Linkspartei vor der Wahl: Aufbruch sieht anders aus

Basti Linowicz/Martin Suchanek, Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Aufbruch lautete das Motto der Parteiführung in den letzten Monaten. Mit der Wahl von Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow zu den neuen Parteivorsitzenden im Februar 2021 und der Einigung auf Wissler und Bartsch als SpitzenkandidatInnen soll vor allem Einigkeit und Geschlossenheit signalisiert werden. Doch deren Beschwörung will nicht so recht gelingen.

Und das Gerede vom Aufbruch wirkt nicht erst seit den katastrophalen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, bei denen die Linkspartei im Vergleich zu 2016 über fünf Prozentpunkte verloren hat, schal.

Der Linkspartei geht es wie so manchen unglücklichen Fußballvereinen: Zuerst hatten sie kein Glück und dann kam auch noch das Pech dazu. So bleibt sie in den Umfragen seit Jahren um die 7 % hängen – und das trotz der Dauerkrise der Regierung, des Niedergangs der SPD und des Rechtsrucks der Grünen. Es fragt sich also, warum DIE LINKE davon nicht profitieren kann.

Richtungsstreit reloaded

Naive Gemüter machen dafür gern die Querschüsse einer Sahra Wagenknecht und eines Oskar Lafontaine verantwortlich.

Der Streit in der Partei DIE LINKE um die Veröffentlichung des neuen Buches von Sahra Wagenknecht „Die Selbstgerechten“ dürfte schließlich kaum jemandem entgangen sein. Die Tatsache, dass Wagenknecht von den eigenen GenossInnen als „Lifestyle-Linken“ schreibt, welche sich selbst heillos in der Identitätspolitik verloren hätten und sich nur noch für die Rechte von „skurrilen Minderheiten“ interessieren würden, sie MigrantInnen für Niedriglöhne verantwortlich macht und damit offensichtlich versucht, die an die AfD verlorengegangenen WählerInnen wieder einzufangen, sowie die Selbstbezeichnung als „konservative Linke“ bieten allerlei parteipolitischen Zündstoff.

So schrieb sie in ihrem Buch wortwörtlich: „Dass die Löhne allerdings in vielen Branchen um bis zu 20 Prozent sanken und selbst ein jahrelang anhaltendes Wirtschaftswachstum daran nichts ändern konnte, das war allein wegen der hohen Migration nach Deutschland möglich.“

Die Zerrissenheit der Linkspartei, der nun entfachte Streit und das von fast allen Medien aufgegriffene, auf die Veröffentlichung des Buches folgende, von Parteimitgliedern initiierte Ausschlussverfahren gegen Sahra Wagenknecht wären vielleicht nicht ganz so brisant, stünden nicht in weniger als drei Monaten die nächsten Bundestagswahlen an.

Wohin treibt die Linkspartei?

Die Veröffentlichung des neuen Buchs war sicher kein Zufall. Aber es sollte auch nicht als Ursache für die Probleme der Linkspartei missverstanden werden. Schließlich stellt es auch eine Reaktion auf den schwindenden Rückhalt Wagenknechts innerhalb der Partei dar und auf das Fiasko der von ihr initiierten Sammlungsbewegung „Aufstehen“ als bewusste Polarisierung innerhalb der Partei.

Auf dem Bundesparteitag im Februar konnten sich vor allem VertreterInnen der „Bewegungslinken“ durchsetzen. So stellen diese fast die Hälfte der auf dem Parteitag gewählten Parteivorstandsmitglieder. Der linkspopulistische Flügel konnte sich damals kaum platzieren, auch wenn die erneute Nominierung von Sahra Wagenknecht in Nordrhein-Westfalen zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl mit über 60 % aufzeigt, dass sie weiterhin über Rückhalt in der Partei verfügt.

Auch der Populismus dieses Flügels läuft letztlich darauf hinaus, der Partei die verlorengegangenen Stimmen zurückzuholen, um diese fit für die Übernahme von Regierungsverantwortung zu machen. So sagte Wagenknecht selbst in einem Interview im Mai mit Matthias Kohlmeier: „Auch ich wünsche mir eine Regierung, die dieses Land endlich wieder sozial zusammenführt. Wenn eine solche Regierung möglich ist, dann sollten wir uns daran beteiligen.“

Aber im Gegensatz zu ihren KonkurrentInnen setzt Wagenknecht auf offenen Sozialchauvinismus, um so die „einfachen Leute“ – eine vorzugsweise deutschstämmige, klassenübergreifende Allianz von Lohnabhängigen, kleinen Gewerbetreibenden bis hin zum unternehmerischen Mittelstand – als Basis für eine Reformregierung zu gewinnen.

Damit befindet sich der linkspopulistische Flügel jedoch innerparteilich in der Defensive. Auf ideologischer Ebene haben aber auch die RegierungssozialistInnen zugunsten der Bewegungslinken an Einfluss verloren. Schließlich ist es auch schwer, die Regierungsbeteiligungen in Thüringen, Bremen und Berlin als Muster für eine „Transformation“ in Richtung einer anderen Gesellschaftsordnung hinzustellen. Und den Bewegungspolitiker, der sich zufällig im Amt des Ministerpräsidenten oder stellvertretenden Bürgermeisters verloren hat, nimmt Ramelow und Lederer niemand ab.

Charakter der Partei

Dass es sich bei der Partei DIE LINKE um keine revolutionäre, sozialistische handelt, sondern um eine weitere linkssozialdemokratische Organisation, stellt keine besondere Neuigkeit dar. DIE LINKE selbst hat sich schließlich immer als eine Partei zur Reform und Bändigung des Kapitalismus präsentiert – und wollte auch nicht mehr sein.

In dem Sinne hat sich ihr Charakter als bürgerliche ArbeiterInnenpartei in den letzten Jahren nicht groß gewandelt. Programmatisch schwebt ihr eine Marktwirtschaft ohne große Monopole und Konzerne vor, ein Sozialismus auf Basis von Warenproduktion und pluralen Eigentumsverhältnissen, also ungefähr das, was Marx im Kommunistischen Manifest als kleinbürgerlichen Sozialismus bezeichnet.

DIE LINKE erkennt zwar die Existenz von Klassen und auch des Klassenkampfes an – aber nicht dessen Zuspitzung. Der Kampf für eine andere Gesellschaft ist für ihre Alltagspraxis weitgehend fiktiv, eine Worthülse. Das drückt sich auch im Sozialismusbegriff selbst aus. Dieser wird nicht als bestimmte Produktionsweise, sondern vor allem als Wertegemeinschaft verstanden. Das bürgerlich-demokratische System ist ihr als politisches Terrain heilig.

Das bedeutet aber auch, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer Ziele durch Regierungsbeteiligungen herbeiführen muss. Wer die gewaltsame sozialistische Revolution ablehnt, muss schließlich eine Politik der sozialen Reform im Rahmen der bestehenden bürgerlichen Institutionen verfolgen oder er erklärt Daueropposition zum Selbstzweck.

Wo die Linkspartei an der Regierung ist, gestaltet sie die bestehenden Verhältnisse mehr oder minder sozial mit. Dabei akzeptiert sie die Institutionen des bürgerlichen Systems als unüberschreitbaren Rahmen linker Politik, der allenfalls durch einzelne Reformen zu erweitern wäre. Während die RegierungssozialistInnen möglichst rasch mit SPD und Grünen auch auf Bundesebene koalieren wollen und daher eine Aufweichung der sogenannten „roten Haltelinien“ gerade auch in Sachen Außenpolitik anstreben, gehen die Bewegungslinken und wohl auch die Mehrheit der Partei davon aus, dass eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene 2021 faktisch unmöglich ist. Daher können sich auch Leute wie Wissler bei etwaigen Tabus unnachgiebiger und oppositioneller geben.

Dem entspricht auch, dass die Bewegungslinke die Politik der Partei „linker“ gestalten und ideologisch anders rechtfertigen will. Sie versucht dies mithilfe der sogenannten Transformationsstrategie. Damit will sie den Druck von der Straße durch soziale Bewegungen und die Unterstützung dieser durch ihre Abgeordneten in den Parlamenten betonen.

Strategie der Bewegungslinken

Das entscheidende Problem dieser Konzeption liegt im Verständnis von Klassenkampf und Staat. Der bürgerliche Staat wird als Mittel zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen, als Terrain des Klassenkampfes, nicht als Staat des Kapitals, nicht als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie.

Der Unterschied zum Marxismus besteht dabei nicht darin, dass der Kampf um Reformen und für demokratische Rechte abzulehnen wäre. Auch nicht darin, dass Kämpfe auf staatlichem Boden ausgetragen werden können und müssen, sondern in der Annahme, dass diese den Klassencharakter des Staates aufheben könnten. Die Transformationsstrategie begreift einen zu reformierenden bürgerlichen Staat als ein Instrument gesellschaftlicher Veränderung hin zum Sozialismus.

Das findet sich auch im Parteiprogramm wieder: „DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“

Auch wenn hier nebulös von Brüchen und Umwälzungen von revolutionärer Tiefe gesprochen wird, so bleibt folgendes Kernproblem: Die Transformationsstrategie löst die Dialektik von Reform und Revolution so auf, dass die Revolution als eine in die Breite gezogene, als bloß tiefer gehende, grundlegendere und langwierige Kette von Reformen verstanden wird. Die Revolution bildet dann im Grunde nur eine Fortsetzung ewiger Reform- und Transformationsbemühungen.

Soziale Basis der Linkspartei

Nichtsdestotrotz entspricht die linkere reformistische Strategie einer realen Veränderung der sozialen Basis der Linkspartei, vor allem ihres Verhältnisses zu den Gewerkschaften. DIE LINKE hat heute rund 60.000 Mitglieder, also stagniert zahlenmäßig seit Jahren, was aber nicht über massive Veränderungen ihrer Zusammensetzung hinwegtäuschen darf.

  • Die Linkspartei hat wichtige Schichten und die Bindekraft zu Arbeitslosen, ärmeren Schichten der Klasse und auch des KleinbürgerInnentums im Osten an die AfD verloren. Dies ist zweifellos Resultat von Regierungspolitik und Anpassung, aber auch eines Rechtsrucks und einer Demoralisierung von Teilen der Lohnabhängigen selbst.
  • Zugleich hat sie im Westen eine stärkere Verankerung in der ArbeiterInnenklasse und der Jugend (und somit über längere Zeit auch bei jüngeren Lohnabhängigen) gewonnen. Das drückt sich auch in veränderten Größen der Landesverbände, einem stärkeren Gewicht im Westen aus.
  • Das Wachstum und diese Verschiebung verweisen auch darauf, dass die Linkspartei in den Gewerkschaften und Betrieben, also in der organisierten ArbeiterInnenklasse stärker geworden ist und zwar deutlich mehr, als dies bei Wahlen zum Ausdruck kommt. Die betrieblichen und unteren gewerkschaftlichen FunktionsträgerInnen betreiben auch nicht einfach dieselbe Politik wie der sozialdemokratisch dominierte Apparat, aber sie fordern diesen nicht heraus, zumal ihre reformistische Politik natürlich auch im Rahmen tarifvertraglicher und sozialpartnerschaftlicher Regulierung bleibt. Die Linkspartei betreibt z. B. eine aktive Politik, ihre jüngeren AnhängerInnen aus den Unis in den Gewerkschaftsapparat zu schicken (z. B. über Organising- und Trainee-Programme) und so ihre Verankerung zu stärken.
  • Sie hat in den letzten Jahren an Verankerung in sozialen Bewegungen gewonnen, wenn auch nicht ohne Rückschläge und eher indirekt, also über die Zusammenarbeit, informelle Bündnisse mit Teilen der radikalen Linken (IL, Antifa) und MigrantInnenorganisationen (einige kurdische Vereine, Teile von Migrantifa, DIDF).

Die Flügelbildung in der Linkspartei drückt leztlich diese Veränderungen aus. Während der linkspopulistische Teil um Wagenknecht im Grunde eine Rückkehr zur imaginierten heilen Welt der alten PDS ohne Identitätspolitik beschwört, können die „demokratischen“ und RegierungssozialistInnen letztlich nur mehr oder weniger imaginäre Erfolge in Koalitionen  aufweisen.

Die „Bewegungslinke“ verspricht hingegen, die inneren Gegensätze der Partei im Rahmen einer „neuen“ linksreformistischen Strategie zu überbrücken. Ihre Leitideologie stellt die sog. „verbindendene Klassenpolitik“ dar. Sie kombiniert eine Transformationsstrategie an den Regierungen, den Kampf um den Staat mit Arbeit in sozialen Bewegungen und der Verankerung in Gewerkschaften (bzw. im Apparat). Es ist damit zu rechnen, dass sich dieser Flügel in der Partei insgesamt durchsetzen und deren linksreformistischen Charakter stärker akzentuieren wird.

Dies erklärt auch, warum die Linkspartei in den letzten Jahren tatsächlich in bestimmten Bewegungen und Auseinandersetzungen aktivistischer auftreten konnte – und zwar selbst in Bundesländern, wo sie an der Regierung ist, wie in der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen in Berlin. Sie konnte dabei fast vergessen machen, dass dereinst der rot-rote Senat über 150.00 Wohnungen privatisierte.

Diese Entwicklung beschränkt sich jedoch nicht auf Berlin. In NRW spielt sie eine wichtige Rolle bei den Mobilisierungen gegen die Einschränkungen des Versammlungsrechtes. Natürlich ist die Arbeit in Bewegungen nicht frei von Widersprüchen – gerade dann, wenn die Regierungspraxis offen mit deren Zielen kollidiert wie z. B. in Brandenburg, wo die Linkspartei an der Landesregierung weiter an der Braunkohleverstromung festhielt.

Stagnation auf Wahlebene

Zugleich vermag es die Linkspartei aus mehreren Gründen nicht, unter scheinbar günstigen Bedingungen zuzulegen. Zweifellos trägt die innere Widersprüchlichkeit ihrer Politik, Regierung und Opposition gleichzeitig darstellen zu wollen, dazu bei. Es wäre aber zu platt zu sagen, dies liege nur an ihrer harmlosen, bürgerlichen Politik (so gesehen dürften die Grünen erst recht nichts gewinnen).

