Münchner Sicherheitskonferenz: Deutscher Imperialismus soll „Zurückhaltung“ aufgeben

Martin Suchanek, Neue Internationale 244, Februar 2020

Die
OrganisatorInnen der diesjährigen 56. Münchner Sicherheitskonferenz schlagen
Alarm. Die Welt stehe nicht nur „neuen“ globalen Herausforderungen, neuen
militärischen und ökonomischen Mächten wie Russland und China und einer ständig
wachsenden Zahl „nichtstaatlicher“ bewaffneter Gruppierungen gegenüber, worüber
die zahlreichen RegierungschefInnen, MinisterInnen, Konzern-Vorstände und
„SicherheitsexpertInnen“ aus Wissenschaft und Medien reden wollen.

Westlessness

Die SiKo 2020
stellte ein weiteres „Problem“ ins Zentrum ihrer Debatten: Westlessness.

„Der Munich Security Report 2020 wirft ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das wir als ‚Westlessness‘ bezeichnen. ‚Westlessness‘ beschreibt ein weitverbreitetes Gefühl des Unbehagens und der Rastlosigkeit angesichts wachsender Unsicherheit über die Zukunft und Bestimmung des Westens. Viele aktuelle Sicherheitsherausforderungen scheinen direkt mit dem vielbeschriebenen Zerfall des westlichen Projekts verknüpft zu sein. Überdies scheint das Verständnis dafür, was es eigentlich heißt, Teil des Westens zu sein, verloren gegangen zu sein. Es bleibt unklar, inwieweit der Westen eine Strategie und gemeinsame Antwort auf eine Ära der Großmachtrivalität finden wird – wobei darin vielleicht die größte strategische Herausforderung für die transatlantische Partnerschaft liegt.“ (https://securityconference.org/publikationen/munich-security-report-2020)

Im Klartext und
weniger „westlich“ formuliert: Der Niedergang der Vorherrschaft der USA und
ihrer Verbündeten, die Brüche zwischen USA und Europa, der Aufstieg neuer
imperialistischer Rivalen wie China und Russland, der Kampf um die
Neuaufteilung der Welt bestimmen die Tagesordnung der Sicherheitskonferenz.

Nach dem Sieg
des Kapitalismus im Kalten Krieg prägte die Frage, wie die „neue Weltordnung“
gemeinsam zu gestalten sei, wie die USA, EU – und damit auch Deutschland – die
Welt nach ihren Vorstellungen dauerhaft einrichten könnten, eine Zeitlang die
jährlich stattfindenden Treffen.

Doch die
imperialistische „Ordnung“, die mit der Globalisierung des Kapitals etabliert
werden sollte, wurde mit der Weltwirtschaftskrise, mit der neuen Periode der
Instabilität, die 2008 anbrach, unwiederbringlich erschüttert. Sie macht einer
immer härter und offener ausgetragenen Konkurrenz Platz, bei der „der Westen“
zurückzufallen droht. Die USA regieren unter Trump darauf mit einer aggressiven
Wende zum Unilaterialismus, um ihre Vormachtstellung gegen ihren
Hauptkonkurrenten China, aber auch gegen die „verbündete“ EU und Deutschland
wieder zu festigen – inklusive vermehrter Einmischung in die sog. „Dritte Welt“
bis hin zu Putschen wie jüngst in Bolivien und Putschversuchen wie in
Venezuela.

Mit dieser Fragestellung,
die auch schon in den letzten Jahren zunehmend präsent war, verschiebt sich
auch der Fokus der Sicherheitskonferenz.

Unheimlicher
Aufmarsch

Natürlich
präsentiert sie sich weiter als internationale Tagung mit dutzenden
RegierungchefInnen, StaatspräsidentInnen, MinisterInnen, Konzern-Vorständen
sowie „ExpertInnen“ in Sicherheits- und Verteidigungsfragen.

So sollen aus
den USA Außenminister Pompeo, Verteidigungsminister Esper und die Sprecherin
des Repräsentantenhauses, Pelosi, anreisen. China wird mit Außenminister Wang
Yi vertreten sein. Darüber hinaus werden der iranische Außenminister Sarif, der
nordkoreanische stellvertretende Außenminister Kim Son Gyong und viele andere
aus Ost und West erwartet.

Die
Bundesregierung wird von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer sowie
Außenminister Maas vertreten. Eventuell besuchen auch Bundespräsident
Steinmeier und Kanzlerin Merkel die bayrische Hauptstadt. Eine zentrale Rolle
soll außerdem die Vorsitzende der EU-Kommission, von der Leyen, einnehmen.

Und wie jedes
Jahr sind die VertreterInnen der „Sicherheitsindustrie“, Rüstungskonzerne und
deren SponsorInnen aus der Finanzwelt besonders zahlreich vertreten.

Die illustre
Zahl der Gäste soll wie auch in vergangen Jahren ermöglichen, dass die
Sicherheitskonferenz ein „informelles Gesprächsklima“ – beispielsweise zwischen
VertreterInnen Nord- und Südkoreas, Chinas und der USA – zur Lösung jener
Konflikte bietet, die nicht zuletzt die Großmächte selbst herbeigeführt und
befeuert haben.

So werden
sicherlich auch die EU- bzw. NATO-Programme zur „Sicherheit“ der Außengrenzen
der EU einen zentralen Diskussionspunkt bilden.

Erst vor wenigen
Wochen hat sich bekanntlich der deutsche Imperialismus als „Vermittler“ in
Libyen ins Spiel gebracht. Medial wurde ein „Waffenstillstandsabkommen“
verkündet, dessen Umsetzung freilich bis heute auf sich wartet lässt – und
somit sowohl die Ambitionen Deutschlands und der EU wie auch deren Schwächen
als Machtfaktoren der internationalen Politik aufzeigt. Die EU steht auf
verschiedenen Seiten im Bürgerkrieg und erweist sich bislang allenfalls als
fähig, bewaffnete Banden und KillerInnen so weit auszubilden, dass sie die
Grenzen gegen Flüchtlinge sichern.

Defender 2020

Zweifellos
dürfte auch das US-Großmanöver Defender Europe 2020, an dem sich auch
zahlreiche NATO-Staaten beteiligen, eine zentrale Rolle spielen. Die ersten
Truppenverlegungen aus den USA fanden schon im Januar statt. Deutschland soll
im April und Mai im Zentrum der Übung stehen – mit eingegliedertem NATO-Manöver
und logistischer Unterstützung durch die Bundeswehr. Das Ziel liegt auf der
Hand – dem/n gemeinsamen Konkurrenten Russland (und China) verdeutlichen, dass
USA und NATO nicht nur Hand in Hand agieren können, sondern sich auch darauf
vorbereiten, einen Krieg im Ernstfall zu gewinnen.

Das Manöver
entspricht somit nicht nur dem militärischen Schwerpunkt der USA, sondern auch
jener Kräfte in der EU, die China als zunehmenden Rivalen ausmachen. Ob und wie
lange die westliche Allianz sich einheitlich hinter den USA versammelt, ist
freilich offen – in jedem Fall entspricht ein Großmanöver aber auch der
„verteidigungspolitischen“ Wende, die auch die VertreterInnen des deutschen
Imperialismus und der EU forcieren wollen. Wer bei der Neuaufteilung der Welt
nicht nur mitreden, sondern auch gewinnen will, muss militärisch aufrüsten,
aufholen, muss sich „selbstbewusst“ präsentieren und seine „Zurückhaltung“
aufgeben.

Am deutschen
Wesen soll die Westlessness genesen

Wenn es darum
geht, wie das Problem der „Westlessness“ gelöst werden soll, schlägt die
Sicherheitskonferenz, wenn auch im Ton moderat, einen stärker „europäischen“
und das heißt für hiesige ImperialistInnen automatisch einen stärker
„deutschen“ Kurs vor.

Der Organisator der Konferenz, Ischinger, selbst ein lang gedienter politischer Stratege, der von den 1970er Jahren bis in die 2000er unter verschiedenen Regierungen als politischer Staatssekretär und Abteilungsleiter im Außenamt sowie als Botschafter fungierte, fasst die Schwerpunkte und politische Zielsetzung der Konferenz in einem Interview für „Internationale Politik und Gesellschaft“ folgendermaßen zusammen:

„Diese Frage
wird die Konferenz 2020 beschäftigen: ist der Westen heute weniger westlich,
und ist gar die ganze Welt weniger westlich geworden? Das ist ein erster Punkt.

Ein zweiter
Punkt ist folgender: Wenn wir feststellen müssen, dass wir ein ziemlich
chaotisches Bild globaler Ordnung haben, dann stellt sich die Frage: Welche
Rolle spielt eigentlich Europa – als Stabilitätsanker und nicht als Teil der
Zerfallserscheinungen? (…)

Dann schließt
daran die dritte Frage an: Was ist mit der Rolle Deutschlands? Was sind die
Erwartungen an Deutschland?“

Auf die Fragen folgt auch eine Antwort. Europa müsste seine Kleinstaaterei überwinden, Deutschland seine außenpolitische und militärische „Zurückhaltung“ aufgeben. Schließlich, so Ischinger, liefen die letzten Jahre nicht so gut für die imperialistischen Länder Europas. Sie sind trotz ihres ökonomischen Gewichts und einer noch größeren gemeinsamen Potenz zurückgefallen.

Obwohl die EU
eine der größten Industrie- und Handelsmächte ist, vermag sie diese nicht in
geostrategisches Gewicht umzumünzen – und dazu brauche es eine Überwindung
ihrer inneren Gegensätze und eine gemeinsame geo-politische Agenda.

Und natürlich
hat Ischinger auch eine Antwort darauf parat, wer diese vorantreiben und wie
diese etwa aussehen solle. Die „Vorstöße“ Macrons hält er für hilfreich, weil
sie die richtigen Fragen aufwerfen würden, in etlichen Fällen – so z. B. seiner
NATO-Schelte – für überzogen, falsch und kontraproduktiv.

Die eigentliche
Führung komme, auch wenn er das nicht so klar ausspricht, somit Deutschland zu.
Das müsse sich nur von seiner „bequemen“ und passiven Haltung verabschieden.
Sicherheitspolitik, Verteidigung, Sicherung der Grenzen dürften nicht mehr
vernachlässigt werden. Zum Glück, so fährt er weiter fort, bessere sich die
Lage jedoch.

Von der Leyen
zeige mit ihrer „geo-politischen“ Agenda für die EU den Weg, Kramp-Karrenbauer
gehe endlich die Aufrüstung der Bundeswehr richtig an. Gemeinsame Manöver mit
den USA und die NATO seien zumindest mittelfristig, solange Deutschland und ein
geeintes Europa über keine eigenen Atomwaffen verfügen, unerlässlich. Defender
Europe 2020 verdeutliche gegenüber Russland endlich, dass sich Europa (und
somit auch Deutschland) verteidigen könne und wolle. Aber Ansätze zu vermehrten
Auslandsinterventionen, „Friedensmissionen“ und EU-Programme wie die jüngst
beschlossene Marinemission im Persischen Golf zur Sicherung eigener
ökonomischer und geostrategischer Interessen wären Schritte in die richtige
Richtung.

Die diesjährige
Sicherheitskonferenz steht nicht nur im Zeichen einer Diskussion der aktuellen
Weltlage und Krisen, sie versteht sich vor allem als Beitrag, den deutschen
Imperialismus fit für den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu machen.

Der Hauptfeind steht im eigenen Land

Wir unterstützen
die Aktionen und die Demonstration gegen die Konferenz der KriegstreiberInnen,
der imperialistischen PolitikerInnen und StrategInnen, der VertreterInnen
repressiver Regime, der Rüstungsindustrie und des Großkapitals.

Die Sicherheitskonferenz verdeutlicht einmal mehr, dass dem Kampf gegen Militarismus, Aufrüstung und Militärinterventionen in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage eine zentrale Bedeutung zukommt. Sie zeigt wiederum auch, dass der Hauptfeind im „eigenen“ Land steht. Nur durch eine klare, internationalistische und antiimperialistische Ausrichtung und den Versuch, gezielt GewerkschafterInnen, Lohnabhängige und vor allem Jugendliche anzusprechen, kann es gelingen, eine Massenbewegung gegen die versammelten KriegstreiberInnen aufzubauen – eine Bewegung, die nicht nur Aufrüstung und Krieg, sondern auch ihre Ursache, das imperialistische Weltsystem ins Visier nimmt.

Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz

Samstag, 15. Februar, 13.00, Stachus

Webseiten zur Information über die Demostration

www.sicherheitskonferenz.de

www.antisiko.de




München: Nein zur Hetze gegen die Friedenskonferenz!

Susanne Kühn, Neue International 244, Februar 2020

Im Hotel
Bayerischer Hof tagt vom 14.-16. Februar die Münchner Sicherheitskonferenz.
Hunderte KriegstreiberInnen, ImperialistInnen und WaffenhändlerInnen
debattieren über ihre Weltordnung, zynisch als Sorge um den „Weltfrieden“
verkauft.

Die
„UnruhestifterInnen“ und „KrawallmacherInnen“ verortet die bürgerliche
Öffentlichkeit nicht bei jenen, die täglich die Welt einen Schritt näher an den
Abgrund bringen, sondern bei jenen, die gegen Krieg und Aufrüstung protestieren
und demonstrieren.

In diesem Jahr
haben sich diese FreundInnen der objektiven Berichterstattung auf ein weiteres
Ziel eingeschossen: die Internationale Münchner Friedenskonferenz, die sich
seit Jahren als Gegenveranstaltung etabliert hat. Diese wurde über Jahre von
Organisationen der Friedensbewegung, NOGs, reformistischen und kirchlichen
pazifistischen Gruppierungen ausgerichtet. Auch wenn deren Kurs also weit von
einem klassenkämpferischen Antimilitarismus entfernt war, so war offenkundig
schon die pazifistische Kritik an Aufrüstung, Waffenproduktion und -export,
Auslandseinsätzen und imperialistischer Konkurrenz genug, um sie in der
Öffentlichkeit so sehr unter Druck zu setzen, dass die OrganisatorInnen die
diesjährige Veranstaltung absagten.

Den Vorwand für
die Hetze bildete ein sog. „Antisemitismusvorwurf“. Nachdem bisher die
Friedenskonferenz von der Stadt München unterstützt wurde, war es in den
letzten Jahren üblich, dass ein/e VertreterIn der Stadt ein Grußwort an die
Konferenz richtete. In diesem Jahr sollte der SPD-Stadtrat Marian Offmann
sprechen, der vor einem halben Jahr noch CSU-Mitglied war. Offmann war in der
Vergangenheit jedoch auch für seine pro-imperialistischen politischen
Positionen bekannt, die der Anti-Kriegsbewegung klar entgegenstehen. Außerdem
stand und steht er für:

  • Ächtung von BDS-Veranstaltungen in München, Verbot von Zuschüssen oder Zugang zu städtischen Räumen für alle Veranstaltungen, die sich damit befassen. Dieser Beschluss richtet sich unter anderem auch gegen Gruppierungen wie die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München.
  • Deren Ausgrenzung hinderte Offmann nicht daran, jede Kritik an Israel als „antisemitisch“ zu verleumden.
  • Angriffe gegen das Eine-Welt-Haus und alle dort verkehrenden linken, alternativen und migrantischen Gruppierungen. 2012 wollte Offmann dem Haus städtische Fördermittel wegen einer Ausstellung entziehen, die sich gegen die NATO richtete und diese als „militärischen Arm der mächtigsten Staaten und ihrer transnationalen Konzerne“ verhöhnt und diffamiert hätte.
  • Die Unterstützung der Sicherheitskonferenz, der NATO und Diffamierung ihrer GegnerInnen sind spätestens seit 2012 durch Offmanns Beiträge in der damaligen Debatte im Stadtrat gut dokumentiert und bekannt.

Keine
Friedenskonferenz der Welt, keine auch nur annähernd anti-imperialistische
Veranstaltung kann einen solchen Grußredner akzeptieren, ohne sich selbst
lächerlich und unglaubwürdig zu machen. Die Tatsache, dass Offmann selbst
jüdischer Herkunft ist, hat nichts damit zu tun, dass ihn der TrägerInnenkreis
der Konferenz ablehnte. Die politischen Nebelkerzen sollten offenkundig
öffentlichen Druck auf die Konferenz ausüben und die Veranstaltung politisch
diskreditieren. Augenscheinlich hatte diese Methode Erfolg und auch im
Trägerkreis der Veranstaltung spalterisch gewirkt.

