Ampelkoalition: Transformation fürs Kapital

Jürgen Roth, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nun ist es amtlich: Seit dem Nikolaustag steht die Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Die Grünen hatten als letzte Partei gleichfarbiges Licht gegeben und der neue Kanzler, Olaf Scholz, präsentierte die MinisterInnenriege seiner Partei. Ob und welche Geschenke seine Riege auf den Gabenteller legen wird, wollen wir im Folgenden untersuchen.

Rahmenbedingungen

Eines drängt sich bereits jetzt auf: Dass es auf Bundesebene – erst zum 2. Mal, nach dem Kabinett Adenauer I -, jetzt einer Dreierkoalition zum Regieren bedarf, ist an sich schon ein Zeichen für die schwindende Stabilität der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie. Dahinter steckt der schwere Seegang einer immer rauer werdenden Konkurrenz um Weltmarktanteile.

Dieser wird erst recht Flutwellen zeitigen im Fall einer künftigen Rezession in Kombination mit den Rechnungen, die Klima- und Coronakrise, die Krise der EU und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt ebenso unerbittlich für die arbeitenden Klassen ausstellen werden. Wir können also damit rechnen, dass das Regierungsschiff alles andere als eine klare See durchqueren muss und dabei auch vom Kentern bedroht ist. Ein Überdauern der Legislaturperiode kann daher keineswegs als sicher vorausgesetzt werden.

Von einem klaren Kurs ist die Scholz-Crew kaum weniger weit entfernt als die geschäftsführende Bundesregierung. Zwar wurde die Frist für Notmaßnahmen über den 15. Dezember hinaus verlängert, wird über eine Impfpflicht vermehrt nachgedacht, aber grundsätzlich wird an der Erwartung eines baldigen Endes der Pandemie festgehalten. Die Strategie schlingert zwischen Impfkampagnen und bewusster Durchseuchung der jungen Bevölkerung (siehe dazu den Artikel von Christian Gebhardt in dieser Ausgabe) hin und her.

Die oberste Maxime bildet die Abwendung eines Lockdowns für das Großkapital, gefolgt von einer Vermeidung der Überlastung von Intensivstationen und Krankenhäusern.

Queerpolitischer Aufbruch?

In der Geschlechter- und Familienpolitik kündigt das Koalitionspapier umfassende Reformen an. Vorweg: Es handelt sich hierbei tatsächlich um das fortschrittlichste Kapitel. Bis 2030 soll die Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht sein. Frauen sollen besser vor Gewalt geschützt werden und der Gender Pay Gap, die geschlechtlich geprägte Lohndifferenz soll überwunden werden. Dazu will man das Entgelttransparenzgesetz weiterentwickeln und den Klageweg vereinfachen. Warum das reichen soll, um diesen Ausdruck systematischer Frauenunterdrückung zu überwinden, steht in den Sternen. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird jedenfalls nicht angekratzt. Eher ist das Gegenteil zu erwarten.

Der neue und alte Arbeitsminister, Hubertus Heil, will Familien, die „AlltagshelferInnen“ in Anspruch nehmen, 40 % Zuschuss gewähren. Dies dürfte v. a. GutverdienerInnen zugutekommen, die noch zusätzlich durch die Erhöhung der Minijobobergrenze (siehe unten) in die Lage versetzt werden, die Hausarbeit auf schlecht bezahlte migrantische Frauen abzuwälzen.

Das Werbeverbot für Abtreibungen (§ 219a) soll abgeschafft, Schwangerschaftsabbruch in die ärztliche Ausbildung aufgenommen werden. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen zahlen. Ob das dazu beitragen wird, dass nicht wie bisher nur wenige ÄrztInnen Abtreibungen durchführen, bleibt indes fraglich, wenn weiterhin § 218 solche Eingriffe verbietet.

Das reaktionäre Transsexuellengesetz wird durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt, dem zufolge Selbstauskunft für eine Änderung des Eintrags im Personenregister genügt. Die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen bezahlt die GKV. Trans- und Interpersonen, die aufgrund früheren Rechts von Zwangsoperationen betroffen waren, sollen entschädigt, Schutzlücken im OP-Verbot bei intergeschlechtlichen Kindern geschlossen werden.

Diese Verbesserungen sind zweifellos zu begrüßen. Mit Ausnahme der genannten Mängel stellen auch die anderen geschlechter- und familienpolitischen Reformen einen Fortschritt dar. Deren Finanzierung steht aber auf einem anderen Blatt (vgl. Sparmaßnahmen bei Frauenhäusern) und wird ein notwendiges Kampffeld für die Umsetzung der fortschrittlichen Regeln für die ArbeiterInnenklasse und geschlechtlich Unterdrückten markieren.

Bürgerrechte

Dieser Abschnitt klingt besser, als er ist. Dahinter verbergen sich schließlich auch Fragen der Überwachungsbefugnisse des Staates – also eigentlich die Einschränkung von Bürgerrechten.

Die Sicherheitsgesetze sollen bis Ende 2023 überprüft werden („Überwachungsgesamtrechnung“). Eine „Freiheitskommission“ wird verantwortliche Stellen bei Gesetzesvorhaben beraten. Videoüberwachung soll nur an „Kriminalitätsschwerpunkten“ stattfinden – deren Festlegung unterliegt jedoch weiter dem Staat. Sowohl Vorratsdatenspeicherung als auch Bundestrojaner werden weiter mit zusätzlichen geringfügigen Auflagen („Login-Falle“) zum Einsatz kommen dürfen. Das Demokratieförderungsgesetz soll bis 2023 eine Stärkung der „Zivilgesellschaft“ bewirken. Doch das Zwangsbekenntnis zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ entpuppt sich bei näherer Betrachtung als möglicher Einstieg zu einer „Extremismusklausel“ (z. B. Antisemitismusvorwürfe ggü. BDS). Mit keinem Wort geht das Koalitionspapier auf die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses ein.

Die letzten 30 Jahre waren durch ungebremste Verschärfung der Kriminalitätspolitik geprägt. Die angekündigte „Effizienzsteigerung“ in Strafverfahren lässt die Fortführung dieser Kontinuität vermuten. Die Koalition will indes den Eigengebrauch von Cannabis vorsichtig legalisieren und die Sicherheitsgesetze auf Vereinbarkeit mit den Bürgerrechten prüfen. Insgesamt dürfen aber solche kleinen Verbesserungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kurs auf eine Ausweitung der staatlichen Repressionsrechte fortgesetzt wird, wenn auch von einigem konservativen Ballast entrümpelt.

Mindestlohn und BürgerInnengeld

Er soll auf 12 Euro/Stunde steigen. Das stellt zwar einen nicht zu unterschätzenden Schritt nach vorn dar und eine materielle Verbesserung für Millionen. Lt. Hans-Böckler-Stiftung verdienen zur Zeit 8,6 Millionen Beschäftigte weniger als 12 Euro/Stunde. Aber es bleibt ungewiss, ob die Anhebung schnell eingeführt wird. Sollte er lt. Sondierungspapier noch im 1. Jahr erhöht werden, schweigt sich der Koalitionsvertrag über Fristen aus. Ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens wird allerdings auch die Minijobobergrenze von 450 auf 520 Euro steigen.

Die meisten Verstöße gegen den Mindestlohn gibt es aber gerade hier, sagen ArbeitsmarktforscherInnen. So erhalten MinijobberInnen meist keinen bezahlten Urlaub, keine Lohnfortzahlung bei Krankheit. 77 % bekamen zuletzt weniger als 11,50 Euro Stundenlohn. Lt. IAB-Studie vom Oktober 2021 verdrängen sie in Kleinbetrieben bis zu 500.000 sozialversicherungspflichtige Stellen. Für Arbeitslose bilden diese eher ein Ghetto als eine Brücke zur Sozialversicherungspflicht.

Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld. Forderten die Grünen noch im Wahlkampf einen um 50 Euro höheren Regelsatz und ein Ende der Sanktionen, so bleibt es bei 3 Euro ab 2022. Mitwirkungspflichtig und bürokratischer Schikane ausgesetzt bleiben auch die BürgergeldbezieherInnen.

Außer der Tariftreue für öffentliche Aufträge hat sich die Ampeltroika darüber hinaus wenig vorgenommen. Eine einfachere Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Tarifverträge ist nicht geplant. Die Talfahrt bei der Tarifbindung wird sich fortsetzen. So droht selbst die Anhebung des Mindestlohns – des einzigen handfesten Versprechens für die Lohnabhängigen -, durch weitere Deregulierung, Umstrukturierung und Inflation aufgefressen zu werden. Das BürgerInnengeld entpuppt sich schon jetzt als Mogelpackung.

Wohnungsbau

Die Bundesampel will das vom Bundesverwaltungsgericht gekippte kommunale Vorkaufsrecht nur prüfen. Auch eine Öffnungsklausel, die den Bundesländern die Einführung eines Mietendeckels erlauben würde, ist nicht vorgesehen. Wir erinnern uns: Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Mietenregulierung des Landes Berlin jüngst abgelehnt. Die weitgehend wirkungslose Mietpreisbremse wird nicht nachgezogen. Erhöhungsmöglichkeiten für bestehende Mietverhältnisse werden geringfügig von 15 % auf 11 % für einen Zeitraum von 3 Jahren beschnitten. Die geplante Einführung einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit bleibt einziger Trost. SPD und Grüne hatten noch im Wahlkampf für „Mietenstopp“ geworben. Ein neoliberaler Kurs im Wohnungsbausektor wird allenfalls notdürftig durch das Beschwören – vor allem privaten! – Neubaus übertüncht. Der Ampelvertrag enthält fast ausschließlich Verschlechterungen.

Gesundheit und Pflege

Lauterbachs Posten ist der ungeliebteste in  der Regierung. Eine paar Verbesserungen werden versprochen. So soll in den Krankenhäusern kurzfristig eine verbindliche Personalbemessung, zunächst in Gestalt der von ver.di, Deutschem Pflegerat und Krankenhausgesellschaft erarbeiteten Pflegepersonalregelung 2.0, gelten. Ferner soll die Grenze zwischen ambulantem und stationärem Sektor durchlässiger werden. Der Bund wird allerdings die Länder bei ihren Investitionen im Rahmen der dualen Finanzierung nicht unterstützen.

Aufzupassen gilt es vor allem bei 2 Punkten: Die Herausnahme der Pflege aus den Fallpauschalen seit Januar 2020 führte nicht zum automatischen Personalaufbau. 2021 gibt es sogar deutschlandweit 4.000 Intensivbetten weniger als 2020. Die Pflegekräfte werden seitdem zusehends mit Aufgaben belastet, die vorher sog. Hilfskräfte ausübten. So sehr ein integriertes und durchlässiges Gesundheitssystem an sich erstrebenswert ist, so muss bei der neuen Koalition davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht um Vorhaben zur Stärkung des öffentlichen auf Kosten des privaten Bereichs handelt.

Vor allem aber: Alles steht letztlich unter Finanzierungsvorbehalt. Im Gesundheitswesen fehlt es an 130.000 Beschäftigten. Zu den notwendigen Mitteln, um den Pflegenotstand und die Überlastung der Krankenhäuser zu beenden, finden sich allenfalls vage Zusagen. Die Fortsetzung der Misere ist solcherart vorprogrammiert.

Migration

Auch hier finden sich einige an sich begrüßenswerte Absichtserklärungen. Geduldete mit stets nur kurzfristig verlängerten Aufenthaltsgenehmigungen („Kettenduldungen“) sollen mehr Chancen auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen. Geflüchtete mit Schutzstatus dürfen ihre Angehörigen nachholen.

So weit einige Versprechungen. Die Einführung eines Punktesystems („Chancenkarte“) soll im Einwanderungsrecht eine 2. Säule etablieren. Wird nett verpackt, soll aber letztlich vor allem dazu beitragen, die Anwerbung jener migrantischen Arbeitskräfte zu erleichtern, die vom Kapital gebraucht werden – und im Umkehrschluss die Abweisung jener, die nicht verwertet werden können. Letztlich wird also nur die Segregation unter MigrantInnen im Interesse der Wirtschaft neu organisiert.

Zugleich plant die neue Bundesregierung eine „Rückführungsoffensive“, also beschleunigte Abschiebungen abgelehnter AsylbewerberInnen, neben einer Reduzierung „irregulärer Migration“. Die Außenfestung der EU wird so weiter gestärkt.

Finanz-, Steuer- und Verteidigungspolitik

Nicht zufällig bekleidet FDP-Chef Lindner den Posten des Finanzministers. Die Schuldenbremse soll ab übernächstem Jahr wieder eingeführt werden. Steuererhöhungen soll es nicht geben. Alles Gerede über Reichensteuer bei Grünen und insbes. SPD, seien es Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Vermögensteuer usw., erweist sich als Makulatur. Woher die nötigen Investitionen in z. B. Energiewende und Digitalisierung kommen sollen, wird die Masse der Bevölkerung recht bald im eigenen Portemonnaie merken.

Angesichts der Corona- und Umbaukosten befindet sich die Ampel in einer Zwickmühle, also folgerichtig auf Gelb: Das Gesamtkapital gilt es zu erneuern bei gleichzeitigem Sparzwang. Während die Koalition das große Kapital und dessen Restrukturierung im Namen von Modernisierung, Digitalisierung und ökologischer Wende fördern wird, werden mit der Schuldenbremse im öffentlichen Sektor die Daumenschrauben angezogen. Wie soll der Ausbau von Bildung, Schulen und Unis so erreicht werden? Durch private InvestorInnen. Die neoliberale Seite der Ampel lässt grüßen.

Im Koalitionsvertrag findet sich kein wörtliches Bekenntnis zum Ziel, 2 % des BIP für Verteidigung auszugeben. Doch der Beschaffung bewaffneter Drohnen – nur für garantiert demokratische Tötungen zugelassen – wird ebenso zugestimmt, wie der Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotentials – inkl. nuklearer Teilhabe Deutschlands, versteht sich -, weltweiten Militäroperationen und Beteiligung an der Konfrontationspolitik der USA das geschriebene Wort gegönnt wird. Unter Außenministerin Baerbock werden die transatlantische Waffengeschwisterschaft und Aggressionsdrohungen bekräftigt. Auch wenn das Bundesverteidigungsministerium in die Hände der SPD fällt – Struck lässt von der „Verteidigung am Hindukusch“ aus grüßen.

Diese Kernressorts der Regierung offenbaren, was droht – Verschlechterungen auf ganzer Linie.

Umweltpolitik

Apropos Wärme: Da war doch was mit der Erde? Wird der wackere Ritter Robert Habeck mit seinem neuen Superministerium für Wirtschaft und Umwelt eine Lanze für die Natur brechen? Antwort: eher einen Zahnstocher! Beim Kohleausstieg ist die schwammige Formel des Sondierungspapiers übernommen worden: „idealerweise bis 2030“ statt 2038. Der CO2-Zertifikatepreis – eine „sozial ungerechte“, indirekte, nicht progressive Massensteuer – soll nicht unter 60 Euro/t sinken.

Die Kohlekraftwerke laufen indes munter weiter. Ihr Strom wird nämlich zuerst abgerufen, da das in der Treibhausgasbilanz günstigere Erdgas teurer ist. Bis 2030 sieht der Koalitionsvertrag einen Anteil erneuerbarer Energien auf dem Strommarkt von 80 % vor. In 9 Jahren müsste die Erzeugung von Ökostrom dann aber verdoppelt werden. Am ehrgeizigsten fallen die Ziele bei der Windenergie auf See aus. Hier mischen ja auch die großen Konzerne am meisten mit.

Vor allem im Verkehr, der in der BRD zu mehr als 1/5 zur Treibhausgasemission beiträgt, sieht’s noch finsterer aus. Ein Ende der Steuerfreiheit für Kerosin und der Subventionen für Diesel ist außer Sicht. Neuer Autominister wird der FDPler Wissing.

Fazit

„Mehr Fortschritt wagen“, „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“: Diese süffisanten Formeln aus dem Arsenal der Volksverdummungsindustrie namens Werbung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Masse der Lohnabhängigen gerade angesichts der eingangs geschilderten internationalen Rahmenbedingungen sich nachhaltig warm anziehen muss. Das Geschenkpaket, das Ersatznikolaus Onkel Olaf seinen Untertanenkindern aus dem Schuh gezaubert hat, erweist sich in großen Teilen als vergifteter Köder.

Vor allem Fortschrittlichen steht stets Lindner, der das nötige Kleingeld für die Blütenträume unserer bunten Dreifaltigkeit genehmigen muss. Der hat die Hand an einem entscheidenden Machthebel. Das rechtfertigt das Urteil, das letztlich die rechteste Partei in der VorturnerInnenriege, die FDP, sich am besten bei den Koalitionsverhandlungen in Szene setzen konnte. Schritte zur Rentenfinanzierung, mehr private Investitionen, Lockerungen der Arbeitszeitregeln untermauern diese Einschätzung. Schließlich sei noch angemerkt: Ostdeutschland mit seinen speziellen Problemen wird nur einmal auf 178 Seiten erwähnt.