Anders als SPD (und Grüne) belastet DIE LINKE das Problem, dass sie für eine Regierung auf Bundesebene allenfalls nur als Anhängsel in Frage kommt und auch nur als kleinste Partnerin (während diese beiden wenigstens hoffen könnten, eine solche Koalition zu führen). D. h. ihr linkeres Reformprogramm krankt in den Augen der Masse der WählerInnen darin, dass es nie Regierungshandeln bestimmt. Was radikalen Linken als Vorzug erscheinen mag, stellt unzufriedene SPD- und GrünenwählerInnen vor ein Problem. Sie fürchten, dass die Wahl einer kleinen, reformistischen Oppositionspartei nur eine verlorene Stimme darstellt und keinen Einfluss auf die Regierungsbildung hat.

Für die Linkspartei wiederum stellt sich das Dilemma folgendermaßen dar: Sie will einerseits die unzufriedenen AnhängerInnen von SPD und Grünen locken. Anderseits will sie jene WählerInnen, denen sie schon zu angepasst ist, nicht verprellen.

In der aktuellen Situation können wir als KommunistInnen nicht eigenständig zu den Wahlen antreten und genug WählerInnenstimmen erhalten, um in den Bundestag einzuziehen. Wir verfügen nicht über eine revolutionäre Massenorganisation, die hierzu imstande wäre, und es existiert im Moment kein massenhaftes revolutionäres Klassenbewusstsein. Daher stellt sich für uns als MarxistInnen die Frage, wie wir die anstehenden Bundestagswahlen dennoch nutzen können, um ein revolutionäres Programm und eine sozialistische Perspektive unter den ArbeiterInnen zu verbreiten.

Wahlen

Wir können die anstehenden Bundestagswahlen nicht einfach ignorieren. Sie stellen nicht nur einen wichtigen Gradmesser für das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen dar. Trotz ihrer reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik organisiert DIE LINKE wichtige Teile der sozialen Bewegungen und des linken Flügels der betrieblich und gewerkschaftlich Aktiven. Sie repräsentiert im Gegensatz zur SPD jenen Teil der ArbeiterInnenklasse, der gegen offene Sozialpartnerschaft und imperialistische Intervention eintritt und soziale und politische Verbesserungen erkämpfen und in Parlamenten durchsetzen will.

Wir hegen und fördern keine Illusionen in den Charakter der Partei DIE LINKE, aber das Kräfteverhältnis, also die Kampfbedingungen, die die Wahlen zum Ausdruck bringen, können uns nicht egal sein. Wir rufen daher zu ihrer Wahl auf.

In ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl und zu den Landtagswahlen stellt sie eine Reihe fortschrittlicher Forderungen auf wie die Einführung eines bundesweiten Mietendeckels, die Erhöhung des Mindestlohns, eine Rekommunalisierung der Krankenhäuser und eine bessere Finanzierung der Pflege, ein Verbot von Waffenexporten, die Ablehnung von Auslandseinsätzen, eine Vermögensabgabe für Nettovermögen über zwei Millionen Euro und eine stärkere Besteuerung der Reichen.

An diesen Forderungen müssen wir anknüpfen und von der Linken einfordern, keiner Koalitionsregierung mit offen bürgerlichen Parteien wie den Grünen beizutreten. Insbesondere auf Bundesebene muss sie mit der Illusion Schluss machen, dass eine „Reformregierung“ überhaupt möglich wäre.

Stattdessen müssen wir, wo es immer möglich ist, die KandidatInnen der Linkspartei darauf verpflichten, gegen alle reaktionären und arbeiterinnenfeindlichen Gesetze, gegen alle Einschränkungen demokratischer Rechte, gegen jeden Cent für die Bundeswehr und gegen jede Auslandsintervention zu stimmen. In Berlin müssten ihre Abgeordneten z. B. die sofortige Umsetzung der Enteignung von Vonovia/Deutsche Wohnen und Co. einfordern.

Der Wahlkampf und Veranstaltungen dazu von DWE sollten daher genutzt werden, um von der Linkspartei die Unterstützung und den Aufbau einer Bewegung gegen die Abwählzung der Lasten von Krise, Pandemie und sog. ökologischer Transformation zu fordern.




Brunsbüttel: Kein LNG-Terminal!

Leo Drais, Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Zum Wechsel vom Juli auf den August ruft Ende Gelände (EG) zu Massenaktionen in Brunsbüttel auf. Der Protest richtet sich gegen ein LNG-Terminal, welches sich im Planfeststellungsverfahren befindet. Darüber hinaus richtet sich die Aktion allgemein gegen fossile Gase als vermeintlich grüne Alternative zu Kohle und Erdöl. Am 31. Juli wird zu einer Demonstration unter dem Motto  „Sauberes Gas? Dreckige Lüge! LNG Terminal Brunsbüttel versenken!“ in Brunsbüttel aufgerufen.

Gas und globale Konkurrenz

Mit dem Ort an der Elbmündung und dem westlichen Ende des Nord-Ostseekanals, den täglich hunderte Schiffe aus aller Welt passieren, ist nicht nur der Wunschstandort für das LNG-Terminal (LNG = Liquified Natural Gas; verflüssigtes Naturgas) von der Energiewirtschaft strategisch günstig ausgesucht, sondern als Ort des Protestes auch für Ende Gelände eine politisch interessante Wahl. Schließlich macht EG zu Recht auf die globale Dimension des LNG-Terminals aufmerksam.

Diese wird nicht nur angesichts der Ausbeutung halbkolonialer Länder zur Förderung von Öl und Gas deutlich, sondern auch, wenn wir unseren Blick zunächst auf die Ostsee richten. Hier wird mit Nord-Stream 2 eine weitere Erdgaspipeline die direkten Lieferkapazitäten von Russland nach Deutschland und Zentraleuropa ausweiten, ganz ohne dabei die aus Sicht des russischen Imperialismus politisch unliebsamen Gebiete der Ukraine oder Polens zu passieren. Aber die Dimension ist freilich größer. Der scharfe Kurs, die Sanktionsdrohungen der Trump-Regierung gegen Nord-Stream 2 und daran Beteiligte war ein offener Ausdruck der globalen Konkurrenz der USA gegenüber Russland. Denn: Die USA sind mittlerweile Weltmeister in der Erdgasförderung dank dem besonders umweltschädlichen Fracking-Verfahren. Dass rund die Hälfte des Erdgases für Deutschland aus Russland kommt, störte den Trump-US-Imperialismus. Problem: Von den USA nach Europa kann Gas nur per Schiff, energieaufwändig und teuer, transportiert werden, und es braucht einen speziellen Hafen dafür – ein LNG-Terminal. Der Druck der USA ging  dann letztlich auch so weit, dass Bundesfinanzminister Scholz gar eine Milliarde Euro Förderung für ein Terminal zusicherte, solange Nord-Stream 2 weitergebaut werden dürfe.

Die Abwahl Trumps und die Neuausrichtung der US-Außenpolitik unter Joe Biden sorgte im Mai dann zu einem Absehen von weiteren Sanktionsdrohungen – aus Interesse an einem besseren Verhältnis zu den europäischen PartnerInnen, wie es hieß. Trotzdem hat die kleine Krise bewiesen, dass die deutsche Energieversorgung, die im Falle von Erdöl und -gas absolut importabhängig ist, zusehends schneller mal zwischen die Fronten der Weltpolitik und der Konkurrenz zwischen Erdgas exportierenden Staaten geraten kann. Während andere europäische Staaten, wie zum Beispiel die Niederlande oder Frankreich, über eigene Kais für Flüssiggastanker verfügen, fehlen solche in der deutschen Energielandschaft.

Brückentechnologie?

Der Ausbau der Erdgasinfrastruktur, die im Falle Brunsbüttels übrigens unter Beteiligung der deutschen Oiltanking GmbH und zweier niederländischer Energiekonzerne in einem Joint Venture betrieben wird – die internationalen Wirtschaftsinteressen lassen weiter grüßen – wird aber nicht nur aus weltpolitischen Interessen heraus vorangetrieben. Vor allem stellen Energiekonzerne und Politik ihn als unumgänglichen Meilenstein auf dem Weg zur fossilfreien Energieerzeugung dar. Begründet wird dies mit derzeit unzureichenden erneuerbaren Energien und der vermeintlich besseren Umweltbilanz von Erdgas. Im Verbrennungsprozess mag dies stimmen, da bei dem Hauptbestandteil Methan (CH4) auf vier Wasserstoffatome nur ein Kohlenstoffatom kommt, ergo weniger Kohlendioxid emittiert wird. Jedoch weisen Studien auch darauf hin, dass im Förderungs- und Transportprozess des Erdgases zu einem gewissen Prozentsatz Methan frei wird und in die Atmosphäre gelangt, wobei dieses selbst zu den Treibhausgasen gehört und auf kurze Sicht (Stichwort 1,5 Grad-Ziel usw.) bei gleicher Menge um ein Vielfaches schädlicher wirkt als CO2. Unterm Strich bleibt also, in der Verbrennung wie beim Transport und im Fracking erst recht: Grünes Erdgas ist eine schmutzige Lüge.

Völlig richtig weist EG außerdem darauf hin, dass der Erdgasausbau einen negativen Reboundeffekt auf die eigentliche Energiewende hat. Wo Kapital erst mal investiert ist, soll es sich  auch lohnen. Bis ein nagelneuer LNG-Hafen abgeschrieben ist und sich das Kapital so weit verwertet hat, dass ein Weiterbetrieb nicht mehr lohnt, dauert es Jahrzehnte, die die Energiewende effektiv ausbremsen.

Das was an Erdgas als wirklicher Brücke hin zu einer echten schnellstmöglichen Energiewende mit stabiler Energieversorgung aus erneuerbarer Energie und gelöster Speicherproblematik notwendig wäre (Pipelines, Gasspeicherkavernen), dafür ist die Infrastruktur längst da und die Versorgung ausreichend. Der Ausbau geschieht somit aus rein wirtschaftlichen Interessen der Energielobby heraus.

EG und das Programm

Demgegenüber fällt EG ins andere Extrem und fordert den sofortigen Gasausstieg (wie auch den aus der Kohle). Nimmt man die Forderung beim Wort, dann kann es durchaus sein, dass es schnell dunkel wird – und im Winter auch kalt. Wenn wir EG ernst nehmen – und als zentrale, radikale Kraft in der Umweltbewegung stellt sich die Bewegung selbst dar – nimmt sie hier zumindest das Risiko eines Blackouts, der einer fortschrittlichen Lösung der Klimakrise wohl kaum zuträglich sein dürfte, in Kauf. Oder aber EG meint „sofort“ nicht im engen Sinn des Wortes. Dann riecht die Forderung aber doch nach einer populistischen Note, die in ihrer politischen Rezeptur anscheinend jenen Platz einnimmt, an dem nach so vielen Jahren der Grubenbesetzung und des Protests längst ein grundsätzliches, konkretes Programm der antikapitalistischen Energiewende stehen könnte.

Angenommen, dass „schnellstmöglich“ die richtige und ernstzunehmende Forderung wäre. Was heißt das? Im antikapitalistischen Verständnis: alles, was Produktivkräfte und Technik so schnell wie möglich hergeben. Wer aber bestimmt das? Die Frage danach, wer die Energiewende macht, beantwortet EG regelmäßig mit „Handarbeit“. Das stimmt nicht mal für die Tage, an denen Gruben besetzt werden und ein bisschen Leistung in Kohlemeilern runtergefahren werden muss. An allen anderen Tagen bleibt die Frage unbeantwortet. Das Feld (auf dem demnächst die Gastanks stehen) wird Regierung und Konzernen überlassen, bei deren Wirken vielleicht noch ein bisschen die GewerkschaftsbürokratInnen der IG BCE mitspielen, die sich über Brunsbüttels neue Arbeitsplätze schon ganz eifrig freuen.

ArbeiterInnenklasse

Und da treffen sich dann auch alle Genannten: von EG über Scholz und German LNG bis IG BCE. Sie alle betrachten die, die in der Energiewende Arbeitsplätze mal gewinnen und mal verlieren, als mehr oder minder passives Objekt. Dabei wären doch die Beschäftigten des Energiesektors mit ihrem technischen Know-how tatsächlich die Einzigen, die eine Energiewende schnellstmöglich verwirklichen könnten, fernab von Kapitalinteressen. Dabei wäre es auch noch möglich, dass  tausende Jobs entstehen, weniger gearbeitet wird und trotzdem der Lohn gleich bleibt. Kurz, die ArbeiterInnen in der Energiebranche müssten für einen demokratischen, von ihnen kontrollierten Notfallplan zur Energiewende – nicht zuletzt durch EG – gewonnen werden.

Eckpunkte dessen sollten sein:

  • Für die ökologischen Katastrophen ist die herrschende Klasse verantwortlich – daher soll sie für die Schäden aufkommen! Entschädigungslose Enteignung der Energie- und Transportindustrie unter ArbeiterInnenkontrolle! Nein zum LNG-Terminal – weder in der ökologisch sensiblen Marsch noch woanders in der BRD!

  • Für den schnellstmöglichen organisierten Ausstieg aus der fossilen Energiegewinnung und Einstieg in klimaneutrale Erzeugung im Rahmen eines Energieplans unter ArbeiterInnenkontrolle! Für einen solchen Plan auf europäischer und weltweiter Ebene, der Verkehr, Industrie, Haushalte, Strom- und Wärmegewinnung integriert!

  • Für eine Aufteilung der Arbeitszeit auf alle – für die 30-Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Für ein öffentliches Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten und dementsprechende Umschulung bei einer Bezahlung, die mindestens dem bisherigen Entgelt entspricht!

  • Weg mit dem Emissionsrechtehandel und der Subventionierung von „regenerativer Energie“! Den „blind“ wirkenden Marktmechanismen setzen wir das bewusste, planmäßige Eingreifen in die Produktion entgegen. Für die Förderung von Energie und Ressourcen sparenden Techniken, bezahlt vom Kapital!

  • Für ein globales Programm zur Wiederaufforstung von Wäldern, der Renaturierung von Mooren und zum Schutz des Bodens und der Meere als CO2-Senken! Entschädigungslose Enteignung von LandbesitzerInnen, nachhaltige Bewirtschaftung unter Kontrolle der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen!

  • Für Forschung nach neuen Energien und zur Lösung der Speicherproblematik der erneuerbaren Energien (Power to Gas) unter ArbeiterInnenkontrolle und auf Kosten der Energiekonzerne!