Der
Kreisjugendring und der Internationale Versöhnungsbund bedauerten die Ablehnung
Offmans als Redner. Die Friedensgesellschaft DFG-VK Bayern forderte ihn
hingegen auf, „alle Unterstellungen von Antisemitismus“ öffentlich
zurückzunehmen.

Die Hetze gegen
die Friedenskonferenz, die schließlich zur Absage führte, verdeutlicht, dass
wir uns angesichts der imperialistischen Aufrüstung und zunehmenden Konkurrenz
auch auf mehr Repression und mehr staatlich gelenkte, ideologische Angriffe und
Diffamierung vorbereiten müssen. Schließlich gehört zur militärischen
Aufrüstung auch die ideologische.Der Kreisjugendring und der Internationale
Versöhnungsbund bedauerten die Ablehnung Offmans als Redner. Die
Friedensgesellschaft DFG-VK Bayern forderte ihn hingegen auf, „alle
Unterstellungen von Antisemitismus“ öffentlich zurückzunehmen.

Die Hetze gegen
die Friedenskonferenz, die schließlich zur Absage führte, verdeutlicht, dass
wir uns angesichts der imperialistischen Aufrüstung und zunehmenden Konkurrenz
auch auf mehr Repression und mehr staatlich gelenkte, ideologische Angriffe und
Diffamierung vorbereiten müssen. Schließlich gehört zur militärischen
Aufrüstung auch die ideologische.




Strategiedebatte in Fridays for Future: Grüne Nachtrabpolitik oder Antikapitalismus?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 244, Februar 2020

Im Jahr 2019 blicken wir auch auf ein Jahr von Klimastreiks zurück. Was
wurde erreicht? Millionen vor allem junger Menschen sind auf die Straßen
gegangen, doch von einem Einlenken der Politik ist bislang nichts zu erkennen –
außer Lippenbekenntnissen und nahenden Strohhalmverboten. Als Trostpflaster hat
die „Times“ Greta Thunberg zur Person des Jahres gekrönt.

Strategiedebatte

Der Tatsache ins Auge schauend, dass die Streiks in ihrer jetzigen Form,
als Eskalationsmittel ungenügend sind, bahnt sich in Fridays for Future (FFF)
Deutschland eine – erneute – Strategiedebatte an. Diese finden innerhalb der
Bewegung zwar alle paar Wochen statt, aber es zeichnet sich eine neue Qualität
ab.

Jene Kräfte, die mit einem bürgerlich-grünen Programm auftreten, agieren
offener und bestimmter. Wir müssen verstehen, dass die Politik, die die Führung
der Bewegung vertritt, FFF zu einer Art Eventkampagne im Schatten der grünen
Partei machen möchte. Programmatisch soll diese durch eine praktisch
unwidersprochene Ausrichtung auf den „Green New Deal“, das strategische Konzept
der Grünen Partei, erfolgen.

Die enge Verbindung führender VertreterInnen und SprecherInnen von FFF
mit den Grünen, zahlreichen der Partei nahestehenden NGOs und somit
professionellen, durchaus finanzkräftigen Kampagnenstrukturen trat in den
letzten Monaten ebenfalls immer deutlicher zutage.

Zeitgleich schwanken die Kräfte des oppositionellen Lagers in der Bewegung
zwischen kleinbürgerlichen Positionen wie Konsumverzicht, Romantisierung der
kleinbäuerlicher Produktion oder einer idealistischen Vorstellung, dass es
einfach reiche, die „Wahrheit“ bekanntzumachen einerseits. Andererseits
erhoffen sie sich von einer bloßen Radikalisierung der Aktionsform
(Besetzungen) und etwas radikaleren Forderungen, die Bewegung nach links
treiben zu können.

Die radikalen und revolutionären Kräfte in der Bewegung treten offen nur
vereinzelt auf, bestenfalls auf relativ isolierten kämpferischen Inseln –
andere ordnen sich praktisch dem Programm der Bewegung unter, um nicht als
„SpalterInnen“ zu erscheinen.

In spätestens solchen Situationen besteht eine zentrale Aufgabe von
RevolutionärInnen innerhalb der Bewegung darin, die Strategiedebatte anhand der
Klassenlinie zu führen.

Die Lager verstehen, um für eine Perspektive kämpfen zu können

Um dies genauer untersuchen und Schlussfolgerungen hieraus ziehen zu
können, ist eine Auseinandersetzung mit den inneren Widersprüchen in der
Bewegung wichtig. Nur so können wir die Bedeutung der Debatte nachvollziehen.
Dies ist Aufgabe aller Kräfte innerhalb der Bewegung, die hinter der Aussage
stehen, dass ein nachhaltiges Verhältnis von Mensch und Natur im Kapitalismus
nie erreicht werden kann und wir deshalb den Kampf gegen die Umweltzerstörung
mit dem Kampf um den Sturz des Kapitalismus verbinden müssen.

Auch wenn die Bewegung enormen mobilisierenden Elan hatte und noch immer
hat, also eine echte Massenbewegung darstellt, so dürfen sich MarxistInnen keine
Illusionen darüber machen, dass solche Bewegungen natürlich immer noch von
„radikalen“ oder „linken“ Spielarten bürgerlichen Bewusstseins geprägt sind. Es
ist daher kein Wunder, dass viele AktivistInnen politisch-ideologisch grünen
oder kleinbürgerlichen Positionen zustimmen, weil diese in der Gesellschaft
ohnedies schon verankert sind, wirkmächtige Gedankenformationen darstellen.

Zweitens umfasst eine SchülerInnenbewegung notwendigerweise (anders
selbst als verbürokratisierte Gewerkschaften) immer AktivistInnen aus allen
Klassen. Dass sich die links-bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kräfte im
Vorteil befinden, geht dann natürlich auch damit einher, dass die Bewegung von
GymnasialschülerInnen und Studierenden geprägt ist, also selbst stark eine Dominanz
der Kinder aus lohnabhängigen Mittelschichten, der ArbeiterInnenaristokratie
und dem KleinbürgerInnentum aufweist. Natürlich ist es kein Automatismus, dass
damit auch schon eine bürgerliche oder kleinbürgerliche Hegemonie in der
Bewegung besteht – aber es bedarf einer aktiven politischen Intervention von
RevolutionärInnen und klassenpolitisch ausgerichteten Kräften, um eine solche
gegen die bürgerliche Führung durchsetzen zu können. Ansonsten wird deren
Dominanz nur gestärkt, wie wir zurzeit beobachten können.

Bürgerliche Kräfte

Das offenere Auftreten bürgerlicher Kräfte drückt sich dabei an den
unterschiedlichsten Stellen aus. Beispielsweise an einer Stimmungsmache gegen
das Mittel des Streiks als wöchentlichen Kraftakt. Bei Workshops, so z. B. beim
mit 300 TeilnehmerInnen gut besuchten Nordtreffen von FFF, sollten SchülerInnen
Tipps und Tricks für ein nachhaltiges Anlagegeschäft in grüne Konzerne
nähergebracht werden. Es zeigt sich auch beim Verhandeln um
Aufsichtsratpöstchen bei Siemens, bei der Gründung von „Enterpreneurs for
Future“ oder im zaudernden Verhalten gegenüber der notwendigen Konversion der
deutschen Automobilindustrie weg vom Individualverkehr überhaupt. Die Forderung
nach einer Ersetzung des Individualverkehrs durch einen kostenlosen öffentlichen
Nahverkehr wurde von führenden VertreterInnen von FFF mit der Begründung
abgelehnt, dass man auch die Autokonzerne, genauer deren Management, mit ins
Boot holen und nicht weiter „abschrecken wolle“. Umso eifriger wird dagegen die
Forderung nach einer hohen CO2-Steuer für alle unterstützt.

Praktisch folgt dies daraus, dass die wöchentlichen Streiks zwar eine
konsequente UnterstützerInnenschaft haben, jedoch deutlich kleiner sind als in
der ersten Hälfte des vergangenen Jahres. Doch auch hier dürfen wir dies nicht
als Fakt annehmen, sondern müssen es als Produkt einer Politik der Führung der
Bewegung interpretieren.

Hierfür möchten wir vier beispielhafte Themen ansprechen: a) Die Bewegung
als Stimme der Wissenschaft, b) der Umgang mit Repressionen gegenüber
SchülerInnen, c) der Klimageneralstreik und d) den Wandel zu regelmäßigen
Großevents.

Die Stimme der Wissenschaft

Die unterschiedlichen Kräfte in der Klimabewegung hierzulande (bspw. FFF,
XR) verstehen sich als die konsequente Stimme der Wissenschaft. Darin liegt
auch der Verzicht auf ein eigenständiges politisches Programm begraben, das
über die Forderung einer Umsetzung sogenannter Klimaziele hinausgeht. Die
weitest reichende Ausgestaltung des Programms von FFF besteht darin, an den
Staat die Bitte nach einer nicht weiter definierten „sozialen Verträglichkeit“
der notwendigen Maßnahmen zu richten. Verbunden wird das mit dem Aufruf, nur
Parteien zu wählen, die eine ernsthafte Klimapolitik vertreten.

Unter bestehenden Verhältnissen ist diese Aussage gegenüber einer
möglichen schwarz-grünen Koalition auf Bundesebene nicht nur passiv, sie
fördert diese sogar. Die Basis der Bewegung selbst wird hier als Fußvolk für
Politik und Wissenschaft verwendet. Die Entwicklung eigener Inhalte wird
hierfür als nachrangig betrachtet. Somit steht und fällt die Regelmäßigkeit und
Schlagkraft der Bewegung mit dem Eindringen wissenschaftlich notwendiger
Erkenntnisse in die Sphäre der Politik. Das Ziel ist nicht, eine eigenständig
und selbst organisierte Generation von jungen KämpferInnen herauszubilden,
sondern die Herrschenden durch „Aufklärung“ zur Umkehr zu bewegen.

Zusätzlich muss klargemacht werden, dass die naturwissenschaftlichen
Forschungsergebnisse an sich kein eindeutiges Handlungsprogramm vorgeben. Sie
klammern immer die Frage der gesellschaftlichen Kraft, die ihre Interessen und
Maßnahmen umsetzen kann, aus. So kann zum Beispiel die Idee einer Energiewende
an sich als fortschrittlich begriffen werden, unter kapitalistischen
Vorzeichnen verkehrt sie sich jedoch leicht in ihr Gegenteil – Förderung
„alternativer“ Konzerninteressen und von Massenbesteuerung, nimmt also einen
arbeiterInnenfeindlichen Charakter an.

Als RevolutionärInnen müssen wir mit aller Klarheit aufzeigen, dass der
Kapitalismus systematisch zur Senkung der Kostenanteile in der Produktion
gezwungen ist und deshalb diese mit dem Ergebnis einer Umweltzerstörung
externalisiert. So ähnlich wie er auch die Kosten zur Wiederherstellung der
Arbeitskraft (Reproduktionskosten) in ihrem unbezahlten Umfang der Familie und
in ihr der weiblichen Arbeitskraft unterjubelt, drückt er sie hier den
natürlichen Lebensgrundlagen auf.

Der Umgang mit Repressionen

Im Frühjahr 2019, als deutlich wurde, dass die Streiks länger andauern
würden, nahmen Stimmen in der Öffentlichkeit zu, die sie als Schulschwänzen
abtun wollten und sich für Strafen aussprachen. Die Bewegung antwortete darauf
nicht mit geeintem Widerstand, sondern mit etwas, das überspitzt als eine Form
der „Sklavenmoral“ begriffen werden kann. Es ging darum, bewusst die Strafen
hinzunehmen oder ihnen individuell zu entfliehen, durch zusätzliche
Anstrengungen, einen Schulwechsel oder ähnliches. Kollektive Aktionen oder auch
nur offene Widerworte waren die Ausnahme, obwohl diese viel effektiver waren,
in etlichen Fällen zur Rücknahme von „Strafen“ führten und an den Schulen
organisierend wirkten. Doch genau das war von den bürgerlichen Kräften in FFF
letztlich gar nicht gewollt, weil eine von unten organisierte Bewegung schwerer
zu kontrollieren ist.

Der Klimageneralstreik

Einen Tag vor der Europawahl wurde ein Aufruf durch eine Reihe führender
AktivistInnen von FFF veröffentlicht, darunter auch Thunberg und Neubauer
(Aufruf: „Streikt mit uns!“ vom 23.05.19). Dieser rief zwar in erster Linie
allgemein die älteren Generationen auf, sich zu beteiligen. Er richtete sich
auch gezielt an die Lohnabhängigen und forderte zum gemeinsamen, massenhaften
Widerstand auf. Er blieb jedoch abstrakt, zeigte aber das Potential der
Bewegung, Teile der Gewerkschaften in den Kampf zu integrieren. Kräfte wie
ver.di oder die IG Metall bezogen sich zwar positiv auf die Bewegung und den
Aktionstag, jedoch blieben sie in der Mobilisierung passiv. Ver.di rief ihre
Mitglieder sogar dazu auf, nach Möglichkeit außerhalb der Arbeit an den Streiks
teilzunehmen.

Zeitgleich fand innerhalb von Fridays for Future um den Sommerkongress
Anfang August in Dortmund eine Debatte statt. Hier wurde um die Ausrichtung des
Streiks gestritten. Es standen sich die Positionen eines Klimastreiks unter dem
Motto #AllefürsKlima oder eines Klimageneralstreiks entgegen.

Eine Konsequenz war, dass wir auf dem Klimastreik zwar den momentanen
Mobilisierungshöhepunkt der Bewegung erlebten, jedoch eher in Form eines
klassenübergreifenden zivilgesellschaftlichen Blocks. Besonders kritisch zu
bewerten ist dabei die offene Teilnahme der sogenannten „Entrepreneurs for
Future“ (UnternehmerInnen für die Zukunft). Sie erhielten nicht nur die
Möglichkeit, ihre Westen wieder „grün zu waschen“, sondern treten seitdem auch
allgemein offener in der Bewegung in Erscheinung – ganz wie z. B. nach dem
Weltwirtschaftsforum in Davos die „verständnisvollen“ Konzernspitzen als
positive Beispiele gegenüber den „rückschrittlichen“ PolitikerInnen ins Spiel
gebracht werden.

Die Wende hin zu Großevents

Die Bewegung steht und fällt mit ihrer medialen Inszenierung. Dabei sind
die wöchentlichen Streiks schon lange nicht mehr in den Medien präsent wie in
den ersten Monaten. Die größere Aufmerksamkeit erlebten die vier zentralen
Aktionstage von FFF im Jahr 2019. An diesen beteiligten sich innerhalb
Deutschlands am 15. März 300.000, am 24. Mai 320.000, am 20. September 1,4
Millionen und am 29. November 630.000 Menschen. Ab dem zweiten Streiktag fanden
diese parallel zu internationalen Klimagipfeln oder zur EU-Wahl statt.

Auch wenn es grundsätzlich richtig ist, Massenproteste zu diesen Anlässen
zu organisieren, so steckt dahinter auch, dass die FFF-Spitze auf die
Mobilisierung zu diesen Events setzt und nicht auf den Aufbau der
Selbstorganisierung in den Schulen. Eine Streikbewegung muss sich, um lebendig
zu bleiben, aber dort verankern, wo sie ihre Tätigkeit niederlegt. Hier muss
der Druck aktiv ausgebaut werden. Dies durch das Ausbrennen Einzelner zu
rechtfertigen, zeigt viel eher, dass die Bewegung daneben ein Demokratieproblem
hat, als dass es an den Streiks selbst liegt. Werden sie zum Selbstzweck, so
bleiben sie langfristig wirkungslos.

In einzelnen Städten wurde jetzt eine Streikpause ausgerufen ohne
demokratische Abstimmung innerhalb der Basis der Bewegung. In den
Strategiedebatten, wie beispielsweise auf dem Nordkongress oder in der Debatte
der Berliner Ortsgruppe von FFF, wurde hierbei die Frage einer grundsätzlichen
Einstellung der wöchentlichen Streiks in die Diskussion geworfen.

