Sieben Gründe gegen die G7

Martin Suchanek, Neue Internationale 265, Juni 2022

Weitab von der Masse der Bevölkerung tagen die Staats- und Regierungschefs der sieben mächtigsten Staaten der Welt im bayrischen Schloss Elmau in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten waren die G7-Gipfel und andere Tagungen zentraler Organisationen der Weltpolitik und -wirtschaft von oft radikalen Massenprotesten begleitet, die die Legitimität dieser Veranstaltungen offen zurückwiesen. Die G7 und andere Institutionen des globalen Kapitalismus wie die G20-, IWF- oder WTO-Tagungen galten ihnen nicht als Teil der Lösung der großen Probleme der Menschheit, sondern als Problems selbst.

Daher fanden und finden diese Treffen der Staats- und Regierungschef:innen der mächtigsten Länder der Welt immer wieder in schwer zugänglichen Regionen statt. Die G7 schienen lange ein Auslaufmodell der Weltpolitik zu sein und durch Formate wie die G20 abgelöst zu werden. Noch unter Donald Trump gerieten sie regelmäßig zur peinlichen Zurschaustellung der Uneinigkeit der eigentlich verbündeten westlichen Mächte.

Doch nicht nur die Neubesetzung im Weißen Haus und die Wiederbelebung der Allianz zwischen den USA und Westeuropa haben den G7 neues Leben eingehaucht. Dass Letztere wieder gebraucht werden, bringt vor allem eine grundlegende Veränderung der internationalen Lage zum Ausdruck. Die ökonomische, politische, geostrategische und letztlich auch militärische Konkurrenz zwischen dem von den USA geführten westlichen imperialistischen Lager und den konkurrierenden Mächten China und Russland hat sich in der letzten Krise und unter Corona noch einmal massiv verschärft. Der Krieg um die Ukraine treibt diesen Antagonismus noch einmal auf eine höhere Stufe, auch wenn er nicht direkt zwischen den Hauptkonkurrenten USA und China, sondern in Europa entbrannt ist.

In dieser Situation sollen sich die G7 als Instrument der neuen Einheit des Westens, der NATO und zur Koordinierung der gemeinsamen Interessen gegenüber den globalen Rivalen bewähren. Die reaktionäre Invasion Russlands in der Ukraine dient dabei als Mittel, die politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele der G7 im Licht von Demokratie, Menschenrechten, ja sogar ökologischer und sozialer Sorge um die Weltgemeinschaft erscheinen zu lassen.

Die G7 und ähnliche Institutionen galten jahrelang auch in der Masse der Bevölkerung als zweifelhafte, illegitime Veranstaltungen. Auch wenn sie sich als „Retter:innen der Welt“ inszenierten, so glaubte das kaum jemand. 2022 ist das zumindest ein Stück weit anders. Das Treffen der sieben Länder wird öffentlich und mit mehr Nachdruck als in vergangenen Jahren als wirklich entscheidende Tagung präsentiert. So verkündet Kanzler Scholz: „Wir werden unsere G7-Präsidentschaft nutzen, damit dieser Staatenkreis zum Vorreiter wird. Zum Vorreiter für klimaneutrales Wirtschaften und eine gerechte Welt.“

Die alles überragenden Themen in Elmau werden natürlich Krieg, Aufrüstung und Sanktionen sein, die selbstverständlich auch Klima und Gerechtigkeit voranbringen sollen.

Doch während sich die Versprechungen der G7 über Jahre fast schon selbst als leere Phrasen entlarvten, können wir 2022 nicht davon ausgehen. Nicht, dass die Gründe besser argumentiert oder stichhaltiger wären, aber die Tatsache, dass der Krieg um die Ukraine – nicht zuletzt wegen des realen, barbarischen Charakters der russischen Kriegsführung – einigermaßen erfolgreich als Krieg zwischen Demokratie und blutiger Diktatur verkauft werden kann, verleiht dem G7-Gipfel wie auch anderen Institutionen der westlichen Großmächte (z. B. der NATO) eine Legitimität, die sie jahrelang nicht besaßen.

Hinzu kommt, dass der Krieg die strategischen Differenzen und Interessengegensätze zwischen den USA und ihren Verbündeten, insbesondere den führenden EU-Mächten Deutschland und Frankreich, für die nächste Zukunft in den Hintergrund drängt und die US-Führungsrolle massiv gestärkt hat.

Bei Lichte betrachtet, entpuppen sich die G7 freilich als alles anders als ein selbstloser Verein gutwilliger Mächtiger zur Rettung der Menschheit, sondern als Dach, unter dem die sieben mächtigsten westlichen imperialistischen Nationen ihre Interessen koordinieren und ihre gemeinsamen Ziele abstimmen und verfolgen. Das können sie natürlich auch ohne solche Gipfeltreffen, aber das G7-Format bringt dennoch eine Stärke zum Ausdruck, die nicht nur auf symbolischer Ebene besteht. Die westlichen Führungsmächte verfügen über Institutionen und Gremien, die ihren gemeinsamen Willen, ihre Interessen gegenüber ihren Rivalen zum Ausdruck zu bringen, während diese auf vergleichbare Strukturen noch nicht zurückblicken, diese erste entwickeln müssen.

Zur Mobilisierung gegen die G7 und die Weltordnung, die sie verteidigen, gibt es sicher mehr als nur sieben Gründe. Wie wollen hier dennoch sieben der wichtigsten nennen, warum wir gemeinsam zu den Demonstrationen und Aktionen nach München am 25. und nach Garmisch am 26. Juni und danach mobilisieren.

1. Aufrüstung, Militarisierung, Krieg, Interventionen

Nicht erst mit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird die Aufrüstung der westlichen Staaten – so auch der Bundeswehr – zur dringenden Notwendigkeit angesichts eines vorgeblichen russischen Übergewichts erklärt. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Die G7 gaben lt. SIPRI-Jahrbuch 2021 (SIPRI: Stockholmer Friedensforschungsinstitut) für ihr Militär insgesamt 1094,5 Milliarden US-Dollar aus, gegenüber 65,9 Mrd., die Russland aufbrachte, also mehr als das Fünfzehnfache. Nehmen wir die verbündeten Staaten im Rahmen der NATO oder anderer US-geführter „Verteidigungspakte“ hinzu, so vergrößert sich dieser Abstand.

Zweitens ist der technologische Vorsprung der USA und ihrer Verbündeten gegenüber Russland auf dem Gebiet konventioneller Waffentechnik in den letzten Jahrzehnten größer geworden. Wirklich auf gleicher Ebene kann es mit den USA nur als Nuklearmacht mithalten.

Der ökonomische Vorsprung des Westens und die massiven Aufrüstungsprogramme werden den Wettlauf verschärfen und Russland wird wirtschaftlich nicht in der Lage sein, hier Schritt zu halten. Im Grunde geht es aber auch nicht in erster Linie um Russland, sondern längerfristig um China, das mit 293 Milliarden US-Dollar den zweitgrößten Rüstungshaushalt der Welt stellt (und damit mehr aufwendet als die gesamte EU nach dem Austritt Britanniens).

Auch bei der Anzahl der Auslandsinterventionen erweist sich der Westen als führend. Allein die USA führten seit 1993 152 Auslandseinsätze durch, darunter Kriege mit Hunderttausenden Toten wie in Afghanistan und im Irak. Gefolgt wird die USA darin von Russland und westlichen verbündeten Staaten.

Militärische Interventionen in Nachbarländern (z. B. Türkei, Saudi-Arabien) oder Grenzkonflikte zwischen Staaten sind durchaus stetiger Bestandteil der Weltpolitik. Aber Auslandsinterventionen fernab der unmittelbaren Grenzen und Verfolgung globaler ökonomischer und geostrategischer Interessen bilden ein Kennzeichen der führenden imperialistischen Nationen, die faktisch ein Monopol darauf beanspruchen und sich auch als oberste Gewalt darüber aufzuspielen versuchen, welche Interventionen legitim sind und welche nicht. Während russische Interventionen der G7-Auffassung zufolge den Weltfrieden in Gefahr bringen, sichern ihn umgehrt die „humanitären“ Interventionen westlicher Mächte in ehemaligen Kolonialgebieten, ob in Mali, Afghanistan oder sonst wo.

In Wirklichkeit handelt es sich bei all dem Gelaber nur um ideologische Begleitmusik, um Rechtfertigungen für die eigentlichen, imperialistischen Ziele der G7-Staaten.

2. Plünderung des globalen Südens

Fast noch verlogener als die Kriegs- und Aufrüstungsanstrengungen stellen sich die zynischen Verlautbarungen bezüglich der Armutsbekämpfung in den Ländern der sog. Dritten Welt dar. Einmal mehr schwört die deutsche Präsidentschaft der G7, sich für ein „soziales und gerechtes globales Wirtschaftssystem“ starkzumachen.

Dazu sollen ausgerechnet jene Strukturen der Weltwirtschaft beitragen, die seit Jahr und Tag die ökonomische Vorherrschaft der führenden imperialistischen Nationen und die Dominanz des westlichen Finanzkapitals über ganze Länder sichern. Die neoliberale Öffnung ganzer Märkte der letzten Jahrzehnte hat die Plünderung der Rohstoffe, die Ausbeutung der vergleichsweise billigen Arbeitskräfte, die Umstrukturierung der Landwirtschaft durch das westliche Agrobusiness massiv verstärkt – bis hin zur Verwüstung ganzer Regionen, der Ausbreitung von Armut, Vertreibung von Bauern/Bäuerinnen und Indigenen von ihrem Land. Zweifellos haben die westlichen Mächte, wie die Politik des chinesischen Imperialismus zeigt, kein Alleinstellungsmerkmal, wenn es um die Verfolgung der eigenen Profitinteressen geht.

Für die G7 geht geht es freilich unter Schlagwörtern wie „gerechte Ordnung“ vor allem um ihre Ordnung, um die Kontrolle der globalen Finanzmärkte und -ströme durch das große Kapital. Die Verschuldung der Staaten des globalen Südens sowie die zahlreichen, von den G7 dominierten Institutionen der Weltwirtschaft (z. B. IWF, WTO) bilden dabei zentrale Hebel, um die imperialistische Ausplünderung durchzusetzen.

Die Entrechtung und Verelendung der Arbeiter:innenklasse, Bauern und Bäuerinnen sowie die Sicherung dieser durch reaktionäre, oft diktatorische Regime, Paramilitärs und rechte Bewegungen bilden faktisch Instrumente zur Durchsetzung dieser Politik.

3. Klimakatastrophe und Umweltzerstörung

Die G7 bilden den Kern der Umweltzerstörer:innen des Globus. In diesen Ländern sind historisch die größten Emittent:innen nicht nur von CO2 konzentriert. Trotz gegenteiliger Beschwörungen fußt der reale, von den G7 verteidigte und forcierte globale Kapitalismus auf der Ausbeutung von Mensch und Natur.

Ein Ausstieg aus den fossilien Energien ist in Wirklichkeit nicht in Sicht. Als Ersatz für russisches Gas und Öl soll „ohne Tabus“ über alternative Importe aus den Golfstaaten oder den USA nachgedacht werden. Selbst dort, wo unter dem Deckmantel des Green Deal die ökologische Erneuerung beschworen wird, handelt es sich im Grunde um ein Projekt zur Erneuerung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Da der Zweck der kapitalistischen Produktion auch dann weiter die Profitmaximierung bleibt, ist eine Abkehr von extraktivistischen Methoden und expansivem Wachstum nicht nur nicht zu erwarten, sondern auch strukturell unmöglich.

Die G7 wollen den Kapitalismus natürlich nicht abschaffen, sondern effektiver und profitabler gestalten.

Das trifft vor allem die Länder der sog. Dritten Welt, deren Rohstoffe weiter ausgeplündert und angeeignet werden und denen die Mittel fehlen, auch nur einigermaßen den Auswirkungen des Klimawandels, des Artensterbens, von Dürren, Verwüstung und generell von Exremwettern entgegenzuwirken.

Im Gegenteil, die Umweltpolitik der G7 ist Umweltimperialismus. Während sie in den westlichen Staaten noch eine gewisse grüne Tünche erhalten mag, so basiert sie wesentlich darauf, die Kosten der ökologischen Krise den Ländern des globalen Südens und den Lohnabhängigen aufzuhalsen.

4. Globale Gesundheits- und Versorgungskrise

Die Pandemie verdeutlichte einmal mehr den mörderischen Charakter der Profitmacherei. Um globale Produktionsketten aufrechtzuerhalten, wurde billigend der Tod von Hunderttausenden, ja Millionen weltweit in Kauf genommen.

In den G7-Staaten war es noch möglich, die Lasten dieser Krise für die Arbeiter:innenklasse ein Stück weit über Kurzarbeiter:innengeld, Lohnfortzahlung und andere staatliche Maßnahmen abzufedern. In den Ländern des globalen Südens wurden Millionen vor die Alternative Corona oder Hunger gestellt.

Die Ressourcen zur Bekämpfung der Pandemie wurden auf die reichen, westlichen Länder konzentriert. Besonders deutlich und zynisch zeigte sich das, als wirksame Impfstoffe entwickelt wurden. Während eine Mehrheit der Bevölkerung der G7-Staaten zumindest teilweise immunisiert wurde, wartet sie in Afrika noch immer auf die erste Impfung.

Bis heute weigern sich Regierungen der G7-Staaten, darunter die deutsche, die Patente oder Gelder für den Aufbau von Produktion und medizinischer Versorgung freizugeben.

Dabei muss die wachsende Gefahr von Pandemien selbst im Kontext der Ausplünderung der Natur und vor allem der kapitalistischen Landwirtschaft begriffen werden. Dass Millionen und Abermillionen ohne Gesundheitsschutz dastehen, ist selbst eine Folge jahrzehntelanger Kürzungen, von Privatisierungen und einer generellen Zerstörung kollektiver Gesundheits- und Altersvorsorge. Die „Erfolge“ des Kapitalismus der letzten Jahrzehnte basieren nicht zuletzt auch auf der Plünderung und Zerstörung öffentlicher Vorsorge und Infrastruktur durch den Markt, der es den G7 zufolge richten soll.

5. Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse

Die gerechte Welt, die die G7 auf ihre Fahnen schreiben, basiert auf der verstärkten Ausbeutung der globalen Arbeiter:innenklasse.

Weltweit betrachtet, ist sie in den letzten Jahrzehnten massiv angewachsen, vor allem in Ländern wie China, Indien und vielen anderen Ökonomien Asiens. Zugleich wurde die Klasse auch weitaus heterogener, eine Entwicklung, die selbst durch neoliberale Angriffe der letzten Jahrzehnte vertieft wurde.

Die Arbeitsproduktivität stieg in vielen Ländern massiv. Eigentlich könnten weltweit in weniger Zeit genügend Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs produziert werden, um allen ein sicheres Leben ohne Hunger und Existenzangst zu gewährleisten. Diese Ressourcen könnten eigentlich zum ökologischen Umbau und zur Ausweitung sinnvoller gesellschaftlicher Arbeiten (Gesundheitswesen, Altersversorgung, Bildung, Vergesellschaftung der Hausarbeit, öffentlicher Verkehr, Wohnungsbau, Sanierung von Umweltschäden) verwendet werden.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Schließlich wird im Kapitalismus nicht für die Bedürfnisse der Menschen, sondern für die Vermehrung des Profits produziert. Die Ausdehnung von prekären Arbeitsverhältnissen, Intensivierung der Arbeit, Sozialkürzungen und Überausbeutung gerade der Arbeiter:innenklasse des globalen Südens sind hier nur folgerichtig. Über Jahre versuchte man, dem Fall der Profitraten durch eine Steigerung der Ausbeutungsrate, also durch Lohnverluste sowie Senkung der Konsumgüterpreise entgegenzuwirken. Zur Zeit werden die Löhne weiter gedrückt, doch zugleich sind die Lohnabhängigen weltweit mit massiven Preissteigerungen infolge der Inflation und mit dem kompletten Verfall ihrer Kaufkraft in vielen halbkolonialen Ländern konfrontiert.

Die Antwort der G7: einige kosmetische Maßnahmen in den reichen Ländern bei massivem Reallohnverlust; drastische Verarmung, Entwertung ganzer Währungen im globalen Süden. G7 und andere neoliberale Institutionen sollen die Nationalökonomien retten – auf Kosten der Massen durch Lohnstopps, Privatisierungen, Kürzungen.

6. Spaltung der Massen durch Rassismus, Nationalismus, Sexismus

Damit nicht genug. Trotz aller Beteuerung von Gleichheit, Humanismus, universellen Menschenrechten fördert die Politik der G7 in Wirklichkeit Ungleichheit und Spaltung der Arbeiter:innenklasse und aller Unterdrückten durch Rassismus, Nationalismus, geschlechtliche Unterdrückung – um nur einige zentrale Unterdrückungsmechanismen zu nennen.

