Palästina: Schlüsselaufgaben für den Widerstand und die Solidaritätsbewegung

Liga für die Fünfte Internationale, 3. Juni 2021, Neue Internationale 256, Juni 2021

Die massive Reaktion des palästinensischen Massen auf die israelischen Siedler- und Polizeiprovokationen in Sheikh Jarrah und an der al-Aqsa-Moschee, die anschließende Bombardierung des Gazastreifens und der politische Sieg des Widerstandes, der die israelische Regierung und die IDF zu einem Waffenstillstand zwingen konnte, haben zu einem politischen Raum für die Befreiungsbewegung geöffnet.

Globale Einheit

Weltweit gingen Millionen auf die Straße in Solidarität mit den Unterdrückten. In Palästina selbst erhoben sich die Massen in allen Teilen des Landes, im Westjordanland, in Ostjerusalem, in Israel und im Gazastreifen sowie wie in der Diaspora in den arabischen Ländern oder im Westen. Wir wurden ZeugInnen eines vereinten Widerstands in einem Ausmaß, wie man es seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, was eine neue Entschlossenheit an der Basis widerspiegelt. Darüber hinaus markierte der Generalstreik eine neue, gemeinsame Aktion von ArbeiterInnen und KleineigentümerInnen. Vor allem aber betrat eine neue Generation kämpferischer Jugendlicher die politische Bühne.

Das schiere Ausmaß der Mobilisierungen stellte bestehende Vorstellungen von dem, was möglich ist, in Frage und warf Fragen nach den zukünftigen Zielen, der Strategie und Taktik der Bewegung auf. Kurzum, es erhob und erhebt sich die Frage nach einem Kampfprogramm. Die Aussicht, dass eine neue Vorhut entsteht, ist besonders wichtig, da sie die Möglichkeit eröffnet, die Führungskrise zu überwinden, die die gesamte palästinensische Nation lange Zeit heimgesucht hat. Diese neue Avantgarde kann zur Basis einer neuen Führung der ArbeiterInnenklasse werden, die den nationalen, demokratischen Kampf mit der sozialistischen Transformation verbinden kann; mit dem Ziel, einen einheitlichen Säkularen, demokratisch und sozialistisch Staat zu schaffen.

Während die Hamas und einige der anderen entschlosseneren Kräfte sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken sicherlich ihr Prestige und ihre Unterstützung gesteigert haben, wäre es falsch, dies als stabile, unerschütterliche politische Loyalität oder umfassende Zustimmung zu betrachen. Die Hamas und andere Kräfte haben vor allem von dem völligen Versagen der Fatah-Mehrheit und der Palästinensischen Nationalen Autonomiebehörde (PNA) profitiert, irgendeine Führung gegen die Strategie der israelischen Regierung von Vertreibungen und Siedlungen anzubieten. Im Gegenteil, ihre eigene Verhandlungsstrategie für das Hirngespinst einer Zweistaatenlösung hat sie zu nichts anderem als KollaborateurInnen gemacht, nicht nur mit dem US- und EU-Imperialismus und reaktionären arabischen Regimen wie Ägypten, sondern mit dem zionistischen Staat selbst.

Im Vergleich dazu hat der Heroismus der KämpferInnen der Hamas und des Islamischen Dschihad, der Volksfront zur Befreiung Palästinas, PFLP, und des radikaleren Flügels der Fatah natürlich die Massen inspiriert und ihre Autorität gestärkt. Dennoch verfügen auch sie weder über eine Strategie noch erfolgreiche Methoden des Kampfes, die die Befreiung des palästinensischen Volkes erringen können.

Generalstreik

Der Generalstreik war in erster Linie ein Ergebnis des Drucks der Massen in Richtung auf die Methoden der Massenaktion der ArbeiterInnenklasse, die alle unterdrückten Klassen und Schichten der palästinensischen Nation hinter sich vereinte. Er markierte einen klaren Bruch mit den bevorzugten Methoden sowohl der IslamistInnen als auch der säkularen nationalistischen und linksnationalistischen/stalinistischen Kräfte. Die Formen der Selbstorganisation von unten, der lokalen Koordination des Streiks auf kommunaler Ebene, zeigen den Weg nach vorn und das Potenzial für eine neue Intifada, die auf der Massenaktion der ArbeiterInnenklasse fußt und allen unterdrückten Teilen der palästinensischen Gesellschaft eine Führung bietet.

Die letzten Wochen haben auch beträchtliche Spaltungen innerhalb des zionistischen Lagers offenbart, und diese werden mit dem Strategiewechsel der USA und anderer westlicher Mächte wahrscheinlich noch zunehmen. Netanjahu mag durch eine prinzipienlose Koalition von der extremen Rechten bis zu vermeintlichen Linken aus dem Amt entfernt werden und dies mag kurzfristig eine Neuwahl vermeiden, aber es wird die innere politische Krise des israelischen Staates nicht beenden.

Während der Waffenstillstand wahrscheinlich für das nächste Jahr, vielleicht auch länger, halten wird, werden alle grundlegenden Probleme ungelöst bleiben, auch wenn die USA und die EU sowie regionale Mächte wie Ägypten versuchen werden, den Druck für eine weitere Runde von Pseudoverhandlungen über eine „Zweistaatenlösung“ zu erhöhen. Es ist auch gut möglich, dass es über Ägypten und einige Finanzmittel von imperialistischen oder arabischen Staaten Versuche geben wird, die Hamas einzubinden und zu befrieden.

Wie weit die Lösung eines der grundlegenden Probleme entfernt ist, zeigt sich an den anhaltenden Kämpfen in der Westbank, in Ostjerusalem und in Israel selbst. Es gab große Zusammenstöße zwischen PalästinenserInnen, die ihre Häuser auf den Straßen verteidigten, und der Polizei und den rechten zionistischen Kräften. Die Aufgabe besteht nun darin, diesen Massenkampf gegen Zwangsräumungen und für gleiche Rechte fortzusetzen und zu verallgemeinern.

Die wichtigsten Forderungen sind:

  • Beendet die Vertreibung von PalästinenserInnen aus ihren Häusern in Ostjerusalem und der Westbank durch rechte SiedlerInnen und Mobs, von der Polizei und israelischen Gerichten unterstützt werden!
  • Reißt die Apartheidmauer ab! Beendet die Blockade des Gazastreifens und die Grenzkontrollen zum Westjordanland! Für das Recht auf Freizügigkeit für alle PalästinenserInnen zwischen allen Sektoren ihres historischen Heimatlandes, einschließlich der Flüchtlinge in anderen Ländern!
  • Abzug aller israelischen Streitkräfte aus dem Westjordanland und von der Grenze zu Gaza!
  • Massive Hilfe ohne Bedingungen für den Bau von Wohnungen, Schulen, Krankenhäusern, bezahlt von den imperialistischen Staaten! Kontrolle der Verteilung der Gelder durch Komitees von ArbeiterInnen und BäuerInnen, kleinstädtischen KleinbürgerInnen und Mittelschichten in den Städten und Gemeinden!
  • Volle und gleiche Rechte, einschließlich Staatsbürgerrechte, für alle, die im historischen Palästina leben! Abschaffung des rassistischen israelischen Staatsbürgerschaftsgesetzes! Abschaffung aller Gesetze, die die arabische Staatsbürgerschaft diskriminieren! Rückkehrrecht für alle PalästinenserInnen!
  • Sofortige und bedingungslose Freilassung aller palästinensischen politischen Gefangenen!

Diese und andere unmittelbare demokratische Forderungen werden nicht durch Verhandlungen durch die Hintertür zwischen dem israelischen Staat und der PNA, vermittelt durch arabische Regime und imperialistische Mächte, gewährt werden. Sie müssen durch Massenkämpfe errungen werden.

Massenbewegung und Aktionskomitees

Wir brauchen Massendemonstrationen, Proteste, Besetzungen und Streiks, aufbauend auf den Erfahrungen und Formen der Selbstorganisation, die in der letzten Periode entwickelt wurden, insbesondere durch die Organisation des politischen Massenstreiks im Mai. Der Kampf muss von lokalen Aktions- und Streikkomitees in den Betrieben geführt und organisiert werden. Massenaktionen und Streiks müssen von Selbstverteidigungsorganisationen gegen rechte SchlägerInnen, bewaffnete SiedlerInnen und israelische Streitkräfte geschützt werden. Die Sicherheitskräfte der PNA müssen von diesen Aktionskomitees kontrolliert und reorganisiert werden, damit sie Teil eines Selbstverteidigungssystems unter der Kontrolle der palästinensischen Massen werden und nicht eines Apparates unter der Kontrolle ihrer FeindInnen.

Solche Aktionskomitees müssen lokal und in ganz Palästina zentralisiert werden, um eine Führung für den Befreiungskampf zu schaffen, die gewählt, abwählbar und den Massen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Unter deren Kontrolle sollte auch eine verfassunggebende Versammlung einberufen werden, um das Demokratiedefizit der PNA zu überwinden und die zukünftige demokratische und soziale Ordnung der palästinensischen Nation zu diskutieren und zu bestimmen.

Utopie Zweistaatenlösung

Die Entwicklung hat eine Zweistaatenlösung zu einer völligen Utopie gemacht. Dies spiegelt sich auf seine Weise in den zentralen Forderungen der aktuellen Bewegung wider, die auf gleiche Rechte in einem Staat abzielen. Diese würden die Auflösung der eigens definierten jüdisch-israelischen Staats selbst und seine Ersetzung durch einen bi-nationalen Staat bedeuten. Keineswegs würde das die Existenz der jüdisch-israelischen Nationalität in Frage stellen. Viele Staaten beherbergen mehr als eine Nation in sich. Aber das „Existenzrecht“ eines israelisch-jüdischen Staates auf Land, das der palästinensischen Nation gestohlen wurde, ist kein demokratisches Recht oder kein Ausdruck von Selbstbestimmung. Es kann kein demokratisches „Recht auf Existenz“ für einen rassistischen Staat geben, der darauf angewiesen ist, die PalästinenserInnen unerbittlich ihres Landes und ihrer demokratischen Rechte zu berauben. Deshalb kann der israelische Staat nicht reformiert, sondern muss aufgelöst und durch einen säkularen, demokratischen, binationalen Staat ersetzt werden.

Die gegenwärtige politische Krise des Zionismus sowie die wachsende soziale Ungleichheit innerhalb Israels selbst können auch das Terrain dafür liefern, die ideologische und soziale Einheit des Zionismus zu brechen. Ein Massenaufstand, eine dritte Intifada, angeführt von der palästinensischen ArbeiterInnenklasse in allen Teilen des Landes, mit Massenaktionen und politischen Massenstreiks kann diese Spaltungen vertiefen und den zionistischen Block entlang der Klassenlinien aufbrechen. Das bedeutet eindeutig, dass die kleinen, aber wichtigen antizionistischen Kräfte innerhalb Israels selbst unerbittlich gegen die zionistische Einheit anrennen müssen. Die Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes ist nicht nur eine moralische und internationalistische Pflicht der ArbeiterInnen der unterdrückenden Nation, sie ist auch eine Voraussetzung für ihre eigene Befreiung von ihrer Klassenausbeutung durch die israelische Kapitalistenklasse.

Das wirft die Frage auf, wie die unterschiedlichen sozialen und demokratischen Forderungen zwischen den Nationen realisiert werden können. Um einen gerechten und friedlichen binationalen Staat mit gleichen Rechten für alle zu erreichen, darf der Kampf um die Befreiung nicht mit dem um demokratische Forderungen enden. Die Aktionsräte müssen auch die brennenden sozialen Fragen ansprechen, die Sicherung von Arbeitsplätzen, Löhnen, Renten und sozialen Dienstleistungen. Sie müssen die Notwendigkeit eines Programms für gesellschaftlich nützliche Arbeit ansprechen, der Kontrolle der Arbeiterklasse an den Arbeitsplätzen, in den Fabriken. Sie müssen die Landfrage und die der Kontrolle über die natürlichen Ressourcen Palästinas aufwerfen.

Permanente Revolution

Um die demokratischen Forderungen der palästinensischen Massen zu verwirklichen und um einen Keil in das zionistische Lager zu treiben und Teile der jüdischen ArbeiterInnenklasse zu gewinnen, muss ein Programm zur Befreiung die wichtigsten Produktionsmittel in öffentliches Eigentum überführen. Die großen Finanzinstitutionen, die Banken, die großen Unternehmen müssen entschädigungslos enteignet werden. Das Land muss verstaatlicht und von denen kontrolliert werden, die es bebauen und dies auch weiterhin tun wollen.

So wie zwei Individuen nicht beide über exklusives Privateigentum an etwas verfügen können, können auch nicht zwei Völker beide exklusives Eigentum an einem Territorium besitzen. Die einzige fortschrittliche Lösung ist das Gemeineigentum, das heißt die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Deshalb ist unser Programm für Palästina die permanente Revolution, die zweifellos mit dem Kampf für demokratische Rechte, der Intifada, beginnen wird, aber nur durch sozialistische Maßnahmen endgültig erfüllt werden kann.

Dieser Kampf für ein sozialistisches Palästina, für einen binationalen ArbeiterInnenstaat, ist selbst Teil dessen für eine sozialistische Revolution in der gesamten Region, für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine politische Partei der ArbeiterInnenklasse notwendig, die dafür kämpft, dem Befreiungskampf auf der Grundlage des Programms der permanenten Revolution die Führung zu geben. Um dies zu erreichen, müssen sich die palästinensischen und die jüdischen antizionistischen ArbeiterInnen und Linken in einer revolutionären Partei vereinigen, die eine politische Alternative zur Irreführung durch reaktionäre islamistische, bürgerlich-nationalistische und kleinbürgerliche Guerillakräfte bieten kann.

Internationale Solidarität

Der Aufbau einer internationalen Solidaritätsbewegung wird der Schlüssel sein, um die Rückendeckung des zionistischen Staates, einer privilegierten Halbkolonie des US-Imperialismus, herauszufordern.

Die gigantischen Bewegungen in den USA und Großbritannien sowie radikalere direkte Aktionen gegen Rüstungskonzerne zeigten das enorme Potenzial, die palästinensischen Massen in der Diaspora, antizionistische und demokratische Kampagnen der jüdischen Gemeinschaft wie Jewish Voice for Peace, die sozialistische Linke, Gewerkschaften, linke Parteien und die Bewegungen der Unterdrückten wie Black Lives Matter zu vereinen.

