Fridays for Future: Wie können wir gewinnen?

Leo Drais, Neue Internationale 240, September 2019

Nach etwa neun Monaten Fridays for Future in Deutschland
sind wir nicht mehr wegzudenken! Trotz allen Gelabers, dass das mit der
Energiewende „den Profis“ überlassen werden sollte, trotz diverser Drohungen
von Schulleitungen und Kultusministerien, trotz aller blöden Kommentare, die
wir uns anhören müssen, bloß weil man ein „total Strom fressendes Smartphone“
nutzt!

Internationaler Klimastreik

Zu den großen internationalen Klimastreiks am 15. März und
am 24. Mai gingen mehr als eine Million Jugendliche auf die Straßen. In Aachen
waren wir am 21. Juni beim ersten zentralen europäischen Klimastreik rund
40.000 – ein großer Erfolg. Einen Tag später trugen wir unseren Protest direkt
vor die Haustür des Rheinischen Braunkohlereviers –  der größten CO2-Schleuder Europas. Es gab sogar schon
Streiks, die über den wöchentlichen Freitagstermin hinausgingen und einige Tage
andauerten!

Aus der Bundespolitik erreicht uns angesichts der
Mobilisierungserfolge von Fridays for Future nicht nur Kritik – von DIE LINKE
über Grüne und sogar bis hin zur CSU erreichen uns Komplimente von
BerufspolitikerInnen für unser „tolles Engagement“ und „Interesse an Politik“.
Aber dieses ganze Geschwätz bringt uns nichts für unsere Zukunft. Das erkennen
viele. Immerhin ist die Untätigkeit dieser parlamentarischen SchwätzerInnen
überhaupt erst der Grund, warum wir zu Tausenden auf die Straße gehen!

Diese Untätigkeit trifft auf alle Parteien im Bundestag zu.
Die AfD macht es sich am einfachsten und leugnet den menschlichen Einfluss auf
das Klima. Aber auch die anderen kommen nicht gut weg: DIE LINKE und SPD haben
in Brandenburg dem Ausbau des Tagebaus Welzow zugestimmt, die Grünen die
Abholzung des Hambacher Forstes abgesegnet und das unsinnige Stuttgart 21
schließlich akzeptiert. CDU und FDP haben erst den Ausstieg aus der Atomkraft
zurückgenommen, um dann nach dem Unfall von Fukushima das Ganze doch wieder
umzudrehen – mit fetten Entschädigungen für die Konzerne. Außerdem beteiligten
sich Grüne, SPD, CDU und FDP an dem faulen Kohlekompromiss (Ausstieg aus der
Braunkohleverstromung erst 2038) – genauso Greenpeace und BUND.

Was brauchen wir jetzt?

Viele in Fridays for Future stellen sich die Frage, wie die
Bewegung vorankommen und siegen kann – so auch wir. Doch was wollen wir
überhaupt erreichen? Bundesweit tritt Fridays for Future für die Einhaltung des
1,5-Grad-Zieles, Ausstieg aus der Kohle bis 2030 sowie eine CO2-Nettonull bis
2035 ein. Einige lokale Gruppen wie z. B. Frankfurt am Main gehen bereits
darüber hinaus und fordern die Gemeinden und Kommunen zum konkreteren Handeln
auf. Es zeigt sich: Viele von uns geben sich nicht mit den wenigen bundesweiten
Punkten von FFF zufrieden und treiben den Kampf auf lokaler Ebene weiter.

Weit verbreitet ist dabei das Mittel des „Klimanotstandes“.
Derzeit läuft eine Petition, diesen bundesweit durchzusetzen. Ziel ist,
Kommunen dazu zu verpflichten, aktiv gegen den Klimawandel vorzugehen. Wir
finden, dass dies zwar eine nette Geste sein kann, aber auch leicht zur bloßen
Symbolpolitik zu verkommen droht.