Während das erste Jahr politisch von einem unausgesprochenen und vielen
auch nicht bewussten Kompromiss zwischen unterschiedlichen Programmen und
Kräften innerhalb der Bewegung geprägt war, verändert sich nun die Situation,
indem die Führung ihr links-bürgerliches Programm offener durchzusetzen
versucht.

Wohin?

Die antikapitalistischen Kräfte, die dem nicht offen entgegentreten,
stützen dies somit indirekt, indem sie ihre Aufgaben ignorieren und die
Illusion einer dauerhaften Vereinbarkeit dieser feindlich einander
gegenüberstehenden Programme aufrechterhalten. Dies mag zwar aus der
individuellen Perspektive nachvollziehbar sein, haben sie doch im Fahrwasser
einer Massenbewegung den lang ersehnten Zulauf an neuen AktivistInnen erhalten.
Die Frage bleibt jedoch bestehen, für welches Programm und zu welchem Zweck
diese organisiert werden sollen.

Was wir nun brauchen, ist eine gemeinsame Konferenz der
antikapitalistischen und auf die ArbeiterInnenklasse orientierten Kräfte
innerhalb der Bewegung. Diese Konferenz muss sich über den Charakter der
Bewegung austauschen, darf jedoch nicht in der reinen Diagnose verharren. Sie
muss gemeinsame praktische Schlüsse ziehen und exemplarische Gegenvorschläge
zum vorherrschenden Programm in FFF entwerfen, die dann von allen Teilen der
Konferenz gemeinsam umgesetzt werden. Hierzu bietet sich beispielsweise der
Kampf für einen kostenlosen Nahverkehr als Alternative zum Elektro-PKW an,
organisiert unter Kontrolle der ArbeiterInnen, finanziert durch die Gewinne der
Konzerne. Auch die Frage der offenen Grenzen und vollen StaatsbürgerInnenrechte
ist aktuell. So erleben wir in Österreich eine schwarz-grüne Regierung, die
sich zwar einzelne nachhaltige Ziele gesetzt hat, jedoch weiterhin ein
neoliberales und offen rassistisches Programm vertritt. Wir rufen alle AntikapitalistInnen
in der Bewegung dazu auf, gemeinsam für eine solche Perspektive zu kämpfen!




Naziaufmärsche in Dresden verhindern – Pull em‘ up now, before they take root!

Peter Böttcher, Neue Internationale 244, Februar 2020

Kurz vor dem Ende des
Zweiten Weltkriegs, vom 13. bis 15. Februar 1945, wurde die Stadt Dresden von
der Royal Air Force bombardiert. Den Luftangriffen fielen offiziellen
Schätzungen zufolge ca. 22.700-25.000 Menschen zum Opfer.

Seit den 1990er Jahren
marschieren jährlich FaschistInnen durch Dresden, um die Bombardierung der
Stadt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Mehr noch als das: sie versuchen,
die Geschichte zu verfälschen, indem sie das Dritte Reich als unschuldiges
Opfer der alliierten Bombenangriffe darstellen und zu den vorangegangenen
Kriegsverbrechen der Nazis schweigen. So wird durch das Herbeifantasieren von
mehreren hunderttausend Bombentoten, durch die ständige Rede von versuchtem
Genozid, durch die Bezeichnung der Luftangriffe als „alliierter
Bombenholocaust“ gezielt versucht, einen Opfermythos um das faschistische
Deutschland zu schaffen. Gleichzeitig wird der eigentliche Holocaust von den
AnmelderInnen der Nazidemos geleugnet.

Entwicklung

Anfangs waren die
TeilnehmerInnenzahlen der sogenannten „Trauermärsche“, die unter solch Titeln
wie „Ehre den Opfern des Bombenterrors“ beworben wurden, noch recht
überschaubar. Im Laufe der Jahre und durch die zunehmende Unterstützung aus den
Nachbarländern erhielten diese jedoch massiven Zulauf. In den Jahren 2009-2010
erreichten die faschistischen Mobilisierungen zum 13. Februar ihren Höhepunkt,
als bis zu 6.500 Rechte durch Dresden marschierten und den sogenannten
„Trauermarsch” als einen der größten Naziaufmärsche Europas etablierten.

Im Jahr 2009 gründete
sich auch auf Initiative der Interventionistischen Linken (IL) hin das
antifaschistische Bündnis „Dresden Nazifrei“. Diesem gehörten linke Parteien,
verschiedene Strömungen der radikalen Linken, Gewerkschaften, kirchliche sowie
auch „zivilgesellschaftliche“ Initiativen an. Durch die damit erreichte
bundesweite Vernetzung und Mobilisierung gelang es in den Folgejahren, die
faschistischen Demonstrationen mittels Massenaktionen und Blockaden zu
verhindern. Daraufhin ging die Beteiligung an den „Trauermärschen” bis 2015 auf
ein Minimum zurück und nahm erst infolge des Rechtsrucks wieder zu.

In den letzten Jahren
gelang es den Neonazis erneut, überregional zu mobilisieren und die Beteiligung
zu steigern. Gleichzeitig war es aufgrund einer nach den anfänglichen
Blockadeerfolgen allgemein rückläufigen und wieder regional begrenzten
Gegenmobilisierung seither nicht mehr möglich, den faschistischen Aufmärschen
effektiv etwas entgegenzusetzen. In den letzten Jahren gab es zwar auch immer
Gegenaktionen und kleinere Blockadeversuche, dennoch konnten die
„Trauermärsche“ beinahe ungehindert stattfinden und die TeilnehmerInnenzahlen
an den Demos der Rechtsradikalen wie auch an den antifaschistischen
Gegenaktionen waren nahezu gleich. Während die Beteiligung an den Neonazi-Demos
vor einigen Jahren nur noch bei wenigen Hunderten lag, ist diese bis zum
letzten Jahr wieder kontinuierlich auf etwa 1.000 angewachsen.

Hierfür gibt es
unterschiedliche Gründe: Die steigenden TeilnehmerInnenzahlen auf Seiten der
Rechten stehen im Zusammenhang mit dem allgemeinen Erstarken des
Rechtspopulismus in Deutschland und der Welt. Wahlerfolge von rechten Parteien
wie dem Rassemblement National in Frankreich (ehemals Front National), der PiS
in Polen oder der AfD hierzulande zeigen, dass nationalistisches und
rassistisches Gedankengut von breiten Teilen der Gesellschaft mitgetragen wird
und in Parlamenten und Regierungen wieder salonfähig geworden ist. Von den
Wahlerfolgen abgesehen konnten wir aber auch gerade in Dresden die Entstehung
und das Wachsen der völkisch-nationalistischen PEGIDA-Bewegung beobachten,
welche WählerInnen und PolitikerInnen der AfD, aber auch rechtsradikale
Gruppierungen wie die „Identitäre Bewegung“, die „Freie Kameradschaft Dresden“
(FKD) und die „Gruppe Freital“ in sich vereinte und zeitweise bis zu 25.000
Menschen mobilisieren konnte. Anfangs als „besorgte BürgerInnen“ abgetan konnte
so ein Schulterschluss zwischen militanten Neonazis, der „Neuen Rechten“ und
breiten Teilen der nach rechts gerückten Gesellschaft stattfinden.

Rechtsruck und
Kapitalismus

Angesichts des
gesellschaftlichen Rechtsrucks ist davon auszugehen, dass die Naziaufmärsche
weiter an Zulauf gewinnen werden. Was es aber braucht, um die Demos der
FaschistInnen rund um den 13. Februar dieses Jahr sowie in Zukunft mit
Massenblockaden zu verhindern, aber auch, um den Rechtsruck zu stoppen, ist
eine überregionale, breit aufgestellte antifaschistische Bewegung. Eine
Aktionseinheit der Gewerkschaften, linken Parteien und Gruppen wäre durch die
Einbindung einer Vielzahl der bereits organisierten ArbeiterInnen nicht nur
imstande, den „Trauermärschen“ ein Ende zu setzen, sondern könnte auch durch
das Aufwerfen von Forderungen nach Verbesserungen der Arbeits- und
Lebensbedingungen für alle und durch das Entfachen entsprechender Kämpfe um
diese Forderungen ein guter Ansatz für eine soziale Bewegung sein, die dem
Rechtsruck in der Gesellschaft tatsächlich etwas entgegensetzen kann.

Denn dieser und das damit
einhergehende Erstarken faschistischer Kräfte hat seine Wurzeln im
Kapitalismus. Konkurrenzdenken, systemimmanente Wirtschaftskrisen und die damit
einhergehende Gefahr des sozialen Abstiegs für das KleinbürgerInnentum, Sozialabbau,
Prekarisierung und soziale Ungleichheit im Allgemeinen sind der Nährboden für
rassistische Vorurteile und reaktionäre Bewegungen. Wenn die
ArbeiterInnenbewegung keine fortschrittliche Antwort und Kampfperspektive zu
weisen vermag, kann die gesellschaftliche Angst und Verzweiflung leicht zum
Nährboden für die Kräfte der Reaktion, für Rechtspopulismus, Nationalismus oder
sogar Faschismus werden.

Deshalb müssen wir den
Aufbau einer antifaschistischen und antirassistischen
ArbeiterInneneinheitsfront mit einer schonungslosen Kritik an der Politik der
herrschenden Klasse und diesem Wirtschaftssystem verbinden. Wir müssen uns
bewusst machen, dass der Faschismus seinen Ursprung im Kapitalismus hat, dass
er mitsamt all der Katastrophen, die er über die Menschheit brachte, geschehen
ist und folglich wieder geschehen kann. Wir müssen uns auch vor Augen führen,
dass der historische Faschismus nur deshalb erfolgreich war und innerhalb
kürzester Zeit die antifaschistische ArbeiterInnenbewegung zerschlagen konnte,
weil diese damals uneinig und gespalten war, weil die Sozialdemokratie ihr Heil
im Bündnis mit den bürgerlichen Parteien suchte, während sich die KPD weigerte,
systematisch für die Einheitsfront gegen den Faschismus einzutreten.

Natürlich gibt es Differenzen
zwischen den einzelnen Parteien, Gruppen und Strömungen. Diese sollten nicht in
den Hintergrund gerückt werden, sondern ganz im Gegenteil: Die
unterschiedlichen Auffassungen, Positionen und Taktiken müssen offen diskutiert
und es muss um eine effektive Strategie im Kampf gegen rechts gestritten
werden. Jedoch dürfen uns diese Differenzen nicht davon abhalten,
zusammenzuarbeiten und die vorhandenen Ressourcen in der Einheit nach außen zu
bündeln. Die antikapitalistischen Kräfte müssen vielmehr versuchen, die
reformistischen Parteien und Gewerkschaften zum Kampf zu zwingen – auch um
ihrer Kritik an den Fehlern der Gewerkschaftsbürokratie, der Führungen von SPD
und Linkspartei bei deren AnhängerInnen besser Gehör zu verschaffen.

Weiterhin dürfen wir es
nicht dabei belassen, ausschließlich den Rechten auf den Straßen
entgegenzutreten. Wir begegnen auch in unserem Alltag, an den Orten, an denen
wir lernen, arbeiten und leben, faschistischem und rassistischem Gedankengut
und solchen Organisationen. Darum ist es notwendig, dass wir uns auch an den
Schulen, Unis und im Betrieb organisieren. In Dresden versuchen wir von
REVOLUTION, vor allem Jugendliche für die Gegenaktivitäten zu mobilisieren,
werden hierzu auch einen Infovortrag durchführen und uns mit einem Demotraining
auf die bevorstehenden Aktionen vorbereiten.

  • Ob rund um den 13. Februar oder an jedem anderen Tag: Verhindern wir die faschistischen Aufmärsche! Für eine antifaschistische und proletarische Einheitsfront! Keinen Fußbreit den FaschistInnen!
  • Infoveranstaltung und Demotraining von REVOLUTION Dresden, 8. Februar, 14.00, Zentralwerk, Riesaerstr. 32



Hamburger Bürgerschaftswahlen: Ein neuer „Green Deal“?

Bruno Tesch, Neue Internationale 244, Februar 2020

Glaubt man den
Darstellungen der Hamburger politischen Elite – ob vom rot-grünen Senat oder
der bürgerlichen Opposition -, so scheint die Zukunft der Stadt gesichert.

Hamburgs
Wirtschaft wurde frühzeitig von Industrie- auf Logistikstandort umgestellt. Von
der CSU in München abgekupfert war die Schaffung eines Wirtschaftsgürtels im
Umland. Mit dem europäischen Großkonzern EADS konnte die
Luftfahrt-Rüstungssparte in Finkenwerder angesiedelt werden. In Form der
Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) wurde das Hafenareal einer
infrastrukturellen Umwälzung unterzogen. Hamburg scheint vor Innovationsfreude
zu sprühen, wenn man von Projekten hört wie der Erschließung eines
Wohn-/Gewerbegebiets auf dem Grasbrook, dem Streckenausbau der S-Bahn, vom
Abriss der Köhlbrandbrücke und Ersetzung durch einen neuen Elbtunnel, vom
Elbtower sowie einem Verladebahnhof, der die Anbindung an Europas größten
Güterumschlagsplatz Maschen im Schienenstrang herstellen soll.

Doch damit kann
die Ladung der anstehenden Probleme nicht gelöscht werden. Hamburg droht, im
Kampf mit der belgischen und niederländischen Hafenkonkurrenz zurückzufallen,
da es keinen unmittelbaren Seezugang besitzt. Die gerade durchgeführte
Elbvertiefung reicht nicht mehr aus, um die großen Pötte anlanden zu lassen.

Die verfehlte
Wohnraumpolitik hat zu überteuerten Mieten mit den höchsten Steigerungsraten im
letzten Jahrzehnt geführt. In der Umweltpolitik segelt Hamburg nicht voran, die
Feinstaubbelastung ist trotz günstiger Lage für Luftdurchmischung hoch. Hamburg
machte weltweit Negativschlagzeilen durch die Pleite bei der Olympiabewerbung
und bei der Ausrichtung des G 20-Gipfels. Das Weltstadt-Lametta zerfieselt
sich.

Vorzeichen für die Bürgerschaftswahlen

Bis auf zwei
„Ausrutscher“ (1982, 1986) und die klare Schlappe in der Periode 2004 bis 2011,
als sie das Steuerruder an die CDU abtreten musste, hielt die SPD in der
Nachkriegszeit das Kapitänspatent für die hanseatische Senatsyacht in Erbpacht;
doch der Bundestrend wirbelt auch hier die bisherigen Verhältnisse
durcheinander.

Konnte die SPD
2015 noch mit 45,6 % haushoch siegen und damit mehr als alle  4 nächstplatzierten Parteien zusammen
erringen, ist selbst die einfache Mehrheit 5 Jahre später in Gefahr.

Als
Hauptkonkurrentin erscheint aber nicht die CDU. Nachdem deren einstige
„Lichtgestalt“ von Beust von Bord gegangen war, versackte sie und dürfte in der
Stimmenauszählung über Platz drei nicht hinauskommen.

Vielmehr erhebt
die derzeitige Juniorpartnerin, Die Grünen, ihr Haupt auf Augenhöhe und ist
nicht mehr bereit, sich mit der untergeordneten Rolle abzufinden. Die Grüne
Partei hat gute Chancen, ihr Stimmenergebnis von 2015 (12,3 %) zu verdoppeln,
damit den SozialdemokratInnen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu liefern und im
Siegfall die Option des/der 1. BürgermeisterIn ziehen zu dürfen. Die SPD muss
sogar fürchten, das schlechteste Wahlresultat ihrer Geschichte in Hamburg
einzufahren und unter die 30 %-Marke zu rutschen.

Die
Sozialdemokratie hat für den Fall einer Wahlniederlage, also das Abrutschen auf
Platz 2, angekündigt, dass sie nicht bereit für einen Rollentausch sei, sondern
dann in die Opposition gehen würde. Wie glaubwürdig das ist, sei dahingestellt,
wenn dies ausgerechnet aus dem Mund des Olaf Scholz-Intimus Peter Tschentscher
kommt, der die Fortsetzung der GroKo befürwortet, sich also dafür ausspricht,
dass die SPD auf Bundesebene als Vorschotfrau auftritt, die die Kapitänskajüte
einer anderen Partei überlässt.