  • Gegen die Spaltung zwischen Umweltbewegung und Beschäftigten in umweltgefährdenden Betrieben! Umschulung und neue Arbeitsplätze zu gleichen Löhnen und Arbeitsbedingungen! Gegen prekäre Beschäftigung in der Branche erneuerbarer Energien: gleiche Bedingungen für alle Beschäftigten in Windkraft-, Solarbetrieben wie für jene in Bergbau, AKWs und bei den Stromkonzernen!

  • Wenn die Energiewende schnellstmöglich passieren soll, braucht es eigene Kampfaktionen der Beschäftigten! IG BCE und ver.di: Brecht mit den Konzernen, die die Lebensgrundlage der Menschheit zugunsten des Profits zerstören! Für den politischen Massenstreik, der ein ökologisches Sofortprogramm der ArbeiterInnen selbst durchsetzt!



Sexarbeit und Prostitution im Kapitalismus

Leonie Schmidt, Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Aktuell ist es wieder eine heiße Debatte in linken und auch explizit in marxistischen Kreisen: Sollte man als Linke/r, insbesondere als KommunistIn, für ein Verbot von Prostitution kämpfen? Schnell wird mit Vorwürfen des Liberalfeminismus oder der SexarbeiterInnenfeindlichkeit argumentiert. Aber wie sieht eine marxistische Betrachtung der Thematik aus?

In diesem Artikel werden Wörter in der folgenden Bedeutung verwendet: 1. Sexarbeit: Damit sind alle konsensuellen sexuellen Dienstleistungen gemeint. Das bedeutet natürlich zum einen Sex, aber auch bspw. Erstellung von pornographischen Inhalten oder Cam- und Chat-Tätigkeiten; 2. Prostitution: Hierbei handelt es sich um den konsensuellen Kauf von Sex; und 3. Zwangsprostitution: Es geht dabei um den zwanghaften Verkauf von Sex, der in den meisten Fällen nicht konsensuell ist, also eine Vergewaltigung darstellt. Diese Definitionen zeichnen natürlich nur einen groben Unterschied und es ist nicht in jedem Fall einfach, eine klare Trennung zu ziehen.

Situation in Deutschland

Fakt ist, es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele Personen, insbesondere Frauen, sich in Deutschland prostituieren und Sexarbeit ausüben und wie viele es davon nicht freiwillig machen. Es gibt zwar Studien, in welchen aufgeführt wird, dass 90 % oder mehr der Prostituierten in Deutschland aussteigen wollen und ihre Arbeit nicht als freiwillig ansehen. Jedoch wurden diese vornehmlich bei Frauen unternommen, welche bereits in Aussteigerprogrammen standen.

Die Zahlen sind jedoch definitiv schwer zu erfassen, da es auch in Deutschland genügend Frauen in der illegalen Zwangsprostitution gibt. Außerdem ist es laut Prostituiertenschutzgesetz für SexarbeiterInnen nötig, sich beim Amt zu melden. Jedoch dürfte klar sein, dass die Dunkelziffer aufgrund von Zwangsprostitution enorm ist. Ende 2019 waren 40.400 Personen gemeldet. Manche Schätzungen gehen von 400.000 SexarbeiterInnen inkl. Zwangsprostituierten in Deutschland aus.

Viele der Letzteren kommen aus Osteuropa  in der Hoffnung, der Armut zu entfliehen und in Deutschland ein besseres Leben zu führen. Oftmals sind sie direkt oder indirekt von Menschenhandel betroffen und können sich nur sehr schwer dagegen wehren aufgrund von Armut, keiner anderen Möglichkeit, an Geld zu kommen, sprachlicher Barrieren, oder weil ihnen von den Zuhältern und Menschenhändlern die Pässe abgenommen werden. Zusätzlich sind sie auch noch von Rassismus betroffen und aufgrund der Illegalität ihres Aufenthaltes von Abschiebungen und staatlicher Verfolgung bedroht.

Auch gibt es viele Armutsprostituierte, welche keine andere Möglichkeit in diesem System sehen zu überleben. Diese sind meistens auch obdachlos und drogenabhängig. Allerdings gibt es auch Prostituierte und SexarbeiterInnen, welche ihren Job gerne und freiwillig ausüben. Das soll aber keineswegs verschleiern, dass diese Tätigkeit mit enorm viel Gewalt bis hin zu sklavenartigen Verhältnissen und Unterdrückung verbunden ist und viele Traumata und posttraumatische Belastungsstörungen auslöst, allerdings nicht immer und bei jeder Person.

Rechtliche Lage

Die rechtliche Lage in Deutschland erlaubt Prostitution grundsätzlich. Allerdings müssen sich die Prostituierten, wie bereits oben erwähnt, beim Amt melden. Diese Regelung gilt seit 2017 und wurde von Betroffenen bereits damals kritisiert, da es sich um ein Zwangsouting für ein zentrales Register handelt, was insbesondere bei einem weiterhin stigmatisierten Beruf wie Prostitution problematisch ist. Außerdem war es ein erklärtes Ziel des Prostituiertenschutzgesetzes, Frauen vor Zwangsprostitution zu schützen. Doch bleibt es eine utopische Annahme, dass sich Menschenhändler und Zuhälter von so einem Gesetz etwas vorschreiben lassen, da sie es bereits gewohnt sind, die Frauen zu bedrohen und einzuschüchtern und Letztere somit gar nicht ohne Druck bspw. Anzeige erstatten könnten. Des Weiteren müssen sich insbesondere Prostituierte aus Osteuropa Sorgen machen, dass sie nach einem Verfahren abgeschoben werden könnten. Strukturelle Unterdrückung kann eben nicht einfach durch Gesetz abgeschafft werden.

Sexarbeit ist Arbeit – oder?

Ist sie Lohnarbeit oder eine andere Form der Ausbeutung? Das hängt natürlich vom Arbeitsverhältnis ab. Die meisten Personen in der Prostitution arbeiten für einen Zuhälter. Hier können wir grundsätzlich ökonomisch von einem Ausbeutungsverhältnis sprechen, jedoch in der Regel nicht von freier Lohnarbeit, weil sie oft genug auch mit einem direkten, persönlichen Zwangs- und Gewaltverhältnis verbunden ist. Der Zuhälter eignet sich allerdings einen Teil des Erlöses für die Dienstleistung der Prostituierten an, die der Kunde zahlt. Es findet eine Form der Ausbeutung statt.

Das Verhältnis, das der Lohnarbeit am nächsten kommt, ist, wenn die Prostituierte z. B. für ein Bordell arbeitet. Selbst wenn sie dort formal als Selbstständige registriert sein mag, so lässt sich dies mit der Scheinselbstständigkeit eigentlicher LohnarbeiterInnen in anderen Berufen vergleichen.

Die EigentümerInnen des Bordells kassieren praktisch einen Mehrwert aus der Beschäftigung der Prostituierten und deren sexuellen Dienstleistungen. Sie besitzen außerdem die Produktionsmittel, bspw. das Bordell als Ort der Tätigkeit, und auch das nötige Zubehör wie bspw. Kondome oder Gleitgel. Natürlich darf bei dieser Betrachtung nicht vernachlässigt werden, warum die meisten Prostituierten überhaupt beginnen, in diesem Gewerbe tätig zu werden: Es ist oftmals ökonomischer Zwang. Dieser herrscht natürlich auch bei anderen Arbeitsverhältnissen, allerdings nicht in solch einer Form in Kombination mit psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt.

Allerdings ist die Aussage, SexarbeiterInnen, insbesondere Prostituierte, würden ihren Körper verkaufen, falsch, denn er wird nicht zur Ware selbst und existiert hinterher immer noch. Richtig ist hingegen, dass es sich um eine Dienstleistung handelt und der Körper für eine bestimmte Zeit als Arbeitsmittel fungiert (als Mittel zur Befriedigung eines bestimmten sexuellen Bedürfnisses). Oftmals ist ein Argument dafür, dass der Körper doch verkauft werden würde, dass er für eine bestimmte Zeit für jegliche sexuelle Befriedigung gemietet wird. Jedoch trifft das nicht für alle Fälle und unvermeidlich zu. Es gibt Tarife für bestimmte Tätigkeiten oder Zeiten und auch Grenzen für das, was angeboten wird. Nicht zu bestreiten ist, dass es jedoch Freier gibt, die diese übertreten.

Es gibt aber auch SexarbeiterInnen, die quasi selbstständig sind. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch ökonomischen Zwängen oder anderen Unterdrückungsformen unterworfen sind. Einerseits gibt es die Prostituierten, welche direkt auf der Straße ohne Bordell und Zuhälter arbeiten. Oft sind gerade diese besonders gefährdet durch sexualisierte Gewalt, da sie ohne Schutz sind (wenngleich die Zuhälterei oftmals auch keinen sonderlich großen bietet und ihrerseits ein Gewaltverhältnis darstellt) und oftmals auch völlig unterbezahlt werden.

Andere selbstständige SexarbeiterInnen sind teilweise in der Lage, sich ihre KundInnen auszusuchen oder produzieren von Zuhause aus pornografische Inhalte. Diese kann man durchaus eher zum KleinbürgerInnentum zählen, denn sie arbeiten nicht für andere. Sie verkaufen nicht ihre Arbeitskraft, sondern ein Produkt. Allerdings ist zu beachten, wie das Material vertrieben wird, denn wenn es Websites wie OnlyFans (OF) hochladen, welche daraus Profit schlagen und einen Teil der Zahlungen einbehalten (bei OF sind es 20 %), so ist doch wieder ein Ausbeutungsverhältnis vorhanden, wobei auch hier die Frage bestehen bleibt, ob es sich um eine Haupttätigkeit handelt oder ob es weiteren Besitz an Produktionsmitteln etc. gibt.

Gerade bei OF sind nämlich auch viele Prominente tätig, die nicht auf die Zahlungen angewiesen sind. Grundsätzlich ist aber OF eine Plattform, wo untersucht werden muss, wie viel ökonomischer Zwang hinter Sexarbeit stecken kann. Da sie leicht zugänglich ist und es offizielle Statistiken gibt, kann erkannt werden, wie groß der Zuwachs an KreatorInnen und NutzerInnen während der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Krise (inkl. Jobverlusten und Arbeitslosigkeit) ausfiel: Alleine im März 2020 stiegen die Nutzerzahlen um 75 % an.

Historische Betrachtung

Schon Friedrich Engels bezog die Prostitution in seine Betrachtungen der Entwicklung der Frauenunterdrückung mit ein. Hier wird klar, dass diese, genau wie die bürgerliche Familie, untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist und sich über alle Klassengesellschaften hin zur heutigen Form entwickelt hat. Laut Engels sind die bürgerliche Familie und die Prostitution zwei Seiten der gleichen Medaille, da es bei Ersterer v. a. um unbezahlte Reproduktionsarbeit bzw.  Vererbung der Produktionsmittel, bei Zweiterer um sexuelle Befriedigung der Freier geht.

Diese Teilung zwischen klassengesellschaftlichem Nutzen und sexueller Befriedigung existierte schon in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Bspw. im antiken Griechenland wurde es besonders deutlich mit der Dreiteilung zwischen Ehefrau, welche für Gebären  und Familie zuständig war und das Haus quasi nicht verlassen durfte, der Hetäre für die sexuelle Befriedigung und der Geliebten, die die Romantik ins Spiel brachte.

Diese Teilung sehen wir auch im Kapitalismus, jedoch ist es eben nur noch eine zweifache. Die weiterhin auferlegte Monogamie, insbesondere für die Frau, trägt also auch ihren Teil dazu bei, dass gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution besteht.

Natürlich ist es für MarxistInnen notwendig, gesellschaftliche Zusammenhänge zu kritisieren. Das sollte allerdings niemals auf Basis der Moral offiziöser, aber heuchlerischer bürgerlicher Prüderie geschehen, sondern vielmehr auf der einer dialektisch-materialistischen Kritik. Hier wäre anzumerken, dass es natürlich schon fatal ist, dass Sexualität zu einer Ware verkommt, nicht nur in Form von Sexarbeit, sondern auch Schönheitsindustrie und den damit verbundenen Instrumenten, Werbung sowie Dating Apps etc.

Dementsprechend können wir auf die Frage, ob es im Sozialismus Sexarbeit geben wird, antworten: Nicht so, wie sie heutzutage funktioniert. Genauso, wie es auch keine Lohnarbeit und kein Geld in dieser Form mehr geben wird. Allerdings kann es durchaus vorkommen, dass sexuelle Dienstleistungen, natürlich frei von ökonomischen und sonstigen Zwängen, angeboten werden könnten, je nachdem, ob sich dafür Menschen finden, die dies tun wollen. Die Frage der Notwendigkeit kann aus heutiger Sicht natürlich nicht komplett beantwortet werden. Fakt ist aber, dass diese durchaus mit dem endgültigen Absterben der bürgerlichen Familie und der Monogamie verschwinden könnte.

Feministisches „Empowerment“?

Einige Teile des liberalen Feminismus werfen die These in den Raum, dass Sexarbeit grundsätzlich  „empowernd“, selbstermächtigend sei, während Teile des Radikalfeminismus die Ansicht vertreten, dass jede Sexarbeit Zwangsprostitution wäre, das Patriarchat direkt unterstützen würde und somit zu unterbinden ist. Beide Annahmen ignorieren die Realität von Sexarbeitenden, denn natürlich ist Sexarbeit nicht grundsätzlich empowernd, nur weil sich die Person freiwillig dazu entscheidet und der ökonomische Zwang ignoriert wird. Grundsätzlich ist im Kapitalismus überhaupt keine Lohnarbeit und keine Form der Ausbeutung selbstermächtigend.

Allerdings können insbesondere eine Verbesserung des Arbeitsumfeldes und ein offener Umgang mit der Tätigkeit und der Kampf für die eigenen (Arbeits-)Rechte durchaus eine positive und fortschrittliche Wirkung zeitigen sowie grundsätzlich auch eine Möglichkeit bieten, offen mit seiner Sexualität und seinem Körper umzugehen (allerdings besteht diese Möglichkeit nur außerhalb von Armutsprostitution und ist eher selten anzutreffen). Insbesondere zu beachten ist hier auch, dass es viele Sexarbeitende gibt, die sich in keine Opferrolle drängen lassen, sondern selbstbestimmt für ihre Rechte, gegen Gewalt und gegen Stigmatisierung eintreten möchten.

