Tarifrunde öffentlicher Dienst und Gesundheitswesen: Schluss mit der Politik der “ausgestreckten Hand”!

Helga Müller, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Auch nach der zweiten Verhandlungsrunde am 19./20.9. stellen sich die öffentlichen Arbeit„geber“Innen, also der Bund und die Kommunen, stur. Sie verweisen auf die leeren Kassen aufgrund der zahlreichen Krisenpakete der Bundesregierung. Da wurden Milliarden Subventionen an die sogenannten „systemrelevanten“ Konzerne gegeben, um diese nach dem Einbruch der Wirtschaft zu stützen! Allein Lufthansa erhielt davon 9 Mrd. Euro – ohne irgendwelche Bedingungen, was z. B. die Umweltverträglichkeit oder den Erhalt von Arbeitsplätzen angeht.

Die Wirtschaftskrise hatte sich schon lange vorher als eine schwere Rezession angekündigt. Sie wurde nicht durch die  Corona-Pandemie verursacht, aber durch sie beschleunigt. Auf jeden Fall tragen nicht die Beschäftigten die Schuld für die Krise des Systems! Aber die Arbeit„geber“verbände wollen die Beschäftigten für die Krise zahlen lassen: Sie wollen eine lange Laufzeit – am besten bis 2023 – , keinen Mindestbetrag und keine Arbeitszeitverkürzung in welcher Form auch immer (Flugblatt ver.di vom 20.9.).

Hauptforderungen

Die Hauptforderungen von ver.di bestehen immer noch in der Erhöhung von 4,8 %, mindestens aber 150 Euro monatlich, der Aufstockung der Entgelte der Azubis, Studierenden und PraktikantInnen um 100 Euro monatlich, einer Laufzeit von 12 Monaten, Tarifierung der Ausbildungsbedingungen der Studierenden im dualen Studiengang und der Angleichung der Arbeitszeit im Osten an die im Westen. Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung – in einer ver.di-Umfrage haben sich die meisten KollegInnen für mehr Freizeit ausgesprochen – wurde allerdings gar nicht mehr erhoben.

Vor allem die kommunale Arbeit„geber“vereinigung VKA hält an ihrer Linie fest: Sie hatte noch vor Beginn der Tarifrunde die „ausgestreckte Hand“ von ver.di (Zitat Wernecke, Pressemitteilung ver.di Bundesvorstand vom 18.6.2020) ausgeschlagen. Für die ver.di-Führung eine bittere Pille. Schließlich schwebt ihr eine Vereinbarung mit den öffentlichen Arbeit„geber“Innen ganz nach alter sozialpartnerschaftlicher Manier vor: Einmalzahlung und Aufschieben der eigentlichen Tarifrunde auf das nächste Jahr.

Die VKA wertete diese Taktik als das, was sie ist – ein Zeichen der Schwäche und des Zurückweichens. Sie will diese Tarifrunde nutzen, um das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verändern, ver.di in die Knie zwingen, um die Krisenlasten auf die breite Mehrheit der Beschäftigten abzuwälzen. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass die Streikbereitschaft bei den Beschäftigten aufgrund der Pandemie-Situation nicht allzu groß ist.

Spekulation der VKA

Sie spekuliert darauf, dass viele KollegInnen aus der Verwaltung Zurückhaltung zeigen, in Bezug auf eine höhere Gehaltsforderung aktiv werden zu wollen, geschweige denn zu streiken. Die Angst vor Arbeitsplatzabbau aufgrund der diversen materiellen Hilfsprogramme der Regierung zur Rettung vor allem der großen Konzerne, die die Haushalte wieder ausbluten, scheint bei vielen größer als die Notwendigkeit, für eine angemessene Bezahlung zu streiken. Gerade vor diesem Hintergrund wäre es notwendig gewesen, die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung – vor allem in Verbindung mit vollem Lohn- und Personalausgleich –  aufzustellen, denn dies wäre eine zentrale Antwort auf die Frage des Erhalts der Arbeitsplätze gewesen.

Auch die Mobilisierung im ErzieherInnenbereich wird nicht ganz unproblematisch sein, da die Beschäftigten die Eltern nicht nochmals belasten wollen, nachdem letztere während des Shutdowns monatelang neben der Arbeit auch die Kinder betreuen mussten.

Die auf einen „partnerschaftlichen“ Deal berechnete Taktik von ver.di verstärkt natürlich die Unsicherheiten bei den Beschäftigten. Angesichts der harten Haltung der VKA muss der Apparat in der aktuellen Situation umorientieren – um, so die Devise, die Arbeit„geber“Innen zu einem vernünftigen Angebot an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Gesundheitsbereich

In dieser Gemengelage kamen nun die ver.di-Verantwortlichen auf die Idee, den Bereich, der während des Shutdowns am meisten in der Öffentlichkeit stand und in dem aufgrund des schon jahrelang herrschenden Personalnotstands derzeit am meisten Kampfbereitschaft vorhanden ist – nämlich den Gesundheitsbereich – hauptsächlich zu mobilisieren, um die „Kohlen aus dem Feuer“ zu holen.

Die Crux dabei ist, dass die Hauptforderungen dieser Tarifrunde keine Antwort auf die eigentliche Problematik, die die KollegInnen jeden Tag zu spüren bekommen – nämlich auf die Frage des Personalnotstands – geben.

Auch der Trick mit dem separaten Verhandlungstisch zur Gesundheit – insbesondere zur Pflege -, in dem es um eine Pflegezulage, Zuschlag bei Samstagsarbeit, bessere Bezahlung, Pausenregelung bei Wechselschichtarbeit geht -, bringt in Bezug auf die Einstellung von ausreichend Personal nicht weiter. Schon bei den ersten Verhandlungen am 18.9. hat sich herausgestellt, dass die VKA bei allen Fragen, die irgendwie mit einer Entlastung zu tun haben könnten, blockiert. Aber bei den Forderungen nach Zuschlägen und einer besseren Bezahlung im Gesundheitsbereich ist sie durchaus offen  (Flugblatt ver.di vom 18.9.20).

Dies könnte schon jetzt auf einen möglichen Abschluss hinweisen: Die ver.di-Spitze  könnte darauf abzielen, mit der VKA und dem Bund zu vereinbaren, dass es für die Beschäftigten im Gesundheitsbereich einen größeren Schluck aus der Pulle gibt und für die übrigen einen Abschluss, der mehr oder weniger über der Inflationsrate liegt. Es könnte sein, dass sich die öffentlichen Arbeit„geber“Innen bei den dritten Verhandlungen, die traditionell im öffentlichen Dienst die letzten sind, am 23./24. Oktober darauf einlassen. Das hängt natürlich davon ab, wie weit ver.di jetzt die Belegschaften zu Warnstreiks überhaupt mobilisieren kann und will.

Die Warnstreiks zeigten, dass die Beschäftigten in den Krankenhäusern durchaus mobilisierbar sind. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob die Forderung nach einer besseren Bezahlung ausreicht, um die Beschäftigen für einen längerfristigen Erzwingungsstreik rausholen zu können. Die Bezahlung ist sicherlich eine Grundlage, um diesen Bereich lukrativer zu machen, aber damit wird die Weigerung der Klinikführungen, mehr Personal einzustellen, nicht durchbrochen werden können. Aber genau das ist die Erfahrung der KollegInnen aus der Entlastungskampagne von ver.di, in der auf tarifvertraglicher Ebene durchaus mehr Personal erstritten oder gar erstreikt werden konnte, was aber in den meisten Krankenhäusern nur auf dem Papier steht und nicht umgesetzt worden ist.

Die ver.di-Verantwortlichen haben durchaus verstanden, dass die Forderung nach einem gesetzlichen Pflegeschlüssel sinnvoll ist und von den Beschäftigten erwartet wird. Dass sie aber nicht in die Tarifrunde mit aufgenommen wird, wird mittlerweile damit begründet, dass dies eine Forderung sei, die sich direkt an die Politik wendet. Sie sollte dann in einer öffentlichkeitswirksamen Aktion am 30. September, dem Tag der GesundheitsministerInnenkonferenz, an Gesundheitsminister Spahn in Form einer Fotopetition übergeben werden. Zwar unterschrieben Tausende, die Aktion selbst hat aber wohl eher Schwäche denn Kampfkraft zum Ausdruck gebracht.

Den, für sich genommen, richtigen Verweis darauf, dass die Frage des Pflegeschlüssels eine politisch ist, nimmt der Apparat zum Vorwand, grundlegende Probleme aus der Tarifrunde zu halten, um so leichter zu einem Deal mit der VKA zu kommen. Für die Mobilisierung ist dieses Heraushalten gesellschaftlicher Fragen, das sklavische Festhalten an den Grenzen des Tarifrundenrituals, das Vermeiden einer echten Massenaktion jedoch fatal.

Politische Fragen

Angesichts der Krise bedarf es einer grundlegend anderen Tarifpolitik. Es geht dabei um viel: Die Arbeit„geber“Innen im öffentlichen Dienst wie in der Privatwirtschaft wollen die Beschäftigten für die Krise des Kapitalismus zahlen lassen – vor Entlassungen schrecken sie lediglich noch zurück. Entsprechend könnte und müsste die Tarifrunde auch organisiert werden. Die ver.di-Führung hingegen hofft weiter auf eine „partnerschaftliche“ Runde, der mit etwas mehr Warnstreiks auf die Sprünge geholfen werden soll, so dass die VKA doch noch die „ausgestreckte Hand“ ergreift.

Nach der groben Fehleinschätzung, dass man schnell eine Einigung im Sinne des großen Corona-Miteinander-Füreinander erreichen könnte, waren die ersten Aktionstage und Warnstreiks erst für Ende September bis Mitte Oktober geplant. Nachdem die Blockade der öffentlichen Arbeit„geber“Innen deutlich geworden war, musste die ver.di-Spitze bereits früher loslegen. Am Dienstag, dem 22.9., wurden die ersten erste Warnstreiks in verschiedenen Städten durchgeführt. Aber durch die Fehlplanung und das totale Abtauchen des ver.di-Apparats während des Shutdowns mussten dieser und auch die Aktiven in den Einrichtungen auf Mobilisierung umgepolt werden, was nur teilweise gelang.

Damit diese Tarifrunde nicht in einem Desaster endet – ein bisschen was für die Pflegekräfte und der Rest kriegt vielleicht den Inflationsausgleich -, muss sie mit folgender Ausrichtung verbunden werden:

  • Wir zahlen nicht für die Krise der großen Konzerne und Vermögenden!
  • Wir brauchen nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Personal!
  • Das Geld dafür ist da – allein in Deutschland besitzen die  reichsten 10 % 7.300 Milliarden Euro (das sind 52 % des gesamten privaten Vermögens)!
  • Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine progressive Erhöhung der Unternehmenssteuern!
  • Kein Geld aus den öffentlichen Kassen für UnternehmerInnen, die entlassen wollen! Schluss mit Privatisierung!
  • Rekommunalisierung aller Einrichtungen im Gesundheitsbereich unter Kontrolle der Beschäftigten, PatientInnen und BewohnerInnen!

Zudem braucht es über die bisherigen Forderungen nach mehr Geld und freien Tagen hinaus folgende:

  • Arbeitszeitverkürzung für alle – bei vollem Lohn- und Personalausgleich: Verteilung der vorhandenen Arbeit auf mehr Schultern! Einführung der 30-Stunden- und Vier-Tage-Woche als erster Schritt!
  • Aufbau von mehr Personal im Gesundheitsbereich entsprechend dem Bedarf – Durchsetzung der PPR.2 wie von verdi, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat erarbeitet!

Dafür volle Mobilisierung aller KollegInnen aus dem öffentlichen Dienst von Anfang an statt Warnstreiks in einzelnen Bereichen und Bezirken!

Dafür ist es notwendig, dass die KollegInnen sich zum einen nicht gegeneinander ausspielen lassen – nach dem Motto, wenn die Beschäftigten im Krankenhaus ein etwas besseres Angebot erhalten, ist für sie die Tarifrunde zu Ende.

Zum anderen müssen die KollegInnen – vor allem in den Krankenhäusern – die Verantwortlichen dazu auffordern, dass ihre Anliegen nach mehr Personal und zwar verbindlich in die Verhandlungen mit der VKA und dem Bund aufgenommen werden und diese auch in den Krankenhäusern zusammen mit den anderen Beschäftigten im öffentlichen Dienst durch Warnstreiks und Durchsetzungsstreiks erfochten werden müssen.

Dafür aber müssen sie sich selbst zusammenschließen und den Kampf unter ihre Kontrolle bekommen. Dafür sind Vollversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben, auf regionaler Ebene und bundesweit nötig, in denen die streikenden KollegInnen ihre Delegierten wählen und mit Hilfe derer über die Forderungen und über Aktionen bis hin zu Durchsetzungsstreiks diskutiert und beschlossen wird.

Ein unmittelbarer Schritt zur Stärkung der Mobilisierung bestände in der Koordinierung der Tarifrunde mit jener im öffentlichen Personennahverkehr, um die Schlagkraft zu erhöhen und diese auch bei gemeinsamen Massendemonstrationen zum Ausdruck zu bringen.

Schließlich ist es nötig, die arbeitende Bevölkerung insgesamt mit einzubeziehen. Corona hat noch deutlicher gezeigt, wie wichtig ein funktionierendes Gesundheitssystem ist! Das sollte zu einem Schwerpunkt von Aktionskomitees gegen die Abwälzung der Krisenlasten werden, zum Schwerpunkt von Demonstrationen lokal und bundesweit!




Massenentlassungen bei Mahle: Jetzt gilt’s! Mobilisierung gegen den Kahlschlag!

Karl Kloß/ Mattis Molde, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Am 16. September verkündeten die Mahle-Bosse ihren Plan: den Abbau von insgesamt 7.600 Stellen weltweit – zusätzlich zu den hunderten Arbeitsplätzen, die sie schon bisher durch Entlassung von LeiharbeiterInnen und Befristeten sowie Werksschließungen vernichtet hatten. Auf Deutschland entfallen dabei 2.000 Stellen, auf Europa insgesamt 3.700, auf Nordamerika 2.800 sowie auf Südamerika und den Raum Asien/Pazifik insgesamt 1.100.

Das sind ziemlich genau 10 % der Belegschaften weltweit. Dass die Bosse solche Ziele im Visier haben, war keine Überraschung. Vor dem Hintergrund des seit nun 1,5 Jahren laufenden Sparprogramms bei Mahle, in dessen Zuge schon im vergangenen Jahr in Europa etwa 1.700 Stellen abgebaut worden sind, und der Ankündigung, mehrere Werke zu schließen, war es insgesamt nicht mehr eine Frage des „Ob“, sondern des „Wann“ für weitere Ankündigungen von Stellenstreichungen. Die Pandemie hat die Krise der Autoindustrie und der Zulieferindustrie nochmal vertieft, aber Bosse nutzen sie auch, um ihre Angriffe zu verschärfen.

