Myanmar: Armee eskaliert das Morden

Dave Stockton, Infomail 1144, 1. April

Die Tatmadaw, die Streitkräfte und MassenmörderInnen, die Myanmar regieren, greifen mehr und mehr zum systematischen Mord an den AnhängerInnen der Protestbewegung. Die Zahl der Toten steigt rapide. Die Hilfsvereinigung für politische Gefangene, die wichtigste Menschenrechtsorganisation des Landes, bestätigt die Tötung von 459 ZivilistInnen. Die wahre Zahl liegt aber wahrscheinlich viel höher. Am 27. März wurden mindestens 40 Menschen in Mandalay und mindestens 27 Menschen in Yangon (Rangun) umgebracht. Die Polizei ermordete sogar Menschen in ihren eigenen Häusern, darunter ein siebenjähriges Mädchen, dem in den Bauch geschossen wurde, eine von 20 Minderjährigen im Alter zwischen 10 und 16 Jahren, die seit dem Putsch getötet wurden.

Darüber hinaus hat die Luftwaffe, die ein Zusammengehen der unbewaffneten Proteste des zivilen Ungehorsams mit den bewaffneten RebellInnen der ethnischen Minderheiten befürchtet, mit der Bombardierung von Dörfern im östlichen Bundesstaat Karen begonnen, wodurch Tausende über die Grenze nach Thailand geflohen sind. Drei dieser bewaffneten Gruppen, darunter die Arakan-Armee des Staates Rakhaing haben gemeinsam das Militär aufgefordert, das Töten einzustellen.

Repression und Zuspitzung der Lage

Während das Gemetzel in anderen Städten weiterging, sprach in der Hauptstadt Naypyidaw der oberste Mörder des Landes, Min Aung Hlaing, bei der Militärparade zum Tag der Streitkräfte, bei der auch VertreterInnen des chinesischen und russischen Militärs unauffällig anwesend waren. Gleich und gleich gesellt sich gern … , wie man so schön sagt. „Russland ist ein wahrer Freund“, bemerkte der Putschist, was auch der syrische Schlächter Baschar al-Assad bezeugen würde.

Es besteht nun die sehr reale Möglichkeit, dass die Tatmadaw das grausame Abschlachten der Opposition von 1988 wiederholt, bei dem an die 10.000 Menschen ums Leben kamen. Allein am Samstag, den 27. März, gab es 114 Tote, viele davon durch gezielte Kopfschüsse. Damit erfüllte die Armee eine ausdrückliche Drohung: „Ihr solltet aus der Tragödie früherer hässlicher Todesfälle lernen, dass ihr in Gefahr sein könnt, in Kopf und Rücken geschossen zu werden“, verkündete die Armee über ihren MRTV-Nachrichtenkanal am Freitag.

An den darauffolgenden Tagen kam es dennoch zu zahlreichen Zusammenkünften in Rangun, Mandalay und Dutzenden von Städten und Ortschaften im ganzen Land. Es gibt weit verbreitete Streiks von Regierungsangestellten, die das nicht-militärische Funktionieren des Staates lahmgelegt haben. Friedliche Demonstrationen weichen auch einem entschlosseneren Widerstand in Stadtbezirken Yangons wie Hlaing Tharyar und Süd-Dagon. Es sind Bilder von Protestierenden aufgetaucht, die Schleudern, Molotowcocktails und sogar selbstgebaute Gewehre hinter aus Sandsäcken gebauten Barrikaden abfeuerten, nachdem sie unter Beschuss der Sicherheitskräfte geraten waren.

Der Fernsehsender Al Jazeera interviewte einen zwanzigjährigen Anführer, Codename „Fox“, von einer der kleinen Gruppen, die diesen kämpferischen Widerstand organisieren. Er sagte, dass er und seine Gruppe friedlich demonstrierten, bis das Militär begann, ihre FreundInnen zu töten: „Da haben wir beschlossen, dass wir zurückschlagen werden“. Er berichtete jedoch auch, dass sie in den Untergrund gehen mussten, als die Polizei eine Person gefangen nahm und die Namen auf ihrem Mobiltelefon benutzte, um den Rest zu jagen.

Die Protestbewegung hat sich auch auf Regionen ausgeweitet, die von den nationalen Minderheiten Myanmars bewohnt werden, zu denen rund 30 % der Bevölkerung zählen. Das Generalstreikkomitee der Nationalitäten forderte in einem offenen Brief auf Facebook die RebellInnen in diesen Regionen auf, denjenigen zu helfen, die sich dem Militär entgegenstellen: „Es ist notwendig, dass die bewaffneten ethnischen Organisationen gemeinsam das Volk schützen“.

Am Wochenende des 27. und 28. März kam es in der Nähe der thailändischen Grenze zu schweren Zusammenstößen zwischen Truppen der Tatmadaw und GuerillakämpferInnen der Nationalen Union von Karen, KNU, als Düsenjäger einen ihrer Stützpunkte bombardierten. Das Militär hat nie auch nur das geringste Maß an Autonomie für die Minderheiten akzeptiert und eindeutig Waffenstillstände, die mit der zivilen Regierung von Aung San Suu Kyi ausgehandelt wurden, gebrochen. Zehntausende von Karen leben nach wiederholten Bombardierungen durch das Militär seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern in Thailand.

Die anhaltenden Generalstreiks der Bahn-, Bank-, Fabrik- und LadenarbeiterInnen sowie der BeamtInnen haben die Wirtschaft lahmgelegt. Finanzielle Transaktionen sind zum Stillstand gekommen, nachdem die Mehrheit des Personals bei großen Privatbanken wie Kanbawza (KBZ) und Ayeyarwady (AYA) die Arbeit niedergelegt hat. Sogar die militärinterne Myawaddy-Bank meldete, dass ihre Bargeldreserven gering seien und begrenzte die Bargeldabhebungen auf 355 US-Dollar pro Tag.

Die verstärkte Verbarrikadierung und Selbstverteidigung von Schlüsselbezirken und, wo immer möglich, die Bewaffnung der DemonstrantInnen, kombiniert mit dem Generalstreik und einer Einheitsfront mit den nationalen Minderheiten, könnte die Generäle in die Defensive treiben, Einheit und Disziplin der Armee brechen. Das ist die einzige Hoffnung, aber sie ist nicht aussichtslos. Es gibt viele Berichte, dass Sicherheitskräfte nicht nur nach Indien desertieren, sondern sich der Protestbewegung anschließen.

Was tun?

Um den Widerstand gegen die Tatmadaw zu maximieren, muss die Demokratiebewegung unter der Bamar-Mehrheit das Selbstbestimmungsrecht der anderen Nationalitäten offen als einen wesentlichen Bestandteil ihres eigenen Programms für Demokratie anerkennen.

Sicher ist, dass Gewaltlosigkeit oder „moralische Gewalt“ weder die Bestien, die die Tatmadaw anführen, zähmen noch die Disziplin der SoldatInnen und der Polizei brechen wird. Diese Kräfte müssen erkennen, dass die Bewegung gewinnen kann, dass sie gewinnt, und dass sie sich ihr anschließen sollten, oder sie werden sich für ihre Taten vor der Volksjustiz verantworten müssen. Dann wird die Disziplin zerbröckeln. Die Unterstützung von ArbeiterInnen aus Nachbarländern und der ganzen Welt ist ebenfalls wichtig. Diese sollte sich auf Aktionen der ArbeiterInnenschaft konzentrieren, um Waffenlieferungen und militärische Zusammenarbeit, Finanztransfers oder Handel mit der Junta zu stoppen.

Der entscheidende Punkt ist, dass in Myanmar wie in den vielen spontanen Volksrevolutionen der vergangenen zwei Jahrzehnte die Bewegung gegen die Diktatur, die von der Jugend und den ArbeiterInnen angeführt wird, einen organisierten politischen Ausdruck braucht, der weit kühner ist als die Nationale Liga für Demokratie und ihre mit dem Blut nationaler Minderheiten befleckte Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Sie und ihre Regierung haben wiederholt angedeutet, dass sie weiterhin das Militär als nationale Institution unterstützen. Im Jahr 2017 weigerte sie sich beschämenderweise, die brutale Vertreibung von 723.000 Rohingyas nach Bangladesch und die Inhaftierung von weiteren 130.000 in elenden Lagern in der Provinz Rakhine zu verurteilen.

Der massive und heldenhafte Widerstand gegen den Putsch in Myanmar zeigt genauso wie die massenhaften Volksaufstände in Ägypten, Syrien und einer Reihe anderer Länder während des vergangenen Jahrzehnts, dass das Militär und die Polizeikräfte Agenturen der Tyrannei über genau die Menschen sind, die sie angeblich verteidigen sollen. Sie müssen im Prozess der Revolution zerschlagen, aufgelöst und durch Milizen der ArbeiterInnen und Massen ersetzt werden. Ebenso müssen die GroßkapitalistInnen, sowohl die ausländischen als auch die einheimischen, enteignet und die Industrien, Banken, Agrarbetriebe, Minen usw. des Landes in einem geplanten Entwicklungssystem zusammengefasst werden, das von den Organisationen der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen kontrolliert wird.

Zu guter Letzt: Sollte die Revolution von 2021 tragischerweise daran scheitern, die Macht des Militärs zu brechen und damit enden, dass Zehntausende, vielleicht Hunderttausende, ins Exil fliehen, wird die Notwendigkeit einer revolutionären kommunistischen Organisation noch akuter sein. Sie kann von einer riesigen Schicht junger Militanter wie „Fox“ aufgebaut werden, wenn sie die Lehren daraus ziehen, die Sackgasse eines Patriotismus, der auf der Bamar-Mehrheitsethnie und dem Pazifismus aufbaut, zurückweisen und das Programm der permanenten Revolution annehmen, d. h. den Kampf für demokratische Forderungen in den Rahmen des Kampf für die Macht der ArbeiterInnen im Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen in Myanmar und international stellen.




Fiasko Osterpause: Politische Achterbahn statt Bekämpfung der Pandemie

Martin Suchanek, Neue Internationale 254, April 2021

Die Hängepartei geht weiter. Nachdem sich Bund und Länder Anfang März aufgrund des Drucks der Wirtschaft noch eine bunte Mischung von Öffnungsschritten vorgestellt hatten, verkündete das selbsternannte „Team Vorsicht“ um Kanzlerin Merkel, den bayrischen Ministerpräsidenten Söder und den Berliner Bürgermeister Müller in der Nacht vom 22. zum 23. März, dass nunmehr auf die Bremse zu treten sei. Die Corona-Politik, in der Substanz zwar unverändert, sollte einen Schritt in die andere Richtung machen.

Schließlich befänden wir uns mitten in einer dritten Welle der Pandemie. Stetig steigende Inzidenzwerte, die Ende März konstant über 100 liegen und mit großer Wahrscheinlichkeit weiter nach oben gehen werden, belegen das ebenso wie die Veränderungen des Virus selbst. Die weitaus ansteckendere und lebensbedrohlichere Mutante B. 1.1.7, die sog. britische, wurde auch in Deutschland zur vorherrschenden.

Vorsicht?

Innerhalb weniger Stunden entpuppte sich „Team Vorsicht“ als „Team Kurzsicht“. Die vor dem Regierungsgipfel aus dem Hut gezauberte „Osterpause“, die ohnehin nie mehr war als ein unklar definierter möglicher arbeitsfreier Gründonnerstag, wurde am 24. März aufgrund des Drucks aus der Wirtschaft, aber auch aus den Reihen der Unionsparteien wieder zurückgezogen.

Dabei sollte eigentlich die sog. „Notbremse“ greifen, sprich ab einem Inzidenzwert von 100 sollen partielle Öffnungen, die Anfang März auf den Weg gebracht wurden, zurückgefahren werden. Doch die Osterpause entpuppte sich als schlechter vorgezogener Aprilscherz. Ihre Rücknahme befördert eine veritable Führungskrise im bürgerlichen Lager. Zum Zeitpunkt der Drucklegung des Artikels folgte eine weitere Regierungserklärung samt Entschuldigung der Kanzlerin. Ein zusätzlicher Bund-Länder-Gipfel ist wohl auch geplant.

Während das Kabinett Merkel im Frühjahr 2020, also vor etwas weniger als einem Jahr, wegen seines erfolgreichen Krisenmanagements in den Meinungsumfragen breite Zustimmung erhielt, wurde dieser Bonus längst verspielt. Eine Antwort auf die brennenden Fragen der Pandemie wie auch die sozialen Existenznöte trauen immer weniger Menschen dieser Regierung zu. Zu Recht!

Die Politik von Merkel und Co. erschöpft sich in einem „Weiter so“, das nur neu verpackt wird. So wurde beim Bund-Länder-Gipfel, sehen wir von der Osterposse ab, der bestehende Lockdown bis zum 18. April verlängert.

Die Frage der Schließungen der Schulen und Kitas konnte ein Stück weit umschifft werden, da in diese Zeit ohnehin die Osterferien fallen, diese also für zwei Wochen geschlossen sind.

Umso heftiger umstritten war dafür die Öffnung des Inlandstourismus. Die fünf Küstenländer wollten hier Sonderregelungen durchsetzen. Auch wenn sie schließlich einlenkten, so verdeutlicht das Beispiel die „Kontinuität“ des Zickzacks der Corona-Politik. Angesichts der aktuellen Regierungskrise könnte ein erneuerter Vorstoß zur Öffnung touristischer Einrichtungen durchaus rasch erfolgen.

Ursache

Bei der vorherrschenden bürgerlichen Corona-Politik stehen Gesundheitsschutz der Allgemeinheit und Profitinteressen der Wirtschaft einander gegenüber. Sie verbinden sich zu einem inkonsequenten, in sich unschlüssigen Ganzen, zu Maßnahmenpaketen, die weder den Erfordernissen der Bevölkerung nach Gesundheitsschutz und sozialer Absicherung entsprechen noch die Rufe des Kapitals nach Freiheit des Geschäfts voll befriedigen.

Dass dieser Widerspruch die ganze Politik der Regierung bestimmt, zeigte sich einmal mehr bei den Beschlüssen des Bund-Länder-Gipfels.

Als die Osterpause, also ein arbeitsfreier Gründonnerstag, verkündet wurde, blieb offen, ob dieser auch arbeitsrechtlich als Feiertag gelten solle, ob Beschäftigte z. B. im Homeoffice wirklich nicht arbeiten müssten oder ob der Tag wie alle Feiertage bezahlt werden solle. Ungeklärt war auch, ob jene, die z. B. im Gesundheitswesen oder im öffentlichen Verkehr arbeiten müssen, Feiertagszulagen erhalten sollten. Solche „Kleinigkeiten“, die vor allem die Interessen der Lohnabhängigen betreffen, sollten von der Bundesregierung nachgereicht werden.