In Ländern wie Deutschland, wo die Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse die Unterdrückung des palästinensischen Volkes und die Politik „ihres“ Imperialismus unterstützen, müssen wir uns dafür einsetzen, dass diese Organisationen mit dieser Politik brechen und sich auf die Seite der Unterdrückten stellen. Wo Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien Positionen der Solidarität mit den palästinensischen Massen eingenommen haben, müssen wir sicherstellen, dass ihren Worten Taten folgen. Es ist klar, dass die globale Solidaritätsbewegung sich so organisieren muss, dass sie in Koordination mit der Widerstandsbewegung in Palästina selbst handeln kann. Dafür schlagen wir die folgenden Forderungen vor, die in den imperialistischen Ländern errungen werden müssen:

  • Widerlegt die Lüge, dass Antizionismus eine Form von Antisemitismus ist! Unser Antizionismus ist antirassistisch, demokratisch und internationalistisch. Er hat nichts mit Antisemitismus oder Rechten gemein, die versuchen, sich als AntizionistInnen auszugeben. Letztlich spielen sie dem Imperialismus und Zionismus in die Hände. Antisemitismus hat keinen Platz in einer echten, demokratischen Solidaritätsbewegung mit dem palästinensischen Volk!
  • Hände weg von der BDS-Kampagne und allen anderen Solidaritätskampagnen für Palästina!
  • Volle demokratische Rechte für alle palästinensischen politischen Organisationen und Vereine! Abschaffung aller sogenannten „Anti-Terror-Listen“ der USA, der EU oder anderer Mächte!
  • Für Boykotts durch direkte Aktionen der ArbeiterInnenklasse gegen Staaten und Unternehmen, die die israelische Kriegsmaschinerie unterstützen! Die italienischen und südafrikanischen Gewerkschaften haben gezeigt, dass dies die Art von Aktion ist, die den israelischen Staat wirklich treffen kann.
  • Beendigung aller finanziellen und militärischen Unterstützung des israelischen Staates durch die Westmächte!
  • Massive finanzielle Hilfe und Unterstützung ohne Auflagen für den Wiederaufbau der Infrastruktur, des Gesundheits- und Bildungssystems, einschließlich eines Impfprogramms, in Gaza und im Westjordanland, bezahlt von den imperialistischen Mächten!



Palästina: Antizionismus = Antisemitismus?

Martin Suchanek, Neue Internationale 256, Juni 2021

Der jüngste Krieg Israels gegen die palästinensische Bevölkerung brachte eine weltweite, jugendlich geprägte Solidaritätsbewegung mit Palästina hervor. Und – wenig überraschend – sahen sich hierzulande jene Kräfte, die den zionistischen Staat oder auch nur seine als „Selbstverteidigung“ verbrämte militärische Aggression ablehnen, schon bald wieder mit dem diffamierenden Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert.

Zweck

Dabei ist die altbekannte Gleichsetzung des Antizionismus (Ablehnung des israelischen Staates wenigen seines rassistischen Charakters) mit dem Antisemitismus politisch falsch und gefährlich. Sie lenkt einerseits ab vom erstarkenden, wirklichen Antisemitismus einer Rechten, die sich letztlich in die Geschichte der Shoa (Holocaust) einreiht und den eliminatorischen Antisemitismus stets als Keim in sich trägt.

Andererseits fungiert der Vorwurf des Antisemitismus als starkes, einschüchterndes und mundtot machendes Werkzeug gegen alle, die sich solidarisch mit antiimperialistischen Befreiungskämpfen zeigen, ein Instrument aller proimperialistischen Kräfte, von antideutschen Pseudolinken bis hin zur AfD. Weiterhin impliziert die Gleichsetzung auch die Identifikation von Jüdinnen und Juden mit dem zionistischen Staat Israel im Generellen – eine Gleichsetzung, die wir wiederum für diffamierend bis antisemitisch halten, gerade gegenüber jener großen Zahl Juden und Jüdinnen, die die Politik Israels oder auch den Zionismus ablehnen.

Anlassbezogen wollen wir hier nun ein weiteres Mal kurz darstellen, was eigentlich der Kern des Zionismus ist und inwiefern er für die israelische ArbeiterInnenklasse selbst ein Hindernis darstellt.

Der Zionismus

Was sind die zentralen Ideen des Zionismus? Angesicht des aufkommenden Antisemitismus im Wechsel zum 20. Jahrhundert (Dreyfus-Affäre in Frankreich, Pogrome im zaristischen Russland) ging der Haupttheoretiker der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, davon aus, dass sich Jüdinnen und Juden in Europa nicht assimilieren oder integrieren könnten und auf ewig unterdrückt und bedroht sein würden.

Daraus zog er den Schluss, dass nur ein eigener jüdischer Nationalstaat eine sichere Existenz bieten könne. Dies bedeutete aber auch, dass der Zionismus von Beginn an eine Absage an den Klassenkampf gegen den Kapitalismus und dessen Unterdrückung, Rassismus darstellte. Das Ziel eines eigenen Staates versuchte der Zionismus, lange Zeit eine Minderheitsströmung in den jüdischen Gemeinden, mit Hilfe imperialistischer Kolonialmächte und seiner Agenturen wie z. B. Völkerbund zu erreichen.

Lange Zeit stellte er eine Minderheitsströmung in den jüdischen Gemeinden dar. Die systematische Unterdrückung, Pogrome und der industrielle Massenmord an 6 Millionen Juden und Jüdinnen sowie das politischen Versagen der ArbeiterInnenbewegung, Nazi-Diktatur und Shoa zu verhindern, veränderten auch die Einstellungen im jüdischen Volk.

Die Tragik des Zionismus besteht nun darin, dass er auf die Rettung durch den Imperialismus innerhalb der kapitalistischen Ordnung setzt. Die Gründung Israels war von Beginn an nur durch die Hilfe des Imperialismus, anfangs v. a. des britischen und nach 1945 des US-amerikanischen, möglich und denkbar.

Der Zionismus ist eine nationalistische Ideologie. Der israelische Staat ist ein rassistischer, expansionistischer, der sich auf der Vertreibung und Entrechtung der PalästinenserInnen gründet und diese permanent fortführt. Schon vor und besonders seit Gründung des Staates Israel wurden und werden die PalästinenserInnen unterdrückt, vertrieben und terrorisiert; das Recht auf Rückkehr wird den Vertriebenen verwehrt. Der Zionismus wurde zur Ideologie eines rassistischen Staates.

Die besetzten Gebiete werden auch im „Frieden“ in allen zentralen Aspekten (Handel, Währung, Versorgung, Grenzregime) von Israel und seiner Armee kontrolliert. Auch die PalästinenserInnen in Israel sind nur BürgerInnen zweiter Klasse, deren Zugang zum öffentlichen Dienst und deren Bürgerrechte eingeschränkt und die auch sozial unterprivilegiert sind. Der vielgepriesenen Zweistaatenlösung hat Israel längst eine reale Absage erteilt, indem es seine eigene Einstaatenlösung realisiert.

Zionismus und ArbeiterInnenklasse

Ohne permanente Unterstützung durch imperialistische Länder sowie private SpenderInnen könnte sich der Staat ökonomisch, politisch und militärisch nur schwer halten. Der zionistische Staat ist daher alles andere als ein auf ewig sicheres Bollwerk für das jüdische Volk. Er ist ein Vorposten des westlichen Imperialismus und von diesem abhängig. Die zionistische Ideologie legitimiert nicht nur die Unterdrückung der PalästinenserInnen, sie ist zugleich ein Mittel, die jüdische ArbeiterInnenklasse an der Seite der eigenen Ausbeuterklasse zu halten.

Diese Bindung oder die Unterstützung für die Kriegspolitik findet ihre sozialen und politisch-ideologischen Wurzeln in einer starken ArbeiterInnenaristokratie und der Vorherrschaft des Zionismus in praktisch allen gesellschaftlichen Institutionen.

Solange die jüdische ArbeiterInnenklasse aber nicht mit der Loyalität zum „eigenen“ Staat bricht, wird sie sich weder von der eigenen Klassenunterdrückung und verschärften Ausbeutung befreien noch wirklich geschwisterliche Beziehungen zu den arabischen ArbeiterInnen und BäuerInnen entwickeln können.

Der Antizionismus ist daher keinesfalls eine politische Position, die nur für AntiimperialistInnen auf der ganzen Welt und für die arabischen Massen wichtig und richtig ist. Letztlich muss sie auch zur Position der jüdischen ArbeiterInnen in Israel und auf der ganzen Welt werden.

Der zionistische Staat ist ein Hindernis auf dem Weg zur Befreiung. Er muss zerschlagen und durch einen gemeinsamen, binationalen ArbeiterInnenstaat ersetzt werden, der den jüdischen und palästinensischen ArbeiterInnen und BäuerInnen ein gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben ermöglicht: einen Staat also, der auf anderen sozialen Grundlagen als der jetzige kapitalistische fußt – auf einer demokratischen Planwirtschaft und der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse als Teil einer sozialistischen Staatenföderation im gesamten Nahen Osten.




Völkermord an Ovaherero und Nama: Selbstgerechtes Land der Täter

Robert Teller, Neue Internationale 256, Juni 2021

Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt wieder Verantwortung in der Welt. Das tat auch bereits ihr völkerrechtlicher Vorläufer, das Deutsche Reich. 1884-1885 hielt Otto von Bismarck die „Berliner Konferenz“, auch Kongokonferenz genannt, ab. Eingeladen waren jene Mächte, die sich an der „Zivilisierung Afrikas“ beteiligen wollten oder dies bereits taten. Bekannt ist, dass der deutsche Imperialismus dabei keine nachhaltigen Erfolge feiern konnte. Nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Vertrag 1919 nicht nur das deutsche Kolonialreich vollständig unter die Siegermächte aufgeteilt, sondern auch „Deutschlands Versagen auf dem Gebiet der kolonialen Zivilisation“ vertraglich festgehalten. Als moralische Instanz kam Deutschland auch in den folgenden 100 Jahren nicht wieder auf die Beine.

Die etwa 3 Jahrzehnte deutscher Kolonialherrschaft in Afrika waren von zahllosen Aufständen und blutigster Repression durch die deutschen Truppen geprägt. Im damals „Deutsch-Südwestafrika“ genannten heutigen Namibia gipfelte dies in der Ermordung der Mehrheit der Ovaherero (auch als „Herero“ bezeichnet) und einer enormen Zahl von Angehörigen der Nama und anderer Bevölkerungsgruppen. Zu den berüchtigtsten deutschen Gräueltaten in Afrika gehört die „Schlacht am Waterberg“ ab dem 11. August 1904. Etwa 60.000 Ovaherero wurden von Einheiten der deutschen „Schutztruppe“ unter Befehl von Generalleutnant Lothar von Trotha umzingelt. Den Ovaherero gelang der Ausbruch aus dem Kessel und damit zunächst die Flucht. Die deutschen Truppen verfehlten den von der militärischen Führung erwarteten „vollständigen Sieg“ über die Aufständischen und die bei ihnen versammelten unbewaffneten Angehörigen. Unvorbereitet auf einen längeren Kampf in der unwirtlichen Landschaft entschied sich von Trotha, die Ovaherero in der Wüste Omaheke zu isolieren und ihnen den Zugang zu Wasserstellen zu verwehren. Wenigen gelang die Flucht ins britische Kolonialgebiet, viele verdursteten. Die Ermordung der flüchtenden Ovaherero ordnete von Trotha explizit am 2. Oktober in seiner als „Vernichtungsbefehl“ berüchtigt gewordenen Bekanntmachung an. Später im Leben bilanzierte jener wie folgt: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme in Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen.“

Moral und Recht

Moral ist, wenn man moralisch ist, aber damit tut sich der deutsche Imperialismus schwer. Nachfahren der damals Ermordeten fordern seit Jahrzehnten eine offizielle deutsche Anerkennung der Verantwortung für den Völkermord, eine Entschuldigung und direkte Reparationszahlungen an Organisationen, die die damals betroffenen Bevölkerungsgruppen heute repräsentieren. Das kürzlich beschlossene Abkommen wird von den Betroffenenverbänden einhellig abgelehnt. Ein Hauptargument ist dabei die Weigerung der deutschen Regierung, sowohl ein Verhandlungsmandat dieser Organisationen als auch deren kollektiven Anspruch auf Entschädigung anzuerkennen. Verhandelt wurde von deutscher Seite aus mit VertreterInnen der namibischen Regierung, die ihrerseits ein Mitspracherecht der Verbände ablehnte. Wie der Kolonialstaat damals erfüllt insoweit auch der halbkoloniale Staat heute als historisches Erbe die Funktion, den Bevölkerungsgruppen ihre kollektiven Rechte zu verweigern.

Wünschenswert wäre vom Standpunkt des deutschen Imperialismus sicherlich eine moralische Reinwaschung. Problematisch hingehen wäre es, dabei Tür und Tor zu öffnen für die Geister der Vergangenheit, die an anderen Ecken des Kontinents noch lauern. Daher hatte sich die damalige Schröder-Bundesregierung zum runden Jubiläum 2004 entschlossen, in warmen Worten die „geteilte Geschichte“ zu bedauern und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul (SPD) zum Bußgang an den Waterberg zu schicken. In ihrer Rede vor dem gespanntem Publikum verhaspelte sie sich. Das Wort „Völkermord“ war gefallen und die Büchse der Pandora geöffnet. Seither sind die Bemühungen dieser und aller nachfolgenden bundesdeutschen Regierungen darauf gerichtet gewesen zu begründen, dass es einen kleinen, aber feinen Unterschied gibt zwischen einem Völkermord in einem historischen oder auch moralischen Sinne einerseits und im juristischen andererseits. Juristisch wurde der Völkermord nämlich erst 1948 in der UNO-Völkermordkonvention definiert und geächtet. Heißt: Von Trotha und das Kaiserreich hätten ja nicht ahnen können, dass sich ihr Völkermord einmal an derartigen Rechtsnormen würde messen lassen müssen, und somit seien sie unschuldig im Sinne der Anklage. Die Konvention zur Verhinderung des Völkermordes wird hier kurzerhand zur Grundlage seiner juristischen Rechtfertigung.

„Aussöhnung“

Hieraus ergab sich im angestrebten Aussöhnungsprozess erheblicher Gesprächsbedarf, der seit 2015 mehr als fünf Jahre Geheimverhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung erforderte. Kürzlich wurde die Einigung auf ein Aussöhnungsabkommen mit der namibischen Regierung verkündet, präsentiert von einem sich moralisch schuldbewusst gebenden Außenminister Heiko Maas. Der genaue Inhalt des Abkommens ist allerdings so gut, dass er nach wie vor von offizieller Seite geheimgehalten wird.

Laut Süddeutscher Zeitung ist jedoch bekannt, dass Punkt 10 dessen wie folgt lautet: „Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.“ So hat es die mit Worten jonglierende Diplomatie also doch vollbracht, einen Völkermord aus Sicht der TäterInnen moralisch anzuerkennen, ohne jedoch juristisch dafür belangt zu werden.

