BRD-Konjunktur; Regierungspaket als Sturzflugbremse?

Jürgen Roth; neue Internationale 248, Juli/August 2020

Eine Krise kam 2020 nicht unerwartet. Etliche MarxistInnen, darunter auch wir, hatten sie schon lange vor der Corona-Pandemie prognostiziert, wenn auch nicht ihr historisches Ausmaß. Schon jetzt übertrifft sie die Große Rezession von 2007/08 an Schärfe.

Konjunkturdaten und -prognosen

Im April ist die Wertschöpfung im produzierenden Gewerbe Deutschlands, dem Kernsektor der Mehrwertproduktion, im Vergleich zum Vormonat um über ein Viertel eingebrochen. Das war der stärkste Rückgang seit Beginn dieser Statistik im Januar 1991. Im März betrug der Rückgang auch schon beträchtliche 11,3 %. Die Börse legte ab Mitte Februar mit Beginn der Lockdown-Maßnahmen einen seltenen Absturz hin: Der DAX sackte vom Rekordstand von 13.800 Punkten auf 8.450 ab, um am 9. Juni wieder 12.560 zu erreichen. Diese V-Kurve speist sich aus den Erwartungen der SpekulantInnen für die nähere Zukunft in einen kräftigen Wiederaufschwung nach der tiefen Rezession, aus der Wirksamkeit staatlicher Hilfspakete und Konjunkturprogramme.

Zudem nutzen Konzerne die Krise, um Kosten zu senken, teils über Stellenabbau, v. a. aber über Kurzarbeit. Auch deshalb ist bisher eine Pleitewelle ausgeblieben. Ein weiterer Grund für den Optimismus an der Börse sind die erneuten Geldströme in die Finanzmärkte aus Tresoren und Druckmaschinen der EZB und großer Notenbanken. Schließlich ziehen InvestorInnen Gelder aus Entwicklungs- und Schwellenländern ab und bringen sie im „sicheren Hafen“ z. B. deutscher Staatsanleihen unter. Nichtsdestotrotz geht auch unter BörsianerInnen Skepsis um: Wie stark wird der Wiederaufschwung überhaupt und wann kommt er? Wie kommt die Autoindustrie aus der Strukturwandelkrise heraus? Welche Folgen haben der verschärfte Konflikt zwischen China, EU und den USA sowie der Brexit?

Anders als im Zuge der sog. Finanzkrise 2007/08 wird dieses Jahr auch die Weltwirtschaft schrumpfen. Für Deutschland rechnet das unternehmensnahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für 2020 mit nachlassender Wirtschaftsleistung von 9,4 % und für 2021 mit einem Wirtschaftswachstum von lediglich 3 %. Die Arbeitslosenquote soll auf 5-6 % steigen. Nach Bekanntgabe der ersten 130 Mrd. Euro fürs Konjunkturpaket mit einem geschätzten Effekt von 1,3 % wurde der Einbruch also auf 8,1 % taxiert, immer noch weitaus mehr als 2009.

Die Bundesregierung ist da optimistischer (2020: – 6,3 %; 2021: + 5,2 %). Diesen Optimismus teilt auch die Industriestaatenorganisation OECD nicht: – 6,6 bis 8,8 % sagt sie für 2020 voraus.

Das DIW geht in seiner pessimistischen Prognose von keiner zweiten Pandemiewelle im Herbst aus. Die Ausrüstungsinvestitionen werden laut seiner Schätzung dieses Jahr um ein Fünftel (!) geringer als 2019 ausfallen, der Konsum wird um 8,5 % nachgeben. Im Gegensatz zur letzten Krise wird sich die deutsche Wirtschaft aus der „Coronakrise“ nicht herausexportieren können, denn anders als 2009 schrumpfte der Welthandel dramatisch um rund ein Drittel. Der Weltmarkt bricht ein. Zusätzlich zum Konjunkturpaket fordert das DIW deshalb ein Investitionsprogramm in Höhe von 192 Mrd. Euro für die nächsten 10 Jahre. Das Geld soll in Bildung, Entschuldung der Kommunen, Impulse für die Digitalisierung und den ressourcen- wie klimaschonenden Umbau der Industrie fließen.

Das eher pessimistische Szenario ergänzt der BRD-Außenhandel im Mai. Er lag mit 80,3 Mrd. Euro um 29,7 % unter dem Vorjahresmonat. Besonders rückläufig waren die Exporte in die stark von der Pandemie betroffenen USA und nach Großbritannien. Gegenüber April 2020 stiegen sie allerdings wieder um 9 %. Die Importe lagen mit einem Gesamtwert von 73,2 Mrd. Euro um 21,7 % niedriger als im Mai 2019.

Lage im Osten

Obwohl Ostdeutschland weniger exportabhängig ist, war auch der dortige Konjunktureinbruch massiv. Das Dresdner Ifo-Institut rechnet mit 5,9 % im Jahresdurchschnitt. Basierend auf zwei grundlegenden Annahmen – es kommt keine 2. Infektionswelle und die Weltkonjunktur erholt sich – erwartet das Institut, der Osten komme weder besser noch schlechter durch die Rezession als die gesamtdeutsche Volkswirtschaft (- 6,7 %; Sachsen: – 6,4 %). Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat es nirgendwo einen solchen Einbruch gegeben außer 1990, als die DDR-Wirtschaft abgewickelt wurde, als die Zahl der Erwerbstätigen in der Industrie um 70 % fiel. Für 2020 rechnet es mit einem Sinken um 1 % und einer Zunahme im nächsten Jahr um 0,3 %. Dies deshalb, weil Ifo von Insolvenzen vieler Betriebe ausgeht. Laut Umfrage hätten 21,5 % der Unternehmen im ostdeutschen verarbeitenden Gewerbe die Lage als existenzbedrohend angegeben.

An den staatlichen Konjunkturprogrammen kritisiert das Ifo-Institut, sie setzten zu stark auf Darlehen statt auf Entschädigungszahlungen. Neben den hohen Zugangshürden für die Programme könne dies von Anträgen abschrecken, weil die Betriebe bei dennoch eintretender Pleite dann noch höhere Schulden hätten.

Mit Blick auf die unmittelbare Zukunft ist man optimistisch, dass der Tiefpunkt bereits im II. Quartal durchschritten sei. Für Ende 2021 sagt es ein Erreichen des Vorkrisen-BIP-Niveaus voraus: bundesweit + 5,8 %; Sachsen: + 6,3 %.

Das Konjunkturpaket: Turbo oder Rohrkrepierer?

Ein „Wumms“ sei das Konjunkturpaket der Bundesregierung – so zumindest Finanzminister Olaf Scholz. Kaum waren 130 Mrd. Euro bewilligt, mäkelte indes Wirtschaftsminister Peter Altmaier daran herum, dass es keine Neuauflage der Kaufprämie für Autos mit Benzin- und Dieselmotoren mehr gebe. Dafür hatten auch die IG Metall und Betriebsräte aus der Automobilindustrie die SPD scharf angegriffen. Deren Vorsitzende Saskia Esken verteidigte den Beschluss, nur Zukunftstechnik, also Vehikel mit Elektroantrieb, zu fördern. Ökologischer Unsinn ist beides.

Stattdessen hätte es einen Plan zum organisierten Ausstieg aus dem Individualverkehr überhaupt und einen zum Ausbau des öffentlichen Verkehrs insbesondere auf der Schiene benötigt. Auf weitere branchenspezifische Einzelheiten wie die Förderung der Wasserstoffstrategie und Investitionen ins Gesundheitswesen können wir an dieser Stelle aus Platzmangel nicht eingehen. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) äußerte sich ähnlich positiv über das Konjunkturpaket wie ihre Parteikollegin, erhalten doch Familien und Alleinerziehende in seinem Zuge 300 Euro pro Kind als Bonus. Außerdem sollen kleine und mittelständische Unternehmen mit besonders hohen Umsatzeinbrüchen 25 Mrd. Euro an Überbrückungshilfen erhalten. Zum Vergleich: Das KurzarbeiterInnengeld wird ganz ohne Staatshilfen aus den Sozialkassen der Lohnabhängigen aufgebracht. Der Staat erstattet den Unternehmen die Sozialbeiträge bei Kurzarbeit. Bund und Länder wollen zudem die Gewerbesteuerausfälle der Gemeinden ausgleichen. Die aktuellste Steuerschätzung rechnet mit 40,5 Mrd. Euro weniger Einnahmen.

Ob diese Wundertüte ebenso wie die für ein halbes Jahr beschlossene Senkung der Mehrwertsteuer zu einer Ausweitung des privaten Konsums führt, ist fraglich. Noch nicht mal jede/r Fünfte erklärte in einer Umfrage, dass dies seine/ihre Kauflaune beeinflusse, zwei Drittel wiesen dies sogar strikt von sich. Kinderlose gehen ohnedies leer aus und bei fast 12 Millionen Beschäftigten in Kurzarbeit bis Ende Mai wird ein Großteil mit weit weniger Einkommen kalkulieren müssen, als Mehrwertsteuersenkung und Kinderbonus einbringen.

Wegen des Konjunkturpakets und steuerlicher Mindereinnahmen durch die Krise muss der Bund dieses Jahr 218,5 Mrd. Euro neue Schulden aufnehmen. Zusätzlich zu den im März beschlossenen 156 Mrd. Euro beschloss der Bundestag am 2. Juli einen 2. Nachtragshaushalt über 62,5 Mrd. Euro. Zum Vergleich: 2010 waren es im Zuge der Finanzkrise 44 Mrd. Die Schuldenquote des Bundes steigt damit von unter 60 auf 77 % des BIP. Scholz will ab 2023 den Großteil der neuen Kredite über einen Zeitraum von 20 Jahren abstottern. Die haushaltspolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag, Gesine Lötzsch, monierte, es sei völlig offen, wer die Zeche bezahle und erneuerte die Forderung ihrer Partei nach Abgabe auf hohe Vermögen. Ihr Kollege Fabio De Masi forderte, das Aussetzen der Schuldenbremse zu verlängern, eine Rückkehr zur „Schwarzen Null“ dürfe es nicht mehr geben. Linkspartei-Kovorsitzender Bernd Riexinger bemängelte, dass mit den Milliarden v. a. Unternehmen geholfen würde, während Eltern, Arbeitslose und Pflegekräfte kaum etwas abbekämen. Ab 2023 spätestens dürfen wir also erwarten, dass Stimmen lauter werden, die Sozialleistungen weiter infrage stellen wollen.

Reparaturprogramm auch für die Europäische Union (EU)

Ab 1. Juli übernimmt die BRD im Rotationsverfahren die Präsidentschaft im Rat der EU. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit werden der Wiederaufbaufonds für die angeschlagene Wirtschaft wie der Langfristhaushalt von 2021 bis 2027 verkörpern. Streit herrscht im europäischen Staatenbund über das Verhältnis von Zuschüssen und echten Krediten für den Hilfsfonds sowie über Bedingungen und Kontrollmechanismen. Dänemark, die Niederlande, Österreich und Schweden lehnen Zuschüsse bisher generell ab. Konkrete Festlegungen zum Wiederaufbau sollen auf einem Sondergipfel der Staats- und RegierungschefInnen am 17./18. Juli getroffen werden.

Nach dem Austritt Großbritanniens sollen bis zum Jahresende die künftigen Beziehungen abschließend geregelt werden. Trotz Rivalität um geostrategischen Einfluss v. a. in Afrika wird die Gestaltung der Kooperation mit China ein weiterer Schwerpunkt werden. Eine einheitliche Position hat die EU dabei nicht, was das seit Jahren verhandelte Investitionsabkommen weiter verzögern dürfte. Auch der umstrittene EU-Mercosur-Deal mit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay klemmt aus gleichem Grunde. Um mehr „Hard Power“ geht es dem Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, für die EU. Diese müsse in internationalen Konflikten wie Libyen die „Sprache der Macht“ gebrauchen.

Angesichts der tiefen Krise der Weltwirtschaft, der verschärften globalen Konkurrenz und der inneren Gegensätze der EU wird die deutsche Ratspräsidentschaft die imperialistische Vereinigung des Kontinents vonanzutreiben versuchen. Gelingt dies nach Jahres des Zurückfallens hinter den USA und China nicht, droht die EU auseinanderzudriften, ja zu zerbrechen. In jedem Fall wird die Entwicklung der EU und des Euro die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland in den kommenden Jahren maßgeblich bestimmen.

KisengewinnerInnen – einstweilen

Anders als 2007/08 sind die Banken bisher kaum krisengebeutelt. Mit Beginn des Lockdowns im März beflügelte sich das Kreditneugeschäft trotz niedriger Leitzinsen mit heimischen Unternehmen und Selbstständigen, das zuvor sich jahrelang abschwächte. Gerade die kurzfristigen Liquiditätskredite schnellten in die Höhe (Verdopplung auf 7,3 %). Eine der Gewinnerinnen ist die Deutsche Bank. Ihre Margen konnten überall ausgeweitet werden, auch im Privatkundengeschäft durch Erhöhung der Girokontogebühren.

Von FirmenkundInnen scheinen höhere Zinsen als vor der Coronakrise verlangt zu werden. Außerdem bekommt nicht jedes Unternehmen Geld. Die Kreditbedingungen wurden nämlich mit Blick auf einen möglicherweise heißen Herbst verschärft, wenn die Insolvenzantragspflicht bundesweit endet und mit einer Flut von Firmenpleiten zu rechnen ist. Der IWF warnt, dass Unternehmens- und Haushaltsverschuldung in einigen Ländern unbeherrschbar werden könnte.

Mitte Juni nahm ein sog. Bankenpaket der EU die letzte Hürde im Straßburger Parlament. Es lockert die Eigenkapitaldeckung, erhöht damit aber auch das Risiko bei der Kreditvergabe. Die Bankenkonferenz „Frankfurt Finance Summit“ tröstete ihre Klientel damit, diesmal hätten die Verwerfungen nicht im Finanzsystem begonnen. Zudem schüfen Hilfsmaßnahmen der Zentralbanken ein stabiles Bankensystem. Die seit Jahren andauernde Ausdünnung des Filialnetzes geht indes weiter.

Jetzige und letzte Krise: Vergleiche und Perspektiven

Von einer Finanzkrise ist bei der jetzigen nicht die Rede. Allerdings zeichnet dieser Begriff auch nicht exakt die Ursachen der letzten Rezession nach. Die US-Ökonomie hatte bereits ihre depressive Phase erreicht (ab IV. Quartal 2007), bevor die Investmentbank Lehman Brothers Konkurs anmeldete (siehe: Guenther Sandleben, Politik des Kapitals in der Krise, S. 22f.), Profitklemme vor Kreditklemme! Und wie wir in unseren letzten 3 Wirtschaftsartikeln dieser Zeitung ausführten, waren die Anzeichen einer Rezession bereits vor dem Corona-Ausbruch überdeutlich. Von daher verfehlt der Begriff Coronakrise auch die Ursache ihres Ausbruchs.

Zwischen 1992 und 2007 verdoppelte sich nahezu der Anteil der Zentralbankgeldspritzen („Machtgeld“) von 3,7 auf 7,2 % an der weltweiten Liquidität. Gleichzeitig verdreifachte sich der Anteil von Bankkrediten und Schulden am BIP. Zwischen 2007 und 2019 verdoppelte sich der Anteil des „Machtgeldes“ erneut. Mit Ausbruch von COVID-19 stiegen die Bilanzen der 4 größten Notenbanken um 3 Bio. US-Dollar (3,5 % vom globalen BIP).

Dies wird angesichts der diversen Rettungspakete vermutlich bis Jahresende anhalten. Dies hievte die Börsenkurse schnell wieder auf Vorkrisenniveau. Doch die Firmenprofite erfuhren den schlimmsten Fall seit der Rezession 2008/09. Die Lücke zwischen fiktivem Kapital und seinem realen Wert ist heute größer als vor dem Platzen der Dot.com-Blase Ende der 1990er Jahre. Zusätzlich wird der Aktienboom beflügelt von der optimistischen Annahme aller Regierungen von einem baldigen Ende des COVID-19-Shutdowns. Im Mai sank die US-Arbeitslosenziffer, war aber mit 13,3 % immer noch um ein Drittel höher als auf der Talsohle der letzten Krise (mit Teilzeitbeschäftigten, die gerne Vollzeit arbeiten wollen: 21 %; mit weiteren 3 Mio. nicht näher Klassifizierten: 25 %).

Die Profitabilität in den größten Volkswirtschaften erreichte fast ein Nachkriegstief. Im Vergleich zu den Vorhersagen vor Pandemieausbruch belaufen sich die Schätzungen beim BIP um -5,3 % (USA) bzw. -4 % (Eurozone) niedriger (unter optimistischen Annahmen). Schlimmer sind die Erwartungen für Argentinien (-10 %), Brasilien (-7 %) und Mexiko (-9%). Mit Ausnahme kurzer Phasen (2001-2005, 2009-2010) ist seit 1997 die Profitabilität in den G7-Ökonomien gesunken und sie wird 2020 ein Allzeittief erreichen, um 2021 nur moderat zuzulegen. Zudem überstieg in dieser Periode der Schuldenzuwachs den Wertzuwachs. Zusammen mit dem sehr niedrigen PMI-Index, der die Geschäftserwartungen widerspiegelt, legen diese Zahlen nahe, dass mit einem baldigen Aufschwung nicht zu rechnen ist.

Wachsen der Verschuldung

Michael Roberts schätzt in seinem Blog vom 29.6.2020 „Deficits, debt and deflation after the pandemic“ das Ausmaß der Rettungspakete und Fiskalprogramme der Regierungen für Lohnersatzleistungen, KurzarbeiterInnengeld, Kredit und Hilfsmaßnahmen für Firmen, Gesundheitssektor und andere öffentliche Bereiche in Form neuer Staatsverschuldung weltweit auf 5-6 % vom BIP. Hinzukommen etwa gleich hohe Ausgaben für Bürgschaften und andere kreditstützende Maßnahmen für Banken und Unternehmen. Diese fiskalischen und monetären Stimuli belaufen sich damit bereits jetzt auf mehr als das Doppelte als 2008/09!

