten, die für ihn stimmen wollen, erstens sagt, dass es uns nicht egal ist, ob Boric oder Kast (oder ein anderer bürgerlicher Kandidat) siegt. Vielmehr geht es darum, Boric zu helfen, sie zu besiegen.

Mobilisierung

Gleichzeitig gilt es, deutlich zu machen, den Kampf für die Forderungen von Boric tatsächlich auf der Straße fortzuführen. Schon jene nach einem frei zugänglichen Gesundheitswesen für alle oder Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle werden sich nur durch Massenmobilisierungen erzwingen lassen. Diese würden zugleich eine Grundlage für die Bildung von Aktionsräten in den Betrieben und Kommunen schaffen. Diese Konfrontation mit dem Kapital würde die Frage aufwerfen, welche Klasse herrscht – und damit die Bildung einer ArbeiterInnenregierung auf die Tagesordnung setzten, die zur Enteignung der Bourgeoisie und der Zerschlagung ihres Staates schreitet. Dies wäre eine Taktik, mit der tatsächlich sowohl die Masse der Protestbewegung wie auch die kämpferischen Teile von Gewerkschaften und AnhängerInnen der reformistischen Parteien für ein revolutionäres Projekt gewonnen werden könnten. Die Kräfte der sozialen Revolution in Chile sind dabei, sich herauszubilden – es kommt jetzt darauf an, dass auch eine politische Führung entsteht, die diese zum Sieg über den chilenischen Kapitalismus führt.




Linkspartei und Rot-Grün-Rot – Mitregieren um jeden Preis

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 260, November 2021

In Berlin haben die Koalitionsverhandlungen am 22. Oktober begonnen. SPD, Grüne und DIE LINKE tagen über den Rahmen kommender Landespolitik. Am 15. Oktober hatten die drei Parteien ihre Sondierungsergebnisse vorlegt. Am 5. Dezember hat die Berliner SPD angekündigt, auf einem Landesparteitag über den Vertrag und somit die Regierungsbildung abzustimmen.

Der Autor selbst ging vor der Wahl davon aus, dass die Orientierung Giffeys (SPD) und ihrer VerhandlungsführerInnen auf eine Deutschland- und nach der Wahl auf eine Ampelkoalition gerichtet ist. Jedoch ließ sich dies innerhalb der Berliner SPD angesichts des Wahlergebnisses und des Drucks der Grünen für eine Fortsetzung der bisherigen Koalition (R2G), unter geänderten Mehrheitsverhältnissen als Rot-Grün-Rot (RGR), nicht durchsetzen.

Doch nicht die Form, sondern der Inhalt ist entscheidend. Hier konnte Giffey durch ihre Drohgebärde, DIE LINKE jederzeit durch die FDP ersetzen zu können und zu wollen, punkten. Dieses Vorgehen reichte aus, um DIE LINKE zu prinzipienlosen Zugeständnissen zu bewegen. In den Sondierungsergebnissen steht beispielsweise zum Volksentscheid Folgendes: „Die neue Landesregierung respektiert das Ergebnis des Volksentscheides und wird verantwortungsvoll damit umgehen. Sie setzt eine Expertenkommission zur Prüfung der Möglichkeiten, Wege und Voraussetzungen der Umsetzung des Volksbegehrens ein.“ (Sondierungspapier Berlin, S. 2). Es wird deutlich, dass viele hohle Phrasen und nicht die Frage des „Wie“, sondern des „Ob“ der Enteignung hier formuliert wurden. Dafür soll eine ExpertInnenkommission eingesetzt werden, die ein Jahr prüfen soll, um dann dem Abgeordnetenhaus einen Vorschlag vorzulegen. Wie das Abgeordnetenhaus im Allgemeinen und RGR im Speziellen damit beabsichtigen umzugehen, wird nicht erwähnt. Diese Durchsetzung trägt Franziska Giffeys Handschrift – in „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ deshalb auch Dolores Umbridge genannt. Dies gleicht einer Verschleppungstaktik, die darauf wettet, dass die MieterInnenbewegung bis dahin aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden und unfähig ist, der Blockade etwas entgegenzusetzen.

Anstelle dessen spricht das Sondierungspapier von Baubündnissen und von „Kooperation statt Konfrontation“ (ebd.) – was angesichts bestehenden Leerstandes, drohender Inflation, auslaufender Sozialbindung von Wohnraum, explodierenden Bodenpreisen, Luxussanierungen und -neubau nichts weiter als eine Nebelkerze ist. Deutsche Wohnen hatte schon vor dem Volksentscheid niedrigpreisige Bauprojekte versprochen. Diese werden nun verspätet fertiggestellt und „müssen“ doch hochpreisig vermietet werden. Von öffentlichen Bauvorhaben wird nicht gesprochen, sondern von Aufstockung im urbanen Bauen, also teuren Dachgeschosswohnungen in den Innenstädten durch zumeist Private.

DIE LINKE – regieren um jeden Preis?

DIE LINKE wurde also durch die Sondierungstaktik von SPD und in gewisser Form den Berliner Grünen weichgeklopft, sodass sie ihre roten Haltelinien zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ aufgab – hier nur als ein Beispiel. Der außerordentliche Delegiertenparteitag der Berliner Linken am 19.10. stimmte zuerst über die grundsätzliche Frage der Bereitschaft zur Teilnahme an einer Koalition mit SPD und Grünen ab, bevor die inhaltlichen Linien der Koalitionsverhandlungen festgelegt wurden. So erschien der Antrag, dass die Integration eines Vergesellschaftungsgesetzes in einen Koalitionsvertrag Vorbedingung zur Beteiligung der Linken an einer Koalition sei, als reine Makulatur. Darüber hinaus wurde der Antrag durch den geschäftsführenden Landesvorstand so abgeändert, dass eine Ablehnung eines Vergesellschaftungsgesetzes durch SPD und Grüne kein Grund zum Bruch der Koalition sei. Über den Originalantrag wurde nicht mehr abgestimmt.

Dies zeigt mindestens zweierlei. Einerseits versucht die Führung der Linken, um jeden Preis Teil der Regierung zu werden, anstatt sich auf den konsequenten Kampf zur Umsetzung der Interessen ihrer sozialen Basis zu orientieren (Krankenhausbewegung, Mietenvolksentscheid, S-Bahn). Andererseits ist die Opposition innerhalb der Berliner Linken zwar vertreten und sichtbar, stellt jedoch keinen organisierten Pol dar. Die Möglichkeiten dazu sind jedoch gegeben.

Enteignung oder Opposition!

Am 20. Oktober legten Teile der Linkspartei-Basisorganisation (BO) Wedding ein Statement gegen den Ausverkauf des Volksentscheids durch ihre Partei vor. Darin steht unter anderem: „Für uns ist klar: Die ins Abgeordnetenhaus gewählten Parteien sind mehrheitlich gegen eine Umsetzung von DWe. Das muss für uns als LINKE bedeuten: Wir müssen aus der Opposition im Schulterschluss mit der Bewegung, für eine Umsetzung der Vergesellschaftung kämpfen“. Auch die Landesvollversammlung der Linksjugend [’solid!] hat sich mehrheitlich gegen eine Fortsetzung dieser Dreierkoalition ausgesprochen.

In der Berliner Linkspartei heißt es derweilen seitens des Vorstands, dass man den Koalitionsvorschlag abwarten solle, da dieser erneut durch einen Landesparteitag bestätigt werden müsse. Die perfiden bürokratischen Manöver auf dem Kleinen Parteitag am 19.10 zeigen, dass das eine Finte ist. Die Linkspartei ist strategisch auf die Regierungspolitik orientiert. Linke in DER LINKEN müssen bereits jetzt gegen eine Regierungsbeteiligung ohne das Ziel der Enteignung großer privater Immobilienkonzerne mobilmachen und sich in der Partei und öffentlich darum organisieren.

Neue Regierung – alte, aber verschärfte Probleme

Doch nicht nur auf dem Wohnungsmarkt brennt es. Dämmern doch angesichts des Fortbestands der Schäuble’schen schwarzen Null mitten in der dreifachen Krise aus drohendem wirtschaftlichen Kollaps, ökologischer Katastrophe und weltweiter Pandemie andere Problemfelder. Die fiskalpolitischen Spielräume werden immer kleiner. Doch DIE LINKE hält sehenden Auges auf diese Probleme zu, anstatt sich auf die Seite des Widerstandes gegen drohende soziale Kahlschläge zu stellen. An der Landesregierung befände sie sich hier notwendig in einem Widerspruch, einerseits von kapitalistischen Sachzwängen geleitet, das Elend der Krise mitzuverwalten, und andererseits, dem sozialen Widerstand dagegen dadurch das Wasser abzugraben. Und das fortan unter verschärften Bedingungen.

Bereits in der vergangenen Legislatur wurde dieses Problem sichtbar. So „erkämpfte“ DIE LINKE im letzten Koalitionsvertrag, dass die Situation in den kommunalen Krankenhäusern verbessert werden solle, was nur durch eine Streikbewegung in Teilen erkämpft werden konnte. Andererseits setzte sie im Jahr 2020 3.111 Zwangsräumungen mit durch, schob 968 Menschen ab, räumte linke Hausprojekte und Jugendzentren wie u. a. die Liebig34, den Köpi-Wagenplatz, den Drugstore, brachte die Teilprivatisierung der Berliner S-Bahn und Schulen voran. Die Liste ist unvollständig, zeichnet aber ein beachtliches Bild an bereits erfolgreichen sozialen Angriffen von R2G.

Auch für die Umweltbewegung bleibt nicht viel Hoffnung in die neue Regierung, baut diese doch weiter an der A100 oder überlässt die Einhaltung von Klimazielen Förderpaketen für energetische Sanierungen, während die landeseigenen Unternehmen künftig als CO2-neutrale Vorbilder gegenüber der Wirtschaft agieren sollen.

Die Linken in DIE LINKE werden sich fragen müssen, wie weit sie noch den Niedergang ihrer Partei „kritisch“ begleiten wollen. Den Widerspruch, die Parlamentspartei zu verkörpern, die sich am meisten auf solche sozialen Bewegungen stützt, und letztere stets durch die Politik des vermeintlich kleineren Übels vor den Kopf zu stoßen, können sie nur positiv lösen, indem sie nicht weiter immer giftigere Kröten im Interesse der Parteieinheit schlucken. Sie müssen vielmehr einen offenen Kampf gegen die RegierungssozialistInnen führen und dürfen dabei auch vor einem politischen und organisatorischen Bruch nicht weiter zurückschrecken.




EU-Grenzen: Nein zur rassistischen Mobilmachung!

Robert Teller, Neue Internationale 260, November 2021

Die rassistische EU-Grenzpolitik geht über Leichen. An der belarussisch-polnischen Grenze hat dies zuletzt am 21. Oktober ein Todesopfer gefordert. Der 19-jährige Syrer ist das achte Opfer entlang dieser Grenze im laufenden Jahr.