Auf der anderen Seite ist es natürlich auch eine falsche These zu behaupten, alle, die sich bewusst für Sexarbeit entschieden, wären ganz einfach privilegiert und Sklavinnen des Patriarchats. Man kann sich natürlich auch bewusst für diese Form der Lohnarbeit entscheiden und trotzdem einen ökonomischen Zwang verspüren. Dem Kampf gegen das Patriarchat wäre auch nicht geholfen, wenn diese Einzelpersonen sich für einen anderen Job im Niedriglohnsektor entscheiden würden. Allerdings darf Sexarbeit natürlich auch nicht romantisiert und als der „Girlboss-Move“ schlechthin dargestellt werden, denn leider denken viele, insbesondere junge Frauen mit der ansteigenden Popularität von OF, dass dies schnelles und leicht verdientes Geld wäre. Diese Einstellung wird allerdings besonders durch RadikalfeministInnen den offen auftretenden SexarbeiterInnen in die Schuhe geschoben, was keineswegs auf alle zutrifft und nur einen sehr marginalen und vermutlich besser gestellten Teil der SexarbeiterInnengemeinde betrifft.

Verbot von Sexarbeit – die Lösung?

Viele Linke schlagen als Lösung ein Verbot vor, indem Zuhälterei und Freierschaft bestraft werden und nicht die Sexarbeitenden selber. Das mag auf den ersten Blick sinnvoll klingen, allerdings hat das sogenannte „Nordische Modell“ viele Tücken, über die auch SexarbeiterInnen aufklären. Aktuell wird dieses Modell auch schon u. a. in Schweden praktiziert. Daher ist es möglich, die Folgen zu analysieren. Dadurch, dass nicht das Gesellschaftssystem, der Kapitalismus, welches Sexarbeit notwendig macht, abgeschafft werden soll, besteht die Nachfrage der Kundschaft natürlich weiterhin. Durch dieses Verbot wird die Sexarbeit aber in die Illegalität gedrängt, wodurch es vermehrt zu Übergriffen und schlechten Arbeitsbedingungen kommt, und die Möglichkeit, bspw. eine Anzeige aufgrund sexualisierter Gewalt zu erstatten, wird ebenfalls stark eingeschränkt.

Gleichzeitig wird mit einer Illegalisierung auch die Stigmatisierung der Sexarbeitenden befestigt und sie werden ihrer aktuellen ökonomischen Grundlage beraubt, ohne aktive Unterstützung und Berufsalternativen. Des Weiteren fördert es auch Sextourismus. Wenn es nicht möglich ist, in der Heimat an diese Dienstleistungen zu kommen, fliegt man eben für wenig Geld in den Urlaub und lässt sich da bedienen, wo die meisten Personen wirklich Zwangsprostituierte und die Arbeitsbedingungen viel schlimmer sind. Das Nordische Modell ist letztlich ein Weg in die Sackgasse, weil es die Verhältnisse, die es zu bekämpfen vorgibt, nur illegalisiert und verlagert. Es stellt ironischer Weise an ein patriarchales System die Aufgabe, eine Tätigkeit abzuschaffen, von welcher es insbesondere auch profitiert. Außerdem ist es realitätsfern zu glauben, dass der bürgerliche Staat wirklich das Interesse verfolgt, Sexarbeit abzuschaffen, ohne Sexarbeitende zu kriminalisieren, und es überhaupt möglich ist, diese Arbeit, genauso wie ganz grundsätzlich die Lohnarbeit, innerhalb des Kapitalismus abzuschaffen.

Vier Ansatzpunkte

Was aber ist nun die Lösung? Grundsätzlich müssen wir als MarxistInnen an vier Punkten ansetzen. Erstens müssen wir Seite an Seite mit SexarbeiterInnen für die komplette Entkriminalisierung und gegen jegliche Repression von staatlicher Seite kämpfen sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Selbstorganisierung  (natürlich auch in Form von Selbstverteidigungsstrukturen) eintreten, denn nur wenn die Sexarbeit ohne Zuhälterei und Kriminalisierung organisiert ist, kann überhaupt erst eine Kontrolle über die Verkaufs- und Arbeitsbedingungen durch die SexarbeiterInnen selbst durchgesetzt werden. Das inkludiert natürlich nicht nur die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz, sondern schließt auch eine gewerkschaftliche Organisierung mit ein (wie es sie zeitweise bei ver.di in Hamburg gab), um größeren Druck im Kampf gegen Diskriminierung und für ArbeiterInnenrechte auszuüben, der Vereinzelung der Sexarbeitenden und der Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, Aus- und Weiterbildungen für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Egal, wofür sich die individuelle Person entscheidet, es gilt das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die Person sollte in ihrer Entscheidung unterstützt werden, natürlich ohne einerseits die Sexarbeit zu stigmatisieren oder andererseits sie zu romantisieren.

Um Zwangsprostitution insbesondere in Kombination mit Menschenhandel entgegenzuwirken, müssen wir uns neben ihrem Verbot auch für offenen Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle einsetzen, denn nur so kann den Versprechungen eines besseren Lebens in einem fremden Land unter Kontrolle von Mafiastrukturen entgegengewirkt werden.

Langfristig muss das Ziel von MarxistInnen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Es wäre allerdings verkürzt und nicht hilfreich, ein Verbot zu fordern, da sich Prostitution, wie bereits beschrieben, nicht einfach abschaffen lässt, zumal nicht innerhalb einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, die diese erst hervorgebracht hat. Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher SexarbeiterInnen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.




Ungarn: Erneuter Vorstoß gegen LGBTIQ-Personen

Heidi Specht, Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Gesetze, die massive Verschlechterungen für LGBTIQ-Personen bedeuten, sind unter der Regierung Viktor Orbáns keine Seltenheit. Mitte Juni ging ein neues Gesetz durch das ungarische Parlament. Ursprünglich drehte sich der Entwurf ausschließlich um sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige und enthielt bereits Maßnahmen wie die Erstellung eines Pädophilenregisters. Kurzfristig gab es jedoch Abänderungen von Fidesz-Abgeordneten, nach denen sich dieses Gesetz klar in die Reihe der LGBTIQ-feindlichen Maßnahmen einordnen lässt.

Das neueste Gesetz

Kurz gesagt geht es darum, LGBTIQ-Personen und ihre Existenz weiter aus dem öffentlichen Raum und dem Bewusstsein zu verdrängen. Nicht nur wird jede aktive Aufklärung von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren über Homosexualität, Transsexualität und Geschlechtsanpassung, zum Beispiel im Rahmen von Unterricht oder Vorträgen an Schulen, verboten. Unter-18-Jährige sollen darüber hinaus auch keinen Zugang mehr zu Inhalten erlangen, die diese als Teil der gesellschaftlichen Normalität darstellen. Das beinhaltet Bücher und Filme, kann aber noch wesentlich umfassender ausgelegt werden. Ist das Tragen einer Regenbogenfahne in Gegenwart Minderjähriger noch legal? Brauchen Bibliotheken zukünftig riesige Abteilungen, die Minderjährigen unzugänglich sind? Darf Harry Potter nur noch ab 18 gezeigt werden? Dürfen homosexuelle Paare ihre Kinder noch gemeinsam von der Schule abholen? Diese und andere Fragen werden derzeit heiß diskutiert – das Gesetz birgt massives Potential, die Unterdrückung weiter zu verschärfen.

Allgemein betrachtet bedeutet das, dass eine Generation herangezogen werden soll, in der Queerness nichts Normales ist, in der das hart erkämpfte und immer noch unzureichende Bewusstsein wieder aktiv zurückgebildet wird.

Konkret bedeutet es vor allem für LGBTIQ-Kinder und -Jugendliche eine massive Gefährdung. Ihnen wird die Aufklärung über Geschlechtsidentitäten und sexuelle Vorlieben, die über die „klassische Familie“ hinausgehen, verwehrt. Ihnen wird suggeriert, dass ihre Identität etwas Abnormales und Verbotenes sei. All das passiert in einer Lebensphase, die selbst für viele Cis-Heteromenschen keine einfache ist. Konkret bedeutet es die aktive Gefährdung der geistigen Gesundheit bis hin zu der des Lebens von Kindern und Jugendlichen.

Bisherige Gesetze

Dieses Gesetz reiht sich ein in stetige Angriffe seit inzwischen fast 10 Jahren:

  • 2012 wurde die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau festgelegt.
  • 2013 wurde der Begriff Familie im Grundgesetz neu definiert: „Grundlage der Familienbeziehung ist die Ehe sowie die Eltern-Kind-Beziehung.“
  • 2018 wurde das Studium Gender-Studies verboten.
  • 2020 wurde zuerst die juristische Geschlechtsänderung verboten, indem in allen amtlichen Dokumenten der Begriff „Geschlecht“ durch den Begriff „Geburtsgeschlecht“ ersetzt wurde. Später im selben Jahr wurden Homosexuelle vom Recht auf Adoption ausgeschlossen.

Internationaler Aufschrei

Das neue Gesetz ist ein heißes Thema in der EU – auch das nicht zum ersten Mal. Unterschiedliche Fraktionen und Länder ergreifen Position für oder gegen das Gesetz. Unter den BefürworterInnen ist das Argument stark, die EU habe sich nicht in die innerstaatlichen Gesetze Ungarns einzumischen. Der Hauptfokus der Kritik im In- und Ausland bezieht sich auf die Vermischung von Homosexualität mit Kindesmissbrauch, die durch das neue Gesetz vorgenommen wird. Doch vor Sanktionen scheut man sich immer noch. Bisher belässt man es bei kritischen Worten oder symbolischen Aktionen. Die österreichischen Grünen ließen es sich nicht nehmen, eine Protestaktion an der Grenze zu organisieren – jene Grünen, die in der Regierung mit der ÖVP nicht nur anfangs die EU-Resolution gegen das Gesetz nicht mitunterzeichneten, sondern auch im eigenen Land Regelungen wie das Blutspendeverbot für homosexuelle und bisexuelle Männer mittragen.

Friede, Freude, Regenbogen im Kapitalismus

Nicht nur die österreichischen Grünen üben sich in Scheinheiligkeit. Genau wie Frauenunterdrückung liegt auch die von queeren Menschen im ureigensten Interesse des Kapitalismus. Die bürgerliche Kleinfamilie dient der Reproduktion der menschlichen Gesellschaft im kleinen Rahmen und der Arbeitskraft – und diese wird gefährdet durch jene Menschen, die sich nicht so einfach darin eingliedern lassen. Während in manchen Ländern Zugeständnisse erkämpft wurden, ist die Unterdrückung in anderen Teilen der Welt noch sehr viel ausgeprägter. Doch die Ereignisse in Ungarn führen uns schmerzhaft vor Augen, dass uns jeder erkämpfte Erfolg wieder genommen werden kann. Konservative Kräfte werden immer gegen jene kämpfen, die ihrer Moral nicht entsprechen und das System gefährden. Echte sexuelle Freiheit kann es in dieser Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Unterdrückung aufgebaut ist, niemals geben. Die Regenbogenfahne bringt erst dann echte Befreiung, wenn sie während der Revolution getragen wird, die dieses System endgültig zu Fall bringt.




Peru: Ein neues Muster für einen Putschversuch von rechts?

Markus Lehner, Neue Internationale 2021, Juli/August 2021

Offiziell waren die Präsidentschaftswahlen in Peru am 6. Juni gelaufen. Beim ersten Wahlgang Anfang April waren überraschenderweise der „linke“ Außenseiter Pedro Castillo (18,9 %) und die durch Korruptionsvorwürfe stark angeschlagene Establishment-Kandidatin Keiko Fujimori (13,4 %) vor allen anderen noch schwächer abgeschnitten habenden KandidatInnen gelegen. In der Stichwahl zwischen den beiden lag schließlich Castillo knappe 40.000 Stimmen (bei über 18 Millionen WählerInnen) vor Fujimori. Dieser enge Abstand führte zu einer Überprüfung durch die Wahlbehörden (in Peru das Jurado Nacional de Elecciones,, JNE; Nationales Wahlgericht). Das mag noch nachvollziehbar sein. Allerdings deutet die Dauer der „Überprüfung“ von über einem Monat samt der Mobilisierungen der Rechten darauf hin, dass hier etwas Tiefgehenderes vor sich geht.

Die Lage vor der Präsidentschaftswahl

Die Präsidentschaftswahl fand in einer äußerst zugespitzten Krisensituation statt. Erstens führten geringer werdendes Wirtschaftswachstum, das Sinken der Exporte und wachsende Schulden schon an sich in eine Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie zum Desaster wurde. Zweitens mündete dies in einer enormen sozialen Krise. Der informelle Sektor stieg von ohnedies schon für Lateinamerika hohen 75 % der Bevölkerung auf an die 90 %. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter extremen Armutsbedingungen. Insbesondere in den ländlichen, von indigenen Menschen bewohnten Gebieten, aber auch in den Armutsvierteln der Hauptstadt Lima herrscht eine prekäre Versorgungslage für so gut wie alles. Drittens ist in der Pandemie das Gesundheitssystem praktisch zusammengebrochen. Peru hat mit fast 200.000 Toten bei 32 Millionen EinwohnerInnen die größte Corona-Opferzahl pro Kopf auf der Welt. Viele flüchteten aus den Städten, womit sich die Situation auf dem Land noch weiter verschlechterte.

Viertens befindet sich Peru seit mehreren Jahren in einer schweren politischen Krise. Die letzten 5 Jahre sahen 4 verschiedene Präsidenten und zwei Kongresswahlen. Die politischen Institutionen blockieren sich gegenseitig. Massenproteste gegen korrupte und unfähige Regierungen lösten sich mit Amtsenthebungsverfahren und Parlamentsauflösungen teilweise im Wochenrhythmus ab. Praktisch alle traditionellen Parteien sind diskreditiert oder befinden sich in Neuformierungsprozessen.

Die Linke

Schon 2011 war ein sogenannter Linker gegen Keiko Fujimori zum Präsidenten gewählt worden: der Ex-Offizier Ollanta Humala. Dieser hatte bei seinem Wahlantritt 2006 noch die „bolivarischen Revolutionen“ als Vorbild genannt, 2011 dann nur noch Brasiliens sozialdemokratischen Staatspräsidenten Lula da Silva. Den Versprechungen zur Verstaatlichung des Bergbaus und zum Ausbau des Sozialsystems folgte dann jedoch nichts – außer dass Humala seit Ende seiner in einen schwerwiegenden Korruptionsprozess rund um den brasilianischen Odebrecht-Konzern verstrickt ist. Die linksnationalistische UPP (Unión por el Perú; Union für Peru) genauso wie die traditionelle peruanische Partei des Linksnationalismus, die APRA (Alianza Popular Revolucionario Americana; Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), sind seither diskreditiert und an den Rand des politischen Geschehens gedrängt.