In Wirklichkeit müssen wir weitergehen, um das Übel an der
Wurzel zu packen. Wenn Konzerne trotz aller Mahnungen nicht bereit sind, aus
der Braunkohleverstromung auszusteigen, Banken weiter in Klimakiller investieren
oder Industrien weiter auf Verbrennungsmotoren setzen, dann müssen wir die
Frage stellen, wer eigentlich bestimmt, was für wen produziert wird und zu
welchem Zweck?

Wenn für die Reichen der Profit über dem Klima steht, dann
müssen wir dafür sorgen, dass ökologische Nachhaltigkeit und die Interessen der
Lohnabhängigen Vorrang erhalten! Nur so kann eine ökologische Umstrukturierung
der Gesellschaft erfolgen: Die ProfiteurInnen müssen zur Kasse gebeten werden,
das Kapital muss unter ArbeiterInnenkontrolle enteignet werden. Nur so kann
eine schnellstmögliche Energie- und Verkehrswende planmäßig und unter Kontrolle
der lohnabhängigen Bevölkerung erfolgen – finanziert aus den Profiten und
Vermögen der Reichen.

Demokratie und Aktivismus

Das sehen leider viele AktivistInnen in unserer Bewegung
nicht so. Anfang August fand in Dortmund der Sommerkongress von FFF Deutschland
statt. Wir haben dort als Teil der antikapitalistischen Plattform Changes for
Future (CFF) teilgenommen. Ziel war es, mit dem individualisierten
Streikverständnis zu brechen und mit klaren Forderungen den Gewerkschaften
gegenüber aufzutreten und für den politischen Generalstreik zu kämpfen. Hierfür
braucht es auch Forderungen, die nicht nur an die Politik appellieren, sondern
eine Perspektive zur Umorganisierung der Produktion in Deutschland und global
formulieren. Doch der Kongress glich einem Großevent und keinem Raum für
Entscheidungen.

Wir denken, dass eine lebendige, breite Diskussion um die
politische Ausrichtung der Bewegung entscheidend für die Entwicklung von
Fridays for Future ist. So kann die Bewegung an der Basis verbreitert werden,
sich gegen politische Angriffe rüsten und für Diskussionen mit ArbeiterInnen
und Gewerkschaften aufstellen.

Um’s konkret zu machen: Wir sind dafür, dass Debatten und
Abstimmungen nicht bloß auf Ortsgruppen oder Plena beschränkt sind – wenn sie
dort überhaupt stattfinden -, sondern bereits auf den Kundgebungen und Demos
oder unmittelbar danach in Versammlungen stattfinden.

Auch braucht es bei der gegenwärtigen Bewegungsdynamik
regelmäßige bundesweite Konferenzen, die für alle SchülerInnen unabhängig vom
Einkommen ihrer Eltern bezahlbar sind.

Wir müssen uns auch überlegen, wie wir auf vermehrte
Drohungen über Bußgelder und Strafen von Schulleitungen und Kultusministerien
antworten wollen. Auch hier liegt für uns die Lösung in einer möglichst breiten
Verankerung der Bewegung auch in den Schulen selbst. Streikkomitees an Schulen
können vor Ort Aktionen gegen Angriffe von DirektorInnen durchführen.

Illusionen

Hierfür braucht es einen Bruch in der Bewegung mit der
Illusion, dass die Klimafrage alle gleich angeht und mensch die KritikerInnen
nur noch überzeugen muss. Wir brauchen keine Bitten mehr, wir brauchen den
geeinten Widerstand gegen jeden Versuch, die Bewegung und ihre AktivistInnen
einzuschüchtern!

Kurz gesagt: Wenn sich 10.000 statt 500 lokal an Fridays for
Future beteiligen, gibt’s auch mehr Leute, die was machen, diskutieren und
vorantreiben wollen. Eben das muss sich in der Führung einer Bewegung widerspiegeln
und kann auch nicht durch WhatsApp und Telegram ersetzt werden.