Dutzende Menschen sind derzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen entlang des Grenzverlaufs gefangen, weil ihnen sowohl von polnischen als auch belarussischen Sicherheitskräften verwehrt wird, sich im jeweiligen Staatsgebiet zu bewegen. Die polnische Seite verhindert die Versorgung dieser Menschen mit lebensnotwendigen Gütern, vom belarussischen Militär werden sie laut Berichten bestenfalls notdürftig versorgt. Auf polnischer Seite gilt seit dem 2. September im Grenzgebiet der Ausnahmezustand. Das Militär wurde entsandt, der Einsatz soll von 2500 auf 10000 SoldatInnen aufgestockt werden. Hilfsorganisationen und JournalistInnen haben keinen legalen Zutritt. Die Auswirkungen der menschenverachtenden Abschottung sollen so vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Gleichzeitig bauen Polen, Lettland und Litauen an einer Grenzbefestigung entlang der belarussischen Grenze mit kräftiger Unterstützung durch die EU, darunter auch Deutschland.

EU und Polen einmal einig

Amnesty International berichtete am 20. Oktober, dass eine Gruppe von 17 AfghanInnen seit etwa zwei Monaten an der Grenze gestrandet ist, nachdem sie im August von polnischem Territorium aus zur Grenze deportiert wurden. Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ordnete bereits am 25. August an, dieser und einer weiteren Gruppe irakischer Flüchtlinge Lebensmittel und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, doch die Entscheidung wird von der Regierung missachtet. Die angeordneten und systematisch praktizierten Rücktransporte (Pushbacks) sind ohnehin nach internationalem und europäischem Recht illegal, auch wenn sie mit einer im Oktober durch das Parlament erfolgten Gesetzesänderung nun legitimiert werden sollen. Doch diese offenkundigen Rechtsbrüche spielen keine Rolle in dem Konflikt mit den EU-Institutionen, die der polnischen Regierung vorwerfen, mit ihrer Justizreform „europäische Werte“ zu missachten.

Obwohl die EU von tiefen Konflikten durchzogen ist, herrscht vielmehr Einigkeit in der rassistischen Abschottungspolitik gegenüber allen Menschen, die hierher wollen, aber nicht dürfen. Dass gegen die „Bedrohung“ durch ein paar tausend flüchtende Menschen jedes Mittel recht ist, darüber besteht unter den europäischen PartnerInnen kaum ein Zweifel. Eine gemeinsame Mission ist in jedem Fall die „Sicherung der Außengrenzen“, die „Abwehr“ flüchtender Menschen an den Grenzen durch Einsatz menschenverachtender und tödlicher Gewalt. Florian Hahn, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärt dazu: „Die Grenze zu Belarus muss so schnell wie möglich befestigt, sicher und undurchlässig gemacht werden. Vor allem dürfen wir Warschau mit diesem Problem jetzt nicht allein lassen.“ In einer gemeinsamen Erklärung fordern 12 Regierungen (osteuropäische EU-Mitglieder, Österreich und Dänemark) den Bau einer von der EU finanzierten Grenzbarriere.

Grenzkontrollen und Rechte

Wer es doch in die EU schaffen sollte, ist längst nicht sicher. Auch an der deutsch-polnischen Grenze sind mittlerweile Einheiten der Bundespolizei im Einsatz, um all jene zurückzuschicken, die es soweit geschafft haben. Im bürgerlichen Mainstream angekommen ist auch die völkische Metapher der „Flüchtlingsinvasion“, wenn etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) von „hybrider Kriegsführung“ spricht. Diese Rhetorik ist eine Einladung für FaschistInnen wie den „Dritten Weg“, die die Sache gerne selbst in die Hand nehmen.

Zugleich liefert die Kriegsrhetorik einen Vorwand für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegenüber Russland und für weitere Sanktionen gegen das belarussische Regime. Dass sich letzteres nicht bedingungslos der Forderung der EU fügt, im Sinne einer vorgelagerten EU-Flüchtlingsabwehr Menschen gar nicht erst ins eigene Land zu lassen, gilt bereits als Kriegsakt. Als vorbildliches Gegenbeispiel sei etwa das Partnerland Libyen genannt, mit seinem effektiven Flüchtlingsabschreckungspotential wie Folterlagern oder einer schießwütigen Küstenwache, die auf Frontex-Befehle hört.

Natürlich handelt auch das belarussische Regime aus einem rassistischen Kalkül heraus. Die Hauptschuldigen sind aber die Regierungen der EU. Dass nun vermehrt Menschen über Belarus den Weg in die EU suchen, ist überhaupt erst das Resultat einer brutalen Abschreckungspolitik, die die Fluchtrouten über die Balkanländer und über das Mittelmeer gefährlich und für viele Flüchtende unpassierbar gemacht hat.

Offene Grenzen!

Die Offensive des staatlichen Rassismus in Europa erfordert Widerstand. Ebenso müssen wir rechten und faschistischen Banden entgegentreten, die als “Grenzschutz” ihr Unwesen treiben. Dies wird umso dringender, wenn sich eine neue Ampelregierung daran machen wird, den deutschen Führungsanspruch in der Festung Europa zu erneuern.

Die ArbeiterInnenbewegung, alle linke und antirassistischen Kräfte müssen organisiert gegen diese Politik auftreten. Das erfordert einerseits gegen die faschistischen und rechte Gruppierungen vorzugehen, noch dringender und wichtig ist es jedoch, dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.

Notwendig ist eine europaweite Bewegung, die für volle Bewegungsfreiheit nach und in Europa kämpft, für offene Grenzen und gleiche Rechte unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit – und die dies verbindet mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften der europäischen ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital, um den Kampf gegen Rassismus über die organisierte Linke hinaus zu verankern.




Frauen, Kapitalismus, Pandemie

Katharina Wagner, Neue Internationale 260, November 2021

Frauen sind die großen Verliererinnen in der Pandemie. Dieser Satz gilt aber nicht nur für Deutschland oder Europa, sondern weltweit. Ihre Situation hat sich in vielen Bereichen, beruflich wie privat, im Zuge der Pandemie und damit einhergehender Maßnahmen deutlich verschlechtert.

Aktuelle Situation weltweit

Die Lage ist trotz der Konjunkturpakete der reichen, imperialistischen Staaten in vielen Ländern, gerade unter den ärmsten, weiter von einer weltweiten Wirtschaftskrise gekennzeichnet, die 2020 den gesamten Globus ergriff. Sie wurde zwar nicht durch die Pandemie verursacht, aber von ihr deutlich verstärkt.

In deren Gefolge wurden viele der ohnedies schon viel zu geringen Maßnahmen der weltweiten Armutsbekämpfung zerstört und zurückgenommen. Eine zunehmende globale Verschuldung sowie eine Zuspitzung imperialistischer Konflikte sind weitere Begleiterscheinungen dieser Krise. Auch hier sind Frauen wieder einmal auf besondere und vielfältige Weise deutlich stärker betroffen.

Der Verlust von Verdienstmöglichkeiten, eine starke Zunahme häuslicher und sexueller Gewalt sowie eine stärkere Belastung durch Sorgearbeit innerhalb des Haushalts und der Familie – das sind nur die Hauptaspekte, mit denen Frauen in der derzeitigen Situation wohl am meisten zu kämpfen haben. Diese negativen Folgen für sie sind nicht neu, wurden aber während der Pandemie nochmals drastisch verschärft.

Im Zuge der Maßnahmen zu deren Eindämmung wurden teilweise ganze Branchen wie die Gastronomie oder andere Dienstleistungsbereiche stark heruntergefahren oder sogar zeitweise ganz geschlossen. Dies betraf vor allem Frauen, da deren Anteil in diesen Berufen doch überdurchschnittlich hoch ist. In Deutschland beispielsweise beträgt dieser rund 64 %.

Konnten die finanziellen Einbußen mithilfe des Kurzarbeitergeldes in reichen Industriestaaten wie Deutschland zumindest abgemildert und Entlassungen vorerst verhindert werden, haben die meisten globalen Beschäftigten keinerlei Zugang zu solchen staatlichen Hilfen. Frauen sind weltweit deutlich häufiger von Entlassungen betroffen als Männer, auch weil sie überdurchschnittlich im sogenannten informellen Sektor beschäftigt sind. Im südlichen Afrika etwa arbeiten rund 92 % aller weiblichen Erwerbstätigen ohne jegliche Absicherungsmaßnahmen wie Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung bei Krankheit.

Covid-19

Ein weiterer wichtiger Beschäftigungssektor für Frauen ist der Gesundheits- und Sozialbereich, hier beträgt ihr Anteil in der Pflege weltweit rund 70 %. Demgegenüber steht allerdings ihre relativ niedrige Quote von 30 % in der ÄrztInnenschaft.

Dieser Umstand spiegelt sich auch sehr gut in den Infektionszahlen für Beschäftigte im Pflege- und Gesundheitsbereich wider, sind diese doch aufgrund der Tätigkeit selbst einem deutlich erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt – nicht zuletzt auch aufgrund schlechtem oder ungenügendem Zugang zu Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln sowie einer enormen Arbeitsbelastung. In Spanien hatten sich während der Pandemie bisher dreimal so viele weibliche Pflegekräfte mit COVID-19 angesteckt wie männliche Beschäftigte in diesem Bereich.

Hinzu kommen die weiterhin beträchtlichen Lohnunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Erwerbstätigen, größtenteils bedingt durch die deutlich geringeren Verdienste in den oben genannten Bereichen im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren. Laut dem WEF (World Economy Forum) verdienen Frauen weltweit durchschnittlich nur 68 % dessen, was Männer für dieselbe Arbeit erhalten würden, bei den Ländern mit der geringsten Kaufkraftparität sind es sogar nur 40 %. Und auch hier hat die Pandemie die Situation für Frauen deutlich verschlechtert. Erste Untersuchungen deuten bereits darauf hin, dass das Lohn- und Gehaltsgefälle sich im Zuge der Pandemie um 5 % vergrößert hat. Weiterhin gibt es Schätzungen des WEF, dass beim derzeitigen Tempo der „Angleichung“ vermutlich erst in 257 Jahren Lohngleichheit erreicht sein könnte. In weiterer Folge bedeutet dies natürlich auch in Bezug auf die Rente eine deutlich schlechtere Ausgangslage, vielen Frauen droht daher Altersarmut.

