Ver.di: Vor einem Streikjahr?

Helga Müller, Neue Internationale 271, Februar 2023

In diesem Jahr stehen mindestens 5 größere Tarifrunden in Deutschland an! In diesem Frühjahr allein 3 wichtige Tarifrunden: bei der Post, im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen und im Nahverkehr Bayern. Es folgen die bei der Bahn und im Herbst im öffentlichen Dienst der Länder.

Und die Gehaltsforderungen lauten: bei der Post: 15 %, im öffentlichen Dienst und beim Nahverkehr Bayern 10,5 % und mindestens 500 Euro Festgeld. Letzterer hat bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen. Sie verkörpern allesamt einen realen Ausgleich gegen die galoppierenden Inflation. Voraussetzung dafür wäre natürlich ihre volle Durchsetzung.  Dies ist nur möglich, wenn sich die Verantwortlichen von ver.di schnell dazu entscheiden, eine Urabstimmung für Erzwingungsstreiks durchzuführen.

Kampfstärke und Erfolgsaussichten

1. Alle Forderungen sind von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt worden. Bei der Post z. B. hatten sich die gewerkschaftlich organisierten Kolleg:innen bei einer Mitgliederbefragung für eine deutlich höhere Entgeltforderung als die von der Tarifkommission (TK) vorgeschlagenen 10 % ausgesprochen und 90 % derjenigen, die sich an der Befragung beteiligten, waren auch bereit, dafür Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen. Daraufhin hatte sich die TK zu der Tarifforderung von 15 % durchgerungen und eine Erhöhung für die Azubis von 200 Euro beschlossen. Auch bei ver.di gab es deutlich höhere Forderungen aus den Reihen der Kolleg:innen – bis zu 19 % –, die sie auch gegenüber der TK vehement vertreten hatten. Gerade die Festgeldforderung von 500 Euro würde für viele von ihnen, die sich in den unteren Entgeltgruppen befinden und besonders hart unter der Preissteigerung leiden müssen, eine Erhöhung von bis zu 21 % bedeuten.

2. In vielen Bereichen existiert auch eine hohe Bereitschaft, dafür in den Streik zu gehen. Bei der Post sind die Voraussetzungen besonders günstig, der Organisationsgrad hier ist traditionell sehr hoch. Dieser liegt bei 70 % bundesweit – wobei es hier auch starke regionale Unterschiede gibt. Vor allem bei Dienststellen mit vielen Teilzeit- oder befristeten Beschäftigten liegt der Organisationsgrad unter 50 %. Alles in allem jedoch gute Voraussetzungen, um einen Durchsetzungsstreik auszuhalten. Auch die bisherigen Warnstreiks werden von den Kolleg:innen sehr gut befolgt. Sie werden trotz anstrengender Arbeit schlecht bezahlt, verdienen im Bundesdurchschnitt 1.000 Euro weniger als andere Beschäftigte im Monat und mussten dazu noch einen Reallohnverlust von 7 % im Jahr 2022 erleiden. Die Arbeitsbedingungen werden von Jahr zu Jahr schlechter z. B. über ständig wechselnde und größere Zustellungsgebiete, sodass viele sich eine andere Arbeit suchen. Allein 2021 haben 10.000 Beschäftigte den Konzern verlassen. Gleichzeitig hat er 8,4 Milliarden Euro Gewinn eingefahren – das beste Ergebnis aller Zeiten! Dies alles wird die Kampfmoral zusätzlich steigern.

Auch wenn der öffentliche Dienst insgesamt nicht so gut organisiert ist, gibt es dort durchaus Bereiche wie Müllabfuhr, Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen und auch Belegschaften in einigen Krankenhäusern, die schon über viel Kampferfahrung verfügen. Zudem haben die dortigen Bewegungen in NRW und Berlin gezeigt, dass, wenn ein systematischer Mitgliederaufbau betrieben wird und die Kolleg:innen selbst über ihre Forderungen und die Vorgehensweise diskutieren und mitentscheiden können, auch wochenlange Durchsetzungsstreiks in diesen Bereichen möglich sind. Wie groß wäre erst wohl die Kampfstärke, wenn sie die komplette demokratische Kontrolle über den Kampf ausübten?

Im Nahverkehr sind die Kampferfahrungen hoch und selbst gut organisierte kurze Warnstreiks können sehr schnell den öffentlichen Nahverkehr lahmlegen, was den Druck auf die Kommunen erhöht. Hierbei muss gesagt werden, dass bundesweit betrachtet der Nahverkehr ein zerzauster Tarifflickenteppich ist. Während in Bayern dieses Jahr in der Runde des öffentlichen Dienstes mitverhandelt wird (aber auch hier nur bei den Betrieben, die in kommunaler Hand sind), sind andere erst nächstes Jahr dran. Zudem gibt es einige Betriebe mit Haustarifverträgen, z. B. die Berliner Verkehrsbetriebe oder die Hamburger Hochbahn. Das schwächt natürlich die Kampfkraft.

3. Zum anderen sind die Bedingungen auch deswegen günstig, da drei große Tarifrunden fast zeitgleich stattfinden: Die TK bei der Post verhandelt insgesamt für ca. 200.000 Beschäftigte (155.000 bei der Deutschen Post und 37.000 bei DHL), im öffentlichen Dienst für ca. 2,3 Mio. bei Bund und Kommunen und beim Nahverkehr Bayern für mehrere Tausend. Das sind über 2,5 Millionen Beschäftigte insgesamt!  Wenn diese in einer großen Tarifbewegung mit gemeinsamen Durchsetzungsstreiks und öffentlichkeitswirksamen Aktionen von den ver.di-Verantwortlichen zusammengeführt würden, wäre dies eine Kraft, die den Regierungen das Zittern beibrächte – ähnlich wie 1992 beim großen Streik im öffentlichen Dienst, bei dem auf dem Höhepunkt  sich zeitweilig mehr als 330.000 Arbeiter:innen und Angestellte im Ausstand befanden. Das wäre auch die Kraft, die eine Abwälzung der Krise auf die breiten Massen der Lohnabhängigen und Arbeitslosen, Rentner:innen, Jugendlichen und Migrant:innen verhindern könnte.

Die Kolleg:innen im Nahverkehr Bayern haben sehr bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen und sich für gemeinsame Aktionen und Arbeitskampfmaßnahmen ausgesprochen. Zu Anfang war das wohl auch der Wille der TK bei der Post. Mittlerweile haben aber die Mitglieder dort bereits die zweite Verhandlung hinter sich, in denen sich die Vertreter:innen der Post stur stellen und die Forderung nach wie vor ablehnen und für überzogen halten. Die 3. und vorerst letzte Tarifverhandlung findet dort am 8./9. Februar statt, im öffentlichen Dienst die erste Verhandlung erst am 24. Januar. Ob es nach einem letzten schlechten Angebot von Arbeit„geber“:innenseite dann tatsächlich zu einer anschließenden Mitgliederbefragung und Urabstimmung über einen unbefristeten Streik kommt, wissen bisher nur die Götter! Insofern stehen die Postkolleg:innen im Moment alleine da und entsprechend provokativ verhalten sich auch die Konzernverhandlungsführer:innen

4. Zum Vierten haben sich verschiedene Initiativen, darunter die Kampagne „Genug ist Genug“ (GiG) und die Berliner Krankenhausbewegung dazu entschieden, Solidaritätsaktionen bis hin zu einer Großdemo in Berlin am 25. März zu organisieren. Auch auf der Videokonferenz  von GiG zur Information über darüber mit den Postkolleg:innen am 12. Januar gab es verschiedene Ideen zur Unterstützung ihrer Tarifrunde. Alle dort Postler:innen betonten die Notwendigkeit der öffentlichen Unterstützung. Sei es einfach, dass man zu Kundgebungen und Streiks kommt und seine Solidarität bekundet oder einfach ein paar unterstützende Worte vorträgt bis dahin, ihre berechtigten Anliegen in der Öffentlichkeit klarzumachen. Denn bei den Verhandlungen versuchen die Vertreter:innen des Unternehmens, die Forderungen für vollkommen überzogen und realitätsfern hinzustellen. Um sich diesen Verunglimpfungen in den Weg zu stellen und damit auch die aktive Solidarität der Leute in den Stadtvierteln zu gewinnen, ist die Unterstützung von außen sehr wichtig, z. B. mit Flyern, in denen die Forderungen begründet werden und darauf hingewiesen wird, unter welch miserablen Bedingungen sie arbeiten müssen. Am 3./4. März will GiG eine bundesweite Aktionskonferenz in Halle (Saale) organisieren, auf der mögliche Unterstützungsaktionen für die Kolleg:innen in den anderen Tarifrunden besprochen werden.

Schulterschluss mit fortschrittlichen Bewegungen

Im Bereich Nahverkehr – der großteils erst 2024 in Verhandlungen einsteigt – gibt es aus früheren Tarifrunden noch zahlreiche Verbindungen zur Klimabewegung und auch in dieser wird es zu gemeinsamen Aktionen mit ihr kommen! Hier gibt es auch ein ganz klares gemeinsames Interesse: Ausbau des öffentlichen Nah- statt Individualverkehrs und Aufbau des entsprechenden Personals – eine der Forderungen der dort tätigen Beschäftigten. Dies durchzusetzen, geht nur gemeinsam mit Aktivist:innen aus der Klimabewegung und Kolleg:innen anderer Bereiche.

Tarifrunde und Internationaler Frauenkampftag

Last but not least fällt der Tarifkampf – zumindest im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr und evtl. auch bei  der Post, falls es nicht vorher zum Abschluss kommen sollte – auf den Internationalen Frauenkampftag am 8. März. Wie im letzten Jahr sollen Aktionen und Demonstrationen an diesem Tag zusammen mit den Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst und Nahverkehr gemeinsam durchgeführt werden. Doch bisher lehnt der ver.di-Bundesvorstand es ab, an diesem Tag zu Warnstreiks aufzurufen. Nichtsdestotrotz gibt es im Landesbezirk Baden-Württemberg eine Initiative, an diesem Tag ausgewählte Mitglieder zu Arbeitsstreiks aufzurufen, einer Art Vorstufe zu Warnstreiks. Bei der Krankenhausbewegung spielte das in Berlin und NRW eine Rolle zur Sammlung einiger Hundert führender Aktien in Vorbereitung auf einen größeren Arbeitskampf. Gegen diesen Beschluss sollten nichtsdestotrotz alle ver.di-Gliederungen Protestresolutionen verabschieden.

Kampfesführung

Das A und O dafür, dass die Kämpfe erfolgreich geführt, also alle Forderungen erfüllt werden können, bleibt, dass die Kolleg:innen sich dafür einsetzen, auf breiten Streikversammlungen über den Verhandlungsstand informiert zu werden, diskutieren und entscheiden zu können, wie ihr Kampf weitergeführt wird. Diese Entscheidungen müssen sowohl für die TK als auch den Bundesvorstand, der letztlich über die Streiks entscheidet, bindend sein! Um diese Diskussionen organisiert führen zu können, sind gewählte Streikkomitees notwendig, die gegenüber den streikenden Kolleg:innen rechenschaftspflichtig und von ihren Vollversammlungen jederzeit abwählbar sind. D. h., diese müssen sich dafür einsetzen, dass sie selbst die Kontrolle darüber erringen. Erste Elemente dieser elementaren Arbeiter:innendemokratie haben sich in den beiden Krankenhausbewegungen von Berlin und NRW herauskristallisiert. Letzten Endes ist das nur möglich, wenn sich eine politische Kraft in ver.di und allen DGB-Gewerkschaften herausbildet, die bewusst den Kurs der Anpassung aller Gewerkschaftsführungen an Kapitalinteressen und angebliche Sachzwängen in einer antibürokratischen Basisbewegung bekämpft. Einen Ansatz dafür stellen heute die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und ihre lokalen Strukturen dar.

Vorsicht Falle! Schlichtungsabkommen kündigen!

Eine gefährliche Bremse für die konsequente Führung des Arbeitskampfs bildet das Schlichtungsabkommen zwischen ver.di-Spitze und öffentlichen Dienstherr:innen. Die VKG schreibt:

„Aufgrund der unnötig von ver.di unterschriebenen Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst hat sich die Gewerkschaft selbst dazu verpflichtet, sich bei einem Scheitern von Verhandlungen auf eine Schlichtung einzulassen, in der Friedenspflicht herrscht. Hier würde auch starker politischer Druck aufgebaut. Ver.di sollte diese Vereinbarung – sie ist bis einen Monat zum Quartalsende kündbar – sofort kündigen! Wenn die Schlichtung kommt, dann sollten Aktive darauf vorbereitet sein und massiven Druck von unten aufbauen, damit ein Schlichtungsergebnis – von dem schon jetzt klar ist, dass es nicht die notwendigen Erhöhungen beinhaltet – abgelehnt wird und unverzüglich Urabstimmung und Erzwingungsstreik erfolgen.“

Dem ist vollkommen beizupflichten und es ist rechtzeitig darauf zu drängen, dass der Gewerkschaftsvorstand es sofort kündigt, damit es ab April außer Kraft tritt. Diesbezügliche Petitionen sind zu verfassen, Mitglieder aus der VKG Berlin sind hier bereits mit gutem Beispiel in ihren jeweiligen Gewerkschaftsgliederungen vorangegangen. Unabhängig davon sollten alle Mitglieder sich nach Scheitern der Verhandlungen für die sofortige Einleitung der Urabstimmung einsetzen.




80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2

Leo Drais, Neue Internationale 271, Februar 2023

Am 2. Februar 1943 kapitulierten die ausgehungerten und halb erfrorenen Reste der 6. Armee im Kessel von Stalingrad. 80 Jahre später, in einer Zeit, in der der Krieg um die Neuaufteilung der Welt wieder auf europäischem Boden tobt, wird von allen beteiligten Seiten die Erinnerung an die Vergangenheit für den eigenen Zweck in die Gegenwart geholt. Es ist das Heute, in dem die Geschichte von gestern geschrieben wird.

Die russische Propaganda bemüht den Heldenmut der Roten Armee, bezieht sich auf die einstige sowjetische Größe, um im Krieg gegen die angeblich faschistisch beherrschte Ukraine eigene imperialistische Ansprüche moralisch zu verkleiden.

In Deutschland wird demgegenüber die Erinnerung an Stalingrad wie immer von einer Zahl begleitet: 6.000. So viele Wehrmachtssoldaten fanden den Weg zurück nach Deutschland und Österreich. 95 Prozent derer, die in Stalingrad kämpften, starben dort oder in Gefangenschaft. Es ist eine der Zahlen, die in der bundesdeutschen Geschichte betont wird, seit es sie gibt. Sie ermöglicht, dass die bürgerlich-demokratische Imperialistin Bundesrepublik als Nachfolgerin des Dritten Reichs gerade in der Erinnerung an die „bis zum Schluss treue 6. Armee“ auch eine psychologisch entlastende Opferrolle spielen kann.

Noch immer hält sich der keinen Fakten standhaltende Mythos einer neben SS und Gestapo „sauberen, unschuldigen“ Wehrmacht, die in Stalingrad zum doppelten Opfer wurde, eingekesselt von der Roten Armee, preisgegeben von Hitler. Auch wenn der Mythos nicht mehr offen aufrechterhalten wird, viele bürgerliche Historiker:innen, WELT und Co. hängen ihm unterschwellig nach – 6.000.

Leben und Schicksal

Weitgehend geschichts- und gesichtslos bleiben in der deutschen Geschichtsschreibung demgegenüber die, die in Stalingrad die Wende brachten und damit die Befreiung vom Faschismus einleiteten.

Wer sich diesem Blick nicht versperren will, sollte die monumentale Stalingrad-Dilogie von Wassili Grossman lesen. Der erste Teil, „Stalingrad“, zeichnet den Weg der sowjetischen Gesellschaft bis zum Wendepunkt der Schlacht, als nur noch wenige hundert Meter die deutschen Soldaten von der Wolga trennten. Er war Thema des ersten Teils der Buchbesprechung (https://arbeiterinnenmacht.de/2022/08/25/80-jahre-stalingrad-wassili-grossmans-epos-ueber-die-sowjetunion-im-krieg-teil-1/)

„Leben und Schicksal“ greift die Handlung wieder auf und führt sie bis zur Rückkehr evakuierter Stadtbewohner:innen in die Trümmer der Schlacht fort.

Es ist ein Werk, das weit über die Grenzen der Stadt hinausgeht und zu Recht als das „Krieg und Frieden“ des 20. Jahrhunderts gilt. Grossman nimmt uns mit in die Familie Schaposchnikow, deren Mitglieder den Krieg unterschiedlich erleben: Als Sohn, der als Soldat stirbt. Als Mutter, die um ihn trauert. Als Schwiegersohn, der im Kraftwerk „Stalgres“ arbeitet und durch seine Tochter in den Trümmern Großvater wird. Als evakuierte Großmutter, die ihre Tochter in den Bomben der Wehrmacht verlor. Als liebende Menschen vor einer Kulisse voller Tod und Gewalt.

Wir kommen mit in sowjetische Forschungseinrichtungen, wir kommen mit ins berühmte Haus 6-1 (Pawlowhaus), wo wir die Funkerin Katja Wengrowa kennenlernen, eine unterrepräsentative Darstellung der über eine Million Frauen in der Roten Armee.

Wir blättern um und landen in den Nächten der südrussischen Steppe, in den Gräben der Wehrmacht, in den Unterständen der sowjetischen Kommandanten, nachdem wir gerade noch in Kasan, in Moskau waren.

Und wir bekommen das Schicksal der sowjetischen Jüdinnen und Juden gezeigt.

Wassili Grossman hat seiner Figur Viktor Strum in einem fiktiven Brief die Worte geschrieben, die er von seiner Mutter nie erhielt: „Lebe, lebe, lebe ewig … Mama.“

Jekaterina Grossman wurde bei Berditschew (Berdytschiw) zusammen mit 30.000 anderen Jüdinnen und Juden ermordet.

Schoah und sowjetische Verharmlosung

Ihr ist „Leben und Schicksal“ gewidmet. In dem Brief, der ein ganzes Kapitel einnimmt, beschreibt Anna Strum, wie sich mit dem plötzlichen Auftauchen der Wehrmacht auch in der ukrainischen Bevölkerung der eliminatorische Antisemitismus Bahn bricht, Nachbar:innen zu Helfer:innen der Schoah werden. Schließlich werden junge Männer aus dem Ghetto geführt, um vor der Stadt ihre eigenen Massengräber auszuheben.

Mindestens 1.500.000 sowjetische Jüdinnen und Juden wurden in der Schoah ermordet. Obwohl die meisten von ihnen vor Ort erschossen wurden, zeichnet Grossman trotzdem den Weg der Stalingrader Jüdin Sofia Lewinton bis ins Lager und zu ihrer Ermordung in der Gaskammer.