Opfer

Die Ovaherero Traditional Authorities (OTA) und die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) erklärten zu dem Abkommen:

„Das sogenannte Versöhnungsabkommen […] ist ein deutscher PR-Coup und ein Verrat durch die namibische Regierung. […] Offensichtlich hat Deutschland noch immer keine Absicht, anzuerkennen, dass von Trotha einen Völkermord im Sinne des Völkerrechts verübt hat – folglich habe Deutschland kein Verbrechen gegen die Menschheit begangen und beabsichtigt nicht, sich für irgendein Verbrechen des Völkermords zu entschuldigen – insbesondere nicht gegenüber den Nachfahren der Opfergemeinschaften!  […]

Hinter der sogenannten ,Kompensation‘ zugunsten von ,sozialen Projekten‘ verbirgt sich nur die fortgesetzte deutsche Finanzierung namibischer Regierungsprojekte wie NDP5 (Nationaler Entwicklungsplan 5) und ,Vision 2030′, wie es der Premierminister im namibischen Parlament am 16. März 2021 dargestellt hat.“

Auch das Bündnis „Völkermord verjährt nicht“ weist das Abkommen zurück und fordert eine völkerrechtliche Anerkennung des Genozids und hiermit verbundene Reparationsleistungen. Die jetzt verkündete sogenannte Entschädigung ist am Ende doch nichts anderes als die Finanzierung lokaler StatthalterInnen des Imperialismus, keine Reparation gegenüber Betroffenen.

Was bleibt, ist die Frage, warum sich die BRD überhaupt diese Blöße gibt, wenn doch die kaiserlichen Methoden des Kolonialkriegs eigentlich rechtlich unangreifbar sind. Liegt es am Ende nicht vielleicht doch eher daran, dass auch heute wieder imperiale Interessen auf dem afrikanischen Kontinent aneinandergeraten und ein schuldbewusstes „friendly face“ dabei im Wettlauf mit dem chinesischen und US-Imperialismus von Vorteil sein kann?




Sahra Wagenknecht: Selbstgerechtigkeit des Linkspopulismus

Stefan Katzer, Neue Internationale 256, Juni 2021

Nachdem es um Sahra Wagenknecht einige Zeit relativ still geworden war, ist sie nun wieder zurückgekehrt in die Talkshows und Radiosendungen der Republik. Dort präsentiert sie selbstbewusst ihr neues Buch mit dem Titel „Die Selbstgerechten – Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“.

Noch bevor sie zahlreiche Gelegenheiten dazu bekam, ihr neues „Programm“ der breiteren Öffentlichkeit zu erklären und ihre Thesen ausgiebig darzulegen, phantasierte sie sich bereits als Opfer einer „cancel-culture“, die unliebsame Meinungen unterdrücke. Die Kritik an einem vermeintlich elitär-kosmopolitischen Linksliberalismus, der durch das Verfolgen der Sonderinteressen ohnehin privilegierter Minderheiten dem Neoliberalismus in die Hände spiele und die Öffentlichkeit fest in seiner Hand hätte, nimmt in Wagenknechts neuem Buch entsprechend breiten Raum ein.

Zielsetzung

Die in Teilen der Bevölkerung vorhandenen Vorurteile gegenüber einer oft nur verzerrt dargestellten Identitätspolitik aufgreifend, unternimmt Wagenknecht darin den Versuch, ihr populistisches Projekt eines „linken Konservatismus“ zu begründen. Hierfür will sie WählerInnen aus allen Klassen und gesellschaftlichen Schichten gewinnen.

Strategisch geht es Wagenknecht darum, ehemalige LINKE-WählerInnen von der AfD zurückzuholen sowie die gesellschaftliche Linke und bisherige NichtwählerInnen für ihr Programm zu mobilisieren. Die Linke solle dadurch endlich (wieder) politik- und regierungsfähig werden, eigene Mehrheiten erringen und die Politik umsetzen, die von einer Mehrheit der Bevölkerung ohnehin befürwortet werde (Einführung einer Vermögenssteuer, höherer Mindestlohn etc.). Wagenknecht bemüht sich dabei auch um jenen Teil der SPD, den sie der „traditionellen Linken“ zurechnet. Ihr politisches Versprechen lautet, sich um die Belange der „normalen“, hart arbeitenden Teile der Bevölkerung zu kümmern.

Der Kampf für die Interessen dieser Teile der Klasse ist für RevolutionärInnen selbstverständlicher, integraler Bestandteil des Klassenkampfes. Der Kampf für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse usw. muss Bestandteil eines jeden (revolutionären) linken Programms sein. Angesichts der bereits stattfindenden und noch zu erwartenden Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der gesamten ArbeiterInnenklasse ist es daher in der Tat wichtig, dass sich die Linke auf einen Abwehrkampf gegen Massenentlassungen, Sozialabbau und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen vorbereitet.

Ähnlich wie Teile der SPD (z. B. Wolfgang Thierse) suggeriert Wagenknecht allerdings, dass es der Linken in den letzten Jahren vor allem deshalb nicht gelungen sei, konsequent für die Interessen der arbeitenden, erwerbslosen und verrenteten Bevölkerung zu kämpfen, weil sie sich im Kampf um die Interessen „elitärer Minderheiten“ vollkommen aufgerieben habe. Daher Wagenknechts scharfe Ablehnung der „Identitätspolitik“ und der akademischen Mittelschichten, die sie als Trägerinnen derselben identifiziert.

Falscher Gegensatz

Tatsächlich gibt es an den Grünen, die Wagenknecht als Hauptvertreterin des Linksliberalismus und der Identitätspolitik ausmacht, aus linker Sicht viel zu kritisieren – etwa dass sie eine durch und durch bürgerliche Partei sind, allzeit bereit, Kriege zu führen, Menschen abzuschieben, Autobahnen zu bauen, soziale Errungenschaften einzustampfen, den deutschen Imperialismus zu verteidigen und dergleichen mehr. Gleichzeitig pflegen die Grünen wie kaum eine andere Partei ein Image als antirassistische, LGBTQIA-unterstützende „Friedenspartei“ und damit auch als konsequente bürgerliche Alternative zur AfD. Wagenknecht tut nun in ihrer Abrechnung mit den Grünen allerdings so, als seien die Grünen v. a. deshalb nicht in der Lage, Politik im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu machen, weil sie sich „zu viel“ um identitätspolitische Fragen kümmerten.

Die zugrundeliegende Botschaft ihrer Abrechnung mit Linksliberalismus und Identitätspolitik lautet letztlich: Wer sich zu viel um die Belange gesellschaftlicher Minderheiten bzw. unterdrückter Schichten der Bevölkerung kümmert, kann keine Politik im Interesse der „normalen“ Leute mehr machen – ganz so, als schlössen sich die Kämpfe für gleiche Rechte, körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, offene Grenzen einerseits und jene für höhere Löhne, sichere Renten und Arbeitsplätze andererseits gegenseitig aus.

Wagenknecht spricht dabei nicht nur für sich, ist nicht nur eine grandiose und selbstgerechte Selbstdarstellerin, sondern vertritt auch einen bestimmten Flügel innerhalb ihrer Partei. In Nordrhein-Westfalen, immerhin dem mitgliederstärksten Landesverband, wurde sie nicht nur mit deutlicher Mehrheit zur Spitzenkandidatin zu den Bundestagswahlen gekürt, ihre AnhängerInnen konnten auch die meisten aussichtsreichen Listenplätze gewinnen.

Sozialchauvinismus und Nationalismus

Für diesen offen sozialchauvinistischen Flügel innerhalb des Reformismus bedeutet, „links“ zu sein, im Wesentlichen, sich schützend vor die einheimische Bevölkerung zu stellen, insbesondere vor jenen Teil, dem es ökonomisch schlechtgeht, der prekär beschäftigt und dabei von den Flexibilitätsanforderungen des Kapitalismus permanent überfordert ist. Andere Fragen des Klassenkampfes, wie sie auch von identitätspolitischen Gruppierungen (leider in falscher Weise) adressiert werden, bleiben in dieser ökonomistisch verkürzten Perspektive zwangsläufig außen vor.

So betont Wagenknecht zwar, gegen wirklichen Rassismus einzustehen – nationale Abschottung und die massenhafte Abschiebung von Geflüchteten erscheinen in ihrer Gedankenwelt aber gar nicht als rassistisch, sondern in gewisser Weise als normale Vollzughandlungen eines gut funktionierenden, souveränen Nationalstaates, den sie auch ansonsten gegen jegliche Kritik verteidigt und gar zum einzigen Garanten sozialer Sicherheit stilisiert.

„Die Nationalstaaten sind allerdings auch die einzige Instanz, die gegenwärtig in nennenswertem Umfang Marktergebnisse korrigiert, Einkommen umverteilt und soziale Absicherungen bereitstellt. […] Es sieht also ganz danach aus, dass die Nationalstaaten genau da handlungsfähig sind, wo ihnen schlagkräftige Interessengruppen im Nacken sitzen. Wer weniger Einfluss hat, hat Pech gehabt. An mangelnder Handlungsfähigkeit hapert es also nicht. Problematisch ist eher, wie die Nationalstaaten handeln. […]. Aber dieses Problem wird nicht durch die Unterordnung der Nationalstaaten unter supranationale Institutionen gelöst, sondern durch die Wiederherstellung der Demokratie innerhalb der Nationalstaaten.“ (S. 230 f.)

Vom Klassencharakter des Staates des Kapitals will Wagenknecht schon lange nichts mehr wissen. Außerdem springt ins Auge, dass Wagenknechts Analyse, trotz drängender werdender globaler Probleme (Klimawandel, imperialistische Konflikte, erzwungene Massenmigration etc.), sich weitgehend auf den nationalen Rahmen beschränkt. Ihr Ausgangspunkt ist nicht der globale Kapitalismus und die Frage, wie dieser überwunden werden kann, sondern die nach möglichen Regierungskoalitionen unter Beteiligung der LINKEN. Die globale Ebene erscheint bei ihr einzig als Tummelplatz skrupelloser Kapitalmächte, „transnationaler ‚Multi-Stakeholder-Gruppen’“ (S. 228), gegen die einzig auf nationaler Ebene anzukommen sei.

Die Möglichkeit und Notwendigkeit eines konsequent proletarischen Internationalismus, der grenzüberschreitende Solidarität zwischen ArbeiterInnen weltweit organisiert und die Kapitalmächte auf globaler Ebene stellt, kommt bei Wagenknecht nicht vor. Im Gegenteil: In ihrer national zentrierten Welt erscheint der Internationalismus der ArbeiterInnenklasse nur als besondere Spielart des Kosmopolitismus. Ihre Kritik richtet sich daher letztlich wie jeder Linkspopulismus auch, ja vor allem gegen den revolutionären Marxismus.

Anpassung an SPD und DGB

Weitaus nachsichtiger hingegen verfährt sie mit Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie. Schließlich knüpft sie ja auch an deren nationaler Klassenzusammenarbeit an. Die für die Klasse der Lohnabhängigen verheerende Standortpolitik von SPD und DGB dabei konsequent weiterdenkend, wird von ihr letztlich alles, was den sozialen Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft gefährdet, als problematisch erachtet. Zu jenen Faktoren, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt angeblich bedrohen, zählt Wagenknecht dabei nicht nur „Flexibilisierung, Wirtschaftsliberalismus und Globalisierung“ (S. 221), sondern auch hohe Zuwanderung (ebd.). Sie stellt sich damit und mit ihrer offenen Ablehnung der Forderung nach offenen Grenzen gegen einen Teil der ArbeiterInnenklasse und reproduziert die nationalistische und rassistische Spaltung durch die Herrschenden. Zugleich predigt sie den Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft, von AusbeuterInnen und Ausgebeuteten, und zeigt sich nicht daran interessiert, das Bewusstsein der Klasse zu heben. Vielmehr geht es ihr darum, auch die borniertesten Teile der Klasse vor „Angriffen“ auf ihr bürgerlich-chauvinistisches Weltbild zu schützen.

Ihr Zurückweisen der Forderung nach offenen Grenzen rechtfertigt Wagenknecht zwar mit dem angeblich linken Ziel der Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und sieht sich damit gar in der Tradition der ArbeiterInnenbewegung ebenso wie konservativer DenkerInnen. Dass es der revolutionären ArbeiterInnenbewegung aber niemals um den „sozialen Zusammenhalt“ des nationalen Kollektivs, also von Kapital und Arbeit, sondern um die Solidarität unter den ArbeiterInnen und Unterdrückten zwecks Überwindung des Klassengegensatzes ging, fällt bei Wagenknecht unter den Tisch. Für diejenigen, die an der Grenze zurückgewiesen oder gegen ihren Willen in ihr „Heimatland“ abgeschoben werden, macht es aber keinen Unterschied, aus welchen vorgeschobenen Gründen dies geschieht. Zu Recht werden sie eine solche Politik als rassistisch erachten.

An der Debatte um die Forderung nach offenen Grenzen innerhalb der Linkspartei zeigt sich zugleich die ganze Misere des Reformismus. Während nur wenige linke GenossInnen innerhalb der Partei die Forderung nach offenen Grenzen auch gegenüber dem Ministerpräsidenten aus den eigenen Reihen (Ramelow) vorbringen und dessen Abschiebepolitik anprangern, hat man sich im Rest der Partei offensichtlich damit arrangiert, dass auch unter Beihilfe von MinisterInnen der LINKEN abgeschoben wird.

Das, was Wagenknecht offen fordert, nämlich Zuwanderung zu begrenzen, wird von den Regierungslinken ganz real längst umgesetzt – ohne, dass dies in der Breite der Partei auf ähnlichen Widerspruch stoßen würde. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass diejenigen, die den offenen Chauvinismus von Sahra Wagenknecht kritisieren, letztlich selbst kein antirassistisches Programm verfolgen, sondern oft nur eine verlogenere Abschiebepolitik decken. Dem Linkspopulismus und offenen Sozialchauvinismus aus den eigenen Reihen kann die Partei somit, abgesehen von moralischer Empörung, nichts Substanzielles entgegensetzen. Die Forderung nach offenen Grenzen wirkt dadurch, dass sie nicht mit anderen Forderungen zu einem einheitlichen revolutionären Programm vermittelt wird, daher eher wie ein leeres Versprechen und ein Bekenntnis, das man ablegt, um das eigene linke Gewissen zu beruhigen. Dementsprechend leicht haben es die GegnerInnen dieser Forderung, die den VertreterInnen derselben vorwerfen, weltfremden Vorstellungen anzuhängen.

„Kleiner Mann“ oder revolutionäres Subjekt?

Letztlich ist in den Augen Wagenknechts jede/r, der/die die Vorurteile des „kleinen Mannes“ kritisch hinterfragt und auf die problematischen Seiten seiner politischen Einstellung hinweist, ein „Lifestyle-Linker“. Nach der Definition Wagenknechts müsste man wohl auch Marx, Engels, Luxemburg, Lenin, Trotzki und Co. als solche bezeichnen, gehe es den Lifestyle-Linken doch wesentlich darum, „[…] nicht nur das Leben der Arbeiter und anderer Benachteiligter [zu] verbessern, sondern ihnen zugleich ihre wahren Interessen [zu] erklären und ihnen ihre Provinzialität, ihre Ressentiments und Vorurteile [auszutreiben].“ (S. 29 f.)