Auch im privaten Umfeld hat die Pandemie die Situation vieler Frauen teilweise dramatisch verschlechtert. Bereits im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 konnte eine starke Zunahme häuslicher und sexueller Gewalt gegenüber Frauen und Kindern festgestellt werden. Tatsächlich wird statistisch gesehen jede dritte Frau weltweit Opfer von Gewalt und auch die Anzahl tödlicher Delikte gegen Frauen (Femizide) verzeichnet einen Anstieg von bis zu 23 %, wie Zahlen aus verschiedenen Ländern belegen. Obwohl zahlreiche, darunter auch Deutschland, die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) unterzeichnet haben, werden selbst die dort festgehaltenen Beschlüsse meist nicht vollständig umgesetzt. So fehlte es bereits vor der Pandemie vielerorts an ausreichend vorhandenen Schutzräumen und leicht zu erreichenden Hilfsangeboten für betroffene Frauen.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung

Die Ursachen dieser Verschlechterungen müssen im Kontext der kapitalistischen Produktionsweise und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung betrachtet werden, bei der die Frau auf die Tätigkeit in der sogenannten Reproduktionsarbeit fixiert ist, das heißt auf Aufgaben zur Erhaltung des unmittelbaren Lebens wie Kindererziehung, Pflege von Familienangehörigen oder die Hausarbeit im privaten Umfeld. In den allermeisten Fällen handelt es sich hierbei um unbezahlte und aus Sicht des Kapitals unproduktive Arbeit, da sie meist keinen Mehrwert generiert. Demgegenüber übernimmt der Mann die produktiven, also Mehrwert generierenden Arbeiten. Mit Entstehung der bürgerlichen Familie als Norm, welche sowohl ideologisch als auch repressiv gegenüber anderen modernen Formen durchgesetzt und verteidigt wird, reproduziert sich die eben angesprochene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bis heute.

Der Kapitalismus hat sich diese lange vorher existierende Arbeitsteilung zunutze gemacht, in dem der Mann einen sogenannten „Familienlohn“ erhält und die Frau quasi als „Zuverdienerin“ das familiäre Haushaltsvermögen aufstockt. Dies erklärt den weiterhin herrschenden Lohnunterschied (Gender Pay Gap) zwischen Männern und Frauen. Global betrachtet stimmt dieses Modell zwar schon lange nicht mehr mit der Realität überein, denn in vielen Fällen ist sogar die Frau mittlerweile die Hauptverdienerin und ein Lohn oft nicht ausreichend, um das Überleben der Familie zu sichern. Dennoch trägt auch dieser Umstand weiterhin zur Festigung der bürgerlichen Familie und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bei.

Reserve

Eine weitere Folge letzterer ist die stärkere Betroffenheit von Frauen in Krisenzeiten wie in der derzeit herrschenden Pandemie. Frauen wurden stets von Seiten der KapitalistInnen als sogenannte Reservearmee angesehen, welche in konjunkturell starken Phasen eingestellt und in Krisenzeiten rasch wieder entlassen werden können. In diesen werden zudem die sogenannten Reproduktionsarbeiten aus Gründen der Kostenersparnis sehr gerne zurück ins private und nicht entlohnte Umfeld ausgelagert. Dies bedeutet für viele Frauen eine stärkere Doppelbelastung aus Erwerbs- und Carearbeit, tragen doch sie die Hauptlast der Reproduktionsarbeit. Hinzu kommt eine (stärkere) finanzielle Abhängigkeit vom männlichen Partner, was Betroffenen von Gewalt ein Beenden der Partnerschaft häufig unmöglich macht. Dieser Rollback konnte auch in der derzeitigen Pandemie beobachtet werden.

Schließlich profitiert das Kapital selbst von Spaltungen wie jener zwischen Mann und Frau und nutzt diese zu seinen Gunsten. Es ist daher auch kein Zufall, dass vor allem Frauen aus der ArbeiterInnenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft besonders unter den Pandemiefolgen leiden. Daher darf diese Thematik nicht unabhängig vom kapitalistischen Gesamtsystem betrachtet werden, sondern muss mit der Klassenfrage und dem Kampf gegen es verknüpft werden. Denn aus Sicht von MarxistInnen handelt es sich beim Kapitalismus nicht nur um ein Produktions-, sondern um ein gesellschaftliches System, welches alle Lebensbereiche sowie unser Denken und Handeln beeinflusst und formt. Nicht zuletzt wird dies deutlich durch die gesellschaftlich zugeschriebenen Geschlechterrollen, die anerzogen werden und sich dadurch weiter reproduzieren.

Wofür kämpfen?

Der Kampf gegen Frauenunterdrückung muss international organisiert und mit der Klassenfrage und dem Kampf gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Auch wenn sich die Situationen von Frauen in verschiedenen Ländern teilweise deutlich unterscheiden, müssen wir global einige gemeinsame Forderungen aufstellen.

Um die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen abzubauen, muss die Forderung nach einem Mindestlohn sowie eine vollständige Abschaffung des informellen Sektors auf die Tagesordnung gesetzt werden. Auch prekäre Arbeitsverhältnisse müssen durch die Einführung von tariflichen Löhnen verschwinden. Dabei müssen die Kontrolle über deren Umsetzung und die Festlegung von Gehältern in die Hände der ArbeiterInnenklasse und der Gewerkschaften gelegt werden. Wichtig ist in diesem Kontext auch die Forderung, keine Entlassungen zu akzeptieren und während der Schließung ganzer Wirtschaftsbereiche für eine vollständige Auszahlung der Gehälter einzutreten. Diese Auseinandersetzungen müssen wir darüber hinaus mit dem Kampf für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten verbinden: den Ausbau von Kitas, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, des Gesundheitssystems, einer Altersvorsorge für alle usw. unterstützen. Ein solches muss von den Profiten der Unternehmen bezahlt und von den ArbeiterInnen kontrolliert werden.

Um Frauen vor Unterdrückung und Diskriminierung zu schützen, bedarf es des Rechts auf eigene Treffen, sogenannte Caucuse, in allen Organisationen der ArbeiterInnenklasse. Nur so ist gewährleistet, dass sie im Kampf für vollständige Frauenbefreiung und gegen den Kapitalismus eine Schlüsselrolle einnehmen und aktiv gegen Sexismus, Chauvinismus und rechtliche Benachteiligung vorgehen können. Um ihnen eine aktive Beteiligung an politischen Kämpfen zu ermöglichen, ist neben einer massiven Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich auch eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit notwendig. Nur so können die Doppelbelastung aufgehoben und Arbeiten des täglichen Lebens auf viele Schultern verteilt werden. Statt Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich sind massive Investitionen für den Ausbau von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie öffentlichen Gesundheitssystemen und Kultureinrichtungen einzufordern. Nur so ist es möglich, den herrschenden Rollback zu Ungunsten der Frauen und jungen Mädchen umzukehren.

Frauenbewegung

Zum Schutz von Frauen vor physischer und sexualisierter Gewalt müssen dringend die zur Verfügung stehenden Schutzräume massiv ausgebaut und Selbstverteidigungsorgane innerhalb der ArbeiterInnenklasse aufgebaut werden. Ebenso ist es wichtig, die Forderung nach rechtlicher Gleichheit und einem Scheidungsrecht, welches Frauen nicht benachteiligt, aufzustellen.

Der Kampf gegen die Folgen von Pandemie und Krise, von denen die lohnabhängigen Frauen besonders hart getroffen werden, hat aber auch zu vielen Abwehrkämpfen und Bewegungen geführt, wo Arbeiterinnen an vorderster Front stehen. Diese zeigen, dass Frauen nicht in erster Linie Opfer und Betroffene, sondern vor allem Kämpferinnen sind. Die Frauen*streiks der letzten Jahre, die Bewegungen im Gesundheitssektor und Frauen, die in Afghanistan unter extremen Bedingungen ihre Rechte verteidigen – sie alle zeigen, dass vor unseren Augen auch die Basis für eine neue internationale proletarische Frauenbewegung entsteht.

Lasst uns gemeinsam für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine vollständige Frauenbefreiung kämpfen! Für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung!




Charité und Vivantes: Lehren eines bedeutenden Streiks

Jürgen Roth, Neue Internationale 260, November 2021

Nach über 7 Wochen Vollstreik hat das Berliner Krankenhausunternehmen Vivantes für seine ausgelagerten Tochtergesellschaften gemeinsam mit VertreterInnen der Gewerkschaft ver.di ein Eckpunktepapier unterzeichnet, das in einem Angleichungstarifvertrag an den TVöD münden soll. Moderator Matthias Platzeck, brandenburgischer Ex-Ministerpräsident, bezeichnet es als akzeptabel. Bereits zuvor, am 7.10., gab es solche Eckpunkte bei der Charité nach 30 Streiktagen und 4 Tage später folgte der Vivantes-Mutterkonzern, beide mit Klauseln für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) in der Pflege. Die Streiks wurden nach der Einigung auf die Papiere jeweils beendet. Für Ende November rechnet man mit jeweiligen Haustarifverträgen.

Charité

Ver.di-Verhandlungsführerin Melanie Guba erkärte, alle Forderungen seien in dem Papier berücksichtigt worden: Mindestbesetzungsregelungen für alle Bereiche, darunter Stationen, OP-Säle und Notaufnahmen/Rettungsstellen; Regelung eines Belastungsausgleichs; Verbesserung der Ausbildungsbedingungen. War auf Intensivstationen bisher eine Pflegekraft für bis zu 4 PatientInnen zuständig, im Nachtdienst für 20 – 30, so soll der neue Personalschlüssel 1:1 bzw. 1:10 – 1:17 lauten. In den Kreißsälen soll es wieder möglich werden, dass eine Hebamme nur eine Frau bei der Geburt begleitet. Man hofft darauf, dass 250 freiberufliche Hebammen ihre Zusage einhalten, unter diesen verbesserten Umständen wieder als Angestellte in die Kliniken zurückzukehren.

Nach uns vorliegenden Informationen sieht der Belastungsausgleich im Fall der Unterschreitung der Mindestpersonalbesetzung eine freie Schicht für 5 in Überlastung vor. Die „Gesamtstrategie 2030“ der Charité will den Stellenanteil erhöhen wie auch akademisierte Gesundheitsfachberufe gewinnen. Dies ist eine Reaktion auf hohe Krankenstände, Wechsel von Voll- in Teilzeit und hoher Fluktuationsrate. Viele PflegerInnen üben ihren Beruf nur wenige Jahre aus.

Vergleich mit dem Vivantes-Mutterkonzern

Im Kern soll der TVE die Angleichung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Berliner Krankenhäusern anstreben. Die Einigung ver.dis mit der Charité-Spitze im dortigen Eckpunktepapier zeigte in Anbetracht des Pflegepersonal- und Nachwuchsmangels auch bei der weit widerspenstigeren Verhandlungsführung Vivantes‘ schließlich Wirkung. Weitere Sturheit hätte die Gefahr einer Abwanderung eigenen Personals zur Charité heraufbeschworen. Der Konzern hatte zuvor erst ab 12 Überlastungsschichten eine Freischicht offeriert (bei Auszubildenden 48!), weniger als die Hälfte des Angebots der Unikliniken. Es bleibt einer detaillierteren Untersuchung des künftigen TVE vorbehalten, inwieweit tatsächlich gleiche Verhältnisse wie an der Charité erzielt werden konnten. Vivantes hat als Vollversorger mit einem erheblichen Anteil Grundversorgung deutlich mehr Finanzierungsprobleme durchs System der Fallpauschalen (DRGs) als die Unikliniken. Gerüchten zufolge droht Bettenabbau nach dem Abschluss. „Leistung soll dem Personal folgen“ heißt übersetzt also, dass eine Beeinträchtigung der stationären Grund- und Notfallversorgung in den Bezirken droht. Die nächste Kampffront tut sich also auf.