Schlussendlich sind die Formdebatten, die wir in FFF
regelmäßig erleben, jedoch nur Ausdruck der politischen Stagnation der
Bewegung. Sie nimmt sich die politischen Möglichkeiten und stellt sich hinter
die Erkenntnisse einer scheinbar über den Klassen stehenden Wissenschaft, der
die bürgerliche Politik nur zu folgen hätte. Das verkennt aber, warum die
Regierungen dieser Welt weiterhin eine Politik an den Tag legen, die unsere
natürliche Lebensgrundlage systematisch unterhöhlt. Dies liegt nicht an der
fehlenden Erkenntnis, sondern am Gegensatz umweltschonender Produktion zum
Gewinnstreben des Kapitalismus. Hierzu brauchen wir offene Debatten über das
Programm der Bewegung. Dies ist die Schlüsselfrage der weiteren Existenz von
Fridays for Future. Für uns ist dies die Verbindung der Klima- mit der
Eigentumsfrage.

Globaler Klimastreik – aber wie?

Der nächste große Mobilisierungsschwerpunkt für Fridays for
Future ist der Globale Klimastreik am 20. und 27. September. Das bietet aus
unserer Sicht gleich drei große Möglichkeiten für die Bewegung:

Erstens, weil der Klimawandel ein globales Phänomen ist und
daher nicht in einem Land isoliert bekämpft werden kann.

Zweitens ist er aber nicht bloß ein weltweites Problem, er
hängt auch unmittelbar mit Rassismus und Imperialismus zusammen. Warum ist das
so? Nun, wenn zum Beispiel Menschen aus der Subsahara wegen Dürre fliehen
müssen und dann auf die Festung Europa treffen, dann ist das Rassismus. Wenn
umgekehrt reiche Länder – wir würden sagen imperialistische Länder –
Produktionen in arme Länder (Halbkolonien) auslagern, Müll dorthin exportieren,
Raubbau an den dortigen Ressourcen betreiben, dann verschärft das wiederum
umgekehrt die dortigen schlechten Lebensverhältnisse.

Deshalb müssen wir den Kampf gegen die Klimakatastrophe mit
einem Kampf gegen Rassismus und Imperialismus verbinden und ganz klar sagen:
Grenzen auf! Klimawandel ist eine Fluchtursache! Zwangsläufig muss auch dieser
ein internationaler sein, z. B. für bessere Lebensverhältnisse und gegen
Überausbeutung in der halbkolonialen Welt.

Auch hierbei stehen uns wieder jene Konzerne entgegen, die
von der Überausbeutung profitieren – auch hier sagen wir: Enteignung der
Konzerne, Kontrolle der ArbeiterInnen über die Produktion und weltweiter,
demokratischer Plan zur ökonomischen Entwicklung dieser Länder in Verbindung
mit einem Notprogramm gegen die ökologische Katastrophe.

Drittens ist der Aufruf zum globalen Klimastreik ein Aufruf
zu einem Generalstreik. Der umfasst nicht bloß SchülerInnen, sondern vor allem
auch die, die all den Reichtum der Gesellschaft produzieren: die ArbeiterInnen.

Wie die ArbeiterInnen mobilisieren?

Nun stellt sich die Frage, wie können wir ArbeiterInnen und
ihre Organisationen für den globalen Streik gewinnen? Ein erster wichtiger
Schritt hier in Deutschland war und ist ein Aufruf linker GewerkschafterInnen,
den Streik zu unterstützen. Wir sollten ihn möglichst weit zu streuen
versuchen. Aber das allein wird nicht reichen. In Deutschland sind politische
Streiks zwar nicht illegal, aber sie genießen nicht den Schutz, den Streikende
in Tarifrunden haben. Die Führungen der Gewerkschaften wollen gegen die
Situation praktisch nicht ankämpfen und versuchen im Gegenteil, die ArbeiterInnen
vom politischen Streik abzuhalten.