Er verarbeitet dabei seine eigene Erfahrung des Vernichtungslagers Treblinka, dessen Befreiung er als sowjetischer Kriegsreporter miterlebte. Seine Eindrücke der Schoah in Osteuropa flossen ein in seine Mitarbeit am „Schwarzbuch“, das durch das Jüdische Antifaschistische Komitee erstellt wurde und das Schicksal der Jüdinnen und Juden in der besetzten Sowjetunion untersuchen sollte. Noch vor seiner Veröffentlichung wurde es von der sowjetischen Führung unterdrückt. Der großrussische Chauvinismus Stalins bekämpfte die Herausstellung des jüdischen Schicksals im Zweiten Weltkrieg unter dem Vorwand der Gleichheit, die es für nationale Minderheiten sowie Jüdinnen und Juden nicht gab. Stalins Begründung, alle Sowjets hätten gleichermaßen unter dem Faschismus gelitten, war letztlich eine Relativierung der Schoah.

Das und unter anderem die antisemitischen Kampagnen Stalins rund um die angebliche „Ärzteverschwörung“ waren es, die Grossmans Überzeugung in das stalinistische Sowjetsystem erschütterten. Dieser Wandel wird auch in den Unterschieden zwischen den beiden Teilen seines Werkes deutlich. Während „Stalingrad“ gegenüber der Bürokratie weitgehend kritiklos, jedoch auch alles andere als verherrlichend bleibt, offenbart „Leben und Schicksal“ eine scharfe Kritik an der stalinistischen Diktatur.

Abrechnung ohne Ausweg

So wird die Figur Viktor Strums zum Opfer einer antisemitischen Kampagne. Ihm droht, seine Stellung an einer Forschungseinrichtung zu verlieren. Er wird dann aber auf persönliche Intervention Stalins vollumfänglich rehabilitiert – Strum betreibt Kernforschung.

Anders ergeht es Nikolai Krymow, der sich als sowjetischer Emporkömmling und Kommissar bei der Truppe schließlich in der Lubjanka wiederfindet, dem Moskauer Gefängnis des NKWD. Auch wenn es offenbleibt, wird klar, dass sein Weg ins Arbeitslager des Gulagsystems führt.

Von der scheinbaren Freiheit der „Tauwetterperiode“ beflügelt, geht Grossman mit den Tabus des Stalinismus ins Gericht: 1937, den Moskauer Prozessen, der Vertreibung von Minderheiten, dem Hungertod Tausender. Er lässt seine Figuren über Trotzki und andere sprechen, von deren konterrevolutionärer Schuld sie nicht überzeugt sind. Er stellt dar, wie sehr Karrierismus und Intrigen die Köpfe der Wissenschaft, der Fabriken und der Roten Armee prägten. Bezeichnenderweise geht während der Siegesfeier von Stalingrad der betrunkene Armeegeneral Tschuikow gekränkt auf den von Chruschtschow bevorzugten Generaloberst Rodimzew los.

Dem KZ-Insassen Mostowskoi werden von einem SS-Mann die Parallelen des sowjetischen und faschistischen Terrors aufgedrängt. Er wehrt sich dagegen, fühlt die dahinterliegende Amoral des Nazis, und doch kann er sich gegen den Gedanken nur schlecht wehren. Es ist unter anderem diese oberflächliche Ähnlichkeit zweier Gewaltherrschaften, die bis heute den Sozialismus verfemt. Den dahinter stehenden Klasseninhalt des Nationalsozialismus, der den Kapitalismus rettete, und seinen Unterschied zum nichtkapitalistischen „Sozialismus“, der eigentlich Stalinismus war, kennen nur die wenigsten.

Trotzdem ist Grossman anders als andere Dissident:innen kein Restaurator des Kapitalismus. Im Gegenteil brandmarkt er das System und die Kaste Stalins als etwas, das sozialistischen Idealen widerspricht, fordert Demokratie und Freiheit für einen humanistischen Sozialismus. Und am Ende ist es ja dieser Unterschied, der den Kampf der Roten Armee für Revolutionär:innen unbedingt unterstützenswert machte – die Tatsache, dass die Sowjetunion trotz der Diktatur der Bürokratie gegenüber dem Kapitalismus näher am Sozialismus stand, sie geschichtlich betrachtet ein Fortschritt war.

An diesem Punkt offenbaren sich dann auch die Schwächen Grossmans, die allerdings weniger seine Schuld sind. Sie zeigen eher die Tiefe und Gründlichkeit, mit der der Stalinismus revolutionäres Bewusstsein in der Sowjetunion ausgerottet hatte. Der Weg zur Verwirklichung seiner Ideale im Sozialismus, der Gedanke einer politischen Revolution gegen die Bürokratie findet sich in seinem Roman nicht wieder – und er schafft damit ein Bild, das der sowjetischen Gesellschaft selbst entsprach.

Trotz Schwächen: Groß

Denn auch wenn in dem Buch eine Aufbruchstimmung spürbar wird, die die Schrecken der 1930er Jahre hinter sich lassen will, so bleibt Stalingrad doch zugleich auch Ausgangspunkt eines ideologischen Siegeszuges des Stalinismus, der sich als Befreier vom Faschismus gerieren und durchsetzen konnte und letztlich die Ausweitung seiner Herrschaft über Osteuropa erreichte. Revolutionäre Keime waren bald erstickt.

Das Fehlen einer Perspektive, die über Hoffnung und Humanismus hinausgeht, tut der Größe der beiden Romane keinen Abbruch, auch nicht, dass sie an manchen Punkten etwas ahistorisch sind  oder sich Grossman an den Romanfiguren Hitlers und Stalins überhebt. Denn anders als die sowjetische Literatur der Zeit zeigt Grossman kein voluntaristisches Bild vom idealen (eigentlich sich selbst fremden) Sowjetmenschen, sondern eines, das wie der Mensch selbst ist – unvollkommen und widersprüchlich, eines, das mit dem eigenen Gewissen ringt und gerade da zeigt, wie totalitäre Systeme psychisch wirken.

Letztlich scheiterte die Veröffentlichung von „Leben und Schicksal“ an eben diesem System. Anstelle einer Veröffentlichung in einer angeblich entstalinisierten UdSSR Chruschtschows wurde das Manuskript beschlagnahmt. Freund:innen und Bekannte Grossmans schmuggelten eine Kopie in den Westen, die dortige Veröffentlichung erlebte der Autor nicht mehr.

Dichtungen und Erinnerungen sind immer eine Reflexion der Realität, nie die Realität selbst. Hier schließt sich der Kreis zu den unterschiedlichen Betrachtung der Schlacht von Stalingrad.

Heute lernen wir aus den unterschiedlichen Gedenken an Stalingrad vielleicht mehr über die heutigen Historiker:innen, Ideolog:innen und Regierungen als über die Schlacht selbst. Aus Grossmans Prosa und seiner Entwicklung können wir erfahren, wie weit das Bewusstsein und die Hoffnung eines Menschen reichen konnten, der in der Sowjetunion gegen den Strom schwamm und zu einer eigenständigen Kritik an ihrem System fand, als viele vom „Genossen Stalin“ sprachen.

Und obwohl Wassili Grossman „Leben und Schicksal“ erfunden hat, glaubt man ihm hier etwas, was 2023 weder bei russischen noch westlichen Stalingrad-Rezeptionist:innen wirklich glaubhaft erscheint: die Suche nach Wahrheit.

Literaturempfehlungen zur Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

Grossman, Wassili: Stalingrad, Ullstein Berlin 2022

Grossman, Wassili: Leben und Schicksal, Ullstein Berlin 2020

Ehrenburg, Ilja / Grossman, Wassili / Lustiger, Arno: Das Schwarzbuch – Der Genozid an den sowjetischen Juden, Rowohlt, Reinbek 1995

Sowjetische Sichtweisen auf Stalingrad: Hellbeck, Jochen: Die Stalingrad Protokolle, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014

Zum Schicksal weiblicher Rotarmistinnen: Alexijwitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Suhrkamp Taschenbuch 2015

Marxistische Einordnung der Schlacht und des Krieges: Mandel, Ernest: Der Zweite Weltkrieg, isp-Verlag, Frankfurt am Main 1991




Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaftsbürokratie und Klassenbewusstsein

Mattis Molde, Neue Internationale 271, Februar 2023

Warum ziehen es die Gewerkschaften vor, sich mit Kanzler und Kapital an den Tisch zu setzen, statt auf der Strasse zu mobilisieren? Warum dürfen streikbereite Metaller:innen nicht streiken?

Die Krise der Gewerkschaften nahm in den letzten Jahren neue Dimensionen an. Sie erweisen sich hierzulande zunehmend als unfähig, die Reallöhne zu sichern. So führte die hohe Inflation im 3. Quartal 2022 zu einem Reallohnrückgang von durchschnittlich 5,7 %. Auch das gesamte Jahr war lt. Statistischem Bundesamt von einer solchen Entwicklung geprägt: 4. Quartal 2021: – 1,4 %, 1. Quartal 2022: – 1,8 %, 2. Quartal 2022: – 4,4 %.

Für 2020 (minus 1,1 %) und 2021 (- 0,1 %) weist das Bundesamt bereits einen Rückgang aus. Aber auch im Jahrzehnt davor bewegen sich die Reallohnzuwächse zwischen Stagnation und maximal 2 % (2015 und 2016).

Natürlich gab es nicht nur Niederlagen. In einzelnen Bereichen wie bei den Krankenhäusern oder auch in einzelnen Betrieben konnten durchaus vorzeigbare Teilerfolge verzeichnet werden. Aber an der allgemeinen Entwicklung ändert das leider nichts. Das betrifft nicht nur Löhne und Einkommen, sondern auch Arbeitsbedingungen, Schließungen und Personalabbau. Gerade wenn sie am meisten gebraucht werden, erweisen sich die Gewerkschaften als stumpfe Waffen.

Die Führungen der DGB-Gewerkschaften tragen dafür die politische Hauptverantwortung. Doch warum halten sie in Zeiten der Krise so verbissen an einer Politik der Sozialpartner:innenschaft, der Klassenzusammenarbeit und des Burgfriedens mit Kapital und Kabinett fest, die seit Jahrzehnten zu immer schlechteren Ergebnissen führt? Warum vermögen sie, weiter die Kontrolle über die Klasse aufrechtzuerhalten, ja teilweise sogar Zustimmung für ihre Politik zu organisieren?

Im Folgenden wollen wir zum Verständnis der Rolle der reformistischen Führungen und des bürokratischen Apparats beitragen, weil dies für revolutionäre Arbeit unerlässlich ist. Dazu ist  es notwendig, einige grundsätzliche Erwägungen über den Charakter des gewerkschaftlichen Kampfs selbst vorauszuschicken.

Gewerkschaftlicher Kampf

Der Kampf um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen (inklusive Versicherungen gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit, für Renten usw.) stellt eine grundlegende Form des Klassenkampfes zwischen Lohnarbeit und Kapital, einen „Kleinkrieg“ dar, ohne den die Lohnabhängigen nicht einmal in der Lage wären, ihre eigenen Existenzbedingungen zu sichern.

Mit dem Zusammenschluss zu Gewerkschaften macht die Arbeiter:innenklasse einen wichtigen Schritt vorwärts, wird nicht mehr zum reinen Ausbeutungsmaterial. Ihre Reaktion auf die Angriffe des Kapitals nimmt bewusstere, gezieltere Formen an.

Als Sammelpunkte des alltäglichen Widerstands leisten die Gewerkschaften auch praktische Dienste zur Entwicklung von elementarem, embryonalem Klassenbewusstsein. Dieses rein gewerkschaftliche Bewusstsein ist jedoch (ähnlich wie der Reformismus) kein proletarisches, revolutionäres Klassenbewusstsein, sondern letztlich eine Form bürgerlichen Bewusstseins.

Warum? Im Kapitalismus verschwindet die Realität der Ausbeutung, der Klassengesellschaft immer wieder hinter Formen der Gleichheit und Gerechtigkeit und es verbreitet sich ein Schein von Harmonie. Karl Marx erklärt in seiner Kritik der politischen Ökonomie nicht nur, wie Ausbeutung funktioniert, sondern auch, wie sie mit einer gewissen Zwangsläufigkeit unsichtbar gemacht und verschleiert wird. Der Kern dieser Verschleierung ist die Lohnform. Wir treten als freie und gleiche Warenbesitzer:innen auf den Arbeitsmarkt und verkaufen scheinbar unsere Arbeit. Dafür erhalte ich einen „gerechten“ Lohn. In Wirklichkeit, so Marx, habe ich aber meine Arbeitskraft, mein bloßes Vermögen, Arbeit zu verrichten, verkauft. Und der Wert dieser Ware wird wie der jeder anderen durch ihre Reproduktionskosten bestimmt. Ihr Gebrauchswert ist die lebendige Arbeit, das was ich unter den Anweisungen des/r Käufer:in meiner Ware tun muss – und aus diesem Gebrauchswert meiner Ware entspringt der Mehrwert.

Der Widerspruch von formaler Gleichheit und realer Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft basiert also auf den Gleichheits- und Freiheitsillusionen des Warentauschs. Schon der Begriff „Lohn“ enthält diese Verschleierung, weil der gesamte Arbeitstag als bezahlte Arbeit erscheint. Der rein gewerkschaftliche Kampf um den Preis der Ware Arbeitskraft bewegt sich im Rahmen dieses Verhältnisses und überwindet aus sich heraus notwendigerweise nicht bürgerliches Bewusstsein.

Revolutionäres Bewusstsein

Diese dem rein gewerkschaftlichen Kampf innewohnende Beschränktheit wird von vielen, ja den meisten Sozialist:innen und Kommunist:innen nicht beachtet, teilweise direkt negiert. Diese weigern sich daher anzuerkennen, dass der gewerkschaftliche Kampf an sich gar kein revolutionäres Bewusstsein hervorbringen kann. Das heißt jedoch keineswegs, dass dieser unbedeutend ist. So können siegreiche Kämpfe, die Erfahrung von Massenauseinandersetzungen überhaupt im Bewusstsein der Massen die Einsicht reifen lassen, dass sie eine gesellschaftliche Macht ausüben. Massive Konfrontationen um politische Fragen, Angriffe des Staates usw. werfen dabei auch über rein gewerkschaftliche Themen hinausgehende Fragen auf, bereiten den Boden dafür, dieses Bewusstsein auf eine höhere Stufe zu heben.

Das Falsche an der Erwartung, der gewerkschaftliche Kampf führe an sich zu sozialistischem Bewusstsein, beseht darin, dass dieser eben nicht das Lohnsystem selbst in Frage stellt. Lenin hat seinerzeit die Anhänger:innen dieses Irrtums in Russland als „Ökonomist:innen“ scharf kritisiert. Revolutionäres Bewusstsein, so weist Lenin nach, muss daher von einer revolutionären Organisation in die Klasse getragen werden.

Dieses Hineintragen sieht unterschiedlich aus, je nach Lage des Klassenkampfes und dem Verhältnis der revolutionären Kräfte zur Arbeiter:innenklasse. Wenn die Revolutionär:innen nur eine kleine Minderheit darstellen, geht es vor allem um die Gewinnung und Herausbildung von Kadern, auch solche, die keine Lohnarbeiter:innen sind. Der Unterschied ist der, dass die betrieblichen Kader auch dafür bewaffnet werden müssen, Vorschläge für gewerkschaftliche Kämpfe und Aktionen machen zu können, damit sie sich zumindest als Einzelne am Arbeitsplatz und in ihrer Gewerkschaft verankern können.

Dazu ist es unerlässlich, Politik in Betrieb und Gewerkschaft zu tragen, die generelle Politik der Bourgeoisie und ihres Staates mit der eigenen konkreten Ausbeutungslage zu verknüpfen, die Unterdrückung anzugreifen, die in Betrieb und Gesellschaft gegenüber national, rassistisch, sexuell Unterdrückten herrscht, und gegen die soziale Ungleichheit aufzutreten, in der sich diese ausdrückt.

Kampf, Erfahrung, Bewusstsein

Die Klasse selbst lernt natürlich am besten im Kampf. In der normalen Tretmühle stupider Ausbeutung ist es schwierig, sich politisches Wissen anzueignen, und je eintöniger und länger die Ausbeutung, desto schwerer. Auch dann, wenn der Kampf um das nackte Überleben ein alltäglicher ist, ist es schwer, sich mit der Weltlage zu befassen. Das ändert sich im Kampf, z. B. im Streik. Plötzlich wird der Kopf frei, alle müssen sich positionieren, es gibt keine Ausreden mehr und die Phrasen der Herrschenden entlarven sich schneller. Dann geht es für Revolutionär:innen auch darum, inmitten und anhand des Kampfes die Welt zu erklären und ihn so zu führen bzw. Vorschläge dafür zu machen, dass die Verhältnisse praktisch erfahrbar werden und der Weg, wie diese umgestürzt werden können.

Dies ist umso wichtiger, weil auch der erfolgreiche ökonomische Kampf zwar ein Moment der Stärkung und Radikalisierung des Bewusstseins enthält, zugleich aber seinem Wesen nach auf einen Kompromiss zielen muss. Ein guter (z. B. eine saftige Lohnerhöhung, die Verteidigung von Arbeitsplätzen, aber auch umfassende politische Reformen) stärkt daher nicht nur das Vertrauen in die Kraft der Klasse, sondern kann und wird oft auch Illusionen in die graduelle Verbesserbarkeit des Kapitalismus oder gar in dessen allmähliche, friedliche Überwindung bekräftigen.

Es sind diese Erfolge, die nicht nur die Basis für die Ausbreitung von (in Teilen durchaus kämpferischem) Gewerkschaftertum und Massengewerkschaften, sondern auch reformistischen Parteien legen. Das ist der „natürliche“ Reformismus der Arbeiter:innenklasse. Revolutionär:innen müssen also bewusst dafür arbeiten, dass ein kommunistischen Bewusstsein entsteht.

Historische Wurzeln

Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen.

Die Entstehung und Festigung einer solchen Bürokratie stellt jedoch selbst einen historischen Prozess dar. Nach dem Erstarken der Arbeiter:innenbewegung im 19. Jahrhundert musste die Bourgeoisie schon ihre Strategie ändern: Wo sie die Organisationen der ArbeiterInnenklasse nicht unterdrücken konnte, musste sie sie integrieren. Ihre Vertreter:innen bekamen Aufgaben in der Sozialversicherung, durften sich über Parlamente an der Verwaltung des bürgerlichen Staates beteiligen.