Beinahekanzlerin Annalena Baerbock wird als Außenministerin in die ausgetretenen Fußstapfen ihres grünen Vorgängers, „Jugoslawienbomber“ Joschka Fischer, treten und in transatlantischer Nibelungentreue einen verschärft konfrontativen Kurs gegen China und Russland (Ukraine, Gaspipeline Nord Stream 2) mitfahren.

In vielerlei Hinsicht könnten die kommenden Jahre entscheidende für eine längere Periode werden. In der Klimakrise wird in vier Jahren schon sehr absehbar sein, wie es um die 1,5 °C steht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt drängt früher oder später zu Entscheidungsschlachten. Der Umbau und die Erneuerung der Industrie finden jetzt statt – nicht für den Klimaschutz, wohl aber für die Stellung des deutschen Kapitals in der Welt entscheidend. Entlassungen, Kürzungen, Armut werden zunehmen.

Warum wir eine Aktionskonferenz brauchen

Der Rechtsruck hat tiefe Spuren hinterlassen. Das Zerbröckeln des bürgerlichen Lagers zeigt sich nicht zuletzt in der 3-Parteien-Regierung. Je nachdem, wie sie sich den Massen verkauft, kann sie das Hinsterben der „bürgerlichen Mitte“ und den Rechtsruck verzögern oder verstärken. Angesichts neuer Geflüchtetenbewegungen, Pandemie und vielfachen sozialen Abstiegs liegen rechtspopulistische bis faschistische Kräfte von AfD bis Dritter Weg schon auf der Lauer.

Die Stärkung bürgerlicher und rechter Kräfte ist aber nur eine mögliche Entwicklung. Eine fortschrittliche Alternative dazu wird jedoch nur zu einer realen Möglichkeit werden, wenn die Reorganisation der ArbeiterInnenklasse angegangen wird, sie sich zur zentralen, eigenständigen Kampfkraft gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe aufschwingt. Der Sieg des Berliner Volksentscheides Deutsche Wohnen & Co. enteignen oder die riesigen Demonstrationen der Umweltbewegung und antirassistische Mobilisierungen in den letzten Jahren zeigen, dass auch neue Potentiale des Widerstandes entstanden sind.

Diese Mobilisierungen gilt es, zu stärken und zugleich das politische Bewusstsein der AktivistInnen zu erhöhen. Es braucht daher dringend die Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes und darum, wie wir diese Auseinandersetzungen wirklich verbinden können. Es braucht einen konkreten Startpunkt dafür, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren – eine Aktionskonferenz. Sie sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den Angriffen von Rot-Grün-Gelb und des Kapitals gemeinsam entgegenzutreten.




Die Weltlage und Aufgaben der ArbeiterInnenklasse

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale, Dezember 2020/Janaur 2021

In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Welt mit einer Reihe von miteinander verknüpften Krisen konfrontiert. An erster Stelle steht eine weltweite Gesundheitskrise. Covid-19 hat die Regierungen und Gesundheitssysteme überrascht, obwohl EpidemiologInnen und die WHO vor einer wahrscheinlichen zweiten SARS-Epidemie gewarnt und die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals darauf hingewiesen hatten, dass ihre Krankenhäuser und Kliniken für eine solche nicht gerüstet sind. Covid-19 hat weltweit mehr als fünf Millionen Todesopfer gefordert, wütet mit seinen Delta- und Omikron-Varianten immer noch – und bricht in Ländern wieder aus, die überzeugt waren, die Krankheit unter Kontrolle zu haben und ihre Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.

Die Schlagzeilen der letzten beiden Jahre beherrschten aber auch die sich häufenden extremen Wetterereignisse – Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren -, die rund um den Globus wüten und die Aussicht auf einen katastrophalen Klimawandel unbestreitbar machen. Im krassen Gegensatz zu den Gefahren endete der Weltklimagipfel einmal mehr im – Nichts. Die wichtigsten Staaten blockierten jede feste Verpflichtung zur Reduzierung von CO2-Emissionen. Wieder einmal wurden die halbkolonialen Länder, vor allem in den bereits stark geschädigten Tropenzonen, um die Milliarden betrogen, die sie zur Bekämpfung der Auswirkungen benötigen. Stattdessen wurden ihnen weitere Kredite angeboten.

Im Jahr 2020 verursachte Covid den stärksten Einbruch der Weltwirtschaft seit den 1930er Jahren. Auch wenn die globale Ökonomie schon davor im Niedergang war, so synchronisiert die Pandemie die Rezession und diese prägt auch den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung und die Maßnahmen der Regierungen. Die Lockdowns zwangen die großen imperialistischen Staaten, mit den neoliberalen Dogmen über die Staatsausgaben zu brechen. Die Zinssätze, die jahrelang bei null lagen, um die zur Stagnation neigenden Volkswirtschaften anzukurbeln, erlaubten es den Staaten nun, Billionen zu leihen und in den imperialistischen Kernländern die Auswirkungen der Krise auf die Massen abzumildern. Die Unterbrechung der Versorgungsketten, der Weltmärkte und die wiederholten Aussperrungen haben enorme Verluste verursacht, auch wenn deren volles Ausmaß erst nach Beendigung der Pandemie deutlich werden wird. Auch wenn in einigen Ländern ein kurzfristiger Konsumboom möglich sein mag, wenn sich die Wirtschaften etwas erholen, so wird dieser eher einem Strohfeuer denn einer ernsten Erholung gleichkommen.

Ökonomische Auswirkungen

Mit Beginn der Pandemie stand ab Ende Februar 2020 die Wirtschaft still und internationale Produktionsketten lagen brach. Viele bürgerliche Forschungsinstitute und Konjunkturprognosen übten sich trotzdem in den letzten beiden Jahren in Sachen Optimismus. In Vorhersagen wurde  festgehalten, dass die Erholung schnell erfolgen und munter weitergehen wird – schließlich sei die Pandemie nur ein externer Faktor.

Die ganze Realität bildet das allerdings nicht ab. Nach dem Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung 2020 um 3,2 % folgte in diesem Jahr zwar eine Erholung. In seinem vierteljährlichen Bericht ging der IWF im April 2021 noch von einer Steigerung der globalen Wirtschaftsleistung von 6,4 % aus – und musste diese Prognose nur um 0,4 % nach unten korrigieren. Begründet wurden die optimistischen Prognosen mit dem Beginn der Impfungen, der damit verbundenen Erwartung eines Endes der Pandemie sowie den Konjunkturpaketen.

So ist es auch kein Wunder, dass vor allem die imperialistischen Zentren Erholung verzeichnen, während die Länder, die sich weder Impfstoff noch Konjunkturpakete leisten können, zurückbleiben. Genauer betrachtet ist das Wachstum in den imperialistischen Zentren jedoch langsamer als erhofft und begleitet von Inflation. Die Gründe dafür sind vielfältig: Der Stillstand der Handels- und Produktionsketten hat einen länger anhaltenden Einfluss, wie man beispielsweise an der Halbleiterproduktion betrachten kann. Hinzu kommen gestiegene Energie- und Rohstoffpreise. So meldete das deutsche statistische Bundesamt, dass die Erzeugerpreise im September 2021 um 14,2 % im Vergleich zum Vorjahr nach oben gingen – die stärkste Steigerung seit der Ölkrise 1974. Die Energiekosten sind laut Bundesamt zusätzlich um 20,4 % teurer geworden. Auch Arbeitskräftemangel in bestimmten Sektoren sowie Inflation verlangsamen das Wachstum. Zentral sind aber niedrige Investitionsraten, die zwar durch die massiven Konjunkturpakete angekurbelt werden, aber vor allem im privaten Sektor gering ausfallen.

Ebenso darf bei der Betrachtung nicht vergessen werden, dass die Folgen der Finanzkrise 2007/08 noch längst nicht ausgelöffelt sind. Vielmehr hat sich die internationale Schuldenlast massiv erhöht und auch die Niedrigzinspolitik lief die letzte Dekade munter weiter.

Letztlich erfordern kapitalistische Krisen eine Vernichtung überschüssigen Kapitals. In der Rezession 2009 fand diese jedoch nicht annähernd in dem Maße statt, das notwendig gewesen wäre, um einen neuen Aufschwung der Weltökonomie zu ermöglichen. Staatdessen war das letzte Jahrzehnt weitgehend eines der Stagnation.

Die Politik des billigen Geldes in den imperialistischen Zentren verhinderte dabei nicht nur die Vernichtung überschüssigen Kapitals, sondern führte auch zu einem massiven Anstieg der öffentlichen wie privaten Schuldenlast; neue spekulative Blasen bildeten sich. Die Coronamaßnahmen vieler imperialistischer Regierungen haben diese Lage noch einmal befeuert. So wurden zwar befürchtete große Pleiten vorerst verhindert – gleichzeitig gilt ein bedeutender Teil der Unternehmen mittlerweile als „Zombiefirmen“, also Betriebe, die selbst wenn sie Gewinn machen, ihre Schulden nicht mehr decken können und eigentlich nur künstlich am Leben erhalten werden.

Hinzu kommen weitere Faktoren, die deutlich machen, dass in den kommenden Jahren mit keiner Erholung der Weltwirtschaft, sondern allenfalls mit konjunkturellen Strohfeuern zu rechnen ist. Erstens fällt China anders als nach 2008 als Motor der Weltwirtschaft aus. Zweitens verschärfen zunehmende Blockbildung wie auch Fortdauer der Pandemie die wirtschaftliche Lage selbst und können nicht nur als vorübergehende Faktoren betrachtet werden. Drittens reißt die aktuelle Lage schon jetzt wichtige Halbkolonien in die Krise. Ländern wie Argentinien, der Türkei oder Südafrika drohen Insolvenz und Zusammenbruch ihre Währungen. Indien und Pakistan befinden sich ebenfalls ganz oben auf der Liste von Ländern, die IWF und Weltbank als extrem krisengefährdet betrachten.

Zusammengefasst heißt das: Die Folgen der Finanzkrise 2007/08 wurden noch abgefedert. Jetzt erleben wir eine erneute Krise von größerem Ausmaß, die diesmal fast alle Länder gleichzeitig erfasst. Doch der Spielraum der herrschenden Klasse ist dieses Mal geringer.

Auswirkungen auf das Weltgefüge

Somit ist klar, dass die Coronapandemie und ihre Folgen die Welt noch für einige Zeit in Schach halten werden. Nicht nur, weil wir mit Mutationen rechnen müssen, gegen die die Impfstoffe unwirksamer sind, sondern die Pandemie ist längst kein „externer“ Faktor mehr, sondern ihrerseits eng mit den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen und deren politischen Folgen verwoben. Ein einfaches Zurück zur „Vor Corona“-Zeit ist somit nicht möglich.

Bereits vorher war die internationale Lage zwischen den imperialistischen Kräften angespannt. Der  Handelskrieg zwischen USA und China bestimmt zwar nicht mehr die Schlagzeilen in den Zeitungen, aber die aktuelle Krise verschärft die innerimperialistische Konkurrenz erneut auf allen Ebenen. Die massive Überakkumulation an Kapital spitzt nicht nur die ökonomische Konkurrenz zu, sondern  wird auch das Feuer der innerimperialistischen politischen Querelen weiter anfachen. Schließlich will niemand die Kraft sein, auf deren Kosten die anderen ihr Kapital retten. Praktisch bedeutet das: weitere harte Handels- und Wirtschaftskonflikte, zunehmende ökonomische Tendenz zur Blockbildung und Kampf um die Kontrolle etablierter oder neuer halbkolonialer Wirtschaftsräume. Die USA und China, aber auch Deutschland und die EU verfolgen dies mit zunehmender Konsequenz.

Dies hat nicht nur ökonomische, sondern auch politische Folgen, darunter die zunehmende Militarisierung sowie eine weitere Eskalation kriegerischer Auseinandersetzungen. Hinzu kommt, dass die Pandemie den Trend zum Nationalprotektionismus verschärft hat und ein widersprüchliches Moment in sich trägt. Wie wir an Lieferengpässen sehen, sind die Produktionsketten mittlerweile extrem verschränkt. Ein einfaches Entflechten gemäß dem Ideal, „alles was man braucht“, im eigenen Staat zu produzieren, ist schlichtweg nicht möglich. Dennoch kann es infolge von vermehrten ökonomischen und politischen Konflikten zur Erhebung weiterer Zölle, wechselseitigen Sanktionen etc. kommen. Auch wenn dies die Weltwirtschaft selbst in Mitleidenschaft ziehen wird, so werden solche Konflikte zunehmen. Das Kräftemessen kann zugleich auch deutlich machen, welche Länder das schwächste Glied in der imperialistischen Kette bilden, und seinerseits innere Konflikte zuspitzen und ganze Staaten destabilisieren.

Die Aussichten sind also nicht besonders rosig. Schon das letzte Jahrzehnt war von einer Zunahme autoritärer, rechtspopulistischer und bonapartistischer Tendenzen geprägt, die sich unter dem gesellschaftlichen Ausnahmezustand der Pandemie verschärft haben. Um in kommenden Auseinandersetzungen mögliche Proteste in Schach zu halten, ist damit zu rechnen, dass wir eine Verstärkung von Rechtspopulismus, Autoritarismus, Bonapartismus erleben werden.

Angesichts diese krisenhaften Lage erheben sich zentrale Fragen: Wer wird zur Kasse gebeten, um die Rettungs- und Konjunkturpakete zu finanzieren? Wer wird die Kosten der Krise zahlen? Welche Klasse prägt die zukünftige Entwicklung?

Bedeutung für die ArbeiterInnenklasse

Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig. Nicht die Herrschenden wollen den Kopf hinhalten und so werden die bürgerlichen Regierungen natürlich versuchen, die Last vor allem auf die ArbeiterInnenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft und die Mittelschichten abzuwälzen, wie dies im Grunde schon während der Coronakrise der Fall war. Fast überall arbeiteten die jeweiligen Gesundheitssysteme an ihren Grenzen und Gewalt, insbesondere gegen Frauen, hat gesamtgesellschaftlich stark zugenommen. Allein die unmittelbaren Folgen des Stillstands wie Massenentlassungen, Verelendung und massiver Zuwachs an Armut sind global schnell sichtbar geworden. So erwartet der Internationale Währungsfonds, dass die Pandemie den Fortschritt in der Bekämpfung der globalen Armut seit den 1990er Jahren annulliert sowie die Ungleichheit weiter verstärkt.

Die größten Auswirkungen sind in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen zu verzeichnen. Dort beträgt deren Verlust mehr als 15 Prozent. Genau diese Länder haben zudem die schwächsten Sozialsysteme. Hinzu kommt die steigende Inflation, die die Lebenshaltungskosten in Ländern wie der Türkei oder dem Libanon und vielen anderen in die Höhe treibt. Das Festhalten der imperialistischen Länder an den Patenten zugunsten der Profite sorgt dafür, dass die Lage sich nicht in absehbarer Zeit verbessern wird.

Nicht allzu viel besser sieht die Situation in den imperialistischen Zentren aus. Auch hier gab es zahlreiche Entlassungen. So hatten die USA 2020 ihr historisches Hoch. Die Konjunkturpakete oder Hilfen wie das KurzarbeiterInnengeld in Deutschland federn zwar die Auswirkungen der Krise ab, aber auch hier ist die Inflation deutlich in der Tasche zu spüren.

Was kommt?

Aufgrund des konjunkturellen Aufschwungs in den USA und in etlichen europäischen Staaten werden die kurzfristigen Auswirkungen hier andere sein als für große Teile der Massen in den Halbkolonien. Letztere werden von einer Dauerkrise der Wirtschaft, der Pandemie und auch ökologischen Katastrophen geprägt sein. Das heißt, dass in den halbkolonialen Ländern der Kampf für ein Sofortprogramm gegen die akute Krise und Pandemie eine zentrale Rolle spielen wird, das die verschiedenen ökonomischen und sozialen Aspekte umfasst. Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass der Klassenkampf in diesen Ländern aufgrund der zugespitzten sozialen und politischen Lage eine weit explosivere Form annehmen wird.

Die Extraprofite des imperialistischen Kapitals in den Metropolen sowie der aktuelle konjunkturelle Aufschwung in etlichen Ländern erlauben in diesen Staaten mehr Spielraum für gewerkschaftliche und soziale Umverteilungskämpfe. Ebenso kann es sein, dass teilweise reformistische oder linkspopulistische Kräfte an Aufwind gewinnen. Schließlich hat die Gesundheitskrise in den Augen von Millionen verdeutlicht, dass massive Investitionen, Verstaatlichungen und Neueinstellungen in diesem Bereich wie auch in anderen Sektoren nötig sind (Wohnung, Verkehr … ). Bürgerliche wie reformistische Kräfte versuchen, dem verbal entgegenzukommen und die Spitze zu nehmen. So beinhalten das Programm Bidens wie auch der Green Deal der EU Versprechen, die ökologischen Probleme zu lösen und soziale Ungleichheit zu reduzieren. In der Realität werden sich diese Reformversprechen als Quadratur des Kreises entpuppen.