Wagenknecht aber behandelt den „kleinen Mann“ lieber wie ein zur kritischen Einsicht prinzipiell unfähiges Kind, das es vor allen möglichen Gefahren zu schützen gelte. Die schlecht bezahlten Arbeiterinnen, prekär Beschäftigten, Erwerbslosen werden von ihr überhaupt nicht als politische Subjekte wahrgenommen, die dazu in der Lage wären, ihr Bewusstsein zu heben und für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. Sie beschreibt sie vielmehr ausschließlich als Opfer, die es zu schützen gelte – sei es vor den Angriffen der Herrschenden auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen, sei es aber auch vor einer Kritik an ihren politischen Einstellungen. Das Subjekt der Veränderung ist der „kleine Mann“ bei Wagenknecht nur insofern, als seine Rückständigkeit nicht kritisiert werden darf. Das soll verständnisvoll erscheinen, in Wirklichkeit ist es jedoch paternalistisch. Wenn die rückständigen Vorstellung der zum „kleinen Mann“ verkommenen Lohnabhängigen als unveränderliche Züge der Klasse betrachtet werden, können sie sich letztlich vom Einfluss bürgerlicher Ideologie nie befreien, es allenfalls zu einer reformistisch oder linkspopulistisch geprägten Klasse bringen. Die eigentlichen AkteurInnen, die deren angemessenen Platz in der Gesellschaft sichern sollen, sind ironischerweise nicht die „kleinen Leute“, sondern ist die Bürokratie in linken Parteien und Gewerkschaften, professionelle StellvertreterInnen dieser Menschen, die, ganz wie die Linksliberalen vorzugsweise aus der akademisch gebildeten Mittelschicht stammen.

Revolutionäre Alternative

Eine revolutionäre Strategie hingegen muss auf der Einsicht aufbauen, dass die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur das Werk der ArbeiterInnen selbst sein kann. Die ArbeiterInnen und Unterdrückten brauchen keine gutbezahlten, privilegierten BürokratInnen und Abgeordneten, die längst ihrer demokratischen Kontrolle entzogen sind und weit mehr verdienen als das durchschnittliche Einkommen ihrer WählerInnen und AnhängerInnen. Dass diese bürokratische Schicht ihre Interessen verrät, ist nicht Ergebnis der Identitätspolitik, sondern folgt aus der Logik jeder bürgerlichen ArbeiterInnenpolitik, der es um die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit geht statt um die Überwindung des Ausbeutungsverhältnisses selbst.

Was es braucht, ist eine Partei, die fähig ist, den Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten hierzulande und international zu organisieren, ihn anzuführen und ihm eine Richtung zu geben, die auf die Überwindung aller Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zielt. Es besteht dabei kein Gegensatz zwischen den Interessen derjenigen, die in ein patriarchales System gepresst werden, aus dem sie berechtigterweise ausbrechen wollen, und den Interessen jener, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Wer einen solchen Gegensatz behauptet, trägt zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse bei, die niemals nur aus weißen IndustriearbeiterInnen bestand, sondern vom Kapital immer schon global geformt, umgebildet und neu zusammengesetzt wurde. Die ArbeiterInnenklasse hat somit keine fixe Identität, sondern setzt sich ständig neu zusammen, wird ständig neu formiert und entsprechend den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals rekrutiert.

Wie wir bereits in anderen Artikeln gezeigt haben, gibt es aus marxistischer Perspektive berechtigte Kritik an der Identitätspolitik. Wir haben dort ebenfalls die Notwendigkeit betont, dass sich RevolutionärInnen am Kampf für die Befreiung aller gesellschaftlich Unterdrückten beteiligen, ihn als integralen Bestandteil des Klassenkampfes begreifen und entsprechend führen. Wagenknecht hingegen geht es nicht um eine Kritik an der Identitätspolitik in revolutionärer Absicht. Wagenknechts Programm ist das eines chauvinistischen, klassenübergreifenden Linkspopulismus. Ihre Kritik an der Identitätspolitik bedeutet somit keinen Schritt nach vorne, sondern eher zwei Schritte zurück.




IG Metall: Angleichung Ost – Niederlage 3.0

Mattis Molde, Neue Internationale 256, Juni 2021

Im Westen war die Tarifrunde zu Ostern erledigt worden. Das Ergebnis ist äußerst kompliziert und schwer verständlich. Gute Voraussetzungen, um es schönzureden. In ihrer neuesten Darstellung des Ergebnisses behauptet die IG Metall zwar nicht mehr wie ursprünglich, „es gäbe 2,3 % mehr Geld“, aber die ganze Struktur des Abschlusses ist so, dass die Beschäftigten sich nicht ausrechnen können, was sie wann eigentlich kriegen, ob die verschiedenen Sonderzahlungen fließen oder sie stattdessen damit ihre eigene Kurzarbeit finanzieren, Auszahlungen verschoben werden oder aus wirtschaftlichen Gründen ganz entfallen. Böse Überraschungen sind programmiert, wenn IG MetallerInnen klar wird, dass dieses Ergebnis einen kompletter Ausverkauf darstellt.

Im Tarifgebiet Berlin-Brandenburg-Sachsen war die Tarifrunde weitergegangen. Dort herrscht seit Jahren ein starker Druck von der Basis, die Arbeitszeit von 38 Stunden endlich an die tariflichen 35 Stunden im Westen anzugleichen.

In vielen Betrieben gab es bis zu 4 eintägige Warnstreiks. Mehr als 126.000 KollegInnen streikten, das ist fast die Hälfte der ostdeutschen MetallerInnen. Dann wurde der Kampf abgeblasen. Ergebnis ist eine „Gesprächsverpflichtung“ der KapitalistInnen. Statt Tarifergebnis ein sozialpartnerschaftliches Kaffeekränzchen ohne Folgen. Aber wie in der ganzen Tarifrunde war seitens des Vorstandes ein Sieg nie gewollt.

Die Mindestvoraussetzung dafür wäre gewesen, die Arbeitszeitangleichung zum Kampfziel für alle Tarifgebiete zu machen, und zwar von Beginn der Runde an. Stattdessen war die Arbeitszeit Ost im Westen nirgendwo ein Thema – erst nach dem Abschluss West sollten Vertrauensleute Soli-Schreiben verfassen. Mindestvoraussetzung wäre auch gewesen, keinen Abschluss im Westen zu machen, solange das Ost-Thema nicht geregelt ist.

2018 versteckte sich die Bürokratie hinter der Formel, dass in Nordrhein-Westfalen nur abgeschlossen werden könne, was dieses Tarifgebiet auch beträfe. Tatsache ist aber, dass es keinen Pilotabschluss bei der IG Metall gibt, ohne dass Gesamtmetall und die IG Metallspitze vor Ort sind.

Kein Blumentopf

Wie weit die Erwartungen der Beschäftigten und die Welt der BürokratInnen inzwischen auseinanderliegen, konnte man auf der zentralen Kundgebung in Berlin  am 26.4. erleben. Auf der Oberbaumbrücke – einem früheren Grenzübergang zwischen Ost- und Westberlin fielen viele warme Worte über Gleichheit und Gerechtigkeit. Der Regierende Bürgermeister war dabei sowie eine ganze Schar von wichtigen Leuten. Weiter vorne standen die KollegInnen von Mahle-Wustermark, die mit einem Autokorso zur Kundgebung gekommen waren. Sie hörten den warmen Worten nicht zu.

Mit warmen Worten war schon 2003 und 2018 kein Blumentopf zu gewinnen. 2003 war das klar. Die Forderung nach Angleichung stieß auf heftigste Ablehnung. Alle bürgerlichen Medien beschuldigten die IG Metall, das zarte Pflänzchen „Aufschwung Ost“ zu zertrampeln, nachdem Kapital und Regierung im Jahrzehnt zuvor die industrielle Struktur der ehemaligen DDR nach allen Regeln der Kunst, des Schachers und des Plünderns zerlegt hatten. Der Streik wurde erbittert geführt. StreikbrecherInnen wurden mit Hubschraubern eingeflogen, Streikposten aus dem Westen zur Unterstützung vor die Werke im Osten gebracht.

Als es zu ersten Produktionsausfällen in der Autoindustrie im Westen kam, stand die IG Metall vor einer Entscheidung: Eine „kalte Aussperrung“  – eine Aussperrung durch die Unternehmen aufgrund von streikbedingtem Materialmangel – stand an, bei der aber die Beschäftigten im Westen Kurzarbeitergeld erhalten hätten. Das hätte die IGM zur Mobilisierung und Ausweitung des Kampfes in der ganzen Republik nutzen können.

Sabotage aus den eigenen Reihen

Stattdessen setzten sich die GesamtbetriebsratsfürstInnen der Autokonzerne durch. Im Interesse der Absatzzahlen „ihrer“ Großbetriebe machten sie Druck auf ein Ende des Arbeitskampfes. Erich Klemm von Daimler sprach von „tarifpolitischen Geisterfahrern“ und meinte die kämpfenden KollegInnen. Klaus Franz von Opel rief öffentlich zum Streikabbruch auf. Der Streik wurde abgebrochen, satzungswidrig ohne Urabstimmung.

2018 kam die Forderung nach der Arbeitszeitverkürzung nur durch massiven Druck aus Berlin-Brandenburg-Sachsen überhaupt auf die Tagesordnung. Die KollegInnen aus den Betrieben nutzten alle Konferenzen und Veranstaltungen der Gewerkschaft für ihr Anliegen. Wider Willen mußte der Vorsitzende Hofmann die Forderung übernehmen. Die Rache der Apparate: In den Präsentationen und Reden des Vorstandes und der Bezirksleitungen im Westen tauchte das Thema höchstens ganz am Rande auf, meistens gar nicht.

Das Thema wurde vertagt, bis der Westen abgeschlossen hatte. Anstelle einer tariflichen Regelung wurde im Osten eine Gesprächsvereinbarung für Großbetriebe getroffen. Die Zusagen wurden im Nachgang auf Druck von Gesamtmetall zerrissen.

Was ist jetzt vereinbart worden?

Bis Ende Juni 2021 soll ein Rahmen ausgehandelt werden, der „betriebliche Schritte zur Angleichung“ ermöglicht.

Statt des Flächentarifs können jetzt Haustarife oder betriebliche Regelungen kommen – hätten sie aber auch schon immer können. Die Umsetzung auf betrieblicher Ebene ist weit schwieriger und die Erpressbarkeit von Betriebsratsgremien ist entsprechend größer.

Für einige Metallbetriebe (VW, ZF, SAS) gibt es eine Stufenregelung zur Angleichung. Bei VW z. B. wird die Angleichung ab 2022 in 3 Schritten eingeführt, so dass ab 2027 – also 38 Jahre nach der sogenannten „Wende“ – in den sächsischen Werken nur noch 35 Stunden in der Woche gearbeitet wird. Wie zu hören ist, bezahlen allerdings die KollegInnen einen Teil der Kosten aus der eigenen Tasche.

Die Beendigung des Flächentarifkampfes ist also ein Signal an die Kapitalseite: „Macht eure Verzögerungstaktik weiter wie bisher, wir sind bereit, dies wegen des Erhalts der Wettbewerbsfähigkeit der kleineren Betriebe und des Standortes Deutschland zu akzeptieren“. Die vom IGM-Vorsitzenden Jörg Hofmann als Durchbruch gefeierte „Verhandlungsverpflichtung“ ist eine dreiste Lüge angesichts der dritten Niederlage der IGM im Osten, der dritten selbstverschuldeten bzw. selbst gewollten.

Eine klassenkämpferische Basisbewegung ist nötig

Es könnte eine endgültige Niederlage sein. Nicht weil die Belegschaften Arbeitszeitverkürzung nicht weiter fordern würden. Aber erstens bröckelt die Front durch die Einzelabschlüsse in den starken Betrieben. Das tarifpolitische Unwesen, mit allen möglichen Verrechnungen im Osten wie im Westen Arbeitszeitverkürzung selbst zu bezahlen und flexibilisieren, entzieht die Arbeitszeit immer mehr einer gemeinsamen tariflichen Grundlage. Dazu kommt, dass auch im Westen in vielen Betrieben keine 35 Stunden mehr gelten, sondern betrieblich längere Arbeitszeiten. Die „35 in Ost und West“ ist unter den IG Metall-Chefs Huber und Hofmann zur Fata Morgana geworden.

Diese Niederlagenserie einmal in dieser Tarifrunde und zum Zweiten in drei Schritten in der Frage der Arbeitszeit Ost macht noch mal zwingend deutlich, dass es eine grundlegend andere Orientierung in der Gewerkschaft braucht, um ihren Niedergang aufzuhalten und umzudrehen. Die Niederlagen setzen sich fort in allen Betrieben, die gerade geschlossen werden, und wo die Bürokratie in keinem Fall eine Wende herbeiführen konnte und nirgendwo ernsthafte Versuche dahingehend unternimmt. Niederlagen, die die Kraft der Gewerkschaft nachhaltig beschädigen: allein in Baden-Württemberg 60.000 Austritte! Eine Führungsspitze, die den Sieg nicht will und den Kampf sabotiert, ist untragbar.




Lukaschenkos Kampf gegen die Opposition und der neue Kalte Krieg

Martin Suchanek, Neue Internationale 256, Juni 2021

Die erzwungene Landung einer Boeing 737 am 23. Mai stellt einen weiteren, rücksichtslosen Schlag des belarussischen Präsidenten Lukaschenko dar. Wegen einer angeblichen Bombendrohung wurde die Maschine von einem MiG-29-Abfangjäger zur Umkehr und Notlandung in Minsk gezwungen – ein dreister und auch nur notdürftig verhüllter Akt staatlich organisierter Luftpiraterie. Anfänglich versuchte das Regime, die angebliche Bombendrohung der Hamas in die Schuhe zu schieben. Diese dementierte rasch und der verabscheuenswürdige Versuch Lukaschenkos, antiislamische westliche Ressentiments für seine Zwecke zu befeuern, ging ins Leere. Zu offensichtlich war die Lüge.

Zerschlagung der Opposition

Der eigentliche Zweck des Manövers trat in kürzester Zeit offen zutage: Die Festnahme des Oppositionellen Roman Protassewitsch. Dieser lebt seit Jahren im Exil in Athen und betreibt von dort die Video- und Telegram-Plattformen Nexta und Nexta-Live. Bei den Massendemonstrationen gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen fungierten sie als wichtige, vom Regime unabhängige Informationsquellen und Instrumente zur Vernetzung. Deshalb wird ihnen vom belarussischen Geheimdienst KGB „Terrorismus“ und Anstiftung zum Aufruhr vorgeworfen.

Mit der Festnahme, erzwungenen Geständnissen, wie sie das Staatsfernsehen veröffentlichte, einem möglichen öffentlichen Schauprozess und einer drohenden langjährigen Haftstrafe sollen zwei wesentliche Botschaften vermittelt werden.

Erstens zeigt das Regime, dass ihm alle Mittel recht sind, die Opposition zu zerschlagen und mundtot zu machen. Erzwungene Geständnisse und Reue sollen andere demoralisieren, von der Hoffnungslosigkeit weiterer regimekritischer Tätigkeit überzeugen und so zur Aufgabe bewegen. Vor allem sollen sie signalisieren, dass niemand vor dem Regime sicher ist – selbst im Ausland und selbst ein junger 26-Jähriger, der keine bekannte Führungsfigur der Opposition war.