Kapitalist:innen korrumpieren aktiv Betriebsratsmitglieder, besonders die Vorsitzenden. Ihr Staat schafft gesetzliche Regeln, die die Herausbildung dieser Kaste begünstigen. So verfügen in Deutschland die Gewerkschaften über wenig Rechte im Betrieb, aber die Betriebsräte haben solche. Diese sind aber an das Betriebswohl gebunden und dürfen nicht zum Streik aufrufen. Ihre Rechte sind auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausgerichtet. Sie sollen Konflikte kontrollieren und nicht führen. Sie sollen die Beschäftigten vertreten, diese sich vertreten lassen, den Mund halten und Mehrwert produzieren.

Die Gewerkschaftsbürokratie ihrerseits beschränkt den Kampf bewusst auf ökonomische Ziele, auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Erhöhung der Löhne. In Deutschland nutzt sie das Betriebsverfassungsgesetz, das die Betriebsräte regelt, um die demokratischen Zugriffsmöglichkeiten der Gewerkschaftsmitglieder auf die Entscheidungen ihrer Organisationen auf ein Minimum zu reduzieren und ihre Macht als Kaste zu stärken.

Solche Gewerkschaften sind also nicht untauglich als „Schule für den Sozialismus“, weil sie unbeweglich, nicht spontan, unpolitisch, nationalborniert, männlich-chauvinistisch sind, sondern sie verinnerlichen diese Eigenschaften, weil sie von einer Kaste dominiert werden, deren politische Bestimmung es ist, die Gewerkschaften an das kapitalistische System zu binden und die Bedürfnisse der Arbeitenden denen der Ausbeuter:innen anzupassen und zu unterwerfen.

Es ist aber wesentlich zu verstehen, auf wen sich die Gewerkschaftsbürokratie, die obere Schicht der freigestellten Betriebs- und Personalräte in den Betrieben stützen und wie sie ihre Arbeit organisieren.

Weltmarkt und Arbeiter:innenaristokratie

Damit ein riesiger Apparat dauerhaft in das kapitalistische System eingebunden werden kann, muss dieses selbst eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht haben. Mit der Entwicklung des Weltmarktes und der Herausbildung eines imperialistischen Weltsystems Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts entsteht erst die Grundlage dafür, dass in der Arbeiter:innenklasse selbst eine relativ privilegierte Schicht von Lohnabhängigen herausgebildet werden kann, die ihrerseits die soziale Stütze für Reformismus und Arbeiter:innenbürokratie darstellt.

Mit dem Imperialismus entsteht faktisch in allen entwickelten kapitalistischen Ländern eine Arbeiter:innenaristokratie, die große Teile der Klasse umfasst, die über längere Perioden relativ hohe Löhne, Arbeitsplatzsicherheit, also Reproduktionsbedingungen durchsetzen können oder zugestanden erhalten, die ihnen einen Arbeitslohn über den Reproduktionskosten sichern, ihren Konsumfonds erweitern und einen kleinbürgerlichen Lebensstil erlauben. In den Kernländern des Imperialismus können diese bis zu einem Drittel der Klasse ausmachen.

Möglich ist das nur, weil die Großkonzerne dieser Länder den Weltmarkt beherrschen. Sie beuten also nicht nur eine überaus produktive Arbeiter:innenklasse (inklusive einer Aristokratie mit sehr hoher Arbeitsproduktivität und damit trotz hoher Löhne überdurchschnittlichen Ausbeutungsrate) in ihren „Stammländern“ aus, sondern ziehen Extraprofite aus der Ausbeutung der Arbeitskraft der halbkolonialen Länder und den Weltmarktbeziehungen, die dem globalen Süden aufgezwungen werden. Diese ermöglichst einen Verteilungsspielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenaristokratie und in Phasen der expansiven Entwicklung sogar die Masse der Lohnabhängigen.

In den Halbkolonien, insbesondere in den ökonomisch entwickelteren, hat sich zwar auch eine Aristokratie herausgebildet, aber eine deutlich kleinere im Verhältnis zur Gesamtklasse. Wir können an dieser Stelle nicht auf die globale Entwicklung unserer Klasse eingehen. Entscheidend ist jedoch, dass die Bürokratie nicht nur organisatorisch die Klasse dominiert, eng an reformistische Parteien und auch an den bürgerlichen Staat gebunden ist sowie das spontane Bewusstsein der Klasse aufgreift. Sie verfügt auch über eine soziale, materielle Stütze in der Arbeiter:innenklasse. Diese wird zwar durch die aktuelle Entwicklung erschüttert, aber sie besteht letztlich, solange es den Imperialismus gibt.

Bürokratie und Aristokratie

Diese Schichten spielen für die Bürokratie in den Gewerkschaften eine besondere Rolle. Erstens sind diese zu einem hohen Anteil Gewerkschaftsmitglieder, sie wollen ja ihre hohen Löhne und guten Arbeitsbedingungen verteidigen oder verbessern. Zweitens sind sie empfänglich für alle Aspekte der reformistischen Ideologie: dass doch ein „gutes Leben“ auch im Kapitalismus möglich sei, es für dieses gute Leben auch „meiner“ Firma gutgehen müsse und ich deshalb auch noch einen Jahresbonus kriegen sollte, dass weiterhin viele Autos aus Deutschland exportiert werden müssen …Die Bürokratie findet also innerhalb der Klasse eine Schicht, deren materielle Situation sie für ihre reformistische Politik empfänglich macht.

Die Bourgeoisie verfolgt ihrerseits ein Interesse, diese Schicht an sich zu binden und ist bereit, sich dies einen Anteil an den Extraprofiten kosten zu lassen, die sie zum Beispiel im Falle der Autoindustrie durch den Export verdient oder aus den hohen Subventionen, die sie von der Regierung erhält (Milliarden für Forschung, E-Mobilität, Transformation, Abwrackprämien, Kurzarbeitergeld … ).

Dennoch es ist grundfalsch, die Arbeiter:innenaristokratie mit der -bürokratie gleichzusetzen. Diese Schicht bleibt trotzdem ein Teil der Klasse und wird nicht zur Agentur der Bourgeoisie in den Arbeiter:innenorganisation. Sie hat sich ihre Position auch erkämpft und nicht darum gebeten, geschmiert zu werden. In Zeiten der Krise aber können sich ihre Errungenschaften in Privilegien verwandeln.

Auch hier ist die Autoindustrie ein gutes Beispiel: Vor etwa 20 Jahren begann eine Welle von Sparprogrammen in den Autowerken. Die Bosse und Bürokrat:innen reagierten auf die spontanen Massenproteste, indem sie der Stammbelegschaft Sicherheit versprachen, aber alle Neuen ohne die bisherigen übertariflichen Zulagen einstellten. In der gesamten Metallindustrie wurde ein neues Tarifsystem eingeführt, das die Produktionsarbeit langfristig verbilligte. Daneben wurden noch Leih- und Werkvertragsarbeit ausgedehnt. Die alte Stammbelegschaft wurde zu einer Elite, die nicht mehr als Vorreiterin für Fortschritte wie die 35-Stundenwoche kämpfte, die eine Arbeitszeitverkürzung für alle einleiten sollte, die höhere Löhne durchgesetzt hatte, damit auch andere Branchen nachziehen (Geleitzugmodell), sondern die ihre privilegierte Position gegen die anderen abschirmte.

Es war also das Vorgehen der Bürokratie, die diese Schicht politisch korrumpiert hat. Dennoch bleiben diese Schichten oft auch ein Vorbild- und Orientierungspol für die gesamte Klasse – mitunter auch in negativer Hinsicht. Tatsächlich wurde die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst 2022 von der Bürokratie ausverkauft. Die Streikbereitschaft von 900.000 Warnstreikenden und auch das Ergebnis werden mit Sicherheit mehrheitlich bei den kämpferischsten Menschen der Klasse als vorbildhaft angesehen.

Die Arbeiter:innenaristokratie vereint also in diesem für Deutschland durchaus prägenden Fall konservatives politisches Bewusstsein mit gewerkschaftlicher Kampfkraft. Sie bildet die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen.

Gerade weil in wichtigen imperialistischen Staaten (aber auch in einigen Halbkolonien) die Arbeiter:innenaristokratie Schlüsselsektoren der Mehrwertproduktion besetzt, wird es in einer Revolution auch wichtig, sie zu gewinnen und vom Einfluss der Bürokratie zu befreien. Die Stellung als relativ privilegierte Schicht darf außerdem nicht damit verwechselt werden, dass sie notwendig eine besonders rückständige wäre. In der Novemberrevolution stammte z. B. die Avantgarde der Klasse, die revolutionären Obleute, aus der Aristokratie.

Bürokratie heute

Über die Jahrzehnte haben sich aber auch Klasse und Bürokratie massiv gewandelt und befinden sich in einem fortlaufenden Veränderungsprozess.

Betrachten wir die deutschen Gewerkschaften, so konnten vor allem jene Industriegewerkschaften (IG Metall, IG BCE), die sich massiv auf die Aristokratie und enge Beziehungen zu Kapital und Staat stützen, einigermaßen halten. Ihre Mitgliederverluste sind geringer.

Insgesamt organisierte der DGB Ende 2021 5,73 Millionen Mitglieder. 2001 waren es noch 7,9 Millionen, 2011 6,16 Millionen. Das heißt, der Schwund verlangsamte sich.

Ende 2021 organisierten die drei größten der insgesamt 8 Einzelgewerkschaften über 80 % aller Mitglieder der DGB-Gewerkschaften: die IG Metall 2.169.183 Millionen (38 %), ver.di 1.893.920 Millionen (33,1 %) und die IG BCE 591.374 (10,3 %).

Im Jahr 2001, also kurz nach ihrer Gründung, organisierte ver.di 2.806.496 Mitglieder und war damit größte DBG-Gewerkschaft. Die IG Metall zählte damals 2.710.226. Während Letztere rund 500.000 Mitglieder verlor, waren es bei ver.di über 900.000.

Dies verweist darauf, dass die Gewerkschaften in Deutschland noch mehr zu solchen der Arbeiter:innenaristokratie geworden sind, selbst wenn es einige gegenläufige Trends gibt.

Die zentrale Ursache dafür stellt zweifellos die Restrukturierung des Kapitalismus selbst dar, die Ausweitung prekärer, ungesicherter Verhältnisse und damit auch viel größere Differenzierung innerhalb der Klasse selbst.

Die Klasse der Ausgebeuteten ist natürlich nie eine homogene Masse. Es gibt unterschiedliche Qualifikationen und Branchen. Qualifikationen werden auf dem Arbeitsmarkt unterschiedlich bewertet. Frauen verdienen weniger als Männer, werden in bestimmte Branchen gedrängt und weisen stärker unterbrochene Erwerbsbiographien auf. Migrant:innen landen in den Jobs mit niedrigeren Qualifikationen und weniger legalen Arbeitsverhältnissen.

Aber Phasen der Krise und Neustrukturierung gehen immer auch mit Ausdehnung der ärmsten und untersten Schichten der Klasse einher. Die Bürokratie in Deutschland hat diesen Prozess zwar nicht geschaffen, aber hingenommen und auch vorangetrieben (siehe Hartz-Gesetze).

Vom Standpunkt der engen Teilinteressen der Aristokratie und erst recht von jenem der Bürokratie macht es durchaus Sinn, sich auf das „Kerngeschäft“, auf die Großbetriebe, starke Bereiche im öffentlichen Dienst zu konzentrieren. Dort arbeiten schließlich auch jene Beschäftigten, die das Gros der Mitgliedsbeiträge und damit auch der Einkommensquelle des Apparates besteuern.

Die Arbeiter:innenbürokratie umfasst natürlich viel mehr als die Hauptamtlichen der Gewerkschaften, also auch Betriebsräte samt Apparat in den Großkonzernen oder Führungspersonal angelagerter Institutionen (Stiftungen). Dabei es ist gar nicht so leicht, genaue Zahlen darüber zu erhalten. Heute gibt es jedenfalls rund 9.000 Hauptamtliche bei den DGB-Gewerkschaften. Allein ver.di beschäftigt bundesweit rund 3.000 Mitarbeiter:innen (davon 500 Beschäftigte in der Bundesverwaltung).

Das durchschnittliche Jahresgehalt als Gewerkschaftssekretär:in betrug nach Erhebungen 2021 68.600 Euro, abhängig von Faktoren wie Erfahrung und Branche, so dass es zwischen 55.600  und 101.700 Euro schwankt. Die Bezüge der Vorstandmitglieder liegen deutlich höher. Hinzu kommen Diäten und Einkommen aus Aufsichtsratsposten, die zwar gemäß etlicher Statuten abgeführt werden sollen, oft genug aber privat eingestreift werden.

Aus obigen Zahlen geht auch hervor, dass natürlich auch der Gewerkschaftsapparat wie jede Bürokratie eine innere Differenzierung, eine Rangstufe der Hauptamtlichen kennt.

In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings die Rekrutierung der Sekretär:innen deutlich verändert. Lange Zeit stellten Funktionsträger:innen aus den Betrieben (Betriebsräte, Vertrauensleute) das Gros der Gewerkschaftsbürokratie. Heute sind es in der Regel Akademiker:innen, die über Einstiegsprogramme (Organzing bei ver.di, Traineeprogramm der IG Metall) angeworben und, gewissermaßen als Bürokrat:innen auf Zeit, erprobt werden.

Die bedeutet nicht nur eine deutliche Veränderung der Herkunft der Hauptamtlichen. Lange waren diese nicht nur mit Betrieben verbunden, sondern sie wurden auch in ihrer Stadt oder Region beschäftigt. So wurde z. B. ein/e Metallarbeiter:in und Betriebrat/-rätin aus einem Stuttgarter Daimlerwerk dortige/r Gewerkschaftssekretär:in. Zwischen ihm/r und der Belegschaft, aus der er/sie kam, bestand nach wie vor ein wechselseitiges politisches Verhältnis. Der/Die Sekretär:in konnte sich weiter auf „seine/ihre“ Leute verlassen, so wie diese direkt Druck auf „ihre/n“ Mann/Frau ausüben konnten. Heute werden angehende Hauptamtliche, die ohnedies nicht aus der Branche stammen, oft in Verwaltungsstellen fernab ihres Heimat- oder Studienortes geschickt, so dass die Beziehung zu anderen Hauptamtlichen auch gleich eine zentrale soziale darstellt.

Wie jede Bürokratie rekrutiert sich auch die der Gewerkschaften weitgehend selbst. Natürlich werden die Vorstände formaldemokratisch auf dem Gewerkschaftstag gewählt. Aber die hauptamtlich Beschäftigten stellt der Apparat, meist der zentrale (also der Vorstand) ein. Dem gegenüber sind sie letztlich auch verpflichtet, nicht den lokalen Strukturen.

Mit der veränderten Rekrutierungsmethode ist der Apparat in den letzten Jahren aber in mehrfacher Hinsicht noch unabhängiger von der betrieblichen Basis geworden – nicht jedoch von den Betriebsräten der Großbetriebe, also ihrem Alter Ego der Arbeiter:innenbürokratie. Auch diese Entwicklung muss im Kampf gegen die Bürokratie und für die klassenkämpferische Transformation der Gewerkschaften bedacht werden.

Klassenkämpferische Basisbewegung

Damit die Gewerkschaften zu wirklichen Kampfinstrumenten der Klasse werden können, muss der Reformismus in ihnen bekämpft werden. Und das geht nur gegen die Bürokratie, für ihre Entmachtung und für Gewerkschaftsdemokratie. Dafür sind natürlich Taktiken nötig. Gerade weil die Bürokratie sich auf bestimmte Errungenschaften, Rechte, hohe Löhne und sichere Arbeitsverhältnisse stützt, die die Gewerkschaftsmitglieder behalten und verteidigen wollen, und weil eine alternative, revolutionäre Führung letztlich nur in Verbindung mit einer revolutionären Partei entstehen kann, ist jedoch reine Denunziation der Bürokratie ein komplette Sackgasse.

Der Kampf gegen die Bürokratie muss auch in der täglichen gewerkschaftlichen und betrieblichen Praxis erfolgen. In jedem Konflikt geht es auch um:

  • Aktionen und Kampf statt Verhandlungen

  • Diskussion und Demokratie statt Diktate der Führungen

  • Einsatz auch für die Randbelegschaften statt Ausrichtung auf die Arbeiter:innenaristokratie

  • Die Interessen der Gesamtklasse und nicht von Privilegien für Sektoren

  • Solidarität mit anderen Kämpfen.

  • Gegen Rassismus, Sozialchauvinismus und Nationalismus, Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Jugend.

Aber das ist nicht alles. Es ist völlig klar, dass die Bürokrat:innenkaste alle Vorteile der Zentralisierung und Organisierung für sich nutzt. Es ist also eine organisierte Bewegung gegen die Bürokratie nötig, die sich auf die Basis stützt und diese organisiert gegen das politische Monopol des Apparates. Das macht eine politische Bewusstseinsbildung nötig und bedeutet letztlich, die Kolleg:innen für eine antikapitalistische, revolutionäre Perspektive zu gewinnen. Das ist kein Spaß, vor allem dort, wo die Bürokratie besonders hart zuschlägt, wo sie aus Sicht des Kapitals ihre wichtigste Aufgabe erfüllt: in der Exportindustrie. Um so notwendiger ist ein organisierter Kampf.

In ihm spielt nicht nur die Strategie, sondern auch deren taktische Konkretisierung eine große Rolle. Immer wenn der Apparat ein paar Schritte in Richtung Kampf geht, seine radikaleren Teile auf dem Vormarsch sind, die Belegschaften aus ihrer Passivität ausbrechen, in die sie gedrängt werden, müssen wir in dieser Bewegung vorne dabei sein, dürfen nicht passiv bleiben. Wir dürfen nicht nur vor dem nächsten Verrat warnen, sondern müssen Vorschläge machen, die die Massen in Bewegung befähigen, ihn zu bekämpfen. Die Mitglieder müssen die Kontrolle über die Forderungen, Aktionen und Verhandlungen in die Hand bekommen – also Aktionskomitees wählen, auf Vollversammlungen entscheiden, Verhandlungen öffentlich führen.

Die Aufgabe einer Basisbewegung liegt darin, die Alternative einer klassenkämpferischen Gewerkschaft in der Praxis zu zeigen und für eine Umgestaltung der alten Verbände zu kämpfen. Die Bürokratie ist als soziale Schicht an den Kapitalismus gebunden. Alle Privilegien müssen beendet werden: Bezahlung nach Durchschnittseinkommen der Branche, raus aus den Aufsichtsräten, demokratische Wahlen und Abwählbarkeit auf allen Ebenen. Das kann zu heftigen Brüchen in den Gewerkschaften führen, zu Spaltungen und Ausschlüssen.

Wenn wir heute mit anderen Organisationen am Aufbau der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) arbeiten, dann tun wir das solidarisch und auf Basis gemeinsamer Beschlüsse. Aber wir kämpfen auch für ein revolutionäres Verständnis von Gewerkschaftsarbeit und Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung als einer Kraft, die die Organisationen unter die Kontrolle der Klasse bekommen und die Bürokratie vertreiben kann und es so ermöglicht, die bestorganisierten Schichten der Klasse für die Revolution zu gewinnen.