In den größten Volkswirtschaften werden sich 2020 die Regierungshaushaltsdefizite gegenüber 2019 verdreifachen (10,7 %; USA: 15,4 %) und damit alle Negativrekorde der letzten 150 Jahre einschließlich zweier Weltkriege sprengen (122 % vom BIP; 62 % in abhängigen Ökonomien)! Kann dieser Zustand anhalten, wenn der Lockdown endet, ob die Pandemie abklingt oder nicht? Regierungen und AnalystInnen reden diesmal nicht davon, die Finanzen „unter Kontrolle“ bekommen zu müssen. Dies allein ist bereits sicheres Indiz dafür, dass der öffentliche Sektor allein dem privatkapitalistischen, koste, was es wolle, aus der Patsche helfen soll. Wenn die Staatsausgaben außer für die Bedienung der Schuldzinsen schneller als die Steuereinnahmen steigen, bedeutet das, dass die Zinsbelastung steigt, selbst wenn der Zinsfuß sehr niedrig ist. Bereits jetzt beläuft sich die Bedienung der Staatsschuld in den großen Volkswirtschaften auf 10 % der Steuereinkünfte. Regierungsausgaben nach keynesianischem Muster dürfen fehlenden Privatkonsum und ausbleibendes Investment also nur kurzzeitig ersetzen. Deshalb müssen sie irgendwann reduziert werden. Das Zahlungsdefizit der USA hat dazu geführt, dass, die Notenpresse anzuwerfen, auch dem Weltgeld US-Dollar in den letzten 30 Jahren 25 % Paritätseinbuße beschert hat.

Nach COVID-19 werden v. a. die Unternehmensschulden den Ausschlag geben. Die Krise startete mit einem Angebotsschock (Stillstand von Betrieben), gefolgt von einem Nachfrageabsturz (Haushalte schränkten ihre Zahlungen ein, Firmen ihre Investitionen). Doch ein drittes Damoklesschwert schwebt in der Luft: der Finanzcrash. Die Privat- und Firmenverschuldung war laut IWF bereits Ende 2019 hoch. In den letzten 2 Monaten hat die besorgniserregende Verschuldung in den USA um 161 % auf mehr als eine halbe Billion US-Dollar zugelegt. Im April konnten Firmen fällige 35,7 Mrd. US-Dollar für Anleihen und Kredite nicht aufbringen. 2020 überholten Konkursanträge bereits jetzt die in jedem ganzen Jahr seit 2009.

Steigende öffentliche Ausgaben und Defizite für Krisenprogramme werden nicht nur den Anteil unproduktiver Ausgaben auf Kosten öffentlicher Dienste und Investitionen steigern (mit der Folge von Sozialabbau), sondern auch den kapitalistischen Sektor in die Zwickmühle bringen, weil die drastische öffentliche Kreditnachfrage die private verteuern wird. Wenn Regierungen ihre Ausgaben durch Zentralbankgeld finanzieren, kehrt früher oder später das Inflationsgespenst zurück.

Zeigt das Beispiel Japans nicht das Gegenteil (Staatsschuld zu BIP: 250 %; Zentralbankanteil 75 %)? Die Geldmenge M2 steigt jährlich in den Volkswirtschaften um 25 %, aber die Preise steigen kaum. Das liegt daran, dass von diesem Geld kaum etwas für Konsum und Anlagen ausgegeben wird, sondern für Schuldrückzahlung, fiktives Kapital (Finanzanlagen) und gehortet wird. Die Inflation bleibt aus, weil kaum Neuwert geschaffen wird. Mit Aufhebung des Lockdowns werden Profite und Lohnzahlungen zunehmen. Aufgrund des Tiefstands der Profitrate wird das Wirtschaftswachstum schwach ausfallen. Pumpen die Notenbanken dann weiter Geld und Kredit in den Kreislauf, werden die Preise steigen. Roberts schätzt, auf 3-4 % – schlecht für Reallöhne, die schon unter der Krise gelitten haben. Das schiere Gewicht der Gesamtschuld wird den Aufschwung strangulieren, Inflation und Zinsfuß befeuern. Die Gefahr für Firmenzusammenbrüche, Finanzkrisen und Inflation steigt. Die Stagflation der 1970er Jahre wäre zurück.

Aussichten und Forderungen für Gegenwehr

Während der letzten Krise 2008/09 waren sich alle KapitalistInnen im ersten Akt (Bankenrettung) einig. Im zweiten traten Differenzen zwischen Geld- (v. a. Banken) und fungierendem Kapital (v. a. Industrie) zutage: letzteres bestand auf Lockerung der Kreditvergabe zu niedrigen Zinssätzen an seine Unternehmen. Im 3. Aufzug ging es um die Verhinderung einzelner Firmenbankrotte.

Während Opel gerettet werden konnte unter massiven Zugeständnissen der Belegschaft, ging der Handelskonzern Arcandor (Karstadt/Quelle) pleite. Im ersten Fall standen Gewerkschaften, Betriebsräte und bürgerliche ArbeiterInnenparteien (SPD, DIE LINKE) hinter Kapital und Regierung, im zweiten aufseiten der Industrie, im dritten auf der „ihrer“ Betriebe. Ganz allgemein brachen v. a. in Griechenland und Frankreich Klassenkämpfe gegen die Sparprogramme aus, als zur Tilgung der Staatsschuld von Keynesianismus wieder auf neoliberal umgeschaltet wurde.

Trotz der tiefen proletarischen Führungskrise traten in der BRD ab 2009 Antikrisenbündnisse auf den Plan, die später v. a. ihre Solidarität mit dem Kampf der griechischen ArbeiterInnenklasse zeigten, und es bildete sich 2013 die Neue antikapitalistische Organisation (NaO). Dies war ein bedeutsamer und richtiger Schritt vorwärts, der neben der radikalen Linken auch GewerkschafterInnen mobilisieren konnte. Heute zögert selbst die „radikale“ Linke bei der Bildung von Anti-Krisenbündnissen, trotz einzelner Ausnahmen. Das dürfte seine Ursache in der Niederlage dieser Klassenkämpfe haben, die strategisch negative Auswirkungen auf die europäische ArbeiterInnenbewegung mit sich trug, als auch in den Einschränkungen durch den Lockdown. Zu entschuldigen ist es nicht!

Wieder haben die ReformistInnen dem Kapital- und Regierungskurs nichts Nennenswertes entgegenzusetzen. Anja Piel (DGB-Bundesvorstand; im Neuen Deutschland, 23.6.2020) ist voll des Lobes für alle Regierungsmaßnahmen und zählt sogar das KurzarbeiterInnengeld dazu, als sei das ein Geschenk des Staats und kein Griff in die ArbeiterInnenkassen. Sie beklagt lediglich die Lockerung der Arbeitszeitregelungen. DIE LINKE erweist sich als linkskeynesianische Mustertruppe in ihrer Forderung nach Streichung der „Schwarzen Null“. Alle wollen nicht das Kapital für die von seinem System verursachte Krise zahlen lassen. Die Gewerkschaften bei der Lufthansa, allen voran UFO, schlagen sich auf die Seite des Chefs Spohr, obwohl der Staat für eine Summe von 9 Mrd. Euro, für die er die Airline zweimal hätte kaufen können, als stiller Teilhaber sich mit 20 % Stimmenanteil im Aufsichtsrat begnügt – ohne Garantien für Arbeitsplätze und Tarifstandards.

Hoffnung machen indes einzelne Beschäftigte, die auf den Protestaktionen die Verstaatlichung der Fluglinie forderten. Ebenfalls ist zu erwarten und wünschen, dass die Klassenkämpfe wie ab 2010 zunehmen und sich radikalisieren, wenn – wie wir aufzuzeigen versuchten – die Trias aus Firmenzusammenbrüchen, Finanzkrisen und Inflation ihr Medusenhaupt erhebt. Doch dazu müssen die extreme Linke und die VKG nicht abwarten, sondern handeln. In die Startlöcher! Antikrisenbündnis aufbauen und Solidarität mit den Beschäftigten von Galeria Karstadt-Kaufhof und Lufthansa inkl. Tochtergesellschaften schon jetzt zeigen, ohne ihre Illusionen in die Sozialpartnerschaft und ihre reformistischen Führungen zu teilen!

Dafür schlagen wir folgende Forderungen vor:

Wir zahlen nicht für Pandemie und Krise!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle! Fortzahlung der vollen Löhne statt KurzarbeiterInnengeld! Mindesteinkommen von 1.600 Euro für alle Arbeitslosen, RentnerInnen, Studierenden und Kranken!
  • Keine Milliardengeschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle!
  • Aufhebung aller Einschränkungen des Demonstrations-, Versammlungs- und Streikrechts! Rassismus und Faschismus entgegentreten – Selbstschutz aufbauen!
  • Unterstützung von Streiks und Kämpfen gegen Entlassungen, Lohnraub, Räumungen von Wohnraum! Internationale Solidarität statt Abschottung!



250 Jahre Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophischer Meister der Dialektik

Gerald Falke, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Mit Hegels Werk wird in der klassischen deutschen Philosophiegeschichte einerseits ihr krönender Höhepunkt verknüpft, andererseits eine durchwegs unverständliche Denkweise oder eine besonders gefährliche Ideologie. Gleichgültigkeit wollte sich seither hierzu in der Philosophie kaum jemand leisten. Was machen seine Lehren jetzt so faszinierend und revolutionär und weshalb wird ihnen eine so große Gefahr unterstellt?

Beispielsweise war für Schopenhauer die Philosophie Hegels der „widerwärtigste und unsinnigste Galimathias“ (verworrenes Gerede) mit „sinnleerstem Wortkram“. Dennoch wurden seine Lehren letztlich als Schulphilosophie aufgenommen, mit der sich das Bildungsbürger- und preußische Beamtentum gerne schmückte. Die preußische Regierung legte sie sogar ihrer Staatsauffassung zugrunde.

Er galt zwar als persönlich gesellig und humorvoll, aber bedächtig bis behäbig, als schwerfälliger, sich ständig räuspernder Redner und in langen, schwerflüssigen und unverständlichen Sätzen schreibend.

Hegel wurde 1770 in Stuttgart als Nachfahre protestantischer Auswanderer aus Kärnten und ältester Sohn eines Rentkammersekretärs geboren. Seine Erziehung war entsprechend protestantisch-pietistisch ausgerichtet. Bereits im Gymnasium beschäftigte er sich mit griechischen und römischen Klassikern. Im Tübinger Stift studierte er Philosophie und Theologie und musste danach zunächst in Bern und Frankfurt am Main eine Hauslehrerstelle annehmen. Durch eine Erbschaft von seinem Vater konnte er eine akademische Laufbahn beginnen und sich in Jena habilitieren. Nachdem er dann eine Rektorenstelle in Nürnberg annahm, übernahm er schließlich den philosophischen Lehrstuhl in Heidelberg und später als Nachfolger Fichtes in Berlin, wo ihm schließlich noch das Amt des Rektors der Universität übertragen wurde. 1831 starb er dort nach kurzer Krankheit.

Meinte er in jungen Jahren, dass trotz seiner von seinen Lehrkräften bemängelten philosophischen Begabung die Modulationsmöglichkeiten des schwäbischen Dialekts sich besonders gut für das Philosophieren eignen, beschrieb er später den Berliner Sand (Anspielung auf die als Streusandbüchse bezeichnete preußische Stammprovinz Brandenburg) als besonders empfänglich für die Philosophie.

Vom Impuls der Aufklärung

Als prägendes Ereignis wirkte sich auf ihn bereits zu Beginn seines Studiums aus, dass 1789 in Paris die Bastille erstürmt und der absolutistisch herrschende König und sein Hofadel entmachtet wurden. In der Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung auch in Deutschland ergriffen viele Gelehrte dafür Partei und im Tübinger Stift bildete sich ein politischer Kreis, der französische Zeitungen las und mit Hochstimmung diskutierte. Hegel trat hier besonders begeistert für Freiheit und Gleichheit ein, Hölderlin sorgte mit seiner dichterischen Begabung für eine schwungvolle Sprache und Schelling übersetzte die Marseillaise, das Revolutionslied der französischen Freiwilligenbataillone, ins Deutsche.

Von hier ausgehend interessierte er sich weiterhin für die politischen Verhältnisse und deren mögliche Verbesserungen. An Schelling schrieb er dazu, dass er die Theorie als Sturmbock zur Bewegung der Wirklichkeit verstehe. Und während seines Aufenthaltes in Jena begrüßte er freudig den Sieg der Franzosen in der dort stattgefundenen Schlacht von 1806 und beschrieb bei dieser Gelegenheit Napoleon ehrfurchtsvoll als „Weltseele“, obwohl er plündernde Soldaten in seiner Wohnung dulden musste.

Hegel blieb aber letztlich befangen in der Rückständigkeit Deutschlands und der entsprechend geringeren Wirksamkeit der Aufklärung. Indem hier die Klassenkämpfe des Bürgertums weniger ausgeprägt waren, die politische Opposition viel schwächer war und eine bürgerliche Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand, konnte die Ideologie der Aufklärung sogar noch dem kleinstaatlichen Feudalabsolutismus zweckdienlich werden.

Von der britischen und französischen Aufklärung trennte Hegel von Beginn an sein durchgängiger idealistischer Standpunkt, der den Geist als das allein Wirkliche auffasst. Und anstatt einer Überwindung der Religiosität sah er im lutheranischen Christentum die bisher höchste Entwicklungsstufe der Religion, die mithilfe der Philosophie in eine noch höhere Form zu bringen sei, welche dann so zur Grundlage der deutschen Freiheitsbewegung werden sollte. Zumindest erklärte er, dass das Göttliche kein äußeres und fremdes Wesen ist, sondern nur im und für den Geist der Menschen.

Idealistische Geschichts- und konformistische Staatsauffassung

In seiner Vorstellung von der geschichtlichen Entwicklung war er zunächst sehr inspiriert von der griechischen Philosophie. Die hierin entwickelte Dialektik bezog sich vor allem auf das dialogische Sprechen und wurde von Platon zu einer speziellen Form der Dialoggestaltung entwickelt, in der das Wesen in seinen Zusammenhängen erfasst und im Gespräch vermittelt werden kann. Dabei sollte mit der dialogischen Gesprächsentwicklung hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren die an sich als feststehend gedachte platonische Ideenwelt erreicht werden.

Hegel entdeckte hierbei, dass die philosophischen Dialoge bei Platon tatsächlich stattgefunden haben in der Entwicklung der Philosophiegeschichte, in der die PhilosophInnen immer wieder zu neuen Antworten fanden und damit sich sozusagen ein philosophischer Dialog über die gesamte Geschichte der Philosophie hinzieht. Im Unterschied zur platonischen Vorstellung einer unbeweglichen Wahrheit erkannte Hegel allerdings die Bewegung der Wahrheitsfindung in ihrer notwendigen Entwicklung. Damit konzentrierte sich die Philosophiegeschichte vor allem auf „die notwendige Bewegung der reinen Begriffe“ und damit um „das Erheben der Vernunft über die Beschränkungen des Verstandes“. In der Folge gelangte er letztlich zu nichts Geringerem als der Annahme einer Identität von Wirklichkeit und Geist, von Welt und Vernunft. „Die reine Wissenschaft …. enthält den Gedanken, insofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist.“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, S. 43, in: Hegel, Werke, Bd. 5, Suhrkamp, Frankfurt/Main)

Die Selbstentfaltung des Geistes entsprach für ihn somit einer Darstellung des gesamten Weltprozesses, der sich vom An-sich-Sein über ein Anders-Sein zum An-und-für-sich-Sein entwickelt. Die Entwicklung der Weltgeschichte ist für ihn dabei sinnvoll und zweckgerichtet – auf das Ziel der Vervollkommnung der Vernunft. Die nach ihren individuellen Zwecken handelnden Menschen darin sind lediglich Werkzeuge des Weltgeistes und dessen listiger Vernunft.

Dieser Weltgeist entwickelte sich demnach von den OrientalInnen über die GriechInnen und RömerInnen bis zu den GermanInnen und durchlief dabei eine Zunahme der Freiheit einzelner bis hin zur Freiheit aller im Geist der Deutschen – selbst wenn sich dieser nur im Willen eines einzelnen Monarchen ausdrückt.

Der ältere Hegel zeigte sich letztendlich als durchaus parteilich zugunsten des Königs. Als einstiger Kritiker Preußens wandelte er sich in einen rückhaltloser Unterstützer des preußischen Staats als Verkörperung der Vernunft – trotz des Polizeisystems und Denunziantentums bis hin zur Verfolgung von AufwieglerInnen.

Seine angenommene Identität von Vernunft und Wirklichkeit zeigte sich hier in einer besonders fatalen Form als bedingungsloses Vertrauen in den Staat als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“. Damit postulierte er die Grundlage für eine Theorie, die eigentlich vor der Wirklichkeit, die sie zu bewegen angetreten war, kapituliert hatte.

Hegels Staatsfetischismus bestimmt letztlich den Zweck des Lebens der Individuen als ihren Anteil am allgemeinen Staatsleben: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in der zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstheit hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein.“ (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 399, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1976)

Letztlich hoffte er auf eine geistige Erneuerung des deutschen Volkes und Staates nach dem Ideal der antiken Gemeinschaft in der griechischen Polis.