In Wirklichkeit sind es Programme zur Erneuerung des Kapitals, nicht der Gesellschaft. Der ArbeiterInnenklasse und den Unterdrückten wird nichts geschenkt, schon gar nicht in der Situation zunehmenden Wettbewerbs. Während die wirtschaftliche Lage in den imperialistischen Ländern jedoch kurzfristig einen gewissen Verteilungsspielraum eröffnen kann, der von der ArbeiterInnenklasse genutzt werden muss, besteht dieser in den halbkolonialen Ländern praktisch nicht. Dort können und werden sich selbst Kämpfe um soziale, ökonomische und demokratische Verbesserungen viel rascher zum Kampf um die politische Macht zuspitzen, wie z. B. der Sudan zeigt.

Auch wenn die Situation in imperialistischen Ländern und Halbkolonien bedeutende Unterschiede birgt, so sind alle wichtigen Auseinandersetzungen unserer Zeit – der Kampf gegen die Pandemie, die drohende ökologische Katastrophe,  die Folgen der Wirtschaftskrise und die zunehmende Kriegsgefahr – Fragen des internationalen Klassenkampfes. Sie können auf nationaler Ebene letztlich nicht gelöst werden.

Wo aber beginnen?

Zuerst ist es wichtig zu verstehen, dass die verschlechterte Situation der arbeitenden Klasse nicht automatisch Proteste mit sich bringt. Diese gibt es zwar, ebenso wie Streiks und Aufstände, jedoch sind sie erstmal nur Ausdruck der spontanen Unzufriedenheit der Massen. Zu glauben, dass aus ihnen mehr erwachsen muss oder sie von alleine zu einer grundlegenden Lösung führen werden, ist falsch, ein passiver Automatismus. Streiks befördern natürlich das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse, dass sie sich kollektiv zusammenschließen muss, um höhere Löhne zu erkämpfen. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr spontanes Bewusstsein im ökonomischen Kampf ist jedoch selbst noch eine Form bürgerlichen Bewusstseins, weil es auf dem Boden des Lohnarbeitsverhältnisses steht. Es stellt insbesondere in Friedenszeiten nicht das kapitalistische System in Frage, sondern fordert erstmal nur mehr Lohn ein. Ähnliches gilt für Proteste beispielsweise aufgrund von Hunger. Beide – Streiks und spontane Proteste – tragen jedoch in sich das Potenzial, zu mehr zu werden. Allerdings nur, wenn es geschafft werden kann, die Grundlage der Misere aufzuzeigen, zu vermitteln, dass die Spontaneität der Proteste noch nicht automatisch die Lösung bringt, sondern es einen organisierten Umsturz braucht, um dieses System erfolgreich zu zerschlagen. Es ist Aufgabe von RevolutionärInnen, dieses Verständnis, dieses Bewusstsein in die Klasse zu tragen und die dazu notwendigen Schritte zu vermitteln. Dies ist jedoch leichter geschrieben als getan, denn ein Blick auf die aktuelle Lage zeigt, dass es viele Widerstände gibt, die man zu überwinden wissen muss.

Kämpfe und Kontrolle

Das heißt, dass man in die existierenden Kämpfe intervenieren und diese zuspitzen muss. Beispielsweise durch Forderungen, die weiter gehen als jene, die bereits aufgeworfen werden. Es reicht nicht, nur kommende Angriffe abzuwehren, vielmehr müssen die Abwehrkämpfe mit dem Ziel geführt werden, konkrete Verbesserungen zu erkämpfen, und dabei aufzeigen, was für eine andere Welt möglich wäre. Denn der Illusion anzuhängen, dass es irgendwann genauso wie vor der Pandemie werden kann, ist eine Illusion, wie die obige Diskussion der Weltlage aufzeigt. Zudem war dieser Zustand eh nur für einen sehr geringen Teil der Weltbevölkerung annehmbar. Beispielsweise kann das dafür notwendige Bewusstsein folgendermaßen vermittelt werden:

In Zeiten permanenter Preissteigerungen geraten selbst erfolgreiche Lohnkämpfe an ihre Grenzen. Die Forderung nach höheren Löhnen muss daher mit der nach automatischer Anpassung an die Preissteigerung verbunden werden. Da zur Zeit die Preise für die Konsumgüter der ArbeiterInnenklasse (Mieten, Heizung, Lebensmittel) stärker steigen, als es die statistische Inflationsrate zum Ausdruck bringt, sollte durch die Gewerkschaften und VerbraucherInnenkomitees ein Index für die reale Steigerung der Lebenshaltungskosten erstellt und immer wieder aktualisiert werden. An diesen sollten die Löhne und Gehälter angeglichen werden. Damit dies auch wirklich passiert, sollten wir uns nicht auf den Staat (und schon gar nicht auf die Ehrlichkeit der Unternehmen) verlassen, sondern müssen dazu betriebliche Kontrollkomitees – also Formen der ArbeiterInnenkontrolle – etablieren.

So kann ein konkretes Problem – die Steigerung der Lebenshaltungskosten – für die gesamt Klasse angegangen und mit dem Aufbau von Organen der ArbeiterInnenkontrolle, also der betrieblichen Gegenmacht, verbunden werden.

Ähnliches lässt sich auch für andere Bereiche zeigen. Die Forderung nach massiven Investitionen in den Gesundheitssektor stellt sich weltweit. Dies muss durch Besteuerung der Reichen passieren unter Kontrolle der ArbeiterInnen selber. Hier bedarf es neben einer Erhöhung der Löhne auch einer enormen Aufstockung des Personals, um Entlastung zu schaffen.

Hinzu kommt, dass die Arbeit im gesamten Care-Sektor oftmals geringer vergütet wird, da dieser nicht im gleichen Maße Mehrwert produziert – und somit nicht auf gleicher Ebene rentabel ist. Das ist nur einer der Gründe, warum es entscheidend ist, dass die Investitionen unter Kontrolle der Beschäftigten stattfinden. Sie können aufgrund ihrer Berufsqualifikation und -erfahrung wesentlich besser entscheiden, wo Mängel im Joballtag bestehen, und hegen zeitgleich kein materielles Interesse daran, dass der Gesundheitssektor so strukturiert ist, dass er Profite abwirft. Zentral ist allerdings beim Punkt Kontrolle, dass sie nicht einfach so herbeigeführt werden kann. Damit dies nicht nur schöne Worte auf Papier bleiben, sondern sie Realität werden kann, bedarf es Auseinandersetzungen innerhalb der Betriebe, bei denen sich Streik- und Aktionskomitees gründen. Diese stellen Keimformen von Doppelmachtorganen dar, die den Weg zur ArbeiterInnenkontrolle ebnen. Nur so kann die nötige Erfahrung gesammelt werden sowie sich das Bewusstsein entwickeln, dass die existierende Arbeit kollektiv auf die Arbeitenden aufgeteilt werden kann.

Ebenso müssen wir dafür einstehen, dass die Patente für die Impfstoffe abgeschafft werden. Es wird deutlich, dass das Vorenthalten nicht nur aktiv dafür sorgt, dass Menschen in Halbkolonien an dem Coronavirus sterben, sondern auch durch die Auswirkungen auf die Wirtschaft stärker verarmen. Ausreichend allein ist dies natürlich nicht. Die Freigabe der Patente muss mit der kostenlosen Übergabe von Wissen und den nötigen technischen Ressourcen verbunden werden – ein kleiner Schritt, der dafür sorgt, dass die stetige Abhängigkeit von den imperialistischen Ländern sich an diesem Punkt nicht weiter verfestigt. Nur so kann die Grundlage geschaffen werden, etwaige Mutationen des Virus zu verringern. Falls diese doch entstehen, erlaubt es schnelles Handeln bei der Produktion notwendiger neuer Impfstoffe. Auch dies kann nur geschehen, wenn nicht die Profitinteressen der imperialistischen Länder und Pharmaindustrie vorrangig bedient werden. Deswegen müssen auch hier die Konzerne enteignet und unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt werden.

Doch so einfach ist es nicht …

Dies sind Forderungen, die weltweit ihre Relevanz haben und die Grundlage für eine internationale Antikrisenbewegung legen können. Doch einfacher geschrieben als durchgesetzt. Denn wie bereits zuvor geschrieben: Es gibt Widerstände, auch innerhalb der Klasse.

Niederlagen in den Klassenkämpfen des letzten Jahrzehntes, vor allem des Arabischen Frühlings, aber auch von Syriza in Griechenland trugen eine tiefe, desillusionierende und demoralisierende Auswirkung auf die Massen mit sich. Nicht die Linke, sondern die populistische Rechte präsentierte sich in den letzten fünf Jahren immer wieder als pseudoradikale Alternative zur Herrschaft der tradierten „Eliten“. Diese konnte sich aufgrund der Passivität der Linken innerhalb der Coronakrise profilieren. So kann die Zunahme eines gewissen Irrationalismus‘ in Teilen des KleinbürgerInnentums, aber auch der ArbeiterInnenklasse beobachtet werden. Rechte schaffen es, die Bewegung für sich zu vereinnahmen und dort als stärkste Kraft aufzutreten – was Grundlage für ihr Wachstum ist, aber auch ihre Radikalisierung mit sich bringt.

Die Dominanz von ReformistInnen und LinkspopulistInnen drückt sich in einer Führungskrise der gesamten ArbeiterInnenklasse aus. Zwar werden Kämpfe geführt, wenn es sein muss – also wenn es Angriffe gibt. Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und SozialpartnerInnenschaft in den Betrieben hinaus. Die Politik des Burgfriedens sorgt dafür, dass Proteste im Zaum gehalten werden oder erst gar nicht aufkommen. Somit besteht eine der zentralen Aufgaben von RevolutionärInnen darin, den Einfluss dieser Kräfte auf die Masse der ArbeiterInnenklasse zu brechen.

Internationalismus

Dies geschieht jedoch nicht durch alleiniges Kundtun, dass Bürokratie & Co üble VerräterInnen sind. Sonst wäre es schon längst im Laufe der Geschichte passiert, dass die Massen sich von diesen Kräften abwenden und automatisch zu RevolutionärInnen werden. Deswegen bedarf es hier der Taktik der Einheitsfront, des Aufbaus von Bündnissen der ArbeiterInnenklasse für Mobilisierungen um konkrete Forderungen. Aufgabe ist, möglichst große Einheit der Klasse im Kampf gegen Kapital und Staat herzustellen und im Zuge der Auseinandersetzung aufzuzeigen, dass die Gewerkschaftsbürokratie oder reformistische Parteien sich selbst für solche Forderungen nicht konsequent ins Zeug legen.

Entscheidend ist es also, bestehende Kämpfe und Bewegungen zusammenzuführen, die existierende Führung dieser sowie der etablierten Organisationen der ArbeiterInnenklasse herauszufordern. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass es eine Wiederbelebung der Sozialforen gibt – diesmal jedoch nicht nur als Versammlungen zur unverbindlichen Diskussion, sondern zur beschlussfähigen Koordinierung des gemeinsames Kampfes. Doch ein alleiniges Zusammenführen von ganz vielen verschiedenen Bewegungen reicht nicht. Unterschiedliche Positionierungen, Eigeninteressen und fehlende oder falsche Analysen können zu Stagnation und letztendlich zum Niedergang dieser führen. Es braucht einen gemeinsamen Plan, ein gemeinsames – revolutionäres – Programm, für das die revolutionäre Organisation eintreten muss. Eine solche müssen wir aufbauen – in Deutschland und international.




Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen: Vierte Welle des Irrationalismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nicht nur die Zahl der Infizierten erreicht in Mittel- und Osteuropa in den letzten Wochen immer neue Rekordwerte. Noch vor einem Jahr, im Winter 2020/21, als die zweite Welle der Pandemie Europa im tödlichen Würgegriff hielt, gab es kaum Widerstand gegen Lockdowns und die Verhängung von Kontaktbeschränkungen. Selbst die Welle der QuerdenkerInnen ebbte damals angesichts Tausender und Abertausender Toter ab.

Nicht so in diesem Jahr. In Österreich gehen seit Ende November wöchentlich Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen, geführt von der rassistischen FPÖ unter kräftiger Beteiligung offen faschistischer Gruppierungen, auf die Straße. In Deutschland demonstrieren Tausende. In der sächsischen Kleinstadt Grimma belagerten Rechte das Haus der SPD-Landesgesundheitsministerin. In Belgien und den Niederlanden liefern sich wütende ImpfgegnerInnen Straßenschlachten mit der Polizei.

Auch wenn zwischen Corona-LeugnerInnen, ImpfgegnerInnen und der einfachen Masse der ungeimpften Erwachsenen unterschieden werden muss, so bildet Letztere eine Basis für die beiden ersteren Gruppen.

In Deutschland liegt die Impfquote am 7. Dezember noch immer unter 70 % der Gesamtbevölkerung, mit extrem großen Unterschieden zwischen einzelnen Bundesländern und Regionen. Deutlich vorne liegen in Europa Irland, Portugal, Spanien und Schweden mit Impfquoten zwischen 80 und 90 %. Umgekehrt sieht die Lage besonders dramatisch in Osteuropa aus mit Quoten von 40 – 60 % – mit entsprechend hohen Todeszahlen. Das Gesundheitssystem ist dort in etlichen Regionen längst überlastet und faktisch zusammengebrochen. In einigen dieser Länder stellen ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung.

Kapitalistische Corona-Politik

Während global betrachtet gerade in den Ländern Afrikas der Mangel an Impfstoffen aufgrund der Monopolisierung von Produktion, Patenten und Verteilung in imperialistischen Zentren das Hauptproblem darstellt, gilt das für Deutschland und Österreich, aber auch die osteuropäischen Länder der EU oder Russland nicht. Länder wie Kuba, aber selbst das kapitalistische Portugal oder Spanien zeigen, dass eine weitaus effektivere Impfkampagne möglich wäre. Woran liegt es, dass andere so weit hinten liegen? Neben nationalen Besonderheiten bildet die widersprüchliche Politik, wie sie nicht nur in Deutschland vorherrscht, einen Nährboden für reaktionäre, kleinbürgerliche Kritik.

So verkündeten zahlreiche Regierungen noch im vergangenen Sommer, dass die Gefahr faktisch vorbei sei. Warum sollte man sich also noch impfen lassen, wenn das Virus eh besiegt war?

Doch wurde die Gefahr nicht nur verharmlost. Es wurde auch nichts getan, um Vorsorge zu treffen. Investitionen in das kaputtgesparte Gesundheitssystem, wo allein in Deutschland rund 130 000 zusätzliche Beschäftigte benötigt würden? Fehlanzeige! Angesichts dieses Versagens der Politik fragen sich natürlich Menschen, warum sie selbst Einschränkungen hinnehmen müssen, wenn „die da oben“ ungestraft unterlassen können, was sie wollen. Zudem fehlte es bei der Impfkampagne an Aufklärung und rationeller Organisation.

Zugleich nahm die Regierung selbst eigentlich vermeidbare schwere Erkrankungen und Tote billigend in Kauf – wobei sie von VertreterInnen des Kapitals und der Presse, von diversen Talkshow- „PhilosophInnen“ wie Richard David Precht flankiert wurde, garniert mit geradezu abenteuerlichen Verharmlosungen des Virus durch „respektable“ Liberale und Konservative, aber auch Grüne, SozialdemokratInnen und „Linke“ wie Wagenknecht.

Die kapitalistische Corona-Bekämpfung seit März 2020 blieb immer der Anforderung untergeordnet, die Mehrwertproduktion und Profitmaschine am Laufen zu halten. Der Gesundheitsschutz stellte dabei nur eine unvermeidliche Notmaßnahme dar. Er zielte immer nur darauf, die Verbreitung des Virus so weit zu beschränken, dass ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems vermieden werden konnte. Die unvermeidliche Folge waren und sind lang gezogene Hängepartien, die die Bevölkerung stärker belasten als ein kurzer konsequenter Lockdown aller gesellschaftlich nicht notwendigen Produktion bei voller Sicherung der Einkommen.

Rechte Ideologie

Diese widersprüchliche Politik trifft existentiell Sektoren der Dienstleistungsbranche, der Kultur, des KleinbürgerInnentums und die Lohnabhängigen, hier vor allem die ärmsten und prekär beschäftigten Schichten. Sie ist Wind in den Segeln von reaktionären offenen Corona-LeugnerInnen aus AfD, FPÖ sowie anderen rechten und faschistischen Parteien neben ImpfgegnerInnen, die die Wirksamkeit der Vakzine mit Mischung aus Halbwissen und Wissenschaftsfeindlichkeit in Frage stellen. In den Ländern Osteuropas stützen sich diese neben rechtspopulistischen und rechten Kräften auch auf den religiösen Obskurantismus aus den christlichen Kirchen.

Auch wenn die Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen sich aus verschiedenen Quellen speisen, so sind sie dabei, sich zu einer reaktionären politischen Kraft, einer kleinbürgerlich-populistischen Bewegung mit einem durchaus beachtlichen faschistischen Rand zu formieren. Und auch wenn sie reale Missstände und Widersprüche, wirkliche Ängste von Teilen des KleinbürgerInnentums demagogisch aufgreifen, ändert dies nichts am Charakter dieser Mobilisierungen und Ideologien. Im Gegenteil, das Anknüpfen an diese ist typisch für kleinbürgerlich-reaktionäre politische Formationen und eine Voraussetzung für ihren Erfolg.