„Gewerkschaften … verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen … zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (K. Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, S. 152)




Iran: Das Regime droht, die Revolution im Blut zu ertränken

Martin Suchanek, Neue Internationale 271, Februar 2023

Seit Monaten versucht das islamistische Regime, die Massenproteste und -erhebungen, die nach dem Mord an Jina Mahsa Amini das Land erschüttern, im Blut zu ertränken.

Im September 2022 erfasste die Bewegung das gesamte Land und nahm vorrevolutionäre Dimensionen mit Hunderttausenden auf den Straßen, regionalen befristeten Generalstreiks an. Die Frauen aus der Arbeiter:innenklasse standen an der Spitze der Bewegung. Die Universitäten bildeten ebenso Zentren des Widerstandes wie die unterdrückten Nationalitäten, deren Regionen zeitweilig durch lokale Massenstreiks vollständig paralysiert wurden. Immer wieder traten auch wichtige Sektoren der Arbeiter:innenklasse durch Arbeitsniederlegungen und Streikaufrufe massiv in Erscheinung.

Die Losung „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frauen, Leben, Freiheit) war von Beginn weit mehr als die Forderung nach vollen demokratischen und sozialen Rechten für Frauen und andere Unterdrückte, sondern untrennbar mit dem Ziel verbunden, das Mullah-Regime zu stürzen.

Der Ausbruch der Revolution war selbst Resultat der brutalen Repression durch die theokratische Diktatur, ihren Staatsapparat und ihre Scherg;innen. Die reaktionären Bekleidungsvorschriften bildeten so einen Fokus, eine Zusammenfassung eines unterdrückerischen patriarchalen Systems, das zwar weit ältere Wurzeln als die Mullah-Herrschaft aufweist, in denen sich jedoch der Charakter letzterer öffentlich, ideologisch, repressiv, ja mörderisch zusammenfasst.

Zugleich erzeugte die tiefe ökonomische Krise den sozialen Hintergrund der Bewegung. Der islamistische Kapitalismus verwehrt seinen Untertan:innen, allen voran den Frauen und unterdrückten Nationalitäten, nicht nur jede Form der Gleichheit. Er ist immer weniger in der Lage, das Überleben, die Reproduktion der Ausgebeuteten auch nur als Ausgebeutete zu sichern. Seit 2018/19 betrug die Inflationsrate pro Jahr zwischen 30 und 40 %. 2023 soll sie über 40 % betragen. Die Preissteigerungen für Lebensmittel spiegelt das jedoch keineswegs wider. Diese lagen 2022 selbst nach offiziellen staatlichen Angaben bei ca. 100 %.

Repression

Es ist daher kein Wunder, dass das Regime über wenig Spielraum zu Befriedung der Proteste verfügt. Und die wirtschaftlichen Probleme werden auch 2023 nicht geringer werden.

Daher setzt das Regime vor allem auf Repression und ideologische Mobilmachung, verbunden mit kleineren Zugeständnissen. So wurde die besonders verhasste Sittenpolizei, die auch Jina Mahsa Amini umbrachte, als Resultat der Proteste von den Straßen zurückgezogen. Teile des Regimes kündigten sogar die Auflösung der Einheiten an. Ob diese wirklich erfolgt, bleibt jedoch ungewiss.

In jedem Fall ging das Regime, gestützt auf die Polizei, die ultrareaktionären Repressionswächter, Geheimdienste und den Überwachungsapparat mit extremer Brutalität vor.

Seit September 2022 wurden mindestens 520 Demonstrant:innen getötet und mehr als 19.000 festgenommen. Seit Wochen werden Oppositionellen öffentlich Prozesse gemacht und diese medienwirksam zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch wenn einzelne Proteste Verschiebungen von Exekutionen erreichen konnten, so lässt sich seit Wochen eine Stärkung des Regimes beobachten. Öffentliche Prozesse und Hinrichtungen wegen Blasphemie in Kombination mit „Vaterlandsverrat“ erfüllen dabei zwei Funktionen: Einerseits sollen sie die Stärke und Einheit des Regimes, seines Staats- und Repressionsapparates zur Schau stellen und so auch dem reaktionären Anhang, über den die islamistische Diktatur durchaus auch verfügt, Zuversicht und Stärke vermitteln. Zweifelnden und schwankenden Elemente in der Elite oder ihren angelagerten Schichten soll vermittelt werden, dass es sich nicht lohnt, „abtrünnig“ zu werden.

Andererseits soll sowohl der Bewegung als auch ihren Aktivist:innen vermittelt werden, dass sie trotz Massenunterstützung gegen das Regime nicht ankommen und vor die Alternative Tod oder Kapitulation gestellt werden. Symbolträchtige Hinrichtungen wie jene des ehemaligen Vizeverteidigungsministers und britischen Staatsbürgers Akbari sollen deutlich machen, dass wirklich niemand geschont wird. Zudem soll dieser Fall auch suggerieren, dass die Opposition eigentlich von westlichen Geheimdiensten gekauft und kontrolliert werde.

Zweifellos gibt es solche Oppositionspolitiker:innen, zweifellos versuchen proimperialistische, bürgerliche oder auch monarchistische Kräfte, in der Bewegung Fuß zu fassen. Doch insgesamt handelt es sich um eine monströse, reaktionäre Lüge, eine Verleumdung der Millionen Frauen, Arbeiter:innen, Student:innen und der unterdrückten Nationalitäten in Kurdistan oder Belutschistan, die für ihre Freiheit ihr Leben riskieren.

Tausende Inhaftierte und hunderte Ermordete sind heroische Kämpfer:innen, deren einziges „Verbrechen“ darin bestand, gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufzustehen. Bei den inszenierten Prozessen und Hinrichtungen sollen nicht nur einzelne Personen, nur deren Mut und Entschlossenheit ausgelöscht, sondern auch die revolutionären Möglichkeiten und Hoffnungen, die in der Bewegung sichtbar wurden und die Massen erfassten, im Blut ertränkt werden. Die Ordnung, die die Mullahs wieder festigen wollen, ist auf Leichen gebaut.

Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Das Schlimmste an der Repression, an den barbarischen Hinrichtungen ist jedoch, dass sie eine wirkliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Regimes ausdrücken. Ein Sieg der Konterrevolution – und mag er auch nur zeitweilig sein – droht, sollte sich die Lage nicht grundlegend verändern.

Angesichts dieser Situation stellen sich zwei, miteinander verbundene Fragen: 1. Warum kam es zu dieser Verschiebung des Kräfteverhältnisses, obwohl Millionen das Regime stürzen wollten? 2. Welche Lehren sind daraus zu ziehen, um bei einem neuen Ansturm besser vorbereitet und erfolgreich zu sein?

Die Bewegung hatte im September und November das Regime politisch in die Defensive gedrängt. Mehr und mehr Sektoren der Gesellschaft schlossen sich an. In einigen Branchen kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen, in den kurdischen Regionen zu befristeten Generalstreiks. Aber auch wenn es Verbindungen zwischen einzelnen sozialen Bereichen, den Universitäten, Betrieben, Städten und Regionen gab, so wurden keine zentralisierenden, die Bewegung zusammenfassenden Kampfstrukturen gebildet.

Generalstreik und Bewaffnung

Diese wären jedoch unbedingt notwendig gewesen, um den spontanen Elan der Massen zu bündeln, in der gemeinsamen landesweiten Aktion gegen das Regime – kurz in einem unbefristeten Generalstreik zu seinem Sturz. Ein solcher Generalstreik hätte zugleich mit der Einberufung von regelmäßigen Massenversammlungen und der Wahl von Aktionsräten zur Koordinierung und Leitung des Kampfes einhergehen müssen. Er hätte zugleich die Etablierung seiner Schutzeinheiten erfordert. Ohne Selbstverteidigungseinheiten, ohne Milizen der Arbeiter:innen und Volksmassen, ohne Gewinnung der einfachen Soldat:innen der Armee und der Bildung von Soldatenausschüssen und -räten hätte die zentralisierte, bewaffnete Macht des Regimes nicht gebrochen werden können.

Doch eine solche Politik muss politisch und ideell vorbereitet werden, um von den Massen auch aufgegriffen werden zu können. In entscheidenden Situationen werden sie nicht spontan verwirklicht. Es erfordert vielmehr eine politische Kraft, die für diese Perspektive kämpft und ihr ein politisches Ziel gibt.

Eine solche Kraft gab es nicht. Und selbst wenn sich ein Generalstreik und Räte aus der Dynamik des Kampfes entwickelt hätten, also eine Doppelmachtsituation entstanden wäre, so hätte das noch nicht das gesamte Problem gelöst.

Welche Revolution?

Ein Generalstreik hätte also die Frage aufgeworfen: Wer herrscht im Iran, welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse übernimmt die Macht?

Die Bewegung hätte damit auch vor der Frage gestanden, welche Revolution nötig ist, um ihre demokratischen Forderungen und die Klassenwidersprüche, die sie hervorgebracht haben, zu lösen. Sollte die Umwälzung auf eine rein bürgerliche, auf die Einführung der rechtlichen Gleichheit der Frauen und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse beschränkt sein? Oder muss sie nicht vielmehr demokratische und sozialistische Aufgaben verbinden, die Revolution permanent machen?

Die Erfahrung der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen und unterdrückten Nationalitäten im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrüclung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzugehen. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nicht-monarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der Arbeiter:innenklasse zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden – und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern letzten vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können. Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs

Markus Lehner, Neue Internationale 271, Februar 2023

Der Krieg in der Ukraine ist sicherlich eine historische Zäsur. Da hilft es auch nicht, wenn Linke wie Sahra Wagenknecht immer wieder betonen, dass er nur einer von vielen sei – und die meisten würden ja vom „Wertewesten“ geführt oder unterstützt. Tatsächlich waren die meisten Kriege mit Beteiligung von Großmächten seit dem 2. Weltkrieg „asymmetrische“ (außer dem Koreakrieg oder den beiden Vietnamkriegen), bei denen eine Seite militärisch vollkommen überlegen war.

Der Ukrainekrieg ist ein grausamer „konventioneller“, zerstörerisch wie der Zweite Weltkrieg, mit allen Schrecken von Artillerie- und Panzerschlachten, Schützengrabenkämpfen, Bombardements, wochenlangen Belagerungen und Kesselschlachten. Dazu kommt, dass dahinter die Konfrontation der wichtigsten Großmächte im europäischen Raum steht und somit auch die industrielle Massenfertigung der Tötungsmaschinerien auf beiden Seiten dafür immer weiter hochgefahren wird – mit der Gefahr einer sehr langen Dauer und wachsender Eskalation, was die Art der Waffen bis hin zu Nuklearsprengsätzen betrifft. Dieser Konflikt ist eingebettet in eine krisenhafte Entwicklung des imperialistischen Weltsystems, in dem eine schwächelnde kapitalistische Weltwirtschaft zur Neuaufteilung der Welt unter die Großmächte, insbesondere China und die USA, drängt. Ob dabei der Ukrainekrieg auch noch gekoppelt wird etwa mit einer Verschärfung des Taiwankonflikts oder nicht – wir sind jedenfalls in eine neue Periode der gesteigerten, auch militärischen Konfrontation der großen imperialistischen Mächte eingetreten, die die rein ökonomische Globalisierungskonkurrenz auf eine neue Ebene hebt.

Problematische Vergleiche

Es wurden schon verschiedene Vergleiche mit den beiden Weltkriegen bzw. deren Vorläuferkonflikten angestellt. In der bürgerlichen Debatte herrscht der mit dem Zweiten Weltkrieg vor, insbesondere um an den „antifaschistischen Kampf“ bzw. die „historischen Lehren“ aus den Fehlern von „Appeasementpolitik“ anzuschließen. Vorherrschend ist die Erzählung vom „durchgedrehten“ Autokraten Putin, der analog zu Hitler sein Land mit einer faschistischen Diktatur überzogen habe und dessen irre Gefährlichkeit von den „naiven“ demokratischen Regierungen insbesondere in Europa lange nicht gesehen worden wäre. Aus marxistischer Sicht ist das Putinregime natürlich kein Faschismus, wohl aber ein über Jahre gefestigtes autoritäres, das dem nach der Restauration des Kapitalismus entstandenen russischen Imperialismus aus einer Position der Schwäche heraus mit allen Mitteln einen Platz im Orchester der Großmächte zu sichern versucht. Das „System Putin“ ist damit auch nicht an seine besondere Person gebunden, sondern umfasst eine mit den großen Rüstungs- und Rohstoffkonzernen eng verflochtene politische Führungsschicht, deren imperialistische Extraprofite aufs Engste mit dem Erhalt von Einflusssphären und militärischer Potenz verbunden sind. Die Expansion der NATO bzw. USA in Osteuropa und Zentralasien ebenso wie seine wachsende ökonomische Schwäche mussten daher Russland um seine Stellung als Weltmacht fürchten lassen. Konkret in der Ukraine wurde nach 1990 lange Zeit eine Art Patt zwischen prorussischen und -westlichen Kräften aufrechterhalten, das mit der Maidanbewegung um 2014 kippte und zum Konflikt um die Ostukraine und Krim führte. Die Geschichte des Hineinschlitterns in den Krieg mitsamt der Rolle der verschiedenen Großmächte und nationalistischen Kräfte in der Ukraine erinnert dann auch mehr an den Prolog zum Ersten Weltkrieg und die „schlafwandlerische“ Eskalation rund um den Balkan.

Umgekehrt gibt es auch in Teilen der Linken den Missbrauch des Faschismuslabels. So bezeichnet die „Junge Welt“ die Selenskyjregierung gerne als „faschistischen Büttel der NATO“, die mit dem „Maidanputsch“ 2014 in der Ukraine eine naziähnliche Diktatur errichtet hätte. Auch wenn ukrainische Nazis für den unmittelbaren Machtwechsel 2014 eine wichtige Rolle spielten, reicht dies keinesfalls aus, um das danach entstandene westlich orientierte System eines oligarchischen Kapitalismus in der Ukraine treffend zu charakterisieren. Die ökonomische Dauerkrise zwingt dieses Regime, den Nationalismus als gesellschaftlichen Kitt zu verwenden und insbesondere im Sicherheitsapparat viele extrem rechte Kräfte einzusetzen. Doch sind dies eher untergeordnete Aspekte gegenüber einer generellen Westorientierung, die bei den Massen in der Ukraine mit großen Illusionen in „westliche Demokratie und Wohlstand“ verbunden sind.

Beide Seiten des „Lager“kampfes gegen den „Putinfaschismus“ oder die Maidannazis begehen eine üble Verschleierung des tatsächlichen Charakters des Krieges. Die Beschwörung des angeblich faschistischen Charakters der jeweils anderen Seite dient offenbar der Rechtfertigung einer Parteinahme für einen „demokratischen“ oder „antifaschistischen“ Imperialismus, also für eine offene Unterstützung der NATO oder Russlands im „antifaschistischen Kampf“. Wie immer nützt die „antifaschistische Volksfront“ hier der Aufgabe von Klassenpolitik zugunsten der politischen Unterordnung unter die reaktionären Ziele eines der sich bekämpfenden bürgerlichen Lager. Der Charakter dieses Krieges sollte also zunächst mal jenseits dieser falschen Fährte Krieg gegen den Faschismus verstanden werden.

Susan Watkins hat im „New Left Review” in dem Artikel „Five Wars in One” eine hilfreiche Aufschlüsselung seiner verschiedenen Ebenen erstellt. In Analogie zur bekannten Analyse von Ernest Mandel zum Zweiten Weltkrieg hat sie für diesen als „Weltordnungskrieg“ fünf Konfliktebenen dargestellt. Anhand dieser lassen sich gut die Probleme für eine linke Positionsfindung und die Gefahren von Verkürzungen darstellen.

1. Imperialistischer Angriffskrieg

Der erste und sicher offensichtlichste Aspekt ist, dass es sich um einen brutalen imperialistischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine handelt. Anders als in der bürgerlichen Öffentlichkeit wird dabei nicht auf eine „imperialistische“ Ideologie des Putinregimes Bezug genommen, sondern auf die in der gegenwärtigen Epoche des Weltkapitalismus bestehende imperialistische Weltordnung. Der Imperialismus ist dabei Ausdruck der Unfähigkeit des globalen Kapitalismus, die historisch überholte Form des Nationalstaates durch ein den globalen Problemen angemessenes politisches Weltsystem zu ersetzen. An dessen Stelle tritt ein System von Großmächten und deren Einflusssphären, das notwendig mit den Prinzipien nationalstaatlicher Souveränität in Konflikt geraten muss. Die westlichen imperialistischen Mächte sichern ihre heute im günstigsten Fall durch „Softpower“.

Die Halbkolonien des Westens scheinen sich freiwillig für „Demokratie und Menschenrechte“ zu entscheiden, die von der NATO und ähnlichen Mächten dann „geschützt“ werden (und nur zu oft mit militärischen Mitteln). Wenn jetzt zu Russland gesagt wird, die Verteidigung seiner „Einflusssphäre“ wäre „veraltetes Denken“, so wird nur verschleiert, dass es bei z. B. der NATO-Osterweiterung oder der EU-Ausdehnung natürlich auch um deren Sicherung geht. Anders als „der Westen“ hat Russland jedoch immer weniger ökonomische und politische Vorteile anzubieten und erscheint sicherlich nicht als eine weniger unterdrückerische und demokratischere Alternative. Ein schwächelnder Imperialismus neigt, wie die Geschichte, zeigt, dazu, seine Einflusssphäre dann eben militärisch zu sichern.

Diese Erklärung des russischen Angriffs ist aber natürlich in keiner Weise eine Rechtfertigung. Es ist vor allem ein Argument dafür, dass das imperialistische System als Ganzes menschenverachtend und krisenbehaftet ist und als solches überwunden werden muss. Dies bedeutet vor allem auch, dass die Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Staaten ihren Führungen die Waffen aus den Händen schlagen und sie gegen ihre Kriegsherr:innen selber richten müssen. Die Position von Sozialist:innen in der russischen Föderation muss eine des verstärkten Klassenkampfes gegen das reaktionäre, nationalistische Putinregime sein. Hier vertreten wir den revolutionären Defaitismus und die Umwandlung des Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des russischen Imperialismus.