Bleibendes Verdienst der Dialektik

Die größten Verdienste gebühren Hegel sicherlich für die Ausarbeitung seiner „Wissenschaft der Logik“. Hierin erhält die Dialektik eine grundlegende und umfassende Bedeutung, die alle ihre Einschränkungen durch die Lehren von Aristoteles bis Kant schlichtweg beseitigt. Wenn beispielsweise die formale Logik das aristotelische Identitätsprinzip vorgibt, wonach ein A stets ein A ist und bleibt, dann stellt dies für Hegel nur eine langweilige Art von überflüssigem Wiederkäuen dar. Er hält dem entgegen: „Die Identität ist … an ihr selbst absolute Nichtidentität.“ (Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, S. 41)

Der zweiten logischen Grundregel, dem Widerspruchsprinzip, wonach A und Nicht-A nicht zugleich sein können, ergeht es bei Hegel nicht besser. Wenn ein Nicht-A nur auftaucht, um zu schwinden, wäre damit auch die gedankliche Beschäftigung damit bereits erledigt. Allerdings wäre ein System von Begriffen ohne den Weg der Negation nicht herstellbar. „Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen – und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist -, ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist …“. (Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, S. 49)

Den Hintergrund dieser Position erklärt er aus einer universellen Widersprüchlichkeit. „<Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend>, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen vielmehr die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke.“ (Hegel, Logik, Bd. 2, S. 74)

In Hegels Dialektik ist der Widerspruch sogar die wesentlichste Kategorie. „Es ist … eines der Grundvorurteile der bisherigen Logik und des gewöhnlichen Vorstellens, als ob der Widerspruch nicht eine so wesenhafte und immanente Bestimmung sei als die Identität; ja, wenn von Rangordnung die Rede und beide Bestimmungen als getrennte festzuhalten wären, so wäre der Widerspruch für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit.“ (Hegel, Logik, Bd. 2, S. 75)

Marx greift diesen Ansatz auf: „Die Selbstbejahung, Selbstbestätigung im Widerspruch mit sich selbst, sowohl mit dem Wissen als mit dem Wesen des Gegenstandes, ist … das wahre Wissen und Leben.“ (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW 40, S. 581)

Engels erläutert, dass wir auf keine Widersprüche stoßen, solange wir die Dinge als ruhende und leblose betrachten, jedes für sich, neben- und nacheinander. Allerdings zeigen sich die Widersprüche sofort, wenn sich die Dinge bewegen und verändern, lebendig werden und wechselseitig aufeinander einwirken. „Das Leben ist … ein in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandner, sich stets setzender und lösender Widerspruch; und sobald der Widerspruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod tritt ein.“ (Engels, Anti-Dühring, S. 112f., MEW 20)

Etwas pointierter formuliert es Lenin: „Erst auf die Spitze des Widerspruchs getrieben werden die Mannigfaltigkeiten regsam und lebendig gegeneinander – erhalten sie die Negativität, welche die innewohnende Pulsation der Selbstbewegung und Lebendigkeit ist.“ (Lenin, Konspekt zur „Wissenschaft der Logik“, S. 133, in: Lenin, Werke, Bd. 38)

Mit der Dialektik als Instrument der Erkenntnis ergaben sich vielfältige Möglichkeiten zum besseren Verständnis geschichtlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Zusammenhänge, die mit einem positivistischen Instrumentarium völlig verborgen geblieben wären. Das bekannteste Beispiel für eine vorbildliche Anwendung der dialektischen Methode wurden die Lehren von Marx.

Das Hegelsche Erbe

Wie zur Veranschaulichung der Hegelschen Geschichtslehre zerfiel seine Schülerschaft in eine Rechte mit den AlthegelianerInnen wie Göschel, Gabler, Rosenkranz und Gans und eine Linke mit den JunghegelianerInnen wie Köppen, Bauer, Marx und Engels.

Vor allem der abstrakte Charakter dieser Philosophie bewirkte verständlicherweise eine grundlegende Infragestellung. Feuerbach kritisierte Hegel sogar in einem Zuge mit der Theologie. „Die absolute Philosophie hat uns wohl das Jenseits der Theologie zum Diesseits gemacht, aber dafür hat sie uns das Diesseits der wirklichen Welt zum Jenseits gemacht.“ (Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Auswählte Schriften, Bd. 1, Ullstein, Frankfurt/Main 1985 )

Und die einzig akzeptable Form der Dialektik existierte für Feuerbach im Rahmen ihrer Ausgangsposition vor Platon. „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du.“ (Ebenda, S. 156)

Aus der Lehre Hegels und der Kritik Feuerbachs ergab sich jedoch auch die Möglichkeit einer Synthese, welche aus der abstrakten Logik ebenso wie aus ihrer materialistischen Kritik schöpft. Marx begann mit einer Würdigung: „Was die andern Philosophen taten ….., das weiß Hegel als das Tun der Philosophie. Darum ist seine Wissenschaft absolut.“ (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, S. 574f.)

Während Hegel sich mit dem „Volksgeist“ und der „Volksreligion“ auseinandersetzte, ergab sich für Marx allerdings die Frage nach dem „Klassenbewusstsein“ im Rahmen der die Geschichte letztlich entscheidenden Klassenkämpfe.

Marx übernahm zwar die Hegelsche Dialektik, aber sozusagen in umgekehrter Form. Um „den rationellen Kern in der mystischen Hülle“ erkenntlich zu machen, drehte Marx die auf dem Kopf stehende Dialektik Hegels um. „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ (Marx, Das Kapital Bd.1, S. 27, MEW 23)

Ähnlich sah Engels diese Umkehrung: „Wir faßten die Begriffe unsres Kopfs wieder materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs.“ (Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 292f.)

Und daraus folgt: „Damit wurde … die Begriffsdialektik selbst nur der bewußte Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt, und damit wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt.“ (Ebenda, S. 293)

Auf diese Weise grenzten sich Marx und Engels auch von den AlthegelianerInnen ab, die alles zu begreifen glaubten, sobald es auf eine logische Kategorie Hegels zurückgeführt werden konnte. Die materialistische Dialektik hingegen versteht sich als „die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.“ (Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 131f.)

Revisionistische Anti-Dialektik

Bezeichnenderweise bezog sich der im Rahmen der Zweiten Internationale formierende Reformismus nicht mehr auf Hegel als wesentlichen Vorbereiter der marxistischen Weltanschauung, sondern vorzugsweise auf Kant. Die dialektische Gesetzmäßigkeit Hegels erschien Bernstein, dem Wortführer dieser Strömung, als „schief“ und seine Widerspruchslogik als „spekulativ“, „täuschend“ und „gefährlich“. „Die logischen Purzelbäume des Hegelianismus schillern radikal und geistreich. Wie das Irrlicht, zeigt er uns in unbestimmten Umrissen jenseitige Prospekte. Sobald wir aber im Vertrauen auf ihn unseren Weg wählen, werden wir regelmäßig im Sumpfe landen. Was Marx und Engels Großes geleistet haben, haben sie nicht vermöge der hegelschen Dialektik, sondern trotz ihrer geleistet.“ (Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Göttingen 1984, S. 62)

Während der Reformismus sich entschieden von Hegel abwandte, setzte der revolutionäre Marxismus das dialektische Verständnis fort. Jenseits des idealistischen Verständnisses und der dogmatischen Inhalte im philosophischen System ist seine Dialektik eben seine revolutionäre Seite. Zum Ausdruck dieser unterschiedlichen Seiten bei Hegel beschrieb ihn Engels als „olympischen Zeus“ mit einem „deutschen Philisterzopf“.

Die im Rahmen der Dritten Internationale sich entwickelnde stalinistische Tradition hielt zwar scheinbar an der revolutionären Tradition fest, aber anstelle eines mehr als formalen Bezugs auf die dialektische Methode blühten hier meistens wieder Hegels Volksbezug und Staatsfetischismus auf. So bleibt der jeweilige Bezug auf Hegel weiterhin ein Indiz und Richtwert für die jeweilige philosophische Weltanschauung und die politische Gesinnung.




Lufthansa – Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle!

Stefan Katzer, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Dass die Rettung „ihres“ Konzerns tausenden Beschäftigten den Job kosten könnte, ist eine Erfahrung, die derzeit die KollegInnen der Lufthansa machen müssen. Ob irgendwer der 26.000 von Entlassung bedrohten Beschäftigten über diese bittere Ironie wird lachen können, ist stark zu bezweifeln. Stattdessen ist zu hoffen, dass sich die berechtigte Wut der Beschäftigten über diese Pläne in organisierten Widerstand wandelt.

„Die Beschäftigten können aufatmen“, heißt es hingegen bei der FAZ (25.06.), nachdem die AktionärInnen der Lufthansa Ende Juni für die Annahme des sogenannten Rettungspakets, d. h. der Beteiligung des Bundes am Konzern im Umfang von 9 Milliarden Euro, gestimmt haben. Dies soll den Konzern vor einer ansonsten drohenden Insolvenz bewahren. Doch wer profitiert wirklich von dieser Rettung – und welche Alternative gibt es dazu?

Ganz im Sinne der AktionärInnen

Der bereits vor der Corona-Pandemie durch die Konkurrenz von sog. Billigfliegern unter Druck geratene Konzern wurde durch den fast vollständigen Einbruch der Geschäfts- und Urlaubsreisen im Zuge der Krise hart getroffen. Die Aktienkurse brachen stark ein. Lufthansa ist seit Mitte Juni nicht mehr im DAX vertreten.

Die Leitung des Konzerns kündigte als Reaktion bereits an, nach der Krise nur mit verringerten Kapazitäten weitermachen zu wollen, und droht nun insgesamt 26.000 KollegInnen nicht nur in Deutschland mit Entlassung. Diese „signifikante Senkung der Personalkosten“ sei notwendig, um „die Chance eines besseren Re-Starts“ nicht zu verpassen, so Carsten Spohr, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Lufthansa AG, im reinsten KapitalistInnen-Deutsch. Kurzum: die Kosten der Krise sollen auch hier die Beschäftigten zahlen, denen der Verlust ihres Arbeitsplatzes droht – denn Ziel ist es, auch in Zukunft die Dividenden der AktionärInnen zu sichern.

Rund 9 Milliarden Euro pumpt der Staat in den Konzern. Er erhält dafür 20 % der Aktien plus 2 Wandelanleihen in Höhe von jeweils 5 %, kauft diese also um ein Vielfaches des aktuellen Marktwertes auf Kosten der SteuerzahlerInnen und der Beschäftigten. Dies wurde möglich, weil die Bundesregierung, trotz der zur Verfügung gestellten Steuergelder und entsprechender Forderungen aus den Gewerkschaften, die Staatshilfe an keinerlei Auflagen geknüpft hat, was die Sicherung von Arbeitsplätzen anbelangt. Ihr musste klar sein, was das für die Beschäftigten bedeutet.

Dem Bund geht es in diesem Zusammenhang auch gar nicht um die Sicherung von Arbeitsplätzen, sondern vor allem um die Rettung eines „Global Player“ in der Luftfahrtbranche, an dessen Fortexistenz ein längerfristiges strategisches Interesse des Staates als Sachwalter der Interessen des Gesamtkapitals besteht. Vorrangiges Ziel ist dabei der Erhalt eines Konzerns, dessen Zweck auch weiterhin darin liegt, Profit für seine EigentümerInnen/AktionärInnen abzuwerfen.

Auf Kosten der Beschäftigten

Das geht natürlich nicht ohne diejenigen, die diesen Profit erwirtschaften, die sogenannten Beschäftigten. Diese werden durch den nun vorgelegten Plan letztlich in zwei Lager gespalten, von denen die einen (unmittelbar) von Entlassungen bedroht sind, während die anderen hoffen können – vermutlich unter schlechteren Bedingungen – weiter für „ihren“ Konzern Profite erwirtschaften zu dürfen.

Die Profit bringende Ausbeutung desjenigen Teils der Belegschaft, der auch in Zukunft für den Konzern verwertbar bleibt, wird nun durch die Hilfen der Bundesregierung gesichert. Sie sollen dafür, dass sie weiter „mit“arbeiten dürfen, auf substanzielle Teile ihres Einkommens verzichten und schlechtere Arbeitsbedingungen hinnehmen. So sollen z. B. PilotInnen, natürlich nur „vorübergehend“, auf bis zu 45 % ihres Gehalts verzichten. Alle anderen sollen mit KurzarbeiterInnengeld und Entlassungen abgespeist werden. Die Einzigen, die sich über eine solche „Rettung“ somit wirklich freuen können, sind die Aktionärinnen und Aktionäre. In ihrem Interesse erfolgt diese Rettung.

Diese hatten bereits vor der außerordentlichen Hauptversammlung Druck aufgebaut, um ihre Interessen gegen die der Beschäftigten durchzusetzen. So hatte etwa der Großaktionär Thiele seine Anteile am Konzern zunächst auf 15 % erhöht, um anschließend in Verhandlungen sicherzustellen, dass der Bund der Umstrukturierung des Konzerns nicht im Wege stehen würde. Er befürchtete, dass der Bund trotz des Versprechens, sich nicht in die Politik des Unternehmens einzumischen, am Ende doch seine Stimme gegen Massenentlassungen erheben würde. Letztlich stimmte Thiele dem Paket zu. Man scheint sich geeinigt zu haben.

Die Alternative – im Sinne der Beschäftigten

Die Alternative zu dieser Rettung besteht nun aber nicht darin, die Lufthansa einfach pleitegehen zu lassen und damit die Beschäftigten in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Was es stattdessen braucht, ist eine Strategie, die die unmittelbaren Interessen der Beschäftigten mit der Perspektive einer planvollen Umstrukturierung des gesamten Verkehrssektors verbindet.

Die Beschäftigten und mit ihnen solidarische ArbeiterInnen sollten deshalb für die entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung des Konzerns unter Kontrolle der Belegschaft kämpfen. Dies würde nicht nur die Sicherung der Arbeitsplätze und damit der Einkommen ermöglichen, sondern auch eine Umstrukturierung des Konzerns und des Verkehrssektors insgesamt hin zu nachhaltigen Formen der Mobilität im Interesse der Beschäftigten. Dabei muss es letztlich um den durch die ArbeiterInnen selbst kontrollierten Umbau dieses Sektors gehen. Neben der Ersetzung von Kurzstreckenflügen geht es dabei auch um den Ausstieg aus dem Individualverkehr im Zusammenhang mit dem Ausbau eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs.

Diese Umwandlung kann nur erreicht werden, wenn die in diesen Sektoren Beschäftigten dafür gewonnen werden und eine tragende Rolle bei diesem Umbau spielen. Dies muss im Zusammenhang mit einem Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Kontrolle der ArbeiterInnen gegen den Widerstand der Herrschenden erkämpft werden. Denn denen geht es weder um die Rettung von Arbeitsplätzen noch um die der Umwelt, sondern einzig um die ihrer Profite.

Es ist klar, dass dies nicht durch die Beschäftigten der Lufthansa allein geleistet werden kann, sondern dass hierfür breite gewerkschaftliche Mobilisierungen, Streiks und eine politische Strategie notwendig sind. Dabei zeichnet sich bereits jetzt ab, dass Massenentlassungen auch bei anderen Konzernen anstehen, etwa bei Boeing und Airbus.

Es braucht daher dringend ein Programm, das die nun anstehenden Kämpfe verbindet, vereinheitlicht und über den Rahmen des bestehenden kapitalistischen Systems hinausweist. Denn es ist umgekehrt auch klar – und die Erfahrung im Zusammenhang mit der „Rettung“ der Lufthansa zeigt es erneut -, dass alle „Anti-Krisenmaßnahmen“ im bestehenden kapitalistischen System vor allem und vorrangig den KapitalistInnen, AktionärInnen usw. nutzen und auf Kosten der ArbeiterInnen gehen.

Perspektivisch und für die gesamte ArbeiterInnenklasse geht es jetzt also darum, nicht nur solidarisch an der Seite der KollegInnen gegen die angedrohten Entlassungen zu kämpfen, sondern auch für den dringend notwendigen ökologischen Umbau des Verkehrssektors unter ihrer Kontrolle im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher Arbeiten. Um diese Alternative zu erkämpfen, genügen aber keine Bitten an die Regierung, sondern (gesamtgewerkschaftliche) Solidarität, Kampf- und Streikbereitschaft sowie ein konsequentes politisches Programm im Interesse der gesamten, internationalen ArbeiterInnenklasse.

Dies bedeutet aber auch, in den Gewerkschaften wie ver.di, Cockpit, UFO für eine Politik des Klassenkampfes einzutreten – und endlich damit aufzuhören, die jetzt beschlossenen Pläne als „alternativlos“ zu bezeichnen. Das „Krisen- und Absicherungspaket“, auf das sich UFO und Konzern am 25. Juni geeinigt haben, verspricht 22.000 FlugbegleiterInnen zwar Kündigungsschutz – allerdings im Gegenzug zu einem Einkommensverzicht von einer halben Milliarde Euro im Lauf der kommenden vier Jahre. Die Erfahrungen der letzten Zeit zeigen, dass dieser oft nur das Vorspiel für weitere Einschnitte und Entsolidarisierung ist.

Es kann nicht darum gehen, Kürzungen oder Entlassungen „sozialverträglich“ durch Verhandlungen eines sog. Sozialplans zu begleiten. Statt „Opfer“ für die Rettung eines Konzerns zu bringen, der ihnen nicht gehört, müssen die Gewerkschaften jede Kürzung, jede Entlassung bekämpfen. Verhandlungen über Sozialpläne, abgefederte Massenentlassungen und Kürzungen müssen gestoppt werden – es darf keine Verhandlungen hinter dem Rücken und ohne volle Transparenz gegenüber den Belegschaften geben.

Versammlungen und Aktion

Im gesamten Lufthansa-Konzern und all seinen Tochtergesellschaften wäre es dringend notwendig, Belegschaftsversammlungen einzuberufen – nicht nur um die Belegschaft zu informieren, sondern um Kampfmaßnahmen zu diskutieren und einen Vollstreik der Beschäftigten aller Berufsgruppen und Gewerkschaften in Deutschland und weltweit vorzubereiten. Auf den Versammlungen sollten daher der Belegschaft verantwortliche Kampf- und Aktionskomitees gebildet werden. Nur so können die Sanierungspläne auf Kosten der Beschäftigten und der Gesellschaft gestoppt und die notwendige Solidarität im Kampf geschaffen werden, um die entschädigungslose Verstaatlichung des Konzerns unter ArbeiterInnenkontrolle durchzusetzen und einen Schritt zum ökologischen Umbau des Verkehrssystems zu machen.

Der Lage bei der Lufthansa spitzt sich zu. Massenentlassungen wie diese drohen in großen Bereichen. Um diese zu stoppen, müssen wir nicht nur einen gewerkschaftlichen und betrieblichen Abwehrkampf führen, wir müssen diesen mit dem Aufbau einer gesellschaftlichen Bewegung, einer Anti-Krisenbewegung verbinden. Der Kampf gegen Massenentlassungen und für die Verstaatlichung von Unternehmen, die damit drohen, wirklich oder vorgeblich vor der Pleite stehen, wird eine Schlüsselrolle spielen, wenn wir die Abwälzung der Krisenkosten auf die Lohnabhängigen stoppen wollen.




Programm: Verstaatlichung – aber richtig!

Karl Kloß/Jürgen Roth, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Gegenwärtig erleben wir einen weltweiten wirtschaftlichen Absturz, der durch die Corona-Pandemie noch verschlimmert wurde. Logische Konsequenz aus kapitalistischer Sicht: Kurzarbeit und Entlassungen. Die gegenwärtige Krise rückt auch – außer Konjunkturprogrammen – wieder Verstaatlichungsmaßnahmen in den Fokus der Öffentlichkeit, sofern es sich um fürs Gesamtkapital strategische Betriebe handelt (Lufthansa).