Nachdem dieser Tag jetzt vom Tisch ist, wird der Lockdown in bisheriger Form fortgesetzt. Eingeschränkt werden weiter vor allem jene Bereiche des Lebens, die unsere Freizeit, also die Regenerationsmöglichkeiten der Menschen betreffen. Zweitens obliegt die Verantwortung für die Umsetzung der Maßnahmen und für die negativen finanziellen und sozialen Folgen weiter den Einzelnen, wird im Wesentlichen individualisiert. Wer auf engem Raum leben muss, muss das auch weiter. Ärmere Familien, Alleinerziehende, Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen müssen ein Mehr an „Eigenverantwortung“ erbringen. Vor allem Frauen müssen mehr private Hausarbeit leisten. Die Kinderbetreuung wird den Eltern und hier wiederum vor allem den Frauen aufgehalst.

Während die BürgerInnen regelmäßig und munter zur „Vernunft“ ermahnt werden, der die meisten ohnedies folgen, bleibt der für die kapitalistische Ökonomie entscheidende Sektor wie seit Beginn der Pandemie außen vor. Von einem Lockdown in der Industrie, bei den Banken und Versicherungen, in den Großraumbüros und Schlachthöfen ist längst selbstverständlich keine Rede mehr. Selbst von den Schutzvorkehrungen, die z. B. für Schulen oder im Einzelhandel verpflichtend sind (Masken, Mindestabstand), werden die industrielle Produktion, aber auch ein bedeutender Teil der Angestelltentägigkeiten (z. B. Großraumbüros) bis heute ausgenommen.

Tests wie für Schulen gibt es für Industriekonzerne nur auf freiwilliger Basis und, wie z. B. bei BMW in Leipzig, nur für die Stammbelegschaft. Für die LeiharbeiterInnen, immerhin rund 50 % der dort Arbeitenden, erklärt sich der Konzern als nicht zuständig. Der Osterlockdown stellt also in den entscheidenden Bereichen der kapitalistischen Mehrwertproduktion reine Augenwischerei dar. Diese sind und bleiben ausgenommen von allen Schließungen, ja selbst von üblichen Hygienevorschriften.

Neu sind an der aktuellen Lage aber zwei Dinge: Erstens hat sich die Gesundheitskrise zu einer politischen Krise entwickelt, wie auch die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigen. Zweitens droht die anhebende dritte Welle der Pandemie trotz der Impfung der über 80-Jährigen, Tausende weitere Tote zu fordern.

Linke Alternative

Eine linke Politik zur Pandemie- und Krisenbekämpfung wird angesichts dieser drohenden Katastrophe dringender denn je. Sie müsste genau dort ansetzen, wo die Politik im Interesse des Kapitals haltmacht: bei der Forderung nach zeitweiliger Schließung aller für die tägliche Reproduktion nicht essentiellen Bereich der Ökonomie, um die Infektionszahlen zu drücken und damit die Zahl der Erkrankungen, langer und ernster Folgeschäden sowie hunderter Toter pro Tag massiv zu reduzieren und auf null zu bringen.

Dies hätte zugleich den Vorteil, dass wir nicht in der Situation eines zermürbenden Dauerlockdowns leben müssten, der Millionen vor die Alternative Gesundheit oder Sicherung der Existenz stellt. Ein solidarischer Lockdown würde, nebenbei bemerkt, nach einem zeitweiligen Herunterfahren der Wirtschaft also sehr viel allgemeinere und kontrollierte Öffnungsmöglichkeiten bieten. Hinzu kommt, dass er auch mit einer Ausweitung gesellschaftlich notwendiger bezahlter Reproduktionsarbeit einhergehen müsste – also Sicherung der Betreuung Pflegedürftiger, Ausbau des Gesundheitswesens, Öffnung von Schulen und Kitas und ihr Betrieb in kleineren Gruppen/Klassen, so dass die Eltern nicht nur dann entlastet werden, wenn sie arbeiten müssen.

Die Politik des solidarischen Lockdowns, wie sie die Initiative #ZeroCovid vertritt, stellt eine substantielle, grundlegend andere Strategie als jene der Bundesregierung, aller Kapitalverbände, der liberalen ÖffnungsfanatikerInnen und der rechten Corona-LeugnerInnen dar.

Sie würde die zeitweilige europaweite Schließung aller nicht essentiellen Bereiche unter Kontrolle der Beschäftigen und Gewerkschaften mit der Forderung nach sozialer Absicherung für alle, dem Ausbau des Gesundheitswesens, dem Ende privater Verfügungsgewalt über die Impfstoffproduktion und -verteilung sowie nach Finanzierung dieser Maßnahmen durch die Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen verbinden.

Liberale und Rechte

Das Dramatische an der aktuellen Lage besteht einerseits darin, dass sich die Pandemie bei den gegenwärtigen Maßnahmen weiter ausbreiten wird. Andererseits ist auch offen, wer, welche gesellschaftliche Kraft angesichts der Schwäche der Regierung das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verändern wird.

Angesichts der Entwicklung der letzten Monate hoffen die bürgerlich-liberalen ÖffnungsfanatikerInnen, die nach noch mehr Freiheit des Kapitals schreien, die Lage nach ihren Vorstellungen nutzen zu können. Ihr Rezept lautet: Testen, Öffnen, Impfen und vor allem „Eigenverantwortung“.

Seit Monaten trommeln bürgerliche Blätter, vor allem aber die Unternehmerverbände inklusive deren wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Institute, dass wir „mit dem Virus leben“ lernen müssten. In einer einflussreichen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft wird die Inkaufnahme des Todes zu einer gesellschaftlichen Herausforderung stilisiert: „Das ist gesellschaftlich herausfordernd, weil es so etwas wie virus-spezifische Bereitschaft und Fähigkeit einfordert, mit begrenzten gesundheitlichen Folgen und begrenzter Sterblichkeit zurechtzukommen, diese auszuhalten.“ (Bardt/Hüther, Aus dem Lockdown ins Normal, S. 10)

Diese pseudo-philosophische Rechtfertigung des Sozialdarwinismus dient vor allem Unternehmerverbänden, der FDP und anderen ÖffnungstrommlerInnen zur ideologischen Verklärung ihrer Politik.

Die AfD, rechte Corona-LeugnerInnen, QuerdenkerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen aller Art halten sich bei solchen Erwägungen erst gar nicht auf. Die Krise treibt ihnen vor allem AnhängerInnen aus dem KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten zu, selbst wenn ihre vollständige Ignoranz gegenüber der Pandemie viele (noch) abschrecken mag. Wie die Demonstration von 20.000 Menschen in Kassel gezeigt hat, formiert die Rechte zur Zeit diese gesellschaftliche Verzweiflung zu einer politischen Kraft, zu einer reaktionären, kleinbürgerlichen Massenbewegung, die die Pandemie zur Ausgeburt einer „Merkel-Diktatur“ oder einer Verschwörung von Gates und Soros verkehrt. Der drohende Ruin dieser Schichten in Zeiten von Pandemie und Krise wird von den Rechten auf eine Scheinursache gelenkt. Der grundlegende Irrationalismus der Bewegung gerät zur ideologischen Rechtfertigung ihrer Pseudo-Radikalität.

Und die Linke?

Angesichts dieser Lage sind Initiativen wie #ZeroCovid in den letzten Wochen in eine gesellschaftliche Defensive geraten, obwohl sie eine solidarische Strategie im Interesse der Masse der Bevölkerung vertreten. Die zunehmenden Infektions- und Sterbezahlen mögen die vorherrschende Stimmung zwar ändern, zugleich wird sich jedoch auch die reaktionäre Kritik an jeder Politik zur Bekämpfung der Pandemie wie die der sog. QuerdenkerInnen radikalisieren.

Grundsätzlich aber muss die Initiative ihre Forderungen beibehalten und zugleich gezielt versuchen, die ArbeiterInnenbewegung und die Linke aus ihrer Passivität angesichts der Pandemie zu reißen. Dazu soll #ZeroCovid ihre Schwerpunktsetzung klarer bestimmen und ihre Politik konkretisieren.

Wir müssen gerade in den Gewerkschaften, in sozialen Bewegungen weiter für den solidarischen Lockdown eintreten, für eine Politik, die Gesundheitsschutz und den Kampf gegen die Lasten von Pandemie und Krise und deren Abwälzung auf die Bevölkerung miteinander verbindet. Die Verschlechterung der Lage setzt die Forderung nach einem europaweiten „solidarischen Shutdown“ auf die Tagesordnung, wenn wir Gesundheitsschutz und soziale Sicherheit durchsetzen wollen.

Eine an den Interessen der Masse der Menschen orientierte Politik zur Bekämpfung der Pandemie muss also eine Klassenpolitik sein. Sie kann nur durch Mobilisierungen gegen Kapital, Regierungen und politische Rechte, durch eine gesellschaftliche Bewegung erkämpft werden, die in den Betrieben, an Schulen und Unis, im öffentlichen Dienst, in den Krankenhäusern, in den Wohnvierteln, in Stadt und Land verankert ist.

Ideologischer Kampf

Die Hinnahme einer „akzeptablen“ Zahl von Toten als „gesellschaftliche Leistung“ durch (neo)liberale, konservative oder rechte IdeologInnen des Kapitals, das rechtspopulistische Gerede von der Corona-Diktatur oder die Verklärung des freien Warenverkehrs zur Freiheit schlechthin verdeutlichen, dass der Kampf um die Corona-Politik auch auf ideologischer Ebene eine Form des Klassenkampfes darstellt. Es gilt, die Menschenverachtung und den Zynismus all jener zu entlarven, die von der Rückkehr zu einer Normalität sprechen und damit die Bevölkerung darauf einstimmen wollen, den Tod Tausender in Deutschland und von Millionen weltweit als Normalzustand in Kauf zu nehmen.

Vor allem aber gilt es darzulegen, worin der Zweck dieser barbarischen Unternehmung besteht: nämlich in der Verbreitung der Vorstellung, dass es keine Alternative zur Akzeptanz einer solchen Politik gebe. Wir müssen daher nicht nur verdeutlichen, dass hinter den Kosten der bürgerlichen Freiheit die Interessen des Kapitals zum Vorschein kommen. Wir müssen auch klarmachen, dass es bei der Frage der Corona-Politik, der Durchsetzung eines solidarischen Shutdowns im Interesse der ArbeiterInnenklasse auch um die Frage geht, welche soziale Kraft, welche Klasse die Gesellschaft selbst so reorganisiert, dass die Bekämpfung der Pandemie nicht mehr als Gegensatz zur „Freiheit“ erscheint. Dies erfordert, den Kampf um die Forderungen von #Zero-Covid im größeren Kontext des revolutionären Kampfes um die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer globalen, demokratischen Planwirtschaft zu begreifen.




#NichtAufUnseremRücken zur Pandemie: Keine Antwort ist auch keine Lösung

Martin Suchanek, Neue Internationale 254, April 2021

Mit dem Text „Wie gelingt es, eine Anti-Krisen-Bewegung von links aufzubauen? – Eine notwendige Antwort auf #ZeroCovid“ versucht das Bündnis #NichtAufUnseremRücken, eine Kritik an der Initiative zu formulieren. Herausgekommen ist dabei eine politische Bankrotterklärung. So heißt es:

„Ausgehend von dieser Gesamtsituation sollten wir uns als Linke auf die Fragestellung ‚Was ist denn euer Plan zur Lösung der Pandemie?‘ gar nicht erst einlassen. Natürlich können wir darüber philosophieren, wie die Pandemie-Bewältigung in einer sozialistischen Gesellschaft aussehen würde. Doch da wir nicht kurz vor einer Revolution stehen, muss aktuell jede Krisenlösung innerhalb der Logik des Systems verbleiben, welches uns das Elend erst eingebrockt hat.“

Dumm nur, dass die Pandemie ein zentrales aktuelles Problem der Menschheit darstellt. Eine Gruppierung, die sich auf die Frage, wie sie zu bekämpfen sei, erst gar nicht einlassen will, offenbart nur, dass sie zu einer zentralen Frage nichts zu sagen hat. Frei nach dem Motto: „Stell Dir vor, es ist Pandemie, und wir kümmern uns nicht darum!“ Dann kommt das Virus früher oder später dennoch zu dir.

Die AutorInnen des Texts mögen vielleicht glauben, dass Raushalten aus der Pandemiefrage helfe, die eigene revolutionäre Weste nicht mit Reformforderungen zu beflecken. In Wirklichkeit bedeutet es nur, die Bekämpfung der Pandemie der herrschenden Klasse zu überlassen. Deren Politik und die sämtlicher Staaten wird zwar kritisiert, aber die Kritik bleibt vollkommen folgenlos, ja diskreditiert sich unwillkürlich selbst, wenn die Frage gestellt wird: „Was ist denn euer Plan zur Lösung der Pandemie?“: Wir haben keinen – und wir wollen auch gar keinen entwerfen!

Abstentionismus

Das ist keine Klassenpolitik, das ist weder revolutionär noch reformistisch, sondern bloß politischer Abstentionismus.

Glücklicherweise hält der Text die Linie, die er verspricht, nicht konsequent durch. So erfahren wir im zitierten Absatz, dass „wir nicht kurz vor einer Revolution stehen“. Daher, so heißt es weiter, „muss aktuell jede Krisenlösung innerhalb der Logik des Systems verbleiben“. Fragt sich nur, warum die Forderungen von #ZeroCovid nach einem Shutdown in der Industrie als Illusion gebrandmarkt werden, während die AutorInnen durchaus richtig selbst fordern: „Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe während eines Lockdowns – statt noch weiterer Einschränkungen im Alltag! Gefahrenzulage für die, die noch arbeiten müssen!“

Wenn die großen Weisheiten der Kritik an #ZeroCovid richtig sind, warum werden sie dann nicht auf die eigene Politik angewandt? Richtet sich die Forderung nach der Schließung nicht lebensnotwendiger Betriebe etwa nicht an den Staat? Durch wen sonst soll die von #NichtAufUnseremRücken geforderte digitale Ausstattung der Schulen finanziert und geleistet werden? Wer soll die dezentrale Unterbringung von Wohnungslosen und Geflüchteten finanzieren? Der Staat über eine Besteuerung der Reichen oder soll das „von unten“, also aus den Einkommen der Lohnabhängigen bezahlt werden?