Zweitens soll mit der Festnahme auch den verbliebenen oppositionellen Nachrichtennetzwerken ein weiterer Schlag versetzt werden. Wenige Tage vor der erzwungenen Landung der Boing 737 wurden in Belarus das letzte, der Opposition zuzurechnende Nachrichtenportal TUT.by von Polizeieinheiten erstürmt und mehrere JournalistInnen festgenommen. Schließlich zielen die Festnahme und Verhöre von Protassewitsch auch darauf, KorrespondentInnennetzwerke und Verbindungsstrukturen in Belarus selbst auszuheben, um so das Land vorm Einfluss oppositioneller Medien und Strukturen abzuschotten.

Zur Zeit fühlt sich Lukaschenko offenkundig in einer Position der Stärke. So hatte die  Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja noch vor kurzem in Wien den Wunsch nach Verhandlungen mit dem Regime geäußert. Dafür sieht Lukaschenko keinen Anlass. Nachdem die Massenbewegung selbst abgeflaut ist, versucht er, die Opposition endgültig zu zerschlagen, und stützt sich dabei auf einen überdimensionierten, schlagkräftigen und loyalen Staats- und Repressionsapparat. Eine Konfrontation mit den westlichen, imperialistischen Ländern – mit EU, Deutschland oder den USA – und Sanktionen nimmt er dafür in Kauf und setzt auf die Unterstützung durch Russland. Dieses wiederum versucht, die Situation zu nutzen, um Belarus als Halbkolonie noch enger an sich zu binden – freilich auch mit enormen finanziellen Kosten.

Charakter des Regimes

Propagandistisch versucht das belarussische Regime zudem, die Aktionen Lukaschenkos als Akt der Selbstverteidigung gegen wachsende westeuropäische oder US-amerikanische Einflussnahme hinzustellen. Die Opposition wird dabei auch zusätzlich dämonisiert, bis hin zur Unterstellung, dass Menschen wie Protassewitsch eigentlich „ExtremistInnen“ wären. So wird ihm vorgeworfen, im Alter von 16 Jahren Mitglied einer nationalistischen Organisation gewesen zu sein und mit 17 gegen als rechter Freiwilliger gegen die Republik Donbass auf Seiten der Ukraine gekämpft zu haben.

Diese Anschuldigungen gehen jedoch am Wesen der Sache vorbei. Erstens wird Protassewitsch, der selbst sicherlich kein Linker ist, seine Vergangenheit vorgeworfen, weil so von der eigentlichen Anschuldigung des Regimes, vom legitimen und fortschrittlichen, von den Massen getragenen Charakter der Bewegung gegen Lukaschenko abgelenkt werden soll. Dabei wird eine Parallele zwischen dem reaktionären Maidan und der Bewegung in Belarus konstruiert werden, die es nicht gibt.

Beim Regime Lukaschenko handelt es sich um ein reaktionäres, bonapartistisches System, das vor allem am eigenen Machterhalt interessiert ist. Die Oppositionsbewegung wiederum unterscheidet sich grundlegend vom Maidan und den faschistischen Milizen, die als dessen Sturmtruppen fungierten. Wir haben es in Belarus vielmehr mit einer demokratischen Massenbewegung gegen ein autoritäres Regime zu tun, das von der Masse der Bevölkerung, also auch der der Lohnabhängigen getragen wird.

Das Regime selbst fürchtet jede Form der Opposition, vor allem aber, dass die ArbeiterInnenklasse zu deren führender Kraft werden könnte. Daher wurden im März 2021 nicht nur Onlineportale wie Nexta zu „extremistischen“ und „terroristischen“ Organisationen erklärt. Zugleich wurden auch die Rechte der ArbeiterInnen weiter eingeschränkt. So dürfen Beschäftigte, die zu politischen Streiks oder Arbeitsniederlegungen aufrufen, fristlos entlassen werden. Im März 2021 wurden zudem AktivistInnen von Streikkomitees im Kalibergbau in Soligorsk oder beim Düngemittelwerk Grodno Asot festgenommen.

Die aktuellen Angriffe auf die Opposition, der Rückgang der Massenbewegung und deren fehlende Verankerung in der ArbeiterInnenklasse begünstigen freilich Lukaschenkos Absicht, diese zu brechen. Daher ist es umso wichtiger, dass sich die ArbeiterInnenklasse in allen Ländern mit den Lohnabhängigen, den StudentInnen und Intellektuellen in Belarus in ihrem Kampf gegen das Regime solidarisiert.

Niemand sollte sich davon beirren lassen, dass der Diktator Lukaschenko demagogisch versucht, die Tatsache zu nutzen, dass etliche OppositionsführerInnen, die in den Westen flohen, die Nähe zur EU oder zu den USA suchen und politisch eine liberale oder konservative Ausrichtung verfolgen. So wie das belarussische Regime in seiner Krise mehr und mehr auf die Unterstützung Russlands und Putins angewiesen ist, besteht natürlich die reale Gefahr, dass liberale und konservative OppositionsführerInnen im Exil zum Spielball des westlichen Imperialismus werden. Doch dieser können wir nur wirksam begegnen, wenn wir uns mit den Opfern der Repression und mit den über 1.000 politischen Gefangenen solidarisieren, deren sofortige und bedingungslose Freilassung fordern und den Aufbau einer eigenständigen politischen Partei der ArbeiterInnenklasse unterstützen.

Verlogene Kritik und Sanktionen

Die Regierungen der Nachbarländer von Belarus, aber auch Deutschland, die EU und die USA präsentieren sich seit Tagen als selbstlose UnterstützerInnen der Opposition und haben Sanktionen gegen das Regime verschärft. Diese tragen zwar wie schon in der Vergangenheit vor allem einen symbolischen Charakter, beginnen aber in einigen Bereichen – Einstellung von Flügen nach Belarus, drohendes Importverbot für Kali, sein wichtigstes Exportgut –, darüber hinauszugehen.

Die skandalöse, erzwungene Landung der Boing 737 und die Festnahme von PassagierInnen werden zwar zu Recht kritisiert. Geflissentlich wird aber verschwiegen, dass die Praxis von Kidnapping vermeintlicher GegnerInnen eine lange Tradition aller imperialistischen Mächte und etlicher reaktionärer halbkolonialer Regime verkörpert. Allen voran haben die USA seit Beginn des „Krieges gegen den Terror“ sog. „extraordinary renditions“ (außerordentliche Auslieferungen) in großem Umfang betrieben und die Ausgelieferten beispielsweise nach Guantánamo überstellt.

Auch Flugzeugentführungen oder erzwungene Routenänderungen sind nicht beispiellos. So wurde 2013 das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Morales zur Landung in Wien gezwungen, weil angeblich der von den US-Geheimdiensten gesuchte Whistleblower Edward Snowden an Bord gewesen sein soll.

Für Merkel, von der Leyen, Macron oder Biden geht es letztlich nie um Menschenrechte oder Demokratie. Diese müssen nur als Mittel zum Zweck herhalten in der größeren Konfrontation vor allem mit Russland. Die Sanktionen gegen Belarus und die westliche Politik gegenüber der Opposition verfolgen dabei mehrere Ziele. Das Land – eine der letzten, von Moskau beherrschten Halbkolonien in Europa – soll längerfristig dessen Einfluss entrissen werden. Bis dahin soll der Preis möglichst hochgetrieben werden, denn schließlich kostet Russland die Rettung des Regimes Lukaschenko auch Milliarden, um die Wirtschaft des Landes zu stützen und eine weitere ökonomische und soziale Destabilisierung zu verhindern. Die 500 Millionen Euro Soforthilfe, die Putin diesem Ende Mai in Sotschi zusagte, sind nur ein kleiner Teil der Unterstützungsgelder, die längerfristig notwendig werden.

Zugleich verschärft der Westen auch auf andere Weise den Druck. So mehren sich in der EU die Stimmen, die eine Aufrüstung der Ukraine fordern. Das jüngste Beispiel dafür ist der Vorsitzende der deutschen Grünen, Robert Habeck, der die rasche Lieferung von Defensivwaffen für Kiew forderte und damit die Bundesregierung rechts überholte.

Perspektiven

Die Heuchelei und verlogene Kritik an Lukaschenko durch die westlichen imperialistischen Staaten darf uns keineswegs hindern, die ArbeiterInnenklasse, die StudentInnen und Intellektuellen in Belarus weiter zu unterstützen. Wir müssen aber dabei auch die heuchlerische Unterstützung der Opposition durch die westlichen Mächte als das entlarven und zurückweisen, was sie ist – ein Mittel, eigene geostrategische und ökonomische Interessen in der Konkurrenz mit Russland durchzusetzen.

Die ArbeiterInnenklasse und die Linke müssen daher die Solidarität mit der Bewegung in Belarus und die Unterstützung von ArbeiterInnenorganisationen, die vom Regime unabhängig sind, mit einer Ablehnung jeder imperialistischen Einmischung – ob vom Westen oder von Russland – verbinden.

Zur Zeit mag sich Lukaschenko relativ sicher wähnen. Längerfristig ist seine Herrschaft jedoch brüchig, auf Sand gebaut. Sozial stützt sich seine Regierung fast ausschließlich auf den Staat- und Sicherheitsapparat und die Unterstützung durch den russischen Imperialismus. Auf Dauer kann eine solche soziale Basis nicht ausreichen, um das Land zu stabilisieren. Im Gegenteil: Selbst die massive Repression, abenteuerliche Entführungs- und Einschüchterungsaktionen schüchtern die Menschen nicht nur ein. Sie enthüllen unfreiwillig auch die Schwäche eines Regimes, das einen 26-jährigen Blogger anscheinend so sehr fürchtet, dass ein Flugzeug entführt wird, um seiner habhaft zu werden.

Die kleine, aber aktive belarussische Linke und die ArbeiterInnenklasse müssen zwar davon ausgehen, dass ein neuer Ausbruch der Massenbewegung im Land nicht unmittelbar bevorsteht. Früher oder später ist dieser aber angesichts der ungebrochenen Legitimitätskrise des Regimes und der sozialen und ökonomischen Verwerfungen zu erwarten, ja geradezu unvermeidlich. Darauf müssen sich die Linke und die ArbeiterInnenklasse und ihre internationalen UnterstützerInnen vorbereiten, indem sie heute, unter Bedingungen der Halblegalität und Illegalität, oppositionelle betriebliche und gewerkschaftliche Strukturen, Jugend- und StudentInnenorganisationen und vor allem eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei aufbauen.




Vonovia übernimmt Deutsche Wohnen – Enteignung bleibt alternativlos

Jürgen Roth, Infomail 1151, 28. Mai 2021

Am Dienstag, den 25. Mai 2021, herrschte bei der Pressekonferenz im Berliner Roten Rathaus eitel Freude. „Gemeinsam nach vorne blicken“ wollten der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), sein Parteifreund und Finanzsenator, Matthias Kollatz, und die beiden Konzernchefs, Rolf Buch (Vonovia) und Michael Zahn (DW). Einhellig wünschten sich alle Beteiligten ein „Ende der Konfrontation“.

Neuer Anlauf

Zuvor waren Fusionsversuche der beiden Immobilienkonzerne gescheitert. Diesmal anders als bei vorherigen Angeboten waren sowohl Vorstand als auch Aufsichtsrat der DW in die Pläne einbezogen und begrüßten die Übernahme. Eine Grundsatzvereinbarung ist bereits unterzeichnet. Die Kartellbehörden müssen der Fusion vor Ablauf der Annahmefrist des Übernahmeangebots noch zustimmen. Außerdem gibt es den Vorbehalt einer Mindestannahmequote von 50 % aller ausstehenden DW-Aktien. Zuvor waren Vonovias Übernahmeangebote an der mangelnden Bereitschaft der AktionärInnen gescheitert, ihre Aktien anzubieten.

Vonovia, schon jetzt Nummer eins in Europa, will die Nummer zwei auf dem deutschen Wohnungsmarkt schlucken. Dieser Immobilienelefant käme auf einen Börsenwert von 48 Milliarden Euro und verfügte dann über einen Wohnungsbestand von 570.000 Einheiten. Das Angebot von 18 Mrd. Euro spiegele den „inneren Wert“ von DW wider.

Bundesweit käme der gewachsene Superkonzern auf einen Marktanteil von 2,4 %, seine dann rund 150.000 Wohnungen in der Hauptstadt entsprächen 10 %. Die Genehmigung durchs Bundeskartellamt gilt als Formsache.

Versprechen

Die Mieten im Bestand sollen bis 2024 nur um 1 % steigen, anschließend bis 2026 nur um die Inflationsrate. Da versprechen die Konzernchefs mehr, als nach dem Fall des Mietendeckels die landeseigenen Wohnungsgesellschaften halten, deren Bestandsmieten ab Oktober diesen Jahres um bis zu 2 % jährlich angehoben werden dürfen. Allerdings muss dieses Vorhaben nach Einspruch der Grünen und der Linkspartei am 1. Juni wieder im Senat vorgelegt werden.

Zudem plant die Stadt die weitere Übernahme von 20.000 Wohnungen von Vonovia und DW v. a. in sozialen Brennpunkten am Stadtrand (Falkenhagener Feld im Nordwesten, Thermometersiedlung im Süden), aber auch eine vierstellige Zahl in Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Bei Letzteren dürfte es sich v. a. um Bestände am Kottbusser Tor handeln, wo die Initiative Kotti & Co aktiv ist, die mit Fug und Recht als Keimzelle des MieterInnenprotests der vergangenen Jahre in Berlin bezeichnet werden kann. Die Rekommunalisierung war ein Wahlkampfversprechen von Linke, SPD und Grünen aus dem Jahr 2016. Damit würden die städtischen Bestände durch Ankauf in 2021 genauso stark zunehmen wie seit Beginn der Legislaturperiode bis Ende 2020. Doch macht dieser den Verlust durch Privatisierungen ab den 1990er Jahren längst nicht wett. Einen Großteil der Verkäufe haben SPD und DIE LINKE/PDS zu verantworten.

Kollatz machte darauf aufmerksam, dass Basis der Käufe der Mietenertragswert sein müsse, nicht der spekulative Verkehrswert. Dann könnten die sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften den Erwerb über Kredite finanzieren, die durch Mieteinnahmen getilgt werden könnten. Somit müssten keine Haushaltsgelder fließen. Nimmt man als Preisbasis die 920 Millionen Euro, die 2019 die landeseigene Gewobag für den Erwerb von 6.000 Wohnungen des Immobilienkonzerns Ado aufgewendet hat, käme der geplante Deal auf ca. 3 Mrd. Euro.

Bis Ende 2023 sollen auch betriebsbedingte Kündigungen der Beschäftigten infolge der Übernahme ausgeschlossen werden.