Die neuen Eckpunkte folgen der gleichen Systematik wie an den Unikliniken Berlins. Bereich für Bereich wird geschaut, ob unterschiedliche Belastungssituationen und Unterbesetzung bestehen. Bei beiden Konzernen soll ein Punktesystem eingeführt werden. Bei den 3 Uniklinikstandorten der Charité gibt es Belastungspunkte, wenn eine Abteilung unterbesetzt ist, Leiharbeitskräfte eingesetzt werden, oder nach Gewalterfahrungen. Die Punkte können dann in Freizeitausgleich, Erholungsbeihilfen, Kinderbetreuungszuschüsse, Altersteilzeitkonten oder Sabbaticals (längere Auszeiten) umgewandelt werden. Vivantes sprach dagegen lediglich allgemein von einer Umwandlung in Entgelt oder Freizeit.

Während die Charité 3 neue Ausbildungsstationen und 1 multiprofessionelle Intensiv-Lehrstation einrichten will, möchte Vivantes die Ausbildungsbedingungen tariflich regeln, z. B. durch Ausstattung mit Notebooks. Der Konzern legte sich auch nicht auf Neueinstellungen fest, während die Landesunikliniken 700 neue Pflegekräfte binnen 3 Jahren anwerben wollen. Der TVE soll in beiden Konzernen eine Laufzeit von 3 Jahren aufweisen.

Vivantes-Töchter

An den Streiks nicht beteiligt war das CFM, das ausgelagerte Tochterunternehmen der Charité. Hier war nach mehrjährigem Kampf eine Angleichung an den TVöD zustande gekommen. Es herrschte dort also Friedenspflicht.

Im Tarifkonflikt bei den Tochtergesellschaften der landeseigenen Vivantes-Kliniken (VSG u. a.) sollen die Beschäftigten bis 2025 schrittweise mehr Geld erhalten Je nach Tochter sollen ihre Löhne und Gehälter in den kommenden vier Jahren nach und nach auf 91 beziehungsweise 96 Prozent des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) steigen. Darauf einigten sich die Gewerkschaft ver.di und das Klinikum Mitte der letzten Oktoberwoche in einem Eckpunktepapier.

„Insbesondere in den unteren Lohngruppen bedeutet das in Zukunft deutlich höhere Einkommen und deutlich mehr Gerechtigkeit“, teilte Verdi-Verhandlungsführer Ivo Garbe mit. Die Gewerkschaft hatte eine Übernahme des TVöD für sämtliche Tochter-Beschäftigte gefordert. Der Kompromiss stelle die Arbeit„geber“Innenseite vor „große finanzielle Herausforderungen“, erklärte der kommissarische Vorsitzende der Vivantes-Geschäftsführung, Johannes Danckert gegenüber dem Ärzteblatt. Diese müssten gemeinsam mit dem Land Berlin bewältigt werden.

Die VSG gestand vorher lediglich eine Angleichung an den TVöD bis 2028 zu ohne Angaben zu Zeitzuschlägen und Zulagen. Zudem wollte sie die Medizinischen Versorgungszentren und das Labor Berlin (gemeinsame Tochter mit der Charité) von den Verhandlungen ausnehmen. Es bleibt also abzuwarten, ob die konkreten Details auch eine Verbesserung bei den Zuschlägen enthalten und alle ausgegliederten Bereiche umfassen. Ferner ist genau darauf zu achten, ob es eine Art Notlagentarifklausel gibt, der zufolge die Angleichung im Fall wirtschaftlicher Schieflagen ganz oder teilweise ausgesetzt werden kann.

Kommt es hier nicht zu einem Abschluss, der mindestens den gleichen Tarif wie bei der Charité-Tochter CFM durchsetzt, muss die Berliner Krankenhausbewegung vom Senat fordern, die Übernahme des CFM-Tarifvertrags zu erzwingen.

Ob die neue Landesregierung sich für Danckerts Ansinnen aufgeschlossen zeigen wird, bleibt fraglich, ist doch die Krankenhausfinanzierung weitestgehend von DRGs abhängig, die einen enormen Preisdruck ausüben. Die Hoffnung vieler Streikender auf ein Machtwort des Senats im Arbeitskonflikt zu ihren Gunsten hat bereits einen herben Dämpfer erhalten. Sie wird es auch bzgl. der Finanzierungsmöglichkeiten durch „die Politik“.

Wichtige Teilerfolge bei den TVEs

Möglich wurde dieser Erfolg durch einen langen und hartnäckig geführten Streik, der auch mit wirksamen Aktionen die breitere Öffentlichkeit und Bündnisse wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen oder Gesundheit statt Profite einbeziehen konnte. Zudem beteiligte sich die Gewerkschaftsbasis außergewöhnlich engagiert. Fast jeder Bereich stellte ein/e SprecherIn auf den Kundgebungen, darunter auch engagierte und gute RednerInnen der Töchter. Neben o. a. Mobilisierungen ermittelte jede Station ihre Personaluntergrenzen, stellte Notdienstpläne auf und brachte ihre Meinung zum Stand der Verhandlungen ein, sorgte für eine repräsentative Tarifkommission, in der zahlreiche unterschiedliche Disziplinen vertreten waren. In Gestalt der Teamdelegierten schuf diese breite Bewegung Organe, die einerseits die AktivstInnen umfassen wie in gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörpern und somit zur Etablierung lebendiger ver.di-Betriebsgruppen in den Häusern beitragen, aber auch eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Umsetzung des TVE ausüben könnten. Streik als Schule des Klassenkampfs: Dies stellt alles ein leider zu seltenes Vorbild für Arbeitsauseinandersetzungen dar.

Auch wenn die Eckpunkte bei Vivantes weniger konkret als bei der Charité ausfallen oder schlechter scheinen, können wir davon ausgehen, dass der zukünftige TVE in beiden Krankenhausketten deutlich mehr Bereiche als 2015, darunter auch nicht-stationäre wie Kreißsäle, OPs und Funktionsabteilungen (Notaufnahmen. Rettungsstellen, Untersuchungsräume) umfassen wird als der von 2015 und zudem konkretere Entlastungsregelungen.

Doch ist es der TVE, der nun all das regelt, was vorhergegangene Tarifkämpfe – denken wir nur an den 2015 bei der Charité erkämpften – nicht vermochten? Und finanzieren sich zusätzliche Pflegekräfte durch das Bundespflegepersonalstärkungsgesetz wie von selbst? Lt. unseren Informationen sind die Ausgleichsschichten in den nächsten 3 Jahren gedeckelt: 2022 max. 5, 2023 10, 2024 15 Tage.

Das o. a. Gesetz und die Herausnahme der Pflegekosten aus den Fallpauschalen (DRGs) seit Anfang 2020 bedeuten mitnichten die Selbstkostenerstattung durch die Krankenkassen, sondern eine Rückkehr zu langwierigen Budgetverhandlungen mit ihnen wie vor Einführung der DRGs. Kommt es dann eben nicht zur gewünschten Personalaufstockung, wird auch der Freizeitausgleich schnell an seine Grenzen stoßen.

Schwächen

Eine Schwäche des Streiks bestand darin, dass es keinen Beschluss von unten, durch Streikvollversammlungen und von ihnen gewählte und jederzeit neu wählbare Streikkomitees über die Aussetzung des Streiks nach der Einigung auf die Eckpunktepapiere gab. Vielmehr wurde der Streikabbruch von oben ohne Debatte an der Basis verkündet und somit dem Hauptamtlichenapparat die Streikführung nicht strittig gemacht. Mit einigen Teamdelegierten wurde zwar gesprochen, mit anderen dafür aber nicht. Doch darüber hätten Streikvollversammlungen bzw. von diesen gewählte Komitees allein entscheiden müssen. Hier rächte sich, dass die Teamdelegierten zwar eine Schnittstelle zur Tarifkommission, in der stets Hauptamtliche den Ton angeben, verkörperten und darüber den Druck der Basis weitergaben, aber diese nicht zur selbstermächtigenden Souveränin über den Streikverlauf machen konnten. Dazu hätten Vollversammlungen jederzeit von ihnen abwählbare Streikkomitees mit der operativen Arbeitskampfführung bevollmächtigen müssen.

Den Teamdelegierten fiele eine weitere wichtige Rolle im Aufbau einer wirksamen Kontrolle über die Umsetzung des TVE zu. Kommt es nämlich nicht zu einer durch progressive Besteuerung des Kapitals und gesetzlicher Krankenversicherungspflicht für alle ohne Beitragsbemessungsgrenzen finanzierten massiven Neueinstellungswelle in der Pflege und steuern chefärztlich umgesetzte Renditeziele weiterhin die Krankenhausmedizin, dann drohen die Entlastungsregelungen, zu langfristigen individuellen Lebensarbeitszeitkonten ohne Überstundenzuschläge zu verkommen.

Ein Manko gegenüber dem Abschluss von 2015 besteht also darin, dass Interventionsmittel wie Bettensperrungen und Aufnahmestopps im zukünftigen TVE gar nicht mehr angedacht sind. Die Beschäftigten und PatientInnenorganisationen haben aber ein objektives Interesse an der Kontrolle von unten, v. a. wenn es beim Pflegepersonalmangel bleibt. Der Marburger Bund und die in ver.di organisierten ÄrztInnen können und müssen für vergleichbare Entlastungen beim ärztlichen Personal eintreten und notfalls streiken.

Berliner Vorbild bundesweit nachahmen!

Nach der Urabstimmung über die TVs muss der beispielhafte Kampf an den Berliner Krankenhäusern als Ausgangspunkt für eine bundesweite Bewegung für Entlastung und Angleichung an den TVöD wirken. Der 1. Schritt muss die Einberufung einer bundesweiten Krankenhauskonferenz, organisiert durch ver.di, sein.

Akut müssen in der anstehenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder die Anliegen vergleichbarer KollegInnen vollständig aufgenommen werden. Doch ver.di plant lediglich eine Gehaltsrunde. Die Interessen der Pflegekräfte an Entlastung werden an einem bedeutungslosen Gesundheits(katzen)tisch vorgetragen, aber sie müssen zum Verhandlungsgegenstand und streikfähig gemacht werden!

Sich an die Seite der streikenden KollegInnen zu stellen und dafür alle Beschäftigten, die ein Interesse an einem funktionierenden Gesundheitssystem unter guten Arbeitsbedingungen hegen,  zu mobilisieren, wäre die Aufgabe aller DGB-Gewerkschaften über die laufende Tarifrunde hinaus. Mit einer solchen Mobilisierung, einem politischen Streik, würden die Regierenden in die Knie gezwungen werden können. Dies wäre der Weg für einen erfolgreichen Kampf gegen Privatisierungen und mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitssektors.




Streit mit Polen: neue Zerreißprobe für die EU?