Das Beste am Text von #NichtAufUnseremRücken ist ironischerweise seine innere Widersprüchlichkeit. Um diese zu kitten, darf jedoch nicht fehlen, #ZeroCovid eine Politik des „autoritären Shutdowns“ zu unterschieben, die es nicht vertritt.

Der entscheidende Unterschied, der im Grunde die gesamte Linke durchzieht, ist jedoch folgender: Brauchen die Linke und die ArbeiterInnenklasse eine Antwort, ein Programm zur Bekämpfung der Pandemie oder sollen sie ein zentrales Problem der Menschheit ignorieren und hoffen, dass es endlich vorübergeht, damit wir uns auf „Wichtigeres“ konzentrieren können? In Wirklichkeit muss sich eine revolutionäre Linke gerade daran messen lassen, ob sie eine Politik entwickelt, die den Kampf gegen die Pandemie mit dem gegen den Kapitalismus in Form eines Programms von Übergangsforderungen (z. B. Arbeiterinnenkontrolle) verbindet und in diesem Sinne gezielt das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern versucht




Verkehrswende: Postwachstum vs. demokratische Planwirtschaft

Leo Drais, Neue Internationale 254, April 2021

Die in den Dannenröder Wald im vergangenen Herbst für den Bau der A49 geschlagene Schneise zeigt eindrucksvoll, dass hierzulande von einer Verkehrswende nicht gesprochen werden kann. Bisher gibt es sie einfach nicht. Winzige Positivbeispiele können allenfalls einen schwächlichen Anschein davon erwecken. Ein Blick in diverse Statistiken unterstreicht diese Erkenntnis: Zwischen 2015 und 2019 verdoppelten sich die Neuzulassungen von SUV und Geländewagen, der Güterverkehr auf der Schiene stagniert seit Jahren bei einem Anteil von 18 %, das Autobahn-und Bundesstraßennetz Deutschlands wuchs seit 1990 um rund 6.000 km, das Schienennetz schrumpfte um etwa dieselbe Größe.

Da stellt sich natürlich die Frage: Wie kann das gehen, diese Verkehrswende? Die Antworten darauf sind vielfältig. Die deutsche Autoindustrie und „Bundesautominister“ Scheuer verkaufen uns übergewichtige E-Autos als Antwort, was unter anderem bedeutet, die Energiewende zu verzögern und wasserintensiv Lithium abzubauen, wo kaum Wasser vorhanden ist (Argentinien, Bolivien, Chile). Die Intention der deutschen Autoindustriellen liegt auf der Hand: Den pseudonachhaltigen E-Mobility-Hype nutzen, um elektrisch aus der derzeitigen Krise zu neuem Wirtschaftswachstum und fetten Profiten zu fahren – selbst im Krisenjahr 2020 hat VW über 10 Mrd. Euro Gewinn getätigt.

Lösung Postwachstum?

Eine andere der diskutierten Lösungen zur Abwendung der Klimakatastrophe – eine Lösung, die eine Verkehrswende natürlich beinhalten müsste – ist die aus akademischen Kreisen stammende Idee des Postwachstums, auch bekannt als „Degrowth“. Diese erkennt an, dass die gegenwärtige Form von Wirtschaftsachstum mit einer begrenzten Erde unvereinbar ist. Ziel ist daher, eben jenes Wachstum zu beschränken beziehungsweise umzukehren, sprich die Wirtschaftsleistung sowie den Konsum zu senken. Und auch wenn es manche anders sehen mögen – explizit antikapitalistisch ist die in ihren Köpfen angepeilte Postwachstumsökonomie nicht, womit auch schon das Unmögliche und Problematische dieser Idee beginnt.

Der Wachstumszwang, genauer das fortwährende Vermehren, die Akkumulation von Kapital, ist untrennbar mit dessen Produktionsweise verbunden, wächst ihm direkt aus dem Herzen, dem bürgerlichen Privateigentum, das in Konkurrenz zu seinesgleichen steht. Nicht zu wachsen, die Produktion und damit den Konsum nicht auszuweiten, heißt für die kapitalistischen AkteurInnen wie die deutschen AutokapitalistInnen, zu verschwinden und von der Konkurrenz vom Weltmarkt verdrängt zu werden. Wer also davon träumt, das Natur und Mensch zerstörende kapitalistische Wachstum zu beseitigen, darf vor der Enteignung bürgerlichen Eigentums, sprich von VW, Lufthansa & Co. nicht zurückschrecken, sondern muss es offen aussprechen. Alles andere schürt Illusionen in die Reformierbarkeit und Zähmbarkeit des Kapitalismus …

An dieser Stelle muss eingeschoben werden, dass dieser Artikel bei Weitem nicht ausreicht, um sämtliche Gedanken der PostwachstumstheoretikerInnen einer angemessen umfassenden Kritik zu unterziehen. Er ist eher ein Anreiz zur weiteren Diskussion – wofür der folgende Satz besonders taugt:

„So wenig wie möglich, so viel wie nötig.“

Dieser sollte Kernelement jeder ernsthaften Verkehrswende-Strategie sein und führt direkt zur Frage: Wer bestimmt, wie viel Verkehr nötig ist und auf welchen Wegen er stattfindet? Unter kapitalistischen Vorzeichen ist die Antwort klar: Das Kapital kommandiert Arbeit und Konsum, sei es durch die Produktion direkt oder vermittels des kapitalistischen Staates, der Autobahnen baut und vom Bahnstreckenneubau für ländlichere Gebiete nichts wissen will.

Dass das Auto das dominierende Fortbewegungsmittel ist und für eine große Anzahl Menschen alternativlos erscheint, liegt ja eben daran, dass es oft genug das günstigste, flexibelste und schnellste ist, insbesondere im ländlichen Gebiet. Oft genug gibt es keine taugliche andere Möglichkeit und daher ist es auch unmöglich, auf individualistische Weise durch Konsumänderung eine andere Verkehrsinfrastruktur herbeizuführen. Dem Kapital innerhalb des Kapitalismus seinen Wachstumszwang zu nehmen, der zudem aufgrund wachsender Arbeitsproduktivität mit überproportional zunehmender Erzeugung von materiellen Gütern und entsprechendem Ressourcenverbrauch einhergeht, ist eine Utopie, zudem eine reaktionäre, wenn sie die Mehrheit der Weltbevölkerung auffordert, den Gürtel enger zu schnallen.

Ein wie auch immer gearteter „Aufstand derer, die ihre eigene Verantwortung ernst nehmen und auf demokratische und freiheitliche Weise positive Beispiele vorleben und das Leben entrümpeln und mehr Zeit finden, statt immerzu unterwegs zu sein“, wie PostwachstumsvordenkerInnen wie Niko Paech es vorschlagen, geht an der Lebensrealität der meisten Menschen völlig vorbei und klingt  beiläufig gesagt gegenüber ärmeren unter ihnen auch höhnisch. Vor allem aber fehlt der  konkrete Weg, wie zu so wenig wie möglich, so viel wie nötig Verkehr gekommen werden kann. Weder der individuelle Konsumverzicht noch die punktuelle und ineffiziente Regionalökonomie können das schaffen.

Die Frage der Verkehrswende ist eine Machtfrage. So wie die Macht des Kapitals darin liegt, den gegenwärtigen Transportfluss auf der Erde wesentlich zu steuern, ist es eine Machtfrage, die Verkehrswende global gegen Automobil- und Ölindustrie durchzusetzen. Statt individualistisch das eigene Mobilitätsverhalten zu ändern (so gut das auch ist, wenn’s denn möglich wäre) und Arbeitszeit zu reduzieren (sofern man sich das überhaupt leisten kann), braucht es eine Veränderung, die um gesellschaftlich übergreifend zu wirken, von der gesamten Produktions -und Verteilungssphäre ausgehen muss und sich nicht auf die – je nach Geldbeutel – „freie“ Wahl des Endprodukts beschränkt und den immer größer werdenden Anteil der Zwischenprodukte ignoriert.

Demokratischer Plan

Der Utopie einer Postwachstumsökonomie stellen wir die Perspektive einer demokratischen Planwirtschaft entgegen, die anstatt das Wachstum an sich überwinden zu wollen, sich im Gegenteil das Ziel setzt, die Produktivkräfte der Gesellschaft zu steigern, um auf diesem Wege eine Arbeitszeitverkürzung für alle möglich zu machen und die bestmögliche Effizienz in der Logistik zu verwirklichen. Das schließt nicht nur eine sinnvoll geplante Produktion mit ein, sondern auch die Überwindung der Kluft zwischen Stadt und Land sowie die möglichst gleichmäßige internationale Verteilung von Industrie und Dienstleistungen.

Voraus geht diesem Vorschlag natürlich, die Kontrolle über die Produktion dem bürgerlichen Staat und den KapitaleignerInnen zu entreißen. Die einzige gesellschaftliche Kraft, die dies überhaupt könnte, ist die organisierte und sich ihrer Aufgabe bewusst werdende ArbeiterInnenklasse, die damit beginnt, für die Enteignung der Transportunternehmen einzutreten, für demokratische ArbeiterInnenkontrolle kämpft und selbst ein Verkehrswendeprogramm entwickelt, dem der Grundsatz „So wenig wie möglich, so viel wie nötig“ aus Sicht der notwendigen Reproduktion der unmittelbaren ProduzentInnen und nicht der Produktion fürs Kapital zugrunde liegt.

Natürlich – davon sind wir weit entfernt, von einer klassenbewussten ArbeiterInnenklasse, die sich der ökologischen Aufgaben unserer Zeit annimmt. Derzeit sucht die Umweltbewegung nach dem Weg, der wirklich zu einer anderen Klima- und Umweltpolitik, ernsthaft zu einer globalen Verkehrswende führt. Wir haben hier kurz versucht anzureißen, warum die Postwachstumstheorie nur eine mangelhafte Antwort gibt. Demgegenüber schlagen wir der Umweltbewegung vor, die potentielle Macht einer ArbeiterInnenbewegung wieder zu entdecken. Dazu braucht diese eine neue revolutionäre Partei, die revolutionäres Umweltbewusstsein in Klasse und Bewegung tragen kann. Denn: Was ist schon die individuelle Entschleunigung gegen einen Generalstreik für das Klima?




Tarifverhandlungen DB AG: Die letzte Schlacht der GDL?

Mattis Molde / Leo Drais, Neue Internationale 254, April 2021

Sie hatte die deutsche Gewerkschaftslandschaft belebt und offensive bundesweite Streiks organisiert. Jetzt geht’s für die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ums Ganze. Grund ist das sogenannte Tarifeinheitsgesetz (TEG), welches 2015 verabschiedet wurde und jetzt erstmals seine ganze Dynamik entfaltet. Wir erinnern uns: Die Medien schäumten und versuchten, die Fahrgäste gegen die Streiks zu mobilisieren. Die DGB-Gewerkschaften verweigerten jede Solidarität und beschimpften die GDL als Spalterin. Die Regierung der Großen Koalition  veranlasste eine Gesetzesänderung, um diesem – im internationalen Vergleich dennoch moderaten – Ausbruch von Streikbewegung einen dauerhaften Riegel vorzuschieben. Das Gesetz zur „Tarifeinheit“ stellt einen historischen Angriff auf das Streikrecht in Deutschland dar. Ein wichtiger Sieg des deutschen Großkapitals mit williger Beihilfe der DGB-Bürokratie. Es war unter anderem der EVG-Vorstandsmitglied Martin Burkert, der als SPDler im Bundestag für das TEG stimmte. Dieser Schandfleck wird immer bleiben.

Das Gesetz mit irreführendem Namen legt fest, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten darf und nur die mitgliederstärkste Vereinigung das Recht hat, einen solchen abzuschließen. Für eine Minderheitsgewerkschaft bleibt nur die Möglichkeit, sich dem bereits abgeschlossenen Vertrag anzuschließen. Da in Deutschland nur eine anerkannte Gewerkschaft streiken darf (also nicht Belegschaften) und nur für Forderungen, die tariflich abgebildet werden können und nicht in einem gültigen anderen Vertrag geregelt sind, verliert eine Minderheitsgewerkschaft jede Wirkmächtigkeit.

Und da sind wir nun: Der Tarifvertrag der GDL ist ausgelaufen, die Konkurrenzgewerkschaft unter dem Dach des DGB, die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat schon vergangenes Jahr einen mit der DB AG abgeschlossen. Die GDL kann diesen nun akzeptieren und sich damit selbst als überflüssig erklären. Oder sie kämpft – gegen das Gesetz oder für eine Mitgliedermehrheit. Ersteres hatte sie zusammen mit ver.di nach Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes rechtlich vor dem Bundesverfassungsgericht versucht – und verloren. Letzteres versucht die GDL offensiv seit dem vergangenen Winter, als sie über ihre bisherige Konzentration auf Zugpersonale (TriebfahrzeugführerInnen, ZugbegleiterInnen, Bordgastronomie, … ) hinausging und sich für alle Berufsgruppen im Bahnbetrieb öffnete (also auch FahrdienstleiterInnen, InstandhalterInnen, Werkstattpersonale, Aufsichten, … ).

Staat, DB und EVG vs. GDL

Die GDL tritt für einen Eisenbahn-Flächentarifvertrag (EFTV) für das Zugpersonal und die Beschäftigten der Fahrzeuginstandhaltung, des Netzbetriebs und der Fahrweginstandhaltung ein. Eckpunkte: 4,8 Prozent mehr Lohn, 1.300 Euro Corona-Prämie, Ballungsraumzulage sowie grundsätzliche Regelungen zu Arbeitszeit, Urlaub, Schichtdienstzuschlägen. Den EFTV will die GDL nicht nur auf die Deutsche Bahn anwenden, sondern bei allen Eisenbahninfrastruktur- und -verkehrsunternehmen vorbringen.

Die Deutsche Bahn AG hat indessen angekündigt, ab 1. April das Tarifeinheitsgesetz anwenden zu wollen. Das bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, denn es setzt für die DB voraus herauszufinden, in welchem der 300 DB-Betriebe welche Gewerkschaft die Mehrheit hat, und die Beschäftigten nach ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit zu fragen, ist verboten. Geschätzt wird, dass in 16 von 71 fraglichen Betrieben die GDL die Mehrheit hat, in den anderen 55 die EVG. Im Zweifel hat ein Gericht darüber zu entscheiden. Welch Glück für den DB-Personalvorstand Seiler, dass er auf eine altbekannte Gehilfin des DB-Konzerns zählen kann: die EVG. Diese hat sich willens erklärt, ihre Mitgliederzahlen notariell bestätigen zu lassen.