Wenn der bürgerliche Staat eingreift

Im Fall der Lufthansa hat der Staat einen Teil des Unternehmens übernommen, allerdings ist dies nur eine „stille Teilhabe“. Das bedeutet, dass die wichtigen Entscheidungen nach wie vor das Management und die AktionärInnen treffen. Und natürlich haben im Fall der Lufthansa AG genauso wie bei diversen Konzernen im Gesundheitswesen oder im Immobiliensektor die KleinanlegerInnen letztlich nichts zu entscheiden, sondern es sind GroßaktionärInnen und AnlegerInnen sowie verschiedene Fondsgesellschaften und Banken. Diese bestimmen selbst noch über die Konditionen einer kapitalistischen Verstaatlichung wesentlich mit. Im Fall der Lufthansa und ihrer Tochtergesellschaften sehen diese Entlassungen und Lohneinbußen vor.

Doch die bürgerlichen Mechanismen der Staatshilfe, nämlich Steuergeld investieren, um einen Teil des strauchelnden Unternehmens zu übernehmen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten, lehnen wir ab. Eine Verstaatlichung unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet außerdem in der Regel, dass damit eine Entschädigung für die vorherigen BesitzerInnen verbunden ist. Oft genug werden solche durchgeführt, um das Unternehmen, also das darin vergegenständlichte Kapital, mit Staatsknete zu retten und dann wieder zu privatisieren. Diese Problematik besteht erst recht bei teilweisen Verstaatlichungen wie im obigen Fall der Lufthansa. Man muss also nicht nur betrachten, was mit dem Geld passiert, sondern auch, wer am Ende die Kontrolle über einen solchen Konzern faktisch ausübt.

Verstaatlichung und Enteignung

Neben anderen Teil- und Übergangsforderungen gegen Krise und Arbeitslosigkeit wie Arbeitszeitverkürzung und Verteilung der Arbeit auf alle bei vollem Lohnausgleich, Offenlegung der Bilanzen durch ArbeiterInneninspektionen unter Hinzuziehung von ExpertInnen ihres Vertrauens spielt auch die nach entschädigungsloser Enteignung durch den bürgerlichen Staat unter ArbeiterInnenkontrolle spätestens dann eine unverzichtbare Rolle, wenn Betriebe entlassen oder bankrottgehen.

Schon Trotzki formulierte es 1938 im Übergangsprogramm folgendermaßen: „Das sozialistische Programm der Enteignung – das heißt des politischen Sturzes der Bourgeoisie und der Aufhebung ihrer wirtschaftlichen Herrschaft – darf uns in der gegenwärtigen Übergangsperiode auf keinen Fall daran hindern, gegebenenfalls die Enteignung einiger Industriezweige, die für die nationale Existenz lebenswichtig sind, oder der parasitärsten Gruppen der Bourgeoisie zu fordern … Der Unterschied zwischen diesen Forderungen und der verwaschenen reformistischen Losung der ,Verstaatlichung‘ besteht darin, daß wir: 1. eine Entschädigung ablehnen; … 3. die Massen dazu aufrufen, nur auf ihre eigene revolutionäre Kraft zu vertrauen; 4. die Frage der Enteignung mit der Frage der Arbeiter- und Bauernmacht verbinden.“ (Essen 1997, S. 95f.)

In der Formulierung von denjenigen Teilen der Bourgeoisie, die am parasitärsten und für die herrschende Klasse am wichtigsten sind, um ihre Herrschaft zu erhalten, geht es im Prinzip um den Bankensektor und dessen Enteignung und Zusammenfassung in einer einheitlichen, zentralisierten Staatsbank. Denn das wichtigste Instrument für die KapitalistInnen ist der Kredit, um über ausreichend Kapital zu verfügen, damit man noch produzieren kann.

An der Forderung nach entschädigungsloser Verstaatlichung einzelner Kapitalgruppen wird ersichtlich, warum die Losung der Enteignung nicht nur einen rein propagandistischen Zweck hat: Die einzelnen Sektoren und Betriebe der Wirtschaft sind unterschiedlich weit entwickelt, haben dadurch einen unterschiedlichen Einfluss auf einzelne Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens und unterschiedliche Stadien im Klassenkampf durchlaufen. Nur ein allgemeiner Anstieg des revolutionären Aufschwungs, d. h. eine Zuspitzung von Klassenkampfsituationen, kann die allgemeine Losung der Enteignung der gesamten Bourgeoisie auf die Tagesordnung setzen. Dies stellt auch einen Teil des Übergangs von der kapitalistischen hin zur sozialistischen Gesellschaft dar. Der entscheidende Punkt bei der Enteignungsfrage ist, dass dieser Schritt (die Enteignung), damit vollzogen wird, dass die vorherigen BesitzerInnen nicht entschädigt werden sollen! Wer für die Entschädigung aufkommen soll, ist aus Sicht der KapitalistInnen klar: die Beschäftigten durch Lohnverzicht bzw. Lohneinbußen unter den neuen EigentümerInnen sowie die ArbeiterInnenklasse durch Steuergelder oder höhere Abgaben und Monopolpreise (wie bei der EGG-Umlage oder den privaten Strompreisen).

ArbeiterInnenkontrolle

Außerdem geht es bei dieser Forderung auch um die Frage, wer die Kontrolle über ein verstaatlichtes Unternehmen ausübt. Auf jeden Fall hat die ArbeiterInnenklasse wenig bis gar keine Kontrolle über das Unternehmen. Die Antwort auf die beschriebenen Szenarien der Übernahme unter kapitalistischen Bedingungen kann daher nur darin liegen, die Unternehmen, die entlassen wollen, entschädigungslos zu enteignen und sie unter die Kontrolle der ArbeiterInnenklasse zu stellen. Denn nur die ArbeiterInnen in den Unternehmen und als KonsumentInnen und NutzerInnen wissen am besten, was die Bedürfnisse der Klasse sind, und können diese entsprechend durch gewählte Kontrollkomitees, welche jederzeit wähl- und abwählbar sowie der Klasse gegenüber rechenschaftspflichtig sind, im Produktionsprozess berücksichtigen. Die Aufrechterhaltung des direkten Gewaltapparats des kapitalistischen Staates oder dessen Übernahme lehnen wir hingegen ab. Es gilt ihn zu zerschlagen.

Im Prinzip ist unsere Herangehensweise an Verstaatlichungen schon von Friedrich Engels vorgezeichnet: „Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum, hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf…Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung.“ („Anti-Dühring“, in: MEW 20, S. 260)

Der Sturz des tatsächlichen Gesamtkapitalisten erleichtert den Aufbau des Sozialismus, insofern der Akt der Inbesitznahme der individuellen kapitalistischen Produktionsmittel durch den ArbeiterInnenstaat, ihre entschädigungslose Verstaatlichung, entfiele.

Kampfbedingungen

Die Verstaatlichung verbessert allgemein die Kampfbedingungen der ArbeiterInnenklasse. Der Staat hat die Tendenz zur Vereinheitlichung und Zentralisierung von Arbeitsbedingungen, Tarifen und Betriebsgrößen. Dies ist für die Aufhebung von Klassenzersplitterung in Bewusstsein und Organisation dienlich und erleichtert auch die Durchsetzung eines einheitlicheren Arbeitsrechts. Es trägt zur Proletarisierung von aristokratisierten Schichten und zur Isolierung des elitären Berufsbeamtentums bei.

Die Enteignung einzelner Unternehmen verstärkt den Druck zur Verstaatlichung auf nichtstaatliche Bereiche. Sie ist insbesondere bei bankrottgegangenen Großbetrieben gesellschaftlich notwendiger Art zu fordern, bei gesellschaftlich unnützen (Rüstung, Individualverkehr, fossile und Kernspaltungsenergien …) mit Umstellung auf nützliche Produktion zu verknüpfen. Betriebe, die Teile ihrer Belegschaft entlassen, sind sofort und entschädigungslos zu enteignen. Die Verstaatlichung von Grund und Boden fördert Nutzplanung und entzieht der Spekulation den Nährboden.

Außerdem erleichtert die Verstaatlichung die Möglichkeit zu flächendeckender und wirksamer ArbeiterInnenkontrolle. Die Einsichtnahme in institutionelle Vorgänge kann nicht mit dem Hinweis auf privatrechtliches Geschäftsgeheimnis verwehrt werden. Sie erschwert außerdem betrügerischen Konkurs zum existenziellen Nachteil der Beschäftigten und erleichtert die Einführung eines einheitlichen transparenten Rechnungswesens und von einheitlichen Produktionsnormen.

Schließlich schärft sie das Bewusstsein, Illusionen über die angebliche Verbilligung von Produkten und Dienstleistungen durch Mehrung „freier“ privater Konkurrenz entgegentreten zu können, und ermöglicht Einsichtnahme und (bei ArbeiterInnenkontrolle) Einübung in das Führen eines Betriebes unter ArbeiterInnenregie (Schule der Planwirtschaft). Sie fördert unter dieser Bedingung das Verständnis für branchenübergreifende Zusammenhänge und für die Notwendigkeit zur Ausarbeitung eines gesellschaftlichen Plans.

Außerdem kann sie die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Produktionsprozess durch ein Programm von gesellschaftlich sinnvollen Arbeiten (ohne Zwang, ohne schlechteren Lohn) anbahnen und setzt einen Hebel zur Aufhebung der Teilung in Hand- und Kopfarbeit.

Eine solcherart verstandene Verstaatlichung lässt die StaatsvertreterInnen als unmittelbare GegnerInnen erscheinen. Bei Konflikten kann er nicht als „neutraler Schlichter“ zwischen rein ökonomischen Tarifparteien auftreten. Sie erhöht die Wirksamkeit und Strahlkraft von Kampfmaßnahmen der ArbeiterInnen, v. a. wenn Schlüsselindustrien wie Energie, Verkehr, Kommunikation betroffen sind, und hebt sie auf eine politische Ebene.

All diese Vorzüge sind natürlich relativ und entfalten ihre Wirkung nur, wenn die Verstaatlichung nicht als solche als Lösung des Problems betrachtet wird, sondern als Schritt, den Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung zuzuspitzen, als Schritt zur Enteignung der gesamten KapitalistInnenklasse und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft, was ihrerseits nur durch die Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse möglich wird.

Forderungen an die ReformistInnen

Noch glaubt die überwältigende Mehrzahl der organisierten Lohnabhängigen den sozialverräterischen Führungen der Gewerkschaften, Betriebsräte, SPD und Linkspartei. Wir müssen sie auffordern: Sie sollen den Tarifkampf für die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich endlich wieder aufnehmen, ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten ausnutzen, also gegen jede Entlassung stimmen, die Bilanzen vor den Augen derjenigen, die sie zu vertreten beanspruchen, offenlegen und gegen Subventionen fürs Kapital eintreten (Konjunkturprogramme, Lufthansa).

Stattdessen müssen sie für die Verstaatlichung ohne Abfindung notleidender und solcher Betriebe, die entlassen, eintreten. Wir fordern, dass sie für einen Plan gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten mobilisieren, bezahlt aus Unternehmensgewinnen. Gleichzeitig warnen wir ihre Basis vor Passivität und Vertrauen. Doch nur so können diese ArbeiterbürokratInnen zum Handeln gebracht werden und unter Druck der einfachen Lohnabhängigen geraten. Deren fortschrittlichste Bestandteile werden im sehr wahrscheinlichen Fall der Enttäuschung ihres Vertrauens in diese „Kräfte“ beginnen, nach einer Alternative zu suchen, die im eigenständigen Kampf liegt, und so den Pfad dieser Übergangsforderungen, den Weg zu einer revolutionären Partei und zum Sozialismus leichter finden, als wenn man die ReformistInnen aus ihrer Verantwortung ließe.




Militarismus – Wettrüsten als Krisenlösung

Baltasar Luchs, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Am Ende des Kalten Krieges wurde eine Zeit andauernden Friedens und Wohlstands versprochen. Die Kriege in Syrien, Afghanistan, Jemen und Libyen – um nur einige zu nennen – sprechen freilich eine andere Sprache. Wie kann es sein, dass sich das militärische Potential in einer Periode „freien Wirtschaftens“ so nach oben entwickelt? Wie will man auf die akuten Probleme wie Umweltzerstörung, Hunger, Wasserknappheit, Armut und Seuchen reagieren?

Entwicklung seit 1990

Bei den Summen, die für Rüstung ausgegeben werden, kann man sich fragen, wieviel Geld oder gesellschaftliche Arbeit für die Bekämpfung dieser Probleme bereitstünde. Im April 2020 veröffentlichte das Friedensforschungsinstitut SIPRI seinen jährlichen Bericht zu den weltweiten Rüstungsentwicklungen. Die Zahlen beruhen auf offiziellen Angaben, demnach könnten versteckte Ausgaben hinzukommen. Die Auflistung ist unterteilt nach Regionen und zeigt eine Abnahme der Gesamtausgaben für Rüstung mit Ende des Kalten Krieges 1990 bis ca. zum Jahr 2000. Danach ist eine deutliche Tendenz nach oben zu sehen: Mit knapp 2 Billionen US-Dollar sind die Ausgaben höher als 1988.

Eine Übersicht nach Nationen unterteilt, zeichnet ein genaueres Bild dieser Entwicklung. Aufgeführt sind die 10 größten Militärhaushalte. Wie zu erwarten, führt die USA mit 732 Milliarden US-Dollar, an zweiter Stelle folgt China 261 Milliarden US-Dollar, dann Indien mit 71,1 Milliarden US-Dollar usw. Die Abstände der Ausgaben zueinander verringern sich dann deutlich. Die Ausgaben der 9 auf die USA folgenden Staaten liegen mit in der Summe 698,7 Milliarden US-Dollar noch unter den US-Ausgaben. Die Entwicklung zum Jahr 2018 wird in Prozent betrachtet, auch hier geht der Trend nach oben. Bezeichnenderweise steht Deutschland mit 10 % weltweit an erster Stelle. Ausreißer nach unten ist Saudi-Arabien mit -16 %: Dies lässt sich durch die aufgrund der Wirtschaftskrise gefallenen Öl- und Gaspreise erklären und den kostspieligen Bürgerkrieg im Jemen.

Weiter fällt auf, dass nur die führenden imperialistischen Nationen oder starke Regionalmächte (Indien, Südkorea, Saudi-Arabien) in den Top 10 vertreten sind. Gleiches gilt für die führenden RüstungsexporteurInnen. Das ist einerseits nicht verwunderlich, andererseits aber ein wichtiges Charakteristikum für die Bewertung ihrer politischen Interessen: Wirtschaftlicher Erfolg und militärische Stärke weisen einen Zusammenhang auf. Umgekehrt dominieren die wirtschaftlich schwächeren Länder die Auflistung der Waffenimporte, zumeist Länder aus dem sog. Nahen Osten. Nicht zuletzt ist der Rüstungssektor aber auch ein Wirtschaftsfaktor, an dessen Wachstum jede der Industrienationen ihren Anteil haben will.

Von der Verteidigungs- zur Einsatzarmee

Der steile Anstieg der deutschen Militärausgaben kommt nicht von ungefähr, sondern ist mit dem aktuell hohen Druck der USA verbunden, die NATO-Vorgabe von 2 % des BIP einzuhalten. Wurden 2019 noch 1,36 % des deutschen BIP ausgegeben, dürfte sich dies laut einer Schätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im laufenden Jahr auf 1,58 % erhöhen. Geplant ist, die Einhaltung der 2 %-Marke bereits 2024 zu erreichen. In Zahlen ausgedrückt sind für dieses Jahr Ausgaben in Höhe von 50,4 Milliarden Euro vorgesehen.

Diese Steigerung hängt jedoch nicht von NATO-Vorgaben allein ab, ja in gewisser Weise stellen diese eine ideologische Rechtfertigung dar, die von einer grundlegenderen Ursache ablenken sollen, der strategischen Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik und damit auch des Agierens des deutschen Imperialismus. Die Bundeswehr wurde 1955 ganz im Zeichen des Kalten Krieges als Verteidigungsarmee gegründet. Damals, wie auch heute, war die strategisch wichtige Lage im Herzen Europas von großer Bedeutung. Heute noch besitzt Deutschland hohe Attraktivität als Drehscheibe für die amerikanischen Lufttransporte von SoldatInnen und Kriegsgerät sowie die Koordinierung der Drohnenoperationen (Ramstein), das größte Lazarett außerhalb der USA (Ramstein) und, nicht zuletzt, die günstige Lage an der Westflanke Russlands.

Mit dem Einsatz im Kosovo 1999 nahm die Bundeswehr erstmals offen an einem Angriffskrieg teil. Logistisch, materiell und politisch-ideologisch unterstützt wurden westliche militärische Operationen natürlich schon seit Beginn des Kalten Krieges. Unter dem Deckmantel des Schutzes der Menschenrechte wurde das Grundgesetz aufgeweicht, welches der Armee reinen Verteidigungscharakter zuspricht. Natürlich war auch das im Kalten Krieg im Grunde eine Farce, da die „Verteidigung“ nichts anderes darstellte als die Aufrüstung gegen den Systemgegner Sowjetunion und den Warschauer Pakt im Rahmen der NATO-Strategie. Entscheidend ist jedoch, dass nun der Boden für die „Verteidigung“ Deutschlands bei Auslandseinsätzen rechtlich und ideologisch bereitet wurde.

Musste 2010 der damalige Bundespräsident Horst Köhler noch zurücktreten, als er den Einsatz deutscher SoldatInnen in Afghanistan mit wirtschaftlichen Interessen in Verbindung brachte, wird im Weißbuch der Bundeswehr 2016 ganz offen davon gesprochen:

Unsere sicherheitspolitischen Interessen werden zudem maßgeblich bestimmt durch unsere geographische Lage in der Mitte Europas und die Mitgliedschaft in der EU, unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Handelsabhängigkeit, unsere Bereitschaft zu verantwortungsbewusstem Engagement sowie das Friedensgebot nach Artikel 26 des Grundgesetzes […] Wohlstand unserer Bürgerinnen und Bürger durch Prosperität unserer Wirtschaft und freien sowie ungehinderten Welthandel.“

Diese Sätze fassen die Umstrukturierung in Worte: Die Bundeswehr wird von einer Verteidigungs- zu einer Einsatzarmee umgewandelt. Den Anforderungen des zunehmenden Umfangs der Auslandseinsätze begegnete man 2011 mit der Aussetzung der Wehrpflicht, um länger verpflichtete und besser ausgebildete SoldatInnen zu unterhalten. Wurden 2011 noch ca. 163.000 Euro pro SoldatIn ausgegeben, waren es 2019 bereits rund 242.000 Euro, obwohl sich gleichzeitig die Truppenstärke um ca. 20.000 verringert hat. Um den Nachschub an RekrutInnen zu decken, wurde von 2012 bis 2019 der Werbeetat von 16 Mio. Euro auf 34,5 Mio. Euro erhöht.