Aventina Holzer, Neue Internationale 260. November 2021

Der Konflikt zwischen der EU und Polen eskaliert. Das Parlament und die Regierung in Warschau weigern sich weiterhin, den übergeordneten Charakter des EU-Rechts gegenüber dem nationalen anzuerkennen. Das rechte, nationalistische PiS-geführte Kabinett wehrt sich gegen eine „schleichende Kompetenzerweiterung“ der EU. Ministerpräsident Morawiecki bezichtigt sie der Erpressung.

Das eigentliche Ziel der polnischen Regierung besteht vor allem darin, eigene rechte und reaktionäre Verfassungsreformen und Angriffe auf Frauenrechte gegen etwaige Einsprüche der europäischen Gerichtsbarkeit zu sichern. Das Ziel von Morawiecki und Co. ist also durchweg reaktionär.

Gleichwohl geht es natürlich auch der EU nicht um abstrakte, rechtsstaatliche Prinzipien, sondern vielmehr darum, die Vereinigung eines imperialistischen Blocks unter deutscher und französischer Vorherrschaft voranzutreiben. Und dazu gehört auch, dass nationales Recht dem der EU untergeordnet ist, um so auch über diesen Hebel die Dominanz der stärksten Staaten gegenüber ökonomisch und politisch untergeordneten zu sichern.

Nachdem die polnische Regierung nicht freiwillig nachgeben will, packt die EU die Keule aus. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verurteilte Polen zu einem Zwangsgeld von einer Million Euro für jeden Tag, an dem die vom obersten europäischen Gericht gefällten Urteile nicht umgesetzt werden.

Diese Sanktionen sind finanziell noch leicht zu verkraften. Dramatisch würde es für Polen, wenn die EU die Auszahlung der Gelder aus dem Corona-Hilfsfonds, ingesamt 36 Milliarden Euro, ganz oder teilweise zurückhalten würde.

Was ist passiert?

Seit Jahren spitzt sich der Konflikt zwischen der EU und Polen immer mehr zu. Ursprung der Debatte ist eine 2017 verabschiedete Justizreform die im Widerspruch zum geltenden EU-Recht steht. Ihr Hauptpunkt befasst sich mit einer engeren Verzahnung von Legislative (Politik) und Judikative (Justiz), zum Beispiel die Möglichkeit für den/die JustizministerIn, Gerichtsvorsitzende inklusive StellvertreterInnen abzuberufen.

Der ursprüngliche Konfliktauslöser waren Wahlen von fünf neuen VerfassungsrichterInnen in Polen. Diese gerieten zum Anlass für sechs Gesetze zur Novellierung des Verfassungsgerichts, die fast alle die Möglichkeiten der Nachbesetzung oder Sanktionierung der RichterInnen durch die Politik betrafen. 2018 wurde eine Disziplinarkammer im Verfassungsgerichtshof eingerichtet, die jede/n RichterIn oder Staatsanwalt und Staatsanwältin entlassen kann.

Dies wurde explizit gegen Einwände der EU-Kommission beschlossen, die jetzt beim EuGH versucht, die Gesetzesänderungen in Polen durch Klagen rückgängig zu machen. Eine weitere Eskalation als Reaktion darauf inszenierte der polnische Verfassungsgerichtshof im Oktober 2021. Dieser entschied, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien, die ihrerseits über dem EU-Recht stehen würde.

Hintergründe

Solche Konflikte sind innerhalb der EU nicht neu. Im Grunde tauchen sie immer wieder auf, wenn die Integration des Staatenbundes vertieft, nationale Gesetze vereinheitlicht werden sollen – und Widerstand gegen EU-Recht, das mit dem eigenen im Widerspruch steht oder eigene nationale Ansprüche beschränkt, erfolgte in der Geschichte der EU keineswegs nur seitens Leuten wie Orbán oder Morawiecki. Denken wir nur an die sog. Flüchtlingskrise, bei der die GegnerInnen einer zeitweiligen Öffnung der EU-Grenzen ihrerseits Grenzkontrollen errichteten oder die Rettung von Menschen im Mittelmeer verhinderten. Diese Gewaltorgien, an denen sich etliche der heute schärfsten KritikerInnen Polens an vorderster Front beteiligten, verdeutlichen, dass es beim aktuellen Konflikt weder von Seiten Polens noch der EU um Demokratie und BürgerInnenrechte geht.

Letztlich ist dieser Zwist nur ein Vorwand. Die EU-Kommission und die sie tragende Parlamentsmehrheit, hinter der der Mainstream der politischen Kräfte steht, nehmen die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, deren sich Polen oder auch Ungarn schuldig gemacht haben, zum Anlass, in der Staatengemeinschaft für klarere Verhältnisse zu sorgen.

Ziel ist dabei sicher nicht, Polen aus der EU zu treiben. Ebenso wenig will das eigentlich die Regierung in Warschau, denn nicht nur für die EU, sondern vor allem für das Land selbst wäre ein Austritt aus der Union eine politische und vor allem ökonomische Katastrophe.

Polen spielt wie ganz Osteuropa eine wichtige Rolle im Rahmen der Wertschöpfungsketten und Gesamtproduktion des deutschen Kapitals. Es ist integraler Bestandteil des halbkolonialen Hinterlandes des deutschen Imperialismus.

Wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern haben die neoliberalen Reformen und die Zerstörung ganzer Strukturen nach der Restauration des Kapitalismus auch dazu geführt, dass große Teile des KleinbürgerInnentums, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch die städtischen Mittelschichten und vor allem die ArbeiterInnenklasse diese „Reformen“ mit Arbeitslosigkeit, prekären Arbeitsbedingungen und sozialer Unsicherheit bezahlen mussten. Auf politischer Ebene drückte sich das darin aus, dass nach Jahren der wirtschaftsliberalen Regierungen und dem Abwirtschaften der aus den ehemaligen stalinistischen Parteien hervorgegangenen Sozialdemokratie der Rechtspopulismus als nationale und soziale Alternative erschien.

Auf ökonomischer Ebene erweist sich dieser als durchaus willfährig und rollt ausländischen InvestorInnen besonders aus Deutschland geradezu den roten Teppich aus, wenn es um Arbeitsrecht, Umweltschutz usw. geht. Umso schriller und aggressiver versuchen sich Nationalismus und Populismus, bei anderen Fragen in Szene zu setzen – z. B. den Angriffen auf Frauenrechte wie das auf Abtreibung, auf die Pressefreiheit oder in Verfassungsfragen. Garniert wird das Ganze mit demagogischen Angriffen auf die EU-Institutionen, die für alle Probleme des Landes verantwortlich gemacht werden, insbesondere auch die Zerstörung „polnischer“ oder „christlicher“ Werte.

Schließlich kommt hinzu, dass Polen in der EU seinen eigenen Spielraum zu erweitern trachtet, indem es sich als enger Verbündeter der USA und vor allem ihrer aggressiven Politik gegenüber Russland präsentiert. Schließlich arbeiten die maßgeblichen Parteienbünde und deren Stiftungen in der EU auch daran, in Ländern wie Polen und Ungarn bei zukünftigen Wahlen ihre engeren Verbündeten an die Macht zu bringen.

Reaktion der EU

Angesichts dieser Lage wird sich der Konflikt zweifellos verschärfen. Auch wenn die Staats- und RegierungschefInnen Deutschlands und Frankreichs, Merkel und Macron, die Lage nicht zu sehr eskalieren wollen, so gibt es letztlich wenig Kompromissspielraum.

Die EU, die bereits einige Sanktionen gegen Polen verhängt hat, wird auch weitere Methoden nutzen, um es unter Druck zu setzen. Unter anderem ist ein Vertragsverletzungsverfahren möglich, wobei schon eines im Juli wegen Verletzung von Grundrechten von LGBTQIA+-Personen eingeleitet wurde. Auch ein „Artikel 7“-Verfahren wäre denkbar. Dies kommt einer Suspendierung gleich und würde Polen das Stimmrecht kosten. Unmittelbar ist aber damit zu rechnen, dass Druck über die EU-Gelder (in diesem Fall zum Beispiel Covid-19-Hilfezahlungen, die um die 36 Milliarden Euro ausmachen) ausgeübt wird, bis bestimmte Gesetze (wie die Justizreform) zurückgenommen werden.

Alle diese Faktoren spitzen den Konflikt natürlich weiter zu. Wegen der langen oppositionellen Haltung zur EU wird auch schon länger spekuliert, ob Polen nicht auch mit dem Ausstieg aus der Föderation liebäugelt. Einige führende PolitikerInnen der PiS drohten schon konkret mit dem Austritt. Eine Person verglich die Rolle der EU mit der Besatzung durch „die Nazis und die Sowjets“. Das sind jedoch vereinzelte Stimmen und die Opposition versucht momentan stark, die PiS in eine Rolle der EU-skeptischen Partei zu drängen. Die polnische Bevölkerung ist überwiegend für einen Verbleib in der EU (über 80 %). Das wurde auch nochmal durch Donald Tusks Demonstrationen gezeigt, die sich für einen Verbleib von Polen in der EU stark machten. Morawiecki weiß, dass ein Polexit extrem unpopulär wäre. Daher erklärte er wiederholt, dass Polen mit Sicherheit nicht die Absicht hätte, die EU zu verlassen.

Die ökonomische Situation verdeutlicht auch, wie selbstmörderisch dieses Unternehmen wäre. Die EU muss hierbei als ökonomischer Block und nicht als „Wahrerin der Rechtsstaatlichkeit“ oder als „Friedensprojekt“ verstanden werden. Dann werden die Abhängigkeitsverhältnisse augenscheinlicher. Polen ist der größte Empfänger von EU-Geldern und stark abhängig vom Zugang zum Binnenmarkt. Als Zulieferer, speziell für Deutschland, bildet es ein wichtiges Glied in den Wertschöpfungsketten Europas.

Wie geht es weiter?

Der Austritt Polens bleibt also unwahrscheinlich, genauso aber die Rücknahme der Justizreform durch die gegenwärtige Regierung.

Vielmehr setzt die EU, ähnlich wie in Ungarn, auf ein breites, klassenübergreifendes Oppositionsbündnis, das die PiS-geführte Regierung bei den nächsten Wahlen ablösen kann. Betrachten wir den Charakter der Bewegungen für das Recht auf Abtreibung und gegen die Einschränkungen demokratischer Rechte in Polen, so ist eine solche Entwicklung nicht von der Hand zu weisen. Im letzten Herbst demonstrierten Hunderttausende gegen die Regierung. Die politische Führung der Opposition lag und liegt freilich bei der „Bürgerkoalition“ Koalicja Obywatelska (KO), die von Liberalkonservativen wie Donald Tusk, dem ehemaligen Minister- und EU-Ratspräsidenten, geführt wird.

Die ArbeiterInnenklasse, Gewerkschaften und linke Parteien wie die SLD (Bund der Demokratischen Linken) und Lewica Razem (Linke Gemeinsam) ordnen sich in diesen Bewegungen dieser faktisch politisch unter. In Polen erscheint der politische Konflikt als einer zwischen nationalkonservativem Populismus und EU-konformem Liberalismus. Genau darin aber besteht das zentrale politische Problem.