Dabei geben sich die federführenden Regierungen nicht mit der quasi automatischen Vertiefung sozialer Ungleichheit infolge von Lohnkürzungen und Einschränkungen von Sozialleistungen zufrieden. Die Spaltung wird vielmehr aktiv vorangetrieben.

Rassistische, rechtspopulistische und andere reaktionäre bis hin zu faschistischen Bewegungen finden wir in allen G7-Staaten. Während sich die meisten Regierungen offiziell dagegenstellen, erfüllen sie in Wirklichkeit viele der Forderungen der Rechten.

Deutlich wird das bei den Grenzregimen der G7-Staaten – sei es beim rassistischen Grenzzaun der USA oder beim mörderischen Regime der Festung Europa.

Nicht minder deutlich wird dies im Inneren – der Rassismus gegen Schwarze, People of Color, Migrant:innen aus dem globalen Süden, Muslime:innen gehört zur Struktur der „großen Demokratien“, sei es in den USA, Frankreich oder Deutschland.

Während sich die G7 gern als Verteidiger:innen von Frauen und sexuell Unterdrückten aufspielen, kann von einer wirklichen Gleichheit der Geschlechter keine Rede sein. Im Gegenteil, Gewalt gegen Frauen und LGBTIAQ-Menschen gehört zum Alltag in diesen Ländern. Errungene, selbst noch unzugängliche Rechte stehen auf der Kippe, wie der Angriff auf das Abtreibungsrecht in den USA zeigt.

Hinzu kommt, dass in einer Periode der Krise und angesichts des härter werdenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt Rassismus und Nationalismus nicht nur im ökonomischen Kampf spalten, sie dienen auch zur Mobilisierung der „eigenen“ Nation unter Führung der herrschenden Klasse. Nationalismus und Rassismus dienen, zumal in ihrem „demokratischen“ Gewand, als Mittel zur Rechtfertigung von Auslandsinterventionen, Aufrüstung, Überwachung, Abbau demokratischer Rechte und Krieg.

7. G7 als imperiale Ordnungsmächte

Die G7 sind nicht einfach eine Gruppe von Ländern, die gemeinsame Absprachen treffen, mal schlechte, mal weniger schlechte Ziele verfolgen. Sie bilden den Kern jener Staaten, die die imperialistische Weltordnung seit dem Zweiten Weltkrieg beherrschten und auch gegen aufstrebende Konkurrenz weiter dominieren wollen.

Sie und die ihnen angelagerten westlichen Staaten vereinigen bis heute den größten Teil des Kapitalstocks der Welt, also der Anlagevermögen. Sie kontrollieren mit US-Dollar und Euro ihre zentralen Reservewährungen. Gerade auf dem Finanzsektor verfügt das US-amerikanische Kapital noch über eine Dominanz, die ihresgleichen sucht.

Nur wenige andere Länder, also nur die globalen Rivalen wie China und Russland oder besonders starke Halbkolonien wie Indien konnten auch Großkapitale bilden, die mit den großen Konzernen aus den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Britannien, Italien und Kanada mithalten können. Aber gerade der Aufstieg Chinas drückt sich selbst hier in einer beachtlichen Verschiebung aus.

Für die G7 ist ihre Vormachtstellung in Gefahr. Die internationale Isolierung Russlands und die inneren Widersprüche Chinas bilden aktuell eine günstige Situation, die Durchsetzung der eigenen Interessen voranzutreiben.

Umso mehr ist dies der Fall, als die barbarische Kriegsführung Russlands dem Westen insofern in die Hände spielt, als die eigene imperialistische Politik als Form „demokratischer“ Selbstverteidigung im Interesse der gesamten Menschheit verkauft werden kann und verkauft wird. Wir müssten uns, so US-Präsident Biden im März in Polen, auf einen langen Kampf um Demokratie und Freiheit einstellen. Die G7 würden das Lager der Freiheit gegen den russischen und chinesischen Despotismus verkörpern.

Auf einen langen, harten Kampf müssen wir uns allerdings einstellen – gegen die G7 wie auch gegen alle anderen imperialistischen Mächte und die globale kapitalistische Ordnung, die sie vertreten.

Die G7 und ein ganzes Geflecht von Institutionen, die die USA, EU-Mächte und ihre Verbündeten über Jahrzehnte entwickelt haben, bilden dabei eine Allianz, die im Kampf um die Neuaufteilung der Welt den Globus in ihrem Sinne organisieren will – sowohl gegen ihre imperialistischen Rivalen wie China und Russland als auch gegen die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten weltweit.

So wie die Beherrscher:innen der Welt ihre internationalen Institutionen schaffen, müssen wir ihnen unsere, wirklich globalen Strukturen entgegensetzen – eine Internationale des Widerstandes und des Klassenkampfes für eine sozialistische Gesellschaftsordnung.




Das Comeback der G7 und die Krise der Globalisierung

Martin Suchanek, Neue Internationale 265, Juni 2022

Bis vor wenigen Jahren erschien das G7-Format als Auslaufmodell der imperialistischen Ordnung. Die Veränderungen der Weltwirtschaft im Zuge der Globalisierung nährten jahrelang die Vorstellung einer neuen „partnerschaftlichen“ und „freien“ Weltordnung. Russland wurde zeitweilig als Partner in die erlauchte Runde der führenden westlichen imperialistischen Nationen aufgenommen (G8). Die stetige, scheinbar unaufhaltsame Ausdehnung des Weltmarktes, die Etablierung internationaler Wertschöpfungsketten sowie der wachsende Anteil der neuen Großmacht China, aber auch Indiens und anderer sogennanter Schwellenländer an der globalen Produktion schienen eine neue Ära anzukündigen. Diese neue Ordnung schien die Nationalstaaten immer mehr in den Hintergrund zu drängen – und damit auch den Antagonismus zwischen den imperialistischen Großmächten.

Die Ideolog:innen der kapitalistischen Globalisierung versprachen eine Welt, in die freie Marktwirtschaft Wachstum, (bescheidenen) Wohlstand für alle, Gleichheit und Demokratie tragen würde.

In der globalisierungskritischen und antikapitalistischen Bewegung stießen diese wohlfeilen Versprechungen von Beginn an auf Widerspruch und Widerstand – oft auch in Form massenhafter und militanter Mobilisierungen gegen Gipfeltreffen der G7/8, der G20, von IWF und WTO. Zugleich übernahmen jedoch große Teile dieser Bewegung einige Illusionen der Globalisierungserzählung.

Die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Großmächten sei mehr und mehr in den Hintergrund getreten, da der „neue“ Kapitalismus, der nach 1990 Gestalt angenommen hätte, nicht mehr durch nationale Großkapitale der imperialistischen Mächte, sondern von einem neuen, transnationalen Finanzkapital dominiert würde. Die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Mächten wäre daher nur noch ein Randphänomen, Kriege zwischen den imperialistischen Staaten gehörten im Grunde der Vergangenheit an. Manche verkündeten gar das Ende des Imperialismus, andere vertraten faktisch eine Theorie des Ultraimperialismus, bei dem eine mehr oder minder geeinte Welt des Finanzkapitalismus den Massen und Ländern des globalen Südens gegenüberstehen würde.

Die List der Geschichte erwies sich hier einmal mehr als wirksamer als vorschnelle Kurzschlüsse. Auch wenn diese falschen Theorien scheinbar durch die Entwicklung des Welthandels, die massive Ausdehnung der Finanzinstitutionen und die Kooperation der führenden Nationen unter Einschluss von Mächten wie China und Russland bei einer mehr oder minder partnerschaftlichen Ausplünderung der Welt gerechtfertigt schienen, so saßen sie letztlich Oberflächenphänomenen auf.

Die Entwicklungsdynamik der Weltwirtschaft selbst trieb die „Globalisierung“ an ihre Grenzen. Sie war selbst Resultat einer veränderten Weltordnung – des Sieges der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg und der Restauration des Kapitalismus in China, Russland und Osteuropa, aber auch eine Antwort auf die inneren Krisentendenzen des Kapitalismus – den Fall der Profitraten in den Weltzentren und eine strukturelle Überakkumulation des Kapitalismus. Die Expansion des Weltmarktes, die Verlagerung der Produktion in Länder mit geringeren Lohnkosten und Umweltstandards, die „Flucht“ in Finanzmärkte und der Aufbau spekulativer Blasen, die Zerschlagung von Rechten der organisierten Arbeiter:innenklasse und damit einhergehende Erhöhung der Ausbeutungsrate bildeten allesamt Faktoren, die zeitweilig die Profitabilität des Kapitals erhöhten.

Doch sie konnten seine inneren Widersprüche nicht beseitigen. Die Finanzkrise 2008 und die folgende Rezession markieren den Beginn einer Krise der Globalisierungsperiode selbst, die von einer zunehmenden Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten geprägt war und ist. Die globale Rezession 2020 und die Corona-Pandemie vertieften diese Tendenz noch einmal massiv und signalisieren ihr Ende.

Der Aufstieg Chinas schien lange die Internationalisierung der globalen Produktion und Wertschöpfungsketten nur in eine Richtung vorangetrieben zu haben. Der Aufstieg zur zweitgrößten imperialistischen Macht und zum zentralen Herausforderer des niedergehenden Hegemons USA spiegelt diese Veränderungen der Weltwirtschaft wider. Zugleich trug die Expansion des chinesischen Kapitals auch wesentlich dazu bei, die Bedingungen zu schaffen, auf denen die Konkurrenz selbst nicht mehr die Ausdehnung des Weltmarktes beförderte, sondern dessen Krise und Kontraktion. Anstelle der „Partner:innenschaft“ trat die Formierung konkurrierender Blöcke.

Auch Russland schien für einige Zeit, ein wichtiger, strategischer Partner vor allem für den deutschen und französischen Imperialismus zu werden. Kohl und Mitterrand, vor allem Schröder und Chirac setzten mehr oder weniger offen auf eine Achse Berlin-Paris-Moskau als globales Gegengewicht zu den USA – eine Achse, die natürlich von den beiden westlichen Mächten dominiert werden sollte. Heute erscheint das als Projekt einer weit entfernten Vergangenheit. In Wirklichkeit wurden diese Ziele erst 2013/14 nach dem Maidan und schließlich mit dem Krieg um die Ukraine begraben.

Aus den G8 wurden die G7 – aus einem angeblichen Auslaufmodell ein Instrument zur Koordinierung und Zusammenführung der gemeinsamen Interessen der wichtigsten, westlichen imperialistischen Mächte.




Eine bessere Welt: Wer kann sie erkämpfen?

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 265, Juni 2022

Die Uhr, um unsere Lebensgrundlage, die Erde, zu retten tickt. Doch statt ernsthaft diese Probleme angehen zu können, tauchen Pandemien, Lebensmittelkrisen und Kriege auf, die zugleich unsere Aufmerksamkeit fordern. Im Moment scheint es also wenig Anlass für Hoffnung zu geben.

Die Krise der Linkspartei oder der Interventionistischen Linken, die Passivität vieler linker Organisationen werfen somit auch die Frage auf: Können wir überhaupt etwas verändern? Schließlich waren es doch diese Organisationen, die eine große Alternative bieten wollten, unsere Gesellschaft zu verändern, weil „die alten Wege“ nicht mehr klappten. Motivierend ist dies alles nicht. Aber den Kopf in den Sand zu stecken mag vielleicht für einige eine Option sein. Da dies allerdings nicht einmal vom Vogel Strauß praktiziert wird, sondern nur auf falsch interpretierten Beobachtungen beruht, wollen wir uns fragen: Was tun?

Die Zeit, in der wir leben

Ähnlich wie dieser Artikel beginnt der Aufruf zur Demonstration am 25. Juni gegen die G7 in München mit der Feststellung, dass wir nicht mehr so viel Zeit haben. Unter dem Motto „Klimakrise. Artensterben. Ungleichheit. Gerecht geht anders“ heißt es: „Die 2020er Jahre sind das letzte Jahrzehnt, in dem wir noch eine Klimakatastrophe und ein gigantisches Artensterben abwenden können.“

Wenn wir allerdings erfolgreich kämpfen wollen, reicht es nicht aus zu sagen, dass es „jetzt aber mal wirklich Zeit ist“. Bloßer Alarmismus und wissenschaftliche Fakten zu benennen können ein System nicht ändern, das darauf beruht, Profite zu erwirtschaften. Darüber hinaus müssen wir verstehen, unter welchen Bedingungen wir politisch aktiv sind.

Davon wird im von den NGOs durchgesetzten Aufruf natürlich nicht gern gesprochen, da dies bedeuten würde, dass man sich zum Krieg in der Ukraine klar positionieren müsste und nicht nur floskelhaft von „gemeinsamer Friedenspolitik“ reden dürfte, während man gleichzeitig ein Energieembargo und somit eine weitere Eskalation des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt fordert.

Kurz gesagt: Wir leben in einer Zeit eines historischen Umbruchs. Die Periode der Globalisierung, der scheinbar offenherzigen internationalen Zusammenarbeit nähert sich ihrem Ende. Dafür tritt die imperialistische Konkurrenz ganz offen zum Vorschein, – und sie wird die Zukunft prägen.

Doch was bedeutet das für uns? Unter welchen subjektiven Voraussetzungen gehen wir in die kommenden Auseinandersetzungen? Die Bedingungen, unter denen wir auf die Straße gehen, unterscheiden sich sehr von jenen vor 10 oder 20 Jahren. Der Arabische Frühling, der Widerstand in Griechenland und davor die Weltsozialforen und Antiglobalisierungsproteste haben viele Aktivist:innen geprägt und Massen von Menschen auf die Straße gebracht. Sie fanden in einer Zeit des Aufschwungs von Bewegungen statt und nahmen in einigen Ländern oder Regionen revolutionäre Ausmaße an. Doch gleichzeitig haben sie ihre selbstgesetzten Ziele nicht erreicht, ja sie endeten in Niederlagen. Auch wenn eine ganze Generation von Aktivist:innen heute keine Erinnerung mehr an solche politischen Ereignisse hat, prägen die Resultate dieser Kämpfe – insbesondere die unverarbeiteten Niederlagen – auch heute noch den Rahmen, in dem wir agieren.

Seit Jahren befinden wir uns in einer Phase der Defensive. Nach 2016 fand international ein Rechtsruck statt. Auch wenn es dagegen viele Proteste, ja, immer wieder auch massenhaften Widerstand gab, so veränderte das bislang nicht das Kräfteverhältnis. Der entscheidende Grund dafür ist eine historische Führungskrise der Arbeiter:innenklasse, die sich auf allen Ebenen der Bewegung auswirkt und auch mit einer organisatorischen und ideologischen einhergeht.

Dabei befindet sich der Kapitalismus selbst in einer tiefen Krise, die sich auch in einer Zunahme der verschärften imperialistischen Konkurrenz ausdrückt. Das bedeutet nicht nur Krieg wie in der Ukraine, sondern auch, dass die Verteilungsspielräume enger werden.

Zusammengefasst heißt das: Wir befinden uns derzeit in einer Situation der Defensive. Wir wehren eher Angriffe ab, als voranzugehen und Massen für eine neue Gesellschaft auf die Straße zu bringen, und wir müssen auch in Zukunft mit mehr Angriffen auf die Lohnabhängigen rechnen. Natürlich können und werden solche Abwehrkämpfe auch massive Gegenreaktionen, also offensive Möglichkeiten hervorbringen – wie zur Zeit in Sri Lanka, wo eine vorrevolutionäre Situation entstanden ist. Wie aber die Beispiele des Arabischen Frühlings oder der Generalstreiks in Griechenland gegen die EU-Diktate offenbaren, schaffen solche Zuspitzungen zwar die Bedingungen für eine Lösung der Probleme – sie lösen sie aber nicht grundsätzlich. Wenn wir eine andere Gesellschaft erkämpfen wollen, müssen wir uns daher darüber klar sein, welche Kraft überhaupt die Gesellschaft verändern kann und wie diese Kraft zu einem revolutionären Subjekt werden kann.

Wer verändert unsere Gesellschaft?

Die zur Demonstration am 25. Juni aufrufenden NGOs geben darauf eine, und zwar falsche, Antwort: „Die G7-Mitglieder müssen endlich entschlossen gegen die Klimakrise und das Artensterben handeln und Hunger, Armut und Ungleichheit bekämpfen.“

Das heißt jene, die das Problem lösen sollen, sind die Regierungen der führenden imperialistischen Mächte.