So auch bei den Corona-LeugnerInnen und ImpfgegnerInnen. Die realen Auswirkungen der widersprüchlichen Pandemiepolitik und echte Existenzängste werden aufgegriffen und als Resultat eines bewussten Manövers des „Establishments“, volksfeindlicher PolitikerInnen und ihrer Hintermänner und -frauen dargestellt. Corona mag zwar wirklich existieren, entscheidend für die ideologische Setzung ist jedoch, dass die Pandemie und vor allem die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz eine Art Verschwörung gegen die „normalen“, vornehmlich weißen Menschen darstellen. Das Virus würde vor allem genutzt, um „uns“ zu kontrollieren, „unsere Freiheit“ zu zerstören, uns die „Selbstbestimmung über den Körper“ zu rauben, „die Kinder zu traumatisieren“ und uns zu „entmenschlichen“.

Das Abstreifen der Maske und die Impfverweigerung werden zum Menschenrecht, zum letzten Hort der Freiheit verklärt. Die eigentlichen Ursachen für eine fatale Corona-Politik, die in der Logik der kapitalistischen Profitwirtschaft zu suchen sind, werden systematisch ausgeblendet. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und gegensätzlichen Klasseninteressen, die auch in der Pandemie aufeinanderprallen, spielen in der Welt der ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen keine Rolle. Ansonsten müssten sie erkennen, dass die Regierungen, das politische „Establishment“ selbst das kapitalistische System nicht bewusst steuern, sie keinem teuflischen Masterplan folgen, sondern eher Zauberlehrlingen gleichen, denen ihr System über den Kopf zu wachsen droht.

Zusammenwachsen

Natürlich besitzen die verschiedenen Strömungen der überzeugten Corona-LeugnerInnen, VerschwörungstheoretikerInnen und ImpfgegnerInnen unterschiedliche Wurzeln, aber zur Zeit konvergieren sie zu einer Bewegung, die eine reaktionäre, gemeinsame kleinbürgerliche Ideologie und die GegnerInnenschaft zu effektivem Gesundheitsschutz einen. Auch wenn sich Menschen aufgrund ihrer Angst vor Einkommensverlusten und Verschlechterungen sog. „Freiheits“-Demos anschließen, so ändert dies nichts daran, dass sie hinter dem Banner rechter und reaktionärer Kräfte herlaufen und deren politische Führung akzeptieren oder, was nicht minder schlimm ist, einfach leugnen.

Ihre Absichten, ihre Wut können noch so real und nachvollziehbar sein, trotzdem sind die Demonstrationen eindeutig reaktionär, verfolgen klar rückschrittliche Ziele. Die pauschale Ablehnung von Abstandsregeln, Gesundheitsschutz und der Impfung bedeuten nichts anderes, als andere Menschen vermeidbarem Leid oder gar dem Tod auszusetzen.

Bei den Aktionen wachsen verschiedene reaktionäre Traditionen zusammen. Dazu gehören gerade in Deutschland ImpfgegnerInnen, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen und die schon damals mit Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien gerade in Baden-Württemberg und Sachsen ihr Unwesen trieben. Hier knüpft auch die pauschale Ablehnung der „Schulmedizin“ an, die schon im 19. Jahrhundert und im Nationalsozialismus antisemitisch als „jüdische Disziplin“ konnotiert war. Hinzu gesellen sich AnhängerInnen der Alternativmedizin, die sich in den letzten Jahren faktisch mit diesen Kräften zusammengetan haben.

Eine zweite politische Kraft stellt natürlich die aktive politische Rechte dar, die die sozialen Krisenphänomene nun mit der Pandemie verbindet. Die angebliche Corona-Diktatur spielt dabei in der rechten Ideologie heute eine ähnliche Rolle wie Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und die sogenannte Klima-Lüge. ImpfgegnerInnen, AnthroposophInnen, EsoterikerInnen, KurpfuscherInnen firmieren bei der rechten Melange als „GesundheitsexpertInnen“, die unfair vom Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzt wären und je nach Geschmack Corona als Fake entlarven, das Immunsystem beschwören oder Entwurmungsmittel für Pferde als wirksame Medizin anpreisen. AfD-Rechtsaußen Höcke und die Identitären entlarven die Gefahren der wirksamen Impfstoffe. Diese sollen nämlich die Geburtenrate drücken und so die „Umvolkung“ Europas vorantreiben. Teile der Bewegung ziehen eine abstoßende, die Verhältnisse auf den Kopf stellende Parallele zur Shoa (dem Holocaust). Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wie Impfungen, 2G- und 3G-Regeln werden allen Ernstes mit der Stigmatisierung, Unterdrückung und Vernichtung des jüdischen Volkes gleichgesetzt!

Dass die Mobilisierungen im Extremfall einen direkt faschistischen Charakter annehmen wie beim Fackelzug in Grimma, sollte bei solchen ideologischen Monstrositäten nicht wundern. Die Führungsrolle etablierter, rechter Kräfte und der Zulauf zu FaschistInnen ergibt sich aus der inneren Logik dieser Bewegungen und Mobilisierungen. Auch wenn bei etlichen die Teilnahme ursprünglich aus bloßer Wut gegen die Regierung und schlechte Lebensverhältnisse gespeist war, so sollte niemand der Illusion aufsitzen, dass diese „desorientierten“ Menschen leicht von den Rechten wegzubrechen wären. Im Gegenteil, eine falsch verstandene pädagogische Herangehensweise nach dem Motto „Schlechtes Ziel, verständliche Wut“ wird in Wirklichkeit nur den rechten Zug stärken, verharmlost sie doch den grundlegend reaktionären, arbeiterInnenfeindlichen Gehalt dieser Bewegungen und ihres Rufes nach „Freiheit“.

Die abstrakte Freiheit

Die ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen inszenieren sich und ihre Mobilisierungen seit Beginn der Pandemie bekanntlich als „Freiheitsbewegung“. Ob nun Masken, Abstandsregeln, Kontaktbeschränkungen oder auch Impfungen – alle werden als Angriff auf unsere „Freiheitsrechte“ interpretiert.

Beschworen wird dabei die „Freiheit an sich“ des einzelnen Individuums, eine abstrakte Angelegenheit, die einerseits Freiheit als unbeschränktes , persönliches Recht interpretiert, andererseits jedoch von den realen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie überhaupt erst existiert, absieht.

Im Kapitalismus ist der Inbegriff der Freiheit jedoch letztlich jene der WarenbesitzerInnen. Bei Kauf und Verkauf erscheinen die Menschen zwar als gleich und frei, in Wirklichkeit besitzen sie jedoch recht unterschiedliche Waren. Während das Kapital über die Produktionsmittel verfügt, müssen die LohnarbeiterInnen ihre Arbeitskraft zu Markte tragen. Nur dem KleinbürgerInnentum (und Anverwandten aus den Mittelschichten) erscheinen die freien ProduzentInnen und deren darauf basierende individuelle Freiheit den Kern der gesellschaft auszumachen.

In Wirklichkeit bestimmt natürlich das Kapitalverhältnis längst die Bedingungen der Produktion und Reproduktion in der Gesellschaft, nicht nur im Arbeits- und Verwertungsprozess, sondern letztlich auch in der Freizeit. Diese doppelte Setzung – Freiheit des/r Einzelnen als WarenbesitzerInnen und ihre gleichzeitige Unterordnung – drückt sich darin aus, dass in bürgerlichen Gesellschaft das Individuum gewissermaßen doppelt erscheint: Einmal als persönliches oder zufälliges, einmal als Klassenindividuum. Schon in der Deutschen Ideologie verweisen Marx und Engels auf die Verkehrung, die damit einhergeht:

„Der Unterschied des persönlichen Individuums gegen das Klassenindividuum, die Zufälligkeit der Lebensbedingungen für das In[dividuum] tritt erst mit dem Auftreten der Klasse [ein], die selbst ein Produkt der Bourgeoisie ist. Die Konkurrenz und der Kampf [der] Individuen untereinander erz[eugt und en]twickelt erst diese Zufälligkeit als solche. In der Vorstellung sind daher die Individuen unter der Bourgeoisieherrschaft freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind; in der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumiert.“ (MEW 23, S. 76)

Die Welt der ImpfgegnerInnen und Corona-LeugnerInnen entpuppt sich – wie die jeder reaktionären kleinbürgerlichen Ideologie und Bewegung – als eine des zufälligen Individuums, als dessen irrationaler, vereinseitigter und aberwitziger Freiheitsraum.

Die reale Unfreiheit, die sachlichen Bestimmungen und Klassenunterdrückung, denen die LohnarbeiterInnen unterworfen sind, gelten diesen FreiheitsheldInnen als natürliche, unhinterfragte Verhältnisse. Umso eifriger legen sie sich für die Surrogate wirklicher Freiheit ins Zeug. Freiheit gerät zur Freiheit, ohne Rücksicht auf andere als Spreader herlaufen zu dürfen. Im Arbeitsleben halten sie dafür die Schnauze. Schließlich wird die Freiheit des Kapitals, mit seinem Betrieb (und den dort Beschäftigten) tun und lassen zu können, was es will, respektiert.

Rechtsruck

Mit bloßer Aufklärung wird ImpfgegnerInnenschaft, Verschwörungsdenken usw. nicht beizukommen sein. Im Grunde können die Menschen, die sich noch nicht völlig in rechten bis faschistischen Ideologien festgefressen haben, nur vom Irrationalismus weggerissen werden, wenn es eine breite Bewegung gibt, die eine rationale, d. h. bewusste Lösung der Pandemie vorschlägt – was unmittelbar mit einer klassenkämpferischen, antikapitalistischen Politik zusammenhängt.

Der Zulauf zur reaktionären Bewegung muss daher auch als Resultat von Niederlagen der Lohnabhängigen im Kampf begriffen werden. Während das zufällige, persönliche Individuum auf dem Boden kapitalistischer Verhältnisse spontan hervortritt, erfordert die Formierung des proletarischen Klassenindividuums selbst Kampf und damit Bildung von Bewusstsein.

Nicht erst die Corona-Politik, sondern Niederlagen der ArbeiterInnenklasse wie der Rechtsruck nach 2016 haben auch eine viel grundlegendere gesellschaftliche Tendenz – den Niedergang der organisierten reformistischen ArbeiterInnenbewegung und damit auch eines existierenden Niveaus von Klassenformierung – weiter vorangetrieben. Dass ImpfgegnerInnenschaft in den Ländern Osteuropas und Russland, aber auch in der ehemaligen DDR besonders stark ist, resultiert auch aus der politischen Atomisierung und Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse unter dem Stalinismus sowie der Restauration des Kapitalismus und der folgenden Deindustrialisierung, sozialen Entrechtung und Zersplitterung.




Kriegstreiberin NATO

Frederik Haber, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Ziemlich plötzlich wichen die Bilder und Berichte von der polnisch-belarussischen Grenze solchen von russischem Kriegsgerät: Es drohen nicht nur Flüchtlinge, sondern auch russische Panzer.

Beides wurde dann auch als Grund dafür angegeben, warum sich die AußenministerInnen der NATO in Lettland treffen und beraten müssen. Anfang Dezember also trafen sie sich in Riga, zum ersten Mal so nahe an der russischen Grenze, und die NATO hielt auch gleich eines von fünf dort geplanten Manövern ab.

Die Fakten also belegen eine geplante Machtdemonstration des atlantischen Bündnisses, das natürlich seine Rechtfertigung braucht: „Es soll Truppenkonzentrationen an der russischen Grenze geben“, lautete der Tenor der Medien und PolitikerInnen. Belegt wurde nichts, die Bilder der russischen Militärausrüstung stammten aus Archiven.

Motive

Die Aggressorin ist eindeutig die NATO unter Führung des US-Imperialismus. Es gibt für diesen verschiedene Motive. Das Entscheidende ist die Zuspitzung der Widersprüche zwischen den führenden imperialistischen Mächten: China fordert die Hegemonie der USA heraus, ist wirtschaftlich teilweise auf Augenhöhe und rüstet schnell auf, wenn auch das Land militärisch noch meilenweit von der Stärke der USA entfernt ist. Russland kann wirtschaftlich überhaupt nicht mithalten, verfügt aber nach wie vor über eine militärische Stärke, die die neue russische Bourgeoisie aus der Sowjetunion geerbt hat. Diese erlaubt Russland, den USA nicht nur in seinem engeren Umfeld wie Ukraine und Armenien in die Parade zu fahren, sondern auch in Zentralasien oder Syrien.

Die USA unter Biden setzen wieder stärker darauf, die direkten KonkurrentInnen zu schwächen, und verfolgen so mit anderen Hebeln das gleiche Ziel, „America great again“ zu machen. Im Gegensatz zu Trump nutzt Biden dazu mehr die NATO und andere internationale Strukturen. Das bringt dem US-Imperialismus zwei Vorteile: Die Kosten können umgelegt und die „Verbündeten“ in Konflikte mit Russland und China getrieben werden, die sie möglicherweise gar nicht wollen.

Insbesondere der deutsche Imperialismus steht dabei im Fokus der USA. Seine Stärke liegt im Export. Er braucht wirtschaftliche Beziehungen mit Russland zur Energieversorgung und zum Export von Autos, Maschinen und Anlagen sowie China für Handel mit allem und jedem. Andere Teile der EU gehen in eine ähnliche Richtung. Für die USA verfolgen die Konflikte mit Russland und China immer auch den Zweck, den deutschen und EU-Imperialismus zu schwächen, wirtschaftlich wie politisch.

Kriegspropaganda entlarven

Als SozialistInnen ist es unsere Aufgabe, der Kriegspropaganda der eigenen herrschenden Klasse entgegenzutreten und ihre Lügen zu entlarven. Wenn es sich dabei um eine imperialistische Macht handel wie die BRD, erst recht. Wir wissen auch, dass gerade, wenn es um die innere und äußere Sicherheit, um die Absicherung der Diktatur der Bourgeoisie und ihrer Position in der globalen Konkurrenz geht, die Bereitschaft zur Lüge sehr hoch ist. Gerade weil die Kriegstreiberei der NATO die Kriegsgefahr erhöht, ist Wachsamkeit vonnöten: Die harmlosen Gesichter eines Maas oder bald einer Baerbock dürfen uns nicht täuschen.

Aber die Lügen unserer ImperialistInnen machen die der anderen nicht besser. Auch die Außenpolitik des russischen Imperialismus geht über Leichen. Hunderttausende fanden den Tod in Syrien und ihre Hoffnungen wurden begraben, als sich die russische Hilfe als der entscheidende Faktor erwies, den Schlächter Assad an der Macht zu halten.

In Osteuropa, genauer in der Ukraine, hat der russische Imperialismus quasi „die richtige Seite“ unterstützt. Gegen den Putsch der rechten NationalistInnen und FaschistInnen, der 2014 von den USA mit über 5 Milliarden US-Dollar finanziert worden war, unterstützte Russland diejenigen, die sich dagegen zur Wehr setzten und eine Volksbewegung im Ostteil des Landes bildeten. Es nutzte dies, um sich die Krim einzuverleiben, nachdem die dortige Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit einen Anschluss gefordert hatte. Putin versorgt die Republiken im Osten so weit, dass sie überleben können. Ein Ende dieser Unterstützung würde Pogrome zur Folge haben, weit schlimmer noch als das Massaker an den VerteidigerInnen des Odessaer Gewerkschaftshauses. Zugleich hat der russische Einfluss alle linken und emanzipatorischen Projekte im Donbass beendet. Es muss heute davon ausgegangen werden, dass der Tod von mindestens 3 linkspopulistischen Führern auf russisches Betreiben geschah.

RevolutionärInnen dürfen nicht den Fehler vieler Linker (meist stalinistischer Herkunft) begehen, zwischen guten und schlechten ImperialistInnen zu unterscheiden oder gar zu leugnen, dass Russland (oder China) imperialistische Länder sind. Es gilt, die Konflikte zu nutzen, um sie jeweils vor ihrer eigenen Bevölkerung entlarven.

Gerade weil wir die Verlogenheit der „demokratischen“ ImperialistInnen bekämpfen, können wir am besten die GewerkschafterInnen und DemokratInnen in Belarus oder der Russischen Föderation in ihrem Kampf gegen Putin oder Lukaschenko unterstützen und sie vor den Illusionen in die „westliche“ Propaganda bewahren.

Antikriegsbewegung!

Das Treffen der NATO in Riga verkörpert einen Schuss gegen Russland und eine weitere Eskalation in einem neuen Kalten Krieg. Die USA und ihre engeren Verbündeten in der NATO drängen auf massive Aufrüstung, verstärkte Grenztruppen. US-Verteidigungsminister Lloyd J. Austin III. erklärt sich öffentlich für einen NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens. Auch wenn das noch dauern mag, so wird die Ukraine schon jetzt aufgerüstet – mit fleißiger Unterstützung der alten wie der neuen Bundesregierung. Ebenso drohen USA und NATO mit weiteren, härteren Wirtschaftssanktionen gegenüber Moskau.