In der Woche darauf wurden nun die Abbaupläne im Einzelnen bekannt: Gaildorf (282 Beschäftigte) soll bis 2023 geschlossen werden, Freiberg/Sachsen (86) schon bis 2022. Eislingen soll 39 von 274 Arbeitsplätzen verlieren, Rottweil 153 von 822, Zell im Wiesental 70 von 448, Wustermark 30 von 138, Lorch 36 von 191, Neustadt/Donau 95 von 503; Mühlacker 211 von 1.394, Schorndorf 95 von 443. An den Zentralen in Stuttgart sollen mindestens 800 von rund 4.500 gehen.  Ergibt insgesamt also zwischen 15 und gut 22 % pro Werk.

Die Betriebsräte

Dieser Abbau soll sofort beginnen und nächstes Jahr abgeschlossen sein. Das bedeutet in einigen Fällen, dass die Bosse bestehende Vereinbarungen mit den Betriebsräten brechen wollen.

Dass die Konzernführung die Aufsichtsratssitzung nutzen würde, um zur Attacke zu blasen, schwante auch den Betriebsräten. Vermutlich wussten diejenigen ihrer Mitglieder, die auch im Aufsichtsrat sitzen, sogar schon länger Bescheid. Vor dem Tagungsort in Stuttgart-Feuerbach protestierten am 16.9. dann zweihundert Beschäftigte. Der Betriebsrat in Feuerbach hatte dazu „aufgerufen“ mit der Aufforderung „Setzt mit uns ein Zeichen!“ und der Frage: „Kommt nun ein Personalabbau von 30 % – Bin ich auch betroffen?“

Statt Mobilisierung gegen die Gegnerin, die Konzernleitung, nur Betroffenheitslyrik, statt Protest nur Symbolik. Der Betriebsrat der benachbarten Konzernzentrale in Cannstatt verzichtete gleich ganz darauf, den Termin bekanntzumachen, andere Werke schickten Delegationen. Viele gutbezahlte Beschäftigte in den Zentralen des Konzerns stehen jeglichen Aktionen wie auch der Gewerkschaft generell distanziert gegenüber. Wenn aber auch 800 ihrer Arbeitsplätze bedroht sind und sie auch schon in den letzten 18 Monaten Mobbing und Druck von Seiten der Vorgesetzten und der Personalleitung erfahren haben, die sie zum „freiwilligen“ Gehen weichklopfen wollen, dann sind sie offen für Aktionen. Aber nicht für „Aktionen“, von denen sie nicht wissen, für die halbherzig geworben und deren Wirkungslosigkeit schon vorher deutlich gemacht wird.

Ein sehr fatales Bild gibt in diesem Zusammenhang die IG Metall ab: Bei der Aufsichtsratssitzung, bei der der Stellenabbau den Aufsichtsratsmitgliedern der Gewerkschaft verkündet wurde, gab es nicht wirklich eine Gegenreaktion, stattdessen wurde diese Entscheidung kommentarlos hingenommen. Der Gesamtbetriebsrat wiederum ist momentan mit sich selbst beschäftigt und nicht wirklich handlungsfähig, da ihm die Führung abhandengekommen ist.

Die IG Metall

Das passt insgesamt zur Haltung der IG Metall während der letzten sechs Monate: Statt aktiv den Widerstand gegen die Angriffe zu organisieren oder wenigstens zu Corona-konformen Aktionen zu mobilisieren, übt man sich in Passivität und harrt der Dinge, die da kommen. Ansonsten sieht die Strategie der Führung etwa so aus: Erst den Schock „sacken lassen“, dann Unmut oder Empörung äußern, mehr Mitbestimmung bei der Gestaltung der unternehmerischen Zukunft einfordern, an das soziale Gewissen der KapitalistInnen appellieren (im Fall von Mahle an die „soziale Verantwortung“ eines Stiftungsunternehmens) und im besten Fall zu halbherzigen Aktionstagen aufrufen und so hoffen, dass man etwas bewegen kann.

Dazu passt auch das Statement von Uwe Meinhardt, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei Mahle: „Die IG Metall akzeptiert keine betriebsbedingten Kündigungen und keine Standortschließungen. Unsere Tarifverträge haben genügend Instrumente, um ohne Entlassungen durch die Krise zu kommen. Das gilt für Mahle genauso wie für alle anderen Unternehmen der deutschen Automobilindustrie.“ Aus diesem kurzen Absatz der Pressemitteilung der IG Metall zum Stellenabbau bei Mahle wird vor allem eines deutlich: Man ist nicht dazu bereit, Aktionen auf der Straße durchzuführen und die Belegschaft dafür zu mobilisieren, sondern hofft auf eine „gütliche“ Einigung. Zudem setzt man auf sozialverträgliche Maßnahmen wie etwa Abfindungsprogramme auf „freiwilliger“ Basis, eine massive Ausweitung der Altersteilzeit, frühzeitige Verrentungen und letztlich Kurzarbeit im großen Stile. Dies sind die Werkzeuge, die Uwe Meinhardt, aber auch der Vorstand der IG Metall in Frankfurt meinen, wenn er davon spricht.

Widerstand aus der Belegschaft

Es gibt auch andere Stimmen in der Belegschaft. Unter dem Namen MAHLE-SOLIDARITÄT haben sich schon seit längerem KollegInnen aus 5 Werken zusammengetan und sind mit Flyern an die Öffentlichkeit gegangen. Sie haben schon vor der Aufsichtsratssitzung geschrieben:

„Dann (2019; Anm. der Red.) wurden Scheinlösungen gefunden: Arbeitsplatzsicherungen für einige Monate oder Kurzarbeit, die dann verlängert wird. Das hat die GF (Abk. für Geschäftsführung; d. Red.) ermutigt. Vor allem seitdem Öhringen im Stich gelassen wurde und Werke in mehreren europäischen Standorten geschlossen werden, wissen sie, dass die Betriebsräte nicht solidarisch sind. Jetzt, wo klar wird, dass die GF den großen Hammer auspackt, retten einige Führungsleute aus der Arbeitnehmervertretung nur noch sich. Aber neue Namen an der GBR-Spitze (GBR: Gesamtbetriebsrat; d. Red.) werden nur was ändern, wenn es eine Wende für eine offene und kämpferische Politik gibt!

Auch Herr Kocken von der IG Metall setzt sich ab. Er hatte gute Aktionstage organisiert. Aber solche Tage sind nur zum Dampf Ablassen, wenn danach nichts folgt. Es gab nie einen Plan, wie der Widerstand aufgebaut wird, was nach den Aktionstagen kommt, wie die Belegschaften gemeinsam die Pläne der GF blockieren können. Der Grund ist, dass Betriebsräte und IG Metall im Grunde die Ziele und die Entscheidungsgewalt der GF akzeptieren. (…)

Wir können anders, wenn Betriebsräte und IG Metall ihre Halbherzigkeit aufgeben, wir an der Basis uns selbst in Bewegung setzen und Druck machen, die Belegschaften ihre Kraft verbinden, bei Mahle und in der ganzen Autoindustrie. Wir können ihnen zeigen, dass sie uns brauchen, durch Ablehnung aller Überstunden, Sonderschichten, Verlagerungsmaßnahmen. Durch Streiks, die jetzt in der kommenden Tarifrunde völlig legal wären. Durch die Besetzung der Betriebe, die sie dichtmachen wollen. Durch Verteilung der Arbeit auf alle, bei vollem Lohn natürlich.“  (Mahle-Solidarität Nr. 8)

Nach der Aufsichtsratssitzung titelt die nächste Ausgabe von MAHLE-SOLIDARITÄT: „Aufsichtsrat läßt Katze aus dem Sack – Massenentlassungen bestätigt! 7.600 Arbeitsplätze bedroht!”

Und fordert:

„Nötig ist ein gemeinsamer Widerstand aller Belegschaften! Protestaktionen sind gut – aber nur, wenn sie helfen, echten Widerstand zu entwickeln, der die GF daran hindert, ihre Pläne umzusetzen!

Nötig sind Konzepte der IG Metall für Zukunftsprodukte! Für effektive, ressourcenschonende, kombinierbare Verkehrskonzepte. Über das E-Auto hinaus! Denn das verlagert das Abgasproblem nur, verstetigt Feinstaub- und Platzprobleme und schafft mehr und neue Umweltprobleme.

Aber wie sich schon in Öhringen zeigte, wo neue Produkte entwickelt, aber dann von der GF nicht umgesetzt worden waren:

Wir brauchen die Kraft, sie auch durchzusetzen!

Für eine Wende der IG Metall!

Die IGM muss in dieser ganzen Auto-Krise – nicht nur bei Mahle – zu anderen Mitteln greifen als zahnlosen Appellen:

  • Eine Perspektive für alle: Kampf um jeden Arbeitsplatz!
  • Streik! Besetzung von bedrohten Betrieben!
  • Enteignung von Betrieben, die von Schließung bedroht sind! (Steht in der Satzung der IG Metall !)
  • Kontrolle aller Unternehmensentscheidungen durch die Belegschaften, vor allem Investitionen, Entwicklung und Produktion! Das gilt erst recht für enteignete Betriebe!
  • 30-Stundenwoche für alle und überall bei vollem Entgelt- und Personalausgleich!“

Aktionsprogramm

Was die KollegInnen von Mahle-Solidarität sagen, zeigt den Weg nicht nur für die Mahle-Betriebe, sondern auch für die ganze Metall-Industrie. Gerade in Baden-Württemberg, aber nicht nur dort, stehen hunderte von Betrieben aus der Sicht des Kapitals zur Disposition.

Der Bezirksleiter der IG Metall, Zitzelsberger, benennt die Angriffe durchaus und organisiert eine Kampagne unter dem Titel „Solidarität gewinnt“. Aber das Ziel seiner Aktionen sind erneut „gute Vereinbarungen“. Diese werden aber nicht nur gerade jetzt häufig gebrochen, sie „sichern“ auch oft die Arbeitsplätze auf Kosten anderer im gleichen Konzern und sie reduzieren jede Belegschaft auf „ihre Interessen“. Dies hat seine Ursache in der Politik der IG Metall, die Partnerschaft mit dem Kapital auch unter dem Generalangriff desselben fortzusetzen. Hier ist die Forderung der MAHLE-SOLIDARITÄT vollkommen richtig, dass der Kampf nur dann erfolgreich sein wird, wenn die ganze Branche und alle bedrohten Belegschaften gemeinsam kämpfen.

Gemeinsam heißt nicht zeitgleich, sondern für die gleichen Ziele, für das gleiche Programm!

  • Also 4-Tage-Woche nicht als „betriebliche Lösung“, sondern für alle, um die Arbeit auf alle zu verteilen.
  • 4-Tage-Woche (oder 30 Stundenwoche) bei vollem Lohnausgleich, damit alle mitmachen können!
  • Entschädigungslose Enteignung aller Unternehmen, die Beschäftigte entlassen wollen und Verstaatlichung unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle!
  • In so einem Kampf hätten auch Streiks und Betriebsbesetzungen ein anderes Ziel, als nur die Abfindungen zu erhöhen.

MAHLE-SOLIDARITÄT arbeitet mit dem Metallertreff Stuttgart und der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften VKG zusammen. Das zeigt den Weg, wie in der IG Metall für eine andere Politik gekämpft werden kann. Das ist die Basis, auf der aktive kritische KollegInnen und die Linke, AktivistInnen gegen die Klimakatastrophe und die Krisenpolitik zu einer Bewegung werden können. Denn letztlich sind zwei Dinge nötig: den Kampf im Betrieb unter die eigene Kontrolle zu bekommen, und zweitens ist eine Bewegung aufzubauen, die die Angriffe des Kapitals insgesamt bekämpft.




Solidarität? Verantwortung? Abschiebung! – Der Plan der EU-Kommission für ein neues Asylsystem

Jürgen Roth, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Ende 2019 waren 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht, so die Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Damit ist ein Rekordhoch erreicht. Allein im letzten Jahr stiegen die Zahlen um 9 Millionen. Mit der Corona-Pandemie dürfte sich die Lage weiter zuspitzen. 45,7 Millionen suchen in ihrem eigenen Land Zuflucht und gelten als Binnenvertriebene. Dazu kommen 26 Millionen in andere Staaten Geflohene und 4,2 Millionen Asylsuchende. Das UNHCR zählte erstmals 3,6 Millionen VenezolanerInnen mit, die ins Ausland geflohen waren, aber keinen Flüchtlingsstatus besitzen.

Die Türkei nahm mit 3,6 Millionen Geflüchteten und 300.000 Asylsuchenden die meisten Menschen auf, gefolgt von Kolumbien, Pakistan, Uganda und Deutschland. Pakistan und Uganda haben im letzten Jahr jeweils 1,4 Millionen aufgenommen. Insgesamt kamen 85 % in sogenannten Entwicklungsländern unter, weniger als 10 % in Europa. In ihre Heimat kehren immer weniger Menschen zurück aufgrund anhaltender Konflikte. In den 1990er Jahren waren es 1,5 Millionen pro Jahr im Durchschnitt, im letzten Jahr waren es 385.000.

Der Kommissionsplan

In der EU leben 513 Millionen BürgerInnen und nur gut 2 Millionen Flüchtende. Letzteres ist also ein Klacks im Vergleich zu o. a. Zahlen. Die EU-Kommission hat Ende September ihren Plan zur Reform des europäischen Asylsystems vorgelegt. Er sieht Asylverfahren an den Außengrenzen, schnellere Abschiebungen und die Ernennung eines/r RückführungskoordinatorIn vor. Bei „hohen Flüchtlingszahlen“ sollen alle Mitgliedsländer zu „Solidarität“ mit den Ankunftsländern verpflichtet werden – sei es über Flüchtlingsaufnahme oder Hilfe bei Abschiebungen. Im Fall dieser „Krise“ werden MigrantInnen auf einzelne Länder verteilt, auch ohne Aussicht auf einen Schutzstatus. Abschiebungen werden als Gewährung der Hilfeleistung akzeptiert und müssen binnen 8 Monaten erfolgen. Andernfalls muss das Land die Flüchtlinge aufnehmen. Gleichzeitig plant die von der Leyen-Behörde mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten. 2016 war der Versuch gescheitert, die damals noch 28 EU-Staaten für eine Reform des Asylrechts zu gewinnen.

Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt moniert, der Pakt laufe auf die Abschaffung eines fairen Asylverfahrens hinaus durch eine Vorprüfung an den Außengrenzen, wer überhaupt zum Verfahren zugelassen wird. Cornelia Ernst, Abgeordnete der Linken im EU-Parlament, sieht in ihm rote Linien wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und die EU-Grundrechtecharta überschritten. Besonders kritisierte sie die Möglichkeit, dass sich Länder von der Aufnahme von Flüchtlingen freikaufen dürfen.