Dass viele der Themen auch auf bisherigen Gipfeln immer wieder auf der Agenda standen, ist den Verfasser:innen des Aufrufs klar. Deswegen schreiben sie: „Armuts- und Hungerbekämpfung standen bei G7-Gipfeln häufig auf der Tagesordnung. Doch es blieb bei leeren Worten. Das wollen wir ändern. Die Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten müssen jetzt dafür sorgen, dass …“, und es folgen wieder Forderungen. Kurzum: Die Idee der NGOs besteht darin, dass man Appelle an die Regierungschef:innen richtet. Die ominöse Zivilgesellschaft soll dann Druck aufbauen.

Das verkennt gleich mehrere Aspekte: Zum einen, dass die Zeit, in der wir leben, von größerer Konkurrenz untereinander geprägt ist. Das bedeutet, dass die „gerechte“ Verteilung, die im Aufruf gefordert wird, objektiv schwerer wird. Warum sich gerade jetzt dies ändern soll, was in der Vergangenheit nicht passiert ist, bleibt uns der Aufruf schuldig zu erklären.

Zentraler ist jedoch, dass der bürgerliche Staat, in dem wir leben, keinesfalls ein neutraler Verwalter aller Interessen ist. Dies scheint zwar auf den ersten Blick so, letztendlich agiert der Staat aber als ideeller Gesamtkapitalist und vertritt das Interesse der Herrschenden.

Der nächste Punkt ist die Frage des Drucks und des Subjektes der Veränderung. Der Begriff der „Zivilgesellschaft“ stellt an der Stelle nichts Neues dar und wird auch in vielen linken Kreisen (bspw. Ende Gelände) als Grundlage für die Praxis genommen.

Entscheidend für uns ist jedoch, dass nicht nur für die NGOs, sondern für einen großen Teil der Linken, die „Zivilgesellschaft“ die Arbeiter:innenklasse als Subjekt der Veränderung abgelöst hat. Bei genauer Betrachtung entpuppt sich der so schön nebulöse Begriff „Zivilgesellschaft“ jedoch einfach als die bürgerliche Gesellschaft. Anstelle von Klassen tritt eine klassenübergreifende, „fortschrittliche“ Allianz verschiedener Klassen, deren Hauptträger:innen die Mittelschichten, das Kleinbürger:innentum und privilegierte Teile der Arbeiter:innenklasse sind, also jene Klassen und Schichten, die die bürgerliche Demokratie tragen. Ganz übersehen wird dabei, dass die bürgerliche Demokratie keine „neutrale“ Veranstaltung, sondern vor allem eine Herrschaftsform darstellt – und zwar eine des Kapitals. Dass sich Letzteres diese Herrschaftsform in der gegenwärtigen Periode immer weniger leisten kann, dass der Kampf um demokratische Rechte zu einem wichtigen Kampffeld geworden ist, ändert jedoch nichts am Klassencharakter „der“ Demokratie oder der „Zivilgesellschaft“.

Es ist aber kein Zufall, sondern folgerichtig, dass sich vor allem die NGOs, kirchliche Vereinigungen, diverse Interessensverbände, professionalisierte „soziale Bewegungen“ und Individuen als Träger der Zivilgesellschaft gerieren. Dass diese alle unterschiedliche Interessen haben, wird als Stärke verstanden, schließlich geht es darum, so viele Partner:innen wie möglich zu vereinen, um „das Ziel“ durchzusetzen. Dass dabei Kompromisse gemacht werden müssen, versteht sich von selbst, und darin liegt auch eines der zentralen Probleme. Nicht, weil Kompromisse an sich immer falsch wären, sondern weil der klassenübergreifende Charakter dieser Strategie Kompromisse zwischen Klassen erfordert.

Kritik an der Gesellschaft ist zwar erlaubt, ja erwünscht – sie findet ihre Grenze jedoch am Privateigentum und der bürgerlichen Ordnung. Dies wird am Ende des Aufrufs deutlich: „Mit zehntausenden Menschen werden wir am Samstag, dem 25. Juni in München friedlich auf die Straße gehen und für eine andere Politik der G7-Staaten eintreten.“

Was stellen wir dem entgegen?

Der Großteil der Lesenden wird sich an dieser Stelle nicht wundern, wenn nun die Arbeiter:innenklasse erwähnt wird. Dem Großteil der Gesellschaft scheint dieser Begriff jedoch nicht so geläufig. Die Arbeiter:innenklasse gebe es nicht mehr, ausgestorben sei sie wie die Dinosaurier. Im Aufruf der NGOs finden wir zwar andere gesellschaftliche Gruppen – die Lohnarbeiter:innen kommen aber nicht vor.

Dabei hat sich, rein faktisch betrachtet, die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten massiv vergrößert. Gemeint sind hiermit übrigens Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen und nichts anderes als ihre Arbeitskraft verkaufen können, um ihre Leben zu sichern – nicht nur jene, die in der klassischen Industrie arbeiten. Allein in China und Indien umfasst sie jeweils rund eine halbe Milliarde Menschen; hunderte Millionen von ihnen wurden erst in den beiden letzten Jahrzehnten proletarisiert. In den „alten“ imperialistischen Zentren schrumpft zwar die industrielle ArbeiterInnenklasse, nicht jedoch die Klasse der LohnarbeiterInnen insgesamt. Infolge der immer schärferen Konkurrenz verringert sich auch der Umfang der „traditionellen“ Arbeiter:innenaristokratie, während andere, ehemals privilegierte Schichten (z. B. Ingenieur:innen, Lehrer:innen) immer weniger die Vorzüge der lohnabhängigen Mittelschichten genießen und eine neue Arbeiter:innenaristokratie zu bilden beginnen.

Grundsätzlich wuchs die Arbeiter:innenklasse trotz Krisenprozesse weiter. Massiv zugenommen hat dabei der Teil der Klasse, der zu den „prekären“ Schichten gehört, der oft nicht in der Lage ist, seine Arbeitskraft zu ihren Reproduktionskosten zu verkaufen oder aufrechtzuerhalten. Dieser Prozess findet universell statt, wie auch die Ausdehnung des Billiglohnsektors infolge der Hartz-Gesetze und der „Agenda 2010“ beweist. Er betrifft aber auch im besonderen Maße die Lohnarbeit im „globalen Süden“, die in ihrer Mehrheit aus „Prekären“ wie Contract Workers besteht. In Ländern wie Indien und Pakistan machen diese rund drei Viertel der Klasse aus.

Bedeutung der Arbeiter:innenklasse

Zum einen können die Arbeiter:innen am effektivsten Druck erzeugen. Streik erzeugt ökonomischen Druck, der, anders als bloße Demonstrationen, Kapitalist:innen – und somit auch den Staatsvertrerter:innen – schadet. Zum anderen haben sie, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, ein einheitliches Interesse, und zwar brachenübergreifend. Dies ist darin begründet, dass sie keine Produktionsmittel besitzen und „frei“ sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen (oder zu verhungern). Im Rahmen der Lohnarbeit produzieren sie dann Mehrwert, den sich die Kapitalist:innen aneignen. Deswegen kann es zwischen den beiden Klassen auch keinen dauerhaften Ausgleich geben.

Wollen sie ihre Lage verbessern, dann sind sie gezwungen, sich zusammenzuschließen und für Verbesserungen zu kämpfen. So sind die ersten Gewerkschaften entstanden – als Ausdruck des gemeinsamen Kampfes für ökonomische Verbesserungen. Ebenso lässt sich daraus auch ableiten, warum die Arbeiter:innenklasse eine revolutionäre Rolle an sich spielen kann: Da sie nicht von dem System profitiert, aber gleichzeitig eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung dessen spielt, darf sie letzten Endes um ihre eigene Rolle als Ausgebeutete zu beenden, nicht nur bei einfachen ökonomischen Verhandlungen stehenbleiben, sondern muss den Kapitalismus, die Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalist:innen, abschaffen. Anders verbessert sich ihre eigene Position nicht.

Statt also scheinbar viele verschiedene Kräfte zu sammeln, macht es Sinn sich auf die Arbeiter:innenklasse zu stützen, um die eigenen Forderungen effektiv durchzusetzen. Darüber hinaus zeigt sich also auch, dass es ein Mythos ist, dass es sich bei Arbeiter:innen nur um „den weißen Mann im Blaumann“ handelt. Nachdem die Frage, wer das Subjekt der Veränderung sein kann, diskutiert worden ist, kommen wir nun zu einer weiteren elementaren Frage.

Wie entsteht Bewusstsein?

Ein großer Teil der Bewegung gegen den G7-Gipfel hält den Sturz des kapitalistischen Systems für eine Utopie, für unmöglich. Selbst viele, die grundsätzlich für die Überwindung des Kapitalismus eintreten, gehen davon aus, dass eine Revolution nicht „auf der Tagesordnung“ stünde, das Kräfteverhältnis dafür zu schlecht sei. Daher wäre für die absehbare Zukunft nur eine längerfristige Politik der Reform oder der Transformation möglich. Die aktuelle Praxis – mit Blick auf die Linkspartei oder die SPD, die sich ja auch einmal dieses Ziel gesetzt hatte – sollte eigentlich Beweis genug sein, dass zumindest dieser Weg nicht der richtige ist. Aber hier ist es ähnlich wie mit „Alarmismus“ und „wissenschaftlichen Fakten“: Reine Erkenntnisse verändern allein nicht viel. Somit ist die Frage: Wie entsteht eigentlich Bewusstsein, insbesondere jenes, das das Ziel hat, den Kapitalismus zu zerschlagen?

Festzuhalten ist, dass die inneren Widersprüche des Kapitalismus immer wieder verschiedene Formen von Widerstand und Kämpfen hervorbringen. Diese können sich bis zur Entwicklung revolutionärer oder vor-revolutionärer Situationen entwickeln. Die Beispiele dafür sind zahlreich wie der Arabische Frühling oder die aktuelle Situation in Sri Lanka. In der aktuellen gesellschaftlichen Lage kommt es insbesondere in Halbkolonien aufgrund der katastrophalen Versorgungslage auch immer wieder zu solchen Situationen. Ebenso gibt es immer wieder Streiks für bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne. Sie entstehen also scheinbar „spontan“, aber zur Revolution führen sie nicht.

Dies ist darin begründet, dass revolutionäres Klassenbewusstsein sich nicht in Bewegungen und erst recht nicht im rein gewerkschaftlichen Kampf vollständig entwickeln kann. Im Gegenteil, das spontane Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse, wie es im ökonomischen Kampf erscheint, ist selbst eine Form bürgerlichen Bewusstseins. Dies ist darin begründet, dass es auf dem Boden des Lohnarbeitsverhältnisses steht. Die Frage, die in solchen Kämpfen gestellt wird, ist: Wie können wir unsere Verbesserungen erreichen? Dies ist an sich eine gute Frage, der Punkt ist aber, dass sie nicht automatisch den Kapitalismus in Frage stellen. Schärfere Auseinandersetzungen (Massenstreiks, Aufstände, politische Bewegungen) können in diese Richtung einer revolutionären Entwicklung drängen, indem sie Fragen nach der weiteren Perspektive, nach Strategie, Taktik aufwerfen, die in „friedlichen“ Zeiten für die Masse der Lohnarbeiter:innen (und der Gesellschaft insgesamt) abstrakt, überflüssig und unrealistisch erscheinen, ja erscheinen müssen. Daher muss revolutionäres Klassenbewusstsein von außen in die Klasse getragen werden. Damit ist nicht gemeint, dass es „Nicht-Arbeiter:innen“ tun, sondern dass eine politische Kraft, eine Partei, auf Basis einer wissenschaftlich fundierten Programmatik geschaffen werden muss. Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Praxis im vollständigen Sinn des Wortes geben. Das bedeutet aber auch, dass das Kräfteverhältnis nie nur einfache Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse ist. Es ist vielmehr von den Kräfteverhältnissen innerhalb der Arbeiter:innenklasse und ihren Beziehungen zu anderen Klassen bestimmt.

Die Arabischen Revolutionen oder die revolutionären Möglichkeiten in Griechenland sind in den letzten Jahren gescheitert. In solchen Momenten werden auch immer indirekt die Machtfrage und die Frage, welche gesellschaftliche Kraft überhaupt die Gesellschaft umgestalten soll und kann, gestellt. Das reicht aber, wie wir oben festgehalten haben, nicht aus. Es fehlte an einer politischen Kraft, die die Massen in einer Revolution oder einer vorrevolutionären Periode zur Machtergreifung hätte führen können. So haben andere Kräfte dieses „Vakuum“ gefüllt, die Massen in die Niederlage geführt. Die passive Betrachtung des Kräfteverhältnisses als „strukturell gegeben“ entschuldigt letztlich die Fehler bürgerlicher, reformistischer oder kleinbürgerlicher Führungen, da die Niederlage nicht an deren falscher Politik und Strategie, sondern am ungünstigen Kräfteverhältnis gelegen habe.

Es muss also die Aufgabe von Revolutionär:innen sein, sich als Kraft zu organisieren, die solche Konflikte offen zuspitzt, die offenen Fragen aufzeigt und beantwortet: Mit welchen Mitteln kann die Kontrolle über bspw. die Versorgung gewährleistet werden? Wer soll darüber bestimmen?

Revolutionäres Bewusstsein entsteht nicht von allein, sondern aus Kämpfen, die über ihren Rahmen zugespitzt werden. Darüber hinaus ist es zentral, dass alle diese Auseinandersetzungen – wie überhaupt die Entwicklung des Kapitalismus – von einem internationalen Standpunkt aus betrachtet werden. Der Klassenkampf ist international, oder er ist letztlich gar nicht. Im Folgenden wollen wir uns mit diesen Punkten näher beschäftigen.

Was heißt das für unseren Kampf?

Um erfolgreich gegen die Auswirkungen des Kapitalismus, die so zahlreich im Aufruf der NGOs aufgezählt werden, dürfen wir es also nicht bei bloßen Worthülsen bzw. bei Appellen an Regierungen belassen. Wir müssen den Kampf gegen die Umweltzerstörung, des Artensterbens und Ungleichheit mit dem Kampf gegen die Ursache dieser Probleme selbst verbinden. Dabei sind für uns das Subjekt der Veränderung jene, die selbst davon betroffen sind und keine Profite aus der aktuellen Situation ziehen: die Arbeiter:innenklasse. Darüber hinaus ist es wichtig, die aktuelle Periode zu verstehen, und auch ein Gesamtprogramm zu entwerfen, das auf der Höhe der Zeit ist und das eine Antwort auf die großen Fragen von Krise, Krieg und drohender ökologischer Katastrophe liefert.

Dabei wird offensichtlich, dass es nur eine internationale Lösung geben kann. Keines der wichtigen Probleme kann letztlich national gelöst werden. Der Kapitalismus hat die Produktivkräfte im globalen Maßstab entwickelt, damit aber auch die Grundlage, ja die Notwendigkeit einer weltumspannenden Reorganisation der Produktion und Verteilung gelegt. Ebenso können revolutionäre Bewegungen, die in einzelnen Ländern ausbrechen, auch nur erfolgreich sein, wenn sie internationalisiert, ausgeweitet werden. Internationalismus ist daher für uns nicht nur ein Beiwerk zum Aufbau einer revolutionären Organisation hier, sondern von Beginn an integraler Bestandteil unserer Politik. Um eine revolutionäre Organisation aufzubauen, braucht es freilich nicht nur Klarheit über die strategischen Ziele – es braucht auch ein Programm, das diese in den aktuellen Kämpfen, mit den unmittelbaren Auseinandersetzungen vermitteln kann. Gerade weil unser Ziel der Sturz des Kapitalismus ist, muss der Kampf für die sozialistische Revolution mit dem Kampf für soziale und demokratische Forderungen verbunden werden. Ansonsten bleiben diese unvermittelt nebeneinanderstehen, bleibt die „revolutionäre“ Perspektive nur eine Gesinnung, keine praktische Politik. Um die Brücke vom Jetzt zur Zukunft zu schlagen, ist eine bestimmte Art von Programm, ein Übergangsprogramm notwendig. Auch kleine kommunistische Organisationen, die selbst noch weit davon entfernt sind, eine Partei zu sein, müssen sich der Aufgabe der Entwicklung eines solchen Programms stellen – und den Kampf für ein solches Programm mit dem Kampf für eine neue Internationale, die Fünfte Internationale verbinden.




Gegen Krieg und Krise: Aber wie?

Jaqueline Katharina Singh, Neue Internationale 265, Juni 2022

Seit der Invasion des russischen Imperialismus in die Ukraine hört man öfter das Wort „Zeitenwende“. In der Tat hat der Krieg hat eine neue Phase der Weltpolitik eingeläutet. Die imperialistische Konkurrenz spitzt sich zu, es formen sich, ähnlich wie vor den letzten beiden Weltkriegen, Machtblöcke, die um die Weltherrschaft kämpfen.