Dieser Kriegstreiberei der NATO und der Aufrüstung in der BRD müssen wir entschlossen entgegentreten. Nein zu allen Sanktionen, die selbst nur ein „ziviles“ Mittel im Kampf um die Neuaufteilung der Welt darstellen! Nein zu allen Auslandseinsätzen! Sofortiger Abzug aller Truppen im Ausland! Nein zur NATO-Mitgliedschaft, nein zur Aufrüstung der Bundeswehr! Keinen Cent, keine Person für diese Armee!




Mitgliederentscheid Berliner Linkspartei: Nein zu Rot-Grün-Rot!

Martin Suchanek, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Bis zum 17. Dezember sollen die Mitglieder der Berliner Linkspartei in einer Urabstimmung entscheiden, ob ihre Koalition mit SPD und Grünen fortgesetzt werden soll oder nicht.

Für alle, die den Koalitionsvertrag einigermaßen nüchtern lesen, ist die Sache klar. Das Papier trägt die Handschrift des rechten Flügels der SPD, garniert mit allerlei bürgerlich-grünen Elementen. Giffey und Jarasch, SPD und Grüne, stehen politisch eng zusammen. Die Linkspartei sorgt für etwas Sozialschaum, Bewegungsberuhigung und eine Flankendeckung nach links, mit denen die FDP natürlich nicht dienen kann. Außerdem stellt die DIE LINKE allein schon durch das Mitmachen die linken Flügel von SPD und Grünen ruhig. Dafür werden diesmal giftige Kröten geschluckt, die selbst für sie, über Jahre im parlamentarischen Opportunismus erprobt, schwer verdaulich werden dürften.

Die Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne soll trotz klarer Mehrheit in eine sog. „Expertenkommission“ politisch entsorgt, der Wille von einer Million WählerInnen ignoriert werden. Das Bauressort geht, durchaus folgerichtig, an die SPD. Die Räumung besetzter Häuser wird ebenso fortgesetzt wie die von MieterInnen, die ihre Mieten nicht mehr zahlen können.

Auch wenn viel von einem Rückkauf der S-Bahn durch die Stadt erzählt wird, bleibt es weiter bei Ausschreibungen an private AnbieterInnen. Dass die rassistische Abschiebepraxis und „racial profiling“ nicht nur in sog. Problemgebieten weiter fortgesetzt werden, dafür steht nicht nur SPD-Innensenator Geisel. Die Befugnisse der Polizei werden ausgeweitet, ihre Kräfte aufgestockt und aufgerüstet.

Die Beschäftigten in den Krankenhäuser, in den Bezirken und bei den Ländern können weiter auf die Erfüllung sozialer Versprechungen warten. Im Bildungsbereich soll das reaktionäre Berufsbeamtentum wieder gestärkt werden.

Man muss schon zu den SchönrednerInnen aus der Spitze der Berliner Linkspartei gehören, um bei so viel Schatten auch noch Licht ausmachen zu können und unverdrossen an der Koalition festzuhalten.

Opposition

Doch erstmals seit die PDS und später die Linkspartei in Regierungen mit SPD bzw. SPD und Grünen eintraten, hat sich eine größere innerparteiliche Opposition gebildet, die sich gegen die weitere Regierungsbeteiligung wendet. So erzwang eine Gruppe von 47 Delegierten die Einberufung eines Landesparteitages zur Diskussion des Koalitionsvertrags für den 4. Dezember, ein erstes öffentliches Kräftemessen zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen der Fortsetzung des alten Senats als Rot-Grün-Rot (unter geänderten Kräfteverhältnissen).

Die GegnerInnen der Parteispitze reichen von grundsätzlichen KritikerInnen einer solchen Regierung bis hin zu deren ehemaligen UnterstützerInnen, für die jedoch eine Fortsetzung der Senatsbeteiligung auf Basis des Koalitionsvertrags einem politischen Selbstmord gleichkommt (und die damit einen gewissen Realismus an den Tag legen).

Erstere Parteilinkeströmung ist vor allem in der Plattform Zusammen für eine linke Opposition vertreten, die sich vor allem auf die linken Bezirksverbände Neukölln und Mitte stützt. Etliche ihrer bekannteren AnhängerInnen sind bei marx21 sowie AKL, SoL und SAV organisiert. Darüber hinaus unterstützen Linksjugend [’solid] und SDS Berlin die Plattform.

Ehemalige SenatsbefürworterInnen sind um linke Abgeordnete wie Katalin Gennburg gruppiert. Gennburg und andere Delegierte repräsentieren eine breitere Schicht von Mitgliedern und FunktionärInnen der Linkspartei, die zwar die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen nicht grundsätzlich ablehnen, den bestehenden Koalitionsvertrag aber schlichtweg für eine politische Zumutung und einen Ausverkauf aller linksreformistischen Versprechungen der Partei halten.

Insgesamt umfassen die beiden Strömungen rund ein Drittel der Delegierten zum Berliner Parteitag. Dass sich diese offene, bis hinein in Teile des Funktionärskörpers reichende Opposition bildet, hat wohl mehrere, miteinander verbundene Gründe:

a) Die desaströse Wahlniederlage der Linkspartei bei den Bundestags- und die Verluste bei den Berliner Wahlen. Diese haben den bestehenden Apparat geschwächt und damit auch den Kredit des Berliner Parteivorstandes und seiner KoalitionsmacherInnen.

b) Der Druck, den Bewegungen wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die Krankenhausbewegung und antirassistische Mobilisierungen auf die Partei ausüben.

Gerade weil die Berliner Linkspartei mit diesen zumindest teilweise verbunden ist, zeichnet sich deutlich ab, dass sie mit ihnen in Konflikt geraten wird, sollte sie die Beschlüsse des Senats umzusetzen müssen.

c) Die Wahlniederlage hat auch das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Strömungen durcheinandergebracht, die sich seit dem 26. September faktisch paralysieren.

Das Wagenknecht-Lager bewegt sich weiter nach rechts und arbeitet an seiner Selbstentsorgung, die RegierungssozialistInnen verfügen außer über die Zusammenarbeit mit SPD und Grünen über kein Konzept. Eine starke Opposition gegen eine neuerliche Senatsbeteiligung und erst recht die Verhinderung der Koalition würden ebenso wie die Wahl von Jules El-Khatib zum neuen Landessprecher in Nordrhein-Westfalen die Bewegungslinke stärken.

Berliner Landesparteitag und die Taktik der Spitze

Der Landesparteitag vom 4. Dezember stellte ein erstes Kräftemessen zwischen der Berliner Parteiführung und der Opposition dar. Vorweg: Wer die rund sechsstündige Übertrag miterlebte, konnte unschwer feststellen, dass zwischen den beiden Flügeln keine wirkliche Waffengleichheit besteht. Wie in reformistischen Parteien üblich, führte die Parteispitze auch gleich Parteitagsregie.

Das erste Drittel der Versammlung wurde von SprecherInnen der Führung, SenatorInnen, VerhandlerInnen und VertreterInnen der Bundespartei bestimmt, die sich fast ausschließlich für eine Fortsetzung der Koalition aussprachen.

Katina Schubert und Klaus Lederer präsentierten mit ihren Reden gewissermaßen das Skript für alle anderen UnterstützerInnen einer Koalitionsregierung.

Es gebe viel Schatten, vor allem den bitteren Verlust des Stadtentwicklungs- und Wohnungsressorts, aber eben auch viel Licht, das nicht übersehen werden dürfe. Außerdem existiere auch viel Gestaltungsspielraum in den Ressorts der Linkspartei.

Vor allem aber: Opposition führe zu Isolation und nicht zur Verankerung in außerparlamentarischer Opposition, die dann ja keine Ansprechpartnerin in der Regierung mehr hätte und für die es dann noch schlimmer käme. Die Partei dürfe nicht an Befindlichkeiten hängen und in die „Wohlfühlzone“ Opposition zurückziehen, sondern müsse für die Menschen da sein. Elke Breitenbach, die scheidende Sozialsenatorin, bemühte gar Bertolt Brecht. Wer im Senat kämpfe, könne verlieren, wer nicht kämpfe, also in die Opposition gehe, habe schon verloren. Wo DIE LINKE eigentlich in Jahren ihrer Regierungsbeteiligung wirklich gesiegt hat, verschwieg Breitenbach geflissentlich.

Schließlich wurde von der Parteispitze auch noch die FDP als mögliche alternative Regierungspartnerin von SPD und Grünen ins Spiel gebracht. Wer die Koalition ablehne, würde objektiv nur Giffey helfen, doch noch die Ampel durchzusetzen. Da macht die Linkspartei die Ampelpolitik, natürlich mit einigen nebensächlichen Verbesserungen, gleich selbst und verhindert so die FDP.

Auch während der weiteren Stunden sprach sich eine Mehrheit der Delegierten für die Fortsetzung der Koalition aus. Zusätzlich gestützt wurde dies durch etliche, wenn nicht alle VertreterInnen von Gewerkschaften, Bündnissen wie DWe und der sog. Stadtgesellschaft. Die meisten waren für eine rot-grün-rote Koalition trotz ihrer Schattenseiten. Einige warnten jedoch auch recht deutlich davor. So enthielt sich Rouzbeh Taheri von DWe zwar einer direkten Empfehlung zum Nein, stellte aber die Frage in den Raum, wie die Linksparteispitze eigentlich auf die Idee komme, dass sie politisch geschwächt all das im Senat durchsetzen könne, was ihr vier Jahre nicht gelang.

Interessant war auch, dass sich Tom Erdmann von der GEW trotz Vorbehalten für einen rot-grün-roten Senat aussprach, weil sonst die FDP drohe. Die ver.di-Vertreterin Jana Seppelt erklärte hingegen, dass die Aktiven der Krankenhausbewegung enttäuscht und sauer auf die Koalitionsregierung seien und ihr Fachbereich keine eindeutige Position zu deren Fortsetzung einnähme.

GegnerInnen

Die GegnerInnen der Koalition waren unter den SprecherInnen eindeutig in der Minderheit, was aber auch der Parteitagsregie selbst geschuldet war. Dies machte Lucia Schnell in ihren Beiträgen und einem Geschäftsordnungsantrag deutlich, als sie aufzeigte, dass sich unter den RednerInnen relativ wenige Personen befanden, die „nur“ Delegierte zum Landespartei waren und keine BerichterstatterInnen von Verhandlungsgruppen, SenatorInnen oder Gäste.

GegnerInnen der Weiterführung der Koalition wie Katalin Gennburg verwiesen darauf, dass das Gerade von Licht und Schatten banal sei und von der eigentlichen Frage nur ablenke, nämlich war am Schalter einer rot-grün-roten-Regierung säße – und das wären alle anderen, nur nicht die Linkspartei.

Ferat Koçak, einer der bekanntesten GegnerInnen der Fortsetzung der Koalition, kritisierte, dass die Linkspartei nicht nur ein paar Kröten, sondern einen Elefanten schlucken müsse, wenn sie in die neoliberale Regierung mit „racial profiling“, Abschiebungen und Wohnungsräumungen eintrete. Er machte auch deutlich, dass er in jedem Fall bei der Wahl des neuen Senats im Abgeordnetenhaus mit Nein stimmen werde.

Keine Abstimmung

All das wird die Spitze der Linkspartei, deren Opportunismus nur durch schier endlosen Selbstbetrug übertroffen wird, nicht weiter jucken. Sie wird vielmehr alle Mittel, die dem Apparat zur Verfügung stehen, dafür einsetzen, dass bei der Urabstimmung ein Ja rauskommt. Dies hätte für die Parteiführung den zusätzlichen Wert, die politische Verantwortung für die Senatsbeteiligung im Krisenfall der Basis zuzuschieben, die ihr ja in dieser Form von plebiszitärer Demokratie den „Auftrag“ erteilt hätte.

Auf welche Kniffe die Parteiführung dabei zurückgreift, zeigt schon der Parteitag. Nach sechs Stunden Debatte stand ein Antrag von Katalin Gennburg und anderen Delegierten zur Abstimmung, der folgende Empfehlung enthielt: „Der Landesparteitag von DIE LINKE Berlin empfiehlt den Mitgliedern des Landesverbands, beim Mitgliederentscheid den Koalitionsvertrag abzulehnen und entsprechend mit ‚Nein’ zu stimmen.“

Zur Abstimmung gelangte dieser jedoch nicht. Die Parteivorsitzende brachte einen Antrag auf Nichtbefassung ein, der mit 82 Für- bei 57 Gegenstimmen und drei Enthaltungen angenommen wurde.

Schubert begründete ihren Antrag auf Nichtbefassung damit, dass die Mitglieder das Recht haben müssten, eigenständig zu entscheiden. Eine Empfehlung würde den Mitgliederentscheid konterkarieren. Klingt demokratisch, ist es aber nicht. Schließlich gibt es eine faktische Empfehlung, für eine Fortsetzung der Koalition zu stimmen – durch das Verhandlungsteam und die Parteiführung. Dass der Parteitag über eine Empfehlung erst gar nicht abstimmen durfte, heißt nur, dass er kein Votum darüber abzugeben ermächtigt wurde, ob er die Position der Spitze und der Verhandlungsführung annimmt.

Nein zu Rot-Grün-Rot!

Die Bedeutung der Urabstimmung der Berliner Linkspartei sollte in den kommenden Wochen nicht unterschätzt werden. Schließlich bildet ihr Ausgang, selbst wenn sich die Parteiführung durchsetzen sollte, einen Gradmesser für das Kräfteverhältnis. Nicht minder wichtig ist jedoch, wie die Opposition oder, genauer, die verschiedenen Oppositionskräfte handeln werden, um sich als organisierte politische Kraft in der Linkspartei zu formieren. Gelingt ihnen das nicht, stellt die ganze Ablehnung der Giffey-Regierung wenig mehr als Schall und Rauch –  einen Theaterdonner, ein reformistisches Trauerspiel dar. Entscheidend ist daher, mit welcher Perspektive, mit welchen Initiativen sich eine solche Opposition nicht nur innerparteilich, sondern auch in den Mobilisierungen gegen den nächsten Senat formiert. Dazu braucht die Opposition in der Linkspartei freilich mehr als warme Worte für Initiativen wie DWe, die Krankenhausbewegung oder antirassistische Mobilisierungen. Sie muss gemeinsam mit anderen eine Aktionskonferenz organisieren zum Kampf für die Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne, gegen den Pflegenotstand, Abschiebungen und „racial profiling“, die Pseudoumweltpolitik des Senats, für die Rekommunalisierung der S-Bahn und im Widerstand gegen die anderen rot-grün-roten Schweinereien.




Ver.di: Die nächste Tarifrunde in den Sand gesetzt

Helga Müller/Mattis Molde, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nachdem die öffentlichen Arbeit„geber“Innen auch bei der zweiten Verhandlung Anfang November 2021 kein Angebot gemacht hatten und der niedersächsische Verhandlungsleiter noch davon redete, dass die Forderungen von ver.di nicht umsetzbar seien aufgrund der hohen Verschuldung durch die Ausgaben gegen die Corona-Krise, kam es nun nach zähen Verhandlungen am 27. und 28. November zu einem Ergebnis.

In der Vorwoche mobilisierten sich noch Zehntausende von KollegInnen in mehrtägigen Warnstreiks, kämpferischen Demonstrationen und Kundgebungen. Vor allem die Beschäftigten aus den Unikliniken machten sich Luft über die arrogante Haltung des Verhandlungsführers der Länder, der den mittlerweile Jahrzehnte andauernden Pflegenotstand einfach negierte und von einem vorübergehenden „Engpass“ bei den Pflegekräften sprach, der auf die stark ansteigende vierte Coronawelle zurückzuführen sei.

Ob das Ergebnis tatsächlich den öffentlichen Dienst nun für junge Menschen attraktiver macht  – insbesondere für den Gesundheitsbereich –, vor allem aber die Inflationsrate ausgleicht und somit verhindert, dass die Krise auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird, darf bezweifelt werden. Ver.di-Vorsitzender und -Verhandlungsführer Frank Werneke hatte ja noch vor den Verhandlungen davon gesprochen, dass eine Erhöhung der Gehälter der Pflegekräfte um mindestens 300 Euro bei einer Laufzeit von einem Jahr eine von anderen Punkten sei, um den Beruf wieder attraktiver zu gestalten – auch für KollegInnen, die aufgrund der Überlastung in Teilzeit gingen oder den Beruf ganz verlassen haben.