Wir lehnen daher auch die Scheinlösungen ab, die in Linkspartei und DKP zur Beilegung des Konflikts vorherrschen: Man müsse eine Friedensordnung erreichen, die die „berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“ garantiere. Diese Position beinhaltet sowohl eine Erzählung von der NATO-Osterweiterung u. a. als Grund, warum „fehlende Sensibilität“ gegenüber Russland zum Krieg geführt habe. Sie beinhaltet aber auch den „Plan“, dass eine Friedenslösung mit Russland über ein Abkommen mit den westlichen Mächten zur „Sicherheitsarchitektur“ in Europa den Konflikt nachhaltig entwirren könne. Einerseits wird bei dieser Art von Lösung ausgeblendet, dass es hier tatsächlich um den Kampf um Einflusssphären imperialistischer Mächte geht, der noch weit von einer Entscheidung wie dem seinerzeitigen Potsdamer Abkommen entfernt ist.

Es wird vor allem stillschweigend darüber hinweggegangen, dass es hier auch um die Frage der Selbstbestimmung von Ländern wie der Ukraine geht, die im Rahmen solcher „Sicherheitsarchitekturen“ tatsächlich durch das eine oder andere halbkoloniale System unterjocht werden. Die Frage ist dabei auch nicht, ob Beitritt zu einem Bündnis oder durch Sicherheitsgarantien begleitete „Neutralität“ Auswege wären, sondern dass nur eine antiimperialistische Bewegung in der Ukraine und in den Arbeiter:innenklassen Europas für ein Ende des Zwangs zur Einbindung in welche Einflusssphären, Militärbündnisse, Wirtschaftsunionen auch immer sorgen könnte. Nicht irgendwelche Abkommen zwischen EU, Russland und den USA über die zukünftige Ordnung in Europa können, sondern nur der Kampf um vereinigte sozialistische Staaten von Europa durch soziale Revolution von unten kann eine wirkliche Friedensordnung auf diesem Kontinent herstellen.

2. Selbstverteidigungskrieg

Der zweite Aspekt ist der eines nationalen Selbstverteidigungskrieges von Seiten der Ukraine. Sie ist eines der ärmsten Länder des Kontinents, das gleichzeitig reich an mineralischen und agrarischen Rohstoffen ist. In ganz Europa wird ukrainische Arbeitskraft aufs Blut ausgebeutet. Im Land selbst herrscht ein extrem korrupter Oligarchenkapitalismus, der seine ausbeuterische Fratze hinter demokratischen Phrasen und der nationalistischen Verteidigungspose verbirgt.

All dies ist nicht ungewöhnlich für ausgebeutete Halbkolonien auf der ganzen Welt. Im Fall des Angriffs einer imperialistischen Macht, die sich dieses Land einverleiben will, gibt es bei den Massen trotz aller Entfremdung zu ihrer Führung den klaren Impuls, das demokratische Selbstbestimmungsrecht auf einen eigenen Staat zu verteidigen. Insbesondere war die Ukraine seit Jahrhunderten von ihren Nachbarstaaten unterjocht – nicht nur von Russland, sondern auch von Polen/Litauen und der Habsburger Monarchie. Auch wenn jetzt sowohl von Putin als auch den ukrainischen Nationalist:innen verhöhnt, waren es Lenin und die Bolschewiki, die zuerst den Kampf gegen Zarismus und Habsburger:innen nicht nur mit dem internationalen Klassenkampf sondern auch mit dem um die Selbstbestimmung der Ukraine verbunden haben.

Seit Jahrhunderten wurde damit nach dem Bürgerkrieg zum ersten Mal ein ukrainischer Staat gebildet – auch wenn dessen Unabhängigkeit in der stalinisierten Sowjetunion mehr als prekär geriet. Aber nur so wurde in den Wirren der Auflösung der Sowjetunion die Ukraine als eigenständiger Nationalstaat möglich. Auch wenn sie selbst ein Vielvölkerstaat ist, gibt es eine große Mehrheitsbevölkerung, die sich der ukrainischen Identität zugehörig fühlt und sich keineswegs wieder einem anderen Nationalstaat unterordnen will. Sozialist:innen müssen diesen demokratischen Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung respektieren – so wie sie das auch im Freiheitskampf um Irland oder Kurdistan immer schon getan haben.

Bei aller Klassenspaltung in der Ukraine werden die Arbeiter:innen kaum für ihre zentralen sozialen Kämpfe gewonnen werden können, wenn man nicht zugleich mit ihnen gegen die nationale Unterjochung kämpft, was ihnen als Voraussetzung dafür erscheint, auch ihre ureigensten Klassenkämpfe auf vertrautem Terrain führen zu können. Bei aller Kritik an der korrupten, proimperialistischen Führung des Verteidigungskrieges rufen wir, zumindest bis eigenständige Kampfverbände aufgebaut sind, dazu auf, in die bestehenden Verteidigungsstrukturen zu gehen (sofern sie nicht offen faschistische Einheiten sind). Auch dort müssen wir den verräterischen und klassenfeindlichen Charakter der politischen Führung aufzeigen wie auch die Gefahr des Missbrauchs des Verteidigungskrieges für die westlichen imperialistischen Interessen – also auch für die Fortsetzung des Kampfes nach Abwehr des russischen Angriffs. Diese Kritik kann aber nicht dazu führen, die Niederlage der Ukraine einfach billigend in Kauf zu nehmen. Diese würde die Kampfbedingungen der ukrainischen Arbeiter:innen um ein Vielfaches verschlechtern und es zugleich faktisch unmöglich machen, sie von ihren Illusionen in das prowestliche Regime zu lösen.

Insofern lehnen wir die pazifistischen Positionen gegenüber dem berechtigten Kampf für Selbstverteidigung genauso ab wie die Versuche, die Verteidigungskräfte der Ukraine insgesamt nach dem Bild des Asowregiments zu charakterisieren. Auch wenn wir die Einheiten, die an die Nazikollaborateurtruppen des Stepan Bandera anknüpfen, ablehnen und sie nicht als „Kampfgenossinnen“ akzeptieren, so weigern wir uns, diese mit dem ukrainischen Kampf insgesamt gleichzusetzen. Auch im palästinensischen Widerstand ist es unvermeidlich, z. B. mit der Hamas auf denselben Barrikaden zu stehen. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukrainer: innen verteidigen, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

3. Bürger:innenkrieg

Der dritte Aspekt ist der des innerukrainischen Bürger:innenkriegs. Das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und -russischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine genauso wie der Ausgleich zwischen den Nationalitäten im Vielvölkerstaat Ukraine wurden mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwendete zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und den Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war der letztlich auch bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedrohten Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine und auf der Krim vorprogrammiert. Der Kampf um Minderheitenrechte und Autonomie, der dort begann, war sicherlich berechtigt und musste von Sozialist:innen ebenso im Sinn des Selbstbestimmungsrechtes verteidigt werden. Allerdings wurde er letztlich vom russischen Imperialismus für seine Intervention und Annexionspolitik missbraucht.

In der gegenwärtigen Situation ist diese Frage daher der des Selbstverteidigungsrechts der Ukraine untergeordnet. Andererseits wird keine Lösung des Konflikts zentral auch um den Status von Donbas(s) (Donezbecken), Luhansk und der Krim herumkommen. Dabei wird auch die Heuchelei aller „Verteidiger:innen des Völkerrechts“ klar, die betonen, die Ukraine müsse um jeden Preis in ihren ursprünglichen Grenze, also sogar mit Eroberung der Krim wiederhergestellt werden. In den genannten Regionen gibt es historische und ethnische Gründe, die durchaus dafür sprechen, dass die Bevölkerung dort selbst bestimmen können sollte, in welchen Grenzen sie zukünftig leben will – ob in der Ukraine, Russland, als autonome Region bei einem von beiden, selbstständig etc.

Die Fetischisierung bestehender Grenzen erwies  sich bei von Nationalitätenkonflikten gebeutelten Grenzregionen noch nie als Frieden stiftend. Es ist auch eine ziemliche Heuchelei, wenn heute gegen eine Lostrennung der Krim von der Ukraine das Völkerrecht ins Spiel gebracht wird, im (ebenso berechtigten) Fall des Kosovo gegenüber Serbien jedoch nicht. Hier zeigt sich letztlich, dass es dem westlichen Imperialismus nicht um das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker geht, sondern um den Sieg ihres nationalistischen Stellvertreterregimes unter Inkaufnahme einer brutalen Unterdrückung der russischen Minderheit. Daher müssen Revolutionär:innen auch in der Ukraine deutlich machen, dass die Zukunft der sog. Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein! Zugleich verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht für die Krim und die „Volksrepubliken“.

4. Westlicher Imperialismus

Der vierte Aspekt des Krieges ist die massive Unterstützung des westlichen Imperialismus für die Ukraine, die ihn de facto zu einem Stellvertreterkrieg macht. Angefangen bei den USA sprechen auch alle deren Verbündeten von einem „Krieg der Demokratie“ gegen den „Autoritarismus“. Wenn also aus bestimmten Gründen keine direkte Beteiligung von NATO-Verbänden gegeben ist, so ist doch sowohl der Wirtschaftskrieg gegen Russland wie auch das Ausmaß ökonomischer, logistischer und waffentechnischer Unterstützung von bisher nicht gesehenem Umfang in einem solchen Konflikt.

Die Ukraine, die vor dem Krieg praktisch zahlungsunfähig war, erhielt im ersten Kriegsjahr Hilfspakete und Waffen im Umfang von zwei Dritteln ihres Sozialprodukts – praktisch täglich die Summe an Unterstützung, die zu Hochzeiten jährlich in Afghanistan investiert wurde. Sie stellt sogar die der USA für Israel in den Schatten. Dabei werden nicht einfach nur Waffen geliefert. Die ukrainische Armee wurde und wird systematisch an neuen Waffensystemen technisch und taktisch ausgebildet ebenso wie offensichtlich die modernsten Kommunikationssysteme zur Gefechtsunterstützung umstandslos zur Verfügung gestellt werden.

Ziemlich unverhohlen werden nachrichtendienstliche Erkenntnisse über den Gegner sofort an die Ukraine weitergeleitet wie auch Taktik und Strategie mit Militärberater:innen aus den NATO-Stäben abgestimmt. Über Ringtausche ist die Bewaffnung der Ukraine dabei auch ganz klar in Aufrüstungsprogramme aller NATO-Staaten, auch der Bundesrepublik, einbezogen. In Kombination mit den Wirtschaftssanktionen, die ähnlich der alten Kriegstaktik der „Kontinentalsperre“ wirken sollen, kann man mit voller Berechtigung davon sprechen, dass der westliche Imperialismus den ukrainischen Verteidigungskrieg dazu benützt, den russischen Imperialismus per Stellvertreterkrieg entscheidend zu schwächen. Dies entspricht der langfristigen globalen Strategie der USA, die gegenüber China und Russland als globalen Hauptkonkurrenten entwickelt wurde. Der Ukrainekrieg wurde da als günstige Gelegenheit ergriffen, um die EU-Imperialist:innen ebenso auf diese Konfrontation einzuschwören und Russland als Hauptverbündeten Chinas auf Jahre in die zweite Reihe zu verbannen.

Es scheint aber auch so zu sein, dass die USA nicht zu unbeschränkter Unterstützung der Ukraine bereit sind. Die umstrittenen Äußerungen des US-Generalstabschefs (CJCS) Mark A. Milley, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen könne, kann wohl als Ausplaudern der Pentagonstrategie verstanden werden: Wenn die USA wollten, könnten sie natürlich solche militärische Unterstützung leisten, die den Krieg längst beendet hätte – aber das ist wohl nicht bezweckt. Sie wollen offenbar Russland aufgrund seiner geostrategischen Bedeutung nicht gänzlich zum Zerfallskandidaten machen und andererseits auch nicht in Europa neue militärische Rivalen entstehen lassen. Insofern nimmt man im Pentagon wohl gerne einen langwierigen, blutigen Stellungskrieg in der Ukraine in Kauf, der Europa und Russland auf lange Sicht als globale Rivalen schwächt.

Von daher müssen wir in den westlichen imperialistischen Staaten gegen diesen Missbrauch des Verteidigungskrieges der ukrainischen Bevölkerung und seine blutige Verstetigung als Stellvertreterkrieg protestieren. Wir müssen daher auch gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland Stellung beziehen, da sie nicht getrennt werden können von den Aufrüstungsprogrammen der NATO und dem globalen Konflikt, der hier mithilfe der Ukraine geführt wird. Auf globaler Ebene ist dieser Aspekt das dominierende Element, auch wenn dies nicht bedeutet, dass deshalb der Kampf um Selbstverteidigung in der Ukraine keine Berechtigung hätte. Alle Waffenlieferungen an sie, ob über Ringtausche oder direkt, sind einerseits ganz klar mit eigenen Rüstungsprojekten, dem Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie und deren Profiten verbunden, andererseits an die US-Strategie zur Niederringung der chinesischen und russischen globalen Rivalen gekettet. Ebenso müssen wir die ukrainischen Arbeiter:innen davor warnen, dass die große Hilfe aus „dem Westen“ nicht ohne Kosten für sie daherkommen wird. Die Rechnung dafür wird genau ihnen und den Ärmsten präsentiert werden, die dafür mit Überausbeutung in Sonderaufbauprogrammen der westlichen Imperialist:innen für ihre neue Halbkolonie bezahlen werden.

5. Weltkriegspotential und das Verhältnis der verschiedenen Dimensionen des Krieges zueinander

Schließlich beseht der fünfte Aspekt des Krieges darin, dass er jederzeit das Potential birgt, zu einer unmittelbaren Konfrontation zwischen Russland und der NATO – also zu einem offenen Weltkrieg – zu eskalieren. Durch die Art der Unterstützung des Westens für die Ukraine ist dies zwar angelegt, aber bisher noch nicht Realität geworden. Die ukrainische Führung und einige osteuropäische und baltische Staaten sind an sich für eine „Endlösung der russischen Bedrohung“ und tun viel dafür, dass die Bereitschaft dazu im Westen wächst. Andererseits stellt die russische Führung ebenso den Westen bereits als kriegsführende Partei dar und deutet bei ungünstigem Verlauf auch die Möglichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen an – was wahrscheinlich rasch zu Gegenschlägen führen würde.

Diese mögliche Eskalation wird auch von einigen Linken als Grund genannt, den Ukrainer:innen de facto zu raten, möglichst rasch zu einem Waffenstillstand zu kommen. Eine zynische Position: Insofern müsste dann in jedem Konflikt mit imperialistischen Mächten eigentlich sofort kapituliert werden, weil ansonsten vielleicht ein Welt- oder Nuklearkrieg drohen. Angesichts der globalen Zuspitzung der imperialistischen Gegensätze und dem beginnenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt erweist sich der Pazifismus als hoffnungslos desorientiert. Nur internationaler Klassenkampf zur Zerschlagung, Entwaffnung der mörderischen Arsenale, Aufdeckung und Bekämpfung der räuberischen Absichten aller Seiten kann den drohenden Weltkrieg tatsächlich abwenden.

Den Charakter eines Krieges unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen, würde zu einem schweren Fehler führen. Viele Linke kommen heute zu dem Schluss, dass die Invasion eines halbkolonialen Landes wie der Ukraine durch eine imperialistische Macht mit dem Ziel, es zu einer Kolonie Russlands zu machen oder zumindest große Teile seines Territoriums zu annektieren, reaktionär ist und deshalb die Unterstützung der Ukraine durch die NATO in Form einer beispiellosen wirtschaftlichen und militärischen Hilfe ebenfalls gerechtfertigt und fortschrittlich sein muss.

Dabei wird aber die Tatsache ignoriert, dass die Intervention der NATO nicht durch demokratische Ideale motiviert ist, sondern durch den Wunsch, Russland als ihren imperialistischen Rivalen auf der Weltbühne zu schwächen und es so unfähig zu machen, die USA auf Schauplätzen wie dem Nahen Osten und Afrika südlich der Sahara herauszufordern. Andere Motive Washingtons waren, die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Russland zu sabotieren und China eine Warnung vor seiner unverminderten militärischen Macht und anhaltenden wirtschaftlichen Dominanz zu senden. Kurz gesagt, die demokratische Rhetorik der NATO ist nur eine zynische Tarnung, um Handlungen zu rechtfertigen, die ausschließlich durch ihre imperialistischen Eigeninteressen motiviert sind.

Die Entwicklungen, die zu dem reaktionären Einmarsch Russlands geführt haben, bestätigen in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht nur um einen Krieg der Landesverteidigung handelt, sondern auch der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluss der NATO selbst ein entscheidender Faktor ist und zu einem zwischenimperialistischen Krieg von beispielloser Zerstörungskraft für die Menschheit führen könnte.

Angesichts einer Weltlage, in der multiple Krisen und der zunehmende Kampf um die Neuaufteilung der Welt viele solch komplexer Situationen wie den Ukrainekrieg hervorrufen (z. B. Taiwan), ist es notwendig, dass die Linke zu einer programmatisch klaren sozialistischen Antikriegsposition findet. Diese kann nicht in abstrakt allgemeinen Formeln bestehen und muss sowohl die gegenwärtige Weltlage wie auch die konkreten Analyse der Kriegssituation beinhalten. Im gegenwärtigen Moment bedeutet das die Anerkennung des Rechts auf Selbstverteidigung der Ukraine bei gleichzeitiger Bekämpfung des Eingreifens der westlichen Imperialist:innen, die diesen Konflikt zur Niederwerfung ihres Konkurrenten nutzen.

Die Grundlinien einer solchen Positionsfindung müssen also beinhalten: Unterstützung der Antikriegsopposition in Russland und Umwandlung des Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des russischen Imperialismus; Verteidigung der Ukraine bei gleichzeitigem Aufzeigen des reaktionären Charakters der Führung des Kampfes, Verweigerung jeder politischen Unterstützung seines Missbrauchs als Stellvertreterkrieg; Verurteilung und Bekämpfung der Aufrüstungspolitik in den NATO-Staaten und des Missbrauchs der Waffenlieferungen an die Ukraine als Mittel zur Führung eines Stellvertreterkrieges; Aufbau einer Antikriegsbewegung, die sich der wachsenden Gefahr eines neuen Weltkriegs bei weiter wachsenden Atomwaffenarsenalen entgegenstellt.




Wiederholte Qual der Wahl

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 271, Februar 2023

Berlin wählt noch einmal. Am 12. Februar steht die Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und der Bezirksverordnetenversammlungen an. Das Bundesverfassungsgericht ordnete die Wiederholung des Urnengangs vom 26. September 2021 zur „Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ (Tagesschau 16.11.22) an.

Schließlich war die vergangene Wahl auch ein Desaster. Es wurden unvollständige Briefwahlzettel ausgeschickt. In 72 dokumentierten Fällen fehlten die Stimmzettel für den damaligen Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co. enteignen. In mindestens 424 Wahllokalen musste noch nach 18 Uhr abgestimmt werden, da nicht rechtzeitig ausreichend Stimmzettel vorlagen und 73 Wahllokale wurden aufgrund dessen zeitweise geschlossen. Teilweise wurden Stimmzettel vertauscht. Schlussendlich kam es in neun Prozent der Lokale zu Unregelmäßigkeiten.