Das Ganze wird begleitet von Stagnation und Inflation. Die Preise im Energiebereich oder bei Lebensmitteln steigen in dramatische Höhen. Das trifft vor allem die Lohnabhängigen, die daneben auch mit weiteren Kürzungen im sozialen Bereich rechnen müssen, denn die Kosten für den Krieg werden auf sie abgewälzt.

Dieser Zusammenhang verdeutlicht auch, warum eine vom Kampf gegen den Kapitalismus, gegen ökonomische und soziale Angriffe losgelöste, „reine“ Antikriegsbewegung, „reine“ Friedenspolitik letztlich eine bürgerliche Fiktion darstellen. Das trifft umgekehrt auch auf gewerkschaftliche und ökonomische Kämpfe zu. Die Angriffe auf Löhne und Lebensbedingungen, auf demokratische und soziale Errungenschaften werden nur schwer abzuwehren sein, wenn sie nicht im Kontext der globalen Ziele des deutschen Kapitals und der imperialistischen Weltordnung begriffen werden.

Deshalb wollen wir im folgenden einige Kernforderungen beleuchten, die die Basis für eine erfolgreiche Antikriegs- und Krisenbewegung legen und diskutieren wie wir so eine Bewegung aufbauen können.

1. Der Hauptfeind steht im eignen Land: Klassenkampf statt nationaler Einheit!

Deutschland und der Westen verteidigen nicht das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine, sondern verfolgen vielmehr das Ziel, Russland als imperialistischen Konkurrenten auszuschalten und die Ukraine dauerhaft zu ihrer Halbkolonie zu machen. Die Behauptung, dass es den herrschenden Klassen Deutschlands oder seiner NATO-Verbündeten um einen Kampf zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Willkür und Menschenrechten ginge, ist eine Lüge. Deswegen ist es wichtig, dass wir hierzulande nicht zu den deutschen Interessen schweigen, sondern klar sagen:

  • Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!

Dementsprechend müssen wir uns auch gegen die Aufrüstung des deutschen Imperialismus stellen. Für den neuen militärischen Kurs und der „Zeitenwende“ eines Olaf Scholz sollen riesige Geld in den Rüstungsetat fließe. Das heißt praktisch:

  • Keinen Cent für die imperialistische Politik, für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampel-Koalition!

2. Nein zu Putins Angriffskrieg! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und der Antikriegsbewegung in Russland!

Eine Antikriegsbewegung, die diesen Namen verdient, muss die Invasion in der Ukraine verurteilen, den sofortigen Abzug der Truppen und die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine fordern. Gleichzeitig müssen wir jedoch auch seitens der Ukraine das Selbstbestimmungsrecht der Krim und des Donbass verlangen.

  • Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Gefangenen!
  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger_innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!

3. Wir zahlen Krieg und Krise nicht!

Wie oben bereits geschrieben, können wir Krieg und Krise nicht separat betrachten. Dabei ist es zentral, dass wir uns gegen Sozialabbau, Kürzungen und Steuererhöhungen für die Massen stellen, um die Aufrüstung der Bundeswehr zu finanzieren oder die Krisenkosten zu finanzieren. Das heißt, dass die Kosten der Preissteigerung die Herrschenden zahlen sollen. Wir wollen weder hungern, noch frieren für ihren Krieg, ihre Sanktionen und ihre Krise!

  • Koordinierter branchenübergreifender Kampf, um die Lohnverluste auszugleichen! Automatische Angleichung der Löhne und Sozialleistungen an die Inflation!
  • Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse, der Rentner:innen, von Erwerbslosen durch Besteuerung des Kapitals!
  • Keine Profite mit dem Morden: Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Umwandlung der die Produktion, z. B. in Beatmungsgeräte unter Arbeiter:innenkontrolle!

4. Politischer Massenstreik und Massendemonstrationen gegen jede direkte NATO-Intervention!

Sollten die NATO-Länder zu einer direkten militärischen Intervention z. B. durch die Errichtung von Flugverbotszonen schreiten, muss die Arbeiter:innenklasse unmittelbar gegen diese Eskalation mobilisiert werden, um mit einem politischen Streik bis hin zum Generalstreik die gefährliche Katastrophe zu verhindern und die Kriegstreiberei zu stoppen! Wie sinnvoll solche Aktionen sind, zeigen schon jetzt Arbeiter:innen in Belarus, Italien oder Griechenland, die die Lieferung von Waffen verhindert haben, indem sie sich weigerten, diese zu liefern. Die Ablehnung jeder Klassenzusammenarbeit, jeder Unterstützung der Regierung und ihrer militärischen und wirtschaftlichen Interessen ist nicht nur unerlässlich. Sie schafft zugleich auch die besten Voraussetzungen für den Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung – insbesondere auch in Russland und in der Ukraine.

Antikriegsbündnis aufbauen, aber wie?

Berechtigterweise sollte nun die Frage aufkommen, wie wir das in die Praxis umsetzen. Unsere Aufgabe muss es sein, innerhalb der breiten Proteste, die in Solidarität mit der Ukraine stattfinden, Menschen für eine klare Klassenanalyse und unsere Forderungen zu gewinnen. Ebenso müssen wir in aktuellen Streiks intervenieren, um die Ursache für die aktuellen Preissteigerungen hereinzutragen. Dies kann im Kleinen natürlich durch Diskussionen auf Demonstrationen und Veranstaltungen stattfinden.

Auf der anderen Seite muss dies aber auch im größeren Rahmen geschaffen werden. Dazu braucht es ein Bündnis linker Kräfte, die eine internationalistische Position (also gegen die Imperialist:nnen in Ost und West) vertreten.

Das heißt natürlich nicht, dass eine antikapitalistische Ausrichtung eine Vorbedingung für jede gemeinsame Aktivität oder Aktionseinheit gegen Krieg oder Aufrüstung darstellt oder umgekehrt eine Antikriegsposition Voraussetzung für gemeinsame betriebliche oder gewerkschaftliche Abwehrkämpfe wäre. Eine solche Politik wäre ein sektiererischer Ultimatismus, der Revolutionär:innen zur Passivität verurteilen würde – sei es zum bloßen Kommentieren oder durch die Beschränkung auf Pseudoeinheitsfronten kleiner linker Gruppen. Letztere lehnen wir zwar nicht kategorisch ab, sie haben aber nur dann einen Wert, wenn sie versuchen, Massenorganisationen und -kräfte in die Bewegung zu ziehen, und nicht bloß die politische Selbstbefriedigung einer linken Szene darstellen. Ein Beispiel dafür ist die Kampagne gegen Aufrüstung und Krieg in Berlin an der wir uns auch beteiligen, die am 29. Mai eine Demonstration gegen das 100-Milliarden-Programm organisierte.

Wie gewinnen wir mehr Menschen für unsere Ideen?

Um Menschen für eine konsequente Antikriegs- und Krisenpolitik zu gewinnen, ist es notwendig die scheinbar „politisch-neutralen Bereiche“ des Lebens politisieren. Konkret heißt das, Politik an die Orte zu tragen, wo sich die Menschen tagtäglich bewegen müssen, wie Schule, Unis und Betriebe. Schon jetzt unterhalten sich die Leute viel an ihrer Arbeit oder Bildungseinrichtung über den Krieg in der Ukraine oder die Preissteigerungen.

Aktive Gewerkschafter:innen und politische Aktivist:innen sollten die Fragen, wo vorhanden, in Vertrauensleutekörpern, in Betriebsgruppen oder einfach mit Kolleg:innen aufwerfen. Wo es möglich ist, sollten dort Aktionskomitees gegründet werden. Im Zuge von Mobilisierungen ist dies einfacher, da dort Voll- und Betriebsversammlungen einberufen werden können, um gemeinsam zu diskutieren, sowie mit Flugblättern, Veranstaltungen oder Kundgebungen versucht werden kann, die Debatte zu starten. Dies sollte insbesondere für die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung gelten, denn „Mobilisierung“ bedeutet nicht nur seinen Namen unter einen Aufruf zu schreiben, sondern aktiv die eigene Mitgliedschaft dazu zu bringen für die Aktion zu werben.

Bereits in reformistischen Parteien Organisierte müssen in ihren eigenen Strukturen für eine Antikriegs- und Antikrisenpolitik kämpfen. So sollten z. B. Mitglieder von solid und der Linkspartei die Partei öffentlich aufrufen sich konsequent und geschlossen gegen die Nato und Sanktionen zu positionieren, wie es beispielsweise Teile von Solid tun. Die Initiator:innen von #appell müssen in ihren eigenen Parteien den Kampf gegen die Politik der Ampel-Koalition aufnehmen.

In den Gewerkschaften muss angestrebt werden, eine klassenkämpferische Bewegung aufzubauen, die für ihre Forderungen mit Streiks kämpft – gegen die Bürokratie. Die VKG (Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften) stellt zur Zeit den wichtigsten Ansatz für eine solche Strömung in den Betrieben und Gewerkschaften dar. Das heißt, dass wir die Gewerkschaften auch klar auffordern, mit ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit und Unterstützung der Regierung zu brechen und sich zu beteiligen und aktiv zu mobilisieren. Denn das Ziel muss es letztlich sein, eine Massenbewegung gegen Krieg und Kriegs aufzubauen, die auch wirklich in der Lage ist die Kriegspolitik der Regierung und die Angriffe des Kapitals zu stoppen.




Tarifkampf, Bürokratie und Inflation

Mattis Molde, Neue Internationale 265, Juni 2022

Die Inflation ist da und die Gewerkschaften müssten sie eigentlich so beantworten, dass die Arbeiter:innenklasse keinen Reallohnverlust erfährt. Problem: So wie die Gewerkschaften in der BRD aussehen, ist unser Abwehrkampf gegen die Preisexplosion nicht möglich.

Die Tarifabschlüsse der letzten zwei Jahre bedeuteten allesamt Reallohnlohnverlust. Aus ökonomischer Sicht gab es nur und ausschließlich Niederlagen. Nur in wenigen Fällen, wie bei der GDL und dem Berliner Krankenhausstreik, konnte man von Teilerfolgen reden, weil jeweils  eine politische Blockade durchbrochen wurde: bei der GDL der Versuch, das Antistreikgesetz zur Tarifeinheit praktisch umsetzen, und in Berlin, die Tarifierung der Personalbemessung zu verhindern.

Die Abschlüsse zu Lohn und Gehalt waren alle ein Erfolg des Kapitals und seiner Regierungen, die Kosten der beginnenden Krise und der Pandemie auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen. Seit zwei Monaten hat sich die beginnende Inflation so verschärft, dass eigentlich alle Tarifverträge Makulatur sind. Sie wurden auf der Basis der alten, überholten Prognosen der Wirtschaftsinstitute zur Inflation abgeschlossen, die mit der Realität nichts mehr zu tun haben.

Krisenkosten

Diese Inflation hat ihre Ursachen in der Krise, der Geldpolitik der Zentralbanken, im Ukrainekrieg und vor allem in den Sanktionen der NATO-Staaten, die Teil dieses Krieges sind. Die Arbeiter:innenklasse ist daran in keiner Weise schuld, auch wenn jetzt das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale wieder ausgepackt  wird.

Die wirklich richtige Reaktion auf diesen massiven Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen wäre ein allgemeiner Streik für massive Lohnerhöhungen. Die Verteuerung hat nichts mit den wirtschaftlichen Bedingungen einzelner Branchen zu tun. Deshalb müsste ein solcher Kampf übergreifend geführt werden und auch die Sektoren der Klasse erfassen, die schlecht organisiert sind. Gerade dort sind die Beschäftigten am härtesten betroffen.

Da niemand sicher weiß, wie sich die Inflation entwickelt, reicht es nicht für, eine Prozentzahl oder eine Summe zu kämpfen, auf den Tisch muss die Forderung nach  automatischer Kopplung der Lohnerhöhung an die Steigerung der Verbraucherpreise, so wie der Warenkorb für Lebensmittel und Grundbedürfnisse sich entwickelt.

Aber es sind nicht nur die politischen Maßnahmen und die aktuelle Krise des Kapitalismus, die verantwortlich sind für die Inflation. Es gibt auch die Händler:innen und Produzent:innen, die die Verknappungen auf den Märkten nutzen, um Preiserhöhungen durchzusetzen. So ist die Produktion von Energie in keiner Weise derart teurer geworden, wie die Preise in diesem Bereich explodieren. Gegen diese Spekulant:innen helfen Preiskontrollkomitees der Arbeiter:innenklasse, die die Vorlage der Unternehmenskalkulationen (Offenlegung der Geschäftskonten und -bilanzen) verlangen und gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen wie Beschlagnahmungen durchführen.

Es wäre zuallererst die Aufgabe von Gewerkschaften, derartige Schritte zu organisieren und natürlich auch andere Schichten der Bevölkerung, Rentner:innen, Erwerbslose, ja auch kleine Selbstständige einzubeziehen. Aber sie tun nichts dergleichen, sie diskutieren bisher nicht mal darüber. Ihre Führungen erweisen sich erneut als unfähig, die Interessen der Klasse zu vertreten.

Bürokratischer Zwangsapparat

Stattdessen halten sie an alten Riten wie dem geliebten Tarifritual fest. Das hat was mit der Rolle der Bürokratie in den Gewerkschaften zu tun. Die Funktionär:innen der Gewerkschaften wie auch die Masse der Betriebsratsmitglieder stehen zum kapitalistischen System, zu den Interessen der herrschenden Klasse, insbesondere zu der ihres eigenen Landes und „ihrem“ Kapital, das sie ausbeutet, in keinem grundsätzlichen Widerspruch. Nur in diesem Rahmen versuchen sie, „das Beste für die Beschäftigten rauszuholen“.

In „guten Zeiten“ führt dieser Verrat dazu, dass in Tarifrunden „nicht alles das rausgeholt“ wird, was die tatsächliche oder mögliche Mobilisierung der Kräfte erlaubt hätte. In schlechten Zeiten führt es dazu, dass die Bürokratie das Diktat des Kapitals akzeptiert, dass die Arbeitenden für die Kosten der Krise (oder des Krieges) zu zahlen haben, und den Reallohnverlust organisiert. Servil hat sie genau das die letzten 2 Jahre in Deutschland exerziert –  und wird es weiter tun. Es geht ihnen gut damit, sich willig den Forderungen der Bosse zu beugen.

In guten Zeiten gibt es über die Abschlüsse dann Unmut bei der Basis, gerade bei jenen, die bei Tarifkämpfen am aktivsten waren und spüren, dass sie verkauft worden sind. In schlechten Zeiten, wenn es für mehr Leute um die Existenz geht, kann es für die Bürokrat:innen schwerer werden, ihre Märchen von „erfolgreichen Tarifrunden“ weiter zu erzählen. Dann gibt‘s Repression, dann werden renitente Mitglieder ausgeschlossen, Betriebsratsmitglieder in freundlicher Zusammenarbeit mit der Personalleitung entlassen. Ja, es wird manchmal sogar versucht, die Verteilung von Flugblättern vor dem Werkstor zu verhindern. Die Bürokratien sind längst zum ersten Hindernis für erfolgreiche gewerkschaftliche Kämpfe geworden. Lange bevor man mit den Bossen oder gar den Bullen konfrontiert ist, stellen sich Gewerkschaftsapparatschiks und Betriebsratfürst:innen in den Weg.

Auch wenn zeitweise von und mit der Basis die Bürokratie zu Zugeständnissen gezwungen werden, einzelne Posten mit neuen Leuten besetzt werden können, ist es eine Illusion zu glauben, dass diese dauerhaft gehalten werden können, ohne dass die Aktivist:innen verstehen, wie Kapitalismus funktioniert und warum die reformistische Ideologie, der Glaube an die schrittweise Verbesserung des Wolfssystems genau selbiges am Laufen hält. Für alle Linken und kämpferischen Gewerkschafter:innen ist es essenziell zu verstehen: Es ist nicht möglich, einfach die bestehenden Gewerkschaftsstrukturen zu übernehmen und besetzen. Für Aktivist:innen, die dies versuchen, ergeben sich drei Wege: Isolation als linkes Feigenblatt, Einbindung in den Apparat bei Aufgabe der eigenen Politik, ihr Ausschluss. Der Apparat ist ideologisch und strukturell so gestrickt, dass er nicht einfach klassenkämpferisch übertüncht werden kann. Eine kämpferische Antwort auf die Inflation ist ganz unmöglich mit ihm. Nur eine organisierte, koordinierte oppositionelle Bewegung, die sich explizit als antibürokratisch versteht, kann ihn herausfordern und perspektivisch die Gewerkschaften basisdemokratisch reorganisieren.