Seit 2013 wurde damit die „Frente Amplio“ (Breite Front) zur stärksten parlamentarischen Kraft der Linken. Sie war ein Bündnis der kommunistischen Partei, mehrerer sozialdemokratischer und grüner Parteien sowie linksbürgerlicher Gruppierungen. Bei den Parlamentswahlen 2016 erhielt sie 20 von 130 Sitzen im Kongress. Ihre bekanntesten Führungsfiguren sind einerseits die Sozialistin Verónika Mendoza und der Priester und Umweltaktivist Marco Arana. Aufgrund des Versuchs von Arana, die Front mehr oder weniger in eine von ihm geführte grüne Partei umwandeln zu wollen, spaltete sich der Wahlblock. Die sozialistisch orientierten Parteien formten neue Wahlallianzen, die 2021 als „Gemeinsam für Peru“ (Juntos por el Perú, JPP) antraten, mit 7,8 % für Mendoza als deren Spitzenkandidatin (bei der Wahl 2016 hatte sie noch über 18 % erhalten).

Überraschenderweise etablierte sich 2021 jedoch die bis dahin eher unbekannte Partei Perú Libre (Freies Peru) als stärkste „linke“ Kraft. Diese Partei war ursprünglich das Produkt eines Provinzgouverneurs, Vladimir Cerrón, der damit über seine randständige Provinz Junin (im zentralen Hochland von Peru) ein nationales Standbein aufbauen wollte. Auch wenn er seiner Partei nach außen ein „marxistisches“ und „leninistisches“ Profil gab, war er zu eigentümlichen Wahlbündnissen z. B. mit der libertären Partei bereit (seine Präsidentschaftskandidatur 2016 blieb aber jenseits der Wahrnehmungsschwelle). Aufgrund schwerwiegender Korruptionsvorwürfe in Zusammenhang mit seiner Gouverneurstätigkeit war aber klar, dass er selbst nicht für die Partei zur Wahl 2021 antreten konnte.

Zunächst wurde mit der JPP über eine gemeinsame Kandidatur verhandelt, die aber in dieser wegen des „kriminellen“ Rufes von Cerrón auf große Vorbehalte stieß. Daher entschloss man sich schließlich, getrennt anzutreten und für die Perú Libre Pedro Castillo aufzustellen – der kein Berufspolitiker ist, sondern Grundschullehrer. Landesweite Bekanntheit erlangte er 2017 als kompromissloser und der Basis verpflichteter Anführer des Lehrerstreiks. Damals schon verband er die gewerkschaftlichen Forderungen der LehrerInnen mit einer Anprangerung des Elends der SchülerInnen selbst, mit dem die Schulen vollkommen überfordert sind. Seine Glaubwürdigkeit als unbestechlicher Anwalt der sozial Schwachen katapultierte Castillo in der Situation der aktuellen Krise sofort an die Spitze der Umfragen zur Präsidentschaftswahl.

Auch wenn die Rechte bis zur Stichwahl eine Unmenge an antikommunistischer Polemik gegen Castillo lostrat, konnte dies offensichtlich seine Popularität insbesondere in den sozial benachteiligten Regionen von Peru, aber auch in den Armenvierteln von Lima nicht entscheidend schwächen. Dabei sind weder seine Partei Perú Libre noch Castillo selbst eine gefestigte linke Kraft. Seine Wahlversprechen drehten sich um eine „neue Verfassung“, die die neoliberalen Reformen der Fujimori-Zeit zurückdrehen sollte, und um die Verstaatlichung des Bergbausektors – nichts anderes als das, was zuvor auch die LinksnationalistInnen wie Humala versprochen hatten. Dazu kommt, dass Castillo abseits der sozialen Forderungen ein äußerst konservatives Programm vertritt: gegen eine Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechtes, gegen die Homo-Ehe, gegen eine Beschränkung der Vorrechte der katholischen Kirche etc. Skandalös war auch ein Interview, in dem er die fürchterlichen Ausmaße der Femizide in Peru herunterspielte und diese als Auswuchs von Langeweile wegen der hohen Arbeitslosigkeit verharmloste.

Hinzu kommt, dass Perú Libre zwar jetzt auch stärkste Partei im Kongress ist (mit 37 von 130 Abgeordneten), aber stark auf Koalitionspartnerinnen, auch jenseits der JPP, angewiesen ist. Letztere stellt zudem gegenüber der Newcomerpartei PL auch sehr viel mehr „ExpertInnen“ für die Regierungsarbeit. Daher stammen auch bereits die wichtigsten WirtschaftsberaterInnen von Castillo aus diesem Teil des politischen Establishments. Und natürlich haben sie Castillo bereits Erklärungen zu Themen Verstaatlichung der Bergbauindustrie diktiert, die die globalen Märkte beruhigt haben. Man muss nur ins Nachbarland Chile blicken, um zu sehen, wie auch der Prozess der Bildung einer verfassunggebenden Versammlung in vom Kapital kontrollierte Bahnen gelenkt werden kann.

Die Rechte

Die entscheidende politische und ökonomische Wende in Peru, die mit den verschiedenen Experimenten des Linksnationalismus gebrochen hat, vollzog sich in den 1990er Jahren unter Keiko Fujimoris Vater Alberto. Wie in ganz Lateinamerika kam es mit dem „verlorenen Jahrzehnt“ in den 1980er Jahren zu einem völligen Buch mit dem Modell der sog. importsubstituierenden Industrialisierung. In Peru speziell bedeutete dies die völlige Abkehr von staatlicher Industrialisierung und den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Landes an internationale Konzerne. Marktliberalisierung und Neoextraktivismus gingen einher mit Abbau von Gewerkschaftsrechten, von sozialen Sicherungssystemen und einer extrem brutalen militärischen Bekämpfung jeglichen Widerstands, nicht nur der atavistischen maoistischen Guerilla des „Leuchtenden Pfades“. Bei Letzterem entwickelte das Fujimori-Regime auch einen extremen Rassismus gegen indigene Menschen, der bis zu Zwangssterilisierungsprogrammen führte. Fujimori ist überhaupt ein Beweis dafür, wie eng Rassismus und Liberalismus in Wirklichkeit immer noch verbunden sind.

Auch wenn er später bei Teilen des Establishments in Ungnade fiel (er wurde 2009 aufgrund seiner offensichtlichen humanitären Verbrechen zu 25 Jahren Haft verurteilt), so wurde von keiner der folgenden Regierungen grundlegend etwas am neoliberalen Zuschnitt seiner Reformen verändert. Auch Castillos Versprechen, eine Verfassung zu begründen, die das „System Fujimori“ beendet, wird nicht umzusetzen sein, wenn es nicht eine grundlegende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse samt Zerschlagung des bestehenden (bewaffneten) Staatsapparates geben sollte.

Allerdings ist offensichtlich, dass selbst die sehr vagen Ankündigungen von Castillo für die Herrschenden in Peru einen Grund zur Nervosität liefern. Dies war schon sichtbar an der krassen antikommunistischen Rhetorik während des Wahlkampfes, mit der die Gefahr eines neuen Venezuela beschworen wurde. Nach dem knappen Wahlerfolg von Castillo am 6. Juni setzte dann eine beispiellose Kampagne gegen die drohende Amtsübernahme durch den „Kommunisten“ ein.

Die „Betrugs“-Kampagne

Schon Donald Trump hat gezeigt, wie heutzutage die extreme Rechte mit Wahlen umgeht. Ein nicht passendes Wahlergebnis wird einfach als Betrug deklariert und alle entgegenstehenden Beweise werden als Fälschungen abgewiesen. Der Wahrheitsgehalt ist dabei nicht entscheidend, sondern die Massivität der Mobilisierung für den Wahlfälschungsvorwurf, der eine genügend umstürzlerische Wirkung entfalten muss. Dabei spielen Rassismus und Klassenhass eine wesentliche Rolle. Das Zentrum des Wahlbetrugsvorwurfs ist eigentlich, dass bestimmte „minderwertige“ Menschen gar nicht wählen können dürften bzw. sich das Wahlrecht irgendwie „unrechtmäßig“ erschwindelt hätten. Dazu kommen natürlich große „globalistische“ Verschwörungen, die die Wahlmaschinen oder die Wahlbeobachtung manipuliert hätten (der antisemitische Unterton mag dabei einmal offener, einmal wenig zum Vorschein kommen).

Auch in Peru sind die Beweise für Wahlbetrug praktisch nicht vorhanden. Alle WahlbeobachterInnen haben dem Verfahren ein mustergültiges Zeugnis ausgestellt. Selbst die sonst bei linken Erfolgen eher „kritischen“ BeobachterInnen der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) oder der USA haben nichts von Betrug wahrgenommen. Trotz alledem hat Fujimori eine wahre Armada der besten AnwältInnen des Landes aufstellen können, die das Wahlgericht mit Klagen im Umfang von 200.000 Stimmen überrollt hat. Auch wenn dieses bisher nichts gefunden hat, das größere Unregelmäßigkeiten erkennen lässt, wurde damit genug Sand ins Getriebe geworfen, um parallel mit rechten Massenprotesten starten zu können. Ein immer größer werdender rechter Mob droht mit immer aggressiveren Ausschreitungen – bei den Kundgebungen werden die Konquistadorenkreuze zusammen mit dem Hitlergruß gezeigt, um zu betonen, dass Peru „europäisch“ ist und nicht in die Hände „kommunistischer Indios“ kommen dürfe. Dazu kommen Aufrufe tausender Ex-Militärs, die ihre aktiven KameradInnen dazu auffordern, „Peru vor dem Kommunismus“ zu retten. Auch Nobelpreisträger wie der Dichter Vargas Llosa erklären sich inzwischen für den Eingriff des Militärs zur „Rettung des Vaterlands“. Tatsächlich ist bei einer weiteren Verzögerung der Verkündung des endgültigen Wahlresultats und gleichzeitiger Paralyse des Kongresses ein Eingreifen des Militärs womöglich nicht mehr in weiter Ferne.

Die Antwort der ArbeiterInnenklasse

Die rechte, antidemokratische Mobilisierung muss mit aller Macht in die Schranken gewiesen werden. Bei aller Kritik an Castillo und den linksreformistischen und populistischen Parteien, die er vertritt, müssen die demokratischen Rechte samt der Anerkennung von Wahlergebnissen verteidigt werden. Dies bedeutet auch, dass gegen die gewaltsamen Proteste der Rechten auch entsprechende Massenmobilisierungen und Selbstverteidigungsauschüsse von ArbeiterInnen, Indigenen, der ländlichen Armut sowie aller anderen unterdrückten Sichten der Gesellschaft organisiert werden müssen. Gegen jegliche Versuche, die demokratischen Rechte auf autoritäre Weise – sei es durch einen Militärputsch oder durch eine Aberkennung des Wahlsiegs durch die Wahlkommission – zu unterdrücken, muss der Generalstreik auf Grundlage der Basisorgane des Gegenprotestes und der Gewerkschaften organisiert werden. Diese Mobilisierung der ArbeiterInnen, Indigenen und armen Bauern/Bäuerinnen muss auch genutzt werden, um die von Castillo versprochene verfassunggebende Versammlung in ein Organ zu verwandeln, deren Wahl und Einberufung von ebendiesen Organen kontrolliert und überwacht wird.

In einer solchen verfassunggebenden Versammlung müssten RevolutionärInnen einen offenen Kampf für eine sozialistische Umwandlung, für die Enteignung des peruanischen und ausländischen Großkapitals unter ArbeiterInnenkontrolle, für die Streichung der Auslandschulden und die Enteignung des Großgrundbesitzes führen. Sie müssten für einen Sofortplan zur Bekämpfung von Armut und Pandemie eintreten.

Um dies zu sichern, wird der Kampf selbst den Rahmen einer solchen Versammlung sprengen müssen. Für eine sozialistische Umwälzung muss der bestehende bürgerliche Staats- und Repressionsapparat zerschlagen werden und die einfachen SoldatInnen müssen auf die Seite der Massen gezogen werden, indem sie sich weigern, den putschistischen Gelüsten der Rechten zu folgen und SoldatInnenkomitees und -räte bilden, die unabhängig vom militärischen Kommando agieren. Vor allem aber müssen die Strukturen des Kampfes gegen einen möglichen Putsch und für entschiedene Reformen in Räte und bewaffnete Organe zur Verteidigung dieser Umwälzung weiterentwickelt werden. Angesichts des Zustandes der Linken in Peru wird diese Zielsetzung letztlich nur erreicht werden können, wenn sich im Kampf um proletarische Unabhängigkeit in dieser Linken eine tatsächliche revolutionäre ArbeiterInnenpartei herausbildet, um diesen zum Sieg zu führen!




GDL-Urabstimmung: Im Schatten der Tarifeinheit

Leo Drais, Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Seit nun schon mehreren Monaten laufen die Tarifverhandlungen zwischen der Deutschen Bahn AG und der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), welche nach vier Runden die  Verhandlungen für gescheitert erklärte und Arbeitskampfmaßnahmen verkündete. Am 24. Juni konkretisierte die GDL hierzu ihr Vorgehen: Anstatt den in deutschen Tarifrunden ritualisierten Weg des Warnstreiks zu gehen, ruft sie ihre Mitgliedschaft nun direkt zur Urabstimmung über den Arbeitskampf auf. Das Ergebnis soll zum 9. August ausgezählt werden.

Tarifeinheitsgesetz?

Den Weg der Urabstimmung geht die GDL nicht nur, um direkt längere Streikmaßnahmen einleiten zu können (eine hohe Zustimmung der Mitglieder ist erwartbar), sondern laut Vorsitzendem Claus Weselsky auch deshalb, weil die Gewerkschaft juristische Schritte seitens des DB-Konzerns gegen den Arbeitskampf fürchtet – und das nicht von ungefähr. Schließlich ist nicht zuletzt auch, um ihr – der GDL – und ihren in der weitläufigen Tristesse deutscher Gewerkschaftskämpfe hervorstechenden, hartnäckigen Arbeitskämpfen Einhalt zu gebieten, 2015 das Tarifeinheitsgesetz verabschiedet worden.