Wiederholung und nicht Neuwahl

Politisch führte die Abgeordnetenhauswahl 2021 zu einer Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition. Sechs Parteien zogen ins Abgeordnetenhaus ein (SPD: 21,4 %, Grüne: 18,9 %, CDU: 18,9 %, LINKE: 14,1 %, AfD: 8,0 % und FDP: 7,1 %). Die Wahlprognosen ähneln diesem Ergebnis mit leichten Verschiebungen. Es ist unklar, ob SPD, Grüne oder CDU die meisten Stimmen erhalten werden. Die FDP und die LINKE drohen, 2 bzw. 3 Prozent zu verlieren.

Dabei ist zu beachten: Das Prozedere am 12. Februar ist eine Wahlwiederholung, keine Neuwahl. Dementsprechend dürfen die Parteien keine Veränderungen bezüglich der aufgestellten Direktkandidat:innen sowie Landeslisten vornehmen – nur der Tod entschuldigt. Doch was bedeutet das für uns? Mehr als ein Jahr RGR2 liegt bereits hinter uns mit Auseinandersetzungen um die Krise der LINKEN, einer Konfrontation um die Frage „Regierungsbeteiligung oder Umsetzung des Mietenvolksentscheids?“, einem Krieg, einer Teuerungswelle und vielem mehr. Wir wollen dementsprechend in diesem Text auf die Politik der Koalition von SPD, Grünen und LINKEN, aber auch auf die Krise der LINKEN eingehen und unsere wahltaktischen Schlussfolgerungen darlegen.

Links blinken, rechts abbiegen?

Zahlreich sind die Versprechen für Verbesserungen, die Rot-Rot-Grün gegeben hat. Noch zahlreicher sind jedoch die, die über Bord geworfen oder so umgedreht wurden, dass man sie kaum als Verbesserungen verstehen kann. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Schulbauoffensive, ein Private-Public-Partnership-Modell, mit dem Versprechen, notwendige Sanierungsarbeiten zu tätigen,  das mehr schlecht als recht läuft. Hinzu kommen massive Kürzungen bei den Verfügungsfonds der Berliner Schulen. Während früher pro Schule 28.000 Euro zur Verfügung standen, sind es nun 3.000 Euro.

Auch die von den Grünen geführte Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz (Senatorin: Jarasch) kann nicht besonders glänzen: Denn RGR2 setzt den Versuch der Teilprivatisierung der Berliner S-Bahn fort und schrieb am 17. Juni 2020 die sogenannte Stadtbahn (Ost-West-Verbindung) und den Nord-Süd-Tunnel aus. Die Netzausschreibung findet in Teilen statt und die Ausschreibung der Fahrzeuginstandhaltung ist ebenfalls davon getrennt.

Besonders präsent ist jedoch der Umgang mit dem Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen, der bereits während des letzten Wahlkampfes für einigen Aufruhr in der Parteienlandschaft sorgte. So machten die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey (SPD), und mit Abstrichen die Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, schon vor der Wahl klar, dass es eine Enteignung großer Immobilienkonzerne mit ihnen nicht geben wird. Somit wurde bereits vor dem ersten möglichen Sondierungsgespräch deutlich, dass es keine Koalition geben konnte, die bereit war, den Volksentscheid umzusetzen.

Das hielt die LINKE nicht davon ab, sich bis heute als bedingungslose Unterstützerin des Volksentscheids zu inszenieren. Statt ihn aber konsequent umzusetzen, stimmte sie der Einrichtung  einer Expert:innenkommission zu, die die Enteignung objektiv verschleppt, die nicht nur das „Wie“ sondern auch und vor allem das „Ob“ diskutieren soll. Währenddessen plante DIE LINKE mit der Koalition hinterrücks die personelle Zusammensetzung der Kommission, gaukelte der Initiative DWe aber vor, selbiges mit ihr abzusprechen.

Das gibt natürlich ordentlich Raum für emotionale Empörung und ist einer der Gründe, warum sich viele Linksparteimitglieder enttäuscht von der eigenen Partei abwandten. Überraschend ist es jedoch auf der anderen Seite nicht. Schließlich besteht einer der Funktionen reformistischer Organisationen darin, soziale Proteste zu inkorporieren. Gleichzeitig hat genau dies dazu geführt, dass sich die Spaltungslinien innerhalb der Linkspartei verstärkt haben, da man auch seiner sozialen Basis gerecht werden muss.

Auch wenn die Linkspartei wahrscheinlich weiter Stimmen verlieren wird, so ist sie noch immer eine Partei mit rund 8.000 Mitgliedern und rund 250.000 Wähler:innen. Trotz Unterordnung unter die Vorgaben der Koalition und Enttäuschung vieler Anhänger:innen setzen bis heute viele Aktivist:innen sozialer Bewegungen (sogar von DWe!) und die politisch bewussteren Schichten der Arbeiter:innenklasse (z. B. Krankenhausbewegung) auf DIE LINKE – und sei es als kleineres Übel angesichts von Parteien, die ansonsten entweder für offen neoliberale, konservative und rassistische Politik stehen oder die imperialistische Aufrüstungspolitik und den Wirtschaftskrieg gegen Russland an der Bundesregierung mitverantworten.

Zerreißprobe für die Linkspartei: für eine linke Opposition!

Die Auseinandersetzung rund um das letzte Wahlergebnis zeigte auf, dass es in den unterschiedlichen Flügeln der LINKEN Differenzen gibt um die Frage, welche Politik die Partei angesichts ihrer generellen Krise anstoßen muss. Das regierungssozialistische Mehrheitslager in Berlin wie bundesweit warb für Rot-Grün-Rot und gab dafür weite Teile seiner Versprechen auf, während ein Minderheitsflügel die Beteiligung an einer Regierung mit SPD und Grünen nicht prinzipiell ablehnte, jedoch die Selbstaufgabe dafür.

Diese Orientierung der Mehrheit ist nachvollziehbar, da die LINKE seit ihrer Gründung länger an der Regierung in Berlin war als in der Opposition. Berlin ist quasi zu einem Vorzeigeprojekt der Regierungssozialist:innen geworden. Die Beteiligung an etwaigen Koalitionen wird von diesem Lager mit der Existenzberechtigung der Gesamtpartei in eins gesetzt – eine Orientierung, die ein Hindernis und keinen Zugewinn gegenüber den Angriffen auf Errungenschaften der Klasse darstellt.

Während der Minderheitsflügel in der Partei in Teilen zwar ausspricht, dass sich beide Ziele entgegenstehen, bleiben die praktischen Konsequenzen aus. In Teilen der Partei wird anerkannt, dass es sich um zwei mögliche Pfade handelt, die sie einschlagen kann: entweder Orientierung auf die Regierung oder Kampf für die Umsetzung ihrer Versprechen. Das Ausbleiben einer systematischen Opposition durch DWe selbst hängt direkt damit zusammen, dass die Initiative programmatisch auf selbige Sackgasse zusteuert: eine Umsetzung durch parlamentarische Mehrheiten.

Zwischen der Wahl und der Koalitionsbildung bildete sich innerhalb der LINKEN Widerstand. Mit der Initiative für eine linke Opposition und Anträgen gegen die Regierungsbeteiligung wurde dies greifbar, doch erstickte dies schlussendlich im Keim. Anstatt über die Urabstimmung hinaus gegen die Regierungsbeteiligung zu kämpfen, endete der organisatorische Prozess zu Beginn des Jahres 2022. Zwar gibt es weiterhin eine Reihe von Direktkandidat:innen der LINKEN, die sich gegen eine erneute Beteiligung an RGR aussprechen, doch ändert diese nichts an ihrer Zersplitterung. Unter den Parlamentarier:innen findet sich keine Person, die offen ausspricht, gegen Giffey gestimmt zu haben.

Keine offenen Treffen der Gegner:innen der Regierungsbeteiligung wurden organisiert. Der Konflikt hat sich verlagert – hin zur Frage der Umsetzung des Volksentscheids. Diese Verlagerung ist ein Ausdruck dessen, in welche Sackgasse sich die LINKE manövriert hat, jedoch zugleich ein falscher Konsens. Denn es zögert den Konflikt hinaus, da zugleich passiv auf das Ergebnis einer Expert:innenkommission gewartet werden kann, deren Urteil nicht bindend ist, und das als eine Perspektive gegen die Verhinderungstaktik von SPD und Grünen dargestellt wird.

Die Verlagerung steht also aktiv dem politischen Konflikt im Wege. In diesem Sinne muss auch die bedingungslose Unterstützung des Volksentscheides, die die LINKE kürzlich erst erneut bekräftigte, als Lippenbekenntnis gewertet werden. Für Parteilinke bedeutet das, ihre Aufgaben in der LINKEN zu erkennen, wenn sie nicht Flankendeckung zur Verteidigung der Regierungsbeteiligung bleiben möchten.

Wie verhalten wir uns dazu?

Die Aufgabe für Revolutionär:innen lautet nun aufzuzeigen, wie der linke Flügel den Kampf um seine Inhalte führen muss. Dazu muss an dieser Stelle Druck aufgebaut werden, da eine bisher systematische Organisierung des Widerstands gegen die Regierungssozialist:innen ausgeblieben ist. Zugleich sind dessen Kandidat:innen durchaus Repräsentant:innen einer bedeutenden Minderheit in der Partei und kontrollieren faktisch Bezirke wie das mitgliederstarke Neukölln.

Deswegen rufen wir zur kritischen Unterstützung der Kandidat:innen des linken Flügels der LINKEN bei den Erststimmen auf. Wir wollen damit jene Kräfte in ihr stärken, die sich gegen eine prinzipienlose Regierungsbeteiligung ausgesprochen und, wenn auch inkonsequenten, Protest gegen den Koalitionsvertrag unterstützt und organisiert haben. Das Ziel ist es, sie in die Verantwortung zu bringen und unter Druck zu setzen, den kämpferischen Worten auch ebensolche Taten folgen zu lassen.

Wir rufen daher bei den Erststimmen nur zur Wahl jener Kandidat:innen auf, um unsere Stimme gegen die Regierungsbeteiligung sichtbar zu machen. Diese Sichtbarkeit machen wir fest an drei Punkten; Erstens unterstützen wir jene Kandidat:innen direkt, die auf dem Landesparteitag der LINKEN den Antrag gegen die Regierungsbeteiligung aufgestellt haben. Zweitens rufen wir zur Stimmabgabe für jene Kandidat:innen auf, die öffentlich die Initiative „Für eine linke Opposition“ unterstützten, sowie drittens jene, die öffentlich für einen Bruch mit der Regierungspolitik der LINKEN eintreten wie beispielsweise Jorinde Schulz und Ferat Koçak, beides Direktkandidat:innen in Neukölln.

Die Unterstützung verbinden wir mit der Forderung, dem Nein-Lager einen organisatorischen Ausdruck zu geben. Zugleich rufen wir zur Zweitstimmenabgabe für DIE LINKE auf. Schlussendlich soll die eingeschlagene Taktik dem linken Flügel im Kampf zur Klarheit verhelfen und nicht durch reine Stimmabwesenheit zum Bedeutungsverlust ohne politische Alternative führen. Wäre dies der Fall, so würde unsere Wahltaktik gegenüber den Wähler:innen nichts aussagen, außer zuhause zu bleiben.  Mit dieser Taktik hingegen rufen wir dazu auf, auch über die Wahl hinaus Druck aufs Abgeordnetenhaus und die bremsende Mehrheit der LINKEN aufzubauen. Der essentielle Punkt ist nämlich nicht einfach nur, dazu aufzurufen, ein Kreuz zu machen, sondern die Stimmabgabe mit der Aufforderung zur gemeinsamen Aktion zu verbinden.

Warum schlagen wir diesen Weg ein?

Als revolutionäre Marxist:innen betrachten wir die Überwindung des Kapitalismus und damit einhergehend des bürgerlichen Staates als die zentrale Aufgabe unseres politischen Wirkens. In Konsequenz dessen spielt für uns die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiter:innenbewegung eine zentralere Rolle als die Arbeit im Parlament, die strategisch überhaupt unfähig ist, den Kapitalismus zu überwinden. Für uns ist das Abgeordnetenhaus in diesem Sinne eine Tribüne im Klassenkampf. Der Reformismus hingegen steht dieser Aufgabenbeschreibung diametral entgegen. Während er zugleich am gewerkschaftlichen Bewusstsein kämpfender Teile der Klasse ansetzend die politische Vertretung als Partei der organisierten Arbeiter:innenschaft zu repräsentieren vorgibt, hängt er zugleich der Utopie der schrittweisen Überwindung gesellschaftlichen Elends an. Das Ziel muss also sein, das vorherrschende reformistische Bewusstsein innerhalb der Arbeiter:innenklasse – noch bürgerlich, aber von der Notwendigkeit einer Klassenpartei überzeugt – zu brechen. Das passiert nicht allein durch Denunziation oder moralische Empörung über den Verrat der bürgerlichen Arbeiter:innenparteien. Ansonsten wäre es schwer erklärbar, warum nach mehr als 100 Jahren der stetigen Enttäuschung Olaf Scholz Kanzler ist oder Giffey in Berlin regieren kann.

Das heißt: Wir rufen zur kritischen Wahlunterstützung für DIE LINKE nicht auf, weil wir denken, dass ihr Wahlprogramm, ihre Politik die dringlichsten Ziele von Arbeiter:innen, Migrant:innen, Jugendlichen, Renter:innen, Arbeitslosen oder anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten einlösen, sondern weil sie gewählt wird von Hunderttausenden, die sie für eine soziale Kraft angesichts massiver Preissteigerungen und inmitten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks halten. Entscheidend ist daher nicht das Programm, sondern das Verhältnis der Kandidat:innen und/oder ihrer Partei zur Klasse und den Unterdrückten. Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung setzt an diesem Punkt an, weil wir als revolutionäre Marxist:innen nicht imstande sind, aus eigenen Kräften anzutreten. Folglich geben wir eine kritische Wahlempfehlung für nicht-revolutionäre Kandidat:innen der organisierten Klasse mit dem Ziel, auf sie Druck auszuüben und somit Teile vom Reformismus aktiv leichter wegbrechen zu können, anstatt zu warten, bis diese von selbst desillusioniert werden. Denn ob man es will oder nicht: Mit rund 8.000 Mitgliedern und rund 250.000 Stimmen bei der letzten Wahl ist DIE LINKE keine Kraft, die einfach ignoriert werden kann.

Die Illusionen i sie zerfallen nicht durch die reine Kritik an ihrer Ausrichtung, sondern dadurch, dass die Partei in die Lage versetzt wird, ihre Politik umsetzen zu müssen. Gerade angesichts der Wahlwiederholung muss deutlich gesagt werden, dass DIE LINKE bereits anschaulich bewiesen hat, dass die Regierungsbeteiligung für sie mehr bedeutet als ihrer Wähler:innenbasis. Doch der linke Flügel der Partei läuft Gefahr, dies durch seine Passivität zu legitimieren, anstatt in der Partei und Wähler:innenschaft Widerstand zu organisieren.

Daher sagen wir: Schluss damit! Wir fordern die sofortige Umsetzung des Volksentscheides, ansonsten kommt keine Koalition zu Stande. Wählt die Kandidat:innen, die diese Position vertreten haben und lasst uns gemeinsam für die Umsetzung dieser kämpfen!




Britannien: Alle auf die Straße am 1. Februar!

Workers Power, Neue Internationale 271, Februar 2023

Die Arbeiter:innenklasse sieht sich dem schwersten Angriff auf ihren Lebensstandard seit der Einführung der Kürzungsmaßnahmen nach der Finanzkrise von 2007/2008 gegenüber.

Die Lohnabhängigen haben darauf mit der größten Streikwelle seit den 1980er Jahren reagiert. Millionen von Beschäftigten im privaten und öffentlichen Sektor haben für Lohnerhöhungen gestreikt, um mit den rasant steigenden Preisen für Lebensmittel, Energie, Mieten und Rechnungen Schritt zu halten.

Die Regierung versteckt sich hinter Lohnprüfungsausschüssen (Gesundheit) oder fadenscheinigen Behauptungen, sie sei nicht die „Arbeitgeberin“ (Verkehr), und blockiert seit Monaten Verhandlungen und Vereinbarungen. Ohne einen Plan zur Bewältigung der Krise des britischen Kapitalismus, die durch jahrelangen Produktivitätsrückgang und die Selbstbeschädigung durch den Brexit noch verschärft wurde, greifen die Tories zu einer Offensive gegen die Gewerkschaften und Arbeitsmigrant:innen, die von der Notwendigkeit angetrieben wird, die populistische Rechte und Mitglieder der Partei zu beschwichtigen.

Es ist diese Schwäche der Regierung, die trotz ihrer großen Mehrheit den Brexit-Extremist:innen im eigenen Lager verpflichtet ist, die entschlossen sind, ihr Projekt der Zerstörung des Sozialstaates und der Zerschlagung der verbleibenden Arbeiter:innen- und Umweltschutzbestimmungen zu vollenden, die sie so gefährlich macht.

Premierminister Sunaks Einladung zu Scheinverhandlungen am 9. Januar, unmittelbar gefolgt von der Ankündigung des Gesetzes über Mindestdienste im Streik, zeigt, dass sie ihrer Überleben mit einer Machtdemonstration gegenüber den Gewerkschaften verknüpft haben. Wir müssen unsere Organisationen in Kampfform bringen, um den Versuch abzuwehren, die Lohnabhängigen durch die Aushöhlung unseres Lebensstandards und streikfeindliche Gesetze, die jede wirksame Gewerkschaftsarbeit verbieten würden, für die Krise bezahlen zu lassen.

Doch trotz der inspirierenden Streikwelle seit letztem Sommer sind viele Gewerkschaften bereits dabei, die Aktion zu demobilisieren, bevor sie nennenswerte Lohnerhöhungen durchsetzen können. Die andere Hälfte, der linke Flügel der Bewegung, hat kaum angefangen oder nur gelegentliche Aktionen organisiert, die keinen Sieg erzwingen können.

Dem TUC-Kongress im Oktober ist es nicht gelungen, ein ernsthaftes Programm für koordinierte Aktionen zu vereinbaren. Dies und der schwache Aufruf zu einem „Aktionstag zur Verteidigung des Streikrechts am 1. Februar“ zeigen, dass die offizielle Führung verzweifelt versucht zu verhindern, dass die sich ausbreitenden Streiks eine Eigendynamik entwickeln, die sie nicht kontrollieren kann.