Am Dublin-System, dem zufolge jener Staat für das Asylverfahren zuständig ist, dessen Boden der/die Schutzsuchende zuerst betritt, rüttelt der Plan nicht. Dieses hat Ländern den Vorwand geliefert, jede Verantwortung auf den „äußeren Ring“ (Griechenland, Italien, Malta) abzuwälzen. Die Kommission will den Außengrenzenschutz durch Frontex verstärken, aber auch durch neue Verträge mit Anrainerstaaten nach dem Muster des Deals mit der Türkei sowie Nutzung des EU-Visumsystems. Die schwedische Kommissarin für Inneres, Ilva Johansson, kündigte einen fünftägigen, verpflichtenden „Screening“-Prozess für MigrantInnen nach ihrer Ankunft an – mit polizeilicher Registrierung und einer ersten Entscheidung über die Aussichten eines Asylanspruchs. Dies entspricht der seit Jahren verfolgten Linie Bundesinnenminister Horst Seehofers!

Widerspruch aus der rechten Ecke erfolgte aus Ungarn und Tschechien. Ihnen missfällt, dass sie in Ausnahmefällen verpflichtet werden sollen, Schutzsuchende aufzunehmen. Sie wollen Verhandlungen mit nordafrikanischen Ländern über die Einrichtungen von Hotspots wie Moria auf Lesbos, wo die Geflüchteten dann zusammengepfercht und registriert werden sollen. Die Idee ist nicht neu, nur gibt es bislang keine entsprechenden Abkommen.

Unser Fazit: Der neue Vorschlag ist nichts weiter als ein Herumdoktern an einem inhumanen System und eine Fortschreibung der Abschottung, des Ausbaus der „Festung Europa“. Am katastrophalen Lagersystem z. B. an den griechischen Außengrenzen, wo Mindeststandards bei der Unterbringung und beim Schutz der dortigen Menschen missachtet werden, will die Kommission nichts ändern. Im Gegenteil: sie sollen am besten erst gar nicht bis an die Grenzen der EU gelangen dürfen und gleich in Libyen, der Türkei, Marokko, Niger, Mali oder sonst wo bleiben.

5 Jahre Veränderungen

Aber nicht nur mit der Türkei, sondern auch mit der sogenannten libyschen Küstenwache hat die EU Mittel und Wege gefunden, um Asylsuchende vor Europas Grenzen zu stoppen. Letztere wurde von EuropäerInnen ausgebildet und mit technischen Mitteln unterstützt. Amnesty International kann ein Lied von deren Menschenrechtsverletzungen singen an Bootsflüchtlingen, die von der „Küstenwache“ aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht wurden. Staatliche wie nichtstaatliche TäterInnen pferchen sie in menschenunwürdigen Lagern ein, töten sie, lassen sie verschwinden oder zwingen sie zu SklavInnenarbeit.

Vor 5 Jahren rief Merkel im Obama-Stil angesichts der Flüchtlingswelle aus: „Wir schaffen das!“ Doch was hat sich seither getan? In welche Richtung ist der Zug der Migrationspolitik gefahren? Die ursprüngliche Seenotrettung der EU im Mittelmeer ist eingestellt (Mare Nostrum, Sophia). Die zivile Seenotrettung wird behindert und kriminalisiert (Italien, Malta). Das Bundesverkehrsministerium fordert von Rettungsorganisationen aufwendige und unbezahlbare Anpassungen. Eine neue Bundesverordnung für Seesportboote und Schiffssicherheit, ermächtigt durch das Seeaufgabengesetz, untersagt z. B. der NGO Mare Liberum mit ihrem gleichnamigen Boot die Seenotrettung. Die griechische Küstenwache schiebt Geflüchtete illegal in die Türkei zurück oder setzt sie auf aufblasbaren Plattformen im offenen Meer aus. Ein Schutzstatus für verfolgte Lesben und Schwule bleibt in der BRD weiterhin Ermessenssache. Griechenland nahm im März einen Monat lang keine Asylanträge mehr an und involvierte erstmals das Militär umfassend in die Flüchtlingsabwehr.

Die Innenministerkonferenz im Juni 2019 verschärfte die Rückführungsbestimmungen nach Afghanistan. In Bezug auf Syrien wurde zwar der Abschiebestopp bis zum 31. Dezember 2019 verlängert, doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll danach nicht mehr subsidiären Schutz gewähren, sondern den schwächeren Abschiebeschutz. Die im gleichen Monat von der Großen Koalition beschlossenen 8 Gesetzesänderungen, darunter das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das „Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ („Geordnete-Rückkehr-Gesetz“), verschärften u. a. die Bestimmungen zur Abschiebehaft. Fluchtgefahr ist keine Vorbedingung mehr. Die Polizei hat jetzt bundesweit das Recht, Unterkünfte Geflüchteter ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Bei „Gefahr im Verzuge“ kann auch die Ausländerbehörde das Eindringen der Polizei genehmigen.

Am 23. Juli 2020 tagten in Wien VertreterInnen von 20 beteiligten Staaten zwecks Errichtung eines Frühwarnsystems auf der sogenannten Balkanroute. Grenzschutz, Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht und beschleunigte Asylverfahren wurden als Ziele genannt. Werden diese an den Außengrenzen nicht aufgehalten, soll sich zukünftig eine Wiener Behörde um das Schicksal derer in diesem Sinne kümmern, die es in die Binnenländer der EU geschafft haben. Dieses Amt bildet offensichtlich die Blaupause für den/die RückführungskoordinatorIn im Plan von der Leyens. Kroatien spielt den gewünschten Part beim Schutz u. a. Deutschlands vor ungewollter Migration an der bosnischen Grenze: zu Tausenden wurden dort Aufgegriffene stundenlang eingesperrt, geschlagen und um ihre Habseligkeiten gebracht, bevor sie zurückgeschickt werden. Diese Push-Backs sind nach internationalem Recht gar nicht erlaubt.

Dissonanzen

Während der jüngsten Brandkatastrophe im Lager Moria entzündete sich in der EU eine Debatte, ob und wenn ja, wie viele Refugees in den einzelnen Ländern aufgenommen werden sollten. Die BRD und Frankreich hatten schon vorher Versuche unternommen, eine „Koalition der Willigen“ zustande zu bringen. Bei einem EU-Ministertreffen in Helsinki Mitte Juli 2020 hatten sie 14 Staaten um ihren Vorschlag herum gruppiert – davon 8 zu „aktiver Mitarbeit“ bereite –, eine gemeinsame Verteilung für in Seenot Gerettete durchzusetzen. Italien wehrte sich gegen das Ansinnen, dass Boote mit geretteten MigrantInnen in seinen oder maltesischen Häfen anlegen können sollten, die dann zur Umverteilung in andere Länder anstünden. Italien bemängelte, dass ihr Ausstieg z. B. in französischen Häfen nicht vorgesehen war.

Schon im März hatte der „willige Koalitionspartner“ Deutschland versprochen, 1.500 Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln aufzunehmen. Es handelte sich dabei um Kinder von Angehörigen, die sich schon in der BRD aufhielten. Das vom Bundestag beschlossene Kontingent zur Familienzusammenführung von 1.000 Menschen pro Monat war noch gar nicht ausgeschöpft worden. Nach der Brandkatastrophe wiesen NGOs wie Seebrücke, Sea-Watch u. a. darauf hin, dass etliche deutsche Städte und Bundesländer sich längst zur Aufnahme Geflüchteter bereiterklärt hatten. Doch Seehofer blockierte, stand anfänglich nur 150 Aufzunehmende zu, bis es dann nicht zuletzt auf Druck durch zahlreiche Demonstrationen doch 1.500 werden sollten. Die griechische Regierung teilte dazu mit, dass eine Chance auf Ausreise nur jene erhielten, deren Asylverfahren positiv beschieden wurde – so auch die 408 Flüchtlingsfamilien, die nun von der BRD aufgenommen werden sollen.

Der Bundesinnenminister hatte noch im September die Landesaufnahmeprogramme von Berlin und Thüringen gestoppt, weil sie die Verteilungsverhandlungen in der EU gefährdeten. Wer wie die Grünen, die Linkspartei und einige SPD-PolitikerInnen fordere, auf die Bereitschaft vieler Kommunen zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu setzen, müsse auch nach Italien, Malta, Spanien und auf den Balkan schauen, wo es viele Asylsuchende gebe.

Abseits von humanitärem Geschwafel verfolgt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft (ab 1. Juli 2020) die bekannte Linie. Am 7. Juli beriet das Innen- und Justizministertreffen über Verzahnung und Datenaustausch zwischen nationalen Polizeibehörden und die Stärkung von Europol. Die „VerweigerInnen“, die sich einem im letzten September auf Malta ausgehandelten Verteilungsmechanismus für aus Seenot gerettete Flüchtende entziehen, wurden sanft ermahnt. Das Anfang 2020 in Kraft getretene griechische Asylrecht, das auf Abschreckung und Abschiebung setzt, den Zugang zum Asylverfahren erschwert und Antrags- wie Entscheidungsfristen verkürzt, wurde nicht kritisiert.

Trotz aller Dissonanzen halten „Willige“ wie „VerweigerInnen“ am gemeinsamen Ziel fest, das europäische Asylsystem tiefgreifend zu verschärfen. Das humanitäre Gehabe einiger „Williger“ dient nur dessen Flexibilität und Stabilisierung. Die Blockade der HardlinerInnen ist ein willkommener Vorwand, die menschenfreundliche Fassade der „Gutmenschen“ aufzupolieren und gleichzeitig die Zugeständnisse minimal zu halten.

Forderungen

  • Weg mit dem Dublin-System!
  • Weg mit Frontex!
  • Ungehinderte staatliche und zivile Seenotrettung!
  • Freie Einreise für Geflüchtete in jedes Land ihrer Wahl!
  • Für offene Grenzen! Für volle demokratische und staatsbürgerliche Rechte aller, die im Land leben wollen!
  • Verknüpft den Kampf gegen die Festung Europa mit dem gegen die Krise!
  • Schafft eine antirassistische ArbeiterInneneinheitsfront und antirassistische Selbstverteidigung gegen rechte Angriffe!



Antikrisenbewegung – erste Ansätze verbreitern und koordinieren!

Jan Hektik, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Die kapitalistische Krise droht – verschärft durch die Corona-Gefahr –, Millionen in den Ruin zu treiben. Über 5 Millionen KurzarbeiterInnen, fast 3 Millionen Arbeitslose, anstehende Massenentlassungen und Schließungen oder auch eine wachsende Zahl von Pfändungen sprechen eine klare Sprache. Die Lohnabhängigen sollen für die Krise zahlen – entweder jetzt oder später durch Sozialabbau, Kürzungen und Privatisierungen.

Dies kommt zwar nicht unerwartet, jedoch trifft es unsere Klasse in einem Stadium, in welchem sie fast gänzlich unvorbereitet auf die notwendigen Kämpfe ist. Die Gewerkschaften fahren einen Kurs der Sozialpartnerschaft, der insbesondere in Krisenzeiten zum Scheitern verurteilt ist und durch die Bürokratie gegen den Willen von Teilen der Basis aufrechterhalten wird. Die Bildung der „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ stellt einen wichtigen Versuch dar, diese Blockade zu durchbrechen. Jedoch ist es unwahrscheinlich, dass dies ausreichen wird.

Was benötigt wird, ist eine Antikrisenbewegung, welche den Anschluss an die arbeitende Klasse sucht und mit Demonstrationen und Streiks gegen alle Angriffe, Zugeständnisse und sonstigen Krisenmaßnahmen kämpft. Diese Bewegung muss es schaffen, den Schulterschluss der Beschäftigten, der Arbeitslosen und der sozial Unterdrückten zu erkämpfen, um geschlossen solche Einschnitte abzuwehren. Sie muss Fragen wie Mindestlohn, den Kampf gegen alle Entlassungen und Besteuerung der Reichen ebenso thematisieren wie die Wohnungsfrage, Rentenkürzungen, Gesundheitsversorgung, den Kampf gegen Rassismus und Sexismus und die Zerstörung der Umwelt.

Hierfür ist es notwendig, dass linke Organisationen vereint gemeinsame Aktionen organisieren. Dies bedeutet nicht, sämtliche inhaltlichen Differenzen über den Haufen zu werfen und sich auf den kleinsten gemeinsamen (inhaltlichen) Nenner zu einigen, sondern vereint in Aktion zu treten, während gleichzeitig die eigenen unterschiedlichen Inhalte innerhalb dieser nach außen und innen getragen werden und so einen Wettstreit in den Massen um diese geführt wird.

Hierfür haben wir gemeinsam mit dem Solidaritätsnetzwerk ein Bündnis gegründet, dessen erste gemeinsame Aktion eine Intervention beim Schulstreik von Fridays for Future am 25.09.20 darstellte. Weitere Aktionen sind geplant, die nächste wird gegen einen Aufmarsch des „Dritten Wegs“ am 03.10.20 stattfinden.

Zweifellos ist das nur ein kleiner Schritt im Kampf um die Bewegung, die nötig ist, sich den Angriffen von Kapital und Regierung erfolgreich entgegenzustellen. Wir müssen daher versuchen, diesen Ansatz zu verbreitern und mit anderen, ähnlichen Initiativen zu verbinden.

Nur so wird es möglich sein, die unerlässliche Beteiligung bürokratisch kontrollierter und reformistisch dominierter Massenorganisationen zu erzwingen. Ohne die Millionen, die unter Kontrolle von Gewerkschaftsführungen stehen, oder Hunderttausender, die noch immer auf SPD und Linkspartei hoffen, werden wir nämlich nicht in der Lage sein, die Kraft unserer Klasse, der ArbeiterInnen, zu entfalten und tatsächlich wirkungsvoll Widerstand gegen die Krise zu leisten.

Unsere Vorschläge für eine Bewegung gegen die Krise lauten:

Wir zahlen nicht für Pandemie und Krise!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern und Intensivmedizin! 500 Euro/Monat mehr für alle Beschäftigten in den Pflegeberufen!
  • Öffnung der Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und Schulen, Umsetzung von Schutz- und Hygieneplänen unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Gegen alle Entlassungen! 100 % Lohnfortzahlung für alle, die in Kurzarbeit stehen! Keine Aushebelung von Arbeitszeitbeschränkungen und Arbeitsrecht!
  • Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Mindestlohn von 15 Euro/Stunde – Mindesteinkommen für Arbeitslose und RentnerInnen in der Höhe von 1.600 Euro/Monat!
  • Keine Milliardengeschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Keine Rendite mit der Miete! Für die Aussetzung aller Miet- und Kreditzahlungen für die arbeitende Bevölkerung! Enteignung der großen Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co.! Nutzung von Leerstand, um Bedürftigen wie Geflüchteten und Obdachlosen Räume zur Verfügung zu stellen!
  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle! Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe!
  • Nein zu allen Einschränkungen des Demonstrations-, Versammlungs- und Streikrechts!