Hinzu kommt, dass einige ArbeiterInnen uns feindlich oder
skeptisch gegenüberstehen. Gerade die im Energiesektor oder in der
Automobilbranche fragen natürlich: Wie behalte ich bei der Energiewende mein
Einkommen oder meinen Job? Da bringt’s uns nix, einfach zu rufen: „Es gibt kein
Recht auf Kohlebagger fahren!“. Wir müssen uns im Gegenteil darüber klar
werden, dass der schnellstmögliche Ausstieg aus der Braunkohle (und jede
ökologische Umstellung der Produktion) nur durch die ArbeiterInnen passieren
kann, wir SchülerInnen dafür leider nicht über die Macht verfügen, aber auch
nicht über das zur Umgestaltung der Produktion nötige Wissen der
Lohnabhängigen.

Deswegen: Warum nicht mal eine Freitagskundgebung vor einem Braunkohlemeiler,
einer Autofabrik oder einem Busdepot machen und die Diskussion suchen? Dabei
müssen wir klar machen, dass wir die Bosse für die Energiewende zahlen lassen
wollen und eine von den Beschäftigten selbst bestimmte Umstrukturierung der
Produktion stattfinden soll. Oder warum nicht mal zu den Gewerkschaften gehen
und sie auffordern, den Klimastreik einfach zu unterstützen und auf das
eingeschränkte Streikrecht zu scheißen? Es gibt hierbei keine Garantie auf
Erfolg, aber wir glauben, dass für FFFs eigene Zukunft als Bewegung
entscheidend sein wird, von der SchülerInnenbewegung zu einer Bewegung der
Arbeitenden und Jugendlichen global zu werden. Also müssen wir zumindest
probieren, die offensten, radikalsten, jugendlichsten Teile der ArbeiterInnen zu
gewinnen. Dass das möglich ist, beweisen die bereits jetzt schon vorhandenen
Azubis und ArbeiterInnen, die sich solidarisch mit der Bewegung zeigen.

Gewerkschaften zum Kampf treiben!

Die Gewerkschaftsführungen möchten diesen Kurs
offensichtlich nicht zuspitzen. Dazu muss der Druck erhöht werden. Die
SchülerInnen sollten sich dazu vor allem mit klassenkämpferischen KollegInnen
verbinden. Dabei können wir daran anknüpfen, dass sich die
Dienstleistungsgewerkschaft ver.di beispielsweise mit FFF und dem 20.9.
solidarisiert. Ihr Bundesvorstand ruft jedoch gleichzeitig dazu auf, „sich am
20. September – außerhalb (!) der Arbeitszeit – an den Aktionen der Fridays for
Future zu beteiligen“ (ver.di-Bundesvorstand vom 26. August).

Der Beschluss von weiten Teilen von FFF, die Bezeichnung
Generalstreik durch Klimastreik zu ersetzen, deckt diese Politik
stillschweigend.

Für uns zeigt dies zweierlei auf. Zum einen ist die
Notwendigkeit, aber auch das Potential, die Kämpfe gegen die Umstrukturierung
des deutschen Kapitals (Stichwort E-Mobilität) mit jenen für das Klima zu
verbinden, größer geworden. Das erkennen auch die Führungen der Bewegungen und
die kämpfenden Teile ihrer Basis. Jedoch zeigt es andererseits auf, dass wir
hier kein blindes Vertrauen in die Politik ebenjener Führung hegen dürfen,
sondern wir uns an der Basis organisieren, Aktionsprogramme diskutieren, zu
Versammlungen in den Betrieben und in den Schulen mobilisieren und letztendlich
um die Führung des Widerstands kämpfen müssen. Dafür treten wir in Changes for
Future ein, aber auch in der Gewerkschaftslinken wie bei der
„Strategiekonferenz 2020“.

  • Organisiert Streikversammlungen in der „Week 4 Climate“ an Schule, Uni und Betrieb!

  • Lasst uns gemeinsam am 20. September streiken! Keine faulen Kompromisse – ob in der Gewerkschaftsführung oder in FFF! Baut eine klassenkämpferische, antibürokratische Basisopposition auf!

  • Uns helfen keine „Klimanotstände“! Für ein Sofortprogramm zur Umstellung von Produktion und Verkehrssystem gemäß den Bedürfnissen der Arbeitenden und ökologischer Nachhaltigkeit!