Das Ergebnis in Zahlen

  • Ab 1. Dezember 2022 Erhöhung der Gehälter (tabellenwirksam) um 2,8 Prozent.
  • Die Beschäftigten im Gesundheitsbereich bekommen ab 1. Januar 2022 mehr Geld durch Erhöhungen der Zulagen: Beispielsweise wird an den Unikliniken die Intensiv- und Infektionszulage von 90 auf 150 Euro erhöht und steigt damit um bis zu 67 Prozent. Das Tarifergebnis bringt etwa für eine Intensivpflegekraft eine durchschnittliche monatliche Einkommenssteigerung von 230 Euro,
  • für PhysiotherapeutInnen von durchschnittlich mehr als 180 Euro,
  • für Beschäftigte in Laborberufen ebenfalls von mehr als 220 Euro (Angaben nach ver.di).
  • Auch der Geltungsbereich der allgemeinen Pflegezulage wurde erweitert: Unter anderem erhalten  LogopädInnen, DiätassistentInnen oder medizinische Fachangestellte die Hälfte der Zulage, also 70 Euro pro Monat.
  • Anfang nächsten Jahres Auszahlung einer steuerfreien Einmalzahlung von 1300 Euro – also nicht tabellenwirksam.
  • Auszubildende, PraktikantInnen und Studierende erhalten zur gleichen Zeit 650 Euro steuerfrei.
  • Die Entgelte von Auszubildenden, PraktikantInnen und Studierenden werden ab Dezember 2022 um 50 Euro und im Gesundheitswesen um 70 Euro angehoben.
  • Die Übernahmeregelung für Auszubildende wird wieder in Kraft gesetzt.
  • Der Tarifabschluss hat eine Laufzeit von 24 Monaten (sie endet am 30.09.2023).

Kritik und Schönfärberei

Werneke selbst bezeichnete die Entgeltsteigerung von 2,8 Prozent als „absolut nicht befriedigend“. Gleichzeitig wurde dies in der ersten Stellungnahme von ver.di wieder relativiert: „Mit der steuerfreien Einmalzahlung von 1.300 Euro, der bereits für April 2021 vereinbarten Lohnerhöhung von 1,4 Prozent und den weiteren 2,8 Prozent ab 1. Dezember 2022 wird die Inflation in 2021 und 2022 ausgeglichen werden. Das statistische Bundesamt prognostiziert sie derzeit auf 2,5 Prozent.“

Diese Aussage sorgte für großen Ärger unter den aktiven Mitgliedern. Denn hier wurde mal wieder getrickst und gelogen.

1. Bezüglich der Inflationsrate lauten die Prognosen des Bundesamtes für Statistik: 3 % für dieses und 2,5 % für nächstes Jahr – tatsächlich kann sie natürlich ganz aus dem Ruder laufen. Denn dieses Jahr beträgt sie nur deshalb 3 %, weil sie in der ersten Jahreshälfte niedriger ausfiel, in der zweiten sich aber der 5 % annäherte.

2. Im April 2021 wurden nicht die Bezüge der Länderbeschäftigten um 1,4 % erhöht, sondern derer im TVöD (Bund und Kommunen). Der TVöD-L sah eine Erhöhung um 1,29 % ab 1.1.21 vor.

Insgesamt bringt dieser Abschluss nicht einmal einen Inflationsausgleich, sondern schreibt eine Reallohnsenkung fest.

Die Gehaltstabelle des TVöD-L lief am 30. 9. 21 aus. Die neue läuft 24 Monate bis zum 30.9.2023. In dieser Zeit gibt es eine einzige tabellenwirksame Erhöhung, nämlich 2,8 %, und diese erst gegen Ende der Laufzeit ab 1.12.2022. Das heißt: Fast 2 Jahre (23 Monate) bleibt das tabellenwirksame Gehaltsniveau bei +1,29 %, während das Preisniveau im selben Zeitraum (nach äußerst moderaten Prognosen) um mindestens 5,5 % steigt.

Nun kommt noch die Einmalzahlung von 1300 Euro hinzu. Bezogen auf den gleichen Zeitraum von 23 Monaten ergibt diese rund 57 Euro im Monat.

Für Eingangsstufe EG1 machen diese 57 Euro nur plus 2,45 % aus. Mit den 1,29 % vom Anfang dieses Jahres wären dies 3,74 %, also mitnichten ein Inflationsausgleich. In den Einkommensgruppen um die 4 500 Euro brutto, in denen z. B. die meisten Lehrkräfte eingruppiert sein dürften, machen die 57 Euro gerade 1,26 % mehr aus.

Also: Selbst in der untersten Eingruppierungsstufe ergeben Einmalzahlung und prozentuale Erhöhung zusammen für die Jahre 2021 und 2022 keinen Inflationsausgleich, erst recht nicht in den Einkommensgruppen, die für die meisten Beschäftigten gelten.

Angriff abgewehrt?

Zwar konnte tatsächlich der zentrale Angriff der öffentlichen Arbeit„geber“Innen der Länder auf  die Eingruppierungsregeln, den so genannten Arbeitsvorgang, zurückgeschlagen werden – dank der Mobilisierung der KollegInnen. Aber nachdem solche „abgewehrten Angriffe“ in den letzten Jahren regelmäßig bei Tarifrunden auftauchen – ob Metall, Handel oder öffentlicher Dienst – drängt sich die Frage auf, ob diese nicht inzwischen Teil des Tarifrituals geworden sind. So können die miesen Abschlüsse immer noch unter dem Motto „Wir haben Schlimmeres verhindert“ verkauft werden.

Pflege

Wie in der Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Gemeinden und des Bundes sind auch hier die Pflegekräfte besser bezahlt worden: Auch wenn „das Ergebnis ein weiterer Zwischenschritt auf unserem Weg zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen [ist]. Das werden wir in zukünftigen Tarifrunden fortsetzen“, wie Werneke in der ver.di-Stellungnahme betonte, so ist das in der Realität auch ein weiterer Schritt der Ausdifferenzierung der Gehälter und letzten Endes der Spaltung innerhalb der Belegschaft im öffentlichen Dienst. Es ist unbestritten, dass die Pflegekräfte seit Jahren schlecht bezahlt werden und dies mit einen Grund dafür darstellt, dass viele den Job verlassen und von daher eine entsprechende Gehaltserhöhung seit Jahren ansteht, so darf es eine weitere Ausdifferenzierung nicht geben. Gerade für die Tarifauseinandersetzung bei den Ländern, wo die Kampfbereitschaft nicht sehr hoch ist – wie die Gegenseite sehr wohl weiß –, birgt das die Gefahr, dass die Kampfkraft noch mehr unterhöhlt wird. Zudem liefert die Gehaltsfrage nur einen Grund für die Flucht aus dem Pflegeberuf. Wichtiger sind tatsächlich die Arbeitsbedingungen, was die Forderung nach mehr Personal entsprechend dem Bedarf und einer massiven Arbeitszeitverkürzung einschließt. Auch wenn Werneke von weiteren Verbesserungen für die Pflegekräfte redet, bleibt die Frage offen, ob es zu einer gemeinsamen Entlastungskampagne aller Unikliniken bundesweit für mehr Personal und einen Tarifvertrag Entlastung kommen wird – wie ver.di es noch vor der Tarifrunde in Aussicht gestellt hatte. In einigen Bundesländern scheint es diesbezüglich Vorbereitungen zu geben, aber ob eine einheitliche bundesweite Auseinandersetzung vom Zaun gebrochen wird – was dringend notwendig wäre, um die Kampfkraft zu erhöhen und auch die Möglichkeit zu eröffnen, dass auch Soliaktionen der arbeitenden Bevölkerung zustande kommen –, ist doch eher unwahrscheinlich.

Bilanz

Statt durch diese Regelung, die für die Masse Reallohnverlust bedeutet und gleichzeitig bestimmte Gruppen besserstellt, die Einheit der Beschäftigten zu untergraben, hätte ver.di die Kampfkraft im Gesundheitswesen und auch bei einer anderen „systemrelevanten“ Gruppe, den angestellten LehrerInnen, nutzen können, um deutlich mehr herauszuholen. Die durch den TVöDL bezahlten Beschäftigten sind nicht besonders kampfstark. Obwohl 1,1 Millionen diesem Tarifvertrag unterliegen, sind viele davon kaum gewerkschaftlich organisiert und auch nicht die kämpferischsten. Die Mobilisierungen in dieser Tarifrunde, bei denen sich die Beschäftigten der Unikliniken und der angestellten LehrerInnen hervorgetan haben, fielen aber durchaus besser aus als zu früheren Zeiten. Es hätte ein Aufbruch auch für diese Sektoren werden können. Das miese Ergebnis und die Spaltung im Abschluss verhindern auch dies.

Betriebsgruppen, Gremien auf allen Ebenen sollten mit Resolutionen das Ergebnis und die Schönrederei kritisieren. Da es keinen Streik gab, gibt es auch keine Urabstimmung und es wird schwer sein, eine solche durchzusetzen. Wohl aber sollten auf allen Ebenen Voten verlangt werden.

Die Aufforderung an die Tarifkommission, das Ergebnis nicht anzunehmen, ist dabei eher symbolisch und nur sinnvoll in Verbindung mit Schritten, die das entsprechende Gremium auch machen kann. Sie sollten eine solche Ablehnung mit der Frage verbunden werden, wie die Krise und die Pandemie bekämpft werden können.

Nach den Niederlagen bei der Tarifrunde TVöD vor gut einem Jahr und bei der Metall- und Elektroindustrie, bei Stahl und Handel und den vielen kleineren Runden, ist klar, dass die Gewerkschaftsbürokratie ihren Teil dazu beiträgt, dass die ArbeiterInnenklasse für Krise und Pandemie zahlen soll. Ganz im Einklang mit der Politik der alten und neuen Regierung, die auf Steuererhöhungen für die Reichen verzichten und die Umverteilung von unten nach oben fortsetzen will, werden die Arbeitenden zur Kasse gebeten.

Die Kampfkraft in Tarifkämpfen wird verschenkt, wenn es nicht gelingt, in den Gewerkschaften oppositionelle Gruppen und Strömungen aufzubauen, die gegen die Politik der Bürokratie vorgehen, für die Weltmarktstellung der deutschen Konzerne und die politischen Ambitionen des deutschen Imperialismus wichtiger sind als die Lage der arbeitenden Klasse. Sie wird verschenkt, wenn die Zehntausenden, die sich in den Tarifrunden engagieren, nicht verstehen, dass der Kampf auch politisch geführt werden muss, eine umfassende Bewegung gegen die Abwälzung der Krise ansteht. Uns zwar ab jetzt.




Indien: Sieg der Bäuerinnen und Bauern gegen Modi-Regierung

Javiad Imran, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nach einem Jahr mutigen Kampfes haben die indischen Bauern und Bäuerinnen Indiens „starken Mann“ Narendra Modi gedemütigt. Modi musste der Nation verkünden, dass er beabsichtigt, die neoliberalen Agrargesetze aufzuheben.

Hunderttausende haben gestreikt und Blockaden errichtet, um die Regierung und die großen AgrarkapitalistInnen, denen sie dient, zum Rückzug zu zwingen, und haben ihre Aktionen trotz des schlechten Wetters und der Verwüstungen durch Covid-19 fortgesetzt. Selbst unter diesen Umständen wurden sie von der Polizei der Regierung weiterhin brutal gefoltert und verhaftet. Mehr als 700 Bauern und Bäuerinnen erlitten ihr Martyrium.

Trotz aller Repressionen und Gewalt ist es der Modi-Regierung nicht nur nicht gelungen, die Aktionen der Kleinbauern und -bäuerinnen zu stoppen, sondern auch ihre Politik des „Teile und Herrsche“ ist gescheitert. Außerdem scheiterte auch das Vorhaben der Regierung, die Führung der Bauern und Bäuerinnen durch eine Reihe von Verhandlungen zu spalten, die sich letztlich als erfolglos erwiesen. Auch Modis verlogene Propaganda, die das Gesetz als Fortschritt für die wirtschaftliche Entwicklung und eine gerechtere Gesellschaft darstellte, misslang.

Gemeinsamer Kampf

Stattdessen hat die bäuerliche Bewegung, unterstützt von den LandarbeiterInnen, gezeigt, dass ein gemeinsamer Kampf siegen kann. Sie wurde von Gewerkschaften, StudentInnen- und Frauenorganisationen aus dem ganzen Land mitgetragen. Viele Proteste wurden in Solidarität mit dem Sit-in der Bauern und Bäuerinnen abgehalten, an denen sich ArbeiterInnen, StudentInnen und Frauen beteiligten. Unter diesen Umständen geriet die Bauern- und Bäuerinnenbewegung zu einem Leuchtturm der Hoffnung nicht nur für die Bauern und Bäuerinnen in ganz Indien, sondern auch für die Muslima/e, die von den hinduchauvinistischen Regierungen der Bundesstaaten und von Delhi verfolgt wurden.

Am 22. Januar, dem indischen Tag der Republik, marschierten Millionen von Bauern und Bäuerinnen durch Delhi und besetzten das historische Rote Fort aus der Zeit der Mogulreiche. Danach breitete sich die bäuerliche Bewegung auf Uttar Pradesh und andere Teile des Landes aus. Versuche, sie zu zerschlagen, scheiterten. Daraufhin gingen auch in anderen Bundesstaaten zahlreiche Bauern und Bäuerinnen auf die Straße, und auch StudentInnen und ArbeiterInnen schlossen sich an und bekundeten ihre Solidarität mit diesem Kampf.

In seiner Ansprache an die Nation am Freitag, den 19. November, kündigte Modi an: „Heute bin ich gekommen, um Ihnen, dem ganzen Land, mitzuteilen, dass wir beschlossen haben, alle drei Landwirtschaftsgesetze zurückzuziehen. In der Ende des Monats beginnenden Parlamentssitzung werden wir den verfassungsrechtlichen Prozess zur Aufhebung dieser drei Landwirtschaftsgesetze abschließen.“

Zu den umstrittenen Gesetzen gehörte die Abschaffung des Mindestpreises zur Stützung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Dem Gesetz zufolge sollten Verkauf und Preisgestaltung vom Markt bestimmt werden, so dass größere privatkapitalistische Agrarbetriebe und der Unternehmenssektor die Preise festlegen konnten. Die kleinen und mittleren LandwirtInnen waren sich darüber im Klaren, dass dies zu einem regelrechten wirtschaftlichen Massaker führen würde, mit Hortungen und anderen Taktiken der Modi-BefürworterInnen unter den Geschäftsleuten. In ähnlicher Weise forderten die LandwirtInnen die Rücknahme des Gesetzes, das die kostenlose Stromversorgung für Kleinbauern und -bäuerinnen beendete. Außerdem wollen sie, dass für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse faire Preise gesetzlich garantiert werden sollten. Solange diese Forderungen nicht erfüllt seien, würden sie ihren Sitzstreik fortsetzen. Dies zeigt das Bewusstsein der bäuerlichen Bewegung, das sie im Laufe des Kampfes gewonnen hat.

Obwohl die gegen die Bauern und Bäuerinnen gerichteten Gesetze angeblich im Namen der Abschaffung feudaler Verhältnisse auf dem Lande eingeführt wurden, haben sie in Wirklichkeit die Rolle der ZwischenhändlerInnen gestärkt, indem sie den Handel zwischen den Bundesstaaten zuließen und die Vorratshaltung lockerten. MilliardärInnen wie Mukesh Ambani und Gautam Adani, die laut Bloomberg-Index zu den reichsten Männern Asiens gehören, unterstützten Modis „Reformen“ eifrig, da sie eine erhebliche Steigerung der Gewinne aus der Landwirtschaft bedeuteten. Infolge dieser „Reformen“ sind die Lebensmittelpreise in die Höhe geschossen und die Lebenshaltungskosten für die ArbeiterInnen gestiegen. Die Lage der Armen in den Städten und auf dem Lande, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, wurde noch verschlimmert.

Wie weiter?

Die Ankündigung der Aufhebung war natürlich ein Grund zum Feiern, wurde aber auch mit Vorsicht genossen, da Modis Regierung die DemonstrantInnen oft betrogen hat, sobald sich ihre Mobilisierungen auflösten. Die Bauern und Bäuerinnen weigerten sich daher, Modis Aufforderung zur Beendigung der Blockaden nachzukommen. Sie erklärten, dass sie ihren Sitzstreik an der Stadtgrenze von Delhi fortsetzen würden, bis der Gesetzentwurf zur Aufhebung dieser Gesetze von der Lok Sabha (1. Kammer des indischen Parlaments) verabschiedet worden sei und andere Forderungen zur Sicherung der Einkommen der LandwirtInnen erfüllt worden seien.

Die Wahlen in Uttar Pradesh, Punjab (Pandschab) und anderen Bundesstaaten stellen den unmittelbaren Grund dafür dar, dass die Regierung Modi die Gesetze zurückgenommen hat. In diesen Bundesstaaten ist der Hass auf die Regierung Modi groß, weil die Änderungen schwerwiegende Auswirkungen auf die ArbeiterInnen und die Armen in Stadt und Land mit sich führen. Modi und seine Partei waren der Meinung, dass in dieser Atmosphäre des Zorns und Hasses große Wahlverluste zu erwarten wären.

Aus all dem wird deutlich, wie tief die bäuerliche Bewegung auch andere Schichten der Gesellschaft berührt hat. Dieser Sieg zeigt, dass weitere Kämpfe gegen die repressive Modi-Regierung möglich sind und gewonnen werden können.