Was zunächst so wohlig nach einheitlichen Tarifen, nach gleicher Bezahlung für alle Beschäftigten klingt, ist im Gegenteil ein Coup gegen das in der Bundesrepublik ohnehin schon kaum vorhandene Streikrecht, gilt so doch nur noch ein Tarifvertrag je Betrieb. Das aber heißt letztlich: Wo mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb vertreten sind, findet nur die mitgliederstärkste juristische Anerkennung am Verhandlungstisch und – im Streik.

Wer schob diesen Angriff an? Allein die Unternehmen und ihre parlamentarischen VertreterInnen der Union? Lange nicht. Mit im Boot der Bosse saßen neben der SPD auch jene DGB-GewerkschaftsbürokratInnen, die sich einer Konkurrenzgewerkschaft im Betrieb gegenübersehen – allen voran die IG Metall, aber eben auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), welche nicht von ungefähr unter EisenbahnerInnen auch schon mal als verlängerter Arm des DB-Bahntowers wahrgenommen wird. Ins Bild passt daher, dass die EVG nicht nur das Tarifeinheitsgesetz unterschrieben hat, um der aus ihrer Sicht unliebsamen, kleineren Konkurrentin GDL zu schaden, sondern auch, dass die EVG-Führung vergangenes Jahr so ganz ohne Einbeziehung der Mitglieder einen Tarifvertrag mit dem DB-Konzern abschloss, der sich mittlerweile als Reallohnverlust entpuppt.

Damoklesschwert

Nun ist es mit der DB AG und dem Tarifeinheitsgesetz so, dass der Konzern aus hunderten Einzelbetrieben besteht und das Gesetz bisher noch nicht in einer Gigantin wie der DB angewandt und bis vor die höchsten Gerichte eskaliert wurde. Trotz dessen, dass sich der Vorsitzende Weselsky in den vergangenen Monaten kämpferisch gab und die Streikbereitschaft seiner Organisation betonte, ist eine gewisse Zögerlichkeit und der Versuch, auf Zeit zu spielen, ebenso offensichtlich.

Es sind wahrscheinlich zweierlei Aspekte, die dies begründen: Erstens ist nicht ganz klar, in welchen DB-Betrieben die GDL eine Mehrheit und somit das Recht zum Tarifabschluss hat, was zweitens seit dem Winter eine Mitgliederoffensive seitens der Gewerkschaft befeuert haben dürfte. Anstatt sich auf das fahrende Personal in den Zügen zu beschränken, will die GDL nun auch für die KollegInnen im Netzbetrieb, der Instandhaltung – kurz im gesamten direkten Betrieb – Abschlüsse aushandeln. Nicht umsonst hat sie sich einen Flächentarifvertrag im Eisenbahnwesen zum Ziel gesetzt.

Trotz des offeneren Versuchs des Mitgliederzuwachses kann jedoch kaum davon ausgegangen werden, dass die GDL ein großes Plus in klassischen EVG-Betrieben wie der DB Netz erreichen konnte. Somit stellt sich mindestens die Frage: Was passiert, wenn GDL-Mitglieder in Betrieben zum Streik mobilisiert werden, in denen sie gegenüber der EVG die Minderheit darstellen? Zumindest hier ist eine Teilillegaliserung des Arbeitskampfes eine rechtlich testbare Möglichkeit für den Konzern, das Niedergehen des Damoklesschwerts eine reale Gefahr für die GDL.

Zwickmühle

Wohl auch deshalb wäre es der GDL-Spitze vermutlich lieber, einen Abschluss am Verhandlungstisch zu erzielen. In den vier Verhandlungsrunden war die Tarifkommission gegenüber der DB und Personalvorstand Seiler bereits zurückgerudert, fordert nunmehr den Abschluss des öffentlichen Dienstes (+ 1,4 % 2021, mindestens aber 50 Euro, +1,8 % 2022) und eine Corona-Beihilfe von 600 Euro sowie noch weitere Punkte. Doch dem Konzern und seiner Eigentümerin BRD mit ihren Milliardenschulden ist das zu teuer. Sie verlangen eine faktische Nullrunde, wollen  den „Notlagentarifvertrag“ der Flughäfen (die im Gegensatz zum Bahnbetrieb fast komplett stillstanden) kopieren.

Und damit steckt die GDL-Führung um Claus Weselsky, die trotz aller Wortgewalt und vorzeigbareren Abschlüssen in den letzten 15 Jahren immer noch eine Gewerkschaftsbürokratie mit Bindung an den Staat ist, ein bisschen in der Klemme. Einerseits erkennt sie das Tarifeineinheitsgesetz an und wird nicht müde, dies hervorzuheben. Andererseits kann (und will) sie die hundsmiserablen Vorschläge der DB (die um die Zwickmühle der GDL weiß) nicht hinnehmen, da sie einem gegenüber der EVG Sich-selbst-überflüssig-Machen gleichkämen. Somit wird die GDL wohl kämpfen und streiken, offensiv zwar, aber auch mit einer gewissen rechtlichen Unsicherheit –  die per Urabstimmung weniger gefährlich werden soll.

Kampfeinheit statt Tarifeinheit

Im Gegensatz zur EVG oder der IG Metall scheut die GDL den Kampf nicht angesichts der Krise, sondern nimmt ihn auf, eben weil Krise ist. Allein dafür verdient sie Unterstützung. Höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen im Schienenverkehr sind außerdem angesichts der Klimakrise notwendig, um die klaffenden Personallücken zu schließen und überhaupt von einem qualitativ hochwertigen Betrieb und höherer Pünktlichkeit zu träumen.

Aber es geht um noch mehr, nämlich darum, ob Staat, Kapital und DGB-Bürokratie es schaffen, ein Exempel an einer kämpferischen Spartengewerkschaft zu statuieren, das auch andere, wie Cockpit oder UFO, treffen könnte. Deshalb rufen wir zur Verteidigung der GDL gegen den Angriff von Bahn und EVG auf, der für die GDL je nach Entwicklung der nächsten Monate existenzgefährdend sein kann. Alle Linken und GewerkschafterInnen sollten ihre Solidarität mit der GDL zeigen, EVGlerInnen zuvorderst. Sie sollten dafür eintreten, keinen Streikbruch zu begehen.

Gleichzeitig kritisieren wir, dass die GDL das Tarifeinheitsgesetz selbst anerkennt, anstatt den Tarif- zum politischen Kampf gegen das Gesetz zu machen. Denn das bräuchte es eigentlich: GewerkschafterInnen sollten den politischen Streik und das Recht darauf auf die Tagesordnung setzen, denn die mögliche (Teil-)Illegalisierung des GDL-Kampfes stellt immerhin die Frage danach, ob Gewerkschaften überhaupt noch in ihrem von Kapital und Staat zugestandenen rein betrieblichen Metier kämpfen dürfen. Für Minderheitsgewerkschaften gilt dann im Falle einer Illegalisierung: illegal weiterkämpfen oder sich dem Staat beugen und aufgeben?

Abschließend: Lange bevor die Gewerkschaftsbürokratien sich über die bestmögliche Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes zuungunsten ihrer Konkurrentinnen die Köpfe zerbrachen, war das Neben- und Gegeneinander von EVG-, GDL- und im Bezug auf den Nahverkehr auch der ver.di-Bürokratie sowieso schon Grundlage fortwährender Streikbrüche und Lohnkonkurrenz. Daher sollte der Kampf der GDL auch Anlass zur Diskussion darüber bieten, wie wir anstelle der staatlich verordneten und gewerkschaftlich abgesegneten Tarifeinheit zu einer wirklichen Kampfeinheit kommen.

Dabei geht es um nichts weniger als die Reorganisation der Gewerkschaften im gesamten Transport- und Logistiksektor auf einer demokratischen und klassenkämpferischen Grundlage. Um dieses Problem anzupacken, schlagen wir eine einheitliche Transportgewerkschaft vor, die nicht nur den Eisenbahnsektor, sondern die gesamte Logistik zu Lande, zu Wasser und in der Luft umfasst. Sie müsste demokratisch von ihren Mitgliedern kontrolliert werden, ihre FunktionärInnen und VertreterInnen müssten jederzeit wähl- und abwählbar und rechenschaftspflichtig sein. Sie sollten nicht mehr erhalten als den Tariflohn der Beschäftigten, die sie vertreten.

Ein demokratische Erneuerung von unten, die Kontrolle einer solchen Kampfeinheit wäre dabei nicht bloß das Ziel einer solchen zukünftigen Organisation – eine gemeinsame Gewerkschaft aller Beschäftigten bei der Bahn sowie im gesamten Transport- und Logistiksektor kann auch nur zustande kommen, wenn sich die kämpferischen GewerkschafterInnen in GDL, EVG und anderen Gewerkschaften für dieses Ziel unabhängig von der Bürokratie zu einer klassenkämpferischen Basisbewegung zusammenschließen. Die notwendige Reorganisation in der gesamten Branche wird schließlich nur unten erzwungen werden können, gegen den Widerstand der Apparate, die nicht nur die SozialpartnerInnenschaft, sondern auch ihre jeweils eigenen Privilegien verteidigen.

Die Solidarität mit einem GDL-Streik, die Verweigerung jeglicher Streikbrecherdienste, die Organisierung von Solidaritätsaktionen bei der gesamten Bahn und in anderen Transport- und Logistikunternehmen können ein erster Schritt zur Herstellung dieser Einheit sein und zu einer Gewerkschaft, die ihre Kämpfe aufgrund der straffen, aber demokratischen Organisation ihrer Mitglieder gewinnen, die die engen Grenzen gesetzlicher Schatten durchbrechen kann.




Gegen Mietenwahnsinn und Immobilienspekulation! Enteignung – was sonst?!

Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1154, 27. Juni 2021

343.000 Unterschriften in der 2. Sammelphase sind ein riesiger politischer Erfolg der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen (DWE), tausender UnterstützerInnen und der gesamten Protestbewegung gegen Mietenwahnsinn, Immobilienspekulation und Zwangsräumungen. Grund zum Feiern!

Der Erfolg ist aber auch Anlass zur Diskussion über die weiteren Perspektiven der Bewegung. Da wir Euch nicht allzu viel von der wohlverdienten Erholung rauben wollen, stellen wir unsere Einschätzung und Perspektive der Bewegung thesenhaft vor. Wir freuen uns auf Rückmeldungen und einen weiteren erfolgreichen Kampf!

1. An der Enteignung von Deutsche Wohnen/Vonovia und zahlreicher anderer Konzerne führt kein Weg vorbei. Das hat die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt. Mietpreisbremse und Mietendeckel erwiesen sich zwar als begrenzte Verbesserungen. Die grundsätzlichen Ursachen für steigende Mieten und Verdrängung hätten sie aber auch nur abmildern, nicht aufheben können, selbst wenn der Deckel nicht gekippt worden wäre. Die notwendigen Neubauten von sozialem Wohnraum werden allein auch keine Abhilfe gegen die Spekulation mit ebendiesem schaffen.

Die Enteignung der großen Wohnungskapitale und andere Maßnahmen im Interesse der MieterInnen dürfen nicht alternativ, sondern müssen als Gesamtpaket gedacht werden.

2. Wenn wir die Misere am Wohnungsmarkt bekämpfen wollen, braucht es ein Maßnahmenpaket, das der Profitmacherei den Boden entzieht. Ansonsten drohen praktisch alle anderen zeitweiligen Verbesserungen nur Flickwerk zu bleiben. An der Enteignung von Grund und Boden und der großen Wohnungskonzerne führt kein Weg vorbei.

Unabhängig vom Ausgang des Volksentscheides besteht das große Verdienst von DWE darin, die Eigentumsfrage ins Zentrum politischer Auseinandersetzung, des Klassenkampfes gestellt zu haben.

3. Bei der Frage der Enteignung zeichnen sich soziale Lager ab: MieterInneninitiativen, MieterInnenverein, Gewerkschaften, AnhängerInnen der Partei, die sich auf die ArbeiterInnenklasse berufen, auf der einen Seite und bürgerliche Parteien, Mietlobby und Boulevardblätter auf der anderen. Die Frage besteht, ob man diesen Gegensatz nicht als den bezeichnet, der er ist: ein Klassenkampf. Daher sollten wir den Wahlkampf, die Mobilisierung der kommenden Monate auch als solchen begreifen. Wir müssen mit einer Hetzkampagne der Immobilienlobby, der rechten und bürgerlichen Parteien, von AfD, FPD und CDU, aber auch von den KapitalfreundInnen des rechten Parteiflügels von SPD und Grünen rechnen. Gleichzeitig müssen wir Druck auf die UnterstützerInnen in SPD und Grünen sowie auf die Linkspartei aufbauen, den Vorschlag von DWE zur Vergesellschaftung zu unterstützen.

Die Mobilisierung zum Volksentscheid muss daher vor allem als Klassenkampfmobilisierung geführt werden, auf der Straße, aber auch in den Betrieben, an Schulen und Unis.

4. Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Kampf am 26. September nicht aufhört, auch wenn wir eine deutliche Mehrheit beim Volksentscheid erreichen. Das Kapital wird wie schon beim Mietendeckel seine Gerichte in Stellung bringen; es wird um die Rechtmäßigkeit der Enteignung und um jeden Cent bei der Höhe der Entscheidung kämpfen. Wie auch immer der Senat zusammengesetzt sein wird: eine Umsetzung im Interesse der MieterInnen ist nicht zu erwarten. Vielmehr wird er versuchen, eine Enteignung zu umgehen, zu verschleppen, zu verzögern, zu verwässern.

Wir müssen daher eine Bewegung aufbauen, die den Kampf nach dem 26. September mit anderen Mitteln in Berlin und bundesweit fortsetzen kann!

5. Die riesige Zustimmung für DWE, die Gewinnung vieler Massenorganisationen wie der Gewerkschaften, die breite Unterstützung durch die Linkspartei, durch MieterInnenvereinigungen, der Aufbau von Sammel- und Kiezteams verdeutlichen, dass wir eine Bewegung aufbauen können, die in den Stadtteilen, aber auch in den Betrieben verankert ist. Diese Basis müssen wir stärken und ausbauen. Wir müssen in den Gewerkschaften und Betrieben dafür eintreten, dass die Kampagne nicht nur durch Beschlüsse der Vorstände formal unterstützt wird, sondern auch wirklich betriebliche Strukturen aufgebaut werden, die als Kampforgane agieren können.