  • Für die Enteignung der Produktion aller klimaschädlichen Konzerne unter ArbeiterInnenkontrolle! Gegen die Umweltkatastrophe hilft nur die globale Planwirtschaft!

  • Für einen globalen Plan zur Bewältigung der Klimakrise, erstellt durch die Organisationen und Parteien der ArbeiterInnenbewegung, der armen Bauern/Bäuerinnen und wissenschaftlichen ExpertInnen, die das Vertrauen der Bewegungen genießen!



Verkehrswende und Umweltbewegung – Proteste gegen Internationale Automobilausstellung

Leo Drais, Neue Internationale 240, September 2019

Verschiedene Parteien und Organisationen haben dazu
aufgerufen, am 13.–15. September 2019 gegen die Internationale Automobilausstellung
(IAA) in Frankfurt am Main auf die Straße zu gehen. Geplant sind eine Großdemo
mit Sternfahrt sowie Blockaden rund um das Messegelände.

Aufrufe zum Protest kommen von Greenpeace, BUND, attac, von
den Grünen und ihrer Parteijugend sowie aus dem linken (DIE LINKE, DiEM 25, Linksjugend
[’solid]) bis linksradikalen
Spektrum (Ende Gelände, ISO). Nicht auf der UnterstützerInnenliste – weder der
Demo noch der Blockaden – stehen die Gewerkschaften, SPD und auch Fridays for Future.
Demgegenüber rufen Change for Future und Extinction Rebellion zur Blockade auf.

Die Proteste gegen die IAA zeugen von einem erhöhten
Aktivismus und einer Verbreiterung der Umweltbewegung. Sie deuten an, dass die
Lösung der Umweltkrise alle Lebensbereiche, auch die Mobilität, umfassen muss.
Die Kritik am Automobil beschränkt sich nicht bloß auf die Luftverpestung und
den Anteil des motorisierten Individualverkehrs an der menschengemachten Erderwärmung,
sondern richtet sich auch gegen das Verstopfen der Städte mit Blech auf Rädern
und die Ineffizienz des aktuellen Verkehrskonzeptes.

Autoindustrie in der Krise

Auf der anderen Seite der Barrikade steht im Falle der IAA
vor allem die deutsche Autoindustrie. Sie ist die Veranstalterin der Messe. Die
Branche selbst steckt in der Krise: Abgasskandal, Handelskrieg und eine
drohende Rezession, die die ohnehin schon zugespitzte internationale Konkurrenz
noch weiter treiben wird, sind die Herausforderungen, denen sich das
Autokapital gegenübersieht.

VW, BMW und Daimler konzentrieren sich zunehmend auf
einkommensstärkere Schichten – ArbeiterInnenaristokratie, Mittelschichten,
Mittelstand und BürgerInnentum. Vor allem der schwere, Sprit fressende SUV
boomt: Er verzeichnet 30 % der Neuzulassungen 2019, vor zwei Jahren war es
noch die Hälfte. Die Konzentration auf die Produktion immer fetterer Karren hat
ihren Ursprung in dem Zwang, die Profitrate zu steigern. Die Autoindustrie ist
geprägt davon, eine immer höhere Produktivität (Automatisierung,
Produktionsgeschwindigkeit) für immer schwerere Wagen zu erzielen.

Das Problem dabei ist, dass dadurch langfristig immer
weniger menschliche Arbeitszeit in den einzelnen Autos steckt. Die menschliche
Arbeitskraft ist aber die Quelle des Mehrwerts und damit des Profits. Auf den
Massenmärkten ist die Konkurrenz erdrückend, während die Einkommen der
möglichen KäuferInnen wenig wachsen oder gar stagnieren. Entgegengewirkt wird
deshalb mit der Produktion von Autos, die auf zahlungsfähigere Schichten und
damit auch (noch) expandierende Märkte zugeschnitten sind.