Die Lösung der politischen Krise kann und wird nicht darin bestehen, dass die EU Sanktionen gegen das Land verhängt. Im Gegenteil. Dies wird es der PiS erleichtern, den Unmut in der Bevölkerung zu kanalisieren und von ihrer reaktionären Politik abzulenken, indem sie z. B. die EU für fehlende Corona-Hilfen verantwortlich machen kann. Daher müssen Linke und die ArbeiterInnenklasse in der EU diese Politik der EU-Kommission zurückweisen.

Notwendig ist vielmehr, dass die linken Parteien und die Gewerkschaften sich selbst zu einer eigenständigen und führenden Kraft in der Bewegung gegen die PiS erheben, indem sie den Kampf gegen nationale Abschottung, die reaktionäre Flüchtlingspolitik, Angriffe auf die Rechte der Frauen mit dem gegen Armut, Entlassungen, Billigjobs und andere grundlegende Forderungen der ArbeiterInnenklasse verbinden.




Autokrise am Beispiel Boschs: Transformation ins Aus

Mattis Molde, Neue Internationale 260, November 2021

Überall werden Jobs in der Autoindustrie abgebaut. Laut einer Studie des Verbandes der Automobilindustrie, VDA, erwartet dieser den Wegfall von mindestens 178.000 Arbeitsplätzen bis 2025. Das müsse aus Sicht dieser ArbeitsplatzvernichterInnen auch so sein, weil „die unter den aktuellen Bedingungen nicht neu geschaffen werden können.“ Denn, so heißt es in einer Presseerklärung: „Bedingt durch hohe Steuern und Abgaben, hohe Energiekosten und mangelnde Investitionen in Bildung fällt Deutschland im internationalen Standortwettbewerb immer weiter zurück.“ Mit anderen Worten, die Autokonzerne wollen weniger Steuern zahlen, weniger Löhne, dafür Subventionen erhalten und neue Werke auf grüne Wiesen oder anderswo hinsetzen.

Der Angriff auf die Arbeitsplätze in der Autoindustrie beginnt nicht erst heute. In den letzten 3 Jahren wurden bereits zehntausende vernichtet, deren Höchststand der letzten Jahre rund 850.000 betrug. Wie lief das ab? Was haben wir in Zukunft zu erwarten und was können die Betroffenen tun?

Bei den Großbetrieben der Endhersteller geschieht der Personalabbau selten durch Entlassungen. Es gibt großzügige Abfindungen und jede Menge Altersteilzeit. Die MalocherInnen in der Produktion werden einfach heimgeschickt. Dort arbeiten schon seit Jahren LeiharbeiterInnen oder WerkvertraglerInnen in einem Ausmaß, welches einen Abbau von 20 – 30 % komplett geräuschlos ermöglicht. Auch die Praxis, ganze Produktionsbereiche als „Vertragslogistik“ zu beschreiben und an andere Firmen fremdzuvergeben, ermöglicht dann eine spätere Arbeitsplatzzerstörung ohne Sozialplan, ohne Verhandlungen und meist ohne Proteste.

Anders sieht es bei den Zulieferern aus. Auch wenn Bosch, ZF, Conti und Mahle globale Konzerne sind, sind ihre Werke überwiegend kleiner und dafür zahlreicher. So hat Bosch nach eigenen Angaben über 100 Werke in Deutschland, von denen allerdings nicht alle zum größten Geschäftsbereich Kfz-Technik („Mobility-Solutions“) gehören.

Das Beispiel Bosch

Der Stand des Kahlschlags dort sieht derzeit so aus – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • In den großen Werken Stuttgart-Feuerbach und Schwieberdingen wurden schon etwa 1.600 Stellen abgebaut, rund 500 in den Reutlinger Werken.
  • In Schwäbisch Gmünd wurde schon 2017 mit dem Betriebsrat vereinbart, bis 2019 760 von rund 5.000 Stellen abzubauen. 2019 wurden von der Konzernleitung noch mal 1.000 mehr gestrichen, die bis 2023 abgebaut werden sollen.
  • In den Werken Bühl und Bühlertal sollen in den nächsten 2 Jahren 700 Vollzeitstellen wegfallen. Die IG Metall rechnet mit weiteren 400 Teilzeit- und Leiharbeitsstellen. Derzeit sind dort 3.700 Menschen beschäftigt, 400 wurden schon abgebaut.
  • In München steht ein ganzes Werk vor dem Aus, die Produktion soll ins Ausland verlagert werden.
  • Gleiches gilt für Bietigheim-Bissingen, wo noch 290 Menschen arbeiten.
  • Auch drei Gießereien sollen dichtgemacht oder verkauft werden. Das Werk in Göttingen wurde schon veräußert.

Welche Antwort gaben IG Metall, die Betriebsräte und die Belegschaften auf diesen Kahlschlag?

In Bühl oder Gmünd versuchten die Betriebsräte, den Abbau sozialverträglich zu gestalten, und auch bei den Beschäftigten überwiegt die Hoffnung, nicht betroffen zu sein. Die IG Metall spielt dieselbe Flöte. So bezeichnet der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Offenburg, Ahmet Karademir, die Ansage beim Abbau in Bühl als „Märchen“: „Das Märchen vom Vermeiden betriebsbedingter Kündigungen glaube ich nicht.“ Das heißt aber nicht, dass dagegen Widerstand organisiert werden soll, sondern Kollege Karademir will nur, dass dieses Märchen von der entlassungsfreien Entsorgung wahr wird. Und das reicht ihm wie dem Großteil der BürokratInnen in der IGM denn auch.

Ähnlich ist es in Stuttgart gelaufen. Es gab Anfang 2019 eine Protestkundgebung, dann wurde der Abbau gestaltet. In den großen Werken ist offensichtlich der Spielraum für eine „sozialverträgliche“ Lösung zwar nicht so groß wie bei Mercedes, aber groß genug, dass sich Betriebsräte und eine Mehrheit der Belegschaft damit arrangieren. Anders sieht es für kleinere Werke wie Bietigheim und München aus. Eine komplette Werksschließung lässt keinen Spielraum für das, was gerne „Sozialverträglichkeit“ genannt wird. Das Einzige, was im Bosch-Konzern hier geboten wird, ist die Möglichkeit, sich in anderen Werken zu bewerben. Das muss aber zu Konditionen des aufnehmenden Werkes geschehen, ist also eigentlich immer mit Lohnverlust und längeren Fahrtzeiten verbunden.

Belegschaften wie in München und Bietigheim müssen also kämpfen, wenn sie sich nicht abschlachten lassen wollen. München hat da aus dem Stand heraus einiges Neues ins Rollen gebracht. Bietigheim hat eine jahrzehntelange Tradition.

Kampfbetrieb Bietigheim

Die Belegschaft und ihr Betriebsrat haben die Kampfansage der Konzernführung im September 2020, also vor gut einem Jahr, mit einer Protestkundgebung beantwortet. Alle standen draußen, Delegationen von Mann+Hummel, Mahle Mühlacker, Bosch Waiblingen, LEAR Corporation, Elring Klinger, Porsche Zuffenhausen, Valeo und anderen zeigten ihre Solidarität. Der Erste Bevollmächtigte, Matthias Fuchs, forderte eine Zukunft für den Produktionsstandort, der lokale SPD-Vorsitzende auch und Bernd Riexinger von der LINKEN ein Vetorecht der Belegschaften gegen Verlagerungen und stellte fest: „Die angedrohte Schließung hat nicht mit Corona und sehr wenig mit Transformation zu tun.“ Überall Plakate der IG Metall: Solidarität gewinnt!

Schon in der folgenden Woche beteiligten sich die BoschlerInnen an einem ähnlichen Protest bei Mahle Mühlacker. Sie wurden fast ein Jahr nicht müde, ein Netz der Solidarität zu knüpfen mit allen bedrohten Betrieben. In der Stadt Bietigheim wurden 60 Plakate aufgehängt, die den Kampf öffentlich machten.

Auch die Tarifrunde im Frühjahr 2021 wurde zur Mobilisierung genutzt. Aber schon brechen andere Betriebe weg: Bei Mann+Hummel wie im Mahle-Konzern wurde der Personalabbau samt Werksschließungen von den (Gesamt)-Betriebsräten und der IG Metall akzeptiert. Die Chance, im Tarifkampf Streiks organisieren zu können, wurde von der IG Metall-Führung nicht genutzt, ja noch nicht einmal in den Strukturen diskutiert.

Die Konzernführung von Bosch aber ließ nicht locker. In den Verhandlungen am 9. Oktober 2020 erklärte sie, eine Einigungsstelle anrufen zu wollen, obwohl reguläre Verhandlungstermine bis einschließlich Ende November vereinbart waren. Das empörte die IG Metall: „Mit dieser Vorgehensweise und seiner Presseerklärung vom 9. Oktober 2020 manifestiert der Arbeitgeber den Bruch des laufenden Sozialtarifvertrages“. Der Betriebsrat kommentierte: „Es ging dem Arbeitgeber nur darum, eine Zustimmung zur Werksschließung zu erhalten.“

In dieser Situation schlug der IG Metall- Bevollmächtigte vor, für einen Zukunftstarifvertrag zu kämpfen. Bei einer Umfrage stimmten 93 % der IG Metallmitglieder dafür und 81,5 % erklärten sich bereit, dafür auch in den Streik zu gehen.

Der Streit um eine Einigungsstelle kam vor das Landesarbeitsgericht und dort eine dreitägige Mediation als Kompromiss heraus. Die IG Metall hatte den Vorschlag gemacht. Die Mediation scheiterte und so ging es im April zu Einigungsstelle. Unter dem Vorsitz eines Richters wurde verhandelt. Die Schließung als solche konnte damit nicht mehr in Frage gestellt, sondern es durfte nur über die Bedingungen dieser verhandelt werden.

Die Beschäftigten und der Betriebsrat fühlten sich verschaukelt. Einige erwarteten, dass die IG Metall ja immer noch die rote Karte „Streik“ ziehen könnte. Aber der Bezirksleiter Zitzelsberger winkte ab: „Wozu noch für einen Sozialtarifvertrag streiken, ihr habt doch einen super Sozialplan ausgehandelt?!“

Warum die Niederlage?

Viele im Werk einschließlich vieler Betriebsräte wollen sich noch immer nicht damit abfinden. Die Belegschaft und der Betriebsrat haben alles getan, was für sie im Bereich des Möglichen war:

  • Den Widerstand im Betrieb organisiert, und zwar rechtzeitig;
  • Streikfähigkeit hergestellt;
  • die Solidarität in der Region organisiert, mit Unterstützung der IG Metall, aber ausgehend von ihrer eigenen Initiative;
  • andere Belegschaften, Parteien und Organisationen eingebunden;
  • die Tarifrunde genutzt, um erneut den Schulterschluss mit anderen Belegschaften und Hunderttausenden anderen Metallerinnen und Metallern zu suchen.