Deutliche Präsenz auf Jobmessen sollen das Militär als sicheren Arbeit„geber“ darstellen. Mit dem Versprechen von Abenteuern werben zahlreiche Youtube-Serien wie „Mali“, oder „KSK“. Auf Stellwänden, in Printmedien und Online-Werbung wirkt man in die Öffentlichkeit mit dem „humanitären Charakter“ der Einsätze. Wie auch in der Industrie klagt man über die BewerberInnenzahlen, speziell von Fachkräften. Aber angesichts einer aufkommenden Weltwirtschaftskrise ist die Perspektive, überhaupt einen Job zu haben, durchaus verlockend. Bei der jüngeren Zielgruppe verfängt diese Werbung stark: 2011–2019 gab es mehr als 13.000 SoldatInnen unter 18 Jahren, 2018 sogar 10 % der RekrutInnen. Dabei handelt es sich sogar nach UN-Einschätzung um KindersoldatInnen.

Mehrere Skandale um rechte Netzwerke zeigen dabei, wie es in der Truppe bestellt ist. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) spielt jeden neuen Vorfall als Einzelvorkommnis runter. Nach dem offenen Brief eines Mitglieds des Kommandos Spezialkräfte (KSK) war dies jedoch nicht mehr möglich und man beteuerte vordergründig, Konsequenzen zu ziehen. Dass sich innerhalb der Armee, speziell ihrer Eliteeinheiten, der Reservetruppen und Teilen der Polizei solche Fälle häufen, ist nicht nur für die linke als Bewegung ein Problem. Dass neben Todeslisten politischer GegnerInnen (Linkspartei, AntifaschistInnen, GewerkschafterInnen) auch die Grünen, SPD und Teile der CDU/CSU als Feindinnen angesehen werden, stellt die Führungsebene und die Bundesregierung vor ein größeres Problem, als sie lange nach außen zuzugeben bereit war. Mehrere dieser Gruppen bereiten sich auf einen Bürgerkrieg vor.

Die Enthüllungen über die tief sitzenden rassistischen und faschistoiden Tendenzen bei Spezialkräften konnten schließlich nicht mehr als „Einzelfälle“ einer ansonsten sauberen Truppe abgetan werden. Das KSK könne, so Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, „nicht in seiner jetzigen Verfassung bestehen“ bleiben. Eine Kompanie wurde aufgelöst, das KSK selbst soll grundlegend „umstrukturiert“ werden. Das hat mehrere Gründe. Erstens will auch die deutsche Bourgeoisie heute keine Armee, in der sich mehr und mehr wild gewordene KleinbürgerInnen tummeln. Der Faschismus stellt eben nur eine letzte Reserve für sie dar, aktuell setzt sie aber auf eine „demokratische“ und „humanitäre“ Rechtfertigung erhöhter militärischer Interventionsfähigkeit – und kann solche „Skandale nicht gebrauchen. Daher auch der Eifer der Regierung bei der „Säuberung“ des Kommandos – ein Eifer freilich, der vor allem dazu dienen soll, das KSK zu retten und damit auch den Aufrüstungskurs der Bundeswehr.

Die höheren Militärausgaben fließen natürlich nicht nur in bessere Ausbildung der Truppe. Die Geschwindigkeit, mit der man veraltete Waffentechnik ersetzt oder gänzlich neue Systeme anschafft, sollte einen bereits in Alarmbereitschaft versetzen. Die bekanntesten Projekte sind Eurofighter und Tiger-Helikopter, aber auch aktuellere wie das Transportflugzeug A400M, der Schützenpanzer Puma, Radpanzer Boxer, der neue Fregattentyp F125 oder das TLVS-Luftabwehrsystem. Die Erneuerungen betreffen Marine, Luftwaffe und Heer.

Mit dem Wunsch nach einer bewaffneten Drohne für „Verteidigungszwecke“ fließen die Erfahrungen, welche die USA in Afghanistan und Syrien gemacht haben, in das neue Waffenkonzept ein. Diese Technologie verdeutlicht den Willen nach taktischer und damit auch strategischer Neuausrichtung: Zu jeder Zeit an jedem Ort kann ein Angriff durchgeführt werden. Dass der Drohnenkrieg jegliche Hemmungen und Kontrolle über Bord wirft, beweisen zahlreiche Beispiele von Angriffen auf Familienfeiern oder der völkerrechtswidrige Mord am iranischen Kommandeur Soleimani in Bagdad. Die Spitze dieser Rüstungsspirale drückte sich jedoch in der Debatte um die F-18-Kampfflugzeuge aus: Deren Fähigkeit, mit Atomwaffen ausgerüstet zu werden, soll das Potential taktischer Atomwaffen in greifbare Nähe rücken. Dies wird mit „nuklearer Teilhabe“ beschönigt.

Das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr haben sich dabei auch zum Gespött gemacht: Flugzeuge, die nicht abheben können, Eurofighter, die nur als Ersatzteillager herhalten, und Panzer, die wie eine einzige Pannenserie erscheinen. Davon darf man sich jedoch nicht täuschen lassen. Einerseits vermitteln solche Schlagzeilen der Öffentlichkeit, man bräuchte mehr finanzielle Mittel. Und andererseits baut der militärische Bereich gerade Expertise auf, die jahrelang brachlag. Dass dies mit Fehlern einhergeht, gehört dazu. Dass der militärische Bereich aus jedem dieser Fehler lernt, sollte einem klar sein. Wer dies außer Acht lässt, verkennt die Entschlossenheit des deutschen Kaptals, wieder auf Weltebene mitzuspielen.

Im Namen der Demokratie: Die ganze Welt als Einsatzgebiet

Die unter dem humanitären Deckmantel stattfindenden Einsätze dienen den politischen Zielen. Zurzeit ist man mit 4.000 SoldatInnen auf 12 verschiedene Missionen verteilt (Stand Nov. 2019). In Afghanistan findet seit 2001 der „Krieg gegen den Terror“ statt. Bereits 2010 sprach der damalige Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte dieser Weltregion (ISAF), General David Petraeus, von vermuteten Bodenschätzen im Wert von geschätzt 1 Billionen US-Dollar dort: Seltene Erden, Kupfer und Edelmetalle. Mittlerweile geht man von bis zu 3 Billionen US-Dollar aus. Verteidigungsminister Peter Struck sagte 2002: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Es sind also die zukünftigen Rohstoffquellen, deren „Sicherheit“ mit 1.250 SoldatInnen unterstützt wird.

In Syrien, Jordanien und im Irak ist man mit 700 SoldatInnen vertreten. Auch hier winken Rohstoffe wie etwa Öl und Gas, aber es geht auch um die Stabilisierung einer Region, aus der Millionen von Menschen in die Flucht getrieben wurden. Gleiches gilt für Mali (1.550) und die Westsahara (109). Die Bundesregierung macht aber kein Hehl daraus, eher die Flüchtlinge zu stoppen, als die Ursachen ihrer Flucht zu bekämpfen. Auf einer Grafik des Verteidigungsministeriums liegen die Einsatzgebiete auf den gängigen Fluchtrouten durch Afrika. Wer es durch die Sahara schafft, die/der soll durch die libysche Küstenwache oder die Einsätze im Mittelmeer abgefangen werden. Man spricht es sogar in aller Deutlichkeit aus: Wirtschaftliche Stabilität und Schutz der EU-Außengrenzen beschönigen nichts.

Die Einsatzgebiete der Bundeswehr verdeutlichen die politische Bedeutung für den Kapitalismus: Handelsrouten, Zugang zu Rohstoffen und Präsenz in Regionen der Welt begünstigen die Bedingungen für die wirtschaftliche Leistung eines Landes. Dieses Vorgehen kann man bei allen imperialistischen Mächten sehen, seien es nun Deutschland, die USA, Frankreich, China oder Russland. Jedes Land hat dabei seine eigenen Interessen und agiert, wenn es ihm zuträglich ist, in Bündnissen.

Die NATO als Machtfaktor

Gegründet wurde die NATO 1949 als „Verteidigungsbündnis“ gegen den Warschauer Pakt und im Zuge der Wiederbewaffnung Deutschlands. 1955 erfolgte auch dessen Integration in das Bündnis. Bis zum Ende des Kalten Krieges 1990 wuchs die NATO beständig, mit steter Ausrichtung nach Osten. Dies Entwicklung setzte sich auch mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes fort. 1999 traten mit Polen, Tschechien und Ungarn ehemalige Mitgliedsstaaten bei. Die Spannungen, die in diesem Zusammenhang aufkamen, lassen sich auch an der Entwicklung der Rüstungsausgaben ablesen. Mit der Annäherung an die Ukraine als möglicher Beitrittskandidatin und der darauf folgenden russischen Kontrolle der Krim (wichtigster russischer Schwarzmeerstützpunkt) erreichte dieser Konflikt einen temporären Höhepunkt mit massiven Manövern sowohl auf NATO- wie russischer Seite sowie einem Anstieg der Rüstungsausgaben.

Damit einhergehend wurde 2014 die Schnelle Eingreiftruppe der NATO von 13.000 auf 40.000 SoldatInnen erhöht und zusätzlich um eine Ultraschnelle Eingreiftruppe von 5.000 ergänzt. 2016 wurden mit der „Enhanced Forward Presence“ 4 NATO-Bataillone (à 1.000) dauerhaft in unmittelbarer Nähe zu Russland stationiert. 2018 kamen mit „4X30“ noch 30 größere Kampfschiffe, 30 schwere oder mittlere Infanteriebataillone, 30 Kampfflugzeugstaffeln inkl. Unterstützungskräften, alles mit 30 Tage Reaktionsfähigkeit, hinzu. Russlands Rüstungsanstrengungen sind ebenfalls gewachsen. Seine Manöver übertreffen die NATO in Zahlen deutlich, aber allein ein Blick auf die zur Verfügung stehenden Geldmittel dürfte deutlich machen, wie die Kräfte verteilt sind: Die NATO strotzt vor finanziellem Potential und baut es mit Einhaltung der 2 %-Marke noch aus. Rüstungsabkommen wie der INF- oder Open Skies-Vertrag wurden beendet. Mit dem New-START-Vertrag läuft 2021 der letzte atomare Abrüstungsvertrag aus. Gleichzeitig rückt die aufstrebende imperialistische Großmacht China, mit ihrer wachsenden Macht im Pazifik und Ausrichtung nach Afrika und Europa (Neue Seidenstraße), in den Fokus.

Aber das Blockbündnis NATO lässt die Konkurrenz ihrer Mitgliedsstaaten untereinander nicht verschwinden. Die steigenden Kosten und die zunehmenden Spannungen mit dem NATO-Partner USA zwingen das deutsche Kapital, andere Bündnisse auszubauen. Mit Frankreich und Italien arbeitet man bereits in Rüstungskooperationen, um die horrenden Kosten der Projekte aufzuteilen (Eurofighter, Tiger, TLVS, Drohnen). Mit dem Aufbau einer europäischen Armee soll auch die Schlagkraft gebündelt werden. Die führenden imperialistischen Länder Europas treiben diese Entwicklung voran, besonders Frankreich und Deutschland.

Der Handelskrieg, welcher mit den USA schwelt, ist nur ein Ausdruck dessen, in welchem Konkurrenzverhältnis sich Teile der NATO befinden. Diese Konflikte äußern sich in der Energiefrage (Nordstream 2), der Ukraine-Politik (aus der die USA als lachende Dritte hervorgingen, während die EU und Russland sich mit Strafzöllen belegten) oder den unterschiedlichen Interessenlagen in Afrika und Südwestasien. Die EU möchte nicht mehr gänzlich abhängig sein von dem großen Partner USA. Die Unberechenbarkeit Donald Trumps ist nur ein weiterer Grund, dass Frankreichs Präsident Macron das Bündnis als hirntot bezeichnet. Allen Streitigkeiten zum Trotz hat das militärische Potential in naher Zukunft keineswegs gänzlich an Attraktivität verloren inAnbetracht der zunehmenden Stärke Chinas.

Dem Militarismus die Stirn bieten

Der weltweite Aufrüstungstrend zeugt nicht nur von einem rauer werdenden politischen Klima, sondern ist auch Ausdruck zugespitzter Gegensätze in der Welt: Der Wettstreit um Rohstoffe, die Sicherung von Handelsrouten, der Zugang zu Trinkwasser und Ackerland sind Ursache eines großen Teils der Konflikte. Die kontinuierlich wachsende Weltbevölkerung und die Bedrohung ganzer Regionen durch den Klimawandel befeuert diesen Wettstreit zusätzlich. Mit den gestiegenen Militärausgaben zeigt sich, dass man es eher auf Konfrontation anlegt, auch in Form eines möglichen Weltkrieges, statt die Probleme anzugehen. Darin verdeutlicht sich der perfide Zwang des Kapitalismus, nicht nur keine Sicherheit und Stabilität zu schaffen, sondern ihr Gegenteil herbeizuführen.

Im imperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt gibt es dabei keine gute oder böse Seite, auf die es sich zu schlagen gilt. Wendet man dieses Bewertungsmuster an, macht man sich zum Spielball. Jedes imperialistische Land ist gezwungen, auch auf militärische Mittel zurückzugreifen, will es seine Interessen gewahrt sehen und sich gegen seine KonkurrentInnen behaupten.

Deutschland kommt dabei eine besondere Rolle zugute: Als Drehscheibe für militärische Aktionen in und um Europa hat es sowohl für die EU als auch die NATO eine besondere Bedeutung – nicht zuletzt für die US-Einsätze in Afrika und Asien. Das Rückgrat der Defender-Übung 2020 beruhte auf den Transportwegen. Die koordinierte Blockade von Häfen, Schienen oder Autobahnen kann solche Manöver zum Scheitern bringen. In Genua, Santander und Le Havre gelang es den HafenarbeiterInnen 2019/2020, durch vereinte Blockaden die Lieferung von Waffen nach Saudi-Arabien zu stoppen. Als viertgrößte Waffenexporteurin ist die deutsche Rüstungsindustrie nicht zu unterschätzen. Jede Schwächung für sie bedeutet gleichzeitig einen Rückschlag für das deutsche Kapital. Dabei sollte das Engagement gegen Militarismus SoldatInnen immer die Möglichkeit geben, sich mit den Auswirkungen imperialistischer Politik auseinandersetzen zu können und sie in die Kritik miteinzubeziehen: Auch sie sind oft Opfer militärischer Auseinandersetzungen und leiden an den Folgen dieser Einsätze.

Ein pazifistischer Ansatz, das Militär per Reform abzuschaffen, scheitert an der kapitalistischen Realität. Ein Kampf gegen den Militarismus ist demnach unweigerlich mit dem gegen den Kapitalismus verbunden. Nur in einer revolutionären Krise kann der repressive bürgerliche Staatsapparat zerbrochen und durch ArbeiterInnenmilizen und demokratische SoldatInnenräte ersetzen werden. Heute geht es darum, den Kampf gegen den Militarismus zu befeuern und damit die Möglichkeiten einer Zersetzung und Ersetzung des Repressionsapparates vorzubereiten. Daher treten wir für folgende Forderungen ein:

  • Enteignung der Rüstungsunternehmen und Umstellung ihrer Produktion unter ArbeiterInnenkontrolle
  • Für das Recht voller politischer Betätigung in der Bundeswehr, die Bildung von demokratischen Vereinigungen und Komitees einfacher SoldatInnen!
  • Ersatzlose Auflösung der Sondereinheit KSK! Auflösung der militärischen Geheimdienste! Veröffentlichung aller Unterlagen über faschistische, rassistische und rechte Struktur! Öffentliche Untersuchung durch die ArbeiterInnenbewegung, proletarische, migrantische und antifaschistische Jugendorganisationen unter Einbeziehung demokratischer SoldatInnen!
  • Sofortige Beendigung aller Auslandseinsätze! Offenlegung aller Beschaffungspläne, Geheimverträge, Rüstungsvorhaben! Untersuchung durch die ArbeiterInnenbewegung!
  • Sofortiger NATO-Austritt und Auflösung des Bündnisses! Nein zum Aufbau einer EU-Armee, von Eingreiftruppen, zu militärischer Sicherung der EU-Außengrenzen! Offene Grenzen statt Festung Europa!
  • Keinen Cent, keinen Euro für die Bundeswehr!
  • Nein zur jeder militärischen und politischen Intervention des deutschen Imperialismus – ob im Rahmen von NATO, EU, UN oder auf eigene Rechnung! Auch heute gilt: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!



Das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz: Von Wutbullen und Beweislastumkehr

Jan Hektik, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Die Revolution hat begonnen! Der Berliner Senat führt mit dem Antidiskriminierungsgesetz (AGG) einen Generalangriff auf polizeiliche Befugnisse, welcher die Staatsmacht unterminieren und jegliche Arbeit der Polizei unmöglich machen wird. Oder jedenfalls könnte man das denken, wenn man sich anhört, was die Gewerkschaft der Polizei (GdP), im Unterschied zur Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG, Mitglied im Deutschen BeamtInnenbund DBB) Einzelgewerkschaft im DGB (!), über das neue Landesantidiskriminierungsgesetz Berlins so zu sagen hat.

Doch was sagt dieses Gesetz jetzt eigentlich genau?

Eigentlich nicht viel, es verbietet die Diskriminierung aufgrund von Ethnie, Hautfarbe, Geschlecht sexueller Orientierung usw. durch staatliches Handeln. Das ist an sich nicht neu, schon das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet sie bei der Gewährung von Leistungen, Bewerbungen und Ähnlichem. Weiterhin ist sie staatlichem Handeln sowieso nach Art 3 Grundgesetz (GG) verboten.

Neu sind eigentlich nur zwei Dinge. Erstens ermöglicht das Gesetz eine Klage auf Schadensersatz vor den Zivilgerichten gegen das Land Berlin. Zweitens sieht es vor, dass, nachdem glaubhaft gemacht wurde, dass eine Diskriminierung wahrscheinlicher ist, als dass keine vorlag, die Behörde dieses widerlegen muss.

Und genau da explodieren den Polizeibeamten die Köpfe. Vermutlich auch den Beamtinnen, aber da nahezu sämtliche öffentlichen Aussagen bisher von Männern getroffen wurden, werde ich mir hier das Gendern schenken.
Glaubt man der GdP und dem Tagesspiegel, so sieht das Gesetz eine komplette Beweislastumkehr vor, welche tiefstes Misstrauen gegen die Polizei zeige, dem deutschen Rechtssystem völlig fremd wäre und zu massiven Klagewellen führen würde.