Gerade weil in Deutschland und anderen Ländern die
Neuzulassungszahlen tendenziell rückläufig sind, ist die Autoindustrie
versucht, aus den einzelnen abgesetzten Autos mehr Profit zu generieren. So
erklärt sich auch der Fokus auf das Elektroauto – selbst ein Beschleuniger der
Emissionen der Autoindustrie – als angepriesene „Lösung“ der Umweltproblematik.
Da die zulässigen Emissionen der Hersteller über den Flottenverbrauch geregelt
sind, begünstigt das E-Auto derzeit die dicken Verbrenner.

Aufgrund der Struktur des Kapitalismus kann die
Autoindustrie nicht anders handeln, als die Welt weiter mit Autos zu bewerfen,
wenn sie international in der Konkurrenz bestehen will. Diese findet ihren
politischen Ausdruck in der Politik der deutschen Regierungen. Sie sind durch
die Kapitalmacht die willigen Dienerinnen der deutschen Autolobby.

Perspektive

Das Bündnis „Sand im Getriebe“ schreibt im Aufruf: „Alle haben erkannt, dass die drohende Klimakatastrophe nur noch durch sofortige, radikale Maßnahmen abgewendet werden kann. Doch für die Autoindustrie? Gilt weiterhin rücksichtsloser Profit als Maxime. Längst ist sie damit zu einem der gefährlichsten Geisterfahrer auf dem Weg in die klimagerechte Zukunft geworden.

Es entsteht hier der Anschein, als müsse die Autoindustrie
einfach mal die Richtung ändern. Natürlich ist rücksichtsloser Profit die
Maxime der Autoindustrie – weil die Konkurrenz sie dazu zwingt. Auch stellt
sich die Frage, was genau radikale Maßnahmen sind. Die Blockade der IAA ist
sicher eine kämpferische Aktion, die als Symbol dienen kann. Die Macht der
Autoindustrie ist damit aber nicht infrage gestellt.

Weiter heißt es: Unser
Ziel sind autofreie Städte, mehr Platz für Fuß- und Radverkehr sowie ein massiv
ausgebauter und kostenloser Nahverkehr.
Der politische
Stillstand zwingt uns, die Verkehrswende selbst in die Hand zu nehmen.

Ersatz des privaten PKW-Verkehrs durch kostenlosen ÖPNV –
dieses Ziel teilen wir. Die Verkehrswende selbst in die Hand zu nehmen,
bedeutet aber, nicht bloß hier und da einen Fahrradvolksentscheid durchzuführen
oder Kreuzungen zu blockieren. Es bedeutet vielmehr, die direkte Kontrolle über
die Produktion des Verkehrs zu gewinnen – und  hier kommen wir zur Eigentumsfrage.

Entmachten? Enteignen!

Viele der radikalen Gruppierungen in der Umweltbewegung
treten durchaus für eine Enteignung der Automobilindustrie ein. Trotzdem
spricht „Sand im Getriebe“ eher diffus von „entmachten“. Das wirft natürlich
die Frage auf: Worauf gründet sich die Macht von VW, Daimler und BMW? Wenn jetzt
die Autolobby die Macht hat, wer übernimmt sie dann bei ihrer Entmachtung?

Die Konzerne haben eine enorme gesellschaftliche Macht, weil
sie die Produktion kontrollieren können. Das wiederum gründet sich auf ihr
Eigentum an den Produktionsmitteln. Die Entmachtung der Autoindustrie heißt
also, selbige zu enteignen.

Viele im linken Spektrum teilen dies, manche tragen es auch
in die Öffentlichkeit. Doch wie soll die Enteignung aussehen? Wenn der Staat
BMW enteignet, kann er sich als Besitzer genauso kapitalistisch verhalten (VW
bspw. befindet sich zu guten Teilen in der Hand von Niedersachsen). Es braucht
also die Kontrolle über die Produktion. Die aber können nur die ausüben, die
produzieren – also die ArbeiterInnen. Sie können sie demokratisch planen und über
die Umsetzung der Verkehrswende zusammen mit PendlerInnen, Stadtteilinitiativen
usw. entscheiden und Gleisanlagen, Radwege bauen und das überhaupt erst gegen
den (bürgerlichen) Staat und die Konzerne durchsetzen.