Das ließ die CDU
aufhorchen, und Ole von Beust gab seiner Partei den Tipp, sich auf eine
Zusammenarbeit mit den Grünen einzustellen, wobei die CDU auf die Unterstützung
der FDP hoffen muss, die 2015 mit 7,4 % in den Senat eingezogen ist.

SPD

Der hamburgische
Bezirk ist traditionell nicht bekannt für linke Politik. Die Senatsspitze gilt
als GroKo-Befürworterin. Der wirtschaftsnahe Flügel um Johannes Kahrs hat hier
hohes Gewicht. Rückendeckung bezieht die Partei v. a. aus den Gewerkschaften,
die in Hamburg mehr Kampfbremse als -lokomotive darstellen.

Die SPD hofft,
sich die Großprojekte im Bereich Verkehr, Wohnungsneubau bei der
WählerInnenschaft gutschreiben zu können. Diese Pläne könnten aber allesamt
schnell auf dem Trockendock landen. Eher muss sie sich die Versäumnisse und
strategischen Ausrichtungen gegen die Interessen der Lohnabhängigen anlasten
lassen. Die nach außen wirtschaftsliberale zarte Hand wäscht die innenpolitisch
repressive, harte.

Bündnis 90/Grüne

Ihr gestärktes
Selbstbewusstsein zeigt sich zum einen bei jüngsten Neueintritten. Aufwind
bekommen sie auch durch die FFF-Stärke, die am 20. September als zweitgrößte
und am 29. November sogar als mächtigste Kraft bei den deutschen
Klimastreikaufmärschen demonstrierte.

Offenbar hat sie
auch den hässlichen Fleck auf ihrem vorgeblich migrationsfreundlichen
Showsmiling unbeschadet wegretuschieren können, als im Bezirk Mitte die mit
Mehrheit gewählte Meryem Celikkol von der Spitze nicht in die Fraktion
aufgenommen wurde und daraufhin austrat. Hintergrund des Konflikts war ein
unbewiesener Vorwurf des Islamismus gegen Mitglieder einer
parteioppositionellen Gruppe.

Ihr erstes
Senatsamt bekleideten die Grünen 2008 für den Bereich Umwelt. Durch die
Zustimmung zum Bau des Kohlekraftwerks Moorburg hatten sie den ersten, und
nicht letzten, heiligen Umweltschutz-Eid gebrochen.

AfD

Sie dürfte ihre
Position gegenüber 2015 (6,1 %) zwar verbessern können, wird aller Voraussicht
nach jedoch Mühe haben, auf einen zweistelligen Stimmenanteil zu kommen. Die
AfD hat kein populistisches Thema, mit dem sie derzeit wirklich punkten oder
zugkräftig mobilisieren kann. Die Umgruppierung im bürgerlichen Lager kommt in
Hamburg ganz eindeutig den Grünen zugute.

Linkspartei

Die Anzeichen
von Verknöcherung mehren sich. Seit Jahren rumort immer derselbe Personenkreis
im Ämterapparat. Das bürokratische Parteiregiment offenbarte sich eklatant, als
ein im Bezirk Mitte von der Basis gewählter Vertreter nicht vom Landesverband
akzeptiert worden war. Diese missliebige Person war nicht zufällig ein
SAV-Mitglied. Da beließ man es lieber bei einem blinden Fleck in der
Bezirksvertretung, als einen möglichen Störfaktor auf höherer Ebene zuzulassen.
Mit Jan van Aken, bis 2017 Bundestagsabgeordneter und damals maßgeblich, auch
gegen Widerstände aus der eigenen Partei, an der Organisierung der G
20-Proteste beteiligt, strich einer der wenigen, in der Hamburger Linken und
den sozialen Bewegungen langjährig verankerter Aktivposten weitgehend die
Segel.

Bei allen
Großveranstaltungen der letzten anderthalb Jahre (Antirassismus-Aufmarsch,
Mieten-Move, Klimastreikaktionen) war die Linkspartei, inklusive ihrer
Jugendabteilungen SDS und [’solid], nur halbherzig dabei und keine treibende
Mobilisierungskraft. In etlichen Zusammenschlüssen, wie z. B. dem Bündnis für
mehr Personal im Krankenhaus oder der „Volksinitiativen“ zur Nutzung
städtischer Grundstücke, ist sie z. T. führend vertreten, optiert jedoch in die
parlamentarisch-juristische Richtung (Volksbegehren, Aktionen abgestimmt
auf  Parteienwahlkampf).

Warum dennoch Linkspartei wählen?

Trotz ihrer
halbgaren „Oppositionspolitik“ konnte sich die Partei somit als Bezugspunkt für
die fortgeschrittensten und aktivsten Elemente aus ArbeiterInnen-, sozialen und
Jugendbewegungen halten. Diese sind aufgerufen, den Klassenkampf an die Partei
heran- und in sie hineinzutragen, indem sie ihre Stimmabgabe mit den
drängendsten Forderungen an die Linkspartei verbinden und sie auffordern,
Massenkampagnen zu entfalten, und jederzeit Rechenschaft über ihr Tun
einfordern. Probleme, Bezugspunkte und konkrete Forderungen, um die ein
gemeinsamer Kampf geführt werden müsste, gibt es genug:

  • Entschädigungslose Enteignung von MietspekulantInnen und städtisches Wohnbausofortprogramm mit Mieten von nicht mehr als 20 % des Einkommens
  • Bau- und Planungsstopp für alle Luxusprojekte wie Elbtower, Hafen City-Ausdehnung und  Umwidmung der Haushaltstitel für Wohnungs-, Schulbau und Renovierung gesellschaftlich zentraler Versorgungseinrichtungen
  • Enteignung der privaten Versorgungskonzerne nach einem gesellschaftlichen Gesamtplan
  • Öffentlicher Nahverkehr inklusive Umland zum Nulltarif
  • Keine Dreckschleudern wie Moorburg. Einsatz von sparender und umweltverträglicher Energieerzeugung
  • Gegen jede Aufrüstung des polizeilichen Gewaltapparats und Einschränkung von demokratischen Rechten
  • Durch ArbeiterInnen- und MigrantInnenorganisationen aufgebauter Schutz von MigrantInnen gegen staatlichen und rechtsradikalen Rassismus und Faschismus
  • Aufbringung der Mittel für diese Maßnahmen durch ein Programm progressiver Besteuerung von KapitalistInnen, SpekulantInnen und GroßgrundbesitzerInnen.

Aber die
ArbeiterInnen- und Jugendbewegung darf nicht abwarten, dass die Linkspartei in
Aktion tritt, sondern muss den Kampf unabhängig davon in Aktionseinheiten und
-bündnissen führen.




Neue Strömungen in der Linkspartei: Alter Wein in neuen Schläuchen

Tobi Hansen, Neue Internationale 244, Februar 2020

Bereits im Mai 2019 hielt die neue Strömung „Bewegungslinke“ um den Europaparteitag der Linkspartei herum ihr Gründungstreffen ab. Um auch die formellen Kriterien einer Strömung zu erfüllen, gründeten 170 Versammelte die Strömung am 14./15. Dezember 2019 neu.

Teile der Sozialistischen Linken (SL), die früher dort gegen
das „Aufstehen/Wagenknecht“-Lager eintraten, vor allem Aktive und
MandatsträgerInnen vom Netzwerk marx21 (Buchholz, Gohlke, Wissler,
Movassat…), der Interventionistischen Linken oder deren Umkreis bilden den
Kern des Zusammenschlusses, der sich explizit gegen die Regierungsperspektive
„Grün-Rot-Rot“ ausspricht und für eine aktivistische, antikapitalistische Kraft
vor Ort eintritt, quasi das Gegenteil vom Status quo.

Bei Lichte betrachtet, hält diese Opposition, wie die
bisherige Anpassung von marx21 an den Apparat zeigt, nicht, was sie verspricht.
Mit der Regierungspraxis der Partei bricht sie eben nicht programmatisch, den
Kampf um die Führung gegen die „RegierungssozialistInnen“ nimmt diese Allianz
aus ZentristInnen und linken ReformistInnen nicht wirklich auf.

Strategiedebatte vor Bundesparteitag

In Anbetracht des Zustands der Linkspartei wäre ein Kampf um
Programmatik und Taktik notwendig, es ist allerdings zu bezweifeln, dass dieser
stattfindet.

Während die Grünen inklusive der Umwelt- und Klimabewegung
nun mit Abstand führende parlamentarische Oppositionskraft sind und in den
Umfragen deutlich vor SPD, AfD, FDP und Linkspartei liegen, fordern führende
Mitglieder fast aller Lager der Partei, dass Ramelow Ministerpräsident bleiben
muss.

Dafür greift Ramelow sogar die Vorschläge des
Ex-Bundespräsidenten Gauck auf, die CDU-Thüringen zur Unterstützung einer
rot-rot-grünen Minderheitsregierung zu bewegen. Den Gang nach Canossa geht
letztlich freilich nicht Mohring, sondern Ramelow, der sein „Reformprojekt“ von
Gaucks Gnaden, v. a. aber die Linkspartei diskreditieren wird.

Doch genau an dieser „Praxis“ üben praktisch alle
Führungsfiguren keine Kritik, sonst gibt’s eigentlich wenig an Gemeinsamkeiten.
Die Wahl der neuen Fraktionschefin Amira Mohamed Ali gegen die Abgeordnete
Caren Lay bildete ein Paradebeispiel des Kampfes zwischen den verschiedenen
Lagern im Parteivorstand. Marx21 stimmte mit dem Parteivorstandslager für Lay,
während ehemalige „Linke“ wie Dehm und Co., die als UnterstützerInnen von
Wagenknecht gelten, wie auch das FDS (Forum Demokratischer Sozialismus) um
Fraktionschef Bartsch für Ali votierten. Letztere bildeten das sog.
„Hufeisenbündnis“. Manche Posten konnten wegen der massiven internen Friktionen
bis heute nicht besetzt werden und viele entblöden sich auch noch dazu nicht,
über die bürgerlichen Medien zweitrangige, aber „skandalträchtige“ Interna der
Fraktionskonflikte preiszugeben.

Bewegungslinke

In dieser Situation könnten die „Bewegungslinken“ wie auch
die Antikapitalistische Linke (AKL) zumindest die verbliebenen
anti-reformistischen, kämpferischen Teile der Partei sammeln und müssten einen
konsequenten Fraktionskampf zum Bruch mit den „RegierungssozialistInnen“
führen. Nur fehlt (nicht nur uns) der Glaube, dass dies noch möglich ist.

In den Verlautbarungen der „Bewegungslinken“ zur
Strategiedebatte – aktuell zwei aus Nordhessen – wird die kämpferische Kraft
vor Ort eingefordert, eine Partei, die mit und in der Klasse kämpft und
sämtliche Illusionen an Grün-Rot-Rot über Bord wirft.

Doch hier stellt sich die Frage, ob der Verweis auf einzelne
positive Beispiele einer organisierenden, kämpfenden Aktivität reicht, um den
reformistischen Charakter und die Praxis der Gesamtpartei zu ändern. Wer diese
Fragen gar gleichstellt, greift schon automatisch zu kurz. Stattdessen werden
in den Papieren gewissermaßen zwei Parteien einander gegenübergestellt. Eine vollstreckt
den bürgerlich-kapitalistischen Normalzustand im Parlament, in den
Landesregierungen oder in kommunalen Verwaltungen. Die andere soll vor Ort
antikapitalistisch für Sozialismus eintreten. Gewissermaßen ist dies seit
Beginn der Linkspartei „Normalzustand“ – ein Flügel regiert brav mit SPD und
Grünen, der andere verbreitet Illusionen in eine sozialistische,
antikapitalistische Partei.

Die Beiträge zur „Strategiedebatte“, deren Ergebnisse in den
Parteitag im Juni einfließen, sollen vom 29. Februar bis 1. März in Kassel
diskutiert werden. Dort stehen auch Neuwahlen zum Bundesvorstand an. Laut
Satzung ist die Amtszeit der Vorsitzenden auf 8 Jahre begrenzt. Im März wollen
sich Kipping und Riexinger erklären. Dass sie die Satzung ändern wollen, um
persönlich im Amt zu bleiben, wäre nach den schlechteren Ergebnissen 2018
wirklich eine Überraschung. Allerdings scheint derzeit auch unklar, wer die
Nachfolge antreten soll. Rund um die verbliebene Sozialistische Linke wird die
Idee einer Urabstimmung nach SPD-Vorbild beschworen, wohl mit dem
Hintergedanken, so z. B. Wagenknecht wieder ins Rennen zu schicken.

Auch die Bewegungslinke hat sich schon zum nächsten Vorstand
geäußert. Schließlich ist Janine Wissler, Vizevorsitzende der Bundespartei und
Fraktionschefin im hessischen Landtag, durchaus bereit, „Verantwortung“ zu
übernehmen. Wenn sich denn der aktuelle Vorstand erklärt hat, so könnte die
„linke“ Strömung schnell zur Vorstandsströmung werden.

Inhaltlich brauchen sich die „RegierungssozialistInnen“ vor der Bewegungslinken ohnedies nicht allzu sehr fürchten. Auch wenn sie in ihrer Grundsatzerklärung richtig festhält, dass der bürgerliche Staat „Eigentumsverhältnisse durch Gewalt und Konsens“ sichert, so darf der Verweis auf dessen positive Seiten nicht fehlen. „Gleichzeitig beinhaltet er historische Errungenschaften. Er ist Kräfteverhältnis und Kampffeld zugleich.“

Folgerichtig lehnt die Bewegungslinke die Beteiligungen an
einer bürgerlichen Regierung nicht grundsätzlich ab. Nur „manche“ betonen das
Scheitern linker Regierungsbeteiligungen, während andere auf die
„Strategie  einer Reformregierung,
die mit dem Neoliberalismus bricht und sozial-ökologischeEinstiegsprojekte auf
den Weg bringen kann“, setzen.

Links*Kanax

Neben der Bewegungslinken hat sich im Juni 2019 auch ein neues Netzwerk, LINKS*KANAX, gebildet, welches vor allem MigrantInnen in der Partei sammeln will. Anlass war die Debatte um Migration und Zuwanderung in der Linkspartei, speziell um die Positionen von Wagenknecht, Lafontaine und „Aufstehen“.

LINKS*KANAX will die programmatischen Positionen von offenen
Grenzen, von Flüchtlingshilfe, von legaler Einreise, von Integration in der
Partei verteidigen.

Ferat Kocak, der mehrmals Ziel rechter Anschläge wurde,
gehört dieser Strömung ebenso an wie Kreise des Medienportals „Freiheitsliebe“.

Es ist bezeichnend, dass es nach 2015 in der Linkspartei
notwendig geworden ist, eine antirassistische Strömung zu gründen. Eigentlich
sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass eine „linke“ Partei klar für
den Schutz der Geflüchteten und für offene Grenzen steht. Allerdings zeigte das
Wagenknecht-Lager, dass auch bei ihm der Rechtsruck wirkt.

Linkspartei vor dem Parteitag

All dies wirft nicht nur ein Schlaglicht auf den Zustand der
Partei, sondern erklärt zumindest zum Teil, warum die Linkspartei von der Krise
der GroKo und der SPD nicht profitieren kann.

Außerdem ist bislang nicht absehbar, welcher neue Vorstand
die Partei führen soll. Der Lager- und Ost/West-Proporz, der zur Wahl von
Riexinger und Kipping führte, scheint nicht gesichert bzw. gibt es wohl auch
keinen Plan, wie der neue Vorstand die Partei führen soll.

Dahinter stehen weniger politisch-programmatische
Unterschiede oder Klärungen als rein machtpolitische, opportunistische
Erwägungen. Die verschiedenen reformistischen Führungszirkel zanken nicht
darum, ob sie die Partei – falls parlamentarisch irgendwie möglich – in eine
„linke“ Bundesregierung führen sollen, sondern nur über das Wie.

In dieser Lage braucht es freilich nicht auch noch eine
„Opposition“, die linke Illusionen in eine Reformierbarkeit der Partei und eine
links-reformistische Reformpolitik verbreitet. Ohne einen klaren Bruch mit dem
reformistischen, programmatischen Kern der Partei und einen organisierten Kampf
gegen die Führung, verkommt eine „linke“ Strömung zur Begleitmusik der
herrschenden Politik der Partei.