Wenn sich die Gewerkschaften ungeordnet zurückziehen, nachdem sie nur symbolischen Widerstand geleistet haben – wie 2011/12 während des Rentenkonflikts –, werden wir eine schreckliche Niederlage erleiden, die das beginnende Wachstum der Gewerkschaftsmitgliedschaft und des Kampfgeistes, das sich in unzähligen Streiks und der massenhaften Teilnahme an „Enough is Enough“ (Genug ist genug)-Kundgebungen im ganzen Land zeigt, sicherlich zunichtemachen wird.

Deshalb müssen wir uns jetzt organisieren, um den 1. Februar zum Anfang – und nicht Ende – einer echten Kampagne zu machen, um die Antistreikgesetze zu Fall zu bringen und Lohnerhöhungen zu sichern, die die zweistellige Inflation wirklich ausgleichen. Jede Gewerkschaft mit einem gültigen Aktionsmandat sollte streiken. Aktivist:innen sollten Anträge und offene Briefe von Zweigstellen und Betrieben koordinieren und die Gewerkschaftsvorstände mit Forderungen nach gemeinsamen Kampfmaßnahmen bombardieren. Mittagsdemonstrationen und Kundgebungen, wenn möglich mit Arbeitsniederlegungen, sollten in allen Städten und Gemeinden organisiert werden. Um dies zu gewährleisten, sollten lokale Solidaritätsausschüsse gebildet werden.

Das Ausmaß des Angriffs erfordert eine entsprechende Reaktion. In der Realität bedeutet dies, dass wir darauf vorbereitet und organisiert sein müssen, den undemokratischen Gesetzen zu trotzen, die uns daran hindern, wirksame Maßnahmen zu ergreifen – Massenstreikposten, um Streikbrecher:innen zu stoppen, Betriebsversammlungen und Abstimmungen für Maßnahmen, Solidaritätsstreiks bis hin zu einem Generalstreik.

Schlüsselaufgaben für die Bewegung:

  • Verteidigung des Streikrechts: Alle auf die Straße am 1. Februar!

  • Gemeinsame Streikkomitees in jedem Betrieb!

  • Eine Basisbewegung in den Gewerkschaften!

  • Aktionsräte, um den Widerstand zu vereinen!

  • Zerschlagt die Lohnobergrenze: 15 % für alle!

  • Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

  • Generalstreik zur Zerschlagung der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze!



Die Versprechen der Regierung Lula

Jonathan Frühling, Neue Internationale 271, Februar 2023

Vier Jahre lang war Brasilien im Griff des rechten Präsidenten Bolsonaro. Die Regenwaldabholzung hat unter ihm historische Höchstwerte erreicht, Corona knapp 600.000 Menschen getötet und die (militante) Rechte wurde massiv gestärkt. Nach einem knappen Rennen ist im zweiten Wahlgang wieder der Reformist Lula da Silva zum Präsidenten gewählt worden.

Allerdings trat dieser nicht nur als Kandidat der Arbeiter:innenpartei PT an, sondern hat eine Volksfront mit offen bürgerlichen, neoliberalen Parteien gebildet. Sein Vizepräsident ist der neoliberale Geraldo Alckmin, der lange Zeit als führendes Mitglied in der PSDB (Partei der Sozialen Demokratie) agierte, welches die wichtigste Oppositionspartei während Lulas letzten beiden Präsidentschaften war.

Rechte Gefahr

Wie der Putschversuch im Januar zeigte, ist die rechte Gefahr mit der Wahl keineswegs gebannt. Zur Zeit setzen nicht nur die Arbeiter:innen, die städtische und ländliche Armut, die rassistisch Unterdrückten und Indigenen, die Frauen- und Umweltbewegung auf eine Regierung Lula, sondern auch wichtige Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, die Vizepräsident Alckmin in der PT-geführten Regierung am deutlichsten repräsentiert. Das ist der eigentliche Grund, warum der Putschversuch nie Aussicht auf Erfolg hatte. Doch diese Allianz gegensätzlicher Klassenkräfte und Interessen stellt keine Garantie gegen weitere Putschversuche dar, sondern eine Gefahr für die Zukunft.

Angesichts der rechten Gefahr setzen Lula und die PT wie schon im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie, die den Putsch gegen Dilma mitorganisierte, aus dem Bolsonaro hervorging. Ferner setzen sie auf jenen Militär- und Polizeiapparat, dem der Expräsident entstammt und der Lula nur solange stützen wird, wie er die Interessen des brasilianischen Kapitals verteidigt und die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ruhig zu halten vermag.

Die herrschende Klasse und die imperialistischen Länder kalkulieren damit, dass Lula und die PT in dieser politischen Zwickmühle leichter gefügig gemacht werden können. Angesichts der Wirtschaftskrise lehnen diese Reformen ab, sodass selbst die Versprechen der PT auf parlamentarischem Wege sicher nicht umsetzbar sein werden. Im Folgenden wollen wir sie näher betrachten.

Umweltpolitik

Besonders im Fokus stand während der Wahl in Brasilien der Amazonasregenwald. Lula versprach während der Wahl, bis zum Ende seiner Amtszeit die Rodungen vollständig zu beenden. Es sollen dafür Schutzprogramme aufgelegt und scharfe Kontrollen eingeführt werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, setzte Lula die Umweltaktivistin Marina Silva als Umweltministerin ein, die bereits während seiner ersten beiden Amtszeiten von 2003 – 2008 diesen Posten bekleidete. Wie wenig wir den Versprechen von Lula trauen können, zeigen die Gründe für den Rücktritt von Marina Silva aus Lulas letztem Kabinett: Damals erlaubte Lula die Erschließung entlegener Regenwaldregionen für die Agrokapitalist:innen und Aluminiumindustrie.

Frauenrechte

Wenig Hoffnungen sollten wir auch in Bezug auf Frauenrechte hegen. Schon in seinen ersten zwei Amtszeiten hatte Lula kein Abtreibungsrecht durchgesetzt. Während des Wahlkampfs hat er sich sogar davon distanziert. Grund dafür war, die wachsende Anzahl rechtskonservativer evangelikaler Christ:innen nicht als Wähler:innenbasis zu verlieren. Ihr Anteil liegt mittlerweile bei 32 % an der Bevölkerung. Insgesamt wird es deshalb immer schwieriger, für Frauen- und LGBTQIA-Rechte Unterstützung in der Bevölkerung zu erreichen.

Arbeitsmarkt, Steuern und Renten

Ein weiteres großes Versprechen lautet, die Arbeits- und Rentenreformen rückgängig zu machen, die Michel Temer und Bolsonaro nach dem Sturz der PT-Präsidentin Rousseff durchsetzten. Dazu gehören die Abschaffung des Rechts der Landbevölkerung, früher in Rente gehen zu können, oder die Flexibilisierung von Arbeitsstunden und Urlaubstagen, die nur dem Kapital nutzt. Sozialversicherungsbeiträge, die die Unternehmer:innen zahlen müssen, wurden gesenkt und Renten vom Mindestlohn und von inflationsbedingten Steigerungen entkoppelt. Auch wurden verpflichtende Zahlungen an Gewerkschaften und eine gesetzliche tägliche Höchstarbeitszeit abgeschafft. Bolsonaro hat diese Entwicklung später mit einer weiteren Neoliberalisierung vertieft, z. B. das Renteneintrittsalter massiv erhöht.

Hier fragt sich, wie weit Lula gehen wird, um einerseits den linken Teil seiner Wähler:innenbasis zufriedenzustellen, andererseits seine Koalition mit den wirtschaftsliberalen Parteien nicht zu gefährden. Auch hier sollte mit Alckmin als Vizepräsidenten nicht zu viel erwartet werden. Er selbst hatte 2016 für die Amtsenthebung von Dilma gestimmt, die für den ultraneoliberalen Michel Temer und seine wirtschaftsliberalen Renten- und Arbeitsmarktreformen Platz gemacht. Auch die von Lula versprochene Erhöhung der Reichensteuern droht, am Verhandlungstisch geopfert zu werden.

Wirtschaft

Die wirtschaftliche Lage ist sehr angespannt und macht Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse schwierig. Die Inflationsrate liegt bei 10 %, die Arbeitslosigkeit ebenfalls. Die Coronapandemie hat ihre Spuren hinterlassen und viele Menschen in den Abgrund gestürzt. Sogar der Hunger ist für einen Teil der Bevölkerung wieder zurückgekehrt. Das Wirtschaftswachstum ist mit 3 % gegenüber 2021 gesunken, die Prognosen für 2023 sind mit 1 – 2 % nochmals deutlich geringer. Landwirtschaftliche Erzeugnisse (Soja, Rindfleisch, Zucker) und Rohstoffe (Eisenerz und Rohöl) machen den größten Exportanteil aus. Allerdings ist der Hauptabnehmer China selbst momentan wirtschaftlich geschwächt und kann die Wirtschaft Brasiliens nicht wie noch vor einigen Jahren beflügeln.

Besonders die massive Steigerung der Staatsschulden (momentan 89 % des BIP) belastet die Aussichten für Lulas Präsidentschaft. Um die Wirtschaft voranzubringen, will Lula Infrastrukturprogramme auflegen und staatliche Investitionen erhöhen. So soll der Deindustrialisierung entgegengewirkt werden. In den letzten 10 Jahren ist der Anteil der Industrieproduktion am BIP des Landes von 23,1 % auf 18,6 % gesunken (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169880/umfrage/anteile-der-wirtschaftssektoren-am-bruttoinlandsprodukt-brasiliens/).

Außenpolitik

Die EU und Lula da Silva visieren an, das Mercosur-Freihandelsabkommen zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und der EU wiederzubeleben. Dies würde der Umwelt massiv schaden und das ungleiche Machtverhältnis zwischen den Staaten vertiefen. Deshalb und da viele EU-Länder durch das Abkommen ihre eigene Landwirtschaft bedroht sehen, ist eine Ratifizierung des Vertrages aber weiterhin ungewiss.

Außenpolitisch wird sich Brasilien versuchen, blockfrei zu positionieren. Wichtigste Handelspartner sind nämlich China und danach die USA. Lula da Silva hat angekündigt, mit allen Wirtschaftsblöcken in normale, geregelte Beziehungen zu treten und die außenpolitische Isolierung des Landes unter Bolsonaro rückgängig zu machen.

Dazu nähert sich Lula z. B. Venezuela unter Maduro oder auch Kuba an. Das wichtigste außenpolitische Projekt könnte die Erweiterung der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sein, welche besonders China anstrebt, um ein Gegengewicht zu den G7 zu schaffen. Die USA sieht diese Pläne natürlich als Gefahr an.

Erwartete Blockaden im Parlament

Selbst wenn Lula weitergehende Politik ernsthaft verfolgen würde, sind ihm alleine schon durchs Parlament die Hände gebunden. Dort sind nämlich von den 23 vertretenen Parteien die Rechten in der Mehrheit. Die stärkste ist mit 16,5 % und 99 Sitzen Bolsonaros Partido Liberal (PL). Lulas PT hat gerade mal 69 Sitze, das von ihm geführte Bündnis 82. Bei solchen Mehrheitsverhältnissen könnte er sogar wie seine PT-Vorgängerin 2016 durch ein Amtsenthebungsverfahren gestürzt werden, wenn ihm die neoliberalen Parteien die Unterstützung versagen.

Wie der Putschversuch vom Januar zeigt, stehen die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten vor einem doppelten Problem. Einerseits droht die Gefahr von rechts, andererseits hängt die Volksfront mit Alckmin wie ein Mühlstein am Hals der Arbeiter:innenklasse.

Daher ist es für die Arbeiter:innenbewegung unerlässlich, die Lehren aus dem gescheiterten Putschversuch im Januar zu ziehen und sich die Frage zu stellen, wie das Kampfpotential genutzt werden kann, das bei den Demonstrationen am 9. Mai sichtbar wurde, als Hunderttausende gegen die Rechten auf die Straße gingen.

Lehren

Selbst die versprochenen Reformen werden angesichts einer massiv gestiegenen Staatsverschuldung, ökonomischer Stagnation und Stärke der Rechten in Staatsapparat und Parlament und der Abhängigkeit von bürgerlichen Koalitionspartner:innen an der Regierung mit parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzbar sein.

Ein solches Programm kann ebenso wie die Entwaffnung reaktionärer Kräfte nur umgesetzt werden, wenn es mit einer Massenmobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verbunden wird. Die aktuelle Massenunterstützung gegen die Putschist:innen muss für eine solche Offensive zur sofortigen Umsetzung aller Reformversprechen von Lula und der PT sowie Initiierung eines Sofortprogramms gegen Inflation, Armut, Krise genutzt werden.

Es kann nur verwirklicht werden, wenn wir die Privilegien der herrschenden Klasse, deren Privateigentum in Frage stellen. Es ist unmöglich ohne Streichung der Auslandschulden, massive Besteuerung der Reichen, entschädigungslose Enteignung des Agrobusiness’, der großen Industriekonzerne und Finanzinstitutionen. Ohne die Bündelung der Ressourcen des Landes unter Arbeiter:innenkontrolle kann ein Notfallplan im Interesse der lohnabhängigen Massen, der Landlosen und Indigenen sowie der Umwelt nicht durchgesetzt werden.

So wie Polizei und Armee als Garantinnen des Privateigentums fungieren, so Alckmin und andere offen bürgerliche Kräfte als Statthalter:innen der herrschenden Klasse und des Imperialismus in der Regierung. In einer Koalition mit diesen wird ein Notprogramm für die Massen ebenso wenig  umsetzbar sein wie die Bewaffnung von Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten. Wir fordern daher von Lula und der PT einen Bruch mit den offen bürgerlichen Minister:innen und die Bildung einer PT/PSOL/CUT-Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und ein Notprogramm durchsetzt. Eine solche Regierung muss mit allen Mitteln gegen jeden Putschversuch – sei es eines Bolsonaro und seiner wild gewordenen Anhänger:innen, sei es gegen andere bürgerliche Kräfte verteidigt werden.

Lula und die PT-Führung (und wohl auch Teile der PSOL- und CUT-Führung) werden zweifellos einen Bruch mit Alckmin und dem bürgerlichen Staatsapparat mit allen Mitteln zu vermeiden suchen. Es reicht jedoch nicht, diese Politik zu kritisieren und vor ihren fatalen Folgen zu warnen. Revolutionär:innen müssen auch Mittel und Taktiken anwenden, die es den Massen, die heute Lula und der PT folgen, die „ihren“ Präsidenten gegen den Putsch verteidigen wollen, ermöglichen, sich von den Illusionen in ihn und seine Politik zu befreien. Dazu ist es nötig, Lula und die PT dazu aufzufordern, weiter zu gehen, als sie wollen – also den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen voranzutreiben und zu unterstützen und mit der Bourgeoisie zu brechen.

Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Lula und die PT-Führung diesen Schritt gehen. Aber solche Forderungen können als Basis für einen gemeinsamen Kampf mit seinen Anhänger:innen gegen die Reaktion dienen. Sie erlauben es, den Widerspruch zwischen der klassenversöhnlerischen Kompromisspolitik der bürokratischen Führungen von PT und CUT einerseits und den Klasseninteressen der Masse ihrer Anhänger:innen andererseits sichtbar zu machen. Einerseits, indem diese Führungen praktisch auf die Probe gestellt werden können, andererseits, indem die Klasse auf die zukünftigen Kämpfe und einen eventuellen Verrat „ihrer“ Regierung vorbereitet und, wo möglich, der Aufbau von Kampforganen in Angriff genommen wird.

Um eine solche Politik praktisch werden zu lassen, muss eine systematische Einheitsfrontpolitik gegenüber PT und CUT mit dem Kampf für eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei verbunden werden.




Familienrecht: Umkämpfte Schmalspurreformen

Jürgen Roth, Neue Internationale 271, Februar 2023

Schon im Koalitionspapier wurden umfassende Reformen auf dem Gebiet der Frauen-, Familien- und Queerpolitik angekündigt. Der Abschnitt des Koalitionsvertrags ist auch der mit den vergleichsweise progressivsten Absichten der Ampel. Umgesetzt wurde allerdings bisher nur die Streichung des Werbeverbotes für Abtreibungen (§ 129a) im Juni 2022.

Nun steht eine weitere Gesetzesänderung ins Haus. Beim Sorgerecht soll nach einer Trennung generell das paritätische Wechselmodell (auch Doppelresidenzmodell genannt) zum Zuge kommen. Das soll bedeuten, dass die Kinder nach einer Trennung gleich viel Zeit bei beiden Eltern verbringen. Das heißt auch: Künftig sollen Väter mit gleichem Wohnsitz das Sorgerecht ohne Einwilligung der Mutter erhalten können.

Das hört sich gut und gerecht an, ist es aber nicht. Denn das Modell abstrahiert in vielen Punkten von der Realität.

Sorge- und Erwerbsarbeit

So kann dieses dazu führen, dass Väter Rechte erhalten, ohne eine partnerschaftliche Arbeitsteilung gelebt zu haben. 90 % aller Kinder haben schon heute geteiltes Sorgerecht. Doch bei deren Betreuung klafft eine Lücke von 50 % zwischen Vätern und Müttern. Die feministischen Sozialwissenschaftlerinnen Alicia Schlender und Lisa Yashodara Haller erklären das so: „Väter beteiligen sich also weniger an der Sorgearbeit, weil es für sie gesellschaftlich schwieriger ist, Erwerbsarbeit zugunsten der Sorgearbeit zurückzuweisen.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 15.11.2022, S. 3) So weit richtig.

Dass der Zwang zur Lohnarbeit die proletarischen Männer davon abhält, sich genügend um ihre Kinder zu kümmern, ist unstrittig. Doch wirkt der nicht auch für Frauen dieser Klasse, insbesondere nach Scheidung oder Trennung?

Historisch-materialistisch betrachtet liegt die Ursache für den Care Gap im Gender Pay Gap, der selbst wiederum Resultat einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist. Doch statt diese Problematik direkt angehen, begnügen sich Haller und Schlender mit der Forderung nach staatlichen Ausgleichsleistungen.

So befürworten sie steuerliche Anreize, um weniger arbeiten zu müssen, und eine Erhöhung der verpflichtenden Elternzeit für Väter. Ihnen ist bewusst, dass die bisherige Regelung, je mehr ich verdiene, desto mehr Elterngeld bekomme ich, zu Ungerechtigkeiten führt und schlagen die Summe beider Gehälter als dessen Berechnungsgrundlage vor. Analog zum Mutterschutz soll ein Erwerbsverbot für Väter im unmittelbaren Anschluss an die Geburt gelten über die optionalen 2 Wochen hinaus, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) anstrebt. Ferner soll das Ehegattensplitting abgeschafft werden und halbe Vollzeiterwerbstätigkeit pro Elternteil bei vollem Lohnausgleich gelten. Wer das bezahlen soll, erwähnen sie nicht.