Interview zum Wahlkampf in Wien: LINKS und der Kampf für eine ArbeiterInnenpartei

Interview mit Heidi Rieder, Arbeiter*innenstandpunkt, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Der Arbeiter*innenstandpunkt ruft bei den Wiener Gemeinderatswahlen zur Wahl von LINKS auf. Einzelne GenossInnen kandidieren auf deren Liste. Heidi Rieder ist Kandidatin für die Bezirksvertretung in Wien Ottakring (16. Bezirk) und aktiv im Arbeiter*innenstandpunkt.

Neue Internationale (NI) : Welche Bedeutung haben die Wahlen in Wien bundespolitisch?

Antwort: Wien ist das größte und wirtschaftlich wichtigste Bundesland in Österreich. Es ist als letzte relevante Hochburg der Sozialdemokratie der konservativen ÖVP seit jeher ein Dorn im Auge. Unter Sebastian Kurz hat sich dieser Konflikt nur noch mehr verschärft. Doch hier geht es nicht in erster Linie darum, dass die SPÖ hier viel zu radikale Politik für die ArbeiterInnen machen würde. Vielmehr geht es darum, dass eines der wichtigsten Machtzentren der Republik sich außerhalb des Zugriffs der ÖVP befindet.

Deshalb gibt es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen der Wiener Landesregierung und der Bundesregierung, sei es um die Frage der Mindestsicherung, der Aufnahme von Kindern aus Moria oder der Corona-Pandemie. Bei den letzten Gemeinderatswahlen 2015 war die Angst bei vielen groß, dass die FPÖ eine ernsthafte Gefährdung für die SPÖ darstellen könnte. Damals lag sie tatsächlich auch mit über 30 % nicht einmal zehn Prozentpunkte hinter der SPÖ. Dieses Mal hingegen ist die ÖVP in den Umfragen deutlich hinter der SPÖ angesiedelt und es gibt kaum eine Gefährdung für diese.

Wesentlich für unser Engagement bei LINKS ist, dass sich LINKS deutlich positiv von der Politik der SPÖ abhebt. Hier geht es nämlich nicht darum, wie der Kapitalismus besser oder humaner verwaltet werden kann, sondern der Anspruch besteht, den Kapitalismus als solches abzuschaffen. Dabei machen auch radikale Forderungen wie ein Wahlrecht für alle, die Enteignung von Leerstand und der umweltschädlichsten Konzerne (wie der OMV) unter Kontrolle der Beschäftigten deutlich, in welchen Bereichen die SPÖ keine adäquaten Antworten bietet.

NI: Welches sind die zentralen Themen im Wahlkampf? Welche Bedeutung haben Corona-Gefahr, Krise und Rassismus? Welche Rolle spielen drohende Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit?

Antwort: Die Corona-Situation ist wie derzeit eigentlich überall auch beim Wiener Wahlkampf ein zentrales Thema. Gerade die in den letzten Wochen massiv ansteigenden Fallzahlen in Wien versucht die ÖVP zu nutzen, um die SPÖ zu diskreditieren. Die Themen Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Massenentlassungen spielen hingegen tendenziell eine untergeordnete Rolle. Das hat sich in den letzten Wochen etwas geändert, da eine Reihe von Großbetrieben Massentlassungen vorgenommen hat (z. B. bei MAN 2.300).  Für die Grünen ist die aktuelle Lage in Moria ein kritischer Punkt. Während sie auf Gemeindeebene versuchen, sich gut darzustellen, ziehen sie auf Bundesebene den Schwanz vor der ÖVP ein und wollen nicht riskieren, die Koalition zu zerstören. Das wird die Grünen in Wien sicher einige Stimmen kosten. Das Thema Rassismus stellt vor allem die FPÖ, aber auch Heinz-Christian (HC) Strache (der diesmal mit einer eigenen Partei kandidiert, dem Team HC Strache, vormals DAÖ) in den Vordergrund. Eine antirassistische Politik ist hingegen im Wahlkampf kaum präsent. Insbesondere die SPÖ versucht, zu diesem Thema doch immer wieder eher zu schweigen. In ihrem Wahlprogramm nimmt es quasi keinen Platz ein.

NI: Welche Antworten vertreten die offen bürgerlichen Parteien und die SPÖ? Wie verhalten sich die Gewerkschaften?

Die FPÖ ist, da sie wieder aus der Regierung geflogen ist – genauso wie das Team HC Strache – wieder bei ihrer alten Leier von der „Sozialen Heimatpartei“ angekommen. Deutlich stärker als der „soziale“ Teil ist aber der Rassismus ausgeprägt. Das zeigt sich auch auf zutiefst rassistischen Wahlplakaten, die in Deutschland wohl auch von der NPD stammen könnten. Die ÖVP setzt in erster Linie auf einen Imagewahlkampf und moderne Floskeln, Inhalte stehen stark im Hintergrund. Z. B. ist ihr Wahlprogramm mehrere Wochen nach allen anderen Parteien veröffentlicht worden. Dort wo es Inhalte gibt, sind sie entweder rassistisch (die Weigerung, auch nur eine einzige Person aus Moria aufzunehmen) oder unternehmensfreundlich. Die Grünen sind in einer Zwickmühle gefangen und versuchen, sich in Wien zumindest rhetorisch von der ÖVP abzugrenzen. Wirkliche Lösungen für die Probleme unserer Zeit haben sie aber keine. Ähnlich ist es auch bei der SPÖ. Hier wird zwar mehr oder weniger offensiv auch für eine Arbeitszeitverkürzung geworben, aber für die Beschäftigten der Stadt Wien, für die das sehr einfach umsetzbar wäre, gab es das bisher nicht.

NI: Warum unterstützt ihr LINKS im Wahlkampf? Wie charakterisiert ihr LINKS? Welche politische und programmatische Ausrichtung vertretet ihr?

Antwort: Was wir brauchen, ist eine ArbeiterInnenpartei. Also eine Partei, die die Notwendigkeit erkennt, dieses System zu stürzen, und die davon ausgeht, dass die zentrale Kraft hierfür die ArbeiterInnenklasse ist. Eine solche Kraft gibt es in Österreich derzeit nicht. Die SPÖ hat zwar über die Gewerkschaften noch eine relativ enge Verbindung zur ArbeiterInnenklasse – deren objektives Interesse, dieses System zu überwinden, vertritt sie als bürgerliche ArbeiterInnenpartei aber schon lange nicht mehr. Regelmäßig werden die ArbeiterInnen von ihr verraten. LINKS ist keine ArbeiterInnenpartei. Aber es ist ein Projekt, das eine relevante Anzahl an Menschen in der Wiener Linken in einem Organisierungsprozess zusammenbringt. Es ist ein Projekt, das im Gegensatz zu den etablierten Parteien noch entwicklungsfähig ist und auch seiner Mitgliedschaft Raum für Diskussion und Mitbestimmung bietet.

Wir als Arbeiter*innenstandpunkt können hier offen für unsere Politik eintreten und uns dafür einsetzen, dass die Politik von LINKS in eine richtige Richtung geht. Daher birgt LINKS das Potential, sich auch tatsächlich noch zu einer ArbeiterInnenpartei zu entwickeln, wenn in den kommenden Monaten die richtige Politik betrieben wird. Ein weiterer wichtiger Faktor ist auch, dass LINKS als Organisation den Anspruch hat, auch nach der Wahl weiter aktiv und aktivistisch zu bleiben, und sich nicht auf die Arbeit in diversen Gremien beschränken möchte. Mit LINKS tritt ein Projekt mit antikapitalistischem Anspruch zur Wahl an, das es auch tatsächlich schafft, Menschen zu erreichen und Einfluss zu gewinnen. Daher halten wir es für notwendig, dabei mitzuarbeiten und diese Partei auch bei den Wahlen zu unterstützen. Innerhalb von LINKS versuchen wir, Diskussionen anzustoßen und eine klare klassenbewusste Linie zu fördern.

NI: Welche Bedeutung hat der Wahlkampf für den Aufbau einer Bewegung gegen Krise und Rassismus? Welche Schritte schlagt ihr für deren Aufbau vor?

Antwort: Ich denke, dass LINKS, wenn es nach der Wahl nicht an Dynamik verliert, zentral für eine solche Bewegung sein kann. Neben einer relativ großen Reichweite verfügt LINKS auch über die Stärke Menschen, aus unterschiedlichsten Organisationen und Bewegungen unter einem Dach zu vereinen. Für den Aufbau einer Antikrisenbewegung ist das extrem hilfreich, weil es den Aufbau eines großen Antikrisenbündnisses massiv erleichtert. Zentral für diese Bewegung wäre es, die Gewerkschaften ins Boot zu holen – und obwohl LINKS durchaus gute Kontakte zu verschiedenen Menschen in Gewerkschaften pflegt, ist die Dominanz der SPÖ in diesem Bereich ungebrochen. Doch wie bereits anfangs festgestellt, ist die SPÖ auf Bundesebene derzeit in der Opposition und daher auch ihr Interesse, die Gewerkschaften an der kurzen Leine zu halten, deutlich geringer ausgeprägt, als wenn sie selbst in der Regierung wäre.

Für den Aufbau einer Antikrisenbewegung brauchen wir also ein Bündnis aus Arbeiter*innenorganisationen und Organisationen von Menschen, die zum Beispiel aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Alters unterdrückt werden. Der Kampf muss auf der Straße, aber auch in den Betrieben, Schulen und Unis geführt werden. Streik ist ein zentrales Mittel dabei. Schließlich müssen wir auch erkennen, dass diese Krise eine globale ist und die Antwort darauf daher eine internationale sein muss. Die Vernetzung mit Antikrisenbündnissen in anderen Ländern besitzt für uns daher einen hohen Stellenwert.

NI: Vielen Dank für das Interview. Viel Erfolg im Kampf für eine Antikrisenbewegung und eine ArbeiterInnenpartei.




Bergkarabach: Krieg droht zum Flächenbrand zu werden

Martin Suchanek, Neue Internationale 250, 2. Oktober 2020

Am Morgen des 27. September eskalierte der seit über drei Jahren mal offen ausgetragene, mal vor sich hin schwelende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Aserbaidschanische Truppen beschossen Stepanakert, die Hauptstadt von Bergkarabach (Nagorny Karabach), einer armenischen Enklave, die formell zum Staatsgebiet Aserbaidschans gehört, aber seit Mitte der 1990er Jahre faktisch als unabhängige Region mit Armenien eng verbunden ist und um ihre internationale Anerkennung ringt. 2017 erklärte sich Bergkarabach unabhängig unter dem Namen Republik Arzach, wird aber seither international nicht anerkannt.

Reaktionärer Angriff

Die Bombardierung durch die Armee Aserbaidschans stellt eine qualitative Verschärfung der Kampfhandlungen im schwelenden Konflikt dar, der schon seit Juli von beiden Seiten verstärkt bewaffnet ausgetragen wird.

Die Führung Aserbaidschans unter dem autokratischen Präsidenten Alijew steht ihrerseits unter Druck extrem nationalistischer oppositioneller HardlinerInnen, die der Regierung zu große Nachgiebigkeit gegenüber Armenien und Bergkarabach vorwerfen. Eine Mobilisierung gegen den Erzfeind Armenien, militärische Erfolge im umkämpften Grenzgebiet und erst recht die Rückeroberung Bergkarabachs wären für das Regime angesichts einer tiefen Wirtschaftskrise, grassierender Korruption und sinkender Öl- und Gaspreise (und damit der wichtigsten Einnahmequelle des Landes) ein „Befreiungsschlag“. Und wie so oft wird ein nationalistischer Angriff als Selbstverteidigungsaktion legitimiert. Die massiven Artillerieangriffe auf armenische Siedlungen am 27. September wurden vom Verteidigungsministerium Aserbaidschans als „Gegenoffensive“ deklariert, „um Armeniens militärische Aktivitäten zu stoppen und die Sicherheit der Bevölkerung zu schützen“.

In Wirklichkeit ist der Angriff eindeutig reaktionärer Natur. Im Falle eines Erfolges würde die armenische Bevölkerung Bergkarabachs zu einer unterdrückten Nation, ihr Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten werden. In Aserbaidschan würde die Herrschaft der OligarchInnen und des seit 15 Jahren mit halb-diktatorischen Mitteln regierenden Präsidenten Alijew neue Legitimität erhalten. Nicht nur die Minderheiten, sondern auch die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, die als Kanonenfutter im reaktionären Waffengang verheizt werden soll, wären verstärkter, nationalistisch legitimierter Unterdrückung ausgesetzt.

Angesichts dieser Lage gilt unsere Solidarität allen Kräften der Linken, wie der Azerbaijani Leftist Youth (http://www.criticatac.ro/lefteast/anti-war-statement-of-azerbaijani-leftist-youth), die sich dem reaktionären, nationalistischen Treiben widersetzen und ein Ende des Angriffs fordern.

Zweifellos kann die Bevölkerung Bergkarabachs ein legitimes Recht auf Selbstbestimmung (und Selbstverteidigung) für sich reklamieren. RevolutionärInnen, ja alle DemokratInnen sollten ihr Recht anerkennen, selbst zu entscheiden, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich Armenien anschließen wollen.

Wurzeln des Konflikts und Armeniens Rolle

Ginge es nur um Bergkarabach und die Frage von dessen Selbstbestimmungsrecht, so wäre der Charakter des Gesamtkonflikts recht einfach zu bestimmen. Doch im seit über drei Jahrzehnten offen ausgetragenen Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien verhält sich die Sache nicht so unkompliziert.

Gegen Ende der Existenz der Sowjetunion brach der selbst weit zurückliegende Konflikt um Bergkarabach offen aus. In der UdSSR war die Region entgegen dem Willen der armenischen Bevölkerung Aserbaidschan zugeschlagen worden. Mit dem Zerfall der Sowjetunion reklamierte diese erneut  das Recht auf Lostrennung für sich und stieß dabei auf den erbitterten Widerstand Aserbaidschans. Das Land befand sich auf dem Weg in die Unabhängigkeit und die NationalistInnen – ihrerseits ehemalige ParteibürokratInnen und städtische Intellektuelle – wollten nicht auf Bergkarabach verzichten, lehnten sowjetische Vermittlungsversuche ab und suchten eine militärische Lösung.

Am Beginn des von 1992 bis 1994 andauernden offenen Krieges schienen die Streitkräfte Aserbaidschans als Siegerinnen hervorgehen – nicht zuletzt aufgrund ihres brutalen Vorgehens, das tausenden ZivilistInnen das Leben kostete und in barbarischen Massakern ganzer Dörfer gipfelte. Doch das Blatt wendete sich. Die militärischen Verbände Armeniens und Bergkarabachs waren nicht nur in der Lage, die Enklave zu verteidigen, sondern eroberten auch mehrere Provinzen, die Armenien von dieser trennten. Diese mehrheitlich aserbaidschanischen Siedlungsgebiete wurden unter dem Kommando des nicht minder brutal vorgehenden armenischen Nationalismus ethnisch gesäubert. Er beschränkte sich offensichtlich nicht auf die Unterstützung der eigenen Verbündeten, sondern vertrieb hunderttausende AserbaidschanerInnen aus sieben Bezirken, die seit dem Waffenstillstand 1994 von Armenien kontrolliert werden.