Was ist nötig dafür? Es braucht keine einzelnen Superheld:innen. Wo spontaner Unmut Bahn bricht, müssen Linke in den Gewerkschaften alles tun, ihn zu fördern. Nötig ist, den immer wieder aufflammenden Widerstand gegen die kapitalistische Krise und reformistische Bürokratie zu politisieren und organisieren. Dazu bieten auch die anstehenden Tarifrunden gute Ansätze.

Das Beispiel Stahl

Im Jahr 2021 gab es nur eine Einmalzahlung (Corona-Prämie) von 500 und ein „tarifliches Zusatzentgelt“ von 2 mal 250 Euro, das zwar auch zukünftig gezahlt werden soll, aber auch zur „Beschäftigungssicherung“ eingesetzt werden kann – eine schöne Umschreibung für selbst bezahlte Kurzarbeit. Das Kapital hat‘s gefreut. Schon wenige Monate nach dem Abschluss verkündete z. B. die Salzgitter Flachstahl AG den besten Unternehmensabschluss seit 2008.

Dieses Jahr haben die Tarifkommissionen der IG Metall der nordwestdeutschen und der ostdeutschen Eisen- und Stahlindustrie 8,2 Prozent mehr Geld bei einer Laufzeit von 12 Monaten gefordert. Das ist das Doppelte der letztjährigen Tarifrunde. Offensichtlich wächst der Druck aus den Betrieben, nicht wieder ein derart blamables Ergebnis zu vereinbaren. In einem Stahlwerk soll nach Berichten aus der Gewerkschaft eine Forderung von 13 % beschlossen worden sein. Der Vorstand hat die 8,2% genehmigt und innerhalb der Gewerkschaft wird über Warnstreiks geredet.

So begrüßenswert der Druck seitens der Basis ist, der offensichtlich bis in die Tarifkommissionen und den Vorstand hineinwirkt, die Forderung wird nicht reichen, die Verluste der letzten Jahre und die derzeitige Inflation auszugleichen. So manche Bürokrat:innen in der IGM kritisieren sie bereits: Sie schüre Unruhe und fördere falsche Erwartungen in der Gesamtgewerkschaft. Ruhe! Das ist der Bürokratie natürlich wichtiger als ein gutes Ergebnis, denn auf den Klassenfrieden gründen sich ihre Einkommen, ihre Karriere, ihre ganze Selbstgefälligkeit und der unbedingte Glaube an die Sozialpartner:innenschaft. Sie wird diese Ruhe verteidigen.

Tarifkommissionen und Vorstand üben die undemokratische Kontrolle über die 8,2-Prozent-Forderung aus. Sie muss voll durchgesetzt werden, nicht nur, weil sie eine richtige Antwort auf die Inflation beinhaltet. Ein erfolgreicher Streik in der Stahlindustrie für ein Ergebnis deutlich oberhalb der Abschlüsse der letzten beiden Jahre wäre ein gutes Signal für GewerkschafterInnen aller Branchen. Angesichts des „Angebots“ der Konzerne einer Einmalzahlung von 2100 Euro werden auch Warnstreiks nicht reichen, ein Vollstreik muss vorbereitet werden. Dabei dürfen sich die Belegschaften nicht auf die Bürokrat:innen der IGM oder die Betriebsratsspitzen verlassen, sondern müssen die Aktionen unter ihre eigene Kontrolle bekommen und Streikkomitees aus ihren eigenen Reihen wählen, die den Streik Realität werden lassen, auch wenn die Bürokrat:innen krakeelen und heulen: „Das gefährdet die Ruhe!“

Es ist Zeitenwende, es ist Sturm auf der Welt und es ist Zeit, ihrer Ruhe ein Ende zu bereiten. Von Ruhe wird unser Geldbeutel schmal. Der Kampf gegen die Inflation bedeutet Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie, bedeutet Klassenkampf gegen das Kapital.




China und die neue Weltlage: Quo vadis?

Resa Ludivien, Neue Internationale 265, Juni 2022

Die letzten Monate haben das weltweite Machtgefüge ins Wanken geraten lassen. Doch der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine wirkt sich nicht nur auf das Verhältnis der NATO zu Russland oder die EU aus, sondern auch auf halbkoloniale Länder und den plötzlich etwas leiseren, weiteren Anwärter auf die Hegemoniestellung: China.

Der Krieg um die Ukraine

China hält sich in Fragen zum Krieg in der Ukraine auffällig bedeckt. Hilfszahlungen sind marginal und selbst eine politische Beteiligung an der „Lösung“ des Konfliktes scheint nicht in Sicht. Hintergrund für diese Haltung bildet der Umstand, dass es sich in einer zwiespältigen Lage befindet. Einerseits ist es Verbündeter Russlands. Sie sind nicht nur beide autoritär regiert, sondern wollen auch ein Gegenstück zum Westen darstellen. Durch die derzeitige westliche Russlandpolitik, insbesondere auch durch die Sanktionen, wird Russland noch näher an China gedrängt. Der ökonomische Austausch wird voraussichtlich auch steigen, da China ein wohlwollender Abnehmer für russische Rohstoffe ist, die jetzt im Westen „verbrannt“ sind.

Andererseits kommt China der Krieg denkbar ungelegen. Innenpolitisch steht die Regierung wegen Corona unter Zugzwang und der außenpolitische Druck erhöht sich stetig. Vor allem die USA nutzen den bereits bestehenden Konflikt mit der Volksrepublik, um ihr auch mit Sanktionen zu drohen. Trotz der Verbundenheit mit Russland, die weiterhin besteht, hätte sie nichts davon, sich zu offen zu positionieren oder am Krieg zu beteiligen, da sie damit einhergehende, schwer kalkulierbare Risiken fürchtet. Indirekt könnte sie zwar dennoch profitieren durch eine Verwicklung Russlands und der NATO in einen langen Krieg und indem sie sich gegenüber den Halbkolonien als „friedliche“ Alternative präsentiert.

Ost-West 2.0?

Der Angriffskrieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass eine Neupositionierung für eines der beiden großen Lager (pro und contra NATO) nicht nur bei russischen Nachbar:innen angestoßen wurde, sondern auch die Frage der „Verteidigung“ in sonst „neutralen“ Staaten diskutiert wird. Neben Russland steht auch China auf der Anti-NATO-Seite. Eine russische Niederlage würde daher auch Konsequenzen für seine Expansionsbestrebungen haben, da unklar ist, was auf Putin folgt. Für die chinesische Regierung käme ein Regierungswechsel zu einem prowestlichen Regime im Nachbarland einer Schwächung gleich.

Die inneren Krisen in China, allen voran die Pandemie, aber auch eine nahende wirtschaftliche Krise, deren Ursache die massive Überakkumulation von Kapital bildet, setzen die KP noch zusätzlich unter Druck. Bereits jetzt ist die Stimmung schlecht. Immer mehr Menschen äußern ihre Unzufriedenheit und Verzweiflung wegen der Coronamaßnahmen sowie der dadurch entstandenen ökonomischen Einschränkungen wie fehlender Lohn und ausbleibende Nahrung, ganz zu schweigen von einer noch krasseren Einschränkung demokratischer Rechte.

Die Expansionsbestrebungen sind auf ökonomischer Ebene vor allem im Projekt „Neue Seidenstraße“ zu erkennen. Doch nicht nur China selbst, sondern auch Länder, die sich ihm angenähert haben, sind von der derzeitigen Krise betroffen. Sie hat bereits Pakistan und Sri Lanka erfasst. Das Versprechen von Wohlstand und Modernisierung nach chinesischer Manier, die das Projekt „Neue Seidenstraße“ mit sich bringen sollte, kann derzeit nicht eingehalten werden.

Im Gegenteil. Bisher hat die chinesische Regierung nur wenig getan, um ihren Verbündeten finanziell zu helfen. Dies führt sogar dazu, dass sich solche Länder zumindest zeitweilig wieder stärker am Westen orientieren – weil sie sich gezwungen sehen, mit dem IWF Vereinbarungen zu treffen, um den Bankrott abzuwenden und das Land zu stabilisieren. Einerseits kann das als Versuch der Schwächung des chinesisch dominierten Blocks gesehen werden. Andererseits dürfen diese „Hilfen“ nicht romantisiert werden, da die Arbeiter:innenklasse weder von der einen noch anderen Dominanz einen tatsächlichen Vorteil hat. Inwiefern Länder wie Pakistan wieder aus dem chinesischen Einfluss gelöst werden können, bleibt abzuwarten.

Nur einen Antagonismus zwischen „dem Westen“ und allen anderen, autoritären und nicht halbkolonialen Ländern (vor allem östlich von Europa) zu sehen, ignoriert aber die realen Interessen, die Länder wie Russland oder China verfolgen, und damit auch den realen Konflikt zwischen den sich formierenden imperialistischen Blöcken. Es geht nicht um „Demokratie und Freiheit“ vs. „Autoritarismus und Diktatur“, sondern um die Neuaufteilung der Welt.

Taiwan

Eine Besonderheit Chinas im derzeitigen Konflikt ist die Verbindung mit der Taiwanfrage. So versucht das Land seit Jahren auf politischem Wege und zuletzt mit immer mehr militärischer Drohkulisse, Taiwan „zurückzuholen“. Letzteres, eine kleine Insel, im strategisch wichtigen Ostchinesischen Meer, war zwar nie Teil der Volksrepublik, aber die Rhetorik der KP versucht dennoch, die Geschichte für sich günstig umzudeuten.

Einen Angriff des gut ausgerüsteten chinesischen Militärs würde Taiwan als Staat, der von vielen Ländern auf Druck Chinas nicht einmal anerkannt ist, alleine nur schwer überstehen. Die Einnahme würde die chinesische Seegrenze in Richtung USA und Japans verlegen. Taiwan setzt daher im Angriffsfall seine Hoffnung auf die USA, welche ihrerseits bereits zugesagt hat, es zu verteidigen. Diese hypothetische Konstellation bildet jedoch nur ein mögliches Szenario einer kriegerischen Konfrontation. Zur Zeit arbeiten die USA unter Biden daran, in Ostasien bestehende militärische Bündnisse zu stärken und neue wie z. B. AUKUS (Abkommen zwischen Australien, Britannien und den USA) zu schaffen, um China zu isolieren.

Kontrolle nach innen = Stärke nach außen?

Wer das kapitalistische System studiert, weiß, dass ökonomischer Aufschwung und schnelles Wachstum nicht dauerhaft anhalten können und nicht nur von individuellen oder nationalen Bemühungen abhängen. Auch wenn die Expansion des Kapitalismus in China ungewöhnlich lange anhielt, scheint deren Endlichkeit nun auch das Land erfasst zu haben. War „made in China“ noch vor einigen Jahren ein spöttischer Ausdruck dafür, wie sich die Blüte der chinesischen Wirtschaftskraft auf alle Kontinente erstreckte, ist die Volksrepublik nun ökonomisch angeschlagen. Sie kann, anders als vor 10 Jahren nicht mehr den Motor der Weltwirtschaft spielen, auf den man sich angesichts der sich anbahnenden internationalen Krise stützen könnte. Der politische und ökonomische Druck von außen auf China ist gestiegen. Doch Beijing will zuerst die Krisen im Innern angehen.

Das jahrhundertealte Konzept der inneren Harmonie, das als philosophische Grundlage den starken Fokus auf innere Angelegenheiten und Kontrolle bereits in vorkapitalistischen Zeiten setzte, bestimmt auch jetzt das Krisenmanagement der KP. Die Konzentration auf die Innenpolitik prägte auch den Volkskongress, der Anfang März stattfand – einer der wichtigsten Termine in der chinesischen Politik. Der wichtigste kommt freilich noch: der Parteitag im November 2022. Die oben bereits benannten Krisen versucht man, im Alleingang, und ohne großes Aufsehen zu erregen, zu lösen.

Das Problem liegt dabei aber darin, dass nicht nur Pandemie, sondern auch Inflation globale Phänomene sind. Um der Wirtschaftskrise im Land selbst entgegenzuwirken, wird versucht, „kontrolliert“ Kapital zu vernichten. Damit sollen die sozialen und wirtschaftlichen Folgen begrenzt werden. Bei der gesamten Problemstellung handelt es sich jedoch um eine Art Quadratur des Kreises. Der Zweck der Krise besteht, innerkapitalistisch betrachtet, gerade darin, überschüssiges, nicht mehr konkurrenzfähiges Kapital zu zerstören, um so einen neuen Zyklus produktiver Neuinvestitionen und einer Erneuerung des Kapitalstocks einzuleiten. Je größer die Masse des überakkumulierten Kapitals, je mehr dieses auch die Finanzsphäre ergriffen hat und spekulative Blasen die Summen fiktiven Kapitals erhöht haben, desto heftiger muss die Zerstörung durch die Rezession ausfallen, damit die Grundlagen für einen neuen expansiven Zyklus gelegt werden können.

Dies inkludiert aber auch eine enorme Zuspitzung der Klassenkonflikte. Reales kapitalistisches Eigentum muss zerstört werden. Vor allem aber bedeutet dies auch die Stilllegung von Betrieben und Massenentlassungen von Arbeiter:innen. Die KP fürchtet solche Konflikte und ist ihrer wohl bewusst. Daher greift sie auf Repression und Überwachung in extremer Form zurück. Zugleich versucht sie aber auch, das Zerstörungswerk der Krise „kontrolliert“ durchzuführen. Dies schließt aber notwendigerweise ein, dass überschüssiges Kapital nicht zerstört, sondern fortgeschleppt und damit die Ursache der Krise nicht beseitigt wird.

Eine weitere Reaktion auf Weltwirtschaftskrisen ist die vermeintliche Stärkung nach innen, die allerdings Nationalismus und Repression befördert. Für die Arbeiter:innen bedeutet das weitere Einschränkungen. Eine nach außen gerichtete Krisenpolitik würde zwangsläufig zu einer Erstarkung der Achse Beijing-Moskau und einem Einspannen bereits verbündeter Regionalmächte, also Blockbildung, führen. Für die Aufrüstungsspirale und Kriegsgefahr wären das nur Brandbeschleuniger.

Klassenkampf in China

Die chinesische Arbeiter:innenklasse ist die größte der Welt. Kein Wunder also, dass man gerade versucht, diese niederzuhalten, um das Land zu kontrollieren. Ihr Potenzial, einen nationalen Umsturz oder eine gar internationale Bewegung einzuleiten, ist enorm. Jedoch sind auch die Hürden Repression und Unterdrückung massiv. Es gab in der Vergangenheit und auch in den letzten Jahren bereits unzählige Arbeitskämpfe. Aufgrund der eingeschränkten Versammlungsfreiheit, keiner Möglichkeit zur freien Organisierung und des ausgebauten Überwachungsapparats blieben die Kämpfe jedoch oft auch lokal beschränkt und durch die Zensur auch wenig im Land beachtet. Eine der größten Bewegungen neben der in Hongkong war vor Corona die chinesische Variante der #MeToo-Bewegung, die zwar keinen Klassenstandpunkt bezog, aber es schaffte, eine solche Dynamik zu entwickeln, dass die Social-Media-Zensur nicht hinterherkam.

Der Unmut über die soziale und politische Lage wird immer größer und entlud sich zuletzt gegen die Coronamaßnahmen, die ein „Überleben“ immer schwieriger machen. Die ökonomische, pandemische und innenpolitische Krise sowie der Systemkampf der KP mit den USA fordern ein Aktionsprogramm für den Klassenkampf in China. Die Krise wird sich weiter verschärfen. Es braucht eine gemeinsame Organisierung um ein solches herum gegen die Krise, damit Lohnabhängige, Bauern/Bäuerinnen und Unterdrückte nicht die Quittung für die Krise erhalten. Bereits jetzt gibt es lokale Kämpfe, Organisierung im Kleinen und im Untergrund oder spontane Aktionen im Betrieb. Es braucht einen gezielten Aufbau und eine Vernetzung der Kampfstrukturen auch über die großen Städte hinaus auf dem Land. Da legale Arbeit in China so gut wie unmöglich ist, kann nicht nur auf erlaubte Möglichkeiten zurückgegriffen werden, sondern der Aufbau einer revolutionären Partei muss auch mit illegaler Untergrundtätigkeit verbunden werden.

Eine revolutionäre Partei in China muss mit der Politkaste der KP-Führung brechen und von der Erkenntnis ausgehen, dass es sich von einem degenerierten Arbeiter:innenstaat hin zu einer imperialistischen Macht entwickelt hat. Die chinesische Arbeiter:innenklasse hat nichts, davon sich hinter die Kriegsrhetorik der Regierung einzureihen. Ganz im Gegenteil. Dieser Fokus nach außen dient nur, um Widersprüche im Innern zu vernebeln wie den Angriff auf die Lebensgrundlage von Arbeiter:innen oder die Beschränkung von demokratischen Rechten wie der Pressefreiheit oder die Unterdrückung von Minderheiten. Auch in China gilt wie in jedem imperialistischen Staat: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Lasst die Kapitalist:innen für die Krise zahlen! Bekämpft die Militarisierung und den Nationalismus!