Die Bauern und Bäuerinnen müssen nun gewarnt werden, dass die Modi-Regierung, selbst wenn sie diese Gesetze durch die Lok Sabha aufhebt, versuchen wird, sie in einem anderen Gewand wieder einzuführen, denn Indiens größter Gewinn für indische und ausländische MilliardärInnen ist die Landwirtschaft. Die Entwicklung der kapitalistischen Landwirtschaft und eines Teils der KapitalistInnen, die sich auf diesen Sektor stützen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Strategie zur Entwicklung des indischen Kapitalismus und seiner Rolle in der Welt.

Nicht nur Modi blickt auf die bevorstehenden Wahlen. Die Kongresspartei und die reformistischen kommunistischen Parteien wollen nun den Erfolg der LandwirtInnen nutzen, um Sitze zu gewinnen. Letztere glauben, dass Modis Bharatiya Janata Partei (BJP; Indische Volkspartei) durch ein Wahlbündnis mit der Kongress-Partei besiegt werden kann. Diese Strategie ist aus zwei Gründen falsch. Erstens würde ein Wahlbündnis mit der traditionellen Partei der indischen Bourgeoisie nur eine politische Unterordnung unter die alternative Partei der KapitalistInnen bedeuten. Zweitens müssen die Wahlen als ein Mittel zur unabhängigen Mobilisierung der ArbeiterInnen und LandwirtInnen, der Frauen, der Jugend, der MuslimInnen und aller national und sozial unterdrückten Sektoren gegen die Herrschaft der BJP gesehen werden.

Der erfolgreiche Kampf der Bauern und Bäuerinnen, angeführt vom Allindischen Kisan Sangharsh Koordinationskomitee (AIKSCC), hat deutlich gemacht, dass nur eine kämpferische antineoliberale Bewegung, die in den unterdrückten Teilen der Gesellschaft verwurzelt ist und mit den ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und Armen in den Städten und auf dem Land verbunden ist, Modis höchst reaktionäre Regierung besiegen kann.

Nach der Niederschlagung der Unruhen in Delhi und der Bewegung gegen das Nationale BürgerInnenregister (NRC) und das StaatsbürgerInnenschaftsänderungsgesetz (CAA) im Jahr 2019 sowie der Inhaftierung von Anti-Hindutva-AktivistInnen hat sich die Bewegung der BäuerInnen zu einer starken Alternative zur Modi-Regierung entwickelt. Ihr Sieg ist ein großer Schritt nach vorn, aber es ist notwendig, sich mit den ArbeiterInnen, MuslimInnen und der Dalit-Bewegung (Angehörige der untersten Kasten) zusammenzuschließen, die zusammen mit anderen Forderungen der Bauern und Bäuerinnen den Kampf gegen die Modi-Regierung in Bezug auf das CCA, das Arbeitsgesetz, Kaschmir und andere Themen fortsetzen und ein alternatives Programm zu ihr anbieten.

Der Kampf gegen die Regierung und ihre neoliberale Politik muss sich über die vom indischen Kapitalismus gesetzten Grenzen hinaus auf alle grundlegenden Verbesserungen bei Löhnen, Bildung und Gesundheitsdiensten ausweiten, ganz zu schweigen von den Rechten der Frauen und der national, religiös und rassistisch Unterdrückten. Es ist klar, dass Modis Regierung besiegt werden kann, aber dafür braucht die ArbeiterInnenklasse eine politische Partei mit einem Programm, das die heutigen Auseinandersetzungen in einen Kampf gegen den Kapitalismus verwandeln kann.




Mit der Impfpflicht gegen die vierte Welle?!

Christian Gebhardt, Infomail 1170, 24. November 2021

3G, 2G, 2G+, 1G. Was sich liest wie eine Reise in die Geschichte der mobilen Telekommunikation, ist der neuste Schrei in der Pandemiebekämpfung. In Deutschland sowie anderen europäischen Ländern nimmt die vierte Welle weiterhin Fahrt auf oder ist schon längst mit voller Wucht am Wüten. In der BRD steht das Gesundheitssystem im Osten und Süden des Landes kurz vor dem Kollaps und in restlichen Teilen steigen die Zahlen kontinuierlich an.

Wie schon im Winter 2020 bemühen sich die PolitikerInnen hervorzuheben, wie überrascht sie von der Situation sind und dass es doch niemand hätte besser wissen können. Wir müssen nun zusammenstehen. Mit Fingern aufeinander zeigen, würde nun niemanden weiterbringen. Also ganz gemäß dem Motto: „Same procedure as last year!”. Alles andere als Schaumschlägerei und Ausreden sind diese Aussagen jedoch nicht.

In Deutschland war es schon über Wochen klar, dass die Welle an Fahrt aufnehmen wird und die Aufhebungen von Maßnahmen wie z. B. der Maskenpflicht für SchülerInnen in Schulen nach den Herbstferien nur Öl ins Feuer schütten bedeuten konnten. Diesen Öffnungsschritten lagen einerseits der Bundestagswahlkampf, wirtschaftliches Interesse des Groß- und Kleinkapitals, aber auch die Angst vor einem erneuten Erstarken und Zuwachs der Querdenkerbewegung zugrunde.

Kurz gesagt: Politisches und wirtschaftliches Kalkül steht hier klar über notwendigen Maßnahmen für die Gesundheit der Bevölkerung und spielt schlussendlich den Rechten in die Hände.

Ein Déjà-vu-Erlebnis! Wir stehen vor den Scherbenhaufen einer Politik, die Profitinteressen über Gesundheit stellt, darauf spekulierte, dass die Impfung einer Mehrheit und die „schrittweise“ Durchseuchung einer Minderheit Ungeimpfter die Infektionsausbreitung unter der Schwelle des Kollapses des Gesundheitswesens halten würde. Nun breitet sich das Virus aus wie nie zuvor. In der letzten Woche infizierten sich täglich um 50 000 Menschen oder mehr, täglich sterben mehr als 200 in Deutschland.

Strategien der Pandemiebekämpfung

Seit Beginn der Pandemie können wir unterschiedliche Strategien ihrer Bekämpfung unterscheiden. Neben der hier in Deutschland angewandten des „Abflachens der Kurve“ stehen noch „Zero-Covid“ sowie „Durchseuchung“ im Fokus der Debatten.

Die Strategien der „Durchseuchung“ sowie des „Abflachens der Kurve“ erfolgen unter der grundsätzlichen Annahme, dass Coronainfektionen nicht verhindert werden können und wir damit umzugehen lernen, d. h. einen Maßnahmenkatalog finden müssen, der nur so viele Coronainfektionen zulässt, wie es das Gesundheitssystem aushält, ohne unnötig die Wirtschaft zu belasten. Alles, was darüber liegt – einschließlich Tausender Menschen, die nicht hätten sterben müssen –, ist in diesen Konzepten einkalkuliert.

Hierbei spielen auch die Schulen und Kitas eine wichtige Rolle. Schulschließungen betreffen schließlich nicht nur Lehrende, Kinder und Jugendliche, sondern haben auch einen gravierenden Einfluss auf die Verfügbarkeit der Arbeitskraft der Eltern im bisherigen Verlauf der Pandemie ausgeübt. Dies führt bei der derzeitigen Pandemiebekämpfung dazu, dass Schul- und Kitaschließungen von allen politischen Kräften im Bundestag abgelehnt werden. Dies wird gerne damit begründet, dass die psychische und physische Belastung durch langanhaltende Schulschließungen sowie das Auseinanderklaffen der sozialen Schere zugenommen haben.

Verschwiegen wird dabei aber, dass dies eine Änderung der Strategie mit Hinblick auf die Schulen bedeutet: diese nämlich zu durchseuchen. Die aktuellen Inzidenzzahlen sprechen hier auch eine eindeutige Sprache. Beobachtet man die Zahlen in den einzelnen Landkreisen nach Altersgruppen gestaffelt, fällt ohne weiteres sofort auf, dass die zwischen 5 – 14 Jahren die derzeit am stärksten von Infektionen heimgesuchte der Gesellschaft darstellt. Auch wenn dies weiterhin (noch) nicht zu einer Kulmination schwerer Krankheitsverläufe bei Menschen dieser Altersgruppe geführt hat, ist noch sehr wenig über die möglichen Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung und „Long Covid“ bekannt. SchülerInnen und Kitakinder werden somit bewusst einer Coronainfektion ausgesetzt, um die wirtschaftlichen Prozesse am Laufen zu halten. Dabei wird wissentlich in Kauf genommen, dass die Auswirkungen von „Long Covid“-Erkrankungen von derzeit jungen SchülerInnen und Kitakindern in 20 – 30 Jahren erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft mit sich bringen können. Aber das dahinterliegende Interesse ist schnell geklärt: Die KapitalistInnen haben derzeit mehr damit zu tun, um ihr wirtschaftliches Überleben im rauen internationalen Konkurrenzkampf zu behaupten, als Rücksicht auf die Gesundheit irgendwelcher potenzieller Angestellter in 20 – 30 Jahren zu nehmen.

Pandemisches vs. endemisches Virus?

Derzeit wird immer noch von einer „Pandemie“ gesprochen und die Hoffnung aufrechterhalten, dass es eine Zeit nach Corona geben wird bzw. ein Weg zu den „guten alten Zeiten“ gefunden werden kann. Dies ist aber nicht nur ein Wort, an das sich alle gewöhnt haben und das deshalb noch weite Verwendung findet. Der Fokus auf das Wort „Pandemie“ lenkt auch von der Frage ab, ob das Coronavirus überhaupt noch pandemisches Virus, oder nicht schon ein endemisch (einheimisch) gewordenes ist. Je nach Einschätzung in dieser Frage lassen sich auch unterschiedliche Maßnahmen und Umgangsformen mit dem Virus ableiten, wie z. B. mit dem Impfen. Ein pandemisches Virus kann durch eine breit aufgestellte Impfpflicht aus einer Gesellschaft gedrängt werden. Bei einem endemischen Virus ist dies nicht mehr möglich und eine immer wiederkehrende Impfung in regelmäßigen Abständen mit angepassten Impfstoffen wird notwendig. Ob wir uns in Bezug auf das Coronavirus schon in einer endemischen oder noch einer pandemischen Lage befinden, ist noch umstritten. Dass wir aber auf dem Weg dahin sind, ist jedoch sicher. Auch die WHO spricht jetzt schon davon, dass wir das Coronavirus nicht mehr loswerden, d. h. Es endemisch ist bzw. werden wird.

Solche endemischen, immer wiederkehrende Viren sind der Menschheit aber nicht fremd: z. B. das jährliche Grippevirus. Dieses verändert bzw. mutiert im Laufe eines Kalenderjahres bei seinem „Gang“ über den Globus so stark, dass es jährlich in einer neuen Form eine erneute Grippewelle auslösen kann. Es werden durch ganzjährige Beobachtungen die Veränderungen des Virus durch extra dafür eingerichtete Forschungszentren verfolgt, um dann den passenden Impfstoff für die kommende virulenten Mutanten herstellen zu können. Eine Klassifizierung des Coronavirus als endemisch würde eine solche ganzjährige Beobachtung sowie eine zeitlich abgestimmte Anpassung der benötigten Impfstoffvarianten sowie deren Produktion bedeuten. Ein solches System aufzubauen, benötigt vor allem Geld, wovor sich aber die EntscheidungsträgerInnen derzeit wegducken und das Thema zur Seite schieben, indem weiterhin von einer Pandemie gesprochen wird.

Impfpflicht? Schattenboxen oder ein möglicher Weg aus der Coronakrise?

Die obige Unterscheidung zwischen pandemischer und endemischer Lage hat auch mit einer derzeit stark geführten Debatte zu tun – der der Impfpflicht. Sie wird derzeit entweder in Form einer generellen Impfpflicht geführt oder in Verbindung mit bestimmten Berufsgruppen wie z. B. PflegerInnen, Kitaangestellten oder LehrerInnen. Stellt eine solche Diskussion jedoch ein Schattenboxen dar oder ist sie wirklich ein möglicher Weg aus der Coronakrise?

Österreich ging als erstes Land in der EU den Schritt und verkündete ab Februar 2022 eine allgemeine Impfpflicht. Die wurde gekoppelt mit der Verhängung eines Lockdowns für alle ab dem 22. November und keiner Differenzierung mehr zwischen Geimpften, Genesenen und Ungeimpften vor dem 12. Dezember 2021. Aber wer eine Impfpflicht ausspricht, muss diese auch durchsetzen können. Hier muss dann die Frage gestellt werden, ob ein solcher Beschluss überhaupt ausführbar ist: Sind überhaupt genügend Impfdosen vorhanden? Wie schnell soll das Impfen durchgezogen werden und gilt die Impfpflicht nur jetzt oder auch für notwendige Auffrischungen in absehbarer Zukunft?

Das Beispiel Kuba zeigt, wie eine gut organisierte Massenimpfkampagne in sehr kurzer Zeit fast die gesamte Bevölkerung erfassen kann. Trotz wirtschaftlichen Embargos und internationalen Drucks hat dieses Land es geschafft, einen eigenen Impfstoff herzustellen und diesen in der eigenen Bevölkerung mithilfe einer groß angelegten Massenimpfkampagne einzusetzen. Seit dem Impfstart am 16.09.2021 wurden bis Stand 18.11.2021 rund 89 % mindestens einmal und 76,6 % vollständig geimpft (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1203308/umfrage/impfstoffabdeckung-der-bevoelkerung-gegen-das-coronavirus-nach-laendern/). Bei einem Impfstoff mit einer Wirksamkeit von rund 90 % sprechen auch die Zahlen eine eindeutige Sprache für die kubanische Impfkampagne. Hatten sich in der Kalenderwoche des 16.09.2021 noch 56 165 Menschen auf Kuba angesteckt, fiel diese Zahl kontinuierlich auf nun 2 064 dieser Woche (Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html). Auch wenn diese Zahlen eventuell nicht den kompletten Infektionsverlauf auf Kuba abbilden, ist ihr Rückgang doch recht beeindruckend.

Dieser Impferfolg in nur drei Monaten war durch das seit langem auf Kuba eingeübte, planwirtschaftliche Impfsystem möglich: Die Impfung wird zentral von den Gesundheitsbehörden koordiniert, in den Barrios aber die Umsetzung den Massenorganisationen, insbesondere den Nachbarschaftskomitees (CDR) übertragen. Diese sorgen dafür, dass wirklich alle aus der Nachbarschaft an den zugeteilten Terminen in die Kollektivpraxen kommen. Ein klarer Beweis für die Überlegenheit eines kollektiven, planwirtschaftlichen Gesundheitssystem gegenüber der kapitalistischen Planlosigkeit!

Hier muss man verschiedene Situationen unterscheiden, in denen eine Impfpflicht festgeschrieben und auch durchgeführt wird. Es macht einen großen Unterschied für den Schutz der Wirksamkeit, ob sie und eine große Impfkampagne zu einer Hochzeit der Infektionslage durchgeführt werden oder nicht. Sind die Infektionszahlen in einem Land hoch, bedeutet dies auch eine hohe Virenlast in der Gesellschaft und somit ein erhöhtes Risiko, eine derzeit symptomfreie, infizierte Person zu impfen. In einem solchen Fall steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationsvarianten des Virus in diesen infizierten, aber nun geimpften Personen etabliert werden, die sich im Anschluss ausbreiten und den Impfstoff unwirksamer werden lassen. Daher macht es auch Sinn, eine groß angelegte, verpflichtende Impfkampagne durchzusetzen, wenn die Viruslast in einer Gesellschaft gering und damit auch die Infektionszahlen auf einem Minimum sind. Diese Chance wurde jedoch vertan, so dass es keine Alternative zur Forcierung des Impfens zum jetzigen Zeitpunkt gibt, selbst wenn deren Wirkungen erst in etlichen Monaten deutlich werden.

Wir brauchen einen solidarischen Lockdown!

Damit wir auf eine geringe Viruslast nicht bis zum nächsten Sommer warten müssen und der Winter einer wie der letzte wird, benötigen wir jetzt einen klaren Lockdown, der nicht nur die Freizeiteinrichtungen und den privaten Konsum trifft, sondern auch gesellschaftlich nicht notwendige Produktion und Tätigkeiten für einige Wochen aussetzt.

Gekoppelt werden müsste das mit einer international angewandten Zero-Covid-Strategie. Dies bedeutet: die Schließung aller nicht lebensnotwendiger Betriebe sowie die Weiterbezahlung aller Beschäftigten, die wegen eines solchen notwendigen Lockdowns zuhause bleiben müssen. Ein solcher, auf die Wirtschaft ausgerichteter Lockdown würde auch mehr Raum geben, um Maßnahmen in Kitas und Schulen sowie im sozialen Bereich lockerer zu handhaben als in den vorherigen Lockdowns. Dies ist wichtig, um die verlorene Akzeptanz für die nun notwendigen Maßnahmen zurückzugewinnen.

Schließlich müsste er mit einem massiven sozialen Schutzschirm, finanziert durch eine massive Besteuerung der großen Kapitale und Vermögen, verbunden werden. D. h. unter anderem 100 % Lohnfortzahlung für alle, die nicht arbeiten gehen können; Verbot von Mietpreissteigerungen und Kündigungen von Wohnungen; Ausbau des Gesundheitswesens und Erhöhung der Einkommen um mindestens 500,- Euro/Monat für alle Pflegekräfte; Sicherung der Betreuung von Kindern, Jugendlichen sowie von Menschen mit Behinderung durch zusätzliche Kräfte.