Bis 1994 wurden über 1,1 Millionen Menschen aus Aserbaidschan und Armenien vertrieben, also fast 10 % der gesamten Bevölkerung der beiden Staaten. 25.000 bis 50.000 Menschen starben nach unterschiedlichen Schätzungen. Seit damals befinden sich Armenien und Aserbaidschan in Lauerstellung. Nicht nur die Frage Bergkarabachs ist ungelöst. Beide Seiten verweigern die Rückkehr hunderttausender Geflüchteter.

Reaktionärer Nationalismus auf beiden Seiten

Der Nationalismus wurde faktisch zur Staatsdoktrin beider Seiten einschließlich einer oft extremen religiösen und ethnischen Überhöhung. Seit 1994 kam es immer wieder zu begrenzten bewaffneten Konflikten zwischen den beiden Parteien, zuletzt im sog. „Vier-Tage-Krieg“ 2016.

Beide Staaten erlebten zwar einen massiven ökonomischen Einbruch nach dem Zerfall der Sowjetunion, auf deren gesamtstaatliche Arbeitsteilung ihre Wirtschaftsplanung bezogen war. Der Maschinenpark in der Industrie war weitgehend veraltet. Die Einführung der Marktwirtschaft und die Privatisierungen nahmen die Form einer Plünderung, einer Art ursprünglicher Akkumulation durch mafiöse, oligarchische Strukturen an.

Beide Staaten bzw. deren Regime unterhielten weiter enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland. Dieses fungierte als Moderator zwischen den befeindeten Seiten – sei es auf eigene Rechnung, sei es im Rahmen der sog. Minsker Gruppe, die 1993 zur Vermittlung und Befriedung des Konflikts ins Leben gerufen wurde und neben Russland auch solche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA umfasst. Im Grunde wurde der Konflikt eingefroren. Die UN verweigert die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes von Bergkarabach. Umgekehrt wurden dessen enge Verbindung mit Armenien und eine Wirtschafts- und Währungsunion ebenso faktisch geduldet wie die armenische Kontrolle über Gebiete mit ehemals aserbaidschanischer Mehrheitsbevölkerung.

Armenien und Aserbaidschan bezogen beide den größten Teil ihrer Waffen aus Russland, wenn auch zu unterschiedlichen Konditionen. So musste das öl- und gasreiche Aserbaidschan zu Weltmarktpreisen kaufen, während die armenische Armee zu günstigeren, russischen „Inlandspreisen“ aufrüsten konnte. Auch Serbien verkaufte an beide „befreundete“ Staaten, während Israel und die Türkei exklusiv an Aserbaidschan lieferten.

Während sich die Regionalmacht Türkei als Schutzpatronin Aserbaidschans ins Zeug legt und extrem aggressive Töne anschlägt, band sich Armenien stärker an Russland und den Iran. Dieser ist der wichtigste Energielieferant des Landes. Russland ist faktisch die Schutzmacht Armeniens, unterhält dort mehrere Militärbasen. Außerdem ist das Land Mitglied in den von Russland dominierten wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bündnissen, in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wie auch in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), dem von Russland dominierten Gegenstück zur NATO.

Warum jetzt?

Dass der Konflikt im Juli wieder bewaffnete Formen annahm, inkludiert möglicherweise auch ein zufälliges Element. So ist bis heute umstritten, wie die ersten Kampfhandlungen in den letzten Monaten ausgelöst wurden.

Wir können jedoch drei Faktoren ausmachen, die das Gleichgewicht unterminierten, das seit 1994 zu einem brüchigen Waffenstillstand geführt hatte und von der Minsker Gruppe und insbesondere auch von Russland weiter „vermittelt“ worden war.

Erster besteht in der politischen und wirtschaftlichen Instabilität beider Staaten. Beide sind nicht nur hart von der Weltwirtschaftskrise betroffen, beide Länder werden auch von repressiven, kapitalistischen und anti-demokratischen Regimen geführt, selbst wenn sich der armenische Präsident rühmt, über die samtene Revolution an die Macht gekommen zu sein. Für beide bietet der Nationalismus daher eine Möglichkeit, von inneren Konflikten abzulenken und die „Einheit des Volkes“ zu beschwören.

Zweitens haben sich aber die wirtschaftlichen Gewichte zwischen den Staaten verschoben. Aserbaidschan verfügt, anders als Armenien, über große Öl- und Gasvorkommen und damit Devisenquellen, auch wenn dieser Reichtum vor allem der kapitalistischen Oligarchie und den führenden Schichten im Staatsapparat zugutekommt. Die Rendite aus dem Öl- und Gasexport konnte Aserbaidschan aber auch für Rüstungsausgaben verwenden, die jene Armeniens in den letzten Jahren um das Fünffache übertreffen. Angesichts der Ziele des Regimes (und der nationalistischen Opposition) dürfte es nur zu verlockend sein, die größeren wirtschaftlichen Reserven und die militärische Aufrüstung in Gebietsgewinne praktisch umzumünzen.

Drittens sind es die veränderten geo-strategischen Verhältnisse, die diesen Konflikt befeuerten – insbesondere die wachsende Rivalität zwischen dem russischen Imperialismus und der Regionalmacht Türkei. Diese beiden geraten schließlich nicht nur im Kaukasus, sondern auch in Syrien und Libyen aneinander, was den Konflikt noch explosiver macht.

Auch wenn EU und USA vor allem als VermittlerInnen agieren wollen, wenn beide mit größeren inneren Problemen und anderen Prioritäten konfrontiert sind, so ist es fraglich, dass v. a. die USA abseits stehen werden, falls sich der Konflikt verschärft oder regional ausweitet, also z. B. der Iran hineingezogen wird.

Drohender Flächenbrand

Der Konflikt um Bergkarabach und der drohende Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan droht somit leicht zu etwas Größerem zu werden, so wie die Balkankriege vor 1914 leicht zu einem Weltkrieg hätten werden können.

Beide Seiten, Aserbaidschan und Armenien, lehnen bisher jede Vermittlung ab, beide haben das Kriegsrecht verhängt. Beide beschuldigen andere Mächte mit mehr oder minder viel Recht der Unterstützung der Gegenseite. Während sich die Türkei offen und ganz hinter Aserbaidschan, logistische Hilfe stellt und reaktionäre MilizionärInnen aus dem Syrien-Krieg als „Freiwillige“ schickt, bezichtigt sie den Iran und Russland der Unterstützung Armeniens.

Zur Zeit zieht Russland (und wohl auch China und der größte Teil des Westens) eine „friedliche“ Lösung, also das weitere Einfrieren des Konflikts vor. Das würde Russland enge Verbindungen zu Aserbaidschan und Armenien und eine dominante Rolle erlauben. Eine geostrategische Expansion der Türkei kann es hingegen schwer dulden, weil diese seine Rolle als Ordnungsmacht sowohl in Eurasien als auch im Nahen Osten und im Mittelmeer schwer erschüttern würde.

So würde sich die OVKS als Papiertigerin entpuppen, wenn sie ein in Bedrängnis geratenes Armenien und das von ihm gestützte Bergkarabach nicht einmal gegen aserbaidschanische Kräfte und wachsenden Einfluss der Türkei schützen könnte.

Die Kriegsgefahr ist real. Der Konflikt kann sich leicht zum Flächenbrand ausweiten, selbst wenn das niemand will, denn jede Aktion der einen Seite droht eine Reaktion der anderen hervorzurufen. Selbst wenn die groß-türkische Rhetorik Erdogans teilweise „nur“ leeres Gerede sein mag, so können gerade bonapartistische Regime wie das seinige den Bogen ihrer außenpolitischen Abenteuer leicht überspannen – mit fatalen Konsequenzen.

Welche Perspektive?

Die internationale ArbeiterInnenbewegung und die gesamte Linke müssen der nationalistischen Mobilmachung auf beiden Seiten und jeder Einmischung der Türkei, Russlands und anderer Mächte entschieden entgegentreten. Es gilt, alle Kräfte in Armenien und Aserbaidschan zu unterstützen, die sich einem drohenden Gemetzel widersetzen, und diese durch Aktionen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten insbesondere in der Türkei und Russland zu stärken.

Ein zentrales Mittel zum Stopp der geo-strategischen Interventionen der Türkei und Russlands (wie anderer Mächte) besteht im Kampf gegen die autokratischen Regime Erdogans und Putins selbst.

Um dem Nationalismus in Armenien und Aserbaidschan eine politische Alternative entgegenzusetzen, braucht es aber auch ein Programm, das eine Lösung der drängenden demokratischen und sozialen Fragen leisten kann.

Das beinhaltet die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes aller Nationen, also auch der Bevölkerung von Bergkarabach. Es beinhaltet ebenso das Recht auf Rückkehr aller Vertriebenen und Geflüchteten des Krieges und die Entscheidung über den weiteren Status der durch die armenischen Streitkräfte besetzten Bezirke durch die Bevölkerung. Das Selbstbestimmungsrecht bildet im Kaukasus – ähnlich wie auf dem Balkan – dabei nur ein Element der Lösung der nationalen Frage. Das andere muss in der Bildung einer freiwilligen Föderation der Staaten des Kaukasus bestehen, um so offene Grenze zwischen den verschiedenen Regionen zu gewährleisten.

Demokratie und Sozialismus

Wie die Geschichte der Sowjetunion, vor allem aber der Restauration des Kapitalismus gezeigt hat, ist eine demokratische Lösung der nationalen Frage untrennbar mit der Klassenfrage verbunden, der Frage, in welchem Interesse die Ökonomie organisiert wird. Auf der Basis von oligarchischem Kapitalismus, neoliberalem Markt, Mangel, Arbeitslosigkeit und Armut werden immer wieder reaktionäre, nationalistische oder rassistische Scheinlösungen von den Herrschenden präsentiert werden.

Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht und eine Föderation der Staaten des Kaukasus muss daher verbunden werden mit dem für revolutionäre Arbeiter- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen und die Bildung einer sozialistischen Föderation auf Basis demokratischer Planwirtschaften.




30 Jahre Wiedervereinigung: Nichts zu feiern

Bruno Tesch, Neue Internationale 250, September 2020

Das große Fest zum Tag der Einheit in Potsdam muss der Pandemie wegen ausfallen. Zu feiern gibt es für die ArbeiterInnenklasse ohnedies wenig nach 30 Jahren kapitalistischer Wiedervereinigung. Ein gewisser Sicherheitsabstand tut nicht nur wegen der Corona-Gefahr gut, auch zur bürgerlichen Mär von den „überwiegend“ positiven Resultaten. Wen hat die Wiedervereinigung eigentlich vorangebracht? Sind die nach wie vor ungleichen Lebensverhältnisse, die Zerstörung von Millionen Arbeitsplätzen nach der Wiedervereinigung bloß letzte Mängel der bürgerlichen Freiheit oder notwendiges Resultat eines stärker gewordenen deutschen Kapitalismus und Imperialismus?

Todeskrise des Stalinismus

Die deutsche Teilung selbst war Ausdruck einer globalen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Weltordnung geriet im Laufe der 1980er Jahre ins Wanken. Die Staaten des sog. real existierenden Sozialismus, in Wirklichkeit degenerierte ArbeiterInnenstaaten, in denen von Beginn eine Bürokratie die ArbeiterInnenklasse politisch beherrschte, hatten dem Imperialismus ökonomisch nichts mehr entgegenzusetzen.

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) bekam die Auswirkungen dieser Krise zu spüren, da sie zum einem über die einseitigen Bindungen im Energie- und Maschinen- sowie Rüstungsgütersektor an Lieferverträge an die Sowjetunion gekettet war, zum anderen im Handelsbereich mit dem Kapitalismus in eine stetig wachsende Auslandsverschuldung geriet. Damit versuchte die Bürokratie die Konsumbedürfnisse der ArbeiterInnenklasse einigermaßen zu befrieden, um die soziale Ruhe im Land zu gewähren. Doch die ökonomische Schieflage verschärfte sich weiter – auch durch einen Milliardenkredit, den die westdeutsche Bundesregierung Anfang der 1980er Jahre gewährte. Da hatte sich bereits der Allgemeinzustand der DDR-Wirtschaft dramatisch verschlechtert.

Der besondere Umstand der unmittelbaren Nachbarschaft zum durch den Imperialismus errichteten und geförderten BRD-Staat bewirkte, dass die DDR-Bevölkerung diesen als Schaufenster eines aufstrebenden Kapitalismus mit wachsendem Lebensstandard und scheinbarer Freizügigkeit vor Augen hatte. Die wirtschaftlich desolate Situation, die eingeschränkte Reisefreiheit sowie die Verweigerung demokratischer Rechte führten zu einem Gärungsprozess, der sich ab Spätsommer 1989 durch eine Fluchtwelle äußerte und im Herbst dann die Bevölkerung zu Protesten massenhaft auf die Straße trieb und in dem symbolträchtigen Mauerfall mündete.

Die bleierne Erblast des Stalinismus, also der politischen Diktatur einer bürokratischen Kaste, hatte die revolutionäre Traditionen der ArbeiterInnenbewegung, die 1953 kurz aufgeflammt waren und Fragen nach einer gesamtdeutschen Anstrengung zur sozialistischen Überwindung der Teilung aufgeworfen hatten, erdrückt. Angeführt wurde die 1989er Bewegung durch ideologisch kleinbürgerliche Kräfte, die das Heil in der Errichtung demokratischer Institutionen nach bürgerlichem Vorbild bzw. in einer Reform der herrschenden stalinistischen Partei suchten. Die entscheidenden Fragen nach einer politischen Revolution und dem Aufbau einer ArbeiterInnendemokratie und einer Wirtschaft nach demokratisch kontrolliertem gesellschaftlichen Plan wurden ebenso wenig gestellt wie die nach einer gesamtdeutschen revolutionären Wiedervereinigung.

Weichenstellung Richtung Kapitalismus

Weite Teile des Machtapparats, die selbst den Glauben an die Fortführung ihres bürokratischen Plankonzepts verloren hatten, versuchten, sich mit der Oppositionsführung zu arrangieren. Beide einte das Interesse, die Bewegung zu kanalisieren und ihr einen möglichen revolutionären Boden zu entziehen. So wurden zwar nominell als Volkskammerwahlen ausgeschriebene, doch de facto bürgerliche Parlamentswahlen für den 18. März 1990 vereinbart. Die noch von der SED geführte Übergangsregierung stellte zuvor eine weitere wichtige Weiche für die Auflösung der nichtkapitalistischen Grundlagen der DDR. Der Beschluss zur Gründung der Treuhandanstalt am 1. März sah bereits die Aufgabe von Planwirtschaft, von Außenhandelsmonopol und Staatseigentum an Produktion und Grundbesitz am Horizont heraufdämmern, wenn auch die Aufgabe von Eigenstaatlichkeit noch nicht zur Diskussion stand.