Überhaupt, kommen wir mal zur EVG … Dass der Staat als Eigentümer und die DB AG selbst keine Fans der GDL sind, ist immerhin bekannt.

Oft genug wird die EVG von EisenbahnerInnen als verlängerter Arm des DB-Vorstandes begriffen, und das nicht von ungefähr. So hat ihre Vorläuferin GdED (Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands) einst zur Mehrdorn-Ära fleißig Angriffe mitgetragen, indem, anstatt das hohe Niveau der LokführerInnen auf alle auszudehnen, diese besonders hart beschnitten wurden, um den anderen Berufsgruppen kleine Zugeständnisse zu bescheren. Die Folge war eine Hinwendung der LokführerInnen zur GDL, welche sich von einer gelben zu einer kämpferischen Gewerkschaft gewandelt hatte. Vergangenes Jahr wiederum hat die EVG einen Tarifvertrag mit dem DB-Konzern beschlossen, im Grunde völlig an ihren Mitgliedern vorbei, der dank Inflation wohl auf einen Reallohnverlust hinauslaufen wird, bei gleichzeitiger Zustimmung zu Manager-Boni.

Es ist zu erwarten, dass die GDL und die DB AG sich nicht einig werden. Streiks in einer Intensität wie 2015 sind zu erwarten. Die EVG-Bürokratie um Hommel und Loroch wird dann wohl wieder nicht zögern, in die Hetze von Staat, Medien und Konzern einzustimmen. Bahn-Vorstand Seiler warf der GDL jüngst vor, ihre Forderung gefährde die Mobilitätswende – ein lächerlicher Vorwurf angesichts der Tatsachen, dass in den letzten 30 Jahren Tausende Kilometer Gleis verschwanden, die Bahn mit chronischer Unpünktlichkeit kämpft und der vergangene Wintereinbruch wieder völlig überraschend kam.

Andererseits formuliert die GDL selbst zwar zum Teil gute Vorschläge zur Stärkung des Eisenbahnsystems, aber ihre Zustimmung zum Vorstoß der Grünen zur Zerschlagung der DB, der Trennung von Netz- und Zugbetrieb in Verbindung mit einer Wettbewerbsausweitung auf der Schiene ist fatal und würde bei Umsetzung das System Eisenbahn lähmen, nicht zuletzt auf Kosten der Beschäftigten. Das Chaos, das die Zerschlagung eines einheitlichen Netzbetriebs hinterließ, kann z. B. man gut an der britischen Bahnreform studieren und wird es demnächst an der Berliner S-Bahn können, wo die Vorschläge der grünen Verkehrssenatorin Regine Günther in ähnliche Richtung zielen.

Solidarität mit den KollegInnen!

Was es braucht, ist eine Kampagne unter Fahrgästen und anderen GewerkschafterInnen, die den Hintergrund der Auseinandersetzung aufklärt und die Verbindung zur Klimafrage und Verkehrswende knüpft. Wer eine funktionierende Eisenbahn will, darf beim Personal nicht sparen. Angesichts steigender Mieten und Corona-Krise sind die Forderungen der GDL mehr als berechtigt.

Im Schatten des TEG geht es aber um noch mehr, nämlich darum, ob Staat, Kapital und DGB-Bürokratie es schaffen, ein Exempel an einer kämpferischen Spartengewerkschaft zu statuieren, das auch Cockpit oder UFO treffen könnte. Freilich verdient auch die GDL Kritik. Am Ende des Tages bleibt der Konflikt zwischen EVG und GDL um Mitgliedermehrheiten immer noch ein Clinch zweier Gewerkschaftsbürokratien, auch wenn wir zur Verteidigung der GDL gegen den Angriff von Bahn und EVG aufrufen, der für die GDL je nach Entwicklung der nächsten Monate existenzgefährdend sein kann. Alle Linken und GewerkschafterInnen sollten daher ihre Solidarität mit der GDL zeigen, EVGlerInnen dafür eintreten, keinen Streikbruch zu begehen.

Abschließend zeigt der Kampf der GDL zweierlei:

  • Um Angriffen wie dem TEG entgegenzutreten, müssen GewerkschafterInnen den politischen Streik und das Recht darauf auf die Tagesordnung setzen, denn die mögliche Illegalisierung des GDL-Kampfes stellt letztlich die Frage: Illegal streiken und sich durchsetzen oder Hinnahme des Genickbruchs?

  • Das Neben- und Gegeneinander von EVG-, GDL- und im Bezug auf den Nahverkehr auch ver.di-Bürokratie führt zu fortwährendem Streikbruch und Lohnkonkurrenz. Daher schlagen wir den Kampf für eine einheitliche, allumfassende Transportgewerkschaft im Rahmen einer nach Wertschöpfungsketten erneuerten Branchenstruktur der DGB-Gewerkschaften, die UFO, Cockpit & Co. ein Fusionsangebot unterbreiten sollen, vor, die nicht nur den Eisenbahnsektor, sondern die gesamte Logistik zu Lande, zu Wasser und in der Luft umfasst, die demokratisch von ihren Mitgliedern kontrolliert wird, eine jederzeit wähl- und abwählbare, rechenschaftspflichtige Führung hat und dadurch ihre Kämpfe und Forderungen vereinheitlicht und koordiniert. So nämlich geht eine Spaltungsüberwindung im Interesse der TransportarbeiterInnen selbst … und nicht indem eine Bürokratie eigennützig der anderen den Kopf vom Halse schlägt. Ja richtig, du bist gemeint, EVG-Vorstand!



Schulen und Corona: Jugend plant Aktionstag

Lukas Resch, Neue Internationale 254, April 2021

Monate des Online-Unterrichts verdeutlichen, wie weit Deutschland in Sachen Digitalisierung zurückhängt. Das Homeschooling schwankte zwischen Extremen: Entweder wurden SchülerInnen mit Aufgaben überschüttet oder sie fehlten. Gleichzeitig wurden die Unterrichtsstunden oft nur genutzt, um neue Aufgaben zu stellen, oder sie fielen gleich ganz aus. Nie gab es eine einheitlich durchdachte Strategie zur Gestaltung des Unterrichts während der Pandemie. Was wie umgesetzt wird, müssen LehrerInnen im Alleingang und zusätzlich zum schon bestehenden Aufgabenberg entscheiden. Nun heißt die neue Hoffnung: In die Schule und testen, testen, testen (und was, wenn die Corona-Tests nicht da sind?).

SchülerInnen leiden unter diesen Zuständen. Monatelang zu Hause bei der Familie eingesperrt mit miserablen Unterrichtsmodellen. Dann zurück in die Schule mit vollkommen unzureichenden Hygienemaßnahmen und obendrein Leistungsabfragen und unter diesen Umständen kaum zu schaffende Prüfungen. Währenddessen bleibt zuhause die Stimmung oft angespannt, da auch für die Eltern die Krise noch lange nicht überwunden ist.

Schon früh regte sich Widerstand gegen das Vorgehen der Bundes- und Landesregierungen. Immer wieder kam es online zu Petitionen und Initiativen. Eine generelle Änderung der Politik wurde dabei jedoch nicht erwirkt. Das lag vor allem an drei Punkten:

  • Es wurde verpasst, die Forderungen nach Öffnungen oder Schließungen der Schulen mit der dahinter liegenden sozialen Frage zu verbinden, statt nur die jeweils akutesten Probleme anzusprechen. Das ist durchaus wichtig, aber leider nicht genug, denn die Lage von Pandemie und Politik ändert sich fast täglich.
  • Eine bundesweite Vernetzung unterblieb. Zwar ist Bildung Ländersache, aber eine der größten Schwächen ist eben das unkoordinierte Vorgehen der Länder. Der Bund greift, bis eine Obergrenze für „die Notbremse“ überschritten ist, nicht ein.
  • Die Initiativen verblieben im virtuellen Raum. Nur vereinzelt konnte lokal mediale Aufmerksamkeit erreicht werden, die in keinster Weise die eigentliche Anzahl derer repräsentiert, die sich nicht einverstanden mit der Schulpolitik erklären.

Für gerechte Bildung

Den Missständen in den Schulen hat das Bündnis „Für gerechte Bildung“ (gerechtebildung.org) den Kampf angesagt. Frei nach dem Motto „Wer 7 Mrd. für die Lufthansa hat, hat auch genug Geld für gute Bildung!“ geht es unter anderem um die Finanzierung von kostenloser Nachhilfe und digitaler Lernausstattung. Weitere Forderungen sind bessere Hygienekonzepte, Durchschnittsabschlüsse und sichere Lernräume für SchülerInnen, die diese nicht zuhause haben.

Am 23. April plant es einen zweiten bundesweiten Aktionstag gegen die menschenverachtende Corona-Politik. Es geht also endlich raus aus dem virtuellen Raum! Allerdings sind für einen erfolgreichen Kampf noch Hindernisse zu überwinden. Zwar gibt es eine bestehende bundesweite Vernetzung und Zuspruch von vielen Gruppen – darunter Internationale Jugend, Young Struggle, SDAJ, Solidaritätsnetzwerk, DIDF, Sozialistische SchülerInnengewerkschaft Deutschland und REVOLUTION.

Allerdings unterschätzen einige im Bündnis die Notwendigkeit, „Für gerechte Bildung“ zu mehr als einem Zusammenschluss kleiner, sich sozialistisch nennender Gruppen auszuweiten. Dazu muss es auch Massenorganisationen und Vertretungsstrukturen der SchülerInnen offensiv ansprechen und in die Aktion zu ziehen versuchen: Organisationen wie die Jusos, Linksjugend [’solid] zählen tausende Jugendliche in ihren Reihen. Sie sollten aufgefordert werden, für den Aktionstag zu mobilisieren und die Forderungen zu unterstützen. Selbiges gilt für die SchülerInnenvertretungen (SV). Nur wenn wir diese Kräfte gewinnen, kann eine Bewegung mit Massenanhang entstehen, die das Kräfteverhältnis wirklich verändern kann.

Im nächsten Schritt kommt es außerdem darauf an, dass alle Gruppen einen praktischen Beitrag leisten, was vor allem heißt: Mobi, Mobi und noch mal Mobi! Wenn am 24. April Tausende SchülerInnen auf die Straße gebracht sein sollen, haben alle Gruppen reichlich Möglichkeiten zur Verbreitung ihrer Politik und wir können zugleich den Druck auf größere Organisationen erhöhen, sich anzuschließen.

Schlussendlich fehlt es dem Bündnis auch an einer Perspektive für die Zusammenarbeit mit ArbeiterInnen, insbesondere jenen in Bildungs- und Erziehungssektor. Eine Chance dafür wäre die Zusammenarbeit mit der Basisinitiative der GEW. Diese erfolgte bereits in Berlin in Kooperation mit der Jungen GEW, um so die Gewerkschaft insgesamt in die Aktion zu ziehen.

„Für gerechte Bildung“ will ein Schulsystem, indem SchülerInnen mitentscheiden können. Doch wenn die Forderungen nach gerechten Lern- und besseren Hygienebedingungen Wirklichkeit werden sollen, braucht es mehr: eine demokratische Kontrolle des Bildungssystems! Maßnahmen an jeder einzelnen Schule wie auch bundesweit müssen durch Komitees aus SchülerInnen, Lehrkräften und Eltern beschlossen werden. Genau deshalb sollte das Bündnis auf die GEW, aber auch auf kämpferische ArbeiterInnen überhaupt zugehen und den gemeinsamen Kampf suchen. Immerhin sind es die Kinder und Jugendlichen aus ArbeiterInnenfamilien, die am meisten unter dem bisherigen Corona-Schulchaos leiden!

Bundesweiter Aktionstag




Deutsche Wohnen und Co enteignen: Wenn die Immobilienhaie rufen, klopft die Polizei an

Tomasz Jaroslaw, Neue Internationale 254, April 2021

Der Housing Action Day am 27.3.2021 kommt gerade rechtzeitig. In die Wohnungsfrage, die immer mehr Menschen v. a. in Großstädten unter den Nägeln brennt, kommt Bewegung. Das Beispiel Berlin zeigt, dass allerdings auch die Gegenseite mobilmacht.

Mit dem Erfolg der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ (DWE) nimmt auch der Druck seitens VermieterInnen, Immobilienlobby und konservativer Medien zu.

Meinungsfreiheit?

Das hat sich bereits 2019 gezeigt, als ein Vermieter einem Mieter kündigen wollte, da ein DWE-Sticker auf seinem Briefkasten war. Der Vermieter begründete diese Kündigung mit dem Verlust des „Vertrauensverhältnisses“ und drohte zusätzlich mit einer Klage wegen Beleidigung.

Ein ähnlicher Fall der Einschränkung der Meinungsfreiheit ereignete sich im Februar 2021: als 2 WGs und eine Senioren-WG Banner mit der Aufschrift „Lebenslänglich – Bezahlbarer Wohnraum ist ein Grundrecht!“ aus ihren Fenstern hingen, da sie als BewohnerInnen der Kreuzberger Wohnungsgenossenschaft Möckernkiez eG „selbst in gesicherten Wohnverhältnissen [wohnen] und (…) nicht hinnehmen, dass Menschen fürchten müssen, ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen zu können“, so eine gemeinsame Erklärung der 25 BewohnerInnen des Hauses. Der Vorstand der Wohnungsgenossenschaft hat die BewohnerInnen aufgefordert, das Transpi runterzuhängen, da „Die Fassade nicht mit vermietet sei“ und es sich bei „der Anbringung nicht um einen üblichen Mietgebrauch handelt, die Anbringung berechtigte Interessen unserer Genossenschaft verletzt und Belästigungen anderer Hausbewohner und Nachbarn zu erwarten sind“. Die Genossenschaft gilt übrigens als Vorreiterin für eine Energiewende.

MieterInnen an der Warschauer Straße und Kopernikusstraße wurden ebenfalls von ihren VermieterInnen aufgefordert, Fahnen in den Farben lila-gelb (Kampagnen-Farben von DWE) abzuhängen.

Es zeigt eindrücklich, dass die VermieterInnen und selbst die Wohnungsgenossenschaften bereit sind, elementare Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung und Meinungsfreiheit zu beschränken.

Neutralität des Staats?