Koalitionsmodell

Das im Koalitionsvertrag bevorzugte Modell sieht diese Abfederungen im Interesse der Frauen erst gar nicht vor. Nachdem die Kinder abwechselnd bei beiden Elternteilen wohnen würden, würde für viele Mütter damit der Barunterhalt wegfallen. Dieses Wechselmodell können sich allenfalls, wie Schlender und Haller anmerken, „ökonomisch stabile Familien“ leisten. Woher soll schließlich das Geld für 2 Wohnungen plus doppelte Kinderzimmer nebst Ausstattung kommen?

Schon jetzt erhält mehr als ein Drittel der Alleinerziehenden – weit überwiegend Mütter – keinen oder nur unvollständigen Unterhalt vom anderen Elternteil. Zwar springt die Unterhaltsvorschusskasse des Jugendamts ein, wo die Mutter aber unabhängig vom Einkommen des Vaters nur den Mindestsatz erhält, von dem auch noch das Kindergeld abgezogen wird.

Doch alle strittigen Fragen rund um Kindesunterhalt bilden kein Thema für die regierende Koalition. Diese beschränkt sich ausschließlich auf eine Kindergrundsicherung. In Zeiten der Aufhübschung von Hartz IV zum Bürgergeld ist Armutskosmetik eben chic.

Kindeswohl und väterliche Gewalt

Doch das Wechselmodell sieht nicht nur von der sozialen Frage und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ab. Auch die häusliche Gewalt gegen Frauen bleibt unterbelichtet und wird tendenziell ignoriert, wie der Artikel „Streit ums Sorgerecht: Das umkämpfte Wechselmodell“ zeigt.

So wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Familie und Partner:innenschaft sind dabei die wichtigsten Tatorte. Allein für 2021 weist die Statistik des BKA 143.604 Fälle häuslicher Gewalt auf. Die Täter sind zu 80 % Männer. Und selbst das BKA fügt hinzu, dass die Dunkelziffer weit höher liegt.

Doch vor Gerichten und bei Behörden spielt häusliche Gewalt nur eine untergeordnete Rolle. So verweist die Studie „Familienrecht in Deutschland“ des Hamburger Soziologen Wolfgang Hammer vom April 2022 darauf, dass bei Priorisierung des Wechselmodells  selbst belegtes gewaltförmiges Verhalten der Väter ausgeklammert werde. Ähnliches Verhalten wird auch von Jugendämtern berichtet.

Diese Entscheidungen gehen auch mit der biologistischen Vorstellung einher, dass Kinder vor allem „beide Elternteile“ bräuchten, egal was sie zum Kindeswohl (und dem des anderen Elternteils) beigetragen haben. Der reaktionären Argumentationslinie zufolge würden auch Frauen, die gewalttätigen Männern im Interesse der Kinder das Sorgerecht streitig machen, die Kinder vom anderen Elternteil „entfremden“ – und so deren „natürliche“ Entwicklung beeinträchtigen.

Dafür macht sich seit Jahren auch die reaktionäre „Männerbewegung“ stark, deren Argumente u. a. auch die FDP in der Koalition aufgreift. Von der Gesetzesvorlage der Ampel ist daher auch in dieser Hinsicht wenig zu erwarten.

Elternschaft, Kapitalismus und Feminismus

Uns geht es hier keineswegs darum, den Wunsch nach Kindern, nach Elternschaft (und damit auch nach Sorgerechten für Väter) als solchen abzutun. Wir stimmen Schlender und Haller in folgender Aussage unbedingt zu: „Es geht nicht länger um eine Abgrenzung von Elternschaft, sondern darum, die Zustände zu kritisieren, unter denen Elternschaft zur Zumutung wird.“

Das Problem mit den Reformvorhaben der Regierungskoalition besteht nicht nur darin, dass sie diese Zustände nicht kritisiert, sondern selbst an deren Reproduktion mitwirkt. Reaktionäre Geschlechterrollen und Familienbilder werden nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse, von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern als natürliche Zustände betrachtet, die es allenfalls etwas zu dehnen gelte. Und selbst soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zum Schutz der Frauen oder zur Unterstützung ärmerer Schichten der Arbeiter:innenklasse bleiben außen vor.

Zu Recht kritisieren die beiden Feministinnen daher: „Gleichberechtigung ist im Kapitalismus nicht zu haben. Sorgearbeit ist ein zentrales Element menschlicher Existenz, aus dem auch Freiheit entsteht.“ Und sie folgern dann:

„Wenn wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben wollen, dann sollten wir Mutterschaft verallgemeinern und nicht abschaffen … Vaterschaft ist historisch allein patriarchale Herrschaft … Aus dieser philosophischen Perspektive braucht Vaterschaft heutzutage kein Mensch, aber Mutterschaft für alle ist ein hohes Gut.“

In dieser Gesellschaft aber gerade nicht, sondern oft ebenso eine Strafe wie Kindheit und Jugend! Haller und Schlender ist ihr subjektiv antikapitalistischer Wunsch zugutezuhalten. Mit der Verteidigung der Mutterschaft als „hohem Gut“ führen sie freilich ungewollt jene Naturalisierung wieder ein, die sie mit der Kritik an der Rolle von Vaterschaft angreifen.

Aufhebung der Geschlechterrollen

Beziehen wir uns unter den Begriffen Vater- und Mutterschaft allein auf das biologisch Notwendige für die Fortpflanzung, so sind sie schlecht abzuschaffen, wenn sich die Menschheit weiter reproduzieren soll.

Betrachten wir freilich die Geschlechterrollen Vater- und Mutterschaft, so sind sie nur idealisierte Vorstellungen einer angeblich natürlichen Ordnung der Geschlechter. Als Sozialist:innen wollen wir die geschlechtliche Arbeitsteilung bis auf das biologisch Unumgängliche (Gebären, Stillen, Zeugen) aufheben. Solange die Sorgearbeit mit Mutterschaft identifiziert wird, werden vom Patriarchat übernommene und überkommene soziale Geschlechterstereotype gerade nicht unterminiert, geschweige aufgehoben, sondern eher fortgeschrieben.

Darüber hinaus fassen die beiden Feministinnen die Klassenfrage ungenügend. Druckmittel und Steuerungsmechanismen versagen beim Kindesunterhalt selbst bei Trennungen von vielen Paaren, die mehr als den Durchschnitt verdienen. Schon gar kritisch wird es erst, wenn getrennte Paare wieder eine neue Familie gründen wollen. Arbeiter:innen können sich den Luxus des Wechselmodells erst recht nicht leisten. Wie für teure Schäden muss eine Art Solidarversicherung her, aber eine staatliche, keine private des Finanzmarkts.

Darum treten Kommunist:innen energisch für Sozialisierung des gesamten Reproduktionssektors ein, nicht nur für die Verwandlung der Hausarbeit in eine öffentliche Industrie, sondern auch der sonstigen Carearbeit in eine gesellschaftliche Dienstleistung mit Rechten und Pflichten für alle. Das bedeutet anzufangen, mit allen Hindernissen bei der Adoption von Kindern und sonstigen Menschen aufzuräumen, mit staatlichem Kindesunterhalt als neuem Sozialversicherungszweig, bezahlt aus progressiven Beiträgen bzw. Steuern von allen und mit Sozialversicherungspflicht (natürlich auch Kranken-, Renten und Arbeitslosenversicherung) für alle unter Kontrolle der Arbeiter:innenorganisationen. Mit solchen Forderungen würde der Weg zu einer kommunistischen Gesellschaft geebnet, in der menschliche Nähe, gegenseitige Verantwortung und Zuneigung nicht allein das Werk von Blutsverwandten ausmachen.




Ende der Pandemie?

Katharina Wagner, Neue Internationale 271, Februar 2023

„Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei“. Diese lang ersehnten Worte stammen aus einem Ende Dezember dem „Tagesspiegel“ gegebenen Interview von Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Charité. Aus dem Coronavirus sei mittlerweile ein endemisches geworden, wie Ende Oktober 2022 auch vom Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, mitgeteilt.

Unter Endemie versteht man einen Zustand, in dem Krankheitsfälle mit einem Erreger in einer bestimmten Population oder Region, wie etwa Deutschland, fortwährend gehäuft auftreten. Das Virus Sars-CoV-2 verschwindet demnach nicht mehr vollständig, sondern wird zukünftig mit relativ konstanten Erkrankungszahlen dauerhaft auftreten. Innerhalb deren herrscht eine breit vorhandene Immunität innerhalb der Bevölkerung. Möglich wird dies einerseits durch bereits überstandene Infektionen und andererseits durch verabreichte Impfungen. Das Immunsystem wird mit einem bereits bekannten Erreger konfrontiert und kann daher spezifischer und vor allem deutlich schneller reagieren. Dies sorgt generell für weniger Ansteckungen und mildere Krankheitsverläufe.

Reaktionen seitens der Politik

Die politischen Entscheidungsträger:innen reagierten prompt. Bereits kurz nach Veröffentlichung des Interviews forderte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) via Twitter zum wiederholten Male eine Abschaffung aller Coronaschutzmaßnahmen. Da aus Sicht mehrerer Wissenschaftler:innen das Risiko einer Infektion durch höhere Immunisierungsraten innerhalb der Bevölkerung gesunken sei und das Virus mittlerweile endemisch vorkomme, seien die noch geltenden Maßnahmen nicht verhältnismäßig und daher nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch dass Christian Drosten sich Mitte Januar noch einmal zu seinem Interview äußerte und von einem Missverständnis sprach, ein Ende der Pandemie könne gesichert nur rückblickend nach dem Winter definiert werden, führte bei den Politiker:innen zu keinem Umdenken.

Das Interview gab auch den Anstoß zu einer breit geführten Diskussion über eine generelle Abschaffung bekann-ter Schutzmaßnahmen wie beispielsweise der Maskenpflicht im Nah- und Fernverkehr bereits vor Ablauf des Infektionsschutzgesetzes am 7. April 2023. Während sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und sein Parteigenosse und Bundeskanzler Olaf Scholz zunächst zurückhaltend äußerten, kamen Zweifel von Seiten der Wirtschaft. Die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, befürchtet bei einem früheren Wegfall der Schutzmaßnahmen eine Schwächung der heimischen Industrie aufgrund eines möglichen Anstiegs an Atemwegserkrankungen und Coronainfektionen. Befürworter:innen für die frühzeitige Abschaffung der Maskenpflicht finden sich aber auch außerhalb der Politik. So ist nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden der Deut-schen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, der Bevölkerung ein unverändertes Fortbestehen der Maßnahmen bis zum 7. April nicht mehr vermittelbar. Schlussendlich wurde dann Mitte Januar das vorzeitige Ende der Maskenpflicht im Nah- und Fernverkehr beschlossen. Ab dem 3. Februar 2023 entfällt sie auch im letzten Bundesland Thüringen. Darüber hinaus soll sie dann nur noch in  Pflegeheimen, Krankenhäusern sowie Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen gelten.

Weitere Möglichkeiten zur Aufhebung von Schutzmaßnahmen zwecks Eindämmung von Coronainfektionen wurden bereits vor dem Erscheinen des Interviews beschlossen. So wurde unter anderem die Isolations- und Quarantänepflicht in Bayern und Baden-Württemberg bereits Mitte November aufgehoben. Zahlreiche andere Bundesländer haben diese seither ebenfalls ausgesetzt. Nur in 7 Bundesländern besteht derzeit weiterhin eine Isolationspflicht.

Auch der Zugang zu kostenlosen Tests wurde bereits Ende November deutlich eingeschränkt. Das sogenannte „Freitesten“ nach einer Infektion wird seit dem 16.1.2023 zudem an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Zugang haben demnach nur noch medizinisches Personal vor Wiederaufnahme der Tätigkeit sowie bis Ende Februar weiterhin Besucher:innen von Pflegeeinrichtungen bzw. Kliniken. Alle anderen müssen die durchgeführten Tests aus eigener Tasche bezahlen. Begründet wird dies mit Lockerungen in Bezug auf die Isolationspflicht und der daraus resultierenden fehlenden Notwendigkeit, Tests zur Beendigung der Isolation aus Bundesmitteln zu finanzieren.

Rekordkrankenstand im Dezember

Die bereits angesprochene Diskussion kam allerdings zur Unzeit. Sie fand innerhalb einer europaweiten und recht frühen Welle von Influenza (Grippe) und Atemwegserkrankungen, hervorgerufen meist vom besonders für Säuglinge und Kleinkinder gefährlichen RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus), statt. Hinzu kamen weiterhin Coronainfektionen. Um die Gefährdung für die nationalen Gesundheitssysteme und die Bevölkerung zu reduzieren, wurde europaweit für Impfungen gegen Influenza und COVID-19, vor allem für anfällige und gefährdete Gruppen, geworben. All dies zusammen führte zu einem Rekordkrankenstand von rund 10 % der Beschäftigten in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Medizinische Labore waren überlastet und konnten Proben nicht rechtzeitig auswerten. Viele Krankenhäuser mussten in den Notbetrieb gehen und sogar Operationen verschieben. Besonders hart betroffen waren demnach vor allem die Kinderstationen, hauptsächlich da hier der Fachkräftemangel wegen erforderlicher Zusatzausbildung noch deutlicher zu spüren ist. Daher konnte man auch nicht einfach Personal von Erwachsenenstationen abziehen, wie von Karl Lauterbach als Lösung des akuten Personalmangels vorgeschlagen. Seitens der DKG wurde auch der Ruf nach Aussetzung der Personaluntergrenzen sowie ein Abbau von Bürokratie und Dokumentationspflichten geäußert. Auch könnten coronapositive, aber symptomfreie Pflegekräfte dennoch auf den Stationen eingesetzt werden, um den fehlenden Personalmangel zu minimieren.

Bilanz der Pandemie

Betrachten wir rückblickend die Arbeit der Bundesregierung zur Bewältigung der Pandemie, fällt das Fazit eindeutig negativ aus.

Zu Beginn im Frühjahr 2020 wurde noch auf eine „Flatten-the-curve-Strategie“ gesetzt. Dabei wird versucht, die Infektionszahlen soweit zu reduzieren, dass ein Kollaps des Gesundheitswesens verhindert wird. Das Ziel ist eine Bewältigung der Krankheitsfälle mit den bestehenden Kapazitäten an Infrastruktur und Personal. Wir erinnern uns alle noch an den ersten Lockdown inklusive flächendeckender Schließungen von Kindertagesstätten und Schulen. Auch die Maskenpflicht und Abstandsregeln im öffentlichen Raum wurden damals eingeführt ebenso wie die Schließung von nicht zwingend notwendigen Einrichtungen wie Fitness- oder Nagelstudios. Besonders hart traf es dabei auch die Kultur- und Gastronomiebranche. Zahlreiche Arbeitsplätze wurden in dieser Zeit abgebaut, auch wenn die Bundesregierung durch Milliardenbeträge und Kurzarbeit mit Geld der Steuerzahler:innen gegenzusteuern versuchte. Zu diesem Zeitpunkt wurde dies noch von weiten Teilen der Industrie mitgetragen. Man erhoffte sich dadurch doch eine deutliche Reduzierung der Krankenstände, welche die heimische Wirtschaft extrem belastet und die globale Wettbewerbsfähigkeit enorm geschwächt hätten. Andere Länder wie etwa Schweden setzten dagegen zu Beginn auf eine sogenannte „Durchseuchungsstrategie“ – ohne Verbote oder gesetzliche Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Abstandsregeln. Allerdings zeitigte diese für das Land verheerende Folgen. Schweden gehört innerhalb Europas zu den Ländern mit den höchsten Todeszahlen im Bezug auf COVID-19 und sah sich in weiterer Folge ebenfalls dazu gezwungen, auf die deutsche Strategie zur Eindämmung von Infektionen überzugehen.

Tatsächlich gelang es der Politik, die Infektionszahlen zu reduzieren und einen völligen Kollaps des Gesundheitswesen zu verhindern. Allerdings muss hierzu gesagt werden, dass die Pandemie die bestehenden Probleme im Gesundheitswesen, allen voran Personalmangel, aber auch fehlende Behandlungskapazitäten aufgrund unzureichender Investitionen, einer breiteren Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt hat.

Kapitalinteressen vs. Gesundheitsschutz

Die Hauptmotivation aller genannten Entscheidungen seitens der Politik im Zuge der Pandemiebekämpfung muss in der vorherrschenden kapitalistischen Produktionsweise und der globalen Wettbewerbsfähigkeit gesucht werden. Lockdowns mit flächendeckenden Schließungen ganzer Branchen und schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte werden daher nicht nur von Teilen der Bevölkerung, sondern auch von Seiten der Wirtschaft abgelehnt. Diese sorgt sich schließlich um ihre globale Wettbewerbsfähigkeit und Produktivitätsvorteile gegenüber der internationalen Konkurrenz. Es geht wieder einmal um die Interessen des gesamten Kapitals, welche vor dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung rangieren.

Gesellschaftliche Bereiche wie Bildung oder Gesundheitswesen stehen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil außerhalb der kapitalistischen Profitinteressen. Hier kann nicht flächendeckend ein sogenannter Mehrwert generiert werden. Aus diesem Grund findet in den genannten Bereichen häufig eine Umlage der Kosten auf alle Bürger:innen und Versicherten statt. Deutlich wurde dies beispielsweise an den staatlichen Hilfen für die Beschaffung zusätzlicher Intensivbetten zu Beginn der Pandemie. Eine weitere Folge dieses Umstandes sind auch fehlende Investitionen, welche dringend benötigt würden, um den bereits lange vor der Pandemie herrschenden Personal- und Fachkräftemangel zu beheben oder eine flächendeckende und gute Versorgung mit medizinischen und bildungstechnischen Einrichtungen sicherzustellen. Auch wenn Karl Lauterbach u. a. wegen der erst überstandenen Rekordwelle Ende 2022 zu einer dringenden Klinikreform aufgerufen und diese auf die Tagesordnung gesetzt hat, wird auch dies wohl keine Wende bringen. Eine gute Gesundheitsversorgung und ein ausreichender Schutz vor neuartigen Infektionskrankheiten kann nur unter Kontrolle der Patient:innen, der Beschäftigten im Gesundheitswesen und allgemein aller Lohnabhängigen sichergestellt werden.

Um Millionen Tote und Geschädigte (Long-Covid) zu vermeiden, hätten sich diese zu Beginn der Pandemie dafür einsetzen müssen, die Weltbevölkerung mit wirksamen Vakzinen zu schützen. Dazu mussten deren Patente und Herstellungsverfahren entschädigungslos enteignet werden. Eine weitere wichtige Maßnahme wäre eine bezahlte Quarantäne für alle Beschäftigten von genügend langer Dauer außer in lebensnotwendigen Bereichen wie z. B. dem Gesundheitswesen gewesen (Zero-Covid-Strategie). Auch die Finanzierung und Umsetzung dieser Maßnahmen erfordert jedoch eine Politik, die sich gegen die herrschenden Kapitalinteressen richtet.