Schweden-Finnland: NATO-Beitritt – Ende der nordischen „Neutralität“?

Interview mit Svante Persson (Arbetarmakt, Schweden), Neue Internationale 265, Juni 2022

Der russische Einmarsch in der Ukraine hat in Westeuropa zu einer Flut prowestlicher imperialistischer Propaganda geführt. Die Kriegstreiberei und gesteigerte Aggression zwischen den imperialistischen Blöcken haben den herrschenden Klassen hier die Möglichkeit gegeben, die Gewichte zugunsten des US-Imperialismus und der Aufrüstung zu verschieben, wobei eine wichtige Verschiebung darin besteht, dass Schweden und Finnland rasch die Mitgliedschaft in der NATO beantragen. Wie kam es dazu, und wie sieht der Widerstand aus? Arbetarmakt, die schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, veranstaltete kürzlich eine öffentliche Veranstaltung mit dem Titel „Nein zum Imperialismus, nein zur NATO!“ Nach der Versammlung sprachen wir mit einem Genossen von Arbetarmakt über die dortigen Entwicklungen.

GAM: Schweden und Finnland sind seit Jahrzehnten kein Mitglied der NATO. Warum ist das so?

AM: Die Idee der Neutralität in internationalen Konflikten und in Bezug auf Machtblöcke ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil des schwedischen (und finnischen) Selbstverständnisses. Während die geopolitische Situation in Finnland im 20. Jahrhundert aufgrund der gemeinsamen Grenze mit der Sowjetunion eine ganz andere war, bestand die Strategie des schwedischen Imperialismus darin, öffentlich zwischen dem US-amerikanischen und dem stalinistischen Block zu navigieren, mit dem Vorteil, in Bezug auf internationalen Handel und Einfluss nicht an einen der beiden Blöcke gebunden zu sein, während man in Wirklichkeit hinter verschlossenen Türen ganz klar auf der Seite des US-Imperialismus stand. In den 1960er und 1970er Jahren wandelte sich die pragmatische Position der schwedischen Sozialdemokratie unter dem Einfluss des zunehmenden Jugend- und Arbeiter:innenradikalismus, insbesondere in der Opposition gegen den Vietnamkrieg, zu einer offeneren Haltung gegen die NATO und die imperiale Aggression der USA. Wie Historiker:innen der öffentlichen Politik hervorgehoben haben, bedeutete dies in den meisten Fällen, dass das Wissen um das wahre Ausmaß der schwedischen Zusammenarbeit mit der US-Militärplanung auf einen kleinen Kreis beschränkt blieb, selbst innerhalb der absoluten Führung der Regierung.

GAM: Warum und wie wurde die Position der formalen Neutralität aufgegeben?

AM: Obwohl die vermeintliche schwedische „Neutralität“ größtenteils eine Täuschung war und zunehmend als solche entlarvt wurde, hielt sich die Vorstellung von Schweden als neutralem Land, ja sogar als „humanitärer Supermacht“, in den Köpfen der sozialdemokratischen Wähler :innen und breiterer Schichten der Arbeiter:innenklasse bis weit in unsere Zeit hinein. Dies galt selbst dann noch, als konkurrierende Regierungen in den 1990er Jahren Schweden langsam aber sicher offener in das westliche Bündnis einbanden. Einige Eckpfeiler der Aushöhlung der formellen schwedischen Neutralität waren die Mitgliedschaft in der Partnerschaft für den Frieden (1994), die EU-Mitgliedschaft (1995) und vor allem die 2016 vom Parlament verabschiedete Absichtserklärung (Memorandum des Verständnisses), mit der der Weg für die Annahme von NATO-Unterstützung im Krisenfall geebnet und NATO-Truppen die Durchführung von Übungen auf schwedischem Hoheitsgebiet gestattet wurde. Erwähnenswert ist auch die schwedische Beteiligung an früheren NATO-geführten Interventionen in Afghanistan, im Kosovo und im Irak. In der Öffentlichkeit und gegenüber den Wähler:innen wurde dies alles mit einer Rhetorik über „200 Jahre Frieden“ gepaart (was offensichtlich die direkte schwedische Beteiligung an imperialistischen Kriegen im Ausland und/oder den Gewinn daraus ausschließt) und darüber, wie „die Neutralität Schweden gut gedient hat“.

In Schweden haben sich offen bürgerliche Parteien im Parlament für eine NATO-Mitgliedschaft ausgesprochen, während die Sozialdemokratische Partei, die Linkspartei und die Grünen dagegen waren. Bemerkenswert ist, dass die rassistischen Schwedendemokrat:innen, die seit 2010 im Parlament vertreten sind, ursprünglich ebenfalls gegen die NATO (und die EU) waren und eine eher isolationistische Linie vertraten. Dies bedeutete, dass die formale militärische Neutralität über eine solide Mehrheit im Parlament verfügte, auch wenn sie stark ausgehöhlt wurde. Noch auf dem sozialdemokratischen Kongress im November letzten Jahres erklärte Verteidigungsminister Peter Hultqvist: „Es wird keinen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft geben, solange wir eine sozialdemokratische Regierung haben. Solange ich Verteidigungsminister bin, werde ich mich definitiv nicht an einem solchen Prozess beteiligen. Das kann ich garantieren.“

Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine änderte sich dieser Standpunkt natürlich schnell. Mit einer noch nie dagewesenen Pro-NATO-Offensive in den bürgerlichen Medien wurde die Diskussion in Schweden schnell auf die Frage gelenkt, wann und nicht ob das Land der NATO beitreten sollte. Die Sozialdemokrat:innen waren anfangs zurückhaltend und argumentierten nicht, dass eine NATO-Mitgliedschaft an sich schlecht, sondern jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, um die schwedische Verteidigungsdoktrin zu ändern, und man damit bereits auf einem schmalen Grat wandle. Als Finnland seinen NATO-Beitrittsprozess einleitete, hielten es die schwedischen Sozialdemokrat:innen für angebracht, sich ruhig zu verhalten und den Finn:innen den Vortritt zu lassen. Kurz gesagt, die schwedische Sozialdemokratische Partei war angesichts der bevorstehenden Wahlen im September 2022 darauf bedacht, dass dieses Thema in der Versenkung verschwindet. Sie wollte lieber die letzten Reste der „Neutralität“ loswerden, als die Wahl in der NATO-Frage zu verlieren oder – schlimmer noch – das Thema in einer Wahlperiode mit den verbliebenen Abweichler:innen in der eigenen Partei oder Wähler:innenschaft ausfechten zu müssen. Als der Krieg begann, ließen auch die Schwedendemokrat:innen ihren Widerstand gegen die NATO-Mitgliedschaft schnell fallen und zeigten damit, dass ihre angebliche „NATO-Opposition“ wenig mit Antiimperialismus zu tun hatte. Damit war der Weg für einen Beitrittsantrag frei.

Erstaunlicherweise wurde diese rasche Kehrtwende, die eine jahrzehntelange schwedische Militärpolitik auf den Kopf stellte, vollzogen, ohne dass die Wähler:innen oder gar die organisierte Arbeiter:innenklasse nach ihrer Meinung gefragt wurden. Im September hatte eine klare Mehrheit für Parteien gestimmt, die die NATO-Mitgliedschaft ablehnen. Nun hat sich innerhalb weniger Wochen alles geändert. Und selbst innerhalb der Sozialdemokratischen Partei wurde kein außerordentlicher Kongress einberufen. Die Mitglieder wurden nicht einmal befragt. Die Entscheidung, die in klarem Widerspruch zu dem steht, was nur Monate zuvor auf dem Parteitag beschlossen worden war, wurde auf der obersten Ebene der Partei getroffen, ohne jeden Anschein von interner Demokratie – selbst als die einflussreichen Parteiorganisationen der Frauen, der Jugend, der Student:Innen und der religiösen Sozialdemokrat:innen ihren Widerstand dagegen öffentlich machten.

GAM: Wie sieht es mit der Opposition aus?

AM: In Schweden blieben die Grünen und die Linkspartei nach der Wende der Sozialdemokratischen Partei formell gegen die NATO. In Ermangelung einer klaren antiimperialistischen Linie – die Schweden auch als imperialistisches Land analysiert, ob es nun der NATO angehört oder nicht – gaben die beiden Parteien jedoch schnell dem Druck nach und entschieden sich stattdessen dafür, ihre traditionelle, vermeintliche Opposition zum Militarismus zu revidieren. Als die sozialdemokratische Regierung im März ankündigte, dass die Militärausgaben auf 2 % des schwedischen Bruttoinlandsprodukts angehoben werden sollten, unterstützten die Grünen und die Linkspartei dies sofort und behaupteten, dass diese enormen Zuwendungen an die Kriegsindustrie notwendig seien, um die „Neutralität zu verteidigen“ – ohne zu erwähnen, dass diese Ausgabenerhöhung zufällig auch eine Bedingung für die NATO-Mitgliedschaft darstellt.

Die Vorsitzende der Linkspartei, „Nooshi“ (Mehrmoosh) Dadgostar, hat zu einem Referendum aufgerufen, es aber als eine Möglichkeit bezeichnet, der NATO-Mitgliedschaft eine demokratische Form zu verleihen, und nicht als Weg, sich ihr ernsthaft zu widersetzen. Und das ist natürlich alles, was ein unter diesen Umständen abgehaltenes Referendum wirklich wäre – ein Stempel der Zustimmung. Neben der Unterstützung der Wiederaufrüstung (die sofort den Aktienkurs und die Gewinne des schwedischen Rüstungsunternehmens SAAB in die Höhe trieb) hat Dadgostar erklärt, dass die im Parteiprogramm verankerte Forderung der Linkspartei, „die NATO aufzulösen“, etwas sei, „das in eine andere Zeit gehört“, und ist sogar von der Ablehnung der bereits bestehenden Kooperationsabkommen mit der NATO abgerückt.

Da ein großer Teil der radikalen Linken in Schweden in den letzten zehn Jahren in der Linkspartei aufgegangen ist, bleibt nur ein begrenzter Raum für eine tatsächliche Opposition gegen die NATO, die sich bisher hauptsächlich auf Proteste und Demonstrationen auf der Straße beschränkte. Am 1. Mai plädierte das Arbetarmakt-Kontingent bei den Demonstrationen in Stockholm für den „revolutionären Kampf gegen den Imperialismus – Nein zur NATO“, ein Transparent, das viel Aufmerksamkeit erregte.

Auch in Finnland hat das Linksbündnis kürzlich seine frühere Position geändert, die Neutralität zur Bedingung für die Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung zu machen, und die Partei ist nun gespalten in der Frage, ob sie weiterhin gegen die NATO sein soll. Die Parteivorsitzende Li Sigrid Andersson hat erklärt, dass das imperialistische EU-Projekt eine brauchbare Alternative zur NATO sein könnte.

Mit den anhaltenden Protesten in Schweden hat sich die Aufmerksamkeit nun auf die Türkei verlagert, die derzeit die schwedische und finnische Mitgliedschaft im Militärbündnis blockiert, solange die sozialdemokratische Regierung nicht den Forderungen Erdoğans nachkommt, jegliche Unterstützung für die kurdische YPG einzustellen, die Waffenexporte in die Türkei wieder in vollem Umfang aufzunehmen und – in bizarrer Weise – in Schweden lebende türkische Oppositionelle an die Türkei auszuliefern. Dies ist ein erster Vorgeschmack auf das Leben im autoritären, imperialistischen NATO-Bündnis, und es ist wichtig, Druck auf die schwedische Regierung auszuüben, damit sie alle derartigen Forderungen zurückweist, wie es kurdische und schwedische Demonstrant:innen am vergangenen Wochenende bei einem Protest vor dem Hauptquartier der Sozialdemokratischen Partei in Stockholm gefordert haben. Weitere wichtige Themen sind die Ablehnung von NATO-Stützpunkten in Schweden sowie der Druck auf die Regierung, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten, den Schweden initiiert hat, aus dem es dann aber unter dem Druck der USA unglaublicher Weise ausgestiegen ist.

Für Arbetarmakt gibt es keine Notwendigkeit, zwischen der Aufrüstung für die NATO oder für den schwedischen „neutralen“ Imperialismus zu wählen. Wir stehen mit Stolz in der sozialistischen Tradition von Liebknechts „keinen Mensch, keinen Pfennig für dieses System“. Auch wenn der NATO-Antrag eingereicht wurde, ist die Angelegenheit noch lange nicht erledigt. Als Internationalist:innen werden wir unseren Teil dazu beitragen, die Frage des Widerstandes gegen alle imperialistischen Blöcke zu stellen – bis zur Wahlperiode und darüber hinaus. Wenn Leser:innen der Neuen Internationale mehr über diesen Kampf wissen wollen, können sie sich gerne an uns wenden oder unsere Website besuchen.




DWE-Enteignungskonferenz: Mieter:innenbewegung bundesweit koordinieren!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 265, Juni 2022

Der Kampf von Mieter:innen hat in den letzten Jahren eine neue Qualität angenommen. Angesichts der Verschärfungen, denen sie sich v. a. in den Großstädten gegenübersehen, bricht dieser Trend vermutlich nicht so schnell ein. Die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE) verfolgt dabei eine politische Perspektive zur Lösung der Wohnungsfrage im Sinne der einfachen Mieter:innen, die Enteignung großer Immobilienkonzerne und die Verstaatlichung des enteigneten Bestandes unter ihrer (Mit-)Kontrolle. Doch die Orientierung darauf, die tagtäglichen Probleme der Mieter:innen durch den Druck auf staatliche Institutionen zu lösen ohne den Aufbau kampffähiger Mieter:innenstrukturen, bringt das Vorhaben ins Stocken. Die Frage, wie wir gegen den Senat und die Gerichte den Mehrheitswillen der Mieter:innen umsetzen können, bleibt unbeantwortet.

Der Volksentscheid DWE gilt über die Berliner Landesgrenze hinaus als nachahmenswertes Beispiel. Für den Mietprotest, der oftmals lokal und vereinzelt abläuft, wird die Perspektive eines überregionalen Protests immer dringlicher und deutlicher, doch wie?

Als Gruppe Arbeiter:innenmacht sind wir aktiv in der Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen. Hiermit möchten wir unsere Einschätzung zur Lage der einfachen Mieter:innen und ein paar Vorschläge für die Perspektive der Bewegung äußern. Wir hoffen, dass die Enteignungskonferenz nicht nur den Charakter eines Wissens- und Erfahrungsaustausches annimmt, sondern Ausgangspunkt für eine bundesweit koordinierte und schlagkräftige Mieter:innenbewegung wird. Dieser Text soll ein Vorschlag dafür sein.

Lage auf dem Wohnungsmarkt in Deutschland

Laut statistischem Bundesamt sind die durchschnittlichen Immobilienpreise in Deutschland zwischen Oktober und Dezember 2021 um 12,2 % im Vorjahresvergleich gestiegen. Der durchschnittliche Kaufpreis für Ein- und Zweifamilienhäuser stieg zwischen 2010 und 2020 um etwa 65 %. Das Preisniveau in den deutschen Städten wird als überbewertet eingeschätzt, zwischen 15 und 40 %. Der EU-Risikorat kalkuliert das Blasenrisiko auf „mittel“. Ein Platzen einer solchen Blase könnte einen hohen Anteil an ausfallenden Renditen mit sich bringen, den Marktwert der Unternehmen senken, die Zinsen auf Kredite erhöhen und auf andere Sektoren der Wirtschaft aufgrund zunehmender Verwobenheit zurückwirken. Und das nicht nur für Deutschland, sondern auch Österreich, Bulgarien, Kroatien und Ungarn. In Deutschland trifft das Problem in besonderer Form zu, da es unter den OECD-Staaten einen hohen Anteil an Mieter:innen hat (ca. 57,9 % im Jahr 2018). Währenddessen verharren die Eigenkapitalanteile beim Ankauf von Immobilien weiterhin im Keller und viele Kredite sind an variable Zinssätze gebunden.

Die systematische Veränderung in der Immobilienwirtschaft wird als Finanzialisierung bezeichnet. Der Begriff beschreibt einerseits den Trend zunehmender privater Finanzanlagen im Immobiliensektor, andererseits auch den verstärkten Einfluss des Finanzsektors und seiner Erwartungen auf die Wohnungswirtschaft. Seit der Finanzkrise von 2007/08 erleben wir eine massive Niedrigzinspolitik der Zentralbanken (Quantitative Easing) – eine Ausgangssituation, die Tür und Tor für ein Jahrzehnt des Renditenbooms u. a. in deutschen Großstädten folgen ließ. Nicht primär, weil Kapitalanlagen in Wohnraum grundlegend hohe Erträge versprechen, sondern mangels besserer Alternativen im produzierenden Gewerbe. Die Renditen in sogenannten Spitzenstandorten wie Berlin und Hamburg liegen auf einem Tief (2,5 und 2,6 %). Das vergangene Jahrzehnt war durch geringe Reinvestitionsraten des Kapitals in den Sektor, in welchem die Profite erzeugt wurden, geprägt. Die großen Akteur:innen des Immobiliensektors sind dementsprechend immer deutlicher mit dem Finanzkapital verwoben.