Einwände

Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Grünen für die Landtagswahlen 2021, will sich mit Vonovia zusammensetzen, um über Mieterhöhungsstopp, bezahlbaren Neubau und stärker gemeinwohlorientierten Wohnungsmarkt zu reden. Kultursenator und Vizesenatschef Klaus Lederer (Linke) begrüßt die Zugeständnisse der Konzerne, doch diese änderten nichts Grundsätzliches am Geschäftsmodell der börsennotierten Immobilienunternehmen.

Rouzbeh Taheri, einer der SprecherInnen der Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE), führt die Zugeständnisse auf den Druck des Volksbegehrens zurück. Durch einen Namenswechsel würden sich die BerlinerInnen aber nicht täuschen lassen und das Abkommen als Mogelpackung entlarven. Initiativensprecher Michael Prütz kritisierte, Müller habe sich mit der gemeinsamen Pressekonferenz als „Genosse der Bosse“ präsentiert. Die DWE-Aktivistin Jenny Stupka verwies auf die Vermietungspraktiken Vonovias, insbesondere die überhöhten Nebenkostenabrechnungen durch Tochterfirmen ohne prüffähige Rechnungen.

Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbundes (DMB) nannte die Konzernankündigungen zu Mietpreisbegrenzungen eine „verbale Flucht nach vorn“ angesichts wachsender MieterInnenproteste und klagte eine bundesweite, wirksame, lückenlose Mietpreisbremse ein. Das Geschäftsmodell ändere sich schließlich nicht. Nach umfassenden Modernisierungen unterlägen Neuvertragsmieten keiner Preisregulierung. Die Zusagen, über gesetzliche Vorgaben hinaus Modernisierungskosten auf max. 2 Euro/m2 zu begrenzen, seien Augenwischerei. Bei Ausgangsmieten bis zu 7 Euro/m2, die viele Vonovia-Bestandswohnungen nicht überschritten, stünde diese Deckelung im Gesetz. Somit könne von einer freiwilligen sozialen Wohltat keine Rede sein.

Der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild, merkt an, dass durch die Refinanzierung des Kaufpreises von 18 Mrd. Euro der Druck auf die Mieten zunähme. Hierin erweist er sich als besserer ökonomischer Realist als die beschwichtigenden Aussagen dazu seitens des Finanzsenators. Der versprochene Zukunfts- und Sozialpakt sei weitgehend „heiße Luft“. Laut Vonovia-Geschäftsbericht lägen die jährlich generierten Mietsteigerungen bei unter 1 %. Durch den großen Anteil am Berliner Wohnungsmarkt würde zudem eine für die Stadtentwicklung problematische Marktmacht herauskristallisiert, zumindest in einzelnen Stadtteilen.

Immobilienbranche sattelt auf, SPD hält die Steigbügel

„Bauen, kaufen, deckeln“, so lautet der SPD-Dreiklang. Diesen Akkord stimmen jetzt auch die Chefs der Branchenriesen an und gerieren sich selbstgefällig. Ein gutes Signal an die BerlinerInnen und an „die Politik“ für eine andere Art der Zusammenarbeit sei das.

Doch dieser Musikantenstadel wird von in die Enge gedrängten AkteurInnen inszeniert. Offenbar hat das DWE-Volksbegehren Wirkung gezeigt, so dass DW unter den Rock des Vonovia-Kolosses flüchten und ein politisch günstiges Geschäft abwickeln will. Gleichwohl ist es übertrieben, damit zu prahlen, man habe „einen Dax-Konzern in die Knie gezwungen“ (Taheri). Schließlich stellt die Übernahme von DW durch Vonovia vor allem eine weitere Stärkung des größten Players auf dem Immobilienmarkt dar und eine dementsprechende weitere Konzentration des Kapitals in einer Hand.

Die Schönrednerin des Deals, die gute, alte Tante SPD, dümpelt derweil tief im Umfragekeller. Ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit bei den MieterInnen haben gelitten. Statt den vom Bundesverfassungsgericht abgeschafften Mietendeckel zu verteidigen, kam sie im Einklang mit ihren Koalitionspartnerinnen bisher nicht darüber hinaus, einen Ausgleichsfonds für Mietnachzahlungen infolge des Urteils zu versprechen und auf eine wirksamere Bundesmietpreisbremse zu vertrösten. Als weiterer Trumpf reichen ihr vage soziale Versprechen der Vonovia- und DW-Chefs von Mietpreisstopp, Verkauf von 20.000 Wohneinheiten und, jetzt auch ernsthaft in den Neubau einzusteigen. Dieser als „Sozialpakt“ verkaufte Schmusekurs, das Einläuten eines Endes der bisherigen Konfrontation sollten die MieterInnen nicht täuschen. De facto verbrämt die SPD ihre Zustimmung zur Bildung eines riesigen Betongoldkolosses und damit die Herausbildung eines Megamonopols mit immensem Druck auf den Mietwohnungssektor als Wohltat für die Massen. Das tapfere Sozialschneiderlein ist bei diesem Geschäft aber nur der nützliche Idiot, ein Steigbügelhalter für noch größere Konzernmacht. Sozialwohnungen mit Instandhaltungsrückstand werden an das Land verkauft. Mietzusagen gelten nicht für Neuvermietungen. Dafür soll der Kampf für mehr Gemeinwohlorientierung aufhören? Das ist nicht sozial, sondern Verrat!

  • Kein Vertrauen in die Allianz Vonovia/DW und SPD! Unterschreibt fürs Volksbegehren! Für entschädigungslose Enteignung der Großkonzerne mit über 3.000 Wohnungen beim Volksentscheid! Bildet Mietkontrollkomitees für Mietpreisstopp und Boykott der Mieterhöhungen/-nachzahlungen! Für einen bundesweiten Mietendeckel nach Berliner Vorbild, das es zu verteidigen gilt!



Ermittlungen gegen Österreichs Kanzler Kurz: Der Fisch fängt vom Kopf zu stinken an

Michael Märzen, Infomail 1150, 25. Mai 2021

Auf so etwas haben viele vernünftige Menschen nur gewartet – trotz Message-Control, penibel vorgefassten Ansprachen und Rhetoriktricks: Gegen den Bundeskanzler wird wegen des Verdachts auf Falschaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss ermittelt. Seither beschäftigt die Republik die Frage, ob die weiteren Entwicklungen zu Neuwahlen führen könnten, und welche politischen Perspektiven das beinhaltet.

Worum es geht

Am Dienstag, den 11. Mai, benachrichtigte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) den Bundeskanzler Sebastian Kurz über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen seine Person. Am nächsten Tag gab jener das der Öffentlichkeit bekannt. Bei den Vorwürfen der Falschaussage geht es um die Bestellung des ehemaligen Generalsekretärs und Kabinettschefs im Finanzministerium Thomas Schmid zum Alleinvorstand der Österreichischen Beteiligungs AG (ÖBAG) vor zwei Jahren. Die ÖBAG verwaltet die Beteiligungen des Staates an börsennotierten Unternehmen und ist das Produkt einer Umstrukturierung der Österreichischen Bundes- und Industriebeteiligungen GmbH (ÖBIB) durch Türkis-Blau. Im Rahmen der Ermittlungen in der „Causa Casinos“ wurde im Herbst 2019 das Smartphone von Thomas Schmid beschlagnahmt und es wurden Chatnachrichten rekonstruiert.

Diese zeigten, dass Schmid an den Vorbereitungen zur Umstrukturierung der ÖBIB beteiligt war, selbst ÖBAG-Chef werden wollte, sogar den Ausschreibungstext für den Alleinvorstand mitverfasste und bei der Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder mitmischte. Für seine Bestellung wandte er sich mit Bitten an Finanzminister Gernot Blümel und Bundeskanzler Sebastian Kurz. Letzterer schrieb in einer Chatnachricht an Schmid: „Kriegst eh alles, was du willst“ – drei Bussi-Emojis inklusive. Die WKStA wirft Kurz nun vor, er habe im Untersuchungsausschuss tatsachenwidrig behauptet, in die Nominierung des Alleinvorstands nicht eingebunden gewesen zu sein, keine Wahrnehmungen zur Besetzung des Aufsichtsrats sowie keine Kenntnisse über gewisse Absprachen zu haben.

Auf die Ermittlungen gegen den Bundeskanzler könnte ein Strafantrag folgen, allerdings wird es dafür noch etliche Monate brauchen. Die Strafe auf eine Verurteilung wegen Falschaussage kann bis zu drei Jahre Haft betragen. Dazu ist jedoch die Frage entscheidend, ob eine Falschaussage vorsätzlich getätigt wurde. Sebastian Kurz behauptet natürlich, er habe „bewusst alles getan, um die Wahrheit auszusagen“, und dass er „nicht vorsätzlich eine Falschaussage“ gemacht habe. Die Opposition nutze dagegen „jede kleinste Feinheit“, um „Falschaussagen zu konstruieren“ mit dem Ziel: „Kurz muss weg“. Tatsächlich dürfte es für den Kanzler eng werden. Eine Anklage würde das Image von Kurz und der ÖVP beschädigen und ihn unter Druck setzen, auch wenn er schon bekannt gab, nicht zurücktreten zu wollen.

Politische Bedeutung

Die ganze Angelegenheit zeugt von einem weit verzweigten Netz aus Postenschacher, Freunderlwirtschaft, Korruption und Verdunkelung in der ÖVP, das vermutlich weit in den Ibiza-Skandal hinein reicht. Das ist aber spätestens seit der Schredder-Affäre offensichtlich, in der, kurz vor dem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die erste Kurz-Regierung, ein Mitarbeiter des Bundeskanzleramts unter falschem Namen Festplatten vernichten ließ. Es ist auch nicht überraschend, dass diese Machenschaften auch in der „neuen ÖVP“ existieren.

Korruption ist ein geläufiges Treiben von bürgerlichen Parteien und im bürgerlichen Staat, wo Politik ein großes Geschäft im Interesse einiger FunktionärInnen und KapitalistInnen darstellt. Das Neue und Wichtige an dieser Sache ist aber, dass direkt gegen den ÖVP-Jungstar Sebastian Kurz ermittelt wird. Das könnte nicht nur die aktuelle Regierung sprengen, sondern insbesondere den Höhenflug der ÖVP über die letzten Jahre beenden und das politische Kräfteverhältnis in Österreich bedeutend verschieben.

Neuwahlen?

Während Neuwahlen wie ein Fragezeichen über dem österreichischen Parlament schweben, scheint sie kaum eine der politischen Parteien wirklich anzustreben. Kurz selbst möchte Neuwahlen nicht, weil die ÖVP vermutlich geschwächt aus einer solchen hervorgehen würde und eine neue Koalition unter seiner Führung zumindest beim derzeitigen Kräfteverhältnis schwierig zu bilden wäre. Die Grünen wollen sie nicht, weil sie vermutlich geschwächt und nicht mehr als RegierungspartnerInnen daraus hervorgehen würden und sie für sich selbst wichtige Regierungsprojekte nicht gefährden wollen. Die SPÖ würde sich in einer Koalition mit Kurz schwertun. Immerhin war das Projekt Sebastian Kurz dazu da, die damalige Große Koalition zu sprengen und der SozialpartnerInnenschaft eine neuerliche Abfuhr zu erteilen. Auch die FPÖ, die sich mit Herbert Kickl sehr scharf auf Kurz einschießt, tut sich schwer, weil sie im Fall von Neuwahlen eine Eskalation des Führungsstreits in der Partei befürchten muss.

Für die ArbeiterInnenbewegung wäre es auf jeden Fall wichtig, sich im Falle von Neuwahlen nicht auf eine von Kurz geführte Große Koalition einzulassen. Das wäre ein Projekt die Krisenlast unter Einbeziehung der Gewerkschaften auf Arbeitende, Arbeitslose, Frauen und Jugendliche abzuwälzen. Statt dessen gilt es, eine Antikrisenbewegung aufzubauen, die den Klassenkampf von unten gegen das korrupte und ausbeuterische kapitalistische System organisiert.




Indien und Pakistan beweisen: ein globaler Plan gegen Covid-19 ist notwendig!

Minerwa Tahir, Infomail 1150, 24. Mai 2021

Während sich die zweite Welle der Virusausbreitung von Covid-19 für Indien in großem Ausmaß als tödlich erweist, scheint sich die Situation in Pakistan, wenn auch in kleinerem Ausmaß, zu verschlimmern. Beide Staaten haben ihr Bestes getan, um einen landesweiten Lockdown gegen den Rat von GesundheitsexpertInnen zu verhindern. Infolgedessen werden täglich Tausende weitere Menschen infiziert, und was hier geschieht, wiederholt sich in halbkolonialen Ländern auf der ganzen Welt.

Indien

Gemeldete Zahlen zeigen über 25 Millionen Fälle in Indien, mit mehr als 280.000 Toten. ExpertInnen sagen, dass die tatsächliche Zahl um ein Vielfaches höher liegt. Selbst mit den veröffentlichten Werten steht Indien nach den USA mit der zweithöchsten Zahl an Fällen in der Welt da. Berichten zufolge sind einige Krematorien im Bundesstaat Gujarat so überlastet, dass die Metallstrukturen der Öfen schmelzen oder brechen. Der Grund? Sie sind rund um die Uhr in Betrieb, weil die Leichen inmitten der Pandemie bergeweise anfallen.

Viele Menschen kämpfen sogar darum, die Mittel zu finden, um ihre Angehörigen einzuäschern. Hunderte von Leichen wurden im Ganges treibend oder im Sand seines Ufers begraben gefunden. Dies ist besonders besorgniserregend. Obwohl einige Hindu-Gemeinschaften die Leichen von Kindern, unverheirateten Mädchen oder solchen, die an ansteckenden Krankheiten gestorben sind, im Fluss treiben lassen, gibt es eine steigende Zahl von armen Hindus, die sich angesichts der rasant steigenden Zahl von Todesfällen einfach keine Einäscherung leisten können. Deshalb wickeln sie den Leichnam in weißen Musselin und schicken ihn in die Gewässer des Ganges. Dadurch kann der Fluss potenziell vergiftet werden.

Engpässe bei Sauerstoff und Krankenhausbetten sind an der Tagesordnung. Diejenigen aus den besitzenden Klassen können es sich leisten, extra zu zahlen, um an die knappen Sauerstoffflaschen und Medikamente zu kommen. Ein stets unzureichendes Gesundheitssystem bedeutet jedoch, dass es nur eine begrenzte Anzahl an Krankenhäusern gibt. Man kann so viel Geld haben, wie man will, aber was nützt das, wenn keine Gesundheitseinrichtungen vorhanden sind? In der Zwischenzeit wird die große Mehrheit der ArbeiterInnenklasse und der unteren Schichten einfach im Stich gelassen und muss zusehen, wie ihre Angehörigen sterben. Natürlich wurde und wird der Ernst der Lage von der Regierung heruntergespielt.