Stellt man die Impfpflicht alleine ohne weitere, gekoppelte Maßnahmen in den Raum, ist sie sehr wohl ein Schattenboxen, das von den derzeitig notwendigen Maßnahmen und Diskussionen abzulenken versucht. Selbst wenn sie von der geschäftsführenden oder der neuen Bundesregierung sowie den jeweiligen Landesregierungen beschlossen und durchgesetzt werden würde, würde der Effekt dieser Maßnahme erst mittelfristig, in einigen Monaten sichtbar werden. So hat die Ankündigung der österreichischen Regierung, ab Februar eine Impfpflicht einzuführen, überhaupt keine Wirkung, soll vielmehr von der bisherigen Inaktivität und Verharmlosung der Gefahr sowie dem Zickzackkurs ablenken. Auch der Lockdown in Österreich ist letztlich darauf berechnet, das Infektionsgeschehen bis Mitte Dezember so weit in den Griff zu kriegen, dass dann wieder alles geöffnet ist, Weihnachten, Neujahrsfeiern und vor allem der Wintertourismus „gerettet“ werden können, also so weiter gewurschtelt werden kann wie bisher.

Wird eine Impfpflicht aber mit einem harten, solidarischen Wirtschaftslockdown und einer Kontrolle der Impfstoffproduktion und -verteilung durch die ArbeiterInnenklasse auf einer internationalen Ebene verbunden, würde sie durchaus Sinn ergeben. Deren Umsetzung müsste dabei von den Lohnabhängigen kontrolliert werden, so dass verhindert werden kann, dass sie von Unternehmen als Vorwand für Entlassungen und Kündigungen missbraucht wird.

Die aktuelle Zunahmen von hartnäckigen ImpfgegnerInnen, die Ausbreitung von letztlich irrationaler Ablehnung von Gesundheitsschutz und Impfung stellt dabei ein gesellschaftliches Hindernis dar, das natürlich nicht einfach durch Verbote überwunden werden kann. Zudem bereiten die bürgerliche, halbherzige und in sich widersprüchliche Coronapolitik und die Krise des Kapitalismus selbst den Nährboden, auf dem diese wachsen. Um diesen reaktionären Trend zu brechen, müssen wir natürlich mit den Menschen sprechen und zu überzeugen versuchen, die nicht aus tiefer reaktionärer Überzeugung, sondern aus Mangel an Aufklärung und damit verbundenen Ängsten Impfungen skeptisch gegenüber stehen. Aber es muss ihnen von Seiten der ArbeiterInnenbewegung auch deutlich gemacht werden, dass die Weigerung, sich und andere mit den vorhandenen Mitteln zu schützen, einen Akt der Entsolidarisierung gegenüber der Gesellschaft darstellt.

Eine zentrale Verantwortung für diese Misere kommt dabei den Gewerkschaften und den sozialdemokratischen und Linksparteien, also in Deutschland vor allem der SPD, aber auch der Linkspartei zu, die vorgeben, die Lohnabhängigen zu vertreten. Und dabei geht es nicht nur, ja nicht einmal vorrangig um Leute wie Wagenknecht, die die Gefahr verharmlosen und reaktionären Müll verbreiten. Entscheidend ist, dass SPD und Linkspartei seit Ausbruch der Pandemie wie auch die DGB-Gewerkschaften die Regierungspolitik mitbestimmt oder faktisch gestützt haben. Die Politik eines Bodo Ramelow und anderer Landesregierungen, an denen die Linkspartei beteiligt ist, unterscheidet sich nicht von denen der meisten anderen. Die Führungen der großen Industriegewerkschaften (IG Metall, IG BCE) und die Konzernbetriebsräte übten sich in SozialpartnerInnenschaft. GEW und Teile von ver.di äußerten zwar immer wieder Kritik an Bund und Ländern – aber viel zu zaghaft und ohne Mobilisierungsperspektive. Wenn wir in der ArbeiterInnenklasse etwas ändern wollen, müssen wir daher für einen Kurswechsel gerade in den Gewerkschaften und in den Betrieben kämpfen, so schwer es auch erscheinen mag.

Denn unmittelbar geht es darum, die Ausbreitung des Virus, das Sterben und den drohenden Zusammenbruch des Gesundheitswesens effektiv zu stoppen. Daher brauchen wir einen solidarischen Lockdown jetzt! Ansonsten droht, dass in den kommenden Wochen und Monaten weitere Tausende an Corona sterben und weitere Hunderttausende sich mit dem Virus infizieren.

  • Für einen solidarischen Lockdown gemäß einer Zero-Covid-Strategie!
  • Für eine koordinierte, internationale Impfkampagne, die Freigabe der Patente und weiterer Forschung, die Offenlegung und Kontrolle der Impfstoffforschung und -produktionsabläufe!
  • Enteignung der ImpfstoffproduzentInnen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für eine Aufklärungskampagne zu den Impfstoffen durch die Gewerkschaften und Organisationen der ArbeiterInnenklasse in den Betrieben!
  • Für eine breit angelegte Impfkampagne, kontrolliert durch die Lohnabhängigen in den Betrieben, Schulen und Wohnvierteln!



China: Xi Jinping rüstet sich gegen stürmisches Wetter

Peter Main, Infomail 1170, 19. November 2021

Eine Schlagzeile aus China lautet, dass das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Parteiam 11. November eine „historische Resolution“ zur Geschichte der Partei verabschiedet hat, in der Xi Jinping der gleiche Status wie Mao Zedong (Mao Tse-tung) und Deng Xiaoping zuerkannt wird. Zusammen mit der vorangegangenen Verfassungsänderung, mit der die Begrenzung auf zwei Amtszeiten für PräsidentInnen aufgehoben wurde, unterstreicht diese Auszeichnung Xis Machtkonsolidierung innerhalb der Partei. Zumindest hat es den Anschein.

Die wichtigste Nachricht aus China aber ist, dass der zu erwartende Konkurs von Evergrande die Zahlungsunfähigkeit vieler anderer großer Immobilienunternehmen in den Fokus rückt und die Auswirkungen des wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. (Siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/19/china-was-heisst-lehman-auf-chinesisch/)

Andere große Unternehmen wie Sinic, Fantasia und China Modern Land sind mit Tilgungen ihrer Anleihen in Verzug geraten und auch Kaisa, eine Immobilienverwaltungsgesellschaft, ist gefährdet. Die Lage von Evergrande wurde durch die Enthüllung verschlimmert, dass das Unternehmen große Summen von einer Bank geliehen hatte, die ihm teilweise gehört, was einen Verstoß gegen die Bankvorschriften darstellen könnte.

Auf internationaler Ebene brachten die Schwierigkeiten von Evergrande verheerende Auswirkungen auf die auf Dollar lautenden Anleihen, mit sich die andere chinesische ImmobilienentwicklerInnen Finanzmittel beschaffen. Im Juni boten diese 10 Prozent Zinsen, jetzt müssen sie 29 Prozent offerieren, was weit in den Bereich der „Schrottanleihen“ hineinreicht. Das bedeutet, dass chinesische BauträgerInnen keine internationalen Kredite aufnehmen können.

Am 12. November berichtete die Financial Times außerdem, dass chinesische Anleihen in der Regel zu einem höheren Kurs, aber einer niedrigeren Umlaufrendite als andere angeboten wurden, weil sie als sehr risikoarm galten – der „China-Aufschlag“. KommentatorInnen sprechen jetzt von einem „China-Abschlag““ – was bedeutet, dass die Anleihen zu einem niedrigeren Kurs, aber einer höheren Marge angeboten werden müssen, weil das Risiko höher eingeschätzt wird.

Partei

Hat irgendetwas davon Einfluss auf Xi Jinpings neuen und erhabenen Status? Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Die Kommunistische Partei ist für das gesamte chinesische Regierungssystem von derart zentraler Bedeutung, dass sich jede Veränderung ihrer Struktur, ihrer Führung oder ihrer propagandistischen Schwerpunkte mit Sicherheit in umfassenden Entwicklungen in der Gesellschaft ausdrücken wird.

Die zentrale Stellung der Partei ist in ihrer Geschichte verwurzelt. In der langen Periode der territorialen Doppelherrschaft zwischen der Niederlage von 1927 und dem Sieg von 1949 war die Partei der entscheidende Faktor für den Zusammenhalt der Landesteile, die insgesamt doppelt so groß wie Frankreich waren und etwa 100 Millionen EinwohnerInnen zählten.

Neben der Verwaltung der von ihr kontrollierten Gebiete steuerte die Partei natürlich auch die Entwicklung der Volksbefreiungsarmee. Kurzum, die Partei stellte das Personal für einen sich entwickelnden Staatsapparat, der durch die Kombination ihrer Volksfrontstrategie zur Erlangung der Macht und ihrer bürokratisch-zentralistischen Disziplin zusammengehalten wurde, die beide von der Kommunistischen Internationale unter Stalin eingeführt worden waren.

Es wurde ein bürgerlicher Staatsapparat mit einer zivilen Verwaltung, einem Rechtssystem und einer Armee aufgebaut. Nach der Niederlage der Guomindang (Kuomintang) im Jahr 1949 konnten die entsprechenden Elemente des bestehenden chinesischen Staates, die von politisch unzuverlässigem Personal gesäubert worden waren, relativ leicht in den kommunistisch kontrollierten Apparat integriert werden.

Trotz wilder politischer Ausschläge in den letzten 70 Jahren ist die „führende Rolle“ der Partei das bestimmende Merkmal des chinesischen politischen Systems geblieben. Die Partei stellt nicht nur alle Schlüsselfiguren in allen Ministerien des Staates. Ihre 92 Millionen Mitglieder bilden ein Netz der Überwachung und Kontrolle in der gesamten Gesellschaft. Jeder große Betrieb muss ein Parteikomitee haben, jeder Stadtbezirk hat seine Parteiorganisation.

Ein solches System verleiht der Führung natürlich enorme Macht, hat aber auch seine Schattenseiten: Die schiere Größe der Organisation und ihre derart tiefe gesellschaftliche Einbindung bedeuten zwangsläufig, dass unterschiedliche, potenziell widersprüchliche Ideen und soziale Kräfte ihren Weg in die Partei finden.

Im Rahmen des Systems bürokratischer Planung, das nie so zentralisiert war wie im sowjetischen Modell, auf dem es ursprünglich beruhte, führte dies zu weit verbreiteter Korruption, Vorteilsnahme für die eigene Familie, bevorzugten Beförderungen, Sonderrationen und – auf höherer Ebene – zu regionalem Vorrang bei der Zuteilung von Entwicklungsgeldern und Ähnlichem. Die Restauration des Kapitalismus öffnete jedoch vollends alle Schleusentore. Die Bewilligung immer engerer Verbindungen zwischen Partei und Kapital wurde dadurch signalisiert, dass „Geschäftsmänner“ – und dies waren in der Regel Männer – nun Parteimitglieder werden konnten.

Gleichzeitig wurden viele Parteimitglieder entweder selbst zu KapitalistInnen oder zu KapitalverwalterInnen im Auftrag des Staates oder eines Unternehmens. Solange die Wirtschaft als Ganzes expandierte, stellte der wachsende Einfluss kapitalistischer Interessen innerhalb der Partei kein großes Problem dar. In der Tat spielte der Parteistaatsapparat die von Marx beschriebene Rolle des (mehr als ideellen) „Gesamtkapitalisten“ und lenkte die Gesamtwirtschaft im Interesse der Kapitalakkumulation, die, wie in anderen Ländern, als „nationales Interesse“ dargestellt wurde.

Spannungen

Der Kapitalismus wächst jedoch weder beständig noch gleichmäßig. Selbst in einem hochgradig verstaatlichten Kapitalismus wachsen verschiedene Sektoren in unterschiedlichem Tempo oder eben nicht, und die Ökonomie als solche wird von der Dynamik der Weltwirtschaft beeinflusst. Diese unvermeidlichen Schwankungen müssen nun in Form verschiedener Gruppierungen innerhalb der Partei ihren Ausdruck finden.

Die Realität des Kapitalismus bedeutet, in China wie überall, dass mit größerer Kapitalakkumulation auch größere soziale Ungleichheit einhergeht. In einem Land, das von einer Organisation regiert wird, die sich selbst als kommunistische Partei bezeichnet, wirkt dieser Gegensatz jedenfalls potentiell sehr destabilisierend. Die Legitimität des Regimes, die durch Chinas traditionelle politische Kultur gestärkt wird, beruht auf dessen Fähigkeit, die soziale Ordnung und den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Die weit verbreiteten Berichte, wonach Xi jetzt den Schwerpunkt auf den Aufbau eines „gemeinsamen Wohlstands“ lege, aber auch seine Maßnahmen gegen eine Reihe von MilliardärInnen sind eindeutige Belege für Versuche, diese Legitimität zu untermauern.

Als die Partei 1945 eine Resolution verabschiedete, in der Mao Zedongs politische und theoretische Errungenschaften mit denen von Marx und Lenin gleichgesetzt wurden, bedeutete dies seinen Sieg über andere Fraktionen innerhalb der Partei. Auch Deng Xiaopings Resolution zur Geschichte der Partei, in der er Maos Verdienste und Fehler in einem Verhältnis von 70 zu 30 Prozent einstufte, markierte 1978 seinen Sieg über die Überbleibsel von Maos Regime, der „Viererbande“. Wie sollten wir dann Xi Jinpings Erhebung in den Pantheon, den höchsten Tempel der Partei durch das Zentralkomitee verstehen?

Wandel

Das zunehmend autoritäre und repressive Regime, das Xi eingeführt hat, deutet auf ein anderes Szenario hin. Es handelt sich nicht um einen Sieg über rivalisierende Fraktionen, sondern um einen Präventivschlag in Vorbereitung auf kommende Kämpfe. Xis Anspruch auf Vormachtstellung beruht auf der Behauptung, dass er die Nachfolge von Mao und Deng antrete und das Parteiziel vom „Sozialismus chinesischer Prägung“ als Spielart des „Sozialismus in einem Land“ vollende.

Laut Xi erfordern weitere Fortschritte eine Änderung der Wirtschaftsstrategie, deren Ziel die Verwirklichung des „dualen Kreislaufs“ sein wird. Was dies genau bedeutet, wird möglicherweise im 14. Fünfjahresplan dargelegt, der Anfang nächsten Jahres verabschiedet werden soll, aber der Begriff kursiert bereits seit einiger Zeit und impliziert eine geringere Abhängigkeit von internationalen Lieferketten und eine stärkere Betonung der steigenden Verbrauchernachfrage in China selbst. Das Modell einer autarkeren Volkswirtschaft mag an den „Sozialismus in einem Land“ erinnern, aber der Zeitpunkt zeigt, dass es eher als Reaktion auf die von Washington auferlegten Handelsschranken betrachtet werden muss, insbesondere für in den USA entwickelte Hightech-Güter.

Die Abkehr von der durch Deng Xiaoping verfolgten Strategie einer „Großen Internationalen Zirkulation“, die darin bestand, das riesige Arbeitskräfteangebot Chinas zu nutzen, um seine Wirtschaft in den Weltmarkt zu integrieren, wird sicherlich zu großen Veränderungen in der Prioritätensetzung innerhalb Chinas führen. Die Entscheidung, gegen die Baubranche und somit den Immobiliensektor vorzugehen, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die Folgen, mögliche große Konkurse und Veränderungen in den Zulieferindustrien, sind die ersten Anzeichen dafür, wie weit Xis Führung zu gehen bereit ist.

Es muss damit gerechnet werden, dass wichtige Teile des Kapitals und vor allem der Belegschaften die Weisheit der neuen Politik in Frage stellen und vielleicht sogar versuchen werden, sich ihr zu widersetzen. Das ist genau der Grund, warum das Regime in den letzten Jahren immer repressiver geworden ist – und warum es notwendig war, Xi ideoloigsch aufzuwerten und somit zu stärken, um die Unterbindung jeglichen Widerspruchs zu rechtfertigen.

Für SozialistInnen bietet die Aussicht auf interne Meinungsverschiedenheiten innerhalb eines solchen autokratischen Regimes die Möglichkeit, eine marxistische Kritik nicht nur an unmittelbaren politischen Entscheidungen, sondern am Charakter des gesamten Regimes und seiner Geschichte zu fördern. Das strategische Ziel ist, wie in allen Ländern, die Bildung einer ArbeiterInnenpartei mit einem Programm für den revolutionären Sturz des Kapitalismus durch unabhängige Organisationen auf Grundlage von ArbeiterInnenräten.

Diejenigen, die sich diesem Ziel verschreiben, müssen einen organisatorischen Rahmen schaffen, in dem die Schlüsselelemente eines solchen Programms ebenso wie die notwendigen Taktiken entwickelt werden, um es in die Kämpfe einzubringen, das kapitalistische China in den kommenden Jahren mit Sicherheit erschüttern werden.