Die Kiez- und Sammelteams, aber auch Strukturen in Betrieben, im öffentlichen Dienst, an Schulen und Unis sollen zu Aktionskomitees der Kampagne und darüber hinaus werden!

6. Im Herbst 2021 stehen nicht nur Wahlen, sondern auch wichtige Tarifrunden im öffentlichen Dienst sowie Auseinandersetzungen an den Krankenhäusern und Klinken an. Ohne Kampf, ohne Streikbewegung wird den KollegInnen dort nichts geschenkt werden – weder von der zukünftigen Bundesregierung noch vom zukünftigen Senat und erst recht nicht in den privaten Unternehmen. Das gilt natürlich auch für den Kampf um die Enteignung bzw. deren Durchsetzung, wenn wir den Volksentscheid gewinnen.

Wir müssen von den Gewerkschaften, in den Betrieben politische Streiks einfordern, um die Umsetzung der Enteignung zu erzwingen. Wir müssen uns bei den zu enteignenden Wohnungsunternehmen auf einen organisierten Mietboykott und ähnliche Kampfmaßnahmen vorbereiten, um eine zügige Enteignung von unten zu erzwingen!

7. Wir müssen davon ausgehen, dass sich der Kampf vor und nach dem 26. September weiter zuspitzt. Das heißt auch, dass wir ihn ausweiten, politisieren und radikalisieren müssen. Das betrifft zum einen die bundesweite Ebene wie überhaupt den Kampf um Enteignung und die Verbindung mit dem Kampf gegen die Kosten der Krise und Pandemie.

Wir treten daher dafür ein, nach den Wahlen eine bundesweite Aktionskonferenz zu organisieren, bei der der Kampf gegen überhöhte Mieten und Wohnungsnot eine zentrale Rolle spielen sollte, um so eine massenhafte Antikrisenbewegung aufzubauen.

8. Die Auseinandersetzungen der letzten Monate zeigen, welche Bedeutung der Wohnungsfrage zukommt. Dass Millionen die Enteignung der Konzerne unterstützen, zeigt aber auch, dass sie die kapitalistische Profitmacherei nicht einfach dulden wollen. Die Enteignung wird daher auch in anderen Bereichen von grundlegender Bedeutung werden. Dies bedeutet aber auch, dass wir an die Grenzen des Kampfes stoßen werden, wenn er im Rahmen des Grundgesetzes und der Entschädigung des Privateigentums bleibt. Wir müssen daher auch die Frage aufwerfen, wie, durch welche Mittel perspektivisch eine entschädigungslose Enteignung durchgesetzt werden kann. Welche gesellschaftliche Kraft, welche Klasse kann das erreichen und wie kann sie kontrollieren, dass enteignete, verstaatlichte oder kommunalisierte Betriebe oder Genossenschaften unter ihrer Kontrolle stehen und nicht nur der einer den MieterInnen nicht verantwortlichen Bürokratie?

Wir sollten daher die aktuelle Kampagne als Sprungbrett zu einer größeren Bewegung für die  bundesweite Enteignung der Immobilienkonzerne, von Grund und Boden und die Kontrolle des Wohnungsbaus durch die MieterInnen begreifen.

9. Doch keine Perspektive ohne Mühen der Ebene. Die beste strategische Diskussion reicht nicht, wenn wir unsere Kräfte nicht für den Volksentscheid im September bündeln. Ein Sieg beim Entscheid wäre einer von uns allen und ein enormer Schub für jeden zukünftigen Widerstand gegen die Angriffe des Kapitals, der nächsten Bundesregierung und des nächsten Senats.

Die von DWE anvisierte Verbreiterung der Kiezteams und Aktionsgruppen durch regelmäßige Versammlungen in den Kiezen und Stadtteilen ist dazu ein wichtiger Schritt. Diese sollten nicht nur dazu dienen, die Menschen zur Abstimmung zu bringen, sondern auch neue AktivistInnen zu gewinnen und integrieren.

In diesem Sinn sollten auch Aktionsgruppen und Komitees in Betrieben, im öffentlichen Dienst und an den Schulen aufgebaut werden.

Außerdem schlagen wir das Erstellen einer kostenlosen Massenzeitung für die Kampagne neben anderen Werbematerialien vor und die Verbindung der Mobilisierung mit anderen sozialen Kämpfen wie der Krankenhausbewegung und dem gegen die Räumung besetzter Häuser!

  • Bereiten wir Deutsche Wohnen/Vonovia und Co. einen heißen Herbst!
  • Enteignet die EnteignerInnen!



USA: Camp Bliss, ein Höllenlager

Dave Stockton, Infomail 1154, 25. Juni 2021

Mehr als 4.300 Kinder im Teenageralter sind derzeit in einer „Notunterkunft“ auf der Militärbasis Fort Bliss in El Paso, Texas, untergebracht. 12 riesige Zelte sind mit Hunderten von Schlafkojen in unmittelbarer Nähe gepackt. Jüngste Berichte, die von schockierten MitarbeiterInnen verdeckt an BBC-ReporterInnen gegeben und durch Berichte in der El Paso Times bestätigt wurden, offenbaren Bedingungen, die eine absolute Schande für die reichste Demokratie der Welt darstellen und die Realität der westlichen Werte offenbaren.

Unmenschliche Zustände

Das Camp liegt in heißem Wüstengelände, das regelmäßig von Sandstürmen heimgesucht wird, gegen die Zelte nur unzureichend schützen. Ein Mitarbeiter berichtet: „Am Ende des Tages sind wir alle nur noch von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt“.

Neben der gefährlichen Überbelegung, bei der Covid und Influenza grassieren, melden die InsassInnen, dass sie schlecht gekochtes Fleisch bekommen haben, das sie krank gemacht hat. Alle klagen über einen Mangel an sauberer Unterwäsche und lange Wartezeiten auf Duschen und medizinische Versorgung. Das Lager ist von Läusen befallen, aber Entlausungskits sind Mangelware.

Kein Wunder, dass sich viele der jungen Menschen in akuter psychischer Not befinden und viele sich selbst verletzen. Die Kinder werden unter diesen Bedingungen festgehalten, manchmal für mehr als einen Monat. Das Lager wird von privaten Subunternehmen betrieben und es gibt Berichte, dass nicht nur einigen MitarbeiterInnen jegliche Ausbildung fehlt, sondern dass Kinder rassistischen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind.

All dies steht im scharfen Kontrast zur Prahlerei der Biden-Administration, dass sie die Kinder aus den schockierenden Lagern der Grenzpatrouillen verlegt und die Vorschriften gelockert habe, die es unbegleiteten Kindern erlauben, zu bereits in den USA lebenden Verwandten zu ziehen, sofern diese gefunden werden können.

Das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste (HHS), das Privatunternehmen beauftragt, um das Lager zu betreiben, erklärt zwar, dass es zur Transparenz verpflichtet sei, aber der BBC wurde der Zugang zum Lager verweigert. Das HHS behauptet auch, dass es „die erforderlichen Standards für die Versorgung der Kinder bereitstellt, wie saubere und komfortable Schlafräume, Mahlzeiten, Toilettenartikel, Wäsche, Bildungs- und Freizeitaktivitäten und Zugang zu medizinischer Versorgung.“ Doch nach einem vierstündigen Besuch des Lagers erklärte die US-Abgeordnete Veronica Escobar (Demokratische Partei El Paso) gegenüber der El Paso Times:

„Als ich in das Zelt der Jungen ging, waren dort buchstäblich Hunderte von Jungen in diesen sehr niedrigen Kojen. Ich denke, so viele Menschen auf einem Fleck zu haben, ist ein Risiko für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit. Ich glaube, es macht die Aufsicht und Kontrolle fast unmöglich.“

Und weiter: „Ein anderer Bereich, der mich sehr beunruhigt“, sagte sie, „ist die Tatsache, dass wir Kinder haben, die über einen längeren Zeitraum in dieser Einrichtung waren. Ich habe Kinder getroffen, die seit über 40 Tagen dort waren. Das ist absolut inakzeptabel, und es ist zutiefst alarmierend.“

Camp Bliss ist nur eines von mehr als 200 Unterkünften, die das Ministerium für Gesundheit und Sozialdienste landesweit betreibt, um Kinder vorübergehend unterzubringen, die die Grenze zwischen den USA und Mexiko ohne einen Elternteil oder Erziehungsberechtigten überquert haben.

Während die Kinder in den Lagern leiden, beschuldigen Fox News und die RepublikanerInnen Biden weiterhin, weich gegenüber MigrantInnen zu sein, und verbreiten die rassistische Lüge, dass seine politischen Reformen MenschenschmugglerInnen ermutigen würden, immer mehr unbegleitete Kinder an die Grenze zu bringen.

Ursache

Doch die eigentliche Ursache für die Flucht aus Lateinamerika, dem „Hinterhof“ der USA, sind die endemische Gewalt der militärisch-polizeilichen Regime, die sich gegen ländliche und indigene Gemeinschaften richtet, die kriminellen Banden, die in den Drogenhandel verwickelt sind, und die erdrückende Armut aufgrund jahrhundertelanger kolonialer und imperialistische Ausbeutung. In all diesen Ländern haben US-Konzerne und US-Regierungen eine wichtige Rolle bei der Ausbeutung ihrer Landwirtschaft und der Rohstoffindustrie gespielt, ihre Umwelt verwüstet und die repressiven Regime ihrer Eliten gestützt.

Wo immer Regierungen versucht haben, den miserablen Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu heben, wurden sie destabilisiert und sogar militärisch gestürzt. Dieses Tyrannei und Blockade setzte sich sowohl unter Obama als auch unter Trump fort und wird auch unter Biden weitergehen.

Wenn Eltern versuchen, ihre Kinder vor den Drogenbanden oder der korrupten Polizei zu retten und sie zu Verwandten oder FreundInnen schicken, die es in das Land geschafft haben, dessen Freiheitsstatue den Müden, Armen und geknechteten Massen ein würdiges Leben verspricht, finden sich in einer Hölle namens Camp Bliss wieder.

SozialistInnen, GewerkschafterInnen, AntirassistInnen und FeministInnen müssen ihre Anstrengungen verdoppeln, um den grausamen Zuständen an den südlichen Grenzen des Landes ein Ende zu setzen, diese schrecklichen Lager zu schließen und ihren InsassInnen eine anständige und humane Betreuung und Unterbringung zu geben. Sie müssen auch materielle und personelle Unterstützung erhalten, um ihre Angehörigen zu finden. Wir müssen fordern, dass das Land seine Grenzen für alle Flüchtlinge öffnet und eine Politik wie den Krieg gegen Drogen und die Superausbeutung durch seine Riesenkonzerne beendet und die Handels- und Finanzblockaden gegenüber den Ländern stoppt, die versuchen, das die soziale Lage ihrer Bevölkerung zu verbessern.

Sich darauf zu verlassen, dass Biden und die Demokratische Partei so etwas tun, wäre äußerst naiv. Deshalb brauchen die USA eine sozialistische, antikapitalistische Partei der ArbeiterInnenklasse, die als integralen Bestandteil ihres Programms die Rechte der ImmigrantInnen verteidigt und den Menschen in Mittel- und Südamerika die Hand reicht für einen gemeinsamen Kampf gegen den US-Imperialismus.




Modernisierte Betriebsräte

Mattis Molde, Infomail 1153, 21. Juni 2021

Eher beiläufig hat der Bundestag das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geändert und dazu das „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ verabschiedet. Dies war im Koalitionsvertrag vorgesehen, und da es nicht so aussieht, als würde diese Koalition die kommende Bundestagswahl überstehen, wurde es schnell noch von Arbeitsminister Heil auf den Weg gebracht, wohl auch als Versuch der SPD, sich als Partei der Arbeit„nehmer“Innen zu profilieren.

Die Änderungen und das neue Gesetz berühren die Themen Schutz von Betriebsratsgründungen, Wahlrechtsalter, Mitbestimmung bei mobiler Arbeit und Kommunikationsmittel. Verabschiedet wurde das Ganze im Paket mit einer Ausweitung der Fristen bei der Saisonarbeit. Die damit erleichterte Ausbeutung ausländischer ArbeitsmigrantInnen bringt für das Kapital deutlich mehr, als es die Kosmetik beim Betriebsverfassungsgesetz kostet.

Saisonarbeit

Statt 70 können dieselben SaisonarbeiterInnen dieses Jahr 102 Arbeitstage sozialversicherungsfrei beschäftigt werden, was vor allem in der Landwirtschaft genutzt wird. Begründet wird dies wie schon 2020, als sogar 115 Tage erlaubt worden waren, mit Infektionsschutz, da die Fluktuation der MigrantInnen geringer sei. Durch die Pandemie sind skandalöse Zustände auf vielen Höfen bekanntgeworden: Masseninfektionen, unbehandelte Kranke und viele Todesfälle, die übliche Beherbergung in Massenunterkünften, vorenthaltener Arbeitslohn, Arbeitszeitbetrug der Betriebe, Abrechnung überhöhter Beherbergungskosten, Bewachung in geschlossenen Lagern.

Die Krönung war und ist die „Arbeitsquarantäne“, bei der alle – auch Kranke – weiterarbeiten, aber keinen Kontakt nach außen haben und auch nicht nach Hause fahren dürfen. Alle diese Probleme wurden von der Regierung nicht angegangen, stattdessen wurde die Ausnutzung dieser Arbeitskräfte vereinfacht. Sozialversicherungsfrei heißt, dass die Betriebe diese Kosten sparen und den Beschäftigten keine Krankenversicherung aus diesem Arbeitsvertrag zusteht – in der Zeit der Pandemie!

Die AusbeuterInnen jubeln auf agrarheute: „Der Bauern- und Winzerverband Rheinland-Pfalz Süd (BWV) reagierte erleichtert auf den Kabinettsbeschluss. Dies sei eine wichtige Entscheidung im Sinne der Pandemiebekämpfung und der Sicherung der regionalen Lebensmittelproduktion, stellte der BWV fest.“

Waagschale

Und was ist bei diesem großkoalitionären Deal für die Beschäftigten in Betrieben und Verwaltungen herausgekommen? Was hat Hubertus Heil produziert, damit der DGB dies als Fortschritt preisen kann?