Strategiekonferenz kämpferischer Gewerkschafter/Innen: Ein Schritt nach vorne!

Frederik Haber, Neue Internationale 244, Februar 2020

Am Freitag, den
24. Januar, hatte sich der IG Metall-Vorsitzende eine Stufe tiefer auf die Knie
geworfen. Er hatte dem Kapital angeboten, ohne Lohnforderung in Tarifverhandlungen
zu gehen und noch in der Friedenspflicht ein Abkommen zu schließen, das die
Arbeit„geber“Innen, die derzeit vor allem Arbeitsplätze nehmen, zu nichts
verpflichtet, als betrieblich darüber zu reden.

Einen Tag
später, am 25. Januar, fand eine Konferenz linker GewerkschafterInnen statt,
denen die Verzichtspolitik der Gewerkschaftsapparate schon lange zu viel
geworden ist und die sich nicht nur darüber austauschen wollten, was schlecht
läuft, wo Chancen nicht genutzt oder aktiv von der Führung verbaut werden,
sondern die auch vereinbaren wollten, gemeinsam dagegen vorzugehen. Angesichts
des Kapitulationskurses der IG Metall-Führung, die im Grunde auch von allen
anderen Gewerkschaftsführungen vollzogen wird, ist es höchste Zeit dafür.

Austausch reicht
nicht

Diese Konferenz
benötigte einen langen Anlauf. Frühere Konferenzen der Initiative für die
Vernetzung der Gewerkschaftslinken, die an die 400 AktivistInnen versammeln
konnten, liegen Jahre zurück. Sie waren immer vom Konflikt zwischen der Apparat-Linken
und linken Kräften geprägt, die sich nicht mit der Verbesserung des
kapitalistischen Systems zufriedengeben wollten.

Den Knackpunkt
bildete immer wieder die Frage, ob es zu verbindlichen Vereinbarungen,
gemeinsamen Forderungen oder Aktionen kommen sollte. Die Apparat-Linken
bekämpften sie stets auf das heftigste und setzten sich fast immer durch: wenn
nicht mit Mehrheiten, dann mit Erpressungen, nicht mehr mitzumachen. Ähnlich
wie auch auf den Konferenzen der sozialen Bewegungen oder der Sozial-Foren
konnte das nur ansatzweise und dann durchbrochen werden, wenn es
Massenbewegungen und Druck gab, der es erschwerte, solche Beschlussfassungen zu
verhindern. Indem jedoch letztlich alles auf bloßen Meinungsaustausch reduziert
wurde, gelang es, diesen Foren jegliche Dynamik zu nehmen und damit auch jede
Anziehungskraft. Ähnlich erging es den Ansätzen einer oppositionellen
Formierung in den Gewerkschaften. Die Bewegungen waren tot – die Apparate
blieben.

Mit der Gründung
der Linkspartei griffen dort organisierte GewerkschafterInnen die Idee der
Konferenzen unter dem Motto „Erneuerung durch Streik“ wieder auf. Erneuerung
brauchen die Gewerkschaften in Deutschland unbestritten und Streik, also Kampf,
Klassenkampf nicht minder. Aber auch diese Konferenzen beschränkten sich auf
Austausch. Zuletzt, vor einem Jahr in Braunschweig, durften DGB-HonoratiorInnen
ihre reformistische Selbstbeweihräucherung derart peinlich verkünden, dass
selbst dem Initiator dieser Konferenzen, Riexinger, der Kragen platzte. Aber
der Rahmen wurde eingehalten: Weder über Initiativen gegen die Apparatpolitik
noch über die Krise der Gewerkschaften sollte tunlichst geredet werden. Und
wieder wurde nichts vereinbart.

Die
sozialdemokratische Politik der Gewerkschaften, die Unterwerfung unter die
Interessen der deutschen Bourgeoisie, ja deren aktive Durchsetzung wird
verbunden mit Zugeständnissen an relativ privilegierte Schichten der
ArbeiterInnenklasse und natürlich mit Zucker für die Gewerkschaftsbürokratie.
Diese reformistische Politik wird von der Linkspartei und ihren FunktionärInnen
in den Gewerkschaften mitgetragen – und zwar nicht nur aufgrund ihrer
Unterordnung unter den sozialdemokratisch dominierten Apparat, sondern auch
weil die gewerkschaftspolitische Ausrichtung der Linkspartei selbst über einen
kämpferischeren Reformismus nicht hinausgeht. Auch wenn einzelne
FunktionärInnen unter der Hand Kritik üben, bleibt die Gesamtstrategie
unangetastet.

Raus aus der
Sackgasse

Die Frankfurter
Strategie-Konferenz hat einen ersten Schritt geschafft, aus dieser Kontrolle
des Gewerkschaftsapparats auszubrechen. Ohne Unterstützung durch den Apparat
organisiert, gelang es, 150 kämpferische GewerkschafterInnen, darunter auch
einen höheren Anteil junger Menschen als bei früheren Konferenzen, zu mobilisieren.
Die Diskussion zeigte das Bemühen der meisten AktivistInnen und fast aller
vertretenen Organisationen, aus dieser Konferenz eine arbeitsfähige Struktur
aufzubauen. Anwesend waren AktivistInnen und Betriebsgruppen aus
Krankenhäusern, Metallbetrieben, Verkehr und Bildung von Amazon bis Daimler
sowie Initiativen von prekär Beschäftigten und gegen Leiharbeit. Außerdem
beteiligten sich GenossInnen vom linken Flügel von Fridays for Future.

Aktiv an der
Organisation dieser Konferenz waren neben der Gruppe ArbeiterInnenmacht SOL,
SAV sowie einzelne Mitglieder aus ISO und der DKP beteiligt. Auch DIDF
beteiligte sich stark, ferner waren GenossInnen von Arbeit Zukunft, der OKG,
von Express, Trotz Alledem, der FAU, von RIO und KO vertreten.

In den
verschiedenen Arbeitsgruppen wurde überwiegend problem- und nicht
konfliktorientiert diskutiert – mitunter auch mit der problematischen Tendenz,
reale Unterschiede nicht anzusprechen oder zu diskutieren. Ganz offensichtlich
haben viele verstanden, dass die Krise der Gewerkschaften nicht durch einzelne
Initiativen, in einzelnen Betrieben oder Branchen überwunden werden kann, dass
trotz aller Buntscheckigkeit der Arbeitswelt die Krise der Gewerkschaften eine
solche ihrer Führung ist.

So wurde eine
gemeinsame Erklärung verabschiedet auf Grundlage einer Vorlage, die aber von
Beginn an mit in der Diskussion stand und vom Abschlussplenum noch soweit
verändert wurde, dass sie eine erneute stilistische Überarbeitung braucht, die
hier noch nicht eingearbeitet ist. Nach der Ansage: „Kämpferische
Gewerkschaften: nötiger denn je!“ und „Strategiewechsel statt Weiterführung des
sozialpartnerschaftlichen Kurses für den ,Standort Deutschland‘!“ wird die
Situation festgehalten:

„Die Gewerkschaften haben keine konsequente Gegenwehr organisiert. Die Politik unserer Gewerkschaftsführungen besteht in Sozialpartnerschaft und Co-Management. Das Akzeptieren von Vereinbarungen, in denen Belegschaften Verzicht übten, um Unternehmen konkurrenzfähig zu halten, rächt sich gerade jetzt, wo viele Unternehmen trotz dieser Vereinbarungen weitere Kürzungs- und Stellenabbaupläne verkünden und umsetzen.

Es hat eine Reihe von Kämpfen gegeben, die beispielhaft und mutig waren. Diese richteten sich gegen den Personalmangel in Krankenhäusern, gegen Tarifflucht, gegen Niedriglöhne und gegen Unternehmensführungen, die sich weigern, Tarifverträge zu verhandeln. Auch in den traditionell besser organisierten Bereichen wie großen Metallbetrieben oder im öffentlichen Dienst zeigte sich in Warnstreiks eine gute Mobilisierungsfähigkeit und Kampfkraft. Die Gewerkschaftsführungen haben diese Kampfkraft nicht genutzt.“

Nachdem einzelne Beispiele von Kämpfen und Konflikten aufgezeigt werden, wird festgestellt: „Das alles ist kein Zufall, ordnen sich doch die Gewerkschaftsführungen systematisch den kapitalistischen ‚Sachzwängen‘ und den Standortinteressen der deutschen Exportindustrie unter und verkaufen dies gegenüber den Kolleg*innen als unausweichliche ‚wirtschaftliche Gegebenheiten‘.“

Die politische
Dimension dieser Unterwerfung wird so beschrieben:

„Die BRD ist ein prominenter Standort für Rüstungsproduktion und als militärisch-logistische Drehscheibe der wichtigste Standort für NATO-Kriegspläne in Europa.

Die DGB-Gewerkschaften verraten durch ihre Politik die Interessen der ArbeiterInnenklasse und verhöhnen ihre Mitgliedschaft und schwächen die Kampfkraft des Proletariats.

Die Gewerkschaften akzeptieren und fördern die beschleunigte Ausplünderung der Empfangsländer deutscher Exporte und der Lieferländer für Rohstoffe.“

Anders als bei
vielen früheren Konferenzen zog die in Frankfurt/Main daraus auch einen
praktischen Schluss:

„Wir … halten es für erforderlich, dass wir uns systematisch vernetzen und besser organisieren im Kampf für einen Strategiewechsel in den Gewerkschaften, der mit der Politik der Sozialpartnerschaft und der Unterordnung unter die Profitinteressen der Unternehmer und der Akzeptanz der Profitlogik Schluss macht.“

So beschloss sie
auch eine Reihe von Forderungen und Aufgaben, um die herum eine
klassenkämpferische Opposition formiert werden soll, die wir hier nur
auszugsweise wiedergeben können:

  • Statt Co-Management und Ausrichtung auf Sozialpartnerschaft: Mobilisierung und Ausnutzen der gewerkschaftlichen Kampfkraft mit Pilotwirkung für andere
  • Zusammenführen von Kämpfen, Organisierung von Solidaritätskampagnen für schwächere Bereiche
  • Statt Verhandlungen hinter verschlossenen Türen: volle Transparenz und Kontrolle durch die Belegschaften, unter anderem durch Streikdelegiertenkonferenzen und Streikversammlungen vor Ort und bundesweit
  • Kürzere Laufzeiten der Tarifverträge (ca.1 Jahr )
  • Kampagne und Kampf für eine deutliche Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich
  • Abschaffung prekärer Arbeitsverhältnisse, Mindestlohn von 13 Euro, sofortige Kündigung der Leiharbeitstarifverträge, weil sie das Grundprinzip „Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen“ unterlaufen
  • Abschaffung von Hartz IV und für ein Existenz sicherndes Mindesteinkommen von 1300,- Euro
  • Kampf für bessere Personalausstattung überall da, wo eklatanter Personalmangel herrscht – angefangen bei Krankenhäusern, Schulen, Feuerwehren, Sozialwesen bis zu den Industriebetrieben
  • Mobilisierung und Kampf für ein massives öffentliches Investitionsprogramm, finanziert durch Besteuerung von Rekordvermögen und -gewinnen
  • Keine weiteren Privatisierungen, für Rekommunalisierung
  • Kampf für den Erhalt aller Arbeitsplätze – Umstellung der Produktion auf ökologisch und gesellschaftlich sinnvolle Produkte
  • Überführung von Betrieben in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch Belegschaften und die arbeitende Bevölkerung anstatt Schließung, Verlagerung und Entlassung
  • Entschiedener Kampf gegen Spaltung von Kolleg*innen entlang nationaler, religiöser oder ethnischer Linien und gegen rechte Hetze
  • Aufbau internationaler Verbindungen und Solidarität gegen die vorherrschende Standortlogik.
  • Unbeschränktes Streikrecht auf die Agenda setzen – bis zum politischen Streik.

Die Erklärung
endet schließlich mit dem Aufruf zur Unterstützung der Initiative:

„Wir sind überzeugt, dass es uns gelingen kann, eine Alternative zu Co-Management und Verzicht in den Gewerkschaften zu stärken. Die Vernetzung ist offen für alle, die sich für einen kämpferischen Kurs einsetzen wollen. Viele von uns sind auch der Meinung, dass die Gewerkschaften bereit sein müssen, sich mit den Bossen und dem Kapital anzulegen und über die Grenzen des kapitalistischen Systems hinauszugehen, um in Zeiten der aufkommenden Krise die Interessen der abhängig Beschäftigten konsequent verteidigen zu können.“

Gemeinsame
Vorhaben

Zudem wurde eine
Liste von gemeinsamen Vorhaben erstellt, die ebenfalls aus den Arbeitsgruppen
und Branchentreffen noch einige Ergänzungen erhielt. Zum Beispiel den
ambitionierten Beschluss, zur Metall-Tarifrunde schnell ein Positionspapier und
zweitens ein Massenflugblatt zu entwickeln und breit zu vertreiben. Zu den
beschlossen Vorhaben gehören weiter unter anderem:

1.) Wir greifen
sichtbar mit Flugblättern und Transparenten am 8. März und am 1. Mai ein. Wir
schlagen hierfür kämpferische Parolen und Forderungen vor wie:

  • Nein zum Co-Management – für kämpferische Gewerkschaften;
  • Kampf gegen Entlassungen und Lohnverzicht;
  • für radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich;
  • für Konversion und Umstellung der Produktion auf Grundlage von Gemeineigentum an den Produktionsmitteln.

2) Eingreifen in
die Debatte um die Forderungsaufstellung in der Tarifrunde öffentlicher Dienst
(Bund und Kommunen) bis August 2020. Anstatt Wahlfreiheit „Zeit oder Geld“
schlagen wir vor, die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn-
und Personalausgleich (als 1. Schritt) aufzustellen. Dafür sammeln wir
Unterstützung.

3) Eingreifen in
die Tarifrunde um einen Tarifvertrag Nahverkehr (TV-N). Organisierung von
Solidaritätsarbeit dafür:

Wir treten in
der Tarifrunde TV-N dafür ein, dass die Frage der Arbeitszeitverkürzung bei
vollem Lohn- und Personalausgleich diskutiert und diese Forderung in die
Tarifforderungen aufgenommen wird. Darüber hinaus treten wir dafür ein, dass in
dieser Tarifauseinandersetzung auch eine Kampagne und eine politische
Initiative diskutiert werden muss, dass in den Ausbau des öffentlichen
Nahverkehrs massiv öffentlich investiert werden muss und dieser kostenlos zur Verfügung
steht, finanziert aus der Erhöhung der Kapitalsteuern und Wiedereinführung der
Vermögenssteuer. Dies ist ein Beitrag, um die Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung
zusammenzubringen.

4)
TV-Leiharbeit: Herausgabe von zentralem Material, Musteranträgen. Ziel: beim
nächsten Vertragsauslaufen zu verhindern, dass ein neuer TV geschlossen wird.

Die „Vernetzung
für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG), die sich auch einen permanenten
Koordinationskreis wählte, in dem auch GenossInnen der Gruppe ArbeiterInnenmacht
vertreten sind, muss in der Praxis zeigen, ob und wie sie diese Vorhaben
bewältigt.

Auch wenn die
Konferenz mit 150 TeilnehmerInnen einen ersten, wichtigen Erfolg darstellte,
bedeutet sie letztlich nur einen Anfang. Neben der harten Knochenarbeit des Aufbaus,
der Bildung lokaler und regionaler, branchenübergreifender Strukturen, müssen
auch wichtige strategische, programmatische und taktische Fragen weiter
diskutiert und geklärt werden.

Knackpunkte

Der desolate
Zustand der Linken in Deutschland, auch und gerade der Gewerkschaftslinken, hat
schließlich politische Ursachen. So haben z. B. Unterschiede in der
Einschätzung, was Reformismus eigentlich bedeutet, ihre Entsprechung auch in
unterschiedlichen Taktiken.

So blieb die
Frage, was die Linkspartei darstellt und welche Rolle sie in den Gewerkschaften
spielt, bei der Konferenz weitgehend ausgeklammert. Dabei wird das mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu Konflikten führen, angesichts der gestärkten Rolle der
Partei im Gewerkschaftsapparat wie auch der Anpassung zahlreicher Linker an
diese. Insbesondere in der ISO bestehen dazu weder ein gemeinsames Verständnis
noch eine gemeinsame Taktik. Umgekehrt können ein Wachstum und eine
Konsolidierung der VKG auch Druck auf andere Kräfte ausüben, die sich
weitgehend der Linkspartei (z. B. marx21) oder dem linken Gewerkschaftsapparat
(z. B. DKP) unterordnen.