Bisher sind nur etwa 26 Millionen Menschen in Indien vollständig geimpft worden, bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden, während etwa 124 Millionen eine erste Dosis erhalten haben. Indien hat zwar Millionen weiterer Dosen bestellt, aber das Land ist noch weit von dem entfernt, was es braucht. Es hat den weltweit größten Impfstoffhersteller, das Serum Institute of India (Seruminstitut Indiens), doch nur 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben die erste Dosis erhalten und nur 2 Prozent sind vollständig geimpft. Nachdem mehr als 66 Millionen Dosen gespendet oder als Export verkauft wurden, wurde erst im März dieses Jahres die Gier der Unternehmen mit einem Exportstopp für Impfstoffe vorübergehend eingedämmt. Dennoch gehörte das Serum-Institut zu den 418 indischen Unternehmen, die 2019–2020 einen Umsatz von umgerechnet mehr als 55 Milliarden Euro meldeten. Es war auch das Unternehmen, das den höchsten Nettogewinn für jede Rupie Umsatz erwirtschaftete.

Pakistan

Auch die Situation in Pakistan ist besorgniserregend. Die offizielle Zahl der Todesfälle liegt bei 19.617, während die Gesamtzahl der Fälle 880.362 beträgt. Die veröffentlichte Statistik wies in der ersten Märzwoche 16.000 Schwererkrankungen aus und stieg allein im April auf mehr als 140.000 an, dazu kommen über 3.000 Todesfälle. Laut BBC zeigen offizielle Daten, dass die Bettenbelegung in den Intensivstationen der großen öffentlichen und privaten Krankenhäuser in Lahore am 28. April bereits bei über 93 Prozent lag, während in einigen Großstädten der größten und am schlimmsten betroffenen Provinz Punjab die Auslastung von Beatmungsgeräten und Betten mit Sauerstoff über 80 Prozent betrug. Sollte die Zahl der Infektionen steigen, wird nicht nur die Bettenknappheit ein Problem sein. Das Land verbraucht bereits 90 Prozent seines Sauerstoffvorrats, wobei mehr als 80 Prozent auf die Gesundheitsversorgung entfallen.

Die Ober- und Mittelschicht hat inzwischen begonnen, ihre Kontakte zu nutzen, um nicht nur private Krankenhäuser, sondern auch staatliche Gesundheitseinrichtungen aufzusuchen, wenn erstere ausgelastet sind. Auf diese Weise werden die ArbeiterInnenklasse und die Armen weiter von der Behandlung ausgeschlossen. Darüber hinaus gibt es Berichte, dass die Regierung absichtlich weniger Tests durchführt und Menschen trotz eindeutiger Symptome nicht untersucht, um den Ernst der Lage herunterzuspielen. Dies bedeutet, dass die verarmten Massen weiterhin an dem Virus sterben werden, die Ursache ihres Todes aber nicht offiziell anerkannt wird.

Nach Angaben des Sonderassistenten des Premierministers für Gesundheit hat Pakistan seit dem 2. Februar etwas mehr als zwei Millionen Impfdosen ausgegeben. Das sind gerade einmal 0,95 Dosen pro hundert Menschen. Dies ist offensichtlich unzureichend. Indien, das sein Impfprogramm im Januar begonnen hat, hat mehr als 144 Millionen Dosen appliziert, was ungefähr 10,5 Dosen pro hundert Menschen entspricht.

Pakistan, mit einer Bevölkerung von über 220 Millionen Menschen, hat bisher nur 18 Millionen Dosen gesichert, von denen es nur etwas mehr als fünf Millionen erhalten hat. Nach den vom Duke Global Health Innovation Centre zusammengestellten Daten benötigt das Land mindestens 86 Millionen Dosen. Die Economist Intelligence Unit (Forschungs- und Analyseunternehmen der Zeitschrift The Economist) sagt in ihrem Bericht, dass Pakistan erst Anfang 2023 eine flächendeckende Impfung, also 60–70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, erreichen wird.

Halbkoloniale Länder und Pandemie

Die Situation in halbkolonialen Ländern wie Indien und Pakistan stellt eine Gefahr nicht nur für die beiden Länder, sondern für die ganze Welt dar. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Land neue Varianten entstehen, steigt mit wachsender Zahl der Covid-Fälle. Jede einzelne Infektion gibt dem Virus die Chance, sich weiterzuentwickeln. Eine große Sorge ist, dass Mutationen entstehen könnten, die Impfstoffe unwirksam machen. In diesem Szenario sind die Abriegelung nicht lebensnotwendiger Industrien, soziale Distanzierung und Impfungen der einzige Weg.

Während Länder wie Indien und Pakistan keine Chance haben, eine effektive Impfung ihrer riesigen Bevölkerung aus eigener Kraft zu gewährleisten, sind ihre Regierungen auch nicht an einer Schließung der nicht lebensnotwendigen Industrie interessiert. Der indische ÄrztInnenverband sagte Anfang des Monats, dass eine „vollständige, gut geplante und im Voraus angekündigter nationaler Lockdown“ für 10 bis 15 Tage dem überlasteten Gesundheitssystem des Landes Zeit geben würde, „sich zu erholen und sowohl das Material als auch die Arbeitskräfte wieder zu ergänzen“, die es braucht.

In ähnlicher Weise haben auch GesundheitsexpertInnen in Pakistan die Bedeutung eines Shutdowns betont. Beide Regierungen bestehen darauf, dass eine solcher die letzte Option wäre. Premierminister Imran Khan würde gerne warten, bis die Umstände „die gleichen wie in Indien“ werden. Angesichts von mehr als 280.000 toten InderInnen fragt man sich, wann die Zeit für die von der Bharatiya Janata Party (BJP) geführte Regierung reif wäre, die sogenannte letzte Option umzusetzen.

Zynismus, Überausbeutung und Repression

Beide Premierminister, Khan und Modi, benutzen zynisch das Leiden der einfachen werktätigen Massen als Vorwand, um Aussperrungen zu verhindern. Es ist sicherlich wahr, dass die ArbeiterInnenklasse, insbesondere ihre schwächsten Schichten, schwer leidet, da sie keine Mittel hat, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen oder für Miete und andere Ausgaben aufzukommen. Aber beide Staaten übernehmen keinerlei Verantwortung, wenn es darum geht, in solch schwierigen Zeiten für die Bedürfnisse der Massen zu sorgen. Sie wenden alles auf, um der KapitalistInnenklasse Hilfspakete zu geben, aber sie haben nichts für die Massen übrig.

Der Grund für den Widerstand gegen den Shutdown der nicht lebensnotwendigen Industrie ist einfach die Wahrung der Interessen des Kapitals. Während Ereignisse wie die Kumbh Mela (größtes hinduistisches Fest) sicherlich zu dem enormen Anstieg der Fallzahlen beigetragen haben, werden jeden Tag ArbeiterInnen in beengte AusbeuterInnenbetriebe gezwungen, um Profit für die KapitalistInnenklasse zu machen. Wir finden kaum JournalistInnen, der über diese täglichen Superinfektion sprechen.

In Indien und Pakistan ist ein massives Durchgreifen gegen demokratische Freiheiten im Namen von Maßnahmen gegen das Virus im Gange. Beide Staaten haben ihre militärischen Kräfte noch weiter ermächtigt, um Einschränkungen durchzusetzen. Dies geschieht nicht aus tatsächlicher Sorge um das Leben der Menschen, sondern um im Falle eines Aufstandes, der aufgrund der kriminellen Nachlässigkeit der Regierungen ausbricht, diesen im Keim zu ersticken. Die BJP-geführte Regierung hat im vergangenen Jahr bereits zwei Generalstreiks gegen ihre neoliberale, arbeiterInnen- und bäuerInnenfeindliche Politik erlebt.

Unterdessen läuft die chauvinistische Rhetorik gegen Pakistan seitens der BJP weiter. Der pakistanische Premierminister bot Indien am 25. April angesichts der Covidkrise Unterstützung an. Edhi, eine bekannte Wohltätigkeitsorganisation in Pakistan, erklärte sich ebenfalls bereit, angesichts der steigenden Covid-19-Fälle im Land medizinische Hilfe zu schicken. Modis hindunationalistische BJP-Regierung lehnte diese Angebote mit der Begründung ab, dass sie keine Hilfe von der „feindlichen Nation“ annehmen werde.

Höchstwahrscheinlich hat die pakistanische Regierung mit einer solchen Reaktion gerechnet und deshalb das Angebot gemacht. Realistisch betrachtet verfügt Pakistan nicht über die Mittel, sich um die Gesundheitsversorgung der eigenen Bevölkerung zu kümmern, geschweige denn einer so großen Population wie der Indiens zu helfen. Dennoch sind solche Manöver für die indische und pakistanische herrschende Klasse nützlich, da sie helfen, den nationalistischen Hass und Chauvinismus auf beiden Seiten am Leben zu erhalten.

Kerala

Schließlich hat das Beispiel des indischen Bundesstaats Kerala veranschaulicht, was auch unter dem Kapitalismus getan werden könnte, um die Auswirkungen der Pandemie zu mildern. Dort hat die reformistische Regierung der Linken Demokratischen Front, einer von der Communist Party of India – Marxist (CPI-M) dominierten Koalition, einen kommunalen Gesundheitsdienst eingerichtet und Regierungsbefugnisse genutzt, um die Reaktion auf die Pandemie zu unterstützen. Das Ergebnis: Während der größte Teil Indiens in Notstand geriet, herrschte in dem Bundesstaat kein Mangel an Sauerstoff, weil im Oktober letzten Jahres entsprechende Maßnahmen ergriffen wurden.

Außerdem beschaffte sie rechtzeitig ausreichende Vorräte an Remdesivir und Tocilizumab und anderen Medikamenten. Diese können die Infektion zwar nicht verhindern, aber die Sterblichkeitsrate durch das Virus drastisch senken. Als die Pandemie fortschritt, wurden diese Arzneimittel später zu exorbitanten Preisen auf dem Schwarzmarkt in der Hauptstadt und anderen Städten verkauft. Letzte Woche gab Kerala 100.000 unbenutzte Fläschchen mit Remdesivir an das Verteilerzentrum zurück, um sie an andere bedürftige Bundesstaaten auszuliefern.

Obwohl Kerala sicher kein kommunistisch regierter Staat ist, hat seine Strategie einen bedeutenden Einfluss auf die Eindämmung der Ausbreitung des Virus gehabt. Sie steht nicht nur in scharfem Kontrast zur Politik der Zentralregierung, sondern ist auch ein Hinweis darauf, was nötig ist, um mit einer so großen Krise umzugehen. Es müssen alle Ressourcen der Gesellschaft mobilisiert werden, unabhängig von Patenten, Profiten oder Eigentumsrechten. Wir brauchen eine Regierung, die wirklich die Interessen der Massen vertritt, ihnen gegenüber direkt rechenschaftspflichtig ist und die effiziente Verteilung der Ressourcen planen kann.

Wir brauchen zwar eine Koordination auf Landes- und Provinzebene, aber es bedarf einer zentralen Planung nicht nur für einzelne Länder, sondern auch zwischen ihnen. Die Notlage der Massen in der halbkolonialen Welt, wenn es um Impfstoffe geht, in Verbindung mit dem Horten und Überangebot von Impfstoffen in den imperialistischen Ländern, unterstreicht die Notwendigkeit einer demokratischen Planung auf globaler Ebene.

Forderungen

Einige Forderungen, die wir in diesem Szenario vorbringen sollten, sind:

  • Die imperialistischen Länder müssen von den ArbeiterInnenbewegungen gezwungen werden, die Verantwortung für die Bezahlung von Massenimpfungen und Behandlungen in halbkolonialen Ländern wie Indien und Pakistan zu übernehmen! Großbritannien und Australien haben sich beide dreimal mehr Impfstoffe gesichert, als ihre gesamte Bevölkerung benötigt. Das Horten von Impfstoffen muss sofort aufhören.
  • Streichung aller Schulden der halbkolonialen Länder! Die Regierungen Pakistans und Indiens müssen sich weigern, Schulden an alle imperialistischen Länder, an lokale und internationale Unternehmen und Banken sowie an internationale Finanzinstitutionen zurückzuzahlen. Die in den Haushalten eingestellten Mittel für den Schuldendienst müssen für die sofortige und kostenlose Versorgung mit Impfstoffen, Medikamenten, Sauerstoff und Betten sowie Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal verwendet werden.
  • Die ArbeiterInnenorganisationen und -bewegungen in den imperialistischen Ländern müssen Proteste rund um das Thema Schuldenerlass organisieren und es politisieren! Mit Verschuldung sind fast alle Halbkolonien konfrontiert, also müssen wir transnationale Bewegungen aufbauen, um die Schulden zu streichen. Internationale Solidarität ist der Weg nach vorn.
  • Große Hotels, Privatschulen und Luxusanlagen müssen in kostenlose und öffentliche Quarantäneeinrichtungen umgewandelt werden! Einrichtungen, die sich weigern, müssen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.
  • Schließung von nicht lebensnotwendigen Industrien ! Alle Unternehmen müssen die ArbeiterInnen bei vollem Lohn nach Hause schicken. Unternehmen, die sich weigern, müssen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.
  • Bereitstellung von kostenloser Schutzausrüstung, häufigen Tests und Rotationspläne für alle ArbeiterInnen in notwendigen Bereichen!
  • Öffnung der Geschäftsunterlagen aller Unternehmen, um ihre tatsächliche Bilanz einzusehen! Es muss eine progressive Besteuerung der Reichen eingeführt werden, um das Leben der einfachen Massen zu retten, indem nicht nur eine kostenlose Gesundheitsversorgung, sondern auch kostenlose Lebensmittel bereitgestellt werden.
  • Kostenlose Versorgung mit Strom, Gas und Wasser für alle!
  • Verweigerung der Mietzahlung, bis die Pandemie vorbei ist! Wir müssen MieterInnengewerkschaften aufbauen, was in Verbindung mit dem Mietboykott zur Notwendigkeit der Verstaatlichung des Wohnungssektors führen sollte. Wir fordern vom Staat die Einführung einer Gesetzgebung, die die Zwangsräumung von Menschen, die ihre Mieten während der Pandemie nicht zahlen können, unter Strafe stellt.
  • Alle Bildungseinrichtungen sind sofort zu schließen! Das Lehrpersonal soll mit einer angemessenen Ausbildung ausgestattet werden, um kostenlos Online-Unterricht zu erteilen! Allen SchülerInnen und LehrerInnen sind kostenloses Internet und kostenlose Geräte zum Online-Lernen durch öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen!
  • Erhöhung der Haushalte für Gesundheit und Bildung auf jeweils 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durch Kürzung des Militärbudgets!
  • Recht auf Versammlung für Proteste und Demos! Die ArbeiterInnenklasse muss sich durch Sicherheitsmaßnahmen schützen. Wir können nur für unsere Zukunft kämpfen, wenn wir leben. Deshalb sind soziale Distanzierung, Masken und Händewaschen notwendige Maßnahmen.
  • Der Staat muss allen Bedürftigen ein Mindestmaß an Lebensmittelrationen (oder Geld dafür) zur Verfügung stellen!
  • Öffentliche Kontrolle und Transparenz über alle auf Covid-bezogenen Wohltätigkeitsorganisationen und Spendenaktionen!
  • Patentrechte für Impfstoffe und Arneimittel müssen sofort abgeschafft werden!
  • Entschädigungslose Enteignung aller große Pharmafirmen wie des Seruminstituts Indiens. Es darf ihnen nicht mehr erlaubt werden, vom Elend der Menschheit zu profitieren. Macht die Technologie und das Know-how für die Impfstoffproduktion zugänglich, um die Produktion weltweit zu maximieren! Die große Pharmaindustrie muss unter ArbeiterInnenkontrolle zwangsweise verstaatlicht werden.