Immer mehr einfache Mieter:innen müssen einen größer werdenden Teil ihres monatlich zur Verfügung stehenden Geldes somit für Mietzahlungen ausgeben. Die durchschnittliche Mietbelastungsquote privater Haushalte in Deutschland betrug 2018 27,2 . Die Tendenz ist dabei steigend. Diese Kennzahl erscheint geringer, da die Ausprägung der Mietbelastungsquote regional sehr ungleichzeitig ist. In Berlin ist sie bei Neuvermietungen im Bundesdurchschnitt mittlerweile am höchsten. Im August 2021 wird sie auf 37,3 % datiert, bei einer 65 m²-Wohnung (durchschnittlich 930 Euro Warmmiete) und einem durchschnittlichen Einkommen von 2.491 Euro. Die Mietbelastungsquote sagt aus, wie hoch der Anteil der Miete am monatlichen Nettolohn ist.

Gleichzeitig lassen sich angesichts der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine bereits deutlich die Konturen und heftigen Ausmaße der Krise erkennen, die sich kaum noch beziffern lassen. Die Inflation ist dabei bereits jetzt ein relevanter Faktor. Seit Jahresbeginn sind ebenfalls die Bauzinsen massiv angestiegen: für einen Baukredit über 15 Jahre Laufzeit durchschnittlich von 1,2 auf 2,87 %. Parallel dazu erleben wir eine voranschreitende Zentralisation des Immobilienmarktes. Vergangenes Jahr versuchten Vonovia und Deutsche Wohnen zu fusionieren. Akelius hat seine 14.000 Wohnungen im deutschsprachigen Raum an Heimstaden verkauft.

DWE

Gegen die Herrschaft dieses Elends hat die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen einen Vorschlag entwickelt: die Enteignung von Immobilienkonzernen mit mehr als 3.000 Wohneinheiten im Land Berlin. Dafür hat die Initiative über Sammelphasen, Volksentscheid und Vorstufen hinaus mit Mieter:innen diskutiert, verschiedenste Aktionsformen organisiert und gezeigt, welche Dynamik eine Perspektive zur Lösung der Wohnungsfrage entfalten kann. Doch die Initiative setzt ihre Kraft auf die Umsetzung dieser Enteignung durch die Ausnützung des rechtlichen Rahmens des Staates und durch dessen Institutionen. Als taktische Forderung stellt dies eine klare Perspektive zur Vereinheitlichung des Widerstandes dar, als strategische Orientierung führt dies dazu, die Frage offenzuhalten, was folgt, wenn der Staat mitsamt dessen Verfassung, Gewaltorganen und Gerichten nicht willens und fähig ist, dies umzusetzen. Ein Staat, der ansonsten die Verhältnisse erst ermöglicht hat, indem die Erfüllung der Renditeerwartungen mehr Gewicht hat als das Bedürfnis zu wohnen. Kurz gesagt: ein Staat, dem die Vermietungs„verzinsung“ so sehr am Herzen liegt, dass etliche Mieter:innen zwangsgeräumt werden.

Die Perspektive der Enteignung greift viele Schwächen der Mieter:innenbewegung auf, bricht mit dem Anschein des Mietverhältnisses als individuellem Problem. Der Grund für diesen Anschein liegt darin, dass die Wohnungsfrage keine direkte, sondern nur eine indirekte Klassenfrage ist. Arbeiter:innen leiden unter der Anmietung von Wohnraum in Privatbesitz am meisten. Der Mietkampf leidet aber darunter, kein klares Klassensubjekt zu kennen. Ziel sollte daher sein, die Verbindung zu lohnabhängigen Mieter:innen zu schaffen. In diesem Sinne fassen wir die Eigentumsfrage auf, die DWE stellt. Eigentum und Kontrolle über die gesellschaftlich geschaffenen Werte (hier Wohnraum) sind klassische Fragen der Arbeiter:innenbewegung. Folglich ist eine kollektive Widerstandsperspektive notwendig. Das erfolgversprechend und greifbar zu machen, ist der bislang größte Achtungserfolg, den DWE errungen hat.

Doch seit dem Wahlerfolg am 26. September kehrt sich die bislang so vielversprechende Perspektive, das Mittel Volksentscheid, in einen Selbstzweck und eine Fessel um. Bislang war es eine greifbare Möglichkeit für die Mieter:innen und die Mietaktivist:innen. Doch nach dem Achtungserfolg von 59,1 % der Stimmen liegt der Ball nun im Feld des Senats und der spielt auf Verschleppung. Nun folgen wir dem Fahrplan des Senats und seiner Expert:innenkommission in Richtung Sackgasse. Diese Fallstricke waren bereits im Vorfeld erkennbar, doch jetzt ernten wir die Konsequenzen. Eine erfolgreiche Umsetzung des Vorhabens der Initiative erscheint nämlich von Tag zu Tag unwahrscheinlicher, wenn es keine Neuorientierung gibt.

Wie enteignen?

Durch den Volksentscheid haben wir erreicht, dass sich die verschiedenen Mietinitiativen und Massenorganisationen der Mieter:innen an uns orientiert haben. Doch haben wir es bislang nicht genügend geschafft, die Enteignungsinitiative zum Aktionsschwerpunkt aller politischen Kräfte in der Mieter:innenbewegung oder zu einer lebendigen Diskussion in den Gewerkschaften zu machen. Zwar haben uns der Berliner Mieter:innenverein, die Berliner Mieter:innengemeinschaft oder Gewerkschaften wie ver.di, IG Metall oder GEW aus Berlin unterstützt, doch waren sie nie wirklich Teile der Initiative. Ein ähnliches und damit verbundenes Problem besteht gegenüber den Mieter:innen, mit denen wir tagtäglich in Gesprächen sind und waren.

Wir brauchen eine Kampforganisation, die in der ganzen Stadt einen großen Teil der Mieter:innen umfasst, jedoch gleichzeitig kein Organ des verknöcherten sozialdemokratischen Vereinswesens ist und zu einer Art Mietschutzversicherung verkommt, sondern Mietprotest organisiert und den Kampf gegen Immobilienwirtschaft und Verschleppung des Volksentscheidergebnisses führt – bis zu kollektiven Mietboykotten und Besetzungen der Firmenzentralen. Solche Massenorganisationen wären fähig, die Enteignung und „Vergesellschaftung“ (Kommunalisierung) umzusetzen und zu verteidigen. Die Gewerkschaften stellen mit ihren Mitgliedschaften eine weitere Grundlage für solche Organisationen dar, ist jede Mieterhöhung doch letztendlich ein indirekter Lohnraub und sind die meisten Mieter:innen doch schlussendlich lohnabhängig – weshalb die Wohnungsfrage auch v. a. eine Klassenfrage ist.

Der Protest gegen den Umgang mit dem Volksentscheid, aber auch die tagtägliche Organisierungsarbeit auf der Straße und in den Häusern sollten sich nicht nur auf die Werbung für die Idee der Enteignung fokussieren, sondern müssten die Frage „Wie enteignen?“ ehrlich beantworten. Diese Organisationen existieren bisher nicht, das stimmt, doch vor vier Jahren hielt es kaum jemand für wahrscheinlich, dass wir einen Volksentscheid zur Enteignung mehrheitsfähig machen könnten. Die Gunst der Stunde gilt es, nicht zu verpassen. Und selbst wenn uns der Senat jemals die Enteignung schenken sollte, so lassen wir hierdurch lebendige Organe entstehen, die fähig sind, den Wohnraum in ihrem Interesse zu kontrollieren. Der Vorschlag eines Gesetzesvolksentscheids (GVE) geistert seit Monaten durch die Reihen von DWE. Ein solcher böte einen Rahmen, um gemeinsam eine solche Struktur aufzubauen. Ein inhaltsleeres, zielloses Kiezorganisationsprojekt würde sicherlich eine widerspenstige Mieter:innenschaft erreichen können, jedoch einen Schritt weg vom Ziel der Enteignung und Überführung in städtisches Eigentum darstellen.

Wie bundesweit schlagkräftig werden?

Mieten müssen wir ja nicht nur in Berlin zahlen, auch in anderen Städten regiert der Mietwahnsinn. Die Enteignungskonferenz ist ein richtiger Schritt in Richtung einer Zusammenführung des Mietkampfes aus allen Ecken und Enden Deutschlands. Lasst uns gemeinsam aus der Konferenz heraus konkrete Aktionsperspektiven entwickeln! Regelmäßige Konferenzen, der gemeinsame Plan, kampfkräftige Mieter:innenorganisationen aufzubauen, zentrale Forderungen und damit verbundene Proteste sollten ihr Ergebnis bilden. Initiativen wie Hamburg enteignet, die kollektiven Klageversuche gegen die Nebenkostenabzocke von Vonovia oder die Forderung nach einem bundesweiten Mietendeckel sind Ansätze dafür. Eine reine Fokussierung auf lokale Themen lässt den Mietprotest ein saisonales Phänomen bleiben.

Mieter:innen sind, wie weiter oben bereits benannt, keine soziale Klasse. Für Linke ist daher unerlässlich, in diese Bewegung selbst einen klaren Klassenstandpunkt hineinzutragen. Nur wenn sich die Mieter:innenbewegung als Teil der Arbeiter:innenbewegung versteht, kann sie dauerhaft die Lage der Mietenden verbessern, denn in letzter Instanz bestimmen auch auf dem Wohnungsmarkt Klassenverhältnisse.

Zur Zeit macht sich dies gerade für proletarische Mieter:innen schlagend bemerkbar. Aktuell erleben wir angesichts des Krieges in der Ukraine und der anhaltenden Coronapandemie eine massive Inflation. Nicht nur die Miete stellt eine Belastung für Lohnabhängige und Arme dar. Das Kapital versucht überall, seine Mehrkosten auf uns abzuwälzen. Die Mieter:innenbewegung und allen voran DWE dürfen hier nicht passiv bleiben, sondern wir brauchen eine Diskussion über den Mieter:innenprotest hinaus, wie wir unsere Ziele erreichen können und wollen.

Forderungskatalog und kleines Aktionsprogramm

Die Mieter:innenbewegung braucht ein Programm zur Enteignung und Kontrolle von Wohnraum, für das sie kämpft – ein Aktionsprogramm das unserer Meinung nach folgende Aspekte umfassen sollte:

1. Sofortmaßnahmen gegen Mietpreiserhöhungen und für Begrenzung der Miethöhe.

2. Kampf gegen rassistische, geschlechtliche und soziale Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt.

3. Programm für den Neubau von Sozialwohnungen und günstigem Wohnraum für die Masse der Lohnabhängigen.

4. Kampf gegen Armut: für Mindestlohn und Anpassung der Löhne an die Steigerung der Mietpreise und anderer Lebenshaltungskosten.

5. Enteignung von Grund und Boden, der privaten Immobilienkonzerne und des Wohnungsbaukapitals.

6. Kontrolle durch Mieter:innen und lohnabhängige Bevölkerung.




Uniklinken in Nordrhein-Westfalen: 4 Wochen Streik

Jürgen Roth, Neue Internationale 265, Juni 2022

Seit dem 4. Mai befinden sich die Beschäftigten der Universitätskliniken Nordrhein-Westfalen im Streik. Bei der Urabstimmung votierten 98 % für den Vollstreik. Dieser war zunächst bis zum 26. Mai befristet, wurde jedoch erstmal bis zum 2. Juni verlängert.

Die Kampfbereitschaft fiel nicht vom Himmel. Schon am 19. Januar verfassten über 700 Beschäftigte der landeseigenen Universitätskliniken Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster einen Beschluss, der verbindliche Regelungen zur Entlastung aller Arbeitsbereiche, Sicherstellung und Verbesserung der Ausbildungsqualität und ein wirksames Konsequenzenmanagement im Fall ihrer Nichteinhaltung von der Landesregierung forderte. Dieses Ultimatum lief nach 100 Tagen am 1. Mai ab. Der Arbeitskampf nimmt seither härtere Formen an.

Verlauf

Zeitgleich mit dem Warnstreik zum landesweiten Branchentag „Kitas/Ganztag“ für die Tarifauseinandersetzung der Sozial- und Erziehungsdienste in NRW am 4. Mai hatte ver.di auch die Unikliniken zum Streik aufgerufen. 1.900 Beschäftigte nahmen daraufhin mit Beginn der Frühschicht ihre Arbeit nicht auf. Am Samstag, den 7.5.2022, führten sie eine Kundgebung mit anschließender Demonstration zum Landtag durch. In Essen befinden sich seitdem täglich durchschnittlich 250 Kolleg:innen im Ausstand, so dass knapp zwei Drittel der OP-Säle geschlossen werden mussten. Des Weiteren gab es erhebliche Verzögerungen bei terminierten und ambulanten Behandlungen.

Am 9. Mai fuhren Azubis aus 5 Uniklinken nach Aachen, um ihre dortigen Kolleg:innen zu unterstützen. Die Klinikleitung hatte als einzige keine Notdienstvereinbarung mit der Gewerkschaft abgeschlossen, welche regeln soll, wie viele Beschäftigte mindestens auf den Stationen und in den Funktionsabteilungen bleiben, welche Betten und Einheiten geschlossen werden sowie, dass Auszubildende keine Fehltage für den Streik eingetragen bekommen. Dem Aachener Berufsnachwuchs wurde dagegen genau damit gedroht, was zur Folge haben kann, dass Streikteilnehmer:innen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werden!

Am 19. Mai rief ver.di die Azubis zu einem Auszubildendenstreiktag nach Essen auf, um hier nochmal ein deutliches Zeichen des Protests zu setzen. Ein Aufruf an alle Streikenden wäre sicher angemessener gewesen, handelt es sich doch bei den Maßnahmen der Aachener Klinikleitung de facto um einen Angriff aufs Streikrecht für eine bestimmte Personengruppe. Getreu dem Motto, dass eine Attacke auf eine/n Gewerkschafter:in eine auf alle bedeutet, wäre eine geschlossene Manifestation der Ablehnung durch alle nur konsequent!

Zeichen der Solidarität

In einem Aufruf für ärztliche Unterstützung für eine verbindliche Personalbesetzung an den Universitätskliniken in NRW, der auch vom „Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää*)“ unterzeichnet ist, drückten über 530 Ärzt:innen und Medizinstudierende am 5. Mai ihre Solidarität mit den Arbeitskampfmaßnahmen aus. Ins selbe Horn tutet auch die „Solidaritäts-Erklärung des Stuttgarter Metallertreff / Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften für die streikenden Kolleg*innen in den Unikliniken in NRW“, veröffentlicht am 23. Mai und unterstützt von der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG).

Am 12. Mai beschloss eine Versammlung am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) eine Reihe von Auftaktaktionen, an deren Ende ein Tarifvertrag Entlastung (TVE) stehen soll. So machte eine Gruppe Pflegender vor dem Krankenhaus auf ihre Lage aufmerksam. Sie zeigte sich wenig beeindruckt vom Optimismus der Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), die stolz auf 3.760 Auszubildende im Pflegebereich der Hansestadt verwies. Die Verlautbarung eines ver.di-Sprechers, die Chancen stünden gut für einen niedrigeren Betreuungsschlüssel in der Intensivpflege, hat die Aktivist:innen ebenso wenig von ihrem Protest abgehalten, wie sie einen konsequenten Beitrag im Kampf gegen den Pflegenotstand darstellt. Auch in Bremen regte sich der zuständige Gewerkschaftssekretär mit einem Vorstoß, man müsse auch hier bald für einen TVE mobilisieren. Die Gewerkschaftsbasis vor Ort sollte ihn rasch beim Wort nehmen. Als Zeichen der Solidarität mit dem Kampf in NRW sind auch diese Ereignisse in Hamburg und Bremen allemal zu werten.

Gegenwind

Die aktuelle Streikbewegung war von Beginn an vom Berliner Kampf um Entlastung an den Krankenhäusern inspiriert. Gegenüber dem Berliner Vorbild zeichnet sie sogar zwei Vorzüge aus: Erstens werden Mindestbesetzungsregeln auch für nichtpflegerische Bereiche gefordert. Zweitens ging der Kampf rasch zum Vollstreik über.