Was dieser
Gewerkschaftsapparat verkörpert, ist ebenfalls in der Linken weitgehend
ungeklärt. Es handelt sich eben nicht nur um eine Bürokratie im technischen
Sinn, sondern um einen politischen Apparat, der letztlich die Klasseninteressen
der Bourgeoisie in den Reihen der ArbeiterInnenklasse vertritt und in diese
vermittelt – und das nur tun kann, wenn er bestimmte Schichten der Klasse an
sich bindet und sich auf diese stützen kann. Ohne ArbeiterInnenaristokratie
kann die ArbeiterInnenbürokratie nur schwerlich überleben.

Auf der
Konferenz zeigten sich diese Differenzen beispielsweise am Ende der Diskussion
über die Abschlusserklärung, als VertreterInnen der ISO und SAV die
Notwendigkeit einer solchen gänzlich in Frage stellten. Aber nur mit einer
offensiven Verbreitung unserer Positionen werden wir andere gewinnen können.
Umgekehrt lassen sich die Apparate durch weichgespülte Formulierungen nicht
täuschen. Diese Differenzen können nicht per Ultimatum und schon gar nicht per
ewige Vertagung „erledigt“, sie müssen politisch geklärt werden.

Die – auch in
Deutschland – heraufziehende Krise und die offenkundige Unfähigkeit der
Gewerkschaften, darauf angemessen zu reagieren, haben bei der Konferenz
unterschiedliche Kräfte der Linken und kämpferische GewerkschafterInnen
zusammengeführt.

An den
grundsätzlichen Fragen des Klassenkampfes muss ernsthaft gearbeitet werden. Es
geht darum, ob „Vernetzung“ bedeutet, lediglich die Kräfte zu bündeln und
Absprachen zu treffen, oder ob eine klassenkämpferische Basisbewegung aufgebaut
wird, die als Alternative zur Bürokratie in den Kämpfen sichtbar wird. Ihr
Ziel, die Gewerkschaften von dem sie beherrschenden bürgerlichen Apparat zu
befreien, wird sie nur erreichen können, wenn sie in den Klassenkampf
einzugreifen, die kämpferischsten Kolleginnen und Kollegen zu organisieren und
politisch zu formieren vermag.




Britannien: Johnsons Sieg – Corbyns Niederlage und die kommenden Kämpfe

KD Tait, Neue Internationale 244, Februar 2020

Nach einer
solchen Wahlniederlage, wie sie Labour im Dezember 2019 erlitten hat, ist ein
Chaos in der Partei unvermeidlich. In diesem Kampf müssen all diejenigen, die
erkennen, dass Sozialismus und Internationalismus untrennbar miteinander
verbunden sind, sich um eine Strategie gruppieren, die sich aus dem Verständnis
von einer Welt ableitet, die von den Krisen des Kapitalismus erschüttert und
von einem Krieg zwischen imperialistischen Mächten bedroht ist. Wir müssen
erkennen, dass all diejenigen, die das Geschwätz von Blue Labour nachplappern
und von nationaler Kultur oder Identität als Merkmalen der ArbeiterInnenklasse
sprechen, egal ob sie von der stalinistischen Linken oder der Blair-Rechten
kommen, keine SozialistInnen sind: Sie verleumden in der Tat die Idee des
Sozialismus an sich.

Lehre

Die zentrale
Lehre, die von den AnhängerInnen Jeremy Corbyns, die sich selbst als
SozialistInnen verstehen, aus den Erfahrungen der letzten fünf Jahre gezogen
werden muss, ist, dass unsere MachthaberInnen niemals auch nur ein mildes,
reformistisches Programm tolerieren werden, d. h. ein Programm, das einige der
Übel des Kapitalismus anspricht, aber keine Zusage zu einer grundlegenden
Transformation zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft trifft.
Solange die ArbeiterInnenbewegung den Sieg bei den Parlamentswahlen als das
Zentrum ihrer Strategie ansieht, wird sie immer wieder scheitern. Sich zu
verpflichten, nach bürgerlichen Regeln zu spielen und zu versuchen, es allen
außer den reichsten SteuerhinterzieherInnen und Hedgefonds-ParasitInnen recht
zu machen, wird die gesamte herrschende Klasse (und ihre VertreterInnen in den
eigenen Reihen der ArbeiterInnenbewegung) nicht davon abhalten, eine breite
Phalanx zur Verteidigung des Systems zu bilden.

Der
Ausgangspunkt für den Kampf gegen den Kapitalismus mit den Waffen des
Klassenkampfes muss die Ablehnung aller seiner Regeln sein, moralischer und
rechtlicher. Wir sollten über die Reihen von Labour hinaus auf den Geist der
Rebellion schauen, den junge Menschen in Großbritannien und auf der ganzen Welt
gegen die ökologischen und sozialen Plünderungen eines in einer Systemkrise
gefangenen Kapitalismus zeigen. In den Gewerkschaften müssen wir die
bürokratische Zaghaftigkeit abschütteln, die die gewerkschaftsfeindlichen
Gesetze als Entschuldigung für Untätigkeit benutzt. Die große Mehrheit der
unorganisierten ArbeiterInnen muss durch Massenkampagnen und eine
Demokratisierung, die die Macht in die Hände der einfachen Mitgliedschaft legt
und um die Gewerkschaften herum eine massive soziale Bewegung der Jugend, der
Frauen und der rassisch und sozial Unterdrückten schafft, für die
Gewerkschaften rekrutiert werden.

All diese
Organisationen und Bewegungen müssen auf einer kämpferischen Basis
zusammenkommen: dem Klassenkrieg. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass wir fünf
oder zehn Jahre warten müssen, um den britischen Trump von der Macht zu
verdrängen.

Das
Tory-Programm

Brexit wird
nicht das sein, was Johnson ein Goldenes Zeitalter nennt. Seine falschen
Versprechungen und offensichtlichen Lügen werden das Vertrauen untergraben, das
die verblendeten ehemaligen Labour-WählerInnen in ihn setzten. Dies wird die
vermeintliche Legitimität einer Regierung schwächen, die über eine große
parlamentarische Mehrheit verfügt, aber von einer Minderheit der Abstimmenden
ins Amt gewählt wurde. Darüber hinaus können wir ernsthafte Brüche innerhalb
des verfassungsrechtlichen Rahmens des Vereinigten Königreichs erwarten: ein
massives Aufbegehren in Schottland, wo einer Mehrheit, die für Verbleib in der
EU gestimmt hat, nun das Recht verweigert werden soll zu entscheiden, ob sie in
Brexit-Britannien bleiben will; reaktionäre Unruhen durch orangefarbene,
anglikanische FrömmlerInnen (Nordirland), die glauben, durch die Schaffung
einer Zollgrenze in der Irischen See vom Vereinigten Königreich abgeschnitten
worden zu sein.

Wir können zwar
davon ausgehen, dass die Schottische Nationalpartei (SNP), die nordirischen
Ulster-UnionistInnen und die EU-VerhandlungsführerInnen sich zumeist um diese
Fragen auseinandersetzen werden, aber es gibt auch ernsthafte, sogar
grundlegende Spaltungen innerhalb der britischen herrschenden Klasse selbst.
Obwohl die Börse zunächst vor Freude über die Niederlage von Labour aufsprang,
stellen Boris Johnson und die Europäische Forschungsgruppe (ERG) von Jacob
Rees-Mogg immer noch eine Minderheit der herrschenden Klasse dar, die sich aus
parasitären Hedgefonds-MilliardärInnen und MedienmogulInnen zusammensetzt. Ihre
Absprache mit der britischen Unabhängigkeits- und späteren Brexit-Partei von
Nigel Farage und BeraterInnen von Donald Trump und der Alternativen Rechten in
den USA ermöglichte es ihnen, das Brexit-Referendum gegen den Willen der
Mehrheit der EigentümerInnen der großen Banken und Industrien zu gewinnen.
Johnson und die ERG übernahmen die Kontrolle über die Tory-Partei von den alten
Granden und vertrieben sie.

Brexit

Der Austritt
Großbritanniens aus der Europäischen Union und die Aufnahme Großbritanniens in
das Lager von Donald Trump in einer Welt, die zunehmend durch die harte
Konkurrenz zwischen den großen kapitalistischen Blöcken zerrissen wird –
Amerika, China, Europa und Russland – werden Großbritannien in Trumps
Handelskriege mit Europa und dem Rest der Welt verwickeln. Kurzum, für  Johnsons große Mehrheit werden der
wirtschaftliche Schaden von Brexit sowie die nächste Rezession und eine
beispiellose politische Krise der Union in Schottland und Nordirland das Land
bald in seinen Grundfesten erschüttern.

Boris Johnson
und seine Tory-FreundInnen Sajid Javid, Dominic Raab und Priti Patel wollen der
ArbeiterInnenklasse eine „Thatcher“-Kur verpassen. Raab und Patel haben
maßgeblich zu einem Manifest der Neuen Rechten, Britannia Unchained (Britannien
ohne Ketten), beigetragen, das die „Kultur von Rechten (culture of rights)“ ins
Visier nimmt, die Großbritannien in „eine Nation von MüßiggängerInnen“
verwandelt hätte. Boris Johnsons Behauptung, ein Konservativer einer
einheitlichen Nation zu sein, ist nichts anderes als triumphierender Hohn
darüber, dass er alte, ehemalige Labour-WählerInnen zur Stimme für den
reaktionären Brexit, also gegen ihre eigenen Interessen manövriert hat. In
Wirklichkeit leitet er das neoliberalste Kabinett seit 1983, als Thatcher die
„KompromisslerInnen“ aus den eigene Reihen rauswarf. Kein Wunder, dass die
Denkfabrik der freien Marktwirtschaft, das Institute of Economic Affairs,
jubelte, als Johnson seine MinisterInnen zum ersten Mal in einem, wie ein/e
KommentatorIn des „Telegraph“ es nannte, „revolutionären Kampfkabinett“
ankündigte.

Seine
unmittelbaren Aufgaben sind die Aufhebung der „Freizügigkeit“ und der Rechte,
die europäischen ArbeiterInnen aus der EU über Jahrzehnte zugestanden wurden,
und die Vervollständigung der harten Herrschaft der Marktkräfte über die
öffentlichen Dienstleistungen mit einer massiven Neuausrichtung auf
US-Unternehmen. Johnson will die Gewerkschaften, die wie die Eisenbahn-,
Schifffahrt- und TransportarbeiterInnen-Gewerkschaft RMT immer noch Kampfgeist
zeigen, mit noch brutaleren Anti-Streik-Gesetzen fesseln. Wenn er die
vergötterte Thatcher imitiert, müssen auch wir die Lehren aus den Kämpfen
dieser Periode ziehen. Das war die Zeit, als unsere Bewegung, obwohl sie einst
13 Millionen Gewerkschaftsmitglieder und 317.000 Shop Stewards hatte und 85
Prozent aller Beschäftigten durch kollektive Tarifvereinbarungen abgesichert
waren, enorme Errungenschaften verloren hat. Es war auch die Zeit, als der
Aufstieg der Labour-Linken unter der Führung von Tony Benn noch in vollem Gange
war.

In den ersten
vier Jahren von Thatchers Herrschaft wurde eine Gelegenheit nach der anderen
vertan, sie und ihre Regierung in einen Haufen Schrott zu verwandeln und eine
ArbeiterInnenregierung an die Macht zu bringen. Bis 1987 erlaubte es die
chronische politische Schwäche, bekräftigt durch tatsächlichen Verrat, die
Unfähigkeit oder den Unwillen der Gewerkschaftsführungen, die enorme
industrielle Kraft der Bewegung für politische Zwecke zu nutzen, den Tories,
die Lohnabhängigen Branche für Branche zu demontieren: StahlarbeiterInnen,
AutomobilarbeiterInnen, HafenarbeiterInnen, Bergleute, Krankenpflegekräfte und
DruckerInnen.

Die wichtigsten
Spitzen von Johnsons Angriff werden mit Brexit selbst und mit dem
„fantastischen Handelsabkommen“ zusammenhängen, das er mit seinem großen Freund
Donald Trump abzuschließen versuchen wird. Die „Wiedererlangung der Kontrolle
über unsere Grenzen“ bedeutet ein viel strengeres Einwanderungssystem, das im
britischen Recht verankert ist. Die Einstellung von 20.000 zusätzlichen
PolizeibeamtInnen, die mehr rassistische Anhalte- und Durchsuchungsbefugnisse
haben, richtet sich insbesondere gegen schwarze Jugendliche und wird die
rassistische Unterdrückung verschärfen.

Der Schutz der
ArbeiterInnenrechte, den Johnson versprochen hatte, um die Labour-Abgeordneten
dazu zu bewegen, für sein ursprüngliches Rückzugsgesetz zu stimmen, soll selbst
zurückgezogen werden. Ebenso ist das geizige Versprechen, den nationalen
existenzsichernden Lohn innerhalb von fünf Jahren auf 10,50 Pfund pro Stunde zu
erhöhen, daran geknüpft, „dass es die wirtschaftlichen Bedingungen erlauben“.
In der Tat werden diejenigen, die leichtgläubig genug sind, um den
Versprechungen zu vertrauen, dass die Sparmaßnahmen enden werden, bald das Gegenteil
feststellen, da die wirtschaftliche Verwerfung von Brexit Fuß fasst, Automobil-
und Luftfahrtfirmen auf den Kontinent ziehen und die bevorstehende Weltkrise
die Spannungen bei den Handelsabkommen verstärkt.

Nicht zuletzt
wird es Angriffe auf die Palästina-Solidarität geben. Ein neuer Gesetzentwurf
würde öffentliche Einrichtungen, einschließlich Stadträten und Universitäten,
daran hindern, Boykotte oder Sanktionen gegen das Ausland und diejenigen, die
mit ihm Handel treiben, zu erklären. Dies ist zentral gegen die Boykott-,
Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) gerichtet.

Eine
Kampfstrategie

Die
AktivistInnen und die jungen Menschen, die von Corbyn 2015 und durch eine Reihe
progressiver Motive mobilisiert wurden, wobei der Klimawandel im Vordergrund
steht, können die Führung im Widerstand gegen Johnson übernehmen. Aber um
effektiv zu sein, müssen sie an einem neuen Plan arbeiten, der über Wahlkampf
und kultische Hingabe selbst an einen linken Vorsitzenden hinausgeht.
Stattdessen brauchen wir eine Strategie, ein Aktionsprogramm, um die Reihe
miteinander verbundener Krisen anzugehen, mit denen die ArbeiterInnenbewegung
und alle fortschrittlichen Kräfte im Land konfrontiert sind.

  • Brexit: Es geht darum, sich jeder reaktionären Maßnahme, die für seine Umsetzung notwendig ist, und jedem Element eines Handelsabkommens mit Trump zu widersetzen. Unser Ziel darf nicht die Rückkehr zu einer neoliberalen Festung Europa sein, sondern muss darin bestehen, ein mächtiges Bündnis mit den militanten ArbeiterInnen und der Jugend dort wieder aufzubauen und es gemeinsam mit ihnen durch ein sozialistisches Europa zu ersetzen.
  • Der Klimawandel, der immer mehr Wüstenbildung, extreme Wetterereignisse und das Aussterben von Arten mit sich bringen und unumkehrbar wird, wenn nicht im nächsten Jahrzehnt grundlegende Veränderungen in Produktion und Konsum durchgesetzt werden.
  • Sparmaßnahmen, der erbarmungslose Sozialabbau und die Privatisierung der sozialen Versorgung im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, in der Altenpflege, bei den Arbeitslosen und Wohnungslosen.
  • Die bevorstehende Rezession, die nicht nur zyklische Arbeitslosigkeit, sondern auch die massenhafte Verdrängung von Arbeitskräften durch die Anwendung der Künstlichen Intelligenz im Dienstleistungssektor mit sich bringen wird.
  • Die Not der Flüchtlinge aus den Regionen und Ländern, die von den Stellvertreterkriegen der NATO und Russlands betroffen sind und durch die ersten Auswirkungen des Klimawandels vertrieben werden, was zur Verarmung beiträgt, sowie die diktatorischen Regime und reaktionären sozialen Kräfte, die sie hervorbringen.
  • Rassistische DemagogInnen an der Macht in den imperialistischen Kerngebieten und FaschistInnen auf den Straßen, die gegen MigrantInnen vorgehen, Mauern und Internierungslager bauen und mit Massendeportationen drohen.
  • Globales wirtschaftliches Chaos und die Gefahr eines Krieges, wenn die rivalisierenden Machtblöcke in Handelskriegen, neuen Kalten Kriegen und regionalen Kriegen aufeinanderprallen.