Aber macht es Sinn, hier die Konfrontation vor Gericht zu suchen? Wenn bürgerliche PolitikerInnen, bürgerliche Zeitungen oder VertreterInnen des bürgerlichen Staates davon reden, dass Recht, Ordnung und Gesetz durchgesetzt werden sollen und das unter Verwendung von Justiz und Ordnungsmaßnahmen zu erfolgen hat, ist dies einfach nur am geltenden Recht orientiert, politisch neutral und bezüglich des sozialen Standes der Streitenden unparteiisch? Steht der Staat der Durchsetzung des Mietrechts genauso nahe wie der des Eigentumsrechts?

Zur Beantwortung dieser Frage können wir uns einige prägnante Beispiele angucken, die jedoch keine Einzelfälle, sondern die Spitze des Eisbergs darstellen

Ein Eigentümer wollte in der Emser Straße 2019 eine energetische Sanierung durchführen, obwohl bereits wenige Jahre zuvor eine durchgeführt worden war. Die MieterInnen organisierten sich in einer Initiative, um diese und den Mietanstieg in der Folge vor Gericht abzuwehren. Das Gericht tendierte zunächst dazu, die erneute Sanierung zu stoppen. Noch während des Verfahrens wurde in einer Nacht die Fassade von Unbekannten an mehreren Stellen angebohrt, wodurch die Isisolierung beschädigt worden ist. Die Mietinitiative dokumentierte diese offensichtliche Sachbeschädigung im Interesse des Vermieters. Das Ergebnis: unbekannte TäterInnen, keine Verbindung mit dem Vermieter, beschädigte Bausubstanz und das Urteil: Die Sanierung durfte durchgeführt werden.

Ein Eigentümer will seit Jahren die BewohnerInnen in der Karl-Marx-Straße aus ihren Wohnungen verdrängen, indem im Winter wochenlang Heizung und Warmwasseraufbereitung nicht repariert worden sind. Der Eigentümer will das Objekt sanieren, die aktuell sehr günstigen Mieten damit aushebeln und viel teuerer neu vermieten. Als HandwerkerInnen im Auftrag des Eigentümers mutmaßlich die Gasleitung des Hauses beschädigten, ist es nur dem Umstand, dass der erste Mieter, der die Leckage bemerkt hat, kein Raucher war, zu verdanken, dass keine Explosion zustande kam. Die Polizei hat die Ermittlungen eingestellt, da ihrer Aussage nach keine TäterInnen ermittelt werden und dem Eigentümer keine Gelegenheit und kein Motiv unterstellt werden konnten, obwohl die HandwerkerInnen am Tag der Beschädigung im Haus waren (Gelegenheit) und das Motiv des Eigentümers durch die jahrelangen Verdrängungsbemühungen mehr als offensichtlich war.

Mafiamethoden

Das Padovicz-Netzwerk ist ein mafiöses Unternehmensgeflecht um die gleichnamige Familie, das dadurch auffällt, Wohnungen zu kaufen, mit Steuermitteln zu sanieren und dann die MieterInnen durch Sanierungsmaßnahmen, Müll, Ausfall von Heizungen und sogar Bedrohungen zum Verlassen zu nötigen, um die fertig sanierten und öffentlich geförderten Wohnungen viel höher neu zu vermieten. Selbst bei Wohnobjekten, die auf Grund ihrer Rolle in der ultralinken Szene bei seriösen UnternehmerInnen als Risikokapital gelten, hat das Netzwerk seine dreckigen Finger im Spiel. Nudelmann & Friends Immobilien, Teil dessen, tritt als Verhandlungspartner zwischen den unbekannten EigentümerInnen und dem Staat zur Rigaer Straße 94 auf. Auch bei der Planung, Bebauung und Verdrängung in der Rummelsburger Bucht mischt Padovicz mit.

Es gibt Hinweise auf Verflechtung zwischen ihm und diversen Bezirksämtern bezüglich Zuschüssen zur Sanierung, Kooperation bei Räumungen (Immobilienfilz). Welche Position der Staat im Konflikt zwischen MieterInnen und Padovicz einnimmt, sieht man daran, dass bis heute dieser untätig ist, das gesamte Firmengeflecht und die mafiösen Praktiken zu untersuchen und zu verfolgen. Stattdessen werden MieterInnen in den Fokus des Verfassungsschutzes gerückt, nachdem sie Protestaktionen vor Büros der Firma und Klingelstreiche organisiert haben. Während also die Ermittlungen gegen ImmobilienbesitzerInnen eingestellt werden, diese vor Gericht Recht bekommen, genießt Padovicz einen Personenschutz rund um die Uhr durch 4 Einsatzfahrzeuge der Polizei. Gleichzeitig ermittelt der Verfassungsschutz gegen den „Phänomenbereich Anti-Gentrifizierung“ und weist den Blog „Padowatch“ im Verfassungsschutzbericht 2018 aus.

Immobilienkapital und Staat: herzliches Einvernehmen

Beim „Global Residential Cities Index” (Stand 2019) liegt Berlin an 6. Stelle. Der GRCI untersucht Parameter wie u. a. Mietpreiserhöhungen, wirtschaftliche und politische Stabilität und liberale Steuergesetzgebung und berechnet daraus einen Wert, der für ImmobilienanlegerInnen als Kennzahl dient. Berlin ist daher nicht nur ein Anlagefeld für große bekannte finanzindustrielle Wohnkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia, Covivio usw., sondern voller unseriöser und mafiöser Unternehmen, die es neben krassen Profiten zusätzlich zur Geldwäsche und Steuervermeidung nutzen. Zwischen 2011 und 2015 wurden Immobilien im Wert von 13 Milliarden Euro gekauft, aber durch die Konstruktion von sog.  „Share Deals“ ist dem Land bzw. der Kommune eine Grunderwerbsteuer von 700 Millionen entgangen.

Von Seiten des Staates passiert nichts, um das vielschichtige Netz von Beteiligungen, Tochter-, Briefkastenfirmen und Steueroasen zu durchleuchten und trockenzulegen. Oft werden MieterInnen aus ihren Wohnungen vertrieben und heraus geklagt, müssen sich gegen unbegründete Mieterhöhungen oder Kostenumlagen wehren und kennen nicht mal den/die BesitzerIn der Immobilie, sondern nur deren AnwältInnen. So 2019 beim Räumungsverfahren gegen die linke Kiezkneipe „Syndikat“. Nachdem das Gericht auf Grund massiver Proteste angeordnet hatte, dass der/die EigentümerIn erscheinen musste, entpuppte sich die Adresse als Briefkastenfirma. Trotzdem siegte diese/r letztlich und die Polizei organisierte Schützenhilfe bei der Räumung, indem sie die Straße unter militärische Belagerung stellte und systematisch AnwohnerInnen schikanierte. In denselben Kontext stellt sich auch die Räumung der „Meuterei“, einer anderen linken Kneipe, die für den 25.3. angesetzt ist, und die Schließung der unabhängigen Jugend- und Kulturzentren „Potse“ und „Drugstore“.

Ein anderer international bekannter Standort ist die „Köpi“, dessen Käufer Siegfried Nehls, Vorstand der SANUS CAPITAL AG und Kopf eines ebenfalls dubiosen Unternehmensgeflechts, mehrfach wegen Betrugs und Urkundenfälschung verurteilt worden ist und die „Köpi“ als Immobilienpaket durch Strohmänner aus der STARTEZIA GmbH erworben hat. Im Februar wurde den BewohnerInnen ein Räumungsbescheid erteilt und eine Räumungsklage vor Gericht eingereicht. Es ist vorauszuahnen, dass, obwohl Bezirksverordnetenvertretung und Bezirksamt offiziell kundtun, eine Eskalation vermeiden zu wollen, die Polizei diese Räumung durchsetzen wird.  Weitere Standorte sind auch akut von Räumung bedroht: z. B. Liebigstraße 34, Voigstraße 36, Hermannstraße 48, Beermannstraße 6.

Beamtete HandlangerInnen

Das sind alles Beispiele, wo Organe des bürgerlichen Staates im Interesse von Unternehmen aufgetreten sind. Manchmal wird der Staat aber selbst aktiv gegen die MieterInnenbewegung:

  • Gezieltes und bewusstes „Totprüfen“ des Antrages für das Volksbegehren durch den Berliner Innensenat.
  • Abreißen von Plakaten durch die Polizei im Baumschulenweg.
  • Festnahme von PlakatkleberInnen eines legalen und angemeldeten Volksbegehrens wegen angeblicher Sachbeschädigung und Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz, obwohl ihm zufolge politische Werbung im Rahmen des Volksbegehrens ausdrücklich gestattet ist.
  • Ermittlungen des Staatsschutzes gegen DWE wegen einer Anzeige durch die Anwaltskanzlei Hartmann, Gallus und Partner, die mit schweren Schadensersatzforderungen den Mietenvolksentscheid e. V. (Trägerverein von DWE) nötigen will, Plakatieren im öffentlichen Raum zu unterlassen.
  • Anmeldungen zu Ständen und Kundgebungen werden von der Polizei nicht genehmigt, obwohl das neue Versammlungsgesetz eine einfache Anmeldung und Ablehnung nur in gut begründeten Ausnahmen vorsieht. Das schließt öffentlich zugängliche Privatgelände (Bahnhöfe, Einkaufshäuser) ein.

Forderungen und Perspektiven

Natürlich muss man diese vielen Beispiele publizieren und skandalisieren, aber man sollte nicht der Illusion verfallen, dass Staat, Gerichte und Polizei neutrale Institutionen seien, die dem privaten Eigentumsrecht genauso nahe stehen wie dem Mietrecht. Zudem verhält es sich selbst in parlamentarischen Demokratien so, dass BeamtInnen und RichterInnen vom Staat eingesetzt werden und die einzigen gewählten Körperschaften (Parlamente, Stadt- und Gemeinderäte) bestehen aus Abgeordneten, die ihrem Gewissen (und ihrem Geldbeutel) verpflichtet sind, nicht den WählerInnen. Diese können sie bei Verletzung ihrer Interessen nicht jederzeit abwählen wie in einer Demokratie der ArbeiterInnenräte. Wir fordern deshalb: Wahl der RichterInnen durch Organe der MieterInnen und ArbeiterInnenbewegung, gerade weil erstere zum größten Teil der ArbeiterInnenklasse angehören!

Um die Ziele von DWE zu erreichen, müssen wir solidarisch mit dem Volksbegehren und ihrer Verteidigung gegen Repression seitens Staat, Gerichten und Immobilienlobby sein. Doch sie muss über ihren Tellerrand schauen. Dazu gehört die Perspektive einer bundesweiten Zusammenführung der MieterInnenbewegung, beginnend mit einer Aktions- und Organisationskonferenz. Dazu gehört aber auch ein Plan B, der über den angestrebten Volksentscheid hinausgeht. Denn selbst im Erfolgsfall bleibt die Umsetzung in den Händen von Parlament, Staat und Gerichten, nicht zuletzt in der Frage der Höhe der Entschädigung.

Eine entschädigungslose Enteignung unter ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle – unseren Vorschlag also – hat ja DWE mit großer Mehrheit einschließlich der meisten sich als sozialistisch bezeichneten Kräfte abgelehnt! Stattdessen wird die zu gründende Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) leichtfertig zur Form des Gemeineigentums stilisiert. So richtig es wäre, die Arbeit in ihren MieterInnenräten auszunutzen, so wenig kann diese Mitbestimmung mit wirklicher Gegenmacht der ArbeiterInnenklasse gleichgesetzt werden (ganz wie die im Betriebsverfassungsgesetz festgeschriebenen Betriebsräte keine Form der Gegenmacht darstellen).

Entscheidend ist der Klassenkampf, ob aus ihnen so etwas entstehen kann. Dazu müssen aber SozialistInnen auf den Aufbau von Gegenmachtorganen zu Kapital und Staat überhaupt erstmal orientieren. Methoden wie Mietboykott, Verhinderung von Zwangsräumungen gerade infolge der Coronakrise, von organisierter Kontrolle des Mietendeckels, Beschlagnahme von Wohnraum für die obligatorische Unterbringung von Geflüchteten, Wohnungs- und Obdachlosen sind ferner zu berücksichtigen. Sie sind allesamt nur mit Klassenkampforganen durchzusetzen. Die Unterstützung der Unterschriftenkampagne von DWE stellt daher nur ein Etappenziel dar, hin zum Aufbau einer breiteren Bewegung für die Enteignung des Wohnungsbaukapitals, des Immobilienbesitz und der Wohnungsspekulation.




Mord an Sarah Everard: Not one more!

Linda Loony, Neue Internationale 254, April 2021

An einem Mittwochabend, dem 3. März 2021, verließ die 33-jährige Sarah Everard das Haus eines Freundes im Londoner Stadtteil Clapham, um sich zu Fuß auf den 2,5 km langen Heimweg nach Brixton zu machen. Sie kam nicht mehr nach Hause. Ihre Leiche wurde eine Woche später in einem Wald in Kent gefunden.

Die Ermittlungen gegen Sarahs Mörder führten zu einem 48-jährigen Polizeibeamten der London Metropolitan Police, Wayne Couzens. Ihm wird vorgeworfen, Sarah gekidnappt und getötet zu haben. Dieser Mann hatte vor dem Mord bereits mehrfach Frauen sexuell belästigt und sich z. B. in der Öffentlichkeit vor ihnen entblößt. Anzeigen, die von den Frauen gegen ihn erstattet wurden, liefen ins Leere. Couzens blieb unbestraft und arbeitete weiter im polizeilichen Dienst. Mittlerweile befindet sich der Mann in Untersuchungshaft und ein Gerichtsverfahren gegen ihn wird vorbereitet.

Protest und Repression

Kurz nach dem Fund von Sarahs Leiche und der Ermittlung des Tatverdächtigen versammelten sich über Tausend Menschen in Clapham zu einer friedlichen Mahnwache auf einer der Kreuzungen, die Sarah in der Nacht ihres Todes überquert hatte. Die örtliche Polizei griff ein, um die Versammlung aufzulösen, da diese wegen der aktuellen Corona-Lage eine zu große Infektionsgefahr darstelle – und das, obwohl die Anwesenden Masken trugen und auf Abstände achteten. Die BeamtInnen gingen dabei mit voller Härte vor. TeilnehmerInnen der Mahnwache wurden zu Boden gedrückt, geschlagen und abgeführt. Viele Videos und Bilder kursierten danach im Internet und bezeugten die Gewalt, die die Polizei gegen die mehrheitlich weiblichen TeilnehmerInnen ausübte.