Glaubte die DDR-Regierung noch, bei den ersten Unterredungen mit dem Weststaat über eine vorsichtige Annäherung und einen mehrjährigen Plan zur eventuellen Wiedervereinigung auf Augenhöhe verhandeln zu können, wurde ihre Blauäugigkeit schnell desillusioniert. Sie wurde von der BRD-Regierung ultimativ vor die Wahl gestellt, deren Fahrplan für eine schnelle Wiedervereinigung zu kapitalistischen Bedingungen anzunehmen oder das völlige Ausbluten des Landes zu verantworten.

Die amtierende bundesdeutsche CDU/CSU/FDP-Regierung hatte mit Raubtierinstinkt längst die einmalige historische Chance gewittert, nicht nur den Auftrag des Grundgesetzes, die Wiedervereinigung nach kapitalistischen Richtlinien herbeizuführen, zu erfüllen, sondern auch die Ambitionen des BRD-Imperialismus auf internationalem Parkett auf einen Hieb enorm zu stärken. Sie hatte angesichts der bröckelnden Machtstrukturen des DDR-Staates und der gärenden Wünsche nach Veränderung im Land die Jetzt-oder-nie-Situation erfasst. Das Winken mit der harten West-D-Mark gab den Erwartungen der DDR-Bevölkerung einen entscheidenden Richtungsimpuls. Damit konnte zugleich auch die Gefahr einer revolutionären Orientierung in der DDR gebannt werden, was das DDR-Regime allein nicht ohne weiteres in den Griff bekommen hätte.

Finanzpolitische Bedenken über die hohen Kosten einer vorschnellen Vereinigung, geäußert v. a. von Seiten der WährungshüterInnen der Bundesbank, aber auch von der SPD-Opposition, konnte die Kohl-Regierung mit dem Hinweis auf die politisch günstige Lage und die Vorleistungen der DDR-Übergangsregierung vom Tisch wischen. Nach den DDR-Wahlen vom März 1990, deren Ausgang maßgeblich von der Aussicht auf die klingende Münze der BRD beeinflusst worden war, trat eine offen bürgerliche Regierung als diensteifriges Hilfspersonal bei der Umsetzung der Pläne der BRD-Führung ins Amt. Sie verhalf durch den Einigungsvertrag vom 18. Mai 1990, der eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen beiden Teilen festlegte, der Bundesregierung zur Entscheidungsgewalt über alle staats- und wirtschaftspolitischen Schritte der Wiedervereinigung, die nach bundesdeutschem Recht als Beitritt der DDR zur BRD deklariert wurde.

Vollendung der Konterrevolution

Das Treuhandgesetz trat am 1. Juli 1990 nicht zufällig zeitgleich mit der Einführung der Währungsunion in Kraft und regelte die Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens unter bundesdeutsch hoheitlicher Aufsicht. Die Bundesregierung entschied, die Besetzung der Schaltstellen ab Juli 1990 mit marktökonomisch versierten WestvertreterInnen durchzuführen. Der Treuhand waren 8.500 DDR-Betriebe unterstellt und damit das Schicksal einer Belegschaft von über 4 Millionen Menschen in die Hand gegeben.

Der zweite Pflock zur kapitalistischen Restaurierung der DDR wurde mit der Einführung der D-Mark als allein gültiger Währung ab dem 1. Juli 1990 eingeschlagen. Damit ging auch der Wunsch vieler DDR-BürgerInnen in Erfüllung. Der Umtausch der DDR-Währung in D-Mark Wertberechnung erfolgte zwar 1 : 1. Um aber in den Genuss der Auszahlungen zu kommen, die auf 2.000 D-Mark pro Person begrenzt waren, musste zuvor ein Antrag auf Kontoumstellung auf D-Mark gestellt und von den Banken eine Auszahlungsquittung eingeholt werden, die jedoch nur bis zum 6. Juli 1990 gültig war, um sofort an das Geld zu kommen. Soweit die Kontoguthaben Beträge altersgestuft von im Schnitt 4.000 DDR-Mark pro Kopf  überschritten, wurde nur noch im Verhältnis 2 : 1 getauscht. Guthaben, die erst nach dem 31. Dezember 1989 entstanden waren, konnten hingegen nur zu einem Kurs von 3 : 1 in D-Mark umgewandelt werden.

Das Volksvermögen an Produktionsmitteln und Grundbesitz jedoch, das nach DDR-Recht noch anteilig allen StaatsbürgerInnen zustand, wurde den Wertberechnungen des freien Markts überlassen. Die Mehrheit der Bevölkerung, d. h. die ArbeiterInnenklasse, wurde praktisch ohne Einspruchsrecht enteignet.

Für den Sieg der Konterrevolution war es auch notwendig, neben fortschrittlichen sozialen Einrichtungen, die in der DDR bestanden hatten, bspw. im Gesundheits- und Bildungswesen, auch demokratische Errungenschaften, die die halbrevolutionären Veränderungen hervorgebracht hatten, zu beseitigen wie demokratische Foren, vergleichsweise große Kontrolle und Transparenz in den Medien und politische Verhandlungen. (Runde Tische)

Die organisierte reformistische ArbeiterInnenbewegung in der BRD krümmte zu deren Rettung keinen Finger, sondern diente sich dem Imperialismus an. Der Deutsche Gewerkschaftsbund vollzog schon im Mai die Vereinigung als Übernahme der Ost-Gewerkschaften nach bewährtem sozialdemokratisch bürokratischen Konzept, das die strikte Trennung von Politik und Arbeitswelt festschrieb und jede unabhängige Tätigkeit der ArbeiterInnenklasse unterband.

Für die BRD-Regierung war nur noch eine wichtige Hürde zu nehmen: die Zustimmung der Mächte, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt und als feste Vorposten ihres jeweiligen Machtblocks in der Nachkriegsordnung aufgestellt hatten. Ein am 19. September ausgehandelter Staatsvertrag, den die USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion unterzeichneten, besiegelte das Ende der Nachkriegsära und wertete die Bundesrepublik Deutschland als politischen Faktor auch international auf. Zugleich offenbarte dies auch die angeschlagene Position des stalinistischen Systems, dessen Staatenblock auch in anderen Regionen bis in die Sowjetunion hinein in Auflösung begriffen war. Die deutsche kapitalistische Wiedervereinigung war ein historischer Meilenstein für den Untergang des Stalinismus und den Sieg des Imperialismus. Der offizielle Festakt am 3. Oktober 1990 war nur noch Formsache, er vollzog diesen Sieg.

Konsequenzen der Vereinigung

Nach 30 Jahren fällt die Bilanz geteilt aus. Die segensreiche Tätigkeit der Treuhandanstalt, die bis 1994 andauerte, bescherte den fünf neuen Bundesländern inklusive Ostberlin den Kahlschlag einer ganzen Region. Das Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer sank um 40 % und der Industrieproduktion um zwei Drittel. Durch die Privatisierung volkseigener Betriebe gelangten 85 % in westdeutschen Kapitalbesitz. Eindeutig profitierte das Monopolkapital aus der BRD am meisten von Stilllegungen, Zerschlagung von Großbetrieben und Verkäufen zu Schleuderpreisen. Zudem ließ es sich Investitionen für den „Aufbau Ost“ noch kräftig von staatlicher Seite subventionieren.

Alles in allem sind die Großbetriebe im Osten weiterhin unterrepräsentiert. Außerhalb von Berlin haben sich einige urbane Ballungsräume mit Ansiedlung neuer Technologien, v. a. in Sachsen, herausgemacht, während viele ländliche Gegenden nach wie vor strukturell chronisch schwach sind. Dort sind oft veraltete Industrien wie Braunkohlebergbau ansässig, die die ökologisch unselige Tradition der DDR fortführen. Die Arbeitsbevölkerung ist überaltert, der Abwanderungsprozess gen Westen hält immer noch an. Die Arbeitslosenquote lag im August 2020 in den östlichen Bundesländern mit 7,8 % noch 1,4 Punkte über dem gesamtdeutschen Schnitt.

Zwar hatte sich die individuelle wirtschaftliche Lage für die meisten Menschen in den fünf neuen Ländern bald nach dem Anschluss verbessert, im zweiten Jahrzehnt jedoch verlangsamte sich das Aufholtempo und stagnierte schließlich. In der Lohnentwicklung hinkt der Osten 2020 dem Westen weiter um brutto 540 Euro hinterher. Bei den Renten liegt der Osten zwar vorn, aber nur weil in der DDR mehr Frauen berufstätig waren und besser verdienten als im Westen.

Die Frauen zählen jedoch auch zu den VerliererInnen der Vereinigung. Die reaktionäre bürgerliche Gesellschaftsordnung benachteiligt Frauen, die in der DDR eine stärkere wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit entfalten konnten. Sie gehörten zu den ersten, die nach der Wende entlassen oder lohnmäßig und im betrieblichen Status abgruppiert wurden.

Insgesamt hat die Wiedervereinigung dem Kapital einen Zuwachs für die Reservearmee an Arbeitskräften gebracht, und dies zu sich ausweitenden Vorstößen in der Entrechtung der ArbeiterInnenklasse durch zunehmende Prekarisierung, Leiharbeit, Aushöhlung von Arbeitsrechten und Unsicherheit des Arbeitsplatzes, verbunden mit einer verunsicherten Lebensplanung, sowie zur Privatisierung und Abbau öffentlicher Dienste genutzt.

Staat und Sozialversicherungswesen haben Jahr für Jahr Milliardensummen in den Aufbau Ost gepumpt, bezahlt größtenteils aus den Taschen aller lohnabhängig Beschäftigten – in West wie Ost – durch die vom Lohn abgezogenen Sozialversicherungsbeiträge und den so genannten Solidarbeitrag. Von den Sonderabschreibungen, Übernahme- und Abwicklungsprämien, Investitionszulagen, Entschädigungen für Enteignungen von Produktions- oder Grundbesitz, die in der DDR vorgenommen worden waren, profitierten wiederum nur die westdeutschen KapitalistInnen und reichen ErbInnen.

Strategische Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung

Die Auslöschung des ArbeiterInnenstaats DDR mit seinen nichtkapitalistischen Grundlagen bedeutet eine Niederlage für das Weltproletariat, die umso schwerer wiegt, da sie praktisch kampflos erfolgte. Das Versagen der deutschen ArbeiterInnenbewegung einschließlich der westdeutschen Linken, die diese historische Dimension des Prozesses und v. a. die Notwendigkeit des Eingreifens völlig verkannte oder unterschätzte, war eklatant.

Während der Reformismus teilnahmslos verharrte oder aktiv die Demobilisierung der ArbeiterInnenklasse im Osten betrieb, hing ein Großteil der zentristischen Linken den kleinbürgerlichen Reformillusionen der DDR-BürgerrechtlerInnen an und träumte von einer teilstaatlichen Lösung und einem Kompromiss mit dem Stalinismus, statt mit einem Forderungsprogramm für die revolutionäre Wiedervereinigung den Widerstand in die ArbeiterInnenklasse hüben wie drüben hineinzutragen und sie organisatorisch zu rüsten.

Nicht allein die Errungenschaften eines ArbeiterInnenstaates wurden abgewickelt, sondern das Territorium wurde zum Exerzierplatz für eine sozialpolitische Konterrevolution eingerichtet. Die Rechnung, die das BRD-Kapital auch der ArbeiterInnenklasse im Westen für die passive Duldung der restaurationistischen Einheit präsentierte, war unerbittlich und musste mit der Schwächung des eigenen Kampfpotenzials gegen alle folgenden Offensiven des Kapitals bezahlt werden.

Die deutsche Imperialismus triumphierte zunächst. Die Wiedervereinigung hatte eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die internationale Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit. Entscheidend war jedoch, mit dem neu gewonnenen Hinterland eine geostrategische Startrampe geschaffen zu haben, um die Rekapitalisierung des zerbröckelnden Ostblocks voranzutreiben.

Zum Zweiten konnte in der EU noch mehr deutsches Gewicht in die Waagschale geworfen werden. Die Erweiterung der Machtbasis erleichterte auch die Durchsetzung von Projekten wie der Einführung des Euro als wichtiges Faustpfand für den innerimperialistischen Konkurrenzkampf.

BRD-Imperialismus im Krisenmodus

Die gegenwärtige Krise der Globalisierung hat die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus weltweit offenbart und auch vor dem BRD-Imperialismus nicht Halt gemacht. Der Investitionsstau für Neuunternehmungen im Ostdeutschland machte sich laut Ifo-Institut als Abwärtstrend bereits 1996 bemerkbar, u. a. aus Mangel an Fachkräften, auch in Großunternehmen. Die Konvergenz bei der Produktivität je Erwerbstätigem/r – im Osten 14.000 Euro weniger als im Westen – war ebenfalls seit der Jahrtausendwende ins Stocken geraten.

Strukturelle Probleme von Ungleichheit selbst im Inland konnten nicht gelöst werden: Verschuldung der Kommunen, Armutsschere geht weiter auf, Gefälle Stadt-Land, lebensunsichere Perspektive für die eigene Bevölkerungsmehrheit, geschweige denn für die noch stärker ins Elend gestürzten Massen der imperialisierten Länder.

Den ersten Dämpfer bekamen die Ambitionen des BRD-Imperialismus mit dem Scheitern seiner Pläne für eine EU-Verfassung 2003 und damit des politischen Aufstiegs zu einer imperialistischen Supermacht, die den USA und dem aufstrebenden China die Stirn bieten hätte können. Wirtschaftlich ist Deutschlands Vormachtstellung innerhalb der EU zwar weiterhin unumstritten, doch die Schwierigkeiten, ökonomische Druckmittel gegen die sich sperrenden Nationalismen dort politisch umzumünzen, nehmen zu. Mit einheitlichen klaren Positionen kann die EU weltpolitisch nicht aufwarten: Für den aktiven militärischen Einsatz für eigene Interessen besteht ein begrenzter Aktionsspielraum. Nach wie vor hindert der Atomwaffensperrvertrag die BRD daran, auch militärisch Weltgeltung zu erlangen.

Vor ein paar Jahren noch kaum vorstellbare Instabilitäten haben das Land überzogen und einerseits das Durchregieren für das Kapital nicht unbedingt vereinfacht, zum anderen den Erfolg des Rechtspopulismus gebracht, der v. a. in Ostdeutschland Tritt gefasst hat, worin die – vorläufig – letzte Konsequenz der siegreichen Konterrevolution und der Kapitulation der ArbeiterInnenbewegung zum Ausdruck kommt.

Protestbewegungen wie jene gegen die Hartz-Gesetze ab 2003, die vor allem in der ehemaligen DDR eine Massenkraft waren, verdeutlichen, dass es sich hier um kein Naturgesetz handelt. Die ArbeiterInnenklasse kann durchaus für ein fortschrittliches, klassenkämpferisches Programm gewonnen werden – wenn dieses entschlossen verfochten wird, in Ost und West.




Nach den Aktionstagen im September: Quo vadis, Umweltbewegung?