Die Einwände sind vollkommener Schwachsinn und an den Haaren herbeigezogen, aber arbeiten wir sie einmal der Reihe nach durch.

1. Die Beweislastumkehr

Was das Gesetz aussagt, ist, dass es der Behörde die Pflicht auferlegt, die Diskriminierung zu widerlegen, WENN die Klägerseite glaubhaft macht, dass sie wahrscheinlich stattgefunden hat. D. h. diese Regelung greift überhaupt nur dann, wenn diese Glaubhaftmachung gelingt. Zwar reicht hierfür in der Regel eine eidesstattliche Versicherung, jedoch ist eine Falschaussage dabei strafbar und es wird auch schwierig, über die Motivation der BeamtInnen, welche die Maßnahme durchgeführt haben, eine glaubhafte Aussage zu treffen. Selbst wenn das gelingt, muss es immer noch wahrscheinlicher sein, dass eine Diskriminierung stattgefunden hat als nicht.

Die GdP schwadroniert von der Erschwerung der Bekämpfung von Clankriminalität, offenbar auch, weil alle kriminellen Organisationen natürlich immer ausschließlich aus AusländerInnen bestehen, wie man z. B. an den Hells Angels sieht. Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass die Zivilgerichte bei einer Maßnahme, welche zu erfolgreichen Ermittlungsergebnissen gegen Clankriminalität geführt hat, davon ausgehen wird, dass die Motivation wahrscheinlich nicht diskriminierend war. Und schließlich ist Widerlegen nicht gleich Beweisen, also reichen auf Seite der Behörde auch Indizien, Aussagen und Begründungen. Und jede/r, der/die einmal mit der Polizei Kontakt hatte, weiß, dass sich nicht selten mehr PolizistInnen finden, die Dinge versichern als überhaupt vor Ort waren.

2. Misstrauen gegen die Polizei

Durch dieses Vorgehen würden die PolizistInnen unter Generalverdacht gestellt. Im Zweifel gegen die Polizei, so die GdP Bayern. Nur schade, dass sich die Klage gar nicht gegen BeamtInnen oder die Polizei richtet, sondern gegen das Land Berlin. Es sind auch keine Strafen angedroht, denn es handelt sich hierbei gar nicht um Strafrecht, sondern um Zivilrecht. Die Anspielung auf den strafrechtlichen Grundsatz im „Zweifel für die/den Angeklagte/n“ ist also schon deswegen Quatsch, weil es keine/n Angeklagte/n gibt, weil es sich nicht um Strafrecht handelt und dieser Grundsatz also gar keine Anwendung findet, und schließlich, weil es eben wie oben beschrieben gar keine Beweislastumkehr gibt!

3. Dem deutschen Rechtssystem völlig fremd

Dieser Vorwurf spielt auf den gerade beschriebenen Grundsatz im Strafrecht an. Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass es um Zivilrecht geht. Also betrachten wir doch das Zivilrecht. Und plötzlich entdecken wir, dass es dort zwar auch die Beweislast für Klagende gibt, aber eben auch viele Ausnahmen, die eine umgekehrte Vermutung aufstellen z. B. im Kaufrecht, wo bei Mangelhaftigkeit der Kaufsache einer/s VerbraucherIn vermutet wird, dass die Sache bereits beim Kauf mangelhaft war und die/der VerkäuferIn das widerlegen muss.

Zweitens spielt Einwand 3 auf die Möglichkeit der Verbandsklage an. Das bedeutet, dass man nicht selbst verletzt oder betroffen sein muss, sondern dass auch ein Verband klagen kann, dessen Ziel das Vorgehen gegen Diskriminierung ist. Laut GdP sei dies neu.

Nur wieder schade, dass es Verbandsklagen schon seit Ewigkeiten gibt, beispielsweise für Umweltorganisationen, da man ansonsten schlecht gegen Umweltzerstörung klagen kann, weil man selbst nur mittelbar betroffen ist. Also auch hier sehen wir, dass diese Aussage nur dann nicht vollkommener Schwachsinn ist, wenn man sämtliche Fakten ignoriert und sie zusätzlich aus dem Zusammenhang reißt. Auch PolizeibeamtInnen sollten ein gewisses juristisches Grundwissen besitzen. Entweder verhindert ihre Empörung, dass sie einen Gesetzestext korrekt lesen können – oder sie führen bewusst die öffentliche Meinung in die Irre.

4. Die Klagewelle

Die bei Einführung des AGG beschworene Klagewelle stellt eine reine Schutzbehauptung dar. Auch bei anderen Gesetzen, die sich gegen Diskriminierung richten, ist sie nie eingetreten. Katrin-Elena Schönberg, Vorsitzende des Berliner Richterbunds, verweist zu Recht darauf, dass diese Regelungen weder neu sind noch die Überlastung von Gerichten zu befürchten sei. Und das, obwohl RichterInnen bei jeder Gelegenheit über die Überlastung der Gerichte jammern.

Jetzt haben wir nicht nur dargelegt, dass die Behauptungen der GdP vollkommener Schwachsinn sind, sondern sind auch gezwungen gewesen, einen großen Teil des Artikels damit zu verbringen, diesen zu widerlegen. Und genau darum geht es, wenn so etwas behauptet wird. Alles diskutiert über eine Beweislastumkehr, die es so nicht gibt, und die nicht einmal sonderlich ungewöhnlich wäre, gäbe es sie. Aber niemand beschäftigt sich mit der Frage, ob die Polizei oder Behörden im Allgemeinen diskriminierendes Verhalten an den Tag legen und ob dieses Gesetz eigentlich geeignet ist, dies zu bekämpfen.

Bewertung des Gesetzes

Wir gehen davon aus, dass die LeserInnen sich des Problems von „Racial Profiling“ und strukturellem Rassismus grundsätzlich bewusst sind.

Leider enthält das Gesetz eben nicht das, was die GdP kritisiert. Es stellt keinen Angriff auf die Befugnisse der Polizei oder anderer Behörden dar und es weitet nicht einmal den bestehenden Schutz vor Diskriminierung aus. Wie oben beschrieben sind neu nur der Schadensersatz, die Beweisfrage und die Verbandsklage.

Der Schadensersatz war prinzipiell schon vorher möglich, jedoch nur vor den Verwaltungsgerichten einklagbar und auch schwieriger zu beweisen. Diese bescheidene Verbesserung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, was nicht geändert wurde. Es werden keine Maßnahmen ergriffen, um die betroffenen BeamtInnen zu disziplinieren, die Befugnisse der Polizei einzuschränken oder sonst irgendwie zukünftige Diskriminierung zu verhindern. Alles was passiert, ist, dass bei erfolgreicher Klage das Land Berlin einen Schadensersatz zahlt. Etwaige Ermittlungsergebnisse werden trotzdem verwertet, die Schikane wird bei der nächsten Kontrolle wieder stattfinden und Leistungen von den Ämtern werden weiter nur im Schneckentempo gewährt, wenn man einen nichtdeutschen Namen trägt.

Auch die Struktur der Polizei bleibt natürlich unangetastet. Diese ist ein hierarchisch strukturiertes Organ, welches nicht gewählt wird und der Aufrechterhaltung der Ordnung, aber eben der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung dient – also vor allem der Verteidigung des Eigentums und seiner BesitzerInnen. Die Polizei stellt das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates nach innen dar (wie das Militär es nach außen tut) und stellt sicher, dass die kapitalistischen Verhältnisse auch mit Gewalt verteidigt werden: dass Wohnungen geräumt werden, wenn man sich die Miete nicht mehr leisten kann, dass Proteste niedergeschlagen werden, wenn sie für das kapitalistische System gefährlich zu werden drohen, dass Obdachlose vertrieben, SchwarzfahrerInnen und Menschen, die im Laden klauen, weil sie sich das Überleben kaum leisten können, festgenommen werden.

Als eine solche Stütze des kapitalistischen Systems reproduziert die Polizei zwangsläufig auch Rassismus und Sexismus. Diese beiden Formen der Unterdrückung sind untrennbar mit dem realen Kapitalismus verbunden. Die vorhandenen Spaltungslinien der Gesellschaft und auch innerhalb der ArbeiterInnenklasse werden nicht durch die Polizei hervorgebracht, aber durch deren Agieren unwillkürlich reproduziert oder gar verschärft. Ein Kampf gegen Diskriminierung durch die Polizei bleibt also bestenfalls Stückwerk, wenn er nicht mit dem gegen kapitalistische Ausbeutung und deren Repressionsapparat verbunden wird für eine Gesellschaft, die ohne bürgerliche Polizei auskommen kann. Dafür bietet das Gesetz natürlich keine Grundlage. Es ist nicht mehr als ein schönes Symbol eines Senats, der wenig tut und dafür auch mal links blinkt.

Perspektive

Doch die Angriffe der GdP auf das AGG schaffen Notwendigkeiten und Chancen, insbesondere jetzt, wo die Debatte um Rassismus aufgrund der Massenbewegung in den USA von links entfacht wurde. Übrigens argumentieren auch dort die Polizei„gewerkschaften“ auf die gleiche Art gegen Kontrolle über die BeamtInnen, gegen jede noch so kleine Reform, wie es unsere Bullen tun: mit den gleichen Verzerrungen der Realität und düsteren Aussichten auf unbekämpft zunehmende Kriminalität. Und genau wie dort macht dies notwendig, zunächst das AGG gegen diese Angrife zu verteidigen, bloßzulegen, wie falsch diese Behauptungen sind, aber auch darüber hinauszugehen und zu sagen: „Ihr mögt behaupten es gibt keine Amtshilfe nach Berlin mehr.“ Doch das sind leere Versprechungen, die GdP entscheidet nicht über die Amtshilfe.

Das Gesetz stellt kein generelles Misstrauen gegenüber der Polizei dar, aber dieses wäre angebracht! Wenn Ihr schon an die Decke geht, wenn man Euch auf die Finger gucken will und bei Verletzungen für Euch bezahlt, was macht Ihr dann erst, wenn wir – ähnlich wie bei der Bundeswehr – jeden Euro, jeden Cent für die bürgerliche Polizei ablehnen?

Wenn wir gegen Diskriminierung kämpfen wollen, müssen wir das selbst in die Hand nehmen. Die Linkspartei wird es nicht für uns tun und Grüne und SPD oder der Berliner Senat schon gar nicht. Was wir brauchen, sind Selbstverteidigungskomitees, welche sich gegen rechte Übergriffe (ob mit oder ohne Uniform) schützen und die Kieze, Betriebe, Schulen und Unis organisieren und gegen die Rechten und die KapitalistInnen verteidigen können.




Israels Annexionspolitik: Für die sozialistische Einstaatenlösung!

Robert Teller, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Israels neue Netanjahu-Gantz-Regierung, bestehend aus den zwei großen rechten Parteien Likud und „Blau-Weiß“, hatte angekündigt, zum 1. Juli formell die Annexion des Jordantals und der Siedlungen in der Westbank zu vollziehen. Die Annexion besetzter Territorien verletzt elementare Grundsätze des internationalen Rechts ebenso wie die Oslo-Vereinbarungen von 1993. Die Voraussetzung für diesen Schritt sind einerseits die „Erlaubnis“ des US-Imperialismus, die mit Trumps „Deal of the Century“ erteilt wurde, und andererseits die Einigung zwischen Likud und der Partei „Blau-Weiß“, eine Einheitsregierung zu bilden.

Die Annexion des Jordantals und der Siedlungen war das zentrale Wahlversprechen, mit dem Netanjahu angetreten war. Die ein Jahr lang andauernde Pattsituation zwischen Likud und „Blau-Weiß“ wurde nun in Anbetracht der COVID-19-Pandemie durch eine reaktionäre Einheitsregierung beider Kontrahenten aufgelöst. Diese soll nun vollenden, was bislang nur durch den Hauptstreitpunkt zwischen beiden Parteien – die zahlreichen gegen Netanjahu anhängigen Korruptionsverfahren – verzögert worden war. Bis zum 1. Juli war nicht klar, ob die Annexion tatsächlich formell erklärt wird, ob sie auf einen Teil der Gebiete aus Trumps „Deal“ begrenzt oder verschoben wird.

Gespaltene Verbündete

Dass der Schritt der formellen Annexion angesichts von weitreichenden Protesten nun vorerst nicht getan wurde, ist einerseits ein gängiges Muster in der israelischen Politik, die ihre Aggressionen nach der Salami-Taktik umsetzt, um das Entfachen spontaner Massenproteste zu vermeiden. Andererseits ist es eine Gefälligkeit Israels gegenüber denjenigen internationalen Verbündeten, die allergrößte Schwierigkeiten haben, ihre Beziehungen zu Israel in Anbetracht des geplanten Raubzuges als legitime Sache darzustellen. Doch die Geschichte beweist einerseits, dass kein verbaler Protest Israel jemals dazu gebracht hat, von der Durchsetzung seiner strategischen Ziele gegenüber den PalästinenserInnen Abstand zu nehmen. Andererseits offenbart sie, dass die westlichen Verbündeten kein Problem an sich mit der Ungerechtigkeit haben, die in der geplanten Annexion liegt, sondern vielmehr mit der öffentlichen Blamage, die diese offensichtliche Verhöhnung des Völkerrechts mit sich bringt.

Außenminister Heiko Maas etwa brachte bei seinem Besuch in Jerusalem seine „ernsthaften und ehrlichen Sorgen, als ein ganz besonderer Freund Israels, über die Konsequenzen eines solchen Schritts zum Ausdruck“ (1). Die Konsequenzen wären nämlich, das Ziel der Zweistaatenlösung, seit 30 Jahren offizielle Position der westlichen Regierungen, als Hirngespinst dastehen zu lassen. Wo kein Grund und Boden mehr übrig ist, da wird es keinen palästinensischen Staat geben. Und da die „Zweistaatenlösung“ durchaus wirksam sowohl bei der Demobilisierung des palästinensischen Widerstands als auch bei der Reinwaschung des Staates Israel als „demokratischer Verbündeter“ im westlichen Diskurs war, ist Sorge verständlich. Es wäre nicht mehr zu leugnen, dass ein Staat, der Territorien annektiert, ohne der dort lebenden Bevölkerung staatsbürgerliche Rechte zu verleihen – oder aber die palästinensische Bevölkerung in isolierten und abgehängten Brachflächen separiert – das Verbrechen der Apartheid begeht.

Während die US-Regierung ihre volle Unterstützung für die Annexion erklärt hat, sind die europäischen Regierungen gespalten. Einige befürworten die Aussetzung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens, das Teil als des Oslo-Prozesses abgeschlossen wurde. Einige osteuropäische Länder (u. a. Österreich und Ungarn) lehnen eine solche Maßnahme ab. Folglich kommt eine wirksame, einstimmige Entscheidung der EU-Mitglieder zu dieser Frage nicht zustande.

Kompromissloser Zionismus

Klar ist, dass der Staat Israel faktisch längst die alleinige Souveränität in der gesamten Westbank ausübt. Der Schritt, die Souveränität auch de jure zu erklären, ist also zunächst symbolisch, weil der Inhalt dieser Erklärung längst Realität ist. Aber diese symbolische Aneignung ist auch geeignet, in den Augen des palästinensischen Volkes die Trugbilder, die in den 30 Jahren des Oslo-Prozesses die Debatten beherrscht haben, zu beseitigen, die Zweistaatenlösung als Täuschung zu entlarven und zur Einsicht zurückzukommen, dass die kolonialistische Politik Israels keinen Raum für Kompromisse lässt.

Der israelischen Regierung ist bewusst, dass die eigentliche Gefahr für ihre Pläne weder in der Haltung ihrer internationalen Verbündeten noch der korrupten Autonomiebehörde liegt, sondern im Widerstand der PalästinenserInnen, die eine Annexion niemals akzeptieren werden. Die Regierung und ihre zionistischen UnterstützerInnen weltweit fürchten sich vor einer neuen Intifada, und die BLM-Bewegung weltweit erinnert sie daran, dass staatlicher Rassismus einen unbändigen Zorn verursacht, der sich auch in Palästina erneut Bahn brechen könnte.

Die geplante Annexion könnte das Ende der sorgfältig aufgebauten Arbeitsteilung zwischen Israel und der Autonomiebehörde einleiten. VertreterInnen der Behörde haben angekündigt, aus Protest u. a. ihre „Sicherheitszusammenarbeit“ (d. h. Koordination mit israelischen Sicherheitskräften, Auslieferung von Gefangenen etc.) auszusetzen und regelmäßige Zahlungen an eigene Beschäftigte und BeamtInnen in der Westbank und im Gazastreifen einzustellen. Diese „Drohungen“ – die im Übrigen schon öfters ausgesprochen, aber kaum verwirklicht wurden – beweisen einerseits, dass die Behörde keinerlei Souveränität besitzt, nicht mehr als einen ausführenden Arm der Besatzungsmacht darstellt und ihre Möglichkeiten darauf beschränkt sind, diese Funktion einzustellen – wie Hussein al-Sheikh, Fatah-Mitglied und in der Autonomiebehörde für die Zusammenarbeit mit Israel verantwortlich, ankündigt: „Ich werde mich jeden Tag aus meiner Verantwortung zurückziehen“ (2).

Die Ankündigungen weisen dennoch auf den wichtigen Punkt hin, dass mit der offiziellen Übernahme der Souveränität durch Israel der eigentlichen Funktion der Autonomiebehörde, die palästinensische Bewegung im Zaum zu halten, die Grundlage entzogen wird. Dies könnte einen Neuanfang innerhalb der Bewegung ermöglichen, einer neuen Generation von AktivistInnen den Weg eröffnen, den Betrug, den Fatah, Hamas und andere führende Kräfte der palästinensischen Bewegung organisiert haben, zu beenden und die Bewegung vom falschen Dogma der Zweistaatenlösung zu befreien.