Die Nachricht von Sarahs Ermordung führte zu einer neuen #MeToo-ähnlichen Bewegung auf der ganzen Welt, mit Hunderttausenden von Frauen, die sich in den sozialen Medien über ihre eigenen Erfahrungen äußerten, sich unsicher zu fühlen, wenn sie nachts nach Hause gehen, zusammen mit Männern, die fragten, was sie tun können, damit sich Frauen sicherer fühlen. Viele solidarisierten sich auch mit den Protestierenden an der Mahnwache in Clapham.

In den folgenden Tagen und Wochen fanden mehrere Großdemonstrationen im Gedenken an Sarah Everard und gegen sexualisierte Gewalt trotz Verboten statt. Die Aktionen wurden dabei thematisch mit dem Widerstand gegen die Einschränkungen des Demonstrationsrechts verbunden, die das britische Parlament zur Zeit durchzupeitschen versucht.

Diese Geschehnisse lenken das Augenmerk auf zwei zentrale Aspekte: Zum einen zeigt der Fall Sarah Everard wie viele andere und wie das riesige Social-Media-Echo, welcher Gefahr Frauen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind. Zum anderen zeigt er, dass die Polizei als Exekutivorgan eines Staates, in dem Frauen immer noch systematisch unterdrückt werden, uns nicht schützen wird.

Wie die meisten anderen Frauen fühle ich mich auf dem nächtlichen Nachhauseweg allein nicht sicher. Wir vermeiden solche Wege, wir haben ein Pfefferspray dabei, wir hören keine Musik aus Angst, herannahende Gefahr nicht zu registrieren. Wir halten unseren Haustürschlüssel in der Faust umklammert, bereit, damit um uns zu schlagen, wenn wir angegriffen werden. Wir wechseln die Straßenseite, wir gehen im Dunkeln nicht einfach spazieren oder joggen. Wir gehen nicht alleine auf eine Party zum Tanzen, wir rufen FreundInnen auf dem Heimweg an, um uns zu beruhigen. Potenzielle Gewalt gegen uns, ist eine reale Gefahr, sexuelle Belästigung, dass Männer uns anquatschen, zuzwinkern, Küsse zuwerfen, uns hinterherpfeifen. Aber wieso ist das unsere Realität?

Reaktionen

Die Polizei hatte nach Sarahs Verschwinden Frauen geraten, nachts nicht rauszugehen. Dieser Vorschlag zeigt, wie die Situation in unserer Gesellschaft betrachtet wird. Frauen sollen sich anpassen, das Haus lieber nicht verlassen, lieber keine knappe Kleidung tragen, dann passiert ihnen nichts. Dies verdeutlicht die vorherrschende Kultur, die Opfer zu  Schuldigen zu machen. Statt Frauen zu sagen, dass sie ihr Verhalten ändern sollen, muss der Fokus darauf liegen, männliche Gewalt gegen Frauen zu beenden.

Dabei kann die Lösung nicht nur in der Aufklärung oder Bewusstseinsbildung liegen, erst recht nicht darin, dass das Problem nur als eines zwischen Individuen erscheint. Individuelle Gewalttaten oder Diskriminierung müssen entschieden bekämpft werden. Aber diese Arbeit bleibt letztlich nur eine Symptombekämpfung, wenn wir nicht auch und vor allem die Ursachen für Gewalt gegen Frauen – die systemische gesellschaftliche Unterdrückung – angehen.

Die Schuldigen sind nicht nur die einzelnen Männer, die Frauen so etwas antun, sondern der Staat, die Medienkultur, die ihnen ein hohes Maß an Straffreiheit gewährt. Deren Grundlage bildet eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Frauen im Arbeitsleben benachteiligt und sie zur Verrichtung des größten Teils der privaten Hausarbeit zwingt. Diese gesellschaftliche System bringt ein reaktionäres Rollenbild der Frauen hervor, das sie als unterlegene, sexuelle Objekte darstellt, die dem Mann verfügbar sein sollen. Diese Rolle, diese Degradierung zum Objekt macht uns minderwertig, benutzbar, verfügbar und damit setzt sie uns unangenehmen Belästigungen über körperliche Übergriffe bis hin zu Mord aus. Diese Rolle verfestigt selbst noch einmal die gesellschaftlichen Strukturen, die sie hervorbringen.

Der Mord an Sarah Everard ist ein Weckruf, eine Erinnerung daran, dass selbst in den „fortschrittlichsten“ Ländern Gewalt gegen Frauen systemisch ist, dass sie zu unserem Alltag gehört, selbst wenn wir „all die richtigen Dinge“ tun, um uns zu schützen.

Kein Vertrauen

Im Kampf für Gleichberechtigung, Schutz und Sicherheit können wir uns nicht auf die Polizei oder staatliche Institutionen verlassen, wie der Fall von Sarah Everard zeigt. Viele Frauen erleben, dass ihnen von Beamten nicht geglaubt wird, wenn sie sexuelle Übergriffe melden. Beamte, die selbst übergriffig werden, erfahren viel seltener eine Bestrafung, weil sich die Polizei in Ermittlungen gegen sich selbst natürlich zurückhält. Wenn Frauen protestieren wollen, wie letzte Woche in Clapham, werden sie niedergeschlagen, von eben dieser Polizei.

Aber das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Mahnwache in Clapham ist nur die jüngste Erinnerung daran, dass die Polizei, das Gesetz und der Staat wiederholt versagt haben, Frauen und andere unterdrückte Minderheiten zu schützen.

Beispielsweise ist die Zahl der Verurteilungen wegen Vergewaltigung auf einem historischen Tiefstand in England. Nur 1,4 % der Fälle, die der Polizei gemeldet werden, führen zu einer Anklage. Die Beweislast liegt bei den Frauen, um ZeugInnen zu finden, und zu oft ist der Ermittlungsprozess selbst aufdringlich und traumatisierend.

Während Morde an Frauen, die von Fremden begangen werden, vergleichsweise selten sind und häufiger von Bekannten der Frauen ausgehen, bedeutet der institutionelle Sexismus der Polizei, dass es vielen Männern freisteht, mehrere Sexualdelikte zu begehen, die in ihrer Schwere eskalieren und manchmal in Mord enden.

Die Polizei hat wiederholt ihre Verachtung für Frauen gezeigt, die Opfer tödlicher Gewalt wurden, wie z. B. als zwei englische Polizeibeamte letztes Jahr Selfies mit den Leichen von zwei schwarzen Frauen machten, die ermordet in einem Park gefunden wurden.

Was brauchen wir?

Wenn der Staat Repression ausübt und seinen wahren frauenfeindlichen Charakter zeigt, müssen wir uns selbst verteidigen, uns organisieren und eine kämpfende Bewegung von Frauen aufbauen. Die Geschehnisse hätten ebenso gut in Deutschland stattfinden können. Das System ist dasselbe, die Unterdrückung ist dieselbe, der Kampf ist ein gemeinsamer, internationaler.

Wir müssen das Recht der Polizei ablehnen, ausschließlich gegen sich selbst zu ermitteln. Stattdessen fordern wir unabhängige Kommissionen aus VertreterInnen der Bevölkerung, der ArbeiterInnen- und Frauenorganisationen, um unterdrückerisches Verhalten und Gewalt durch die Polizei zu untersuchen.

Wir lehnen die Verschärfung von polizeilichen Befugnissen und die Erhöhung der Polizeipräsenz als Lösungen ab. Die Exekutive eines Systems in dem Frauen unterdrückt werden, wird uns nicht schützen, sondern dieses System verteidigen. Sie werden unsere Bewegung zerschlagen wollen, erst recht, wenn wir mehr tun wollen, als auf Zugeständnisse zu hoffen. Während wir natürlich weiterhin für unmittelbare Forderungen kämpfen, sollte eine neue Frauenbewegung ihre Ziele höher stecken – hin zur Überwindung des Systems, des Kapitalismus, der im Namen des Profits Frauen an unbezahlte Hausarbeit in der Familie fesselt und die sexistischen Institutionen hervorbringt, die es erlauben, dass sich Sexismus und Frauenfeindlichkeit auf jeder Ebene der Gesellschaft und in jedem Teil der Welt ausbreiten.

Darum lautet unser Slogan: Frauen die kämpfen, sind Frauen, die leben. Lasst uns das System aus den Angeln heben!

Anhang: Häusliche Gewalt

So schockierend die Details von Sarahs Fall auch sind, so ist sie kein Einzelfall. Durchschnittlich werden täglich 137 Frauen getötet, weil sie Frauen sind. So die Erhebungen der UN, die zu dem Schluss kommen, dass häusliche Gewalt die häufigste Ursache für Mord von Frauen auf der Welt ist.

Ohne den Horror von Sarahs Ermordung zu schmälern, sollten wir uns daran erinnern, dass Frauen viel eher von einem Partner oder Ex-Partner getötet werden als von einem Fremden.

Die Krise der häuslichen Gewalt hat sich während der Lockdowns extrem verschlimmert, die Frauen in ihren Häusern mit ihren Missbrauchstätern gefangen halten und Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheit anheizen, was es für Frauen schwieriger macht, missbräuchliche Beziehungen zu verlassen. Während des ersten Lockdowns stieg in Britannien die Zahl der Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt um 7 % gegenüber dem Vorjahr, und die britische  National Domestic Abuse Helpline verzeichnete einen Anstieg der Anrufe um 80 %. Gleichzeitig sank die Zahl der Strafverfolgungen und Verurteilungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als die Hälfte.

Die überwältigende Mehrheit dieser Frauen wird vor den Gerichten keine Gerechtigkeit erfahren. Frauenhäuser und spezialisierte Dienste in der Gemeinde sind lebenswichtig, doch die Mittel für sie wurden in den letzten zehn Jahren drastisch gekürzt. Trotz der Versprechen der Tory-Regierung, nach der Pandemie „wieder besser aufzubauen“, erleben die lokalen Behörden, die diese Dienste finanzieren, einige der schlimmsten Haushaltskürzungen aller Zeiten. Schätzungsweise 50 % der Frauenhäuser und Dienste mussten in den letzten zehn Jahren schließen oder wurden privatisiert.

Die konservative Regierung ist direkt verantwortlich für die systematische Zerstörung des Sicherheitsnetzes, das Frauen die Möglichkeit gibt, Gewalt und Missbrauch zu entkommen.




Die Landtagswahlen und der Absturz der CDU

Robert Teller, Neue Internationale 254, April 2021

Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg galten im Vorfeld der bürgerlichen Öffentlichkeit als Indikatoren für die kommende Bundestagswahl. Noch vor wenigen Wochen schien es sicher, dass CDU/CSU den nächsten Kanzler stellen würden. Offen schien nur die Frage nach dem Spitzenkandidaten und der Koalition, auf die er sich stützen würde.

Das Ergebnis zeigt in beiden Ländern eine schwere Niederlage für die CDU, eine Kräfteverschiebung im bürgerlichen Lager, die reale Möglichkeit eine Ampel-Koalition und trotz des SPD-Wahlsiegs in Rheinland-Pfalz schlechte Aussichten für diese.

Wahlergebnisse in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg sind die Grünen (wie bereits 2016) stärkste Kraft geworden, haben ihren Vorsprung vor der CDU aber auf 8,5 % ausbauen können. Vor allem Stimmen von CDU und SPD sind zu den Grünen gewandert.

Die CDU steht nicht nur im Vergleich zu den Grünen schlechter da. In absoluten Zahlen hat sie gegenüber 2016 knapp 20 % verloren, allerdings bei einer (um 6,6 %) ebenfalls gefallenen Wahlbeteiligung, sodass ihr Stimmenanteil von 27,0 % auf 24,1 % fällt. Vor einigen Monaten war nach den Umfragen noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen möglich. Das Wahlergebnis stellt eine schwere Niederlage für die CDU dar, die im Bundesland vor 2011 nie unter 35 % lag und sich lange Zeit gar am Erreichen absoluter Mehrheiten messen ließ. Die CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann konnte sich im Wahlkampf nicht gegenüber Kretschmann durchsetzen. Als Kultusministerin hat sie sich gegen Fernunterricht gestemmt und die erneute Schulöffnung bereits im Februar durchgesetzt, wofür sie viel Kritik einstecken musste. Die Grünen gewannen nicht nur in Eisenmanns Wahlkreis haushoch, sondern die CDU-Spitzenkandidatin verfehlte auch ein Zweitstimmenmandat und gehört dem Landtag nicht mehr an.

Die SPD, die bis 2011 stabil auf dem zweiten Platz nach der CDU gelegen hatte, hat ihren Negativrekord von 2016 (12,7 %) nun nochmals unterboten und liegt bei 11 % (gefolgt von FDP mit 10,5 % und AfD mit 9,7 %). SPD-Spitzenkandidat Andreas Stoch sieht aber selbst bei diesem katastrophalen Ergebnis noch Luft nach unten und freut sich: das Ergebnis sei „immerhin deutlich besser, als man es uns prophezeit hatte“. Olaf Scholz verkündet, dass eine Regierung ohne CDU in Deutschland wieder möglich geworden ist – nur, ein Verdienst der SPD ist das nicht!

Die FDP ist bei einem für sie guten Ergebnis gelandet (+2,2 % gegenüber 2016) und sieht sich deutlich gestärkt. Gewonnen hat sie Stimmen v. a. von früheren CDU- und AfD-WählerInnen. Sie hat einerseits mit „vernünftigen“ (d. h. nicht offen wissenschaftsleugnenden) lockdown-kritischen Positionen KleinbürgerInnen eingefangen, die sich von der Krise bedroht fühlen, was der AfD nicht gelungen ist. Andererseits liegt ihre Bedeutungszunahme nicht nur in ihrem Stimmenzuwachs begründet, sondern mehr noch in der Schwäche der CDU. Nach der Bundestagswahl bräuchten Grüne und SPD die Liberalen zur Bildung einer Ampelkoalition. Ihr Spitzenkandidat bringt sich daher schon in Stellung für Koalitionsverhandlungen – und treibt den Preis für eine liberale Regierungsbeteiligung nach oben.