Die Frage geht also an die IG Metall, die Bezirksleitung Stuttgart und den Vorstand in Frankfurt: Warum wollte die IG Metall keinen Streik? Dieser wäre im Rahmen der Tarifrunde rechtlich unangreifbar gewesen, wenn er im ganzen Tarifgebiet ausgerufen worden wäre. Die Frage der Arbeitsplätze war übrigens von der IGM selbst schon zum Thema der Tarifrunde gemacht worden.

Auch die Möglichkeit eines Streiks um einen Sozialtarifvertrag wurde von der IG Metall einfach fallengelassen. Der Sozialtarifvertrag ist eine zweischneidige Sache: Offiziell geht es um die Abwicklung des Betriebes, aber mit Streik kann natürlich mehr Druck entfaltet werden. Die Streikenden kämpfen eigentlich für ihre Arbeitsplätze und die Zusagen der IG Metall-Zuständigen, dass man dort noch mal den Erhalt des Werkes fordern könne, werden in den Verhandlungen dann immer schnell fallen gelassen und die Streikenden fühlen sich genauso verkauft wie jetzt die Bietigheimer BoschlerInnen. Bei Voith in Sonthofen wurde das 2019 beispielhaft durchgespielt. Um den Streik um einen Sozialtarifvertrag wirklich als Kampf zur Verteidigung eines Werkes zu führen, muss er also mit anderen Maßnahmen und Forderungen verbunden werden.

Es muss ernst gemacht werden mit der Verteidigung des Werkes. Am besten durch eine Besetzung, verbunden mit einem Streik oder gegebenenfalls mit der Fortführung der Produktion unter Kontrolle der Arbeitenden – insbesondere, wenn die produzierten Güter ein Druckmittel darstellen. Natürlich muss der besetzte Betrieb rund um die Uhr geschützt werden. Ein wichtiges Faustpfand ist auch die Bereitschaft anderer Belegschaften des Konzerns oder der Region, sofort Solidaritätsstreiks zu organisieren, wenn die Firma eine Räumung anstrebt.

So eine Besetzung ist auch ein guter Schritt, in Richtung für die entschädigungslose Enteignung des Betriebes zu kämpfen, den die KapitalistInnen stilllegen wollen. Statt Milliarden an die Unternehmen für eine angebliche „Transformation“ zu zahlen und es diesen völlig unkontrolliert zu überlassen, was sie damit anstellen, könnten diese Beträge an die Belegschaft des Werkes gehen, zur Entwicklung und Produktion der Verkehrsmittel, die für eine Verkehrswende nötig sind. Das Geld wäre unter Kontrolle der Belegschaft, in die Entscheidungen über Entwicklung und Produktion kann diese mit der Klimabewegung, aber auch anderen verstaatlichten Betrieben kooperieren.

Was will der IG Metall-Vorstand?

Warum ist der gemeinsame Kampf in der Auto- und Zulieferindustrie kein Thema für die IG Metall? Warum gibt es keine Branchenkonferenz der Betriebe, die bedroht sind? Warum keine Konferenz aller Bosch-Belegschaften, die mit Abbau konfrontiert sind? Warum noch nicht mal eine Übersicht über die Angriffe auf die Arbeitsplätze auf den Webseiten der IG Metall?

Wozu gibt es eigentlich Gesamtbetriebsräte bei Bosch und was koordinieren die, wenn sie die Verteidigung der Arbeitsplätze NICHT koordinieren? Was tut die IG Metall eigentlich im Aufsichtsrat, mit Jörg Hofmann an der Spitze? Stimmen die solchem Abbau und den Werksschließungen zu?

Wenn das eine Strategie sein soll, nach der der IGM-Vorstand sein Vorgehen bestimmt, dann kann diese Mischung aus Widerstand zulassen, aber nicht fördern und notfalls ins Leere laufen lassen nur bedeuten, dass die ganze Umstrukturierung, die hier die Konzerne vorantreiben, mit der unausgesprochenen Zustimmung des Vorstandes geschieht. Das würde bedeuten, dass er die Ziele der Unternehmen teilt: Gewinne hoch, Arbeitsplätze streichen oder verlagern, Kosten reduzieren. VDA-Chefin Müller sagt das so: „Unsere Unternehmen treiben die Transformation – mit Überzeugung und mit Kreativität.“ Und die IG Metall lässt sie treiben.

Das ist nur so zu erklären, dass sich die oberste Spitze der IG Metall-Bürokratie so sehr dazu verpflichtet sieht, die deutschen Autokonzerne im Kampf um den Weltmarkt mit allen Mitteln zu unterstützen, dass sie bereit ist, die Arbeitsplätze von Hunderttausenden, vor allem auch in der Zulieferindustrie, zu opfern. Dass dies keineswegs abwegig ist, belegt die Tatsache, dass diese IGM-Spitze auch bereit war, die Leiharbeit in der Autoindustrie zu akzeptieren – in der Spitze arbeiteten bis zu 100.000 Leute in Leiharbeit in den Autofirmen –, den Abgasbetrug zu decken wie auch die unsinnigen Abgasvorschriften in Brüssel durchzusetzen, dass sie den Angriff auf das Streikrecht mit der „Tarifeinheit“ durchsetzte.

Dieses Vorgehen von Hofmann und Co ist verheerend. Statt in einzelnen Betrieben mit guten Voraussetzungen zu Siegen zu kommen und mit diesen Leuchttürmen die IG Metall wieder voranzubringen, werden diese geschleift.

Wie Solidarität siegen kann

Aus der Aufzählung oben, was die IG Metall alles hätte tun können, bei Bosch, in der Region und in der Branche, wird klar, wofür alle die kämpfen müssen, die die Talfahrt der Gewerkschaft aufhalten, Arbeitsplätze Löhne verteidigen wollen.

Es gibt aber noch darüber hinaus die Chance der Transformation: Es werden ja Transportmittel gebraucht! Und zwar solche mit geringerem Energieverbrauch, mit nachhaltiger Energie betrieben, mit weniger Platzverbrauch für die Städte und Anschlussfähigkeit zwischen Stand und Land. Neue Lösungen sind nötig, neue Entwicklungen und kombinierte Mobilität!

Hier rächt sich, dass die IG Metall 2 Jahrzehnte keine Debatte über Klima und neue Technologien geführt hat, bis sie vor 3 – 4 Jahren unvorbereitet dem Kommando der Autokonzerne, alles auf das (batteriegetriebene) E-Auto zu werfen, gefolgt ist. Eigene Kompetenz der IG Metall wurde nicht entwickelt, eigene Ideen gibt es nicht. Es wird brav hinter den Konzernen und der Politik hergetrottet, der man dann immer noch die Schuld am Arbeitsplatzabbau zuschieben kann.

Bosch München

Die Belegschaft von Bosch in München hat gemeinsam mit AktivistInnen aus der Klimabewegung und linken GewerkschafterInnen den Ball selbst auf das Spielfeld geworfen. Sie fordern:

„Es gibt eine große Palette an Produkten, die hier im Werk hergestellt werden könnten und die für eine klimafreundliche Zukunft nützlich wären. In den letzten Jahren haben wir immer wieder Vorschläge für eine Transformation der Produktion hin zu klimafreundlichen Produkten unterbreitet. Diese wurden von Seiten der Geschäftsführung stets abgeblockt. Wir fordern hiermit den Erhalt des Werkes und eine Umstellung der Produktion hin zu klimafreundlichen Produkten. Durch den jahrelangen Verzicht auf Teile unseres Gehaltes und die oft jahrzehntelange Arbeit im Betrieb haben wir ein Anrecht auf dieses Werk erhalten. Wir fordern hiermit Bosch auf, das Werk zu erhalten und uns die Möglichkeit zu geben, die Produktion umzustellen.“

Auch diese Initiative von unten zeigt, was möglich ist: Anstatt die Klimakrise oder gar die Klimabewegung zu Sündenböcken für den Verlust des Arbeitsplatzes zu machen – was auch der VDA gerne tut – sehen die InitiatorInnen, dass die Geschäftsführung die Schuldigen sind und KlimaaktivistInnen Verbündete werden können. Gerade auch weil die massenhaft stattfindende Verlagerung von Produktion diese mitnichten sauberer macht.

Und: Die Klimabewegung ist derzeit die stärkste und mobilisierungsfähigste in Deutschland – eine ideale Bündnispartnerin für eine Gewerkschaft, wenn sie denn Verbündete gegen die Kapitalinteressen suchte.

Eine Gewerkschaft wie die IG Metall könnte in ein solches Bündnis noch Kraft einbringen, die die Klimabewegung nicht so einfach mobilisieren kann: die Kraft, das Kapital genau dort zu treffen, wo es ihm wehtut – in der Produktion bzw. derem Stopp durch Streik! Sie könnte die Betriebe, die Bosch schließen will, auch besetzen. In der IGM-Satzung steht die Forderung nach der Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeineigentum. Wann, wenn nicht heute, hat diese Forderung überhaupt einen Zweck?

Ihre Umsetzung müsste natürlich diskutiert werden: Was heißt „Gemeineigentum“

eigentlich heute? Nachdem sowohl mit BRD- wie mit DDR-Staatsbetrieben nicht die besten Erfahrungen gemacht worden sind? Aber Betriebe, die ein Konzern schließen will, könnten enteignet werden. Die Regierungsmilliarden für Transformation der Autoindustrie könnten genau dort eingesetzt werden. Die Entwicklung und Produktion in einem Verbund solcher Werke soll von Beschäftigten demokratisch organisiert und kontrolliert werden in Verbindungen mit ExpertInnen für Klima und Mobilität aus der Bewegung. Das Management wird eingespart: „ArbeiterInnenkontrolle“ in Zeiten der Klimakatastrophe!

Was tun?

Vieles! Einerseits muss eine solche Diskussion in Gewerkschaften und Klimabewegung, welche ja ihrerseits sehr gegenüber der IndustriearbeiterInnenschaft fremdelt, eingebracht werden.

Andererseits können wir nicht zusehen, wie eine (Kampf)-Belegschaft nach der anderen liquidiert wird und die KapitalistInnen ihr Ziel der Vernichtung von 178.000 Jobs bis in 4 Jahren erreichen.

Wir müssen da, wo wir können, selbst den Widerstand organisieren! Zum Beispiel eine Kundgebung vor Bosch in Stuttgart Feuerbach aus allen Werken – auch ohne IG Metall, wenn diese sich weigert. Auch eine kleinere Aktion dieser Art könnte ein Zeichen setzen, anderen Belegschaften Hoffnung machen und die Diskussion in der IG Metall, in der Branche, aber auch in der Klimabewegung beflügeln.

Ein guter Ansatzpunkt in diesem Sinne war die Aktion am 19.10.2021 vor Mahle-Behr in Feuerbach.