Bankrott der Autonomiebehörde

Der Bankrott der Autonomiebehörde ist das notwendige Resultat der politischen Orientierung auf die Zweistaatenlösung durch die führenden PLO-Fraktionen. Diese Politik hat entscheidend zur Niederlage der zweiten Intifada beigetragen und die palästinensische Bewegung seitdem in einer passiven Agonie zurückgelassen. Eine neue palästinensische Massenbewegung muss der Mitverwaltung der Besatzung eine Absage erteilen und versuchen, alle PalästinenserInnen – ob in den 1948er-Gebieten, in der Westbank, im Gazastreifen oder in den Nachbarländern lebend – einzubeziehen und sie für das Ziel gewinnen, einen einzigen Staat in ganz Palästina zu erkämpfen. Dieser Staat muss allen BewohnerInnen – ob Juden/Jüdinnen, PalästinenserInnen oder anderen Nationalitäten – die gleichen Rechte gewähren, sowie den Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr. Die palästinensische Bourgeoisie ist politisch völlig diskreditiert und wird in diesem Kampf nicht die entscheidende Rolle spielen. Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, die Jugend, die ArbeiterInnen und Armen für das Ziel der Einstaatenlösung einzunehmen und innerhalb der Bewegung für die Position zu kämpfen, dass ein solcher Staat nur als sozialistischer Hand in Hand mit den Massenbewegungen anderer Länder, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens erreicht werden kann. Hierfür ist ein Aktionsprogramm notwendig, das den Kampf für unmittelbare Ziele, gegen die tagtäglichen Schikanen der Besatzung, verbindet mit dem für einen sozialistischen, multi-nationalen Staat Palästina.

InternationalistInnen weltweit müssen in den ArbeiterInnenbewegungen ihrer Länder dafür eintreten, dass diese die Annexionspolitik verurteilen, jede Unterstützung für den Staat Israel beenden, und der palästinensischen Bewegung die Unterstützung zukommen lassen, die nötig und möglich ist.

Endnoten

(1) https://www.timesofisrael.com/in-israel-german-fm-calls-annexation-illegal-but-doesnt-threaten-sanctions/

(2) https://www.nytimes.com/2020/06/08/world/middleeast/palestinian-authority-annexation-israel.html




Britannien: Labour-Vorsitzender Keir Starmer erklärt Linken den Krieg

Dave Stockton, Neue Internationale 248, Juli/August 2020

Die plötzliche Entlassung von Rebecca Long-Bailey aus dem Labour-Schattenkabinett durch den Parteivorsitzenden Sir Keir Starmer ist eine Kriegserklärung an die Linke innerhalb der Partei. Sie ist Teil seines Werbens um die konservative und die liberale Presse, die ihm im Gegenzug als echten Staatsmann schmeichelt, weil er Boris Johnson wegen dessen massiv inkompetentem Umgang mit der COVID-19-Pandemie minimalen Widerstand entgegenbringt.

Ziel des Angriffs

Mit seiner brutalen Entlassung von Rebecca Long-Bailey will er die Linke – wahrscheinlich immer noch die Mehrheit der Parteimitglieder – einschüchtern. Zweifellos glaubt er, dass sie nach der „katastrophalen Niederlage“ im Dezember zu sehr demoralisiert ist, um sich ernsthaft zu wehren. Außerdem kann er darauf hoffen, einen Konflikt zu provozieren, während sich die Parteigliederungen nicht treffen können und die Konferenz auf unbestimmte Zeit vertagt ist. Auf jeden Fall wird sich Starmer kaum Sorgen machen, wenn seine Aktionen den Austritt der Hunderttausende beschleunigen, die sich Labour unter Corbyn angeschlossen haben.

In diesem Zusammenhang ist Rebecca Long-Baileys Widerstand dagegen, dass Starmer den die LehrerInnengewerkschaften dazu drängte, die Wiedereröffnung von Schulen zu akzeptieren, kein unbedeutender Faktor. Wie die früheren Labour-Vorsitzenden Blair und Miliband vor ihm weiß auch Starmer, dass der Schlüssel zur Demonstration seiner „Glaubwürdigkeit“ darin liegt, seine Unabhängigkeit von den Gewerkschaften zu belegen. Er hat damit begonnen, indem er mit der LehrerInnengewerkschaft eine kleinere Organisation ins Visier genommen hat, und zwar eine, die nicht der Labour-Partei angeschlossen ist.

Aber wenn die Mitgliedsgewerkschaften ihre Scheckbücher weiterhin bei Bedarf öffnen, dann wird die neue Normalität die alte der 30 Jahre vor Corbyn bleiben. Allerdings hat sich Starmer, ein Mann, der trotz oder vielmehr wegen seiner „herausragenden Laufbahn“ in der Justiz noch dünnere Wurzeln in der ArbeiterInnenbewegung hat als Neil Kinnock, Tony Blair oder Gordon Brown, vielleicht nur verkalkuliert. Wie viele Rechte vergisst er leicht, dass es einen Klassenkampf außerhalb der Manöver in den parlamentarischen Hinterzimmern gibt.

Die Aufgabe der Linken ist es, ihm unmissverständlich zu zeigen, dass er sich in der Tat schwer verkalkuliert hat. Dazu gehört nicht nur eine robuste Antwort auf Starmer und seine Gefolgsleute und deren fortgesetzte Brandmarkung von AntirassistInnen als RassistInnen, sondern auch eine kämpferische Reaktion der gesamten ArbeiterInnenbewegung auf die kommende Welle der Massenarbeitslosigkeit und die erneuten Sparmaßnahmen von Premerminister Johnson und den UnternehmerInnen.

Wir haben einen Parteivorsitzenden, der es kaum wagen wird, sein Büro für die Plattform von Massendemonstrationen zu verlassen, geschweige denn für Unterstützung von Streikpostenketten. Die Abgeordneten der Socialist Campaign Group (Sozialistische Kampagnegruppe) und die Basis in den Wahlkreisen, die angeschlossenen Gewerkschaften und die Parteibewegung Momentum müssen gegen einen Vorsitzenden ins Feld ziehen, der die Zeit auf vor 2015 zurückstellen will.

Demagogie

Wie die Labour-Recht in den letzten Jahren greift auch Starmer im Kampf gegen die verbliebenen Linken auf Demagogie und die verlogene Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus zurück.

„Ich habe es mir zur obersten Priorität gemacht, den Antisemitismus zu bekämpfen, und der Wiederaufbau des Vertrauens in der jüdischen Gemeinde hat für mich oberste Priorität“ – so Starmer.

Rebecca Long-Bailey unterzeichnete während ihrer Wahlkampagne zum Labour-Vorsitz eine 10-Punkte-Erklärung der Parlamentsfraktion und bezeichnete sich bei einer Wahlversammlung der Jewish Labour Movement, einer der Labour Party angeschlossenen zionistischen Organisation, sogar selbst als Zionistin. Vielleicht dachte sie, dies würde sie vor den abscheulichen Verleumdungen schützen, denen der vorherige Vorsitzende Jeremy Corbyn und viele andere ausgesetzt waren. Diese Hoffnung war offenkundig vergebens und naiv.

Starmer agiert als ihr Richter, Geschworener und Henker in einer Person. Er beschuldigte Long-Bailey der Weiterleitung eines Artikels, der angeblich Verschwörungstheorien beinhaltet hätte. Sein Urteil lautete:

„Die Weitergabe dieses Artikels war falsch … weil der Artikel antisemitische Verschwörungstheorien enthielt. Daher habe ich Rebecca Long-Bailey aus dem Schattenkabinett abberufen.“

Tatsächlich könnte man beim besten Willen nicht einmal den Tweet von Long-Bailey, der ein Interview von Maxine Peake in der Zeitung „The Independent“ lobt, als Zustimmung zu antisemitischen Verschwörungstheorien bezeichnen. In dem Interview erklärte Peake:

„Systemischer Rassismus ist ein globales Thema… Die Taktik, die die Polizei in Amerika anwendet, indem sie auf George Floyd kniet, wurde aus Seminaren mit israelischen Geheimdiensten gelernt.“

Die Behauptung, dass die US-Polizei ihre Taktik von israelischen Geheimdiensten übernommen hätte, war ein sachlicher Irrtum, obwohl der Fehler ursprünglich von Peake und nicht von Rebecca Long-Bailey begangen wurde. Sogar „The Independent“ veröffentlichte das Interview unter Berufung auf einen Bericht von „Amnesty International“ zur Bestätigung der Behauptung. „The Independent“ korrigierte sich später und erklärte: „Unser Artikel implizierte auch, dass dieses Training auch Knien-in-den-Nacken-Taktiken hätte beinhalten können“.

Auch wenn nicht bewiesen werden kann, dass die US-Polizei diese spezielle Taktik von israelischen staatlichen Stellen „gelernt“ hat, wissen wir doch, dass beide sie regelmäßig gegen unbewaffnete ZivilistInnen bei der Unterwerfung von rassistisch unterdrückten Minderheiten einsetzen. Es geht nicht darum, ob diese oder jene bestimmte Methode angewendet wird, sondern um die umfassendere Frage nach der institutionellen Beziehung und der gemeinsamen Architektur des Terrors, die von zwei Polizeikräften zur Unterwerfung rassistisch und demokratisch unterdrückter Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden. Sicher ist jedoch, dass all, die es ablehnen, die Aufmerksamkeit auf die Behandlung der PalästinenserInnen durch den israelischen Staat zu lenken, gleichzeitig gewalttätigen RassistInnen in die Hände spielen.

Rebecca Long-Bailey bestand darauf, dass ihr Tweet ohnehin keine Unterstützung dieser Behauptung sei, sondern des Hauptanliegens des Interviews, Corbyns politisches Vermächtnis an Labour zu unterstützen und die Mitglieder aufzufordern, die Partei nicht zu verlassen.

Kurz gesagt, Starmers Gründe für die Entlassung von Rebecca Long-Bailey waren ungerechtfertig und seine Bemerkungen über Maxime Peakes Interview eindeutig verleumderisch. Die Wahrheit ist, dass die GegnerInnen der israelischen Verbrechen gegen das palästinensische Volk einer konzertierten Kampagne unterzogen werden, um sie zum Schweigen zu bringen, indem man ihnen die üble Ideologie des Antisemitismus vorwirft. Die Labour-Rechte hat dies zynisch aufgegriffen, um ihre linken GegnerInnen anzuschwärzen und die Mitglieder und die öffentliche Meinung für eine Säuberung weichzuklopfen.

Ihr eigentliches Ziel ist es, in Großbritannien die Kritik an der Apartheidpolitik des israelischen Staates und die BDS-Kampagne nach dem Vorbild derer gegen das rassistische Südafrika zu unterdrücken. Großbritannien ist wie die USA ein entscheidendes Schlachtfeld für diesen Kampf, da das zionistische Projekt langfristig zunächst vom britischen Kolonialismus abhängig war und dann als Vorposten für die wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen des US-Imperialismus im Nahen Osten fungierte.

Die Entsorgung von Corbyns Erbe

Im Zusammenhang damit und als Hauptgrund für die Entschlossenheit der gesamten britischen Medien und des politischen Establishments, Corbyn loszuwerden, stand seine beachtliche Bilanz der Opposition gegen die vielen imperialistischen Kriege, Bombenangriffe und Besatzungen von Argentinien bis Südosteuropa, zum Nahen Osten und Zentralasien. Dazu gehörte seine Bereitschaft, Menschen in der so genannten Dritten Welt, die gegen den US- und britischen Imperialismus kämpfen, kritisch zu unterstützen – in Vietnam, Chile, Irland, Nicaragua, Venezuela und natürlich in Palästina und im Nahen Osten.

Dies trug ihm die Verleumdung ein, dass er TerroristInnen unterstützt habe. Dabei ist er jedoch nie von seinem Eintreten für friedliche und demokratische Methoden abgewichen. Er war und ist kein Revolutionär, sondern ein prinzipientreuer und mutiger Reformist und „Friedensstifter“. Aber das allein reichte schon aus, um ihn von dem Einzug in den Amtssitz des Lord of the Treasury und seit 1905 auch immer Premierministers (Downing Street Nummer 10) auszuschließen.

Innerhalb einer Woche, nachdem Corbyn Labour-Führer geworden war, zitierte die „Sunday Times“ einen „hochrangigen diensttuenden General“, der sagte, die Streitkräfte würden „direkte Maßnahmen“ ergreifen, um eine Regierung Corbyn zu stoppen – ein Ereignis, das effektiv eine Meuterei darstellen würde. Darauf folgte eine Reihe von Berichten im „Daily Telegraph“, in der „Times“, der „Daily Mail“ und der „Sun“, in denen ehemalige oder gegenwärtige Mitglieder der Armee, der Marine und der Spezialeinheiten sowie der Geheimdienste MI5, MI6 und ein ehemaliger hoher Beamter zitiert wurden. Es gab gut 440 Artikel, in denen Corbyn als „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ erwähnt wurde.

Es überrascht also nicht, dass Corbyn keine Sicherheitsfreigabe vom „tief wurzelnden“ oder „permanenten“ Staat erlangte, d. h. von den wirklichen „VerschwörerInnen“, die sich hinter den samtenen Vorhängen des britischen Parlamentarismus versteckten. Gleichzeitig unterstützte er, im Gegensatz zu jedem anderen Labour-Führer seit dem Krieg, jeden größeren und viele kleinere Streiks und den Kampf der ArbeiterInnen für die Rettung ihrer Arbeitsplätze, öffentlichen Dienste, Löhne und Gewerkschaftsrechte.

Die herrschende Klasse hat nichts dergleichen vom hochwürdigen Sir Keir Starmer, seines Zeichens Befehlshabender Ritter des Bathordens, Königlicher Anwalt, Parlamentsabgeordneter, zu befürchten, der (aus ihrer Sicht) fünf Jahre lang untadelig als Direktor der Staatsanwaltschaft der Krone tätig war. Hier weigerte er sich, den betreffenden Polizisten für die „unrechtmäßige Tötung“ von Ian Tomlinson während einer Anti-G20-Demonstration 2009 in der Stadt strafrechtlich verfolgen zu lassen, und drängte auf eine entschlossenere Verfolgung von „SozialbetrügerInnen“ zu einer Zeit, als SteuerhinterzieherInnen frei herumliefen.

Hauptversäumnis

Die Hauptanklage, die wir an der Basis der Labour Party gegen Jeremy Corbyn erheben müssen, ist, dass er nicht annähernd weit genug gegangen ist, um die einfach Mitgliedschaft zu stärken. In Wirklichkeit schreckten er und sein BeraterInnenkreis davor zurück, die Mitglieder in einen Kampf um demokratische Kontrolle über die parlamentarische Labour-Partei, die FunktionärInnen der Partei in der Victoria Street, die StadträtInnen und die BürgermeisterInnen zu führen. Abgesehen von den Manifesten 2017 und 2019, die bereits in der Mülltonne gelandet sind, sind die politischen Ergebnisse in der Tat dürftig.

Die Errungenschaften der Linken waren vor allem dem Vorrecht des Parteivorsitzenden zu verdanken, die Politik zu bestimmen, einer Macht, die in die von Blair, Brown und Miliband geschaffene Rolle investiert wurde, ohne zu ahnen, dass diese jemals in die falschen Hände geraten würde. Was die formalen Strukturen der Parteidemokratie betrifft, so erzielten die Jahreskonferenz und der Nationale Vorstand erst spät einen gewissen Einfluss.

Die Wahrheit über das Corbyn-„Experiment“ besteht darin, dass die prokapitalistische ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbürokratie niemals zulassen wird, dass „ihre“ Partei friedlich – demokratisch oder auch nur bürokratisch – in eine kämpferische Partei der ArbeiterInnenklasse verwandelt wird, was notwendigerweise eine internationalistische Partei bedeutet, die überall an der Seite der unterdrückten Völker steht und gegen Imperialismus und Ausbeutung auf der ganzen Welt kämpft.

Starmer tut alles in seiner Macht Stehende, um sich dem britischen Imperialismus und damit seinem Verbündeten im Nahen Osten als sicherer Parteigänger zu erweisen. Das Team Starmer führt einen kompromisslosen Kampf, der darauf abzielt, sozialistische, internationalistische Ideen zu diskreditieren und Labour wieder zu einer „loyalen Opposition“ – loyal zum britischen Kapitalismus – zu machen, die die ArbeiterInnenbewegung vor das Joch der Klassenzusammenarbeit einspannt.

Wir müssen gegen die Entlassung von Rebecca Long-Bailey durch Starmer protestieren und ihre Wiedereinstellung mit einer vollen und demütigen Entschuldigung fordern. Wir müssen die Hexenjagd gegen AntizionistInnen beenden, die den Auftakt zu einer umfassenderen Offensive gegen alles Positive verkörpert, was vom Erbe Corbyns übrig geblieben ist.

Wir müssen eine mächtige Einheitsfront der Labour-Linken aufbauen, die sich nicht scheut, Starmer so energisch entgegenzutreten wie die Rechte Corbyn – wenn auch mit prinzipientreuen politischen Argumenten, nicht mit schmutzigen Gerüchten und Verleumdungskampagnen. Die stürmischen Klassenkämpfe, die ausbrechen werden, wenn die Tories versuchen, die ArbeiterInnen für die Coronavirus-Krise und die drohende große Rezession bezahlen zu lassen, und zu denen noch der Wahnsinn von Brexit hinzukommt, werden eine politische Führung erfordern, die sich nicht scheut, die neue rechte Führung der Labour Party aufs Korn zu nehmen, wenn sie zögert oder den Widerstand anprangert.

Die vor uns liegenden Monate und Jahre des Kampfes werden für Sir Keir und seine HexenjägerInnen nicht leichte sein. Wir sollten uns nicht eine Minute lang vor seinen Drohungen und Verfolgungen fürchten – Widerstand, nicht Nachgiebigkeit sollte unsere Haltung ausmachen.

Dieser Kampf muss die Grundlage dafür bilden, die Schlussfolgerungen aus den Corbyn-Jahren zu ziehen und den Kampf für eine echte sozialistische, internationalistische und antiimperialistische Partei der ArbeiterInnenklasse erneut aufzunehmen.




Offener Brief an den Vorstand der IG Metall zur aktuellen Situation in der Automobilindustrie

Arbeitskreise Internationalismus der IG Metall Berlin, Infomail 1109, 5. Juli 2020

Wir dokumentieren einen offenen Brief des Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall Berlin an den Vorstand der Organisation, der von verschiedenen, oppositionellen Gruppierungen in den Gewerkschaften ebenfalls unterstützt wird (siehe unten). Wir rufen unsere LeserInnen auf, diesen zu verbreiten. Möglichst viele Mitglieder der IG Metall sollten ihn unterzeichen. Der gemeinsame, branchenübergreifende und internationale Kampf gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse ist heute dringender den je. Der offene Brief soll und kann dazu beitragen, jenen eine Stimme zu geben und jene zu organisieren, die diese Auseinandersetzung führen wollen

Offener Brief an den Vorstand der IG Metall zur aktuellen Situtation in der Automobilindustrie

zu Händen Jörg Hoffmann, Berlin 2.7.2020

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Ihr habt öffentlich eine allgemeine Abwrackprämie zur Ankurbelung der Auto-Industrie gefordert. Wir sind dagegen und zwar aus mehreren Gründen:

  • Eine planlose Förderung des Individualverkehrs ist Gift für das Klima und eine wirtschaftliche Sackgasse
  • Wer zukunftsfähige Arbeitsplätze sichern und aufbauen will, muss dies in Einklang mit den gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen tun.
  • Wer zukunftssichere Arbeitsplätze will, darf sich nicht an althergebrachten Verkehrskonzepten, Produktionsverfahren, Technologien und Produkten festklammern.
  • Eine Förderung der Autokonzerne ist völlig unangebracht, nachdem diese sich in den letzten Jahren durch Abgasbetrug und Kartellbildung hervorgetan haben.