All diese
Herausforderungen ergeben sich aus einem System, das die grundlegendsten
Bedürfnisse der Menschheit nicht befriedigen kann, weil es einer winzigen
parasitären Klasse gehört und von ihr kontrolliert wird, die durch mörderische
Konkurrenz in Richtung einer barbarischen Zerstörung der menschlichen
Zivilisation getrieben wird. Sich mit einer dieser Herausforderungen
auseinanderzusetzen, bedeutet, dass diejenigen, die alle materiellen und
kulturellen Bedürfnisse des menschlichen Lebens produzieren, die ArbeiterInnen,
Bauern und Bäuerinnen der Welt, in den kommenden Monaten und Jahren
antikapitalistische Lösungen, kurz gesagt, eine sozialisierte Wirtschaft, die
geplant ist, um diese Herausforderungen zu bewältigen und zu überwinden,
annehmen müssen.

In
Großbritannien bedeutet dies, dass die 70 Prozent der Industrien und
Dienstleistungen, die sich derzeit im Besitz von 10 Prozent der Bevölkerung
befinden, dieser entrissen werden, in kollektives, soziales Eigentum und
Management überführt und mobilisiert werden müssen, um diesen Gefahren zu begegnen.
Der Grund dafür ist einfach: Man kann nicht lenken oder kontrollieren, was man
nicht besitzt.

Die erste
Aufgabe besteht darin, den Kampf zu intensivieren, um die prokapitalistischen
Elemente aus der Labour Party zu vertreiben und sie in eine Waffe für den
Klassenkampf und nicht für Klassenkompromisse zu verwandeln. Das bedeutet: eine
Partei, deren Taktik auf die direkte Aktion und Massenmobilisierung der
ArbeiterInnenklasse, der Jugend und der sozial Unterdrückten ausgerichtet ist,
deren Ziel es ist, das Regime der Bosse hinwegzufegen und eine
ArbeiterInnenregierung zu errichten, die den demokratischen Organen des
proletarischen Klassenkampfes gegenüber rechenschaftspflichtig und daher in der
Lage ist, den Weg zum Sozialismus zu öffnen, in Großbritannien, Europa und
weltweit.




Kein Frieden mit der AfD! Solidarität mit Jan und Lukas!

ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION, Januar 2020, Neue Internationale 244, Februar 2020

Am 27. Mai 2018 mobilisierte die AfD zu einer bundesweiten Demonstration in Berlin. Der Tag endete mit einer Niederlage der RechtspopulistInnen. Rund 5.000 AfD-AnhängerInnen samt rechtsradikalem und faschistischem Gefolge stellten sich bis zu 70.000 GegendemonstrantInnen entgegen. Bündnisse wie „Stoppt den Hass“ und „AfD wegbassen“ organisierten breiten Protest.

Danach kam es an einigen Orten in Berlin bei der Abfahrt zu
Zusammenstößen zwischen AfD-AnhängerInnen und AntifaschistInnen. Einige
AntifaschistInnen – darunter Jan und Lukas – stehen nun, nach fast zwei Jahren,
vor Gericht. Die Anklage lautet: gefährliche Körperverletzung. Zum konkreten
Geschehen kann leider bis zu einem rechtskräftigen Urteil öffentlich keine
Stellung bezogen werden.

Hintergrund

Klar ist aber schon jetzt: Den politischen Hintergrund, den
Rechtsruck in Deutschland, die dramatische Zunahme rassistischer und
faschistischer Gewalt und die Rolle der AfD wollen sowohl Anklage wie
Staatsanwaltschaft ausblenden.

Mit Elementen wie Höcke, bei dem sogar gerichtlich
festgestellt wurde, dass man ihn als Faschisten bezeichnen darf, dem „Flügel“
und anderen völkischen und faschistischen Teilen stellt die Partei ein
wichtiges Bindeglied zwischen rechtsbürgerlichen, rechtspopulistischen und
offen faschistischen Kräften dar. Es lässt sich leicht belegen, dass solche
Tendenzen in der AfD vorhanden sind. Neben den eher bekannten Zitaten von Höcke
und Gauland findet man auch folgende interessante Aussagen: „Wir sollten eine
SA gründen und aufräumen!“ (Andreas Geithe, AfD) und: „Von der NPD
unterscheiden wir uns vornehmlich durch unser bürgerliches Unterstützer-Umfeld,
nicht so sehr durch Inhalte“ (Dubravko Mandic, AfD).

Letzteres beschreibt eine Funktion der AfD eigentlich recht
gut. Sie dient nationalistischen, faschistischen und völkischen Kräften als
Scharnier und Einfallstor in eine größere Öffentlichkeit. Darüber bietet sie
die Möglichkeit, über die Beteiligung in Parlamenten, die Schaffung und
Finanzierung von sogenannten „Thinktanks“ wie dem Institut für Staatspolitik
und Medienaufmerksamkeit die Akzeptanz von rechter Ideologie in der Bevölkerung
zu stärken. Somit ist sie gewissermaßen eine Vorhut und ein Deckmantel für
solche Kräfte. Es ist deshalb auch kein Zufall, wenn bekannte Neonazis bei
AfD-Aktionen als Schläger-Trupps fungieren oder Aktionen gemeinsam mit
Organisationen wie dem „III. Weg“ veranstaltet werden, welche sich offen zum
NS-Faschismus bekennen. Gleichzeitig können diese Schläger-Truppen als
AnhängerInnen einer parlamentarisch vertretenen Partei auftreten und sich als
Opfer der Medien und der „Linken“ stilisieren.

Solidarität!

Die Zunahme rassistischer und faschistischer Gewalt
offenbart zugleich, dass der Staat und die Polizei nicht gewillt sind, dagegen
entschieden vorzugehen. Sie reicht mittlerweile bis hin zum Mordanschlag gegen
antifaschistische und linke AktivistInnen, Flüchtlinge, MigrantInnen, Jüdinnen
und Juden sowie sämtlichen üblichen Zielen von Rechten und ist wohlbekannt.
Sogar PolitikerInnen von SPD, Linkspartei, Grünen, ja selbst aus der CDU werden
zu deren Opfern.  In dieser
Situation ist es notwendig weiterzugehen, als sich lediglich auf die Polizei zu
verlassen, auf die, wie die Fälle der rechten Anschlagsserie in Berlin zeigen,
gerade kein Verlass ist. Dort wurden Todeslisten bei rechten BeamtInnen
gefunden und teilweise die „Zielpersonen“ erst nach Anschlägen darüber
informiert.

Was wir brauchen, sind Strukturen der Linken, MigrantInnen
und ArbeiterInnenbewegung, welche die Information und Verteidigung gegen die
Rechten organisieren – eine antifaschistische Aktionseinheit. Gleichzeitig
müssen wir uns solidarisch zusammenschließen mit all jenen, die sich gegen die
Rechten einsetzen, die von ihnen angegriffen werden oder sich gegen sie
verteidigen.

Solidarität mit Jan und Lukas!

  • Unterstützt die Angeklagten am ersten Prozesstag!
  • Berlin, Donnerstag, 6. Februar, 10:00 Uhr vor dem Amtsgericht Tiergarten, Turmstraße 91



Kampf gegen Rentenkürzungen in Frankreich an einem Wendepunkt

Martin Suchanek, Neue Internationale 244, Februar 2020

Die Streikbewegung gegen die Rentenreform steht nach zwei
Monaten von Massenaktionen, die nicht nur Macron das Fürchten lehrten, sondern
auch zu einer Inspiration für Millionen in ganz Europa wurden, an einem
Wendepunkt. Die Regierung und die von ihr forcierten Angriffe sind unverändert
unpopulär, ja verhasst. Macron, der selbsternannte und selbstherrliche
Sonnenkönig eines „humanitären“ (Neo-)Liberalismus, enthüllt einmal mehr sein
arbeiterInnenfeindliches Gesicht. Alle Umfragen zeigen, dass seine „Reformen“
bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung weiter auf massive Ablehnung
stoßen.

An den Aktions- und Streiktagen, die von den Gewerkschaften
ausgerufen werden, beteiligen sich nach wie vor Hunderttausende, wenn nicht
Millionen. Die Demonstrationen offenbaren nicht nur tief sitzende Wut und
Empörung, sondern auch die Entschlossenheit, Dynamik, Kreativität und
Kampfbereitschaft der ArbeiterInnenklasse. Seit Anfang Dezember haben die
Streikenden bei der Bahn und Metro sowie die LehrerInnen im öffentlichen Dienst
gezeigt, dass Macron und seine Regierung in die Defensive gedrängt und sogar
gestürzt werden können, wenn die ArbeiterInnenklasse ihre ganze Kampfkraft in
die Waagschale wirft. Millionen Lohnabhängige aus allen Wirtschaftsbereichen,
SchülerInnen, Studierende, die Überreste der „Gilets Jaunes“, alt wie jung
betrachten den Streik als ihre Sache, solidarisieren sich bei den Aktionstagen
oder durch Spenden für Aktive, die seit Wochen die Stellung halten. Wie kaum
ein anderer Ausstand wird der gegen die Rentenkürzungen von unten, von der
Basis der Beschäftigten getragen – und er verdeutlicht damit die Stärken, die
allein schon aus dem spontanen Gewicht der Klassen erwachsen.

Zugleich offenbaren sich aber auch die Schwächen und
Probleme der Bewegung. Im Folgenden werden wir diese kurz darstellen, um dann
auf die Frage einzugehen, wie sie überwunden werden können.

Verrat der CFDT-Führung

Die Regierung Macron hat es geschafft, die Gewerkschaften zu
spalten, indem sie Anfang des Jahres der Streikbewegung ein „Gesprächsangebot“
machte und versprach, einen Aspekt der Reform „auszusetzen“.

Dies war natürlich nie ernst gemeint, was sich schon daran
zeigt, dass eigentlich nur die Aussetzung des „Scharnieralters“, ab dem
Menschen ohne Abschläge in Rente gehen können, für einen Teil der Bevölkerung
in Aussicht gestellt wurde. D. h. jene, die vor dem 64. Lebensjahr zur
Zeit mindestens 41,5 Betragsjahre (ab 2021 mindestens 43 Jahre) vorweisen
können, sollten auch schon früher ohne Verlust in Ruhestand gehen können.

Selbst diese Offerte, die bestenfalls die Verschlechterung
für eine kleiner werdende Gruppe von Lohnabhängigen für einige Jahre
aufgeschoben hätte, war nie mehr als ein unverbindliches Gesprächsangebot.

Der Kern der Reform, den das Unternehmerlager seit Jahren
einfordert, sollte ohnedies nie in Frage gestellt werden. Es geht um die
allgemeine Absenkung aller Renten durch eine Veränderung ihrer
Bemessungsgrundlage. Zur Zeit werden die finanziell besten 25 Beitragsjahre zur
Berechnung der Höhe der Renten herangezogen. Kommt die Reform durch, werden in
Zukunft 43 Beitragsjahre in die Ermittlung des Rentenniveaus für fast alle
Berufgruppen – ausgenommen sind nur wenige wie Militärs, Teile der Polizei,
PilotInnen, OperntänzerInnen – einfließen. Der Rentenklau betrifft also die
gesamte ArbeiterInnenklasse und alle Einkommensschwächeren, Prekären,
Erwerbslosen besonders hart. Dramatische Abschläge und ein besorgniserregender
Zuwachs der Altersarmut sind vorprogrammiert.

Das eigentliche Ziel der Regierung war also offensichtlich
und leicht zu durchschauen: der Streik sollte beendet oder zumindest geschwächt
werden. Die ArbeiterInnen sollten zurück zur Arbeit, während die
GewerkschaftsführerInnen über den Verhandlungstisch gezogen werden.

Die rechts-sozialdemokratische CFDT – nach Mitgliedern die
zweitgrößte, nach gewählten betrieblichen VertreterInnen die größte
Gewerkschaft des Landes – und einige kleinere Verbünde nahmen das „Angebot“
jedoch freudig auf. Der CFDT-Vorsitzende Berger verkündete gar den Sieg der
Streikbewegung, die er ohnedies nie gewollt hatte. Seine Gewerkschaft hatte
ihre Mitglieder und FunktionärInnen nie zum Streik aufgerufen. In den von ihr
organisierten Bereichen kam es kaum zu Arbeitsniederlegungen. Am Beginn hatte
sich die CFDT sogar gegen die Mobilisierung zu stellen versucht, musste dann
aber auf die Bewegung aufspringen und rief Ende 2019 gemeinsam mit anderen
Gewerkschaften zu den Aktionstagen auf, um noch Einfluss ausüben zu können.

Das Angebot der Regierung griff sie umso freudiger auf. Die Spitzen
kleinerer Gewerkschaften wie der UNSA, die vor allem bei der Pariser Metro
stark vertreten ist, folgten dem Kurs der CFDT. Sie stießen aber auf Widerstand
bei ihrer streikenden Basis, die sich gegen den Willen ihrer Vorstände weiter
am Arbeitskampf beteiligte.

Dass sich der Widerspruch zwischen Führung und Basis bei den
regierungsnahen Gewerkschaften manifestiert, zeigt, dass letztere durchaus von
den BerufsverräterInnen an der Spitze gebremst werden kann. Der Streikbruch
v. a. der CFDT verdeutlicht jedoch nicht nur deren verräterischen
Charakter, er hat auch der Regierung geholfen, selbst wieder die Initiative zu
ergreifen, indem sie die Gewerkschaften gegeneinander ausspielt.

Aussetzen der Streikbewegung

Der offene Streikbruch verschärft ein letztlich noch
größeres Problem, nämlich die Tatsache, dass seit Wochen keine neuen Sektoren
in den Ausstand traten. Auch die großen Aktionstage im Jahr 2020 können nicht
über das Problem hinwegtäuschen, dass die Streikfront seit Ende Dezember
zahlenmäßig stagnierte und die Arbeitsniederlegungen in vielen Bereichen
langsam zurückgingen. Auch wenn die bürgerlichen Medien im Januar die
Entwicklung übertrieben, so nahm der Prozentsatz der fahrenden Züge und Metros
doch sichtbar zu.

Am 20. Januar beschloss eine Mehrheit der
Streikversammlungen (assemblées générales, AG) schließlich die „Aussetzung“ der
Arbeitsniederlegungen im Transportsektor. Der unbefristete Streik kam damit
vorerst zum Erliegen und er sollte nur noch an den großen, landesweiten
Aktionstagen aufrechterhalten werden. Auch wenn diese Taktik zu eintägigen
Streiks und Massendemos mit über einer Million führte, so kann und darf die
Aussetzung der Streiks nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewegung nicht
mehr in der Lage ist, ihr wirksamstes und mächtigstes Kampfmittel gegen die
Regierung einzusetzen.

Dass viele Beschäftige von Bahn und Metro nach 45 Tagen des
intensiven Arbeitskampfes erschöpft sind und sich nicht mehr in der Lage sehen,
die Streikfront pausenlos zu halten, lässt sich leicht nachvollziehen. Die
Einkommensverluste der ArbeiterInnen, die die Bewegung tragen und deren Spitze
stellen, können außerdem nicht vollständig und dauerhaft durch Streikgelder und
durchaus beachtliche Solidaritäts-Spenden von mehreren Millionen Euro
aufgefangen werden.

Hinzu kommt, dass der Sektor, der neben den Beschäftigten
bei Bahn und Metro die meiste Streikaktivität aufwies, die LehrerInnen im
Bildungsbereich, selbst im Gegensatz zum Transportsektor nie flächendeckend und
unbefristet die Arbeit niedergelegt hat. Die LehrerInnengewerkschaft FSU und
die meisten AGs konzentrierten sich auf die Aktionstage, während die große
Mehrheit der LehrerInnen in der „Zwischenzeit“ ihrem Beruf nachging.