In mehreren Artikeln haben wir Vorschläge für Kampfführung und wirksame Kontrolle über ein evtl. erzieltes Ergebnis im Sinne der Stärkung der Selbstorganisierung der Basis hin zur wirksamen Arbeiter:innenkontrolle und zum politischen Streik für eine gesetzliche Pflegepersonalbemessung unterbreitet.

Aktuell bläst den nordrhein-westfälischen Kolleg:innen jedoch anders als in Berlin ein starker Wind entgegen. Auch dort hatte anfänglich der Senat mit Verweis auf die Haltung der kommunalen (VKA) und Landesarbeit„geber“:innenverbände die Unmöglichkeit ihres Unterfangens zu verdeutlichen versucht. Doch die Berliner Streikenden ließen sich von der Drohung, Berlin flöge aus den Verbänden, wenn es sich auf Verhandlungen über einen TVE einlasse, nicht einschüchtern.

In NRW jedoch läuft die Sache anders. Gesundheitsminister Laumann und Ministerpräsident Wüst ließen verlautbaren, ein Tarifvertrag komme auf jeden Fall zustande. Vorher hatten sie den gleichen Taschenspielertrick wie die Berliner Regierenden vorgeführt. Doch jetzt signalisieren sie, ernsthafte Verhandlungen aufnehmen zu wollen. Passiert ist seit dem Ultimatum bisher aber nichts bzgl. eines realen Angebots.

Ver.di kritisiert daran lediglich den langsamen Verhandlungstakt. Die Gewerkschaft entblödet sich aber nicht, den vermeintlichen Sinneswandel der Unternehmer:innenseite festzustellen und zu loben. Mag sein, dass die von den bürgerliche Medien organisierte „öffentliche Meinung“ dafür verantwortlich ist. Nach anfänglichen Sympathien für den Arbeitskampf mehren sich von Tag zu Tag – der Streik geht in die 5. Woche – kritische Stimmen. So schreibt die „Rheinische Post“ von Geiselhaft, in die Patient:innen von den Gewerkschafter:innen genommen würden. Andere Blätter raunen von Zorn und Fassungslosigkeit auf Seiten der Behandlungsbedürftigen.

Es ist notwendig, dagegen eine eigene Öffentlichkeit von unten zu mobilisieren, den Schulterschluss mit Patient:innenvereinigungen zu suchen und klarzumachen, dass die Forderungen der Beschäftigten in jedem Fall auch einen Beitrag zur Verbesserung der Behandlungen leisten würden. Verursacht wird der gesamte Pflegenotstand schließlich eindeutig von den profitorientierten Gesundheitskapitalen und ihren politischen Helfershelfer:innen, die sich jetzt aufführen, als hätten sie Kreide gefressen.

Doch viel wichtiger ist, deren Bauernfängerei zu entlarven und verurteilen. Diese liegt darin, dass die Klinikleitungen als Vorbedingung, um über einen TVE verhandeln zu können, aus dem Arbeit„geber“:innenverband austreten wollen. Dafür muss das NRW-Hochschulgesetz geändert werden. Nach dem Austritt wären die Unikliniken nicht mehr an die Tarifgemeinschaft gebunden. Die anderen, v. a. Entgelt betreffenden Tarifverträge sollen trotz des Austritts weiter gelten. Ver.di-Landesbezirksleiterin Gabriele Schmidt sprach daraufhin in einer Pressemitteilung von ver.di NRW vom 11.5.2022 davon, „dass der politische Wille da ist, den Weg für Tarifverhandlungen freizumachen“. Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick redete von einem möglichen Einstieg in einen geordneten Ausstieg aus dem Konflikt (WDR, 10.5.2022). Ähnliche Töne finden sich im Artikel „Eine starke Bewegung“ in ver.di publik 3/2022.

Natürlich können Gewerkschaften der Kapitalseite nicht aufzwingen, wie sie sich organisiert. In diesem Sinne hat die Berliner Krankenhausbewegung völlig richtig reagiert, entsprechende Einlassungen des Senats glatt zu ignorieren. Selbst in NRW hat die ver.di-Führung trotz ihrer Schönrednerei den Streik bisher nicht ausgesetzt, sondern verlängert. Doch bleibt zu kritisieren, dass sie einen Ausstieg aus dem Unternehmer:innenverband gutheißt, nur um an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist denn doch des Schlechten, der Sozialpartner:innenschaft, zu viel.

Immerhin verweist sie ihre Mitgliedschaft damit auf den Weg eines immer weiter zersplitterten Häuserkampfes, also schlechterer Bedingungen für ein branchenweites Ergebnis. Notwendig wäre aber folgende Ansage: Diese Taktik stellt nur einen weiteren Spaltungsversuch der organisierten Beschäftigten dar. Folglich werden wir mit verstärkter Kraft den branchen- und bundesweiten Kampf ausweiten bis hin zum politischen Massenstreik für eine gesetzliche Personalbemessung!

Eine solche politische Stoßrichtung müssen wir von der Gewerkschaft einfordern – auf deren Führung verlassen dürfen wir uns nicht. Vielmehr muss diese Ausrichtung auf den Streikversammlungen offen diskutiert und beschlossen sowie Streikleitungen gewählt werden, die diesem Kurs verpflichtet sind.

Welche Perspektive fürs Gesundheitswesen?

Der Kampf gegen die Überlastung des Personals, gegen miese Löhne und Personalnotstand muss, wie die Erfahrung bisheriger Kämpfe zeigt, über die rein betriebliche Ebene hinausgehen. Das Problem ist letztlich ein gesellschaftliches und politisches. Es braucht eine gemeinsame Bewegung aller Krankenhäuser für ein bedarfsgerechtes und menschenwürdiges Gesundheitssystem unter Kontrolle der Beschäftigten.

Die Auseinandersetzung in NRW muss sich bewusster als ihr Berliner Vorbild für die bundesweite Ausdehnung ihres Kampfes einsetzen. Gerade angesichts fehlender Finanzierung des TVE, angesichts anhaltender Profitorientierung des Gesundheitswesens muss auch das Mittel politischer Streiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen das DRG-System, Krankenhausschließungen und -privatisierungen und für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen ins Kalkül gezogen werden.

  • Entschädigungslose Enteignung privater und privatisierter Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und der Gewerkschaften! Entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Medizintechnikkonzerne!
  • Für eine gesetzliche Personalbemessung, die den tatsächlichen Bedarf widerspiegelt und die in allen Sektoren, auch der Altenpflege, gilt!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen, Befreiungs- und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!
  • Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und Patient:innen unter Hinzuziehung von Expert:innen ihres Vertrauens!
  • Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung, die für diese Forderungen eintritt!



Tarifrunden in den Sozial- und Erziehungsdiensten: Nicht am Ziel und trotzdem Schluss?

Richard Vries, Neue Internationale 265, Juni 2022

In der Nacht zum 18. Mai wurde erneut derselbe Fehler begangen wie vor kurzem in Verhandlungen um den TVöD-H (Tarifvertrag öffentlicher Dienst-Hessen) und TVöD-L (Länder). Ein völlig unzureichendes Ergebnis, diesmal für einen Rahmentarifvertrag, wurde angenommen.

Die Verhandlungsführungen der Gewerkschaften – ver.di und Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) – und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) einigten sich auf einen Abschluss, der vor allem durch ein kompliziertes Regelwerk auffällt, dessen Hauptvorzug darin bestehen dürfte, dass es sich leichter schönreden lässt als andere Ergebnisse.

Tatsächlich bekommen die Beschäftigten eine ellenlange Laufzeit von knapp 5 Jahren vom 1. Juli 2022 bis zum 31. Dezember 2026 serviert.

Darüber hinaus konnte die Forderung nach einer Höhergruppierung überhaupt nur für Teile der Beschäftigten umgesetzt werden. Auch die Erhöhungen blieben weit unter den Forderungen, die bis zu 400 Euro betragen hatten. Für die Laufzeit des Vertrages soll es für Erziehende in den Gehaltsgruppen S 2 bis S 11a eine monatliche Zulage von 130 Euro geben. Für Beschäftigte in den Sozialdiensten der Gehaltsgruppen S 11b bis S 12 sowie S 14 und S 15 sind es immer noch Reallohnverlust bedeutende 180 Euro. Bei einer Inflation von derzeit fast 8 % gibt es nämlich durchschnittlich nur eine 3,7-prozentige Anpassung. Zudem muss man bedenken, dass die Gehaltsaufstockungen sich über die gesamte lange Laufzeit von fünf (!) Jahren nicht verändern.

Wird die Zulage anteilig umgewandelt, können zu 2 beschlossenen Entlastungstagen jährlich 2 weitere hinzukommen. Fraglich bleibt, wie diese im dicht gestrickten Berufsalltag überhaupt gewährt werden sollen. Immerhin haben Vor- und Nachbereitungszeiten eine Erhöhung von 19,5 auf 30 Stunden erfahren. Praxisanleitung wird derweil mit 70 Euro im Monat vergütet, jedoch nur wenn der Anteil an Ausbildungsanleitung 15 % der  Arbeitszeit übersteigt.

Für Heilerziehungspflegende soll nun ihr Ausbildungsentgelt tariflich geregelt werden. In der Behindertenhilfe wurde eine erhöhte Wohnzulage über 100 Euro beschlossen. Wer durch erworbene Berufspraxis mit mehr Tempo in höhere Stufen aufsteigen will, wird jedoch mit einer Wartezeit bis zum 1. Oktober 2024 rechnen müssen.

Ver.di-Spitze rechnet das Ergebnis schön

Von Seiten ver.dis heißt es auf Instagram neben dem trügerischen Hinweis, dass im Januar 2023 sowieso wieder der Vergütungstarifvertrag TVöD verhandelt werde, bloß: „Das Ergebnis werden wir jetzt natürlich mit unseren Mitgliedern diskutieren.“ Die lassen hier aber bereits gefrustet ihre dicke Luft raus oder können es erst gar nicht glauben. Die Gewerkschaft vertröstet nur vage, „ dass Themen wie Personalaufbau, Personalschlüssel … nicht in der Tarifrunde, sondern gesetzlich geregelt werden müssen“.

Die Verhandlungs„partnerin“ VKA prangert zwischenzeitlich insbesondere eine „Sonderstellung“ der in Sozial- und Erziehungsdiensten Beschäftigten an und faselt in der FAZ vom 20. Mai 2022 von „herausfordernden“ Ergebnissen. Sondervermögen werden hierzulande wohl ausschließlich für Aufrüstung akzeptiert.

Ver.di-Vorsitzender Frank Werneke selbst meint wiederum ganz im Sinne dieser „Sozialpartnerin“, mithilfe der derzeitigen Ergebnisse „wirksam gegen Fachkräftemangel vorzugehen“. Eine Entscheidung dazu wird es spätestens nach der Mitgliederbefragung bis Mitte Juni 2022 geben.

Hauptforderungen und Arbeitsbedingungen

Wie schlecht der Abschluss wirklich ist, verdeutlicht ein Abgleich mit den drei Hauptforderungen für die Tarifverhandlungen im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE). Die ver.di-Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst hatte am 17. Dezember 2021 beschlossen: erstens eine Besserung der entkräftenden Arbeitsbedingungen, zweitens Gehaltserhöhungen sowie drittens ein Vorgehen gegenüber dem ausufernden Fachkräftemangel. Laut ver.di werden jetzt schon 170.000 Fachkräfte zusätzlich an Kitas benötigt. Weitere 70.000 werden bis 2025 wohl noch hinzukommen.

Kommunal gut 245.000 Erzieher:innen, 55.000 Sozialarbeiter:innen und -pädagog:innen sowie 30.000 Heilpädagog:innen und in der Behindertenhilfe Tätigen fehlt es akut an Raum, Zeit sowie an personeller und gesundheitlicher Stabilität. Durch Krieg und Krise steigt die Last zusätzlich. Geschlechtliche Ungleichverteilung wie auch (rassistische) Ausbeutung im Kapitalismus spiegeln sich in den prekären Bedingungen der unverzichtbaren, gesellschaftlichen Fürsorgearbeiten wider. Ein Viertel der Erzieher:innen würde den untragbaren Job sogar augenblicklich hinschmeißen wollen, was eine nochmals verschärfte Personalsituation zur Folge hätte. Es schrie also nur so nach konsequentem, branchenweitem Streik!

Arbeitskampf

Bereits seit Sommer 2020 wurde mit coronabedingten Unterbrechungen der Tarifvertrag SuE verhandelt. Die Fortsetzung der Auseinandersetzung von Ende Februar 2022 lieferte zunächst kein Ergebnis für die rund 330.000 kommunal Tätigen. Verhandlungsrunde Nr. 2 zwischen VKA und ver.di blieb bis Ende März 2022 weiterhin ohne Angebot der kommunalen Seite. Wiederholte Warnstreiks über mehrere Monate waren die Folge.

Allein an die 26.000 Beschäftigte kamen deutschlandweit zu Warnstreiks am 4. Mai 2022 zusammen. Kindergärten und Betreuungen an Schulen blieben währenddessen vereinzelt v. a. in Städten geschlossen. Wie ver.di rief gleichfalls die GEW zwischen dem 11. und 13. Mai erneut in verschiedenen Städten und Bundesländern bis zu 50.000 zu Warnstreiks auf. So forderten etwa die Kitavernetzung Frankfurt und die Betriebsgruppe ASB-Lehrerkooperative unter dem Banner von ver.di und GEW zusammen den TVöD für alle. Momentan wird das Gehalt derer, die zwar im SuE beschäftigt, aber nicht kommunal, sondern bei einem freien oder kirchlichen Träger tätig sind, (oftmals nur teilweise) an das Ergebnis der Tarifrunde angeglichen. Das ist relevant für nunmehr mehr als 1,2 Million weitere Beschäftigte in Sozial- und Erziehungsdiensten. Mehr als 83 % davon sind Frauen.

Wichtig und richtig war, dass es auch Verstärkung von gleichgesinnter Seite gab: U. a. Pflege- und Klinikbeschäftigte hatten sich etwa in Baden-Württemberg mit einem weißen Block den Kämpfenden im SuE angeschlossen. Gemeinsam forderten sie mehr Personal, Entlastungen und Aufwertungen.

Wie weiter?

Wirklich kämpferische und politische Forderungen, wie sie auch von gewerkschaftlicher (Basis-)Seite sonst in der Öffentlichkeit immer wieder zu hören sind, fanden zu keiner Zeit ihren Niederschlag in den Warnstreiks. Im Gegenteil ließ Werneke bereits vor Ende der 3. Verhandlungsrunde öffentlich verlauten, „nicht wochenlang streiken“ zu wollen, „um die Belastung nicht noch mehr zu vergrößern“. Die Sozialpartner:innenschaft lässt er hier deutlich durchblicken und auch die nie direkt mitverhandelnde GEW distanziert sich fälschlicherweise keineswegs davon. Was aber belasten denn einige weitere Wochen Arbeitskampf gegenüber Jahrzehnten voller Überbeanspruchung?

Nun hat die dritte Tarifrunde am 16./17. Mai in Potsdam gezeigt, dass es weitere Schritte braucht. Es ist eben genau diese selbst geschaffene Aussichtslosigkeit, die verdeutlicht, dass gerade jetzt aktive Basisstrukturen in den Einrichtungen geschaffen werden müssen. Der Kurs der Sozialpartner:innenschaft kommt letztlich nur den sog. Arbeitergeber:innen zugute. Zugleich verschärfen faule Kompromisse nicht nur den Notstand im Erziehungswesen und die chronische Überlastung der Beschäftigten. Sie unterminieren auch die gewerkschaftliche Organisation und Kampfkraft, die die Kolleg:innen in den letzten Jahren immer wieder gezeigt haben.

Daher brauchen wir nicht nur aktive Basisstrukturen und von unten gewählte und abwählbare Aktions- und Streikkomitees. Wir brauchen vor allem eine organisierte antibürokratische Basisopposition, die all jene Beschäftigten sammelt, die für eine klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik und ein Ende der sozialpartnerschaftlichen Unterordnung eintritt, für die die Apparate stehen.

Das Ergebnis muss auf Betriebs- und Gewerkschaftsebene diskutiert und in der kommenden Mitgliederbefragung zurückgewiesen werden. Eine Urabstimmung findet ja nach Warnstreiks nicht statt. Nur so kann der früher oder später in den Verhandlungen einknickenden Gewerkschaftsbürokratie nachhaltig etwas entgegengesetzt werden, wenn sich die mit dem Abschluss Unzufriedenen in ver.di und GEW jetzt entsprechend zusammenschließen und organisieren. Nur dann können wirkliche Verbesserungen mit der Umsetzung branchenweiter und politischer Forderungen gelingen. Was gegenwärtig fürs Ziel gefragt ist, lässt sich in drei Worte zusammenfassen: Mut zur Ablehnung!