Die Auto-Industrie ist gerade die treibende Kraft bei den Angriffen von Gesamtmetall und den regionalen Arbeitergeberverbänden auf die sozialen und tariflichen Errungenschaften.  Ihre Forderungen:

  • Die abschlagsfreie Rente mit 63 (derzeit 63 und 8 Mon) soll fallen,
  • auch die Haltelinie beim Rentenniveau von 48 Prozent und die Mütterrenten I und II.
  • Die Grundrente halten sie für „völlig verfehlt“ und „unverhältnismäßig teuer“.
  • Die Parität bei der Krankenversicherung soll ebenso beseitigt werden.
  • Die Einschränkungen bei den Arbeitnehmerüberlassungen sollen rückgängig gemacht werden,
  •  ebenso wie die Mindestlohn-Dokumentationspflicht,
  • auch bei der Arbeitszeit wollen sie „Experimentierräume“, gesetzliche Haltelinien sollen fallen.
  • Das Betriebsverfassungsgesetz und das Arbeitsrecht sollen beschnitten werden.
  • Der Kündigungsschutz muss „überarbeitet werden, um die dringend notwendige Rechtssicherheit bei Verfahren der Massenentlassung wiederherzustellen“.
  • Sie wollen„möglichst große Spielräume bei der Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen“, um die „unternehmerische Freiheit nicht … durch Vorgaben im Arbeitsschutz einzuschränken“. „Das Virus ist letztendlich Teil des allgemeinen Lebensrisikos“, deshalb soll auch nichts im gesetzlichen Arbeitsschutz institutionalisiert werden.
  • Auch beim Klimaschutz soll die Politik erst mal auf die Bremse treten.

In den Betrieben erleben wir tägliche neue Schließungs- oder Entlassungsmeldungen. Unsere Forderung als IG Metall, die Transformation ökologisch und sozial zu gestalten, treten sie täglich mit Füssen. In einer solchen Situation ist es das völlig falsche Signal für die Konzerne, noch Geschenke aus Steuermitteln zu fordern!

Der Angriff von Gesamtmetall muss vielmehr ein Signal sein, alle Belegschaften zu vereinen in einem gemeinsamen Widerstand:

  • Gegen alle Entlassungen und Abbaupläne! Keine Verlagerungen!
  • Gegen alle Angriffe auf Rentengesetze und Krankenversicherung!
  • Keine Ausweitung prekärer Beschäftigung! Schluss mit der Spaltung, Feste Arbeitsplätze für alle!
  • Enteignung aller Betriebe, die abbauen oder geschlossen werden sollen, gemäß §2 unserer Satzung und Überführung in Gemeineigentum. Einsatz von Steuermitteln dann für diese Betriebe und gegebenenfalls die Konversion der Produktion unter Kontrolle durch Betriebsräte und Vertrauensleute. Einbeziehung von UmweltexpertInnen.
  • Schaffung neuer Arbeitsplätze Hand in Hand mit Investitionen in Gesundheit, Umwelt , ÖPNV Bahn und Zukunftstechnologien.
  • Umverteilung der Arbeit auf Alle statt Entlassungen! Ohne Lohnverlust.

Wir brauchen als IG Metall eigene Konzepte zum ökologischen Umbau! Wir sind nicht die Steigbügelhalter für die Konzerne und ihre überholten Konzepte!

Arbeitskreisinternationalismus der IG Metall Berlin

Weitere ErstunterzeichnerInnen (Organisationen):

Metallertreff Stuttgart;

Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften;

Münchner Gewerkschaftslinke/Gewerkschaftsstammtisch München;

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG);

Weitere ErstunterzeichnerInnen (Einzelpersonen):

Matthias Fritz, IGM, ehem. BR und VK-Leiter Mahle Stuttgart; Christa Hourani, IGM, Delegierte, ehem. BR und VK-Leiterin Daimler Zentrale; Klaus-Peter Löwen, IGM, Delegierter, ehem. stellvertr. GBR-Vorsitzender Alcatel-Lucent Deutschland AG; Niels Clasen, IGM, Ersatzdelegierter, ehem. BR Roto Frank; Jakob Schäfer, IGM, Delegierter, ehem. BR-Vorsitzender; Reiner Hofmann, IGM, Delegierter, ehem. BR Porsche Stuttgart; Jürgen Grad, Delegierter IG Metall Esslingen; Petra Schulz, Vertrauensfrau IG Metall Stuttgart und Mitglied im VCD; Walter Reinhardt, ehe. BR Mahle-Behr Stgt-Feuerbach; Mehmet Sahin, VM Mahle-Behr Feuerbach; Christiaan Boissevain, IGM, ehem. BR Luftfahrtindustrie München. aktiv in der VKG; Sami Cebi, IGM, BR Mahle; Martin Derleth, IGM, Mahle; Günter Triebe, IGM OV Berlin, Delegierter, ehem. BR-Vorsitz6ender OTIS;   Felix Weitenhagen, IGM, BR Siemens Schaltwerk Berlin; Klaus Murawski, IGM-Delegierter Berlin, ehem. VLA Ausschussleiter, VKL und BR bei OTIS; Jan Roschmann-Greiner ehem. Betriebsrat und Vertrauensmann bei HDW-Kiel(heute TKMS),Kiel; Hans-Jürgen Nestmann Rechtsberatung/ AK Senioren IGM Unterelbe; Michael Weidner, i.A. für die deutsche Koordinierungsgruppe der Internatioalen Automobilarbeiterkoordination;  Dietmar Koselitz seit 1969 aktives  Mitglied der IGM Kiel; Hans-Georg Tillmann Sprecher AG 30plus in der SPD; Hans-Jürgen Polke,Delegierter der Geschäftsstelle Kiel-Neumünster IG Metall; Wolfgang Domeier, IGM-Delegierter, ehem. BR-Vorsitzender und VK-Leiter; Peter Vlatten, IGM, ehem. VL  Bereichsleiter und VK-Leitung  Daimler Stuttgart UT;  Hildegard Harms, Spitzbergenweg 39, 22145 Hamburg, ver.di; Reiner Heyse, ehem. BR-Vorsitzender Raytheon Anschütz, Kiel und Vorsitzender Seniorenarbeitskreis Kiel; Hartmut Herold, IGM Berlin, Senioren-Arbeitskreis;  Bärbel Zimmermann, IGM Hamburg;  Karl-Heinz Petersen, IGM Berlin Delegierter;   Krista Deppe ehem. BR-Vors., div. Funktionen in der IG Metall Berlin;   Hildegard Egge IGM Delegierte, stellvertr. Vorsitzende Senioren AK Berlin;

Kommentare und Kritik bitte an: http://www.arbeitskreis-internationalismus.de/kontakt/

Weitere UnterzeicherInnen bitte an: metallertreff@yahoo.de




Solidarität mit den Beschäftigten von Galeria Karstadt-Kauhof!

Nein zu allen Entlassungen und Schließungen! Benko muss für die Krise zahlen!

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Infomail 1109, 4. Juli 2020

Nachdem schon seit Jahren beide Kaufhäuser in der Krise stecken und die Beschäftigten mit Sanierungstarifverträgen und Lohnverzicht dafür bezahlt haben, wurde am 15. Mai die nächste Schweinerei bekannt. Nach Willen der Konzernleitung sollen bis zu 80 Filialen der Galeria Karstadt-Kaufhof (GKK)-Warenhäuser geschlossen werden.

Nach Verhandlungen mit ver.di wurde die Zahl auf 62 Filialen in 47 Städten mit bis zu 6.000 MitarbeiterInnen „reduziert“. Die großen Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Bayern, aber auch Städte wie Berlin sind davon stark betroffen. Aber vor allem wird es für die ohnedies schon strukturschwachen Flächenländer im Osten einen weiteren großen sozialen Einbruch bedeuten.

Am 3. Juli wurde nun bekannt, dass die Konzernleitung für weitere 6 Filialen mit insgesamt 750 Beschäftigten durch Verhandlungen mit den VermieterInnen eine Zukunft sieht. Sicherlich ist das auch eine Auswirkung diverser Proteste der Beschäftigten und ver.dis und durchaus auch eines gewissen Drucks aus der Politik.

Aber niemand sollte sich Illusionen machen, dass die sporadischen und kleinen Proteste ausreichen werden, um den Inhaber der Kaufhäuser, den österreichischen Milliardär und Immobilienmakler René Benko von seinem Vorhaben abzuhalten, tausende von Arbeitsplätzen abzubauen. Schon die Ansage der Konzernleitung vom 3. Juli, dass dieser bis Ende 2022 mit Umsatzeinbußen von bis zu 1,4 Mrd. Euro aufgrund des Konjunkturabschwungs wegen der Corona-Pandemie rechnet, zeigt, dass der Eigner gewillt ist, weiter die Beschäftigten für die Krise zahlen zu lassen.

Wie reagiert ver.di?

Heute wird klarer denn je, dass die Verlängerung des Sanierungstarifvertrags und damit des Lohnverzichts um weitere 5 Jahre nach der Fusion von Karstadt-Kaufhof Ende 2019 nichts gebracht hat. Der von Seiten ver.dis als auch des neuen Inhabers Benko verkündete „gemeinsame Wille“, der dem Handelskonzern wieder auf die Beine helfen sollte, entpuppte sich rasch als Lippenbekenntnis, um die Beschäftigen ruhigzustellen und ihnen eine Perspektive vorzugaukeln. Nun soll die Belegschaft für die weiterhin unklare Zukunft mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze zahlen!

Am 19. Juni hat ver.di den Tarifvertrag „Gute und gesunde Arbeit/Beteiligung Zukunftskonzept“ abgeschlossen. In diesen Verhandlungen wurde erreicht, dass statt 80 nun 62 Filialen geschlossen werden und der geplante Personalabbau von zehn Prozent in den dann noch verbliebenen Filialen verhindert werden konnte. Die Verhandlungsführung von ver.di verkauft dies als großen Erfolg.

Aber: An dem geplanten Personalabbau von jetzt ca. 5.000 Beschäftigten haben dieser Tarifvertrag und die damit verbundenen Verhandlungen nichts geändert. Nach wir vor befinden sich viele KollegInnen in Kurzarbeit, ganz zu schweigen von dem Weiterlaufen des Lohnverzichts.

Darüber hinaus sind mit diesem neuen Tarifvertrag mehrere Probleme auf anderer Ebene verbunden:

a) Für die KollegInnen, die entlassen werden, gelten für jeden Betrieb einzelne Sozialpläne mit entsprechenden Abfindungen. Zum einen stellen diese Sozialpläne nichts anderes dar als ein sozial abgefedertes, kampfloses Akzeptieren der Entlassungen, zum anderen werden diese Sozialpläne je nach Stärke und politischem Willen der einzelnen Betriebsräte, auch die Interessen der Beschäftigten durchsetzen zu wollen, sehr unterschiedlich aussehen. Bekannt ist ja auch, dass viele Betriebsräte auf Kuschelkurs mit der Konzernleitung liegen – entsprechend werden dann auch die Abfindungen und anderen Bedingungen aussehen.

b) Dieser Tarifvertrag zielt darauf ab, die Betriebsräte, ver.di und die Beschäftigten bei der Zukunftsgestaltung der Warenhäuser mit einzubeziehen. Das hört sich wie ein Zugeständnis an, ist aber keines. Vielmehr sollen Betriebsräte und ver.di mit der Konzernleitung unter Zuzug von ExpertInnen in paritätisch besetzten Kommissionen und Arbeitskreisen u. a. in Prozessoptimierungen und die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens eingebunden werden. Auch die Beschäftigten sollen über Umfragen an der Verbesserung beteiligt sein.

Letzteres ist eine explizite Forderung von ver.di, um damit zu verhindern, dass der neue Besitzer den Handelskonzern noch weiter in den Abgrund führt. Dieser hat zugegebenermaßen mehr Interesse an lukrativen Immobiliengeschäften – wie der Umbau des Karstadt-Gebäudes am Hermannplatz in Berlin beweist –, als den Handelsbereich des Konzerns auszubauen.

Aber das ändert nichts daran, dass die Forderung nach stärkerer Einbindung in die Konzernleitung zu einem Fallstrick für Beschäftige werden wird. Wir halten diese Maßnahme für mehr als eine Illusion. Unabhängig von der Corona-Pandemie, die die wirtschaftliche Krise nur beschleunigt hat,  stehen wir kurz vor einer tiefgehenden Rezession, die natürlich auch an einem Konzern wie GKK nicht vorbeigehen wird. Daran wird auch eine pseudo-demokratische Beteiligung der KollegInnen, die natürlich ein Interesse am Erhalt ihrer Arbeitsplätze haben, nichts ändern. Diese werden auch ausgehend von den Umsatz- und Gewinnerwartungen des Eigners unter schlechteren gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen über Einsparungen bis hin zu Entlassungen entscheiden müssen. Damit werden die Belegschaft, die Betriebsräte und ver.di in die Mitverantwortung gezogen. Was Besseres kann einem so harten Eigentümer wie Benko nicht passieren – die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen sollen selbst die Einsicht in die Notwendigkeit von Einsparungen erlangen, über weiteren Lohnverzicht, Flexibilisierung und schlechtere Arbeitsbedingungen „mitbestimmen“!

Kampf statt Mitbestimmungsschwindel!

Für die Verhinderung der Entlassungen und Schließungen ist ein grundlegend anderer Kurs notwendig. Es darf nicht sein, dass sich Benko auf Kosten der Beschäftigten saniert und damit die Möglichkeit erhält, auf deren Rücken noch mehr Profite zu machen! Wenn Profitinteressen und Konkurrenz die Existenz Tausender bedrohen, so dürfen wir Privateigentum und Kapitalinteresse nicht als unhinterfragbare Gegebenheiten betrachten. Das muss der Ausgangspunkt für alle Überlegungen sein.

Der Kampf um den Erhalt aller Arbeitsplätze ist möglich, das haben auch die vielen ver.di-Eintritte im Jahr 2019 – in der Phase vor der Verlängerung des Sanierungstarifvertrages – gezeigt. Auch jetzt, da tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen und die Zukunft vollkommen unsicher ist, bleibt den KollegInnen nichts anderes übrig, als zu kämpfen. Aber unter welchen Bedingungen?

Wir meinen: Als erstes ist nötig, dass die Beschäftigten selbst zu Wort kommen und über ihre Forderungen und Kampfmaßnahmen beschließen können auf ver.di-Mitglieder- und Betriebsversammlungen.

Darüber hinaus brauchen sie auch Strukturen, in denen sie den Kampf zudem kontrollieren und selbst bestimmen können. Wir meinen: Dafür sind demokratisch gewählte Streikkomitees, die nur den Streikenden gegenüber verantwortlich und auch rechenschaftspflichtig sind, das beste Mittel.

Klassenkampf statt SozialpartnerInnenschaft

Benko soll zur Kasse gebeten werden. Dafür müssen alle Geschäftsbücher, Kontobewegungen des Konzerns und seine Immobiliengeschäfte offengelegt werden. Sein Vermögen muss zur Sicherung aller Arbeitsplätze herangezogen werden.

Solange Warenhäuser in den Händen von EigentümerInnen sind, die nur damit Profit machen wollen – auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten –, solange wird der Angriff auf Lohn, auf Rechte der Beschäftigten oder Entlassungen kein Ende nehmen.

Benko und all den anderen AnteilseignerInnen müssen GKK, alle Warenhäuser und Immobilien entzogen werden. Sie müssen entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft verstaatlicht werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass Konjunkturbewegungen, Krisen, Veränderungen der Branche nicht zu Verschlechterungen für die Beschäftigten führen. Erst dann können diese tatsächlich einen sinnvollen Plan aufstellen, wie die Arbeitsplätze erhalten bleiben können.

Darüber hinaus ist der Kampf für eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich – die Arbeit muss auf alle verteilt werden – notwendig – nicht nur bei GKK, sondern in allen Branchen.

Dieser Kampf kann nur ermöglicht werden, wenn zum einen der Kampf bis hin zu Massenstreiks konsequent geführt wird – durch die Entscheidungen der KollegInnen selber. Zum anderen müssen auch die Beschäftigten der anderen Fachbereiche von ver.di – im September steht die Tarifrunde im öffentlichen Dienst an – und die der anderen Gewerkschaften in Solidaritätsaktionen wie Demos, aber auch Solistreiks einbezogen werden. Auch die praktische Solidarität aller anderen Organisationen der ArbeiterInnenwegung – wie von Linkspartei und SPD – muss eingefordert werden. Schließlich könnte die Auseinandersetzung auch zu einem wichtigen, ersten Schwerpunkt für eine Anti-Krisenbewegung werden.

Natürlich sind die KollegInnen von GKK nicht die einzigen, die von Massenentlassungen oder Lohnverzicht betroffen sind. Im öffentlichen Dienst haben die kommunalen Arbeit„geber“Innen bereits angekündigt, dass sie eine lange Laufzeit fordern und höchstens einen Inflationsausgleich zugestehen wollen. In der Automobil- und Zulieferindustrie stehen tausende von Arbeitsplätzen auf dem Spiel.

In dieser Situation sollte es selbstverständlich sein, den Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze, um die Löhne, gegen Auslagerungen und Privatisierung gemeinsam zu führen. Nach wie vor aber halten die Gewerkschaftsführungen – auch die von ver.di – an ihrer alten Sozialpartnerschaftsideologie und -praxis fest, die nicht nur bei GKK in die Sackgasse geführt hat.  Von daher wird es für die KollegInnen, die einen ernsthaften Kampf für die Verteidigung ihrer Interessen führen wollen, nötig, sich zusammenzutun im Kampf für eine kämpferische Ausrichtung in den Gewerkschaften. Dazu brauchen wir eine klassenkämpferische Basisbewegung. Darum rufen wir  alle KollegInnen auf, sich am Aufbau der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG; www.vernetzung.org) zu beteiligen.