Die AfD verliert 5,4 %, außerdem die beiden Direktmandate, die sie 2016 in Pforzheim und Mannheim geholt hatte. In diesem Ergebnis drückt sich ihre innere Zerrissenheit aus, einerseits die neue „CDU der 1950er Jahre“ zu sein und gleichzeitig rechtspopulistische „Bewegungspartei“ mit faschistischer Flanke. Die Flügel in der AfD haben sich im vergangenen Jahr verfestigt, ohne dass eine Lösung absehbar ist. In der Lockdown-Politik hat sie eine Position eingenommen, dass sie in der ersten Phase die Regierungslinie, natürlich mit dem üblichen extrem rassistischen Genörgel, vertreten hat, dann, als die QuerdenkerInnen in Erscheinung traten, schwenkte sie fix um und leugnet nun die Gefahr der Pandemie weitgehend, was von breiten klassisch bürgerlichen WählerInnenschichten abgelehnt wird. In den Querdenken-Protesten hat die AfD aber trotz ihrer inhaltlichen Bezugnahme keine tonangebende Rolle erobern können. Ein Teil ihrer Verluste mag zu den rechtspopulistischen Neugründungen „Die Basis“ und „W2020“ abgewandert sein, die beide auf die „Querdenken“-Bewegung zurückgehen und bei ihren jeweiligen AnhängerInnen nun als die „echte“ Alternative gelten, wohingegen die AfD in deren Augen bei den „Systemparteien“ angekommen ist. Es muss aber festgehalten werden, dass die AfD trotz ihrer Verluste über eine verlässliche WählerInnenbasis im rechten Spektrum neben CDU und FDP verfügt und bis zu den Bundestagswahlen eine größere Sogwirkung als rassistische, rechte Massenpartei entfalten kann.

Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz

Die Ergebnisse in Rheinland Pfalz weisen in dieselbe Richtung wie in Baden-Württemberg, wenn auch mit länderspezifischen Unterschieden. In diesem Bundesland konnte die SPD mit 35,7 % ihr letztes Ergebnis mit geringen Verlusten halten. Die CDU verliert ähnlich wie in BW und kommt auf 27,7 % (-4,1 %), wovon die Grünen profitieren, die auf 9,3 % (+4,0 %) kommen. Die AfD verliert in ähnlicher Größenordnung wie in Baden-Württemberg und erreicht 8,3 % (-4,3 %). Die FDP verliert leicht, dafür gewinnen die „Freien Wähler“ und ziehen in den Landtag ein.

Im Wesentlichen findet also auch in Rheinland-Pfalz eine Verschiebung innerhalb des offen bürgerlichen Lagers statt. SPD und Linkspartei verzeichnen zwar Wählerwanderungen, ihr Ergebnis verändert sich aber wenig. Von der Krise der CDU profitieren in beiden Ländern vor allem die Grünen. Das Gewicht der FDP erhöht sich, obwohl sie in Rheinland-Pfalz eigentlich zu den Verliererinnen der Wahl gehört. Für die AfD gilt im Grunde dasselbe wie in Baden-Württemberg.

Linkspartei

DIE LINKE hat in beiden Bundesländern ein gegenüber 2016 fast unverändertes Ergebnis erreicht: In Baden-Württemberg steigt sie von 2,9 % auf 3,6 %, in Rheinland-Pfalz verlor sie gar 0,3 % und liegt nun bei 2,5 %. In beiden Bundesländern scheitert sie an der 5 %-Hürde, die zweifellos ein großes Hindernis für den Wahlkampf kleinerer Parteien darstellt. Zum anderen zeigt dies für beide Länder, dass die Linkspartei trotz der katastrophalen Regierungspolitik, trotz der kapitalistischen Krise und trotz der Erosion der Sozialdemokratie keine bedeutende Anziehungskraft auf die ArbeiterInnenklasse ausübt. Sicherlich hatte die Linkspartei in beiden Bundesländern ähnlich wie in Bayern immer schon schwierigere Ausgangsbedingungen. Das erklärt aber nicht die Stagnation über Jahre.

Diese liegt vielmehr darin begründet, dass sie sich in keiner Phase der Krise und der Pandemie als glaubwürdige und radikale Alternative zur Regierung und als Opposition zum Kapital präsentieren konnte.

Bis zum Herbst 2020 wurde der Kurs der Regierung Merkel im Wesentlichen mitgetragen. Dann wurden zwar Forderungen nach Besteuerung der Reichen erhoben, aber das blieb ein v. a. parlamentarischer Vorschlag der Partei.

Hinzu kommt, dass sich ihre Politik in den Landesregierungen (Berlin, Thüringen, Bremen) faktisch nicht von anderen unterschied. Auch sie ordneten den Gesundheitsschutz den Kapitalinteressen v. a. im industriellen und Finanzsektor unter. Ein Teil der Partei sympathisiert zwar mit #ZeroCovid und einer entschiedenen Bekämpfung der Pandemie im Interesse der ArbeiterInnenklasse. Ein dritter Teil wiederum hält eine linke, entschlossene Bekämpfung der Pandemie für unmöglich und hofft, dass wir uns nach überstandener Gesundheitsgefahr wieder den „eigentlichen“ sozialen Fragen widmen könnten.

Um die Einheit der Partei zu wahren, werden einerseits Formelkompromisse in die Welt gesetzt, andererseits machen die RegierungssozialistInnen in den Kabinetten weiter wie bisher. Dass die Linkspartei mit einer solchen Konzeption keine Zugkraft entwickelt, sollte niemanden wundern.

Reaktionen und Bedeutung bundesweit

Der Wahlsieg der Grünen in Baden-Württemberg mit 8,5 % Vorsprung vor der CDU ist für letztere eine Demütigung. Dabei ist es einerlei, ob Kretschmann nun die grün-schwarze Koalition mit einer eindeutig klaren Führungsrolle fortsetzen oder gar eine Ampelkoalition ohne CDU bilden wird. In beiden Fällen wird die Erkenntnis der Wahl sein, dass auf Bundesebene für die CDU an den Grünen kaum ein Weg vorbeiführt – und das auch in dem Sinne, dass sich Kretschmanns Grüne gewissermaßen als die bessere CDU von heute zu präsentieren vermögen: eine „wirtschaftsfreundliche“ Staatspartei für das Kapital, aber ohne unproduktive, schädliche Debattenschauplätze wie auf dem rechten Flügel der CDU. Für die Grünen stellt sich nun die Frage, ob sie durch Fortsetzung von Grün-Schwarz auch den Weg für Schwarz-Grün auf Bundesebene freimachen oder mit der Ampelkoalition die FDP aufwerten wollen.

Die Wahlergebnisse mögen auch mit der Popularität von Kretschmann und Dreyer erklärt werden bzw. mit der Schwäche ihrer HerausforderInnen. Das mag die Niederlage für die CDU etwas relativieren, nicht aber deren Bedeutung für die Bundestagswahl, wo der CDU/CSU noch ein Flügelkampf um die Kanzlerkandidatur bevorsteht. Der „Amtsbonus“ mag vor allem Kretschmann zugutekommen, der nicht nur an die CDU-Tradition eines von politischen Sprüchen befreiten Personenwahlkampfs anknüpft, sondern sich auch quasi als Merkels verlässlichster Verbündeter beim Krisenmanagement erwiesen hat.

Der CDU hingegen hat bei beiden Wahlen nicht geholfen, dass sie auf Bundesebene an den Schalthebeln sitzt, und auch die bundesweiten Umfrageergebnisse zeigen für sie einen steten Abwärtstrend. Merkel scheint mit ihrem Abtritt ein Machtvakuum zu hinterlassen, das kein bekannter Bewerber um die Nachfolge füllen kann. Die Annahme fetter „Provisionen“ durch CDU-Abgeordnete für die Vermittlung von Masken wurde bereits vor der Wahl bekannt, aber in ihrem aktuellen Ergebnis ist die Maskenaffäre noch nicht einmal vollständig eingepreist, da mehr als zwei Drittel der WählerInnen in Baden-Württemberg und auch ein großer Teil in Rheinland-Pfalz ihre Stimme bereits vorab per Briefwahl abgegeben hatten.

Die Landtagswahlen sollten für die CDU der Meilenstein vor den Bundestagswahlen sein, nach dem über die Kanzlerkandidatur entschieden wird. Die wesentliche Erkenntnis der Landtagswahlen ist nun, dass ein CDU-Kanzler nicht gesichert und eine Ampelkoalition als Möglichkeit auf Bundesebene eine reale Option geworden ist. Dies könnte den Grünen weiterhin Auftrieb verleihen. Zugleich könnte die Wahlniederlage der CDU in der Diskussion über die Kanzlerkandidatur Söder ermutigen, sich stärker gegen Laschet in Stellung zu bringen.

Obwohl die FDP gestärkt ist, reagiert sie auf Bundesebene zurückhaltend zur Frage der Regierungsbeteiligung in Baden-Württemberg. Aber wenn Lindner nicht über Ampeln, sondern über Inhalte sprechen will, ist das alles andere als ein Dementi. Die FDP wird sich im Zweifelsfall einer Ampelkoalition kaum verweigern können, nachdem ihr Platzenlassen der Jamaika-Koalition 2017 zu schweren internen Auseinandersetzungen geführt hatte. Auf Bundesebene ist eine Ampelkoalition aus heutiger Sicht die realistische Regierungsoption für die FDP. Das ist wiederum ein Problem für die CDU und könnte ihre Flügelkämpfe verschärfen – zwischen dem rechten Flügel, der einen Lagerwahlkampf gegen einen befürchteten „Linksruck“ in der BRD führen, und dem um Merkel/Laschet, der sich alle Optionen offenhalten möchte. Dennoch möchte die FDP sich nicht auf die Perspektive der Ampelkoalition festlegen, um nicht vermeidbar als Erfüllungsgehilfin einer rot/grünen Regierungsbeteiligung zu gelten.

Wie auch immer die taktischen Wendungen der WahlstrategInnen aller Parteien und ihre Raffinessen aussehen: Die starken Verluste der beiden Volksparteien vor allem den aktuellen Umständen, wie dem Masken-„Provisionen“-Skandal in der CDU/CSU, dem schlechten Corona-Krisen-Management der GroKo oder dem inkompetenten Personal der Führungsriegen der Parteien anzulasten, greift zu kurz.

Schon seit den 1990er Jahren ist zu beobachten, dass die soziale Bindungskraft der sog. Volksparteien nachlässt, um nicht zu sagen zerbröselt, weil Kompromisse, die für alle was übrig lassen, immer schwerer zu finden sind. Nach dem Krieg nahmen SPD und Union für sich in Anspruch, die Interessen aller Schichten und Klassen der Gesellschaft zu vertreten: vom Wirtschafts- über den Mittelstands- bis zum Arbeit„nehmer“Innenflügel. Natürlich war das immer eine Ideologie. Beide Volksparteien stützen sich geschichtlich, sozial und organisch auf unterschiedliche Klassen der Gesellschaft. Die SPD monopolisierte als bürgerliche ArbeiterInnenpartei über Jahrzehnte faktisch die gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnenklasse. CDU/CSU bildeten die Vertretung des deutschen Kapitals, auch wenn sie als christliche Massenparteien das KleinbürgerInnentum und auch v. a. katholische ArbeiterInnenschichten an sich banden. Die SPD wiederum präsentierte sich als reformistische, d. h. ihrem Wesen nach bürgerliche Partei immer auch als bessere Sachwalterin der Gesamtinteressen des Kapitals.

Entscheidend ist, dass dieses System für einige Jahrzehnte funktionierte, seit den 1970er Jahren jedoch zunehmend erodiert. Seit dem Ende von Rot/Grün und mit der Agenda-Politik unter Schröder hat sich dieser Prozess bescheunigt und vertieft, was zuerst vor allem die SPD traf. Die zunehmende Unfähigkeit der Volksparteien, ihre Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit zu erfüllen, hat seine Ursachen in der zunehmenden Krisenhaftigkeit des globalen Kapitalismus, die schon seit Mitte der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts zu beobachten ist.

Sinkende Kapitalrenditen führten zu einem verschärften Konkurrenzkampf. Die Folge ist eine zunehmende Konzentration des Kapitals: Die großen Kapitale fressen die kleinen. Die kleinen sind der ach so umsorgte Mittelstand, die Bauern/Bäuerinnen und im verstärken Maße die bessergestellten Schichten abhängig Beschäftigter. Der verstärkte Zwang, Kosten zu sparen, um konkurrenzfähig zu bleiben, befeuert Rationalisierungen wie die sog. Digitalisierung, Deregulierung und Intensivierung der Arbeit in allen Bereichen der Gesellschaft und damit gleichzeitig die Verarmung immer größerer Schichten der Lohnabhängigen.

Dem nach 1945 etablierten politischen System und dessen Hauptparteien wird somit die Geschäftsgrundlage entzogen. „Weimarer Verhältnisse“, denen die Volksparteien laut ihrer Ideologie vorbeugen sollten, werden zwangsweise wieder zu erwarten sein. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr politischer Herrschaftsmechanismus werden zur Zeit nicht durch ihre FeindInnen unterminiert, sondern durch die heiligen Marktgesetze des Kapitalismus. Daran kann keine Regierung der Welt und kein Parlament etwas ändern.

Welche Perspektive?

Wohl aber erhebt sich die Frage, welche Klasse, welche gesellschaftliche Kraft eine Antwort auf diese Krise zu geben vermag. Auch wenn die AfD bei den Landtagswahlen Niederlagen einfahren musste, so bilden die Bewegung der Corona-LeugnerInnen, die Krise und damit die Entwurzelung des KleinbürgerInnentums einen Nährboden für wachsenden Irrationalismus und Rechtspopulismus. Diese Bewegung steht bereit, wenn die „normale“ bürgerliche Politik keine Lösung für die Krise des Kapitalismus zu bieten vermag.

Zweifellos bildet die aktuelle, katastrophale und inkompetente Regierungspolitik eine unmittelbare Ursache der Wahlniederlagen der CDU. Aber das Problem der Unionsparteien besteht auch darin, dass unter der Oberfläche der Regierung Merkel verschiedene Kräfte um die politische Ausrichtung kämpfen. Wie auch der knappe Sieg von Laschet gegen Merz im Kampf um den Parteivorsitz zeigte, ist der Richtungsstreit in der Union keineswegs gelöst. Er droht vielmehr, an kritischen Punkten immer wieder aufzubrechen. Die Grünen vertreten im Gegensatz dazu eine bestimmte Kapitalstrategie, den Green New Deal. Die Regierung Kretschmann hat in Baden-Württemberg, einem der wichtigsten Standorte des deutschen Exportkapitals, über mehrere Legislaturperioden bewiesen, dass sich die herrschende Klasse davor nicht zu fürchten braucht, sondern dass die Grünen ihre Interessen recht konsequent, aber ohne wertkonservativen Plunder vertreten.