Die Erschöpfung der kampfstärksten Schichten der Klasse
kommt nach so langer Zeit nicht verwunderlich. Im Gegenteil, sie haben sehr
lange durchgehalten. Es zeigt sich aber, dass ein solch bedeutender politischer
Generalangriff der Regierung nicht zurückgeschlagen werden kann, wenn die
Streikfront nur auf die Avantgarde der Klasse beschränkt bleibt und keine neuen
ArbeiterInnenschichten in den Kampf treten.

Rolle der Gewerkschaftsbürokratie

Hier stellt sich jedoch die Frage: Woran lag es, dass eine
Ausweitung des Streiks nicht gelang? An Appellen von linken oder kämpferischen
AktivistInnen, an Aktionen wie Blockaden, Besetzungen usw. hatte und hat es
nicht gemangelt. Viele der AktivistInnen der AGs haben immer wieder darauf
gedrängt. Bei den Demonstrationen im Januar waren die Parolen des
„Generalstreiks“ und der Ausweitung des Kampfes wie der Forderungen durchaus
populär, was verdeutlicht, dass die Basis der Bewegung nach einer Lösung für
die aktuellen Problem sucht.

Um zu verstehen, warum der Streik dennoch nicht weiter
ausgeweitet wurde, müssen wir die Rolle der Gewerkschaftsführungen begreifen,
denen trotz der Dynamik von unten letztlich die Führung der Bewegung zufiel.

Anders als die StreikbrecherInnen im Vorstand der CDFT weisen bis heute die meisten Gewerkschaften die „Verhandlungsangebote“ der Regierung zurück. Die gemeinsame Gewerkschaftskoordination Intersyndical aus CGT, FO, FSU, Solidaires, FIDL, MNL, UNL und UNEF gibt letztlich den Takt der Bewegung vor, legt die Aktionstage fest. Sie hofft, mittels weiterer solcher Manifestationen die Regierung zum Einlenken zu bewegen.

Doch schon am Beginn der Streikbewegung zeigte sich die Rolle der Bürokratie dieser Verbände in mehrfacher Hinsicht.

Erstens riefen die meisten der Verbände ihre eigenen Mitglieder über die schon streikenden Sektoren hinaus nicht zu weiteren Arbeitsniederlegungen auf. Gewerkschaftszentralen wie z. B. die FO (nach CGT und CFDT die drittgrößte des Landes) unternahmen praktisch nichts, um den Streik auf jene Sektoren auszuweiten, wo sie stark sind, ihre Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufzurufen und dabei praktisch zu unterstützen.

So befanden sich tatsächlich nur einige Gewerkschaften der Intersyndical im Streik, namentlich CGT, SUD und die LehrerInnengewerkschaft FSU. Und selbst die CGT versuchte kaum, über den Transportsektor hinaus ihre Mitglieder in den Kampf zu rufen.

Zudem verzichteten die aktiveren, linken Gewerkschaften – und hier vor allem die CGT-Führung – darauf, jene, die nicht ständig streikten, dafür offen zu kritisieren, zum Kampf aufzufordern und sich nicht nur an andere Führungen, sondern auch an die Basis zu wenden. Zwischen den Zentralen bestand und besteht jedoch eine Art politisches Stillhalteabkommen, das für die Zeit ihrer formalen Kampfunterstützung auch die CFDT einschloss.

Diese Politik fällt nicht vom Himmel, sondern sie spiegelt auch die Zielsetzung und Taktik der Gewerkschaftsführungen wider, inklusive jener der de facto führenden Kraft CGT. Diese organisiert zweifellos die wichtigsten und kämpferischsten Streikenden im Transportsektor, auch wenn radikalere Gewerkschaften wie Solidaires (SUD) eine Rolle unter einer sehr militanten Minderheit spielen mögen.

Die Massenbewegung, die CGT-Spitze wie die gesamte Intersyndical kritisieren zurecht den politischen, gesamtgesellschaftlichen Charakter der Rentenreform. Doch bei aller kämpferischen Rhetorik führt die Gewerkschaftsführung die Schlacht um die Rentenreform nicht wie einen politischen Klassenkampf mit der Regierung, sondern wie einen besonders bedeutsamen gewerkschaftlichen, also wirtschaftlichen Konflikt.

Letztlich hoffte auch sie, die Regierung durch den Druck der
Aktion zu einem „wirklichen“ Verhandlungsangebot zwingen zu können.

Die Regierung Macron und die gesamte herrschende Klasse
Frankreichs hingegen führen den Kampf als das, was er ist: eine Klassenschlacht,
die nicht nur massive Rentenkürzungen durchsetzen, sondern auch das
Kräfteverhältnis nachhaltig zu ihren Gunsten verschieben soll.

Daher verweigerte sie „echte“ Verhandlungen und spaltete
vielmehr erfolgreich mit einem Scheinangebot. Nachdem der Streik schwächer
wird, tritt sie auch nach und rückt wieder von den Zugeständnissen ab, die der
CFDT versprochen wurden. So verkündete Gesundheitsministerin Agnès Buzyn am 24.
Januar, dem Tag der ersten Lesung des Gesetzesentwurfs im Parlament, dass das
Renteneintrittsalter von 64 „im Gesetzentwurf enthalten“ bleibe.

Gleichzeitig verschärft die Regierung die Tonart gegenüber
den Streikenden und Demonstrierenden. So wurde die Besetzung der CFDT-Zentrale
durch kämpferische ArbeiterInnen in der bürgerlichen Presse als „Terrorismus“
gebrandmarkt. Die Stimmung im Land soll zum Kippen gebracht, also gegen die
„Minderheit“ der Streikenden in Stellung gebracht werden, die alle anderen „in
Geiselhaft nehmen“ würden.

Die Gewerkschaftsführungen waren auf diese politische Gegenoffensive
nicht vorbereitet – nicht einfach aus politischer Unwissenheit oder
Blauäugigkeit, sondern weil sie, selbst wenn sie sich kämpferisch geben, eine
politische Entscheidungsschlacht mit der Regierung vermeiden wollten und
wollen. Denn genau eine solche würde eine Ausweitung des Streiks zu einem
politischen Massenstreik, letztlich zu einem unbefristeten Generalstreik
wahrscheinlich mit sich bringen. Natürlich wäre es auch möglich, dass die
Regierung selbst zeitweilig den Rückzug antritt. Aber angesichts des wichtigen,
strategischen Charakters der Reform für Macron konnte darauf nie spekuliert
werden. Ein Generalstreik hätte daher rasch die Frage seiner Verteidigung gegen
polizeiliche Repression oder gar gegen den Einsatz des Militärs im Inneren
aufwerfen können (wie die Besetzung der Raffinerien vor einigen Jahren) – somit
also nicht nur die Rentenreform, sondern auch die Frage der politischen Macht.

Da die Gewerkschaftsführungen diesem Kampf aus dem Weg gehen
wollten und wollen, spielen sie unwillentlich der Regierung in die Hände.
Sobald diese erkennt, dass die ArbeiterInnenklasse schwächelt, weil deren
Führung zögerlich und schwach ist, setzt sie nach.

Die Schwäche der Bewegung

Die Politik der Gewerkschaftsführungen wird jedoch auch
durch politische Schwächen der Basis erleichtert. Diese ist zwar weit
kämpferischer, betrachtet aber selbst den Kampf über weite Strecken als
gewerkschaftliche Auseinandersetzung, nicht als politischen Klassenkampf. Dies
zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie bislang die politische Führung der
Intersyndical überlässt.

Auch wenn der Streik von den Streikversammlungen, den
assemblées générales, in den Betrieben getragen wurde, so waren diese doch weit
davon entfernt, die Führung der Bewegung zu übernehmen.

Die AGs stimmten zwar jeden Tag über die Fortführung des
Streiks ab, aber nur ein kleiner Teil wählte oder bestimmte eine betriebliche
Streikleitung oder ein Streikkomitee. Eine über die Betriebe und Abteilungen
hinausgehende Koordinierung gab es nicht, allenfalls in Einzelfällen. In vielen
Fällen beschränkten sich die Versammlungen sogar nur darauf, den Bericht von
GewerkschaftsvertreterInnen zu hören, zu klatschen und auf dessen Vorschlag für
die Fortsetzung des Streiks zu stimmen.

D. h. die faktische Leitung des Arbeitskampfes lag
weiter bei einer, den AGs nicht verantwortlichen Führung, die von den
Gewerkschaftszentralen bestimmt wurde. Ohne Wahl und Koordinierung von
Streikkomitees konnten die AGs zu keinem Zeitpunkt zur Führung des Streiks
werden, schon gar nicht auf überbetrieblicher Ebene. Auf landesweiter Ebene
existiert erst recht keine alternative politische Führungskraft zur von der CGT
maßgeblich bestimmten Intersyndical.

Daran änderte auch das weit verbreitete und berechtigte
Misstrauen der Lohnabhängigen gegenüber der Gewerkschaftsspitze nichts. Diese
vermochte es vielmehr, die politische Verantwortung für die Ausweitung des
Streiks durch ein geschicktes Manöver auf die Basis abzuwälzen.

Da formal nur die AGs über die Durchführung und
Weiterführung des Streiks in einem Betrieb oder einer Abteilung entscheiden,
rechtfertigten die Gewerkschaftszentralen – so auch die linke CGT – ihre
Versäumnisse, aktiv weitere Sektoren in den Kampf zu ziehen und in weiteren
Betrieben und Branchen systematisch zu agitieren, damit, dass sie die
ArbeiterInnen nicht „bevormunden“ möchten. Nur die ArbeiterInnen in den
Betrieben dürften über ihren Streik und dessen Fortführung entscheiden. Das, so
die Bürokratie, würde großzügig respektiert werden. Daher würden sie auf
„bevormundende“ Aufrufe zu allgemeinen Streiks verzichten, dieser müsse „von
unten“ kommen.

Damit schob die Führung der Gewerkschaften jedoch bloß ihre
politische Verantwortung, den Kampf auszuweiten und zu verstärken, auf die
„Basis“ ab, d. h. auf voneinander weitgehend isolierte einzelne
Belegschaften oder Abteilungen.

In der Phase des Aufstiegs und der Ausweitung der
Streikbewegung treten diese Probleme einer solchen Struktur nicht so sehr in
Erscheinung. Getragen von der Nachricht großer Streikbeteiligung, riesiger Demonstrationen
und Solidarität der Bevölkerung stimmen natürlich auch viel leichter AGs für
den Streik. Sobald die Bewegung jedoch rückläufig ist, sobald sich
Ermüdungserscheinungen zeigen, schlägt die Dynamik leicht in ihr Gegenteil um –
mehr und mehr AGs werden, von der allgemeinen Stimmung beeinflusst, zum Rückzug
blasen. Wie der Beschluss zur Aussetzung des Streiks im Transportwesen, der in
vielen Betrieben zeitgleich erfolgte, zeigte, existierte natürlich zu jedem
Zeitpunkt in der Wirklichkeit auch eine überbetriebliche Verbindung – jedoch
keine von der Basis gewählte oder kontrollierte, sondern vom
Gewerkschaftsapparat.

Es ist also, wie bei jeder Bewegung, ein Mythos, dass es
keine Führung gebe. Die scheinbare Selbstständigkeit und Unabhängigkeit jeder Streikversammlung
bedeutet nur, dass die wirkliche Führung, der von der CGT kontrollierte
Gewerkschaftsapparat, schwierige Entscheidungen scheinbar großzügig an die
Basis abtritt. So kann die CGT-Zentrale jede Verantwortung für das Aussetzen
des Streiks abstreiten, indem sie auf die eigenständigen Beschlüsse der
Basisversammlungen verweist – und diese „respektiert“.

Zweifellos kommen der Gewerkschaftsbürokratie dabei
Illusionen der Basis zugute. Gegenüber der berechtigten Befürchtung vor
Bevormundung und Gängelung durch den Apparat erscheint die Demokratie der
Vollversammlung ein wirksames Mittel. Aber es ist ein politisch unzulängliches,
ja wirkungsloses Mittel. Der Zentralisierung des Kampfes durch die Bürokratie
stellt sie eine „Dezentralisierung“ entgegen, der Führung durch einen
reformistischen Gewerkschaftsapparat somit die Illusion des Verzichts auf eine
politische Führung überhaupt.

Die tragische Ironie dieser Selbsttäuschung besteht darin,
dass die Macht der Bürokratie über die Bewegung nicht beseitigt, sondern nur
weniger sichtbar wird, weniger offen und somit indirekt hervortritt. Sie wird
damit aber auch unfassbarer und letztlich auch schwerer zu bekämpfen.

Vor allem aber kann so keine alternative Führung zu jener
der Bürokratie aufgebaut werden, weil auch das Problem der Zentralisierung des
Streiks, der Koordinierung, der Ausweitung und Bündelung der Schlagkraft im
Kampf gegen Kapital und Regierung nicht gelöst werden kann.

Notwendig war und ist es, in der Bewegung gegen die
Rentenreform daher für zwei Forderungen einzutreten:

  • Von den Gewerkschaftsführungen eine konsequente Ausweitung des Kampfes zu fordern, bis hin zu einem politischen Generalstreik zur Rücknahme der Angriffe.
  • Die Wahl, Rechenschaftspflicht und Abwählbarkeit von Streikkomitees aus den AGs und deren Koordinierung zu lokalen, regionalen und landesweiten, der Basis wirklich verantwortlichen Aktions- und Streikleitungen zu fordern. Diese sollten auch jetzt, wo viele AGs den Streik ausgesetzt haben, gewählt werden, um so überhaupt erst eine organisierte Verbindung zwischen den kämpfenden Belegschaften zu bilden, die einen Mobilisierungsplan erarbeitet, um den Streik wieder auszuweiten und voranzubringen. Die Gewerkschaftsführungen müssten aufgefordert werden, sich voll hinter die Beschlüsse solcher Koordinierungen zu stellen.

In der aktuellen Situation müssten diese Forderungen mit
konkreten Schritten verbunden werden, wie das Rückfluten der Streikbewegung
gestoppt und eine neue Ausweitung vorbereitet, ja in Gang gesetzt werden kann. Auch
wenn die Reform wahrscheinlich nur mit einem Generalstreik gestoppt werden
kann, so kann dieser angesichts einer Bewegung, die mit rückläufigen
Streikzahlen kämpft, nicht einfach proklamiert werden. Schon gar nicht wird der
abstrakte Ruf nach einer „Ausweitung“ der Streikbewegung Betrieb für Betrieb zu
diesem Ziel führen können.

Die Taktik der Gewerkschaftsführungen und der Intersyndikal,
die Beschäftigten bei Bahn, Metro, im Bildungssektor und andere regelmäßig zu
Aktionstagen zu mobilisieren, spiegelt in dieser Lage einerseits den weiter
bestehenden Kampfwillen der ArbeiterInnen wider. Sie birgt aber andererseits
die große Gefahr in sich, dass sich die Streikbewegung nach und nach in
Aktionstagen erschöpft.

In dieser Situation kann jedoch die Forderung nach einem
landesweiten Aktionstag, der mit einem Generalstreik möglichst aller Sektoren
verbunden wird, eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn eintägige
Arbeitsniederlegungen aufgrund ihres letztlich symbolischen Charakters oft und
leicht als Beruhigungspille missbraucht werden können, so kann ein solcher
eintägiger Streik im Fall einer rückläufigen Streikbewegung auch ein Mittel zur
erneuten Sammlung der Kräfte sein, um der ArbeiterInnenklasse vor Augen zu
führen, dass sie über die Mittel und Kampfkraft verfügt, den Angriff der
Regierung zurückzuschlagen. D. h. ein solcher eintägiger Streik dürfte
nicht als „Höhepunkt“ einer Auseinandersetzung verstanden werden, sondern als
Schritt zur Mobilisierung, zur Vorbereitung eines unbefristeten Generalsstreiks.

Ein solcher könnte nicht nur die Totenglocken für die
Rentenreform, sondern auch für die Regierung Macron läuten lassen – in jedem
Fall wäre er ein Fanal des Widerstandes der ArbeiterInnenklasse in ganz Europa
nach Jahren des Rückzugs, der faulen Kompromisse und des Aufstiegs der Rechten.