Sofortige Aufhebung des Patentschutzes – Corona-Impfstoff für alle!

Katharina Wagner, Infomail 1150, 18. Mai 2021

Wer in den letzten Wochen Nachrichten hörte oder die Zeitung aufschlug, dürfte überrascht gewesen sein. Denn nach wochenlangen Diskussionen über den herrschenden Impfnationalismus forderte plötzlich auch Joe Biden das zumindest vorübergehende Aussetzen des Patentschutzes, um die weltweite Versorgung mit Impfstoffen gegen COVID-19 und damit ein Beherrschen der Corona-Pandemie zu gewährleisten.

Unter Druck von progressiven DemokratInnen und BefürworterInnen des öffentlichen Gesundheitswesens, vor allem wegen der derzeit katastrophalen Zuspitzung der Pandemie in Indien, sah sich der US-Präsident zu einer geänderten Stellungnahme gezwungen. Natürlich nicht ohne zu ergänzen, dass er nach wie vor die bereits verfügbaren Impfstoffe zunächst für die eigene Bevölkerung einsetzen werde.

Weltweite Forderung

Die Forderung nach Aussetzung der Patente wird seitens der WHO und vielen Ländern des globalen Südens seit langem geäußert, um die Produktion von Impfstoffen weltweit ohne Zahlung von Lizenzgebühren zu ermöglichen. Bereits im Oktober 2020 wurde durch Brasilien und Indien ein Antrag an die Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht, der die Aussetzung von mehreren Punkten des TRIPS-Abkommens vorsieht. Dieser wird mittlerweile von über 100 Ländern unterstützt. Hierbei geht es um die Aussetzung bestimmter Aspekte bezüglich des Recht sauf geistiges Eigentum in Bezug auf Vakzine, Heilmittel und medizinische Ausrüstung im Zusammenhang mit COVID-19. Ein solcher Antrag muss aber von den Mitgliedsstaaten einstimmig angenommen werden und scheiterte bisher am Veto der USA und der EU.

Warum die Forderung nach Aufhebung der Patente für Vakzine nicht von der Hand zu weisen ist, zeigen die Zahlen der bisherigen globale Impfstoffverteilung. Afrikanische Staaten, deren Anteil an der Weltbevölkerung rund 16 % der Gesamtbevölkerung ausmacht, wurden bisher nur mit 2 % der verfügbaren Impfstoffmenge beliefert. Dem gegenüber sollen bis zu 70 % der verfügbaren Vakzine an die Industriestaaten gehen. Und dass sich die ärmeren Länder dieser Welt nicht alleine auf das COVAX-Programm der WHO verlassen dürfen, ist nicht erst seit dem starken Anstieg der Infektionszahlen in Indien deutlich geworden, welcher zu drastischen Reduzierungen der für das Programm bestimmten Impfdosen geführt hat. Die dort hergestellten Dosen des AstraZeneca-Impfstoffes werden nun dringend für die eigene Bevölkerung benötigt und fehlen somit außerhalb Indiens.

Die Forderung nach Aussetzung des Patentrechts für Impfstoffe wird sogar von der Bevölkerung der imperialistischen Länder befürwortet. Rund 70 % der Befragten in G7-Staaten sind laut einer Meinungsumfrage für die Aussetzung des Patentrechts, um die globale Pandemie schnellstmöglich zu beenden. Schließlich müsste jedem klar sein, dass die Pandemie nur global überwunden werden kann. Vor allem in Regionen mit geringer Impfquote ist biologisch betrachtet die Wahrscheinlichkeit von weiteren Mutationsvarianten deutlich erhöht, und somit wird auch die Wirksamkeit der Impfstoffe aufs Spiel gesetzt.

Lautstarke Kritik und Erklärungsversuche

Vor allem aus der EU kommt großer Vorbehalt gegen diesen Antrag. Bundeskanzlerin Merkel hat sich bereits mehrmals eindeutig gegen die Aufhebung des Patentschutzes ausgesprochen. Aus Kritikerkreisen ist zudem zu hören, dass nicht der bestehende Patentschutz, sondern vor allem die fehlenden Produktionskapazitäten, Fachkenntnisse und die Beschaffung von Rohstoffen die größten Hindernisse seien.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU bei einer Aufhebung des Patentschutzes vor allem Wettbewerbsvorteile für die Volksrepublik China befürchtet. Denn diese könne im Gegensatz zu vielen halbkolonialen Ländern die dann zugänglichen Informationen viel schneller für eigene Impfstoffproduktionen nutzen.

Im Folgenden wollen wir die Entwände gegen eine Aufhebung des Patentschutzes näher betrachten. Tatsächlich handelt es sich bei der Herstellung von mRNA-Impfstoffen um ein völlig neuartiges Verfahren, und nur wenige Pharma- beziehungsweise Biotechfirmen verfügen derzeit tatsächlich über das notwendige Fachwissen, um diese Impfstoffe in hoher Qualität herzustellen. Dies liegt aber in erster Linie an dem sehr restriktiven Vorgehen der Biotechfirmen BioNTech, Moderna sowie CureVac, welche ihre jeweiligen KooperationspartnerInnen meist nur mit einzelnen Schritten innerhalb des Herstellungs- oder Abfüllungsprozesses beauftragen, um die Produktionsmengen zu erhöhen. Hierbei werden aber lediglich die zwingend erforderlichen Informationen weitergeleitet. Ein vollständiger Wissenstransfer findet nicht statt.

Im Oktober 2020 gab es von der US-amerikanischen Biotechfirma Moderna sogar das Angebot, den Patentschutz für ihr mRNA-Vakzin nicht durchsetzen zu wollen, damals vermutlich hauptsächlich aus Imagegründen, und das geistige Eigentum erst nach Ende der Pandemie lizenzieren zu wollen. Auch die Mainzer Firma BioNTech hat kürzlich angekündigt, ihre Patente kurzfristig aussetzen und bis zum Ende der Pandemie den Patentschutz juristisch nicht durchsetzen zu wollen.

Allerdings wird ein Ende der Pandemie von der WHO festgelegt, und da in zahlreichen Industrieländern schon ein gewaltiger Impffortschritt und niedrige Inzidenzzahlen erzielt werden konnten, könnte dieses „Ende“ vielleicht früher als erwartet verkündet werden, während sich die Pandemie in den halbkolonialen Ländern mit voller Wucht weiter ausbreitet.

Ob die jeweilige Zeitspanne dann ausreichend ist, um in diesen Ländern die erforderlichen Produktionskapazitäten aufbauen und Fachpersonal bereitstellen zu können, bleibt fraglich. Daher ist die Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes notwendig, aber nicht ausreichend. Ebenso wichtig ist die Forderung nach einem umfassenden Technologie- und Wissenstransfer sowie nach Bereitstellung von personellen und finanziellen Ressourcen, um die weltweiten Produktionskapazitäten für diese Art von Impfstoff stark auszuweiten.

Allerdings ist dies ohne Zugang zum Wissen und zur Erfahrung der jeweiligen Unternehmen kaum denkbar. Es bräuchte daher staatliche Zwangsmaßnahmen, um einen Transfer dieses Wissens und eine umfassende Kooperation zu erzwingen. Ein weiteres Mittel, welches schon jetzt eingesetzt werden könnte, wäre die Vergabe von Lizenzen an andere, auch internationale Pharmafirmen. Firmen aus Dänemark, Bangladesch sowie Indonesien und Südafrika hatten sich bisher vergeblich bemüht, in die Impfstoffherstellung einzusteigen. Doch bisher wurden selbst diese Schritte unter Berufung auf den Patentschutz vor allem von den USA und der EU blockiert. Die rechtliche Möglichkeit der Zwangslizenzierung wird aufgrund des enormen Drucks seitens der Pharmabranche von den bürgerlichen Regierungen natürlich auch nicht genutzt.

Nicht nur bei der Patentfrage, sondern auf allen Ebenen erweist sich das Profitinteresse der großen Kapitale als entscheidendes Hindernis für eine effektive, international koordinierte Pandemiebekämpfung.

Zahlreiche Initiativen weltweit

Derzeit gibt es international zahlreiche Initiativen von NGOs, Sozial- und Gesundheitsverbänden sowie Gewerkschaften, welche eine Aussetzung des Patentschutzes fordern. Neben der Partei DIE LINKE, welche bereits im Januar diesen Jahres einen entsprechenden Antrag zur Freigabe der Patente im deutschen Bundestag einreichte, stellen sich auch zahlreiche linke Gruppen wie marx21 oder die Interventionistische Linke (IL) eindeutig hinter diese Forderung.

Im Kampf für das weltweite Recht auf Gesundheit und freien Zugang zu Impfstoffen sind transnationale, breite Bündnisse wie bspw. die Bewegung #ZeroCovid unbedingt notwendig. Zwar fehlt diesen losen Bündnissen oft noch ein „politischer Hebel“. Dennoch ist es gelungen, diese Forderung zu verbreitern und somit zumindest einen Ansatzpunkt für einen gemeinsame Kampf zu finden. Um allerdings global einen gerechten Zugang zu Impfstoffen durchzusetzen, reicht allein die Forderung nach einer Aussetzung des Patentrechtes nicht aus, vielmehr muss die weitreichendere Forderung nach vollständiger Enteignung der Pharmakonzerne sowie des gesamten Gesundheitssektors auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Denn es herrscht ja nicht nur eine ungleiche Verteilung von Impfstoffen, sondern auch von Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung, von finanziellen Ressourcen und Produktionskapazitäten insgesamt. Und eines ist im Zuge der Pandemie sehr deutlich geworden: Innerhalb einer kapitalistischen Marktwirtschaft handelt es sich dabei in erster Linie nicht um „öffentliche Güter“, sondern zunächst einmal um Waren, mit denen Profit erwirtschaftet werden kann. Eine weitere, und bereits angesprochene Forderung ist der notwendige Technologietransfer. Dieser kann freilich nicht den einzelnen EigentümerInnen und dem Management überlassen werden. Die Aufhebung von Patenten und der öffentliche Zugang zu Know-how und Forschungsergebnissen muss vielmehr durch die ArbeiterInnenklasse erzwungen und deren Kontrollorgane überwacht werden. Nur so kann ein zügiger Ausbau von Produktionskapazitäten medizinisch notwendiger Güter weltweit und eine Versorgung sichergestellt sowie die Abhängigkeit halbkolonialer Länder von Industriestaaten abgebaut werden.

Perspektive

Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht unterstützen die oben genannten Forderungen ausdrücklich, allerdings wurde bisher nicht deutlich genug dargestellt, wie die Umsetzung dieser Forderungen praktisch tatsächlich erreicht werden kann. Zwar spricht die IL auch davon, dass der „Druck der Straße“ jetzt notwendig sei und wir nicht müde werden dürfen „gegen die Unternehmensinteressen wie auch gegen die Macht der Herrschenden das Recht auf Gesundheit zu verteidigen und ihre Warenförmigkeit anzugreifen“. Wer dieses „Wir“ aber eigentlich verkörpert, wird leider nicht näher erläutert.

Anders als die IL gehen wir davon aus, dass die Lohnabhängigen zur führenden Kraft in den Bündnissen, bestehend aus Gewerkschaften, NGOs sowie Teilen des KleinbürgerInnentums, werden müssen. Aus unserer Sicht kann dies nur durch einen solidarischen Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse und ihrer jeweiligen Organisationen, allen voran den Gewerkschaften, gelingen – einen Kampf, der nicht nur auf Demonstrationen setzt, sondern auch durch Streiks und betrieblich Aktionen das Gewicht der ArbeiterInnenklasse in die Waagschale wirft.

Ebenso ist eine Vernetzung mit anderen sozialen Kämpfen notwendig. Um die Gewerkschaften stärker in den Kampf für das Recht auf Gesundheitsschutz und eine globale Gesundheitsversorgung einzubeziehen, muss gegen die herrschende Gewerkschaftsbürokratie und die „Sozialpartnerschaft“ vorgegangen werden. Dazu ist der Aufbau einer oppositionellen, klassenkämpferischen Basisbewegung unerlässlich. Auch die Forderung nach Enteignung der Pharmakonzerne und des Gesundheitssektors allein ist nicht ausreichend. Sie müssen nicht nur enteignet, sondern danach unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse gestellt werden. Denn nur so wird es uns gelingen, den dringend benötigten Wissens- und Technologietransfer zu organisieren und den weltweiten Ausbau von Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Medikamente und medizinische Ausrüstung massiv voranzutreiben.

Weder die kapitalistische Pharmaindustrie noch bürgerliche Regierungen haben ein wirkliches Interesse daran. Lediglich für die gesamte internationale ArbeiterInnenklasse besteht ein objektives Interesse an einer gerechten Gesundheitsversorgung weltweit. Daher dürfen wir die Bekämpfung dieser Pandemie weder den bürgerlichen Regierungen noch den KapitalistInnen überlassen und treten für folgende Forderungen ein:

  • Koordination aller Forschungen und Entwicklungsbemühungen statt Wettbewerb um den schnellsten Profit: sofortige Aufhebung des Patentschutzes, welcher nur die Monopolprofite der Konzerne schützt! Bildung einer internationalen Kommission, gewählt aus SpezialistInnen, welche die Forschungsteams in den verschiedenen Bereichen koordiniert!
  • Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und Offenlegung aller Forschungsergebnisse staatlicher wie privater Institute.!Internationale Koordinierung der Impfstoffentwicklung sowie kostenloser Zugang zu sicheren Impfstoffen für alle Menschen weltweit!
  • Aufhebung aller Exportstopps für Vakzine, dringend benötigte Rohstoffe einschließlich Verpackungsmaterial sowie medizinische und technische Ausrüstung, um eine globale Impfstoffproduktion sowie -versorgung sicherzustellen!
  • Massiver Ausbau der globalen Produktionskapazitäten für die Impfstoff- und Arzneimittelherstellung, Technologie- und Wissenstransfer, um weltweit sichere Impfstoffe mit höchster Qualität herstellen zu können, bezahlt durch eine massive Besteuerung derer, die in der Pandemie noch reicher wurden!
  • Entschädigungslose (Wieder-) Verstaatlichung der privatisierten Teile des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, um die Ressourcen zu bündeln und unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen!
  • Für eine frei zugängliche, globale Gesundheitsversorgung, die sich nach den tatsächlichen Bedürfnissen und nicht an Profiten orientiert!