Die Senkung des Wahlrechtsalters zu Betriebsratswahlen von 18 auf 16 ist natürlich längst überfällig. Wer als Jugendlicher ausgebeutet wird, soll auch wählen dürfen. Aus gutem Grund wird dies in den Kommentaren zur Gesetzesänderung aber kaum erwähnt: Es gibt praktisch keine Jugendlichen dieses Alters in Betrieben mit Betriebsrat (BR). Das tatsächliche Problem ist vielmehr, dass dort, wo viele junge Menschen arbeiten, oft auch in Teilzeit, eine hohe Fluktuation herrscht – was nicht nur die BR-Gründung, sondern auch die Wahl von jungen Menschen in dieses Gremium erschwert. Hier wäre dringend eine Verkürzung der Wahlperioden nötig – von 4 auf 3 Jahre wie früher oder, noch weitaus sinnvoller, auf 1 oder 2 Jahre. Das lehnen nicht nur die Unternehmen ab, sondern das wollen natürlich auch die eingesessenen BR-BürokratInnen in keinster Weise, müssten sie sich doch in kürzeren Intervallen zumindest einer formalen Wahl und einer gewissen Rechenschaft gegenüber der Belegschaft stellen.

Mobile Arbeit, die jetzt gesetzlich auch das Homeoffice umfasst, wird durch die Gesetzesänderung als solche mitbestimmungspflichtig – in der Ausgestaltung. Was eingeführt wird, bleibt alleinige Unternehmensentscheidung. Und selbst die Verbesserungen relativieren sich, denn schließlich waren die einzelnen Themen, die dabei eine Rolle spielen wie Lage und Erfassung der Arbeitszeit, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes, Arbeitssicherheit usw. schon bislang mitbestimmungspflichtig.

Dieser Punkt ist ebenso wie die Möglichkeit, zukünftig BR-Sitzungen auch online abzuhalten, und andere „Modernisierungen“ nicht der Brecher.

Recht und Macht

Der Kern der Gesetzesänderung sollte darin bestehen, die Gründung von Betriebsräten zu erleichtern bzw. die Verhinderung derselben zu erschweren. Das war als Dankesgeschenk an die Gewerkschaften für ihre Unterstützung der Großen Koalition gedacht.

Tatsächlich ist die Zahl der BR im Land zurückgegangen: Nur etwa 10 % der Unternehmen haben einen solchen, in diesen arbeiten etwa 40 % der Beschäftigten. Im Westen liegt die Zahl höher als im Osten, insgesamt ist sie seit Jahrzehnten rückläufig. Nur in den letzten zwei Jahren konnte sie sich leicht stabilisieren. Sicher ist, dass dies mit aggressivem Vorgehen seitens der Unternehmensführungen zu tun hat, mit der Entfernung von Beschäftigten, die eine BR-Gründung anstreben, durch Kündigung oder Abfindung.

Betriebsratsmitglieder, auch Ersatzmitglieder und KandidatInnen, sowie diejenigen, die als Wahlvorstände eine Wahl initiiert haben, können allerdings auch bisher nicht einfach gekündigt werden: Sie genießen einen Schutz durch ihre Funktion und ein Betriebsrat als Institution kann Kündigungen als solche zwar auch nicht verhindern, aber erschweren. Und hier gibt es die einzige kleine Änderung: Auch die InitatorInnen von BR-Wahlen erhalten zukünftig einen gewissen Schutz. Für den Kampf gegen Union-Busting reicht das nicht.

Union-Busting

Mit den Angriffen auf Betriebsräte wird oft gleichzeitig gewerkschaftliche Arbeit be- und verhindert, denn jede/r Beschäftigte darf zwar Mitglied einer Gewerkschaft sein, wenn aber GewerkschafterInnen im Betrieb ohne BR aktiv werden, verfügen sie über keinerlei effektiven Schutz. Unter AktivistInnen ist deshalb der US-amerikanische Begriff des „Union-Busting“, der gezielte Angriff auf Betriebsräte und Betriebsratsgründungen, auch für Deutschland übernommen worden, auch wenn die rechtlichen Bedingungen komplett anders liegen.

Die Methoden der „BusterInnen“ reichen von Einschüchterung der Belegschaft, „Rauskaufen“ von AktivistInnen bis hin zu Unterschieben von Diebstahl, Arbeitszeitbetrug oder physischen Übergriffen. Dabei kommt den Firmen zugute, dass selbst kleine Verfehlungen, die im zivilen Leben, wenn überhaupt, dann geringfügig bestraft werden, in der Arbeitsrechtsprechung ein „zerrüttetes Vertrauen“ darstellen, das einen Verlust des Arbeitsplatzes rechtfertigt.

Der bürgerliche Staat schützt das Recht des Kapitals auf Ausbeutung nicht nur im individuellen Arbeitsverhältnis, sondern untermauert die Machtverhältnisse auch im kollektiven Arbeitsrecht. Es gibt in Deutschland keine staatlichen Institutionen, die kontrollieren, ob die zugunsten der Beschäftigten geltenden Gesetze und Vorschriften in den Betrieben eingehalten werden. Das wird aber explizit den BR überlassen und zu ihrer Kernaufgabe erklärt (BetrVG §80 Abs 1). Aber es gibt keine Pflicht für die Unternehmen, BR einzuführen. Das wird dem jeweiligen betrieblichen Kräfteverhältnis überlassen und die Strafen für die Behinderungen von Betriebsratswahlen bzw. der Arbeit von BR sind lächerlich. In einem Brief an Heil hatten deshalb im Vorfeld GewerkschafterInnen und  JuristInnen im Aufruf „Betriebsräte effektiv stärken!“ folgende Forderungen aufgestellt:

„1. Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität/Sonderabteilungen für Arbeitsbeziehungen! Für effektive Aufklärung und Strafverfolgung krimineller Unternehmer und ihrer auf Union Busting spezialisierten Dienstleister (Rechtsanwälte, Detekteien). Hier geht es um einen Komplex, der neben Betriebsratsbehinderung regelmäßig andere Straftaten umfasst wie Diskriminierung, Prozessbetrug, Anstiftung und Verabredung zu Straftaten, juristische Nachstellung (Stalking), Nötigung, Bestechung, Ausspähung (Verletzung der informationellen Selbstbestimmung).

Oft werden Betriebsräte auch deshalb unterdrückt, weil Unternehmen die Aufdeckung anderer Delikte befürchten wie Sozialabgabenbetrug, Steuerhinterziehung, Verstoß gegen Mindestlohn, Arbeitsschutz + Arbeitszeiten etc.

2. Erklären Sie Betriebsratsbehinderung zum Offizialdelikt! Dadurch steigt das Strafmaß und somit das Verfolgungsinteresse der Staatsanwaltschaften. Offizialdelikte müssen im Gegensatz zu Antragsdelikten vom Staat verfolgt werden, sobald Kenntnis besteht. Bislang kann Betriebsratsbehinderung nur durch den betroffenen Betriebsrat oder eine vertretene Gewerkschaft angezeigt werden.

Auf Betriebsratsbehinderung steht derzeit dieselbe Strafe wie auf Beleidigung. Doch Union Busting ist kein Kavaliersdelikt. Union Busting ist gegen das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit am Arbeitsplatz gerichtet und damit verfassungsfeindlich.

3. Führen Sie ein verpflichtendes Melderegister für Betriebsratswahlen ein! Die genaue Zahl der Betriebsräte und Betriebsratsgründungen in Deutschland ist ebenso unbekannt wie ihre Entwicklung oder ihr Scheitern. Bislang gibt es nur grobe Schätzungen aufgrund von Stichproben. So sollen laut IAB nur noch ca. 9 % aller wahlberechtigten Betriebe mit fünf oder mehr Angestellten einen Betriebsrat haben. Doch der Befund ist umstritten und vermutlich zu optimistisch. Es fehlen genaue, empirische Daten … “

Diese Forderungen sind richtig und unterstützenswert und der ganze Zusammenhang zeigt deutlich, dass diese Bundesrepublik ein Staat zum Schutz der Klassenherrschaft des Kapitals ist, in der die Rechte der ArbeiterInnenklasse immer nur bedingt sind. Deshalb reichen auch die demokratischen und rechtsstaatlichen Forderungen dieser Unterschriftensammlung nicht aus.

Die Grenzen der Betriebsverfassung

Laut Betriebsverfassungsgesetz sollen Betriebsräte das Wohl der Beschäftigten und des Betriebes im Auge haben – je zugespitzter der Klassenkampf, desto unmöglicher wird die Aufgabe, eine Form gesetzlich verordneter Klassenzusammenarbeit zu erfüllen, und desto untauglicher werden auch die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der BR.

Zweitens handeln BR als Stellvertreter, nicht als Organisatoren der Belegschaft. Die Mitwirkungsmöglichkeiten, die selbst dieses Gesetz hergibt, werden von ihnen regelmäßig nicht genutzt und die Belegschaften vor vollendete Tatsachen gestellt. In der Praxis platzieren sie sich eher als VermittlerInnen zwischen Management und Beschäftigte.

Beschäftigte und Belegschaften müssen deshalb weiterhin auch gewerkschaftliche Strukturen in den Betrieben (Betriebsgruppen, Vertrauensleute) aufbauen und direkte und demokratische Organisationsformen finden, wenn sie in den Kampf gehen wollen oder müssen. Aktions- und Streikkomitees auf betrieblicher oder überbetrieblicher Ebene sind dort nötig, wo die gesetzliche Vertretung verwehrt wird, aber auch dort, wo sie existiert und dieser gesetzliche Rahmen nicht ausreicht.

Klassenzusammenarbeit in der Praxis

Die DGB-Gewerkschaften haben die Forderungen des zitierten offenen Briefes nicht unterstützt. Der Apparat verkauft die gesetzlichen Reformen lieber als großartigen Verhandlungserfolg. Natürlich kommentieren die BürokratInnen die Gesetzesänderung in dem Sinne, dass sie einen Fortschritt darstelle, aber mehr folgen müsse. Den Preis, die verschärfte Ausbeutung der SaisonarbeiterInnen, ignorieren sie bei dieser Bewertung natürlich. Es geht ihnen darum, die sozialpartnerschaftlichen, rein gewerkschaftlichen und reformistischen Illusionen aufrechtzuerhalten: Die Große Koalition – die Zusammenarbeit mit der Regierung, mit CDU und SPD – habe etwas gebracht, wir bräuchten wieder eine solche Konstellation. Weiter so, Deutschland!

Diese Klassenzusammenarbeit auf politischer Ebene entspricht der Zusammenarbeit im Betrieb auf der praktischen Grundlage des BetrVG. In den Großbetrieben übernehmen die BR meist eine Ordnungsfunktion im Sinne des Kapitals. Alle Konflikte sollen möglichst ohne Störung der Mehrwertproduktion gelöst werden. Diese Orientierung der BR, die von den Gewerkschaften getragen wird, muss sich natürlich immer wieder als im Interesse der Betroffenen darstellen.

Das Tagesgeschäft der meisten BR besteht unter den aktuellen Bedingungen letztlich darin, aus jedem Angriff des Kapitals immer noch „das Beste“ zu machen und beispielsweise Entlassungen „sozial“ zu gestalten durch Altersteilzeit oder Transfergesellschaften. Oder darin, die Leiharbeit nicht zu verhindern, aber einen betrieblichen oder branchenweiten Zuschlag zu vereinbaren, der das Ganze noch immer lukrativ für das Kapital und die Leiharbeitenden willfährig macht, da sie ihren Job in dieser Firma nicht verlieren wollen, und die Stammbelegschaft durch diese willfährigen Leiharbeitenden unter Druck setzt.

Diese Ordnungsfunktion

Diese Zusammenarbeit, die letztlich immer im Interesse des Kapitals erfolgt, geht so weit, dass unliebsame GewerkschafterInnen und Betriebsratsmitglieder in trauter Eintracht von Kapital und Betriebsratsspitze entlassen werden. So wurde der IG Metall-Betriebsrat Karsten vom Bruch bei Bosch in Stuttgart unter einem Vorwand entlassen, genau zu dem Zeitpunkt, als er als Softwareentwickler die Beteiligung von Bosch an der Entwicklung der Abgasbetrugssoftware innerbetrieblich zur Sprache brachte.

Der Betriebsrat Adnan Köklü aus Salzgitter wurde entlassen, als er mehr Transparenz forderte. Die Stellungnahme des BR-Vorsitzenden Cakir spricht für sich: „Herr Köklü hat in den vergangenen Monaten nichts unversucht gelassen, durch wahrheitswidrige Unterstellungen und eine gezielte Verleumdungskampagne einzelne Betriebsratsmitglieder und den Betriebsrat in Gänze zu diffamieren.“

Und weiter im Artikel auf regionalheute.de: „Belege für seine Behauptungen habe er hingegen keine. Ein Ausschlussverfahren aus dem Betriebsrat wurde beim Arbeitsgericht Braunschweig beantragt, da eine Zusammenarbeit mit ihm ‚unzumutbar’ sei. Eine Entscheidung wird bei der Verhandlung am Mittwoch gefällt werden. Mehrere Abmahnungen haben inzwischen zu einer außerordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung Köklüs geführt, da sein Verhalten ‚betriebsschädigend’ sei. ‚Von Mobbing durch den Betriebsrat kann nicht ansatzweise die Rede sein’, heißt es in der Stellungnahme Cakirs. Auf diese Weise würden Täter als Opfer dargestellt werden.“

Die Logik des BR-Vorsitzenden Cakir: Wir mobben nicht, wir unterstützen die Entlassung. Die einzige glaubwürdige Tat – eine unabhängige Untersuchungskommission einzurichten – kommt diesem Bürokraten genauso wenig in den Sinn wie der Mehrheit der Bosch-Betriebsratsmitglieder in Stuttgart. Beide Kollegen haben übrigens erfolgreich gegen ihre Kündigungen geklagt.

Das Beispiel zeigt: Union-Busting geht auch von Betriebsratsbossen aus, deren letztlich gewerkschaftsschädigendes Verhalten von der Gewerkschaft nicht in Frage gestellt wird. Leider scheuen viele Initiativen, die gegen Union-Busting und Behinderung von BR-Arbeit aktiv sind, die Fälle anzusprechen, wo dies mit Unterstützung von BR-FürstInnen geschieht und mit Unterstützung oder Duldung durch GewerkschaftsfunktionärInnen.

Der Kampf für mehr Rechte der Beschäftigten, für Gewerkschaften und Betriebsräte gegen Kapital und Staat muss daher einhergehen mit einem konsequenten Eintreten gegen diejenigen, die diese Rechte missbrauchen, als Privilegien der Bürokratie nutzen und damit unterminieren.