Lukas Resch, Neue Internationale 250, September 2020

Mehr als 100.000 Menschen beteiligten sich bundesweit am Klimastreik von Fridays for Future (FFF) am 25. September. In Berlin 10.000 bis 20.000 (je nach Schätzung), Hamburg 15.000, Stuttgart und Köln um die 10.000, Bremen und Frankfurt/Main rund 3.000 in mehreren Zügen. In München war die Aktion durch Absage der Kundgebung auf der Theresienwiese wegen Infektionsschutz auf nur 500 beschränkt.

Insgesamt zeigte die Umweltbewegung über das letzte Wochenende im September, wie viel Mobilisierungskraft noch in ihr steckt, aber auch welchen politischen Weg sie nach eineinhalb Jahren gesellschaftlicher Aufmerksamkeit einschlägt. Spricht man aktuell von der Bewegung, sind meist FFF und Ende Gelände (EG) gemeint, worin sich die Bewegung zwar nicht erschöpft, die aber dennoch den absoluten Großteil der Mobilisierung und gesellschaftlichen Relevanz einnehmen.

Politische Ausrichtung von FFF

Dennoch muss konstatiert werden, dass sich trotz beachtlicher Zahlen der Abwärtstrend der Dynamik um FFF fortsetzt, der nun fast seit einem Jahr zu beobachten ist. Auf dem Streik selbst war kaum etwas von der Aufbruchstimmung zu spüren, die frühere Mobilisierungen charakterisierte, und auch politisch schaffte man es nicht, neue Fahrt aufzunehmen. Zwar gibt es mittlerweile Verknüpfungen zwischen Flucht, Antirassismus und Klimawandel. Diese bleiben aber oberflächlich und schmecken besonders schal, wenn man feststellt, dass dieser scheinbare Wandel als Reaktion auf Rassismusvorwürfe entstand, nachdem noch im Februar eine Solidarisierung mit den Opfern der Morde von Hanau abgelehnt wurde. Auch das versprochene Zusammengehen mit dem Arbeitskampf im Nahverkehr blieb auf die Ebene gegenseitiger Solidaritätsbekundungen und gemeinsamer Presseerklärungen durch die Führungen von ver.di und FFF beschränkt.

In Summe bleibt es bei dem ursprünglichen  Credo „Hört auf die Wissenschaft!“ So wird die Umweltfrage innerhalb der Bewegung scheinbar depolitisiert. Scheinbar, denn führt man sich vor Augen, dass führende Mitglieder meist enge Kontakte zur Partei Die Grünen pflegen oder für diese bei den Bundestagswahlen antreten sollen, wird klar, dass dem organisatorischen Kern von FFF bewusst ist, dass sein Anliegen durchaus ein politisches ist. Gleichzeitig wird die Umweltfrage zu der von Moral, Bildung und „aufgeklärtem“ Bewusstsein erhoben.

In Berlin pochten die meisten Reden darauf, dass die Leute doch einsehen müssten, welches Problem der momentane Umgang mit der Umwelt für die Menschheit bedeutet. Diese wird eingeteilt in Menschen, die es einfach noch nicht verstanden haben oder moralisch zu verkommen sind, um sich für eine zukünftige Generation zu engagieren, und solche, die guten Willens und „aware“ (bewusst) genug sind, um das Problem anzugehen. Materielle Zwänge oder gute Gründe, die Leute davon abhalten, sich für eine CO2-Steuer, also eine Massensteuer, einzusetzen, die die Reichen viel weniger trifft als die Masse, fallen bei dieser „bildungsbürgerlichen“ Sichtweise unter den Tisch.

Auch vergebens suchte man auf dem Streik nach Forderungen, die konkreter sind als Appelle, doch noch vor 2038 aus der Kohle auszusteigen, das Problem ernst zu nehmen oder die kommende Bundestags- zur Klimawahl zu machen. So verbleibt FFF auf dem politischen Weg, den es seit Beginn eingeschlagen hat: Mit Fokus auf individueller Verantwortung und klarer Unterordnung unter den bürgerlichen Staatsapparat wird bewusst ein kleinbürgerliches Publikum angesprochen. Auch die Strategie verbleibt ganz auf dem Boden bürgerlicher Politik.

Dies gilt auch für den radikaleren Teil und spiegelt sich auch in einer Veränderung der Zusammensetzung der Proteste von FFF und EG wider. Im September waren deutlich mehr Studierende an den Aktionen beteiligt und weniger SchülerInnen. Die Ausrichtung war auch beim radikalen Flügel stärker politisch kleinbürgerlich geprägt, was à la longue eine Verbindung mit der ArbeiterInnenklasse eher erschweren wird. Umso wichtiger ist es daher, dass RevolutionärInnen für eine klassenkämpferische Ausrichtung der Bewegung kämpfen.

Ende Gelände

Einen Weg, der nur auf den ersten Blick bedeutend radikaler scheint, geht EG. Das  dezentrale Klimacamp vom 23. bis zum 28. September bot AktivistInnen Workshops zur inhaltlichen und praktischen Vorbereitung für die geplanten Besetzungen am 27. September. Mit 3.000 AktivistInnen in 16 Fingern wurden der Tagebau Garzweiler, der dortige Kohlebunker, das Kohlekraftwerk Weisweiler und das Gas- und Dampfturbinenheizkraftwerk Lausward in Düsseldorf besetzt. Wir beteiligten uns am türkisfarbigen Finger, dessen Vorhaben es war, aus einer Solidaritätsdemonstration mit FFF Rheinland und „Alle Dörfer bleiben“ heraus in den Tagebau Garzweiler zu gelangen. Auch wenn der Finger vergleichsweise wenig polizeiliche Repressionen erfuhr, war von Anfang an zu spüren, dass diese den Protesten nicht mehr so freundlich gesinnt ist. Bereits die Anreise des Fingers wurde versucht zu verhindern, indem man erst einen Zug ausfallen ließ und dann den Verkehr auf dem Gleis sperrte.

Diese und andere Schikanen konnten den türkisfarbigen Finger jedoch nicht stoppen. Erst kurz vor Erreichen der Abbruchkante schaffte es die Polizei, sich wieder vor die AktivistInnen zu postieren und so die Besetzung zu verhindern. Ihre Repressionsmaßnahmen, die hier für die meisten glimpflich verliefen, nahmen in den anderen Fingern heftigere Ausmaße an. Versammlungen wurden ohne Angabe von Gründen verboten, Polizeihunde ohne Maulkorb auf DemonstrantInnen losgelassen und AktivistInnen ohne Vorwarnung mit Pfefferspray attackiert. Besonders der grüne, antikoloniale Finger wurde mit massiver Gewalt vom USK aus Bayern konfrontiert. Wir verurteilen jegliche Gewalt der Polizei!

In dieser Auseinandersetzung zeigte sich erneut, dass deren oberstes Gebot der Schutz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist. Dabei bleibt die Taktik von EG, von kleinen Überschreitungen der Rechtsnormen abgesehen, ganz wie FFF auf dem Boden bürgerlicher Politik und letztlich symbolisch. Das höchste Ziel des zivilen Ungehorsams besteht nicht etwa darin, einen Widerstand zu bilden, der die herrschenden Machtverhältnisse in Frage stellt, sondern Aufmerksamkeit zu erzeugen in der Hoffnung, dass sich so das Bewusstsein der Bevölkerung verändert und die Herrschenden diesem dann durch Reformen Folge leisten.

Natürlich wird sich dabei auf die Zivilbevölkerung berufen, die durch die Wahl der richtigen Partei den Wandel mit herbeiführen könne. Am Ende bleibt diese Logik aber im Rahmen der bürgerlichen Ordnung stecken.

Die Frage, welche Klasse, welche gesellschaftliche Kraft überhaupt einen ökologischen Wandel durchsetzen kann, welche Aktionen dazu nötig sind, wird nicht von einem proletarischen Klassenstandpunkt aus betrachtet, sondern von jenem des/der radikalen, demokratischen BürgerIn.

Dabei geht es nicht in erster Linie um mehr oder weniger Militanz bei den Aktionen von EG. Das ist letztlich eine sekundäre Frage. Wohl aber geht es um die Frage, wie überhaupt die Forderungen nach einem Kohleausstieg oder nach einer wirksamen Bekämpfung des Klimawandels erzwungen werden können. Dies ist, ohne die Eigentumsverhältnisse anzugehen, ohne die Frage zu beantworten, was für wen unter wessen Kontrolle produziert wird, unmöglich. Natürlich schließt das keineswegs den Kampf für unmittelbare Forderungen – z. B. nach einem kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr für alle, nach Arbeitszeitverkürzung, Einstellungen und Lohnerhöhungen in der Branche mit ein. Aber solch klare Forderungen nach Verbesserung im Interesse der Lohnabhängigen – ob nun als Beschäftigte oder NutzerInnen – bleiben in der Regel außen vor, beschränken sich höchstes auf die Unterstützung der Forderungen des Gewerkschaftsapparates.

Dabei müsste in Anbetracht der Krise mehr denn je zu erkennen sein, dass das Leid der Menschen und der Umwelt nicht einem moralischen Versagen und „Bildungsdefizit“ entspringt, sondern einem konkreten Interesse, das die zwingende Konsequenz der kapitalistischen Konkurrenz und der imperialistischen Weltordnung ist. Gegen dieses Interesse gilt es sich zu formieren – nicht in Anlehnung an den guten Willen einer kleinbürgerlichen Schicht und der Politik der herrschenden Klasse, sondern Schulter an Schulter mit den ArbeiterInnen. Nur diese haben nichts dabei zu verlieren, wenn die notwendigen Schritte zur Rettung des Planeten und Überwindung der Krise unternommen werden. Diese Schritte müssen sich dabei bewusst gegen die herrschende Profitlogik wenden. Um eine Transformation des Energiesektors zu ermöglichen, müssen die großen Energiekonzerne enteignet werden. Mit den so erhaltenen wirtschaftlichen Mitteln kann nicht nur die Investition in regenerative Energien sichergestellt werden, sondern auch, dass sie für die Beschäftigten eine Existenz jenseits der Kohleverstromung aufbauen kann. Dieses Ziel kann jedoch nicht durch zivilen Ungehorsam erreicht werden.

Anstatt in der Grube sitzend, getrennt von den Lohnabhängigen, zu agieren, muss für Streiks und Besetzungen geworben werden, um so einen ersten Schritt zu gehen, die Produktion nach Bedürfnissen und nicht nach Profit zu gestalten. Auch darf die Umweltbewegung nicht an Landesgrenzen haltmachen, nicht nur die Summe von Aktionen in verschiedenen Ländern entsprechen. Sie muss sich koordinieren, zu gemeinsamen internationalen Aktionen aufrufen und Forderungen aufstellen, die im Interesse der Internationalen ArbeiterInnenklasse liegen. Zum Beispiel muss für einen international gleichen, kaufkraftparitätischen Lohn gekämpft werden, damit nicht mehr einzelne Staaten ihre CO2-Bilanz schönen können, indem sie die Produktion in ärmere Länder verlagern und so zusätzlich Lohnkosten sparen. Ebenso muss das Umweltthema als Teil eines gesamten Kampfes gegen das herrschende System begriffen und auch so geführt werden. Festzustellen, dass der Klimawandel auf dem Weg zur Fluchtursache Nummer eins ist und die Evakuierung von Moria zu fordern, ist wichtig, reicht aber nicht aus. Um das Leid der Geflüchteten zu beenden, muss eine Umweltbewegung auch für offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle einstehen.

Mag die aktuelle Situation auch düster aussehen, so gibt es durchaus Chancen. Die rege Teilnahme an den Aktionen von FFF und EG zeigt, dass es nicht nur weiterhin viele gibt, die sich für das Thema Umwelt einsetzen wollen, sondern darunter auch jene, die bereit sind, einen radikaleren Weg einzuschlagen. Diese Menschen anzusprechen, ihnen eine Taktik aufzuzeigen, die wirklich radikal ist, und sie mit anderen kämpfen zusammenzuführen, bleibt für RevolutionärInnen in der kommenden Phase Aufgabe und Chance zugleich!




US-Gericht in Louisville entscheidet: Schwarze Leben spielen keine Rolle

Dave Stockton, Infomail 1119, 27. September 2020

In der vergangenen Woche brachen erneut landesweit Proteste gegen Polizei-Rassismus in den USA aus. Es geht erneut gegen das diskriminierende Unrechtsjustizsystem der Vereinigten Staaten, nachdem bekannt wurde, dass eine Grand Jury es abgelehnt hatte, drei Zivilpolizisten wegen der Erschießung und Tötung von Breonna Taylor, einer zum Zeitpunkt des Mordes sechsundzwanzigjährigen afroamerikanischen Notfallsanitäterin, in ihrem eigenen Haus anzuklagen.

Nachdem die Beamten in den frühen Morgenstunden des 13. März 2020 ohne Vorwarnung in ihre Wohnung in Louisville, Kentucky, eingedrungen waren, feuerten sie mehr als zwanzig Schüsse ab, von denen sieben Breonna Taylor trafen und von denen einer sie tödlich verletzte. Nur einer der Polizeioffiziere wurde wegen „mutwilliger Gefährdung ersten Grades“ angeklagt, weil er rücksichtslos Schüsse in das Apartment abgegeben hatte, die in benachbarte Wohnungen eingedrungen waren. Selbst diese Anklage wurde erst vier Monate nach der Tötung erhoben, schlicht und einfach nur als Tarnung, um eine Anklage wegen Mordes gegen die Beamten zu vermeiden.

Taylor lag mit ihrem Freund Kenneth Walker im Bett, als die Polizei ohne Vorwarnung die Tür zu ihrer Wohnung aufbrach. Walker eröffnete mit seiner rechtmäßig gehaltenen Schusswaffe das Feuer auf die Eindringlinge und verwundete einen der AngreiferInnen leicht. Walker, der selbst im Kugelhagel verwundet wurde, wurde sofort angeklagt und befindet sich seit dem Vorfall in Haft. Den Polizeibeamten wurden lediglich neue Aufgaben zugewiesen. In einem ekelerregenden Versuch, das Opfer zu beschmutzen, versuchte die Polizei erfolglos, Breonna mit dem Drogengebrauch eines ehemaligen Freundes in Verbindung zu bringen. In der Wohnung wurden keine Drogen gefunden.

Mord und Repression

Wieder einmal haben wir ein unverschämtes Beispiel für die völlige Straffreiheit von PolizistInnen, wenn es darum geht, Schwarze „in Ausübung ihrer Pflicht“ zu töten. Es hat den Anschein, dass kaum eine Polizeitötung aufgenommen worden ist, da findet schon eine andere statt. Kein Wunder, dass sie sich wie eine Besatzungsarmee verhalten, einer der Beteiligten hatte seinen KollegInnen sogar getwittert, dass sie „Krieger“ seien. Viele KommentatorInnen haben darauf hingewiesen, dass sich diese „KriegerInnenmentalität“ seitdem Irakkrieg noch weiter verbreitet hat. Seitdem haben viele Polizeidienststellen schwer gepanzerte Fahrzeuge und andere militärische Kriegswaffen gekauft.