Wir könnten ein bundesweites „Solidaritätsnetz Auto“ bilden, das alle Kämpfe unterstützt und Belegschaften berät, bevor sie im Stich gelassen werden. Von den bitteren Erfahrungen von Bosch-Bietigheim sollten wenigstens andere profitieren.




Afghanistans Wirtschaft im freien Fall

Martin Suchanek, Neue Internationale 260, November 2021

Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Ökonomie des Landes faktisch zusammengebrochen. Sein BIP soll nach Prognosen des IWF um bis zu 30 % schrumpfen – und dies, nachdem die Wirtschaft faktisch schon seit Jahren am Boden liegt.

Schon vor dem Sturz des westlichen Marionettenregimes Ghani und dem Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten prägten Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Armut das Leben der Massen auf dem Land und in den städtischen Slums. Zwei Drittel der Bevölkerung lebten unter der Armutsgrenze. Dies war eine direkte Folge des Beharrens der USA und ihrer Verbündeten auf dem „Freihandel“, der das Land für eine Flut billiger Waren öffnete, mit denen die heimische Wirtschaft nicht konkurrieren konnte. Dies galt insbesondere für die Landwirtschaft, was zu einer Flucht in die Städte führte, während das Land weiterhin unter der Kontrolle der traditionellen Führer blieb.

Doch nun droht eine humanitäre Katastrophe. Ein Drittel der Bevölkerung – also rund 12 der 37 Millionen – leidet unter Hunger und Unterernährung. Ohne rasche und massive Hilfe droht Millionen der Tod.

Ursache: Imperialismus

Für die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind die ehemaligen Besatzungsmächte zu einem großen Teil verantwortlich. Nach dem Abzug der US/NATO-Truppen und dem Sieg der Taliban wurden die westlichen Hilfsgelder mit einem Schlag gestoppt.

Dabei waren es jene Finanzmittel, die in den letzten Jahrzehnten das Land überhaupt am Laufen hielten. Unter der Herrschaft der USA und ihrer Verbündeten wurden rund 40 % des afghanischen Bruttoinlandsproduktes aus internationalen Hilfsgeldern bestritten, 60 – 70 % der Staatsausgaben finanzierten die Geberländer aus dem Westen oder dem Arabischen (Persischen) Golf. Nach der Machtübernahmen der Taliban kamen diese Quellen zum Erliegen. Außerdem froren die USA und andere westliche Staaten die Reserven Afghanistans ein. Den größten Teil davon, rund 7 Milliarden US-Dollar, kontrolliert seither die US-amerikanische Notenbank, die Federal Reserve. Die Regierung Biden hat sich faktisch den größten Teil der Geldreserven angeeignet und verfügt über diese seither als Mittel zur Erpressung des Regimes in Kabul.

Mit verheerenden Folgen für die afghanische Wirtschaft! Der drastische Einbruch des BIP geht mit einem Zusammenbruch des Bankensystems, der Geldzirkulation und einer rasenden Inflation einher. Kein Wunder, dass alle, die irgendwie konnten, in den letzten Monaten ihre Bankkonten leerten, was wiederum die Geldkrise zusätzlich verschärfte. Geschäfte, Restaurants und die öffentliche Verwaltung sind zu größten Teilen geschlossen, Staatsbedienstete erhalten keine Löhne, weil der Staat faktisch pleite ist.

Da Afghanistan kaum über industrielle Produktion verfügt und die Landwirtschaft infolge von Krieg, Besatzung sowie klimatischer Veränderungen und zunehmender Dürren am Boden liegt und die eigene Bevölkerung nicht ernähren kann, droht nun eine Hungerkatastrophe. Die Inflation und der Zusammenbruch der Geldzirkulation bedeuten auch, dass auch viele Waren unerschwinglich werden – vor allem Lebensmittel, Brennstoffe für die Heizungen und auch Geld für die Miete. Mit dem Winter droht also auch das Frieren.

Die Politik des westlichen Imperialismus und vor allem der USA folgt einem menschenverachtenden zynischen Kalkül. Sie nimmt Elend, Hunger und Kälte bewusst in Kauf und nutzt sie als politische Druckmittel. Nachdem die Taliban militärisch gesiegt haben, sollen sie durch finanziellen Druck – einschließlich des zumindest zeitweiligen Raubes ihrer Devisenreserven – gefügig gemacht werden.

Das Sperren von Hilfsgeldern durch die NATO, die USA oder auch die Bundesrepublik wird hierzulande gern als Akt der Unterstützung der Bevölkerung dargestellt. In Wirklichkeit ist es Teil eines zynischen Spiels, um Einfluss auf die Zukunft des Landes zu sichern. Selbst wenn es zu „humanitären“ Abkommen mit den Taliban und einigen Hilfsgeldern kommen sollte, werden die westlichen Staaten darauf bestehen, dass sie oder mit ihnen verbundene NGOs die Verteilung der Gelder kontrollieren.

Wirtschaftlich befindet sich das Regime in Kabul in einer prekären Lage. Als Alternative zum Westen hoffte das Taliban-Regime auf den globalen Gegenspieler der USA, auf China, sowie auf bessere Beziehungen zu Pakistan, Iran und Russland.

Doch auch China und die anderen Mächte in der Region verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen. Falls Peking den Taliban finanziell unter die Arme greifen sollte, so nur im Austausch für politische und wirtschaftliche Zugeständnisse. Dies würde erstens die Ausschaltung von ISIS-Chorasan, einer ultrareaktionären Dschihadisten-Truppe, die im Land gegen die Taliban kämpft und auch von China als Bedrohung betrachtet wird, der Ostturkestanischen Islamischen Bewegung (separatistische Strömung unter den chinesischen UigurInnen) und aller anderen islamistischen Gruppierungen betreffen, die als Sicherheitsrisiko für die Ordnung in benachbarten Staaten und die Neue Seidenstraße betrachtet werden. Zweitens würde es bedeuten, dass China ein privilegierter Zugriff zu den reichen, wenn auch bislang nicht erschlossenen Bodenschätzen des Landes gewährt wird. Im Gegenzug könnte Afghanistan Hilfsgelder erhalten, die das Land am Laufen zu halten.

Brandbeschleuniger Taliban-Regime

Neben der erpresserischen Politik der verschiedenen imperialistischen Mächte darf der zweite Faktor nicht vergessen werden, der die aktuelle Misere noch verschärft: die theokratische Diktatur der Taliban selbst. Als Organisation verfügen die Taliban nicht über die Voraussetzungen, um das Land zu regieren. Ihre Fähigkeit, im ganzen Land Kräfte gegen die verhassten BesatzerInnen zu mobilisieren und sich dabei vor allem auf lokale Führer und Geistliche zu stützen, hat keine nationale Verwaltung geschaffen, auch nicht auf militärischer Ebene. Nun droht der Zerfall, die vorhandenen zentralen Stellen zu untergraben.

Natürlich hätten jede Gesellschaft und jedes politische Regime bei einem Wegfall eines Drittels des BIP und von zwei Dritteln des Staatshaushaltes mit einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe zu kämpfen.

Aber den Taliban geht es zuerst um die Sicherung ihres neuen, islamistischen Regimes. So forcieren sie seit der Machtübernahme den Ausschluss der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und gehen daran, deren begrenzte Rechte durch Repression, öffentliche Angriffe, Erniedrigung bis hin zur Verfolgung von Vorkämpferinnen für die Rechte der Frauen zu beschneiden. Vor allem aber sollen Frauen aus vielen Berufen verdrängt, ausgeschlossen oder auf eng umrissene Bereiche beschränkt werden, vor allem aus der öffentlichen Verwaltung, dem kulturellen Leben, dem Gesundheitswesen, den Universitäten und Schulen.

Die frauenfeindliche, reaktionären Politik bedeutet zugleich, dass qualifizierte Fachkräfte am Arbeiten gehindert werden, dass das wirtschaftliche und soziale Leben weiter zerrüttet wird.

Was auf die systematische geschlechtliche Unterdrückung zutrifft, lässt sich auf allen anderen Gebieten des gesellschaftlichen und politischen Lebens finden – der Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse, der BäuerInnenschaft, der Intelligenz, nationaler und religiöser Minderheiten wie der Hazara.

Die despotische Politik der Taliban, die Angst vor Unterdrückung und Verfolgung bis hin zum Mord treibt ebenso wie der Hunger Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht. Schon jetzt leben rund 3 Millionen allein in Pakistan und im Iran. In den kommenden Wochen werden die Lager in den Grenzregionen dieser Länder und in Tadschikistan weiter anwachsen. Die meisten, die Repression, Hunger und Not entkommen wollen, sind jedoch Binnenflüchtlinge. Und die Zahlen steigen.

Was tun?

Die Verhinderung der unmittelbar drohenden humanitären Katastrophe, der Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen infolge von Armut, Hunger und Kälte zum Opfer zu fallen drohen, muss unmittelbar im Zentrum jeder fortschrittlichen und internationalistischen Politik stehen.

Das bedeutet vor allem in den westlichen Staaten, die über Jahrzehnte Afghanistan besetzt und kontrolliert haben, dafür zu kämpfen, dass die US-Regierung und ihre Verbündeten nicht weiter ihre finanziellen Ressourcen als Mittel zur politischen Erpressung nutzen können. Die USA muss zur Herausgabe der Reserven ohne jegliche Bedingungen gezwungen werden. Wir müssen außerdem die Freigabe von Hilfsgeldern zur Sicherung des Überlebens in Afghanistan wie in den Flüchtlingslager fordern sowie die Öffnung der Grenzen zur EU, in die USA oder nach Britannien für alle Geflüchteten, die in diese Länder wollen.

So wenig wie einer der imperialistischen Machtgruppierungen die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgeldern anvertraut werden kann, so wenig Verlass ist auf das Regime in Kabul, solche Gelder und Güter gerecht zu verteilen.

Aufgrund der despotischen, brutalen Herrschaft der Taliban und ihrer Unterdrückungsmaschinerie kann ein Kampf um die Verteilung der Hilfsgüter von Gewerkschaften, Linken und demokratischen Frauenorganisationen nur unter Bedingungen der Illegalität geführt werden. Dennoch besteht die unmittelbare Priorität darin, soweit wie möglich lokale, demokratisch kontrollierte Organisationen zu bilden, die die Verteilung der beschaffbaren Hilfsgüter überwachen.

Die heroischen Demonstrationen von Frauen um ihr Recht auf Arbeit im September zeigen jedoch, dass die Herrschaft der Islamisten noch nicht voll konsolidiert ist. Die aktuelle, sich vertiefende Krise erschwert die Festigung der Taliban-Herrschaft zur Zeit und eröffnet einen Spielraum zur Mobilisierung um Fragen der Versorgung der Bevölkerung und die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern und knappen Ressourcen. Das Aufgreifen der Überlebensfragen von Millionen erlaubt zugleich, den Kampf gegen das Taliban-Regime zu entfachen.

Lehren

Für diese Perspektive sind zwei politische Lehren von zentraler Bedeutung: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben.

Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet; mit Organisationen, die bei einer Zuspitzung des Klassenkampfes zu Organen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung geraten können.