Die Ergebnisse von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben jedenfalls dazu geführt, dass mit den Bundestagswahlen zwei Regierungskoalitionen möglich erscheinen: Schwarz-Grün oder die Ampel. Nachdem die SPD jahrelang ihre eigene Partei in der Großen Koalition verschlissen hat, bewirbt sich Olaf Scholz nun als Vizekanzler unter Grün-Rot-Gelb. Die ArbeiterInnenklasse hat von einer solchen „Linkswende“ allerdings nichts zu erwarten.

Während vor den Landtagswahlen noch in der Linkspartei und linken SPD-Kreisen von einer möglichen grün-rot-roten Koalition die Rede war, so ist es um diese neoreformistische Phantasie still geworden. Die Grünen und die Mehrheit der Sozialdemokratie wollten von dieser Träumerei ohnedies nie etwas wissen. Die „linke“ SPD-Führung setzt natürlich auch auf eine grün-rot-gelbe Regierung ohne Unionsparteien. Hatte die SPD im Verbund mit den Gewerkschaftsspitzen die ArbeiterInnenklasse über Jahre durch die Große Koalition ans deutsche Kapital gebunden, so soll die  Klassenzusammenarbeit neu gefärbt werden. Bleibt nur noch die Linkspartei und die Frage, ob sie sich von den Illusionen in eine Regierungsbeteiligung verabschiedet oder weiter darauf hofft.

Um das gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ändern und um die ArbeiterInnenklasse aus der doppelten Umklammerung an SozialpartnerInnenschaft und Großer Koalition zu lösen, führt kein Weg an einer unabhängigen Klassenpolitik vorbei – am Kampf für eine Aktionskonferenz und ein Aktionsbündnis gegen die kapitalistische Krise und Pandemie einerseits und am Aufbau einer revolutionären Alternative zum Reformismus andererseits.




Pariser Kommune: Enteignung der EnteignerInnen

Janosch Janglo, Neue Internationale 254, April 2021

Vor 150 Jahren, am 18. März 1871, wollte die französische Armee die Nationalgarde von Paris entwaffnen und 227 Artilleriegeschütze rauben, die die Bevölkerung von Paris finanziert und  vor den einrückenden Deutschen gerettet hatte. Die Regierung der sogenannten nationalen Verteidigung hatte mehr Angst vor den bewaffneten Volksmassen als vor den Paris belagernden PreußInnen. In der Folge kam es in der Stadt zum Volksaufstand und es begann zum ersten Mal der Versuch der „Enteignung der EnteignerInnen“, wie Marx es ausdrückte.

Marx und Engels verfolgten die Ereignisse in Frankreich aus zwei Gründen sehr genau. Erstens war das Land seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Laboratorium an Klassenkämpfen, ein Exerzierplatz des klassenbewusstesten Proletariats der Welt auf dem politischen Terrain zweier bürgerlicher politischer Revolutionen: der von 1830 und besonders der von 1848. Die politische Aktion der französischen ArbeiterInnenklasse in der Revolution von 1848 und die nachfolgende Gegenreaktion ließen das Verständnis der beiden Klassiker bezüglich des zukünftigen Staats des Proletariats über die bisherigen Formulierungen im „Kommunistischen Manifest“ und den „Klassenkämpfen in Frankreich“ (Erringung der vollständigen Demokratie, Diktatur des Proletariats) hinausgehen.

Zweitens standen die „Väter des Marxismus“ dem Krieg zwischen Preußen und Frankreich durchaus nicht neutral gegenüber. Selbst ein Sieg des verhassten Preußen gegen Frankreich, so argumentierten sie, wäre ein Fortschritt durch die resultierende Einheit Deutschlands – wenn auch von oben. Nach der Niederlage Frankreichs entwickelte sich das aufständische Pariser Proletariat zu einer viel größeren Bedrohung für Frankreich und Preußen/Deutschland, als beide Länder jemals voneinander erfuhren. Marx und Engels zögerten keine Sekunde, sofort Partei für die Pariser Kommune zu ergreifen, ohne ihre Position zum preußisch-französischen Krieg jemals revidiert zu haben. Die Überwindung der Kleinstaaterei in Deutschland bereitete den Boden für das Wachstum der Produktivkräfte und der Zahl der ArbeiterInnenbevölkerung, war somit indirekt ein Fortschritt auch in Bezug auf die Stärkungsmöglichkeiten der ArbeiterInnenorganisationen. Doch wie viel direkter und bedeutender war das Werk der Pariser Kommune für Strategie und Taktik der KommunistInnen sowie die marxistische Lehre vom Staat! Die aufständische Pariser ArbeiterInnenschaft hatte dem Weltproletariat die Konturen seiner zukünftigen Herrschaftsform gezeigt! Den Gefallenen gebührt hierfür ewiger Dank!

Machtergreifung der Kommune

Das Zentralkomitee der Nationalgarde, im Zuge der Belagerung der Stadt stark proletarisiert und zunehmend die Rolle einer politischen Organisation einnehmend, ergriff die Macht in Paris und veranlasste die Besetzung der strategisch wichtigen Punkte der Stadt sowie der öffentlichen Gebäude. Kasernen, die Polizeipräfektur, das Justizministerium und das Rathaus wurden innerhalb weniger Stunden besetzt. Es bereitete unterdessen schnell Wahlen am 26. März für  den „Kommunalrat von Paris“ vor. Dieser gewählte Rat bildete die Pariser Kommune von 1871.

Die Kommune machte sich sogleich daran, die sozialen Verhältnisse in Frankreich umzustürzen. Ziel war nicht mehr nur die Verteidigung der Stadt, sondern vor allem die Beseitigung der alten Unterdrückung und die Sicherung der Herrschaft des Proletariats. Für dieses Ziel beschloss die Kommune verschiedene revolutionäre Maßnahmen wie die Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes, die Übergabe von verlassenen oder stillgelegten Fabriken an ArbeiterInnengenossenschaften, Entlohnung der Verwaltungs- und RegierungsbeamtInnen zum normalen Arbeitslohn, Wahl der Betriebsleitungen direkt durch die ArbeiterInnen, Verkürzung der Arbeitszeit und Aufhebung der Trennung von Exekutive und Legislative, jederzeitige Abwählbarkeit aller Stellen in Verwaltung, Justiz und Lehre sowie die Trennung von Kirche und Staat.

Des Weiteren zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den auch andere ArbeiterInnen empfingen. Um die Lebensbedingungen der durch Krieg und Belagerung stark gebeutelten Bevölkerung zu verbessern, sind in erster Linie im sozialen Bereich Verordnungen über den rückwirkenden Erlass von fälligen Wohnungsmieten, der Verkaufsstopp und die Rückgabe von verpfändeten Gegenständen sowie die Abschaffung der Nachtarbeit für BäckergesellInnen, Kündigungsverbot für Mietwohnungen, Aufhebung der Pfandhäuser zu nennen.

Zu den wichtigen Errungenschaften der Kommune zählten auch die Gleichstellung von Mann und Frau. Frauen erhielten erstmals das Recht auf Arbeit und gleichen Lohn wie die Männer und erstritten weitere Rechte wie die Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder sowie die Säkularisierung von Bildungs- und Krankenpflegeeinrichtungen. Frauen und Waisen von NationalgardistInnen, die bei der Verteidigung von Paris gefallen waren, stand jetzt eine Pension zu, egal ob es sich dabei um legitime oder illegitime Frauen (gesetzlich nicht legitimierte Ehen waren vor dem 18. März verboten) bzw. Kinder handelte. Die Geburtsstunde der Kommune war auch die des Frauenbundes für die Verteidigung von Paris. Das Programm des Bundes war ein Kampfprogramm, in dem es unter anderem hieß: „Unterstützung der Regierungskommissionen durch Dienst in der Krankenpflege, beim Minenlegen und beim Barrikadenbau.“

Revolution auf halbem Wege

Die Kommune bestand mehrheitlich aus BlanquistInnen, die die Notwendigkeit erkannten, die politische Macht zu erobern. Aber notfalls sollte dies auch durch eine entschlossene Minorität geschehen, „die durch ihre Einsicht und Aktivität die Masse mitreißen und durch strenge Zentralisation die Macht in den Händen behalten könnte“ (Anton Pannekoek: „Der neue Blanquismus“), bis die Masse der Bevölkerung ihr in die Revolution folgt. Sie vertraten aber auch die richtige Auffassung, dass die bürgerlichen Garden entwaffnet und die ArbeiterInnen bewaffnet und zur ArbeiterInnenmiliz organisiert werden mussten.

Die Minderheit im Rat der Kommune wurde überwiegend von ProudhonistInnen gestellt, die meist Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation (der später so genannten Ersten Internationale) waren und die in friedlichem Aufbau des Genossenschaftswesens den Kapitalismus untergraben wollten. Somit hingen sie der Illusion an, den Kapitalismus friedlich überwinden zu können, obwohl dieser gerade in Form seiner Armeen waffenstarrend vor den Toren der Stadt stand und keinen Gedanken daran verschwendete, friedlich mit dem Proletariat um die Macht ringen zu wollen.

Leider sollte diese Gruppe in der folgenden Zeit der Kommune im Wesentlichen für die ökonomischen Dekrete verantwortlich zeichnen, was folglich zu schwersten politischen Fehlern führen musste, die unter anderem die blutige Niederschlagung der ersten ArbeiterInnenregierung nach nur 72 Tagen zur Folge hatten. Ein entscheidender Fehler war die Nichtbesetzung des Hauptpostamtes und vor allem der Bank von Frankreich, die auch im späteren Verlauf der Revolution nicht erfolgen sollte. Der Kassenbestand der Bank betrug am 20. März ganze 2,2 Milliarden Franc. Was für eine Summe, bedenkt man, dass die nach Versailles geflohene Nationalversammlung der Kommune lächerliche 4,6 Millionen Franc hinterließ, mit denen die Arbeit der öffentlichen Dienste und die Besoldung der 170.000 Mann starken Nationalgarde gewährleistet werden mussten!

Ein weiterer Fehler war, dass die bürgerliche Presse, die nicht nur reaktionär war, sondern offen den Sturz der Kommune propagierte, auch nach dem 18. März unbehelligt arbeiten durfte. Erst in den letzten Tagen der Kommune wurden schrittweise alle bürgerlichen Blätter verboten. Zu spät kam aber die Einsicht, den Krieg an allen Fronten zu führen.

In dieser Hinsicht war die Konterrevolution zielbewusster: Die Zeitungen der Kommune waren in Versailles verboten. Dieses bürgerliche Propagandagift in den Zeitungen wirkte vor allem auf das KleinbürgerInnentum, das sich zum großen Teil von der Kommune abwandte oder nur zögernd und zurückhaltend für die Verteidigung von Paris eintrat.

Auch an anderer Stelle sollte sich die Kommune durch eine zögerliche Haltung oder besser durch eine falsche Einschätzung der politischen Lage das eigene Grab schaufeln. Nach dem 18. März war die Gelegenheit günstig, da die Nationalregierung in Versailles gerade mal ein Heer von 12.000 erschöpften und demoralisierten SoldatInnen besaß, die zudem noch dicht davor standen, zur Nationalgarde überzulaufen, der Konterrevolution mit einer militärischen Offensive gegen Versailles den Todesstoß zu verpassen. Im Gegenteil, man ließ ihr genügend Zeit, sich militärisch zu reorganisieren und mit den Preußen zu verbünden, mit denen sie sich kurz vorher noch einen blutigen Krieg geliefert hatte, um die Rückkehr von Kriegsgefangenen zu erleichtern.

Die Blutwoche

So ließ die Gegenoffensive der Konterrevolution nicht lange auf sich warten. Seit dem 20. Mai marschierten ungefähr 20.000 gut ausgerüstete SoldatInnen in Paris ein und drängten die ArbeiterInnen und die Nationalgarde an die Wand. Das Schlachtfest einer wütenden und herausgeforderten Bourgeoisie kostete 30.000 ArbeiterInnen das Leben, forderte 40.000 Gefangene, Verbannte und zur Zwangsarbeit Deportierte. Deshalb wurde die Periode zwischen dem 21. und 28. Mai im Gedächtnis der internationalen ArbeiterInnenbewegung zur „Blutwoche“, einem der größten Massaker in ihrer Geschichte.

Am 25. Mai 1871 fand die letzte Versammlung der Kommune statt. Die letzte Barrikade wurde am 28. Mai erobert. Die Kommune ward zwar in ihrem Blut ertränkt, ist aber seitdem zu einem unauslöschlichen Vorbild und einer Herausforderung für die weltweite sozialistische Bewegung geworden. Wegen ihrer wertvollen Erfahrungen konnte die weltweite Organisation der ArbeiterInnen qualitativ und quantitativ weiterentwickelt werden.

Vor allem zeigte das Bündnis von Frankreich und Preußen, die die Angst vor einem Macht beanspruchenden Proletariat verband, dass es notwendig ist, die ArbeiterInnenklasse weltweit zu organisieren. Marx schälte aber eine noch wichtigere Erfahrung heraus: „Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann.“ Dies heißt nichts anderes, als dass sie eine mit positivem Inhalt gefüllte Antwort auf die von ihm bereits im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ aufgestellte Hypothese als Lehre aus den Klassenkämpfen in Frankreich 1851/52 lieferte, nämlich dass die bürgerliche Staatsmaschinerie vom Proletariat zerschlagen werden muss und sich nicht auf halbem Wege der Revolution mit der bloßen Besitzergreifung der Staatsmacht begnügen darf – und zwar als Muster einer neuen proletarischen Staatsmacht, die die alte, zerschlagene ersetzt. Die Pariser Kommune war die erste Diktatur des Proletariats in der Hauptstadt Frankreichs und die erste Gegenregierung in einem ganzen Land.

Mit der Pariser Kommune zeigt sich erstmals diese neue Form des proletarischen Staates, der die alte bürgerliche Staatsmaschinerie ersetzen musste. Denn anders als der bürokratische und militärische Staat des BürgerInnentums, der – ob mit parlamentarischer Fassade oder ohne – über tausende Bindeglieder mit der Herrschaft des Kapitals untrennbar verbunden ist, ist die Kommune nicht nur eine Staats- und Herrschaftsform zur  Sicherung der Macht der arbeitenden Bevölkerung. Sie ist auch eine Form, die den Übergang ermöglicht zu einer neuen, letztlich klassenlosen Gesellschaft, ein Staat, der im Laufe der Entwicklung einer neuen sozialistischen Produktionsweise mehr und mehr absterben und schließlich mit der Entwicklung der klassenlosen Gesellschaft selbst verschwinden kann und wird.