Die mutwillige Ermordung von Breonna Taylor, gefolgt von der von George Floyd, die auf Video festgehalten wurde, löste eine Welle von Demonstrationen aus, die sich weltweit ausbreitete. Louisville selbst war seit der Ermordung von Breonna 119 Tage lang Zeugin von Protesten. In zunehmendem Maße hat die Polizei Tränengas und Pfefferkugeln auf diese Menschenmengen abgefeuert.

Am Tag der Weigerung der Grand Jury, Anklage zu erheben, liefen die BereitschaftspolizistInnen in die Menge der friedlichen DemonstrantInnen hinein und provozierten schließlich das, was sie dann als Aufruhr bezeichnen konnten. Über Nacht erlitten zwei PolizistInnen Schusswunden, und noch vor dem Urteil rief der Gouverneur von Kentucky, Andy Beshear, ein Demokrat, in Louisville den Ausnahmezustand aus. Am Tag selbst mobilisierte er die Nationalgarde des Staates.

Donald Trump hat die Polizei wiederholt für die Gewalt gelobt, die sie gegen friedliche DemonstrantInnen – die er als „InlandsterroristInnen“ bezeichnet hat – entfesselt hat. Er hat seine rechtsextremen AnhängerInnen gegen DemonstrantInnen aufgehetzt, und in Denver, Colorado, fuhr eine/r mit einem Auto durch eine Demonstration, die gegen die Entscheidung der Grand Jury protestierte.

Die Polizei hat während der Proteste regelmäßig schwer bewaffnete rechte Milizengruppen auf den Straßen patrouillieren lassen und sich sogar mit ihnen vergeschwistert. Als am 25. August in Kenosha, Wisconsin, zwei unbewaffnete Demonstranten von einem solchen rechten Milizionär getötet wurden, nahm Trump den Täter in Schutz und meinte, dass dieser sich nur verteidigt habe. Dies ist eindeutig Teil seiner Strategie, die Wahl am 3. November in einer Atmosphäre hoher sozialer Spannungen, einschließlich physischer Konflikte, abzuhalten, in der Hoffnung, dass seine Kampagne für „Recht und Ordnung“ die kläglichen Misserfolge seiner Präsidentschaft vertuschen wird.

Die Aktionen der DemokratInnen, selbst dort, wo sie im Amt sind, wie in Kentucky, zeigen, wie wenig diese zweite Partei der KapitalistInnen als Schutz für Schwarze und People of Color, die große Zahl von AntirassistInnen oder für die ArbeiterInnenklasse geeignet ist. Deshalb sollte man sich nicht in dem Glauben zurückhalten, dass dies Biden zum Sieg verhelfen wird.

Ganz im Gegenteil! Es sollte kein Zurückschrecken bei den Demonstrationen oder bei den Kämpfen der ArbeiterInnen für Arbeitsplätze und Gerechtigkeit in der Coronavirus-Krise geben! Keine Zurückhaltung bei den Aufrufen, die KillerpolizistInnen aus den Gemeinden zu vertreiben, die Polizeigewerkschaften aus den Gewerkschaftsverbänden herauszuschmeißen und ganz sicher keine Zurückhaltung bei der Organisierung der Selbstverteidigung. Jedes Anzeichen einer Schwächung des Massenwiderstandes wird nur Trumps ultrareaktionäre Bewegung und ihre faschistischen Ränder ermutigen, ganz zu schweigen von den Polizeiabteilungen, von denen viele bereits mit ihnen sympathisieren.

Trump hat praktisch damit gedroht, dass er das Urteil der WählerInnen nicht akzeptieren wird, wenn die Wahl im November gegen ihn ausfallen wird. Er hat seine AnhängerInnen der weißen RassistInnen dazu angestachelt, sich zu wehren, wenn er verliert. Das mag nur Trump-Geschrei sein, aber wenn die Ergebnisse von RepublikanerInnen in von ihnen kontrollierten Bundesstaaten oder im Obersten Gerichtshof angefochten oder behindert werden können, dann ist alles möglich. Die sicherste, ja die einzige Möglichkeit, dieses Szenario zu verhindern, besteht darin, die Massenbewegung zu stärken, damit sie direkt eingreifen kann, um ihm Einhalt zu gebieten bzw. ihn aus dem Amt zu jagen, sollte er versuchen an diesem festzuhalten.




Brasilien: Evangelikale und rechte Angriffe auf Frauenrechte nach dem Putsch

Liga Socialista, Infomail 1118, 23. September 2020

Am 27. August 2020 verübte die Regierung Bolsonaro ein weiteres bösartiges Attentat auf die Rechte der Frauen. Gemäß ihrer reaktionären, konservativen und grausamen Politik greift der vom Gesundheitsministerium erlassene Paragraph 2282 das verfassungsmäßige Recht auf unterstützte Abtreibung an.

In Brasilien garantiert das Gesetz seit 1940 Frauen den Zugang zur unterstützten Abtreibung, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft das Leben der Frau bedroht oder sie durch Vergewaltigung herbeigeführt wurde. Im Jahr 2004 verabschiedete das Oberste Bundesgericht ein Urteil, das den Schwangerschaftsabbruch bei fötaler Anenzephalie, einem Zustand, bei dem der größte Teil der Großhirnrinde des ungeborenen Kindes fehlt, entkriminalisiert. Der Widerstand gegen dieses Urteil war der Auslöser für die Angriffe auf das legale Recht auf Abtreibung.

Im August 2013 sanktionierte Präsident Dilma Rousseff einen Gesetzentwurf, der dem nationalen Gesundheitsdienst (SUS) zur Pflicht machte, den Opfern sexuellen Missbrauchs eine sofortige Versorgung zu gewähren. Religiöse Organisationen versuchten sofort, die Schwangerschaftsverhütung mit der „Pille danach“ in Fällen sexueller Gewalt zu stoppen, weil sie argumentierten, dies würde ÄrztInnen den Weg zu Abtreibungen öffnen. Gegenwärtig schreibt das Gesetz vor, dass alle Krankenhäuser des öffentlichen Netzes unter anderem unverzüglich die Diagnose und die „Pille danach“ für das Opfer sowie die medizinische Behandlung körperlicher Verletzungen und psychologische Beratung, Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten (STD), HIV-Tests und Zugang zu Informationen über gesetzliche Rechte und andere verfügbare Gesundheitsdienste anbieten müssen.

Reaktion

Kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes im Oktober 2013 stellte Eduardo Cunha, ein Abgeordneter der „evangelikalen Fraktion“, die Gesetzesvorlage PL 5069 vor, die einen großen Rückschritt für die Frauenrechte darstellt. Der Gesetzentwurf war eine klare Reaktion seitens religiöser FührerInnen gegen die Garantie des Zugangs zu Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung und anenzephalen Föten (Föten, bei denen ein bedeutender Teil des Großhirns nicht entwickelt ist). Aufgrund einer heftigen Reaktion von AktivistInnen und ParlamentarierInnen, die versuchten, Teile des Textes zu ändern, kam die Gesetzesvorlage im Parlament zum Stillstand, zumal kurz darauf das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff begann.

Der Aufstieg reaktionärer Kräfte nach dem Parlamentsputsch, der Dilma verdrängte, dann die Wahl von Jair Bolsonaro und die Bildung einer sozialkonservativen, rechtsextremen Regierung ebneten den Weg für erneute Attacken auf die Rechte der Frauen. Die Auflösung des Frauensekretariats und die Schaffung des Ministeriums für Familie und Menschenrechte unter der evangelischen Pastorin Damares Alves machten deutlich, dass die Agenda für Fortschritte bei den Frauenrechten abgeschlossen war. Die Zeit der Rückschritte, Verluste und Angriffe hatte begonnen.

Drastische Gesetzesverschärfung und reaktionäre Hetze

Ende 2019 wurde das Gesetz 13.931 verabschiedet, das Angehörige der Gesundheitsberufe verpflichtet, Vergewaltigungsfälle der Polizei zu melden. Die betroffenen Frauen sind außerdem zu einer ausführlichen Schilderung gegenüber dem ärztlichen Personal verpflichtet und müssen darauf hingewiesen werden, dass ihnen für den Fall, dass sie den Vorwurf nicht beweisen können, strafrechtliche Verfolgung droht. Dieses Gesetz bricht die ärztliche Schweigepflicht und hindert Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden, wirksam daran, in Vergewaltigungsfällen medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie die Reaktion ihrer Täter fürchten.

Letzten August schockierte ein Fall von Vergewaltigung das Land, sowohl wegen der Art des Verbrechens selbst als auch wegen der Behandlung des Opfers. Ein 10-jähriges Kind, das von seinem Onkel sexuell missbraucht worden war, seit es 6 Jahre alt wurde, wurde schwanger. Die Reaktion auf das Kind war so repressiv, dass eine Gruppe von Frauen vor dem Krankenhaus tätig wurde, um sicherzustellen, dass es medizinisch versorgt und ein Verfahren zum Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wurde.

Fundamentalistische Gruppen taten alles, um eine legale Abtreibung zu verhindern und dann das Kind selbst des Mordes anzuklagen. Das Frauenministerium beteiligte sich an diesen Ausschreitungen gegen das 10jährige Mädchen. Es gibt in der Tat Hinweise darauf, dass es das Ministerium selbst war, das die Informationen und Daten des Kindes an fundamentalistische Gruppen weitergegeben hat.

Die Reaktion der Regierung auf den Einsatz der feministischen Gruppen, die das Kind unterstützten, erfolgte rasch. Sie verfügte den Erlass 2282, der das Gesetz 13.931 modifiziert, das die ärztliche Schweigepflicht verletzt, indem es  ÄrztInnen verpflichtet, die Behörden zu benachrichtigen. Dem feministischen Netzwerk von GynäkologInnen zufolge erschwert, ja verunmöglicht es Frauen, die sich vor ihren Angreifern verstecken müssen, Hilfe und Unterstützung zu suchen. In jedem Falle werden die Opfer noch größeren Gefahren ausgesetzt.

Den ÄrztInnen zufolge ist Vertraulichkeit unerlässlich, um Frauen in die Lage zu versetzen, den Aggressor anzuzeigen. Die Anwesenheitspflicht eines/r AnästhesistenIn bürokratisiert die Betreuung zusätzlich. Die ÄrztInnen stellen klar, dass in den meisten Fällen ein Abbruch durch medikamentöse und nicht durch chirurgische Mittel eine solche Anwesenheit unnötig macht. Nur im letzteren Fall wäre ein/e AnästhesistIn in jedem Fall obligatorisch.

Das Dekret schreibt die Pflicht einer Ultraschalluntersuchung vor, die der Frau gezeigt werden muss, mit dem einzigen Zweck, Frauen ein schlechtes Gewissen zu bereiten, weil sie Abtreibungen vornehmen lassen wollen. Zudem kann es  den Schmerz von bereits geschwächten und vergewaltigten Frauen verstärken.

Die Perversität dieser rechtsradikalen Regierung ist klar. Dekret 2282 hat das klare Ziel, der Regierung die volle Kontrolle über alle legalen Abtreibungsverfahren zu gewähren, um mehr und mehr die vergewaltigten Körper von Frauen (Kinder und Erwachsene) zu kontrollieren. Die Vorankündigung der Hilfeleistung wird Daten für die Kontrolle und die Verweigerung der Rechte von Frauen liefern. Wenn es ihnen gelingt, Zugang zu erhalten, werden die Schwierigkeiten, eine/n AnästhesistIn zu bekommen (die/der die Teilnahme verweigern kann), mehr Not und Leid für die Frauen verursachen, und darüber hinaus stellt die Ultraschalluntersuchung für Frauen, die Opfer tiefer Gewalt sind, Folter dar.

Zeit des Rückschritts

Wir leben in einer Zeit des tiefen sozialen Rückschritts. Zusätzlich zu all den Verlusten, die wir als Lohnabhängige erleiden, leiden wir als arbeitende Frauen in Stadt und Land. Es ist bekannt, dass Abtreibung in Brasilien für reiche Frauen relativ leicht und uneingeschränkt verfügbar ist. Das Verbot gilt nur für arme Frauen, die illegalen Verfahren ausgesetzt sind, bei denen Arbeiterinnen, von denen viele Mütter sind, verstümmelt oder getötet werden.

In dem Land, in dem Angaben des brasilianischen Jahrbuchs für öffentliche Sicherheit aus dem Jahr 2018 durchschnittlich 180 Vergewaltigungen pro Tag vorkommen, die Mehrheit (53,8 %) gegen Mädchen bis 13 Jahre alt, repräsentiert dieses Dekret mehr als Gewalt gegen Frauen. Es bedeutet, dass wir heute eine Regierung haben, die diese Gewalt, diese Vergewaltigungspraxis bekräftigt, indem sie Frauen bestraft, sie dazu verurteilt, Mütter der Frucht dieser Gewalt zu werden, oder sie sogar foltert und diesen Frauen, die Opfer einer männlich chauvinistischen Gesellschaft sind, die Schuld zuschiebt.

Die Verfassung von 1988 garantiert einen säkularen Staat und die Trennung von Kirche und Staat. Daher gibt es weder Raum noch eine verfassungsrechtliche Grundlage für die Einmischung der Kirche in die unterstützte Abtreibung, die seit 1940 im Strafgesetzbuch garantiert wird. Es stellt einen großen Rückschritt für Frauen, Mädchen und Kinder dar, die arm, unschuldig, ohne Hilfe, unterdrückt und geschwächt sind.

Wir wissen, dass die Realität für Frauen aus den wohlhabendsten Schichten ganz anders aussieht. Sie sind keinerlei Zwängen, Druck oder Unsicherheiten ausgesetzt. Der ganze Prozess verläuft vertraulich, sie befinden sich in angenehmer Umgebung und werden in völliger Sicherheit und Diskretion betreut. Es gibt keine undichten Stellen, keine religiösen FanatikerInnen, keine HeuchlerInnen, die an den Türen der Kliniken demonstrieren. Es handelt sich also nicht um eine Frage der Sorge um das Leben, sondern um reine Heuchelei und Fanatismus, die vom religiösen Fundamentalismus aufgezwungen werden, der in der gegenwärtigen Regierung Stärke besitzt und zur Umkehrung aller Eroberungen führt, die der Kampf der Frauen im Land erreicht hat.

Wir müssen diesen reaktionären Attacken mit aller Kraft widerstehen! Unsere Antwort muss klar und geschlossen sein, um die Rechte der arbeitenden Frauen zu verteidigen! Der 28. September ist der lateinamerikanische und karibische Tag für legale Abtreibung. Wir müssen energische und entschlossene Maßnahmen ergreifen, damit dieses Dekret aufgehoben wird und wir unsere Rechte weiter durchsetzen, und dürfen keinen Rückzug von ihnen zulassen!

  • Für die Aufhebung des Gesetz 13.931 und des Dekrets 2282!
  • Für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs!
  • Für die Verteidigung des Lebens der Frauen!