Wir sind sicher weit davon entfernt, eine breite Masse
gerade der Arbeitenden für die Perspektive der Enteignung zu mobilisieren.
Teile der Linken in der Umweltbewegung stellen daher die Forderung der
Enteignung zurück, auch um es sich nicht mit dem bürgerlichen Teil (NGOs,
Grünen) zu verscherzen. So verbleibt aber die Umweltbewegung unterm Strich auch
im bürgerlichen Rahmen. Die Forderung der Enteignung und der
ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion wird aber niemals einer breiteren
Masse zugänglich werden, wenn die, die sich heute über deren Notwendigkeit klar
sind, das in der Umweltbewegung verschweigen.

So besteht dann auch unsere Perspektive darin, die Forderung
nach Enteignung und ArbeiterInnenkontrolle über Autoindustrie und den gesamten
Verkehrssektor in die Bewegung zu tragen und zu diskutieren. Vor allem Kräfte
wie Fridays for Future, insbesondere Change for Future sowie linke
GewerkschafterInnen laden wir dazu ein!




Macht Schluss mit Boris Johnson – durch Klassenkampf!

Red Flag, Neue Internationale 240, September 2019

Mit der Abstimmung am 4. September und der Verabschiedung eines Gesetzes zur Verhinderung eines Brexits ohne Abkommen mit der EU hat das britische Parlament (vorerst) den Verfassungscoup von Boris Johnson und seiner BeraterInnen durchkreuzt. Wenn der Gesetzentwurf zu einem Parlamentsakt und der Antrag auf weitere Verhandlungen mit der EU bis Januar übermittelt werden, sind Neuwahlen zum britischen  Parlament nahezu sicher.

Versuchter Putsch

Der versuchte Putsch war der Grund, warum sich
Hunderttausende der Welle von Protesten und direkten Aktionen im ganzen Land
anschlossen, um Johnsons anti-demokratische Manöver zu stoppen und die
Aussetzung des Parlaments zu stoppen. Es war ein bonapartistischer Putsch,
d. h. einer, bei dem sich die Exekutive über das demokratisch gewählte
(und angeblich souveräne) Parlament erhebt und dessen Funktionsfähigkeit
vereitelt. Es enthüllte einige grundlegende Fakten über die ungeschriebene
britische Verfassung – ihr mächtiges undemokratisches Element –, das gegen eine
von Corbyn geführte Labour-Regierung verwendet werden könnte.

Johnsons Staatsstreich wurde mit den nicht gewählten Teilen
des britischen Staates durchgeführt: das königliche Vorrecht, das von einem Premierminister
ausgeübt wurde, der nicht vom Volk, sondern von 90.000 Mitgliedern der
Tory-Partei gewählt wurde. MarxistInnen warnen seit langem davor, dass in jeder
tiefen nationalen Krise die „malerische Pracht“ der britischen Monarchie
plötzlich zum Leben erwachen und die demokratischen Elemente der Verfassung
außer Kraft setzen kann.

Johnson drohte sogar damit, eine Abstimmung des
Abgeordnetenhauses zu ignorieren, die EU um eine Verschiebung zu bitten, oder
ein Misstrauensvotum zu arrangieren, das es ihm ermöglichen würde, die Königin
aufzufordern, das Unterhaus aufzulösen und am 14. Oktober Parlamentswahlen
durchzuführen.

Jeremy Corbyn sagte richtig, dass Labour gegen die Auflösung
stimmen wird, solange der 31. Oktober wie ein Damoklesschwert über jedem Wahlkampf
hängt. Es war klar, dass dies einen Vorwand darstellte, um ein
bonapartistisches Plebiszit – „das Volk gegen das Unterhaus“ – durchzuführen.
Aber sobald dies erreicht ist, ist die Zeit reif für ein Misstrauensvotum, das
Johnsons Regime beendet und eine Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn
installiert. Eine solche Übergangsregierung sollte dann von der EU eine
Verlängerung beantragen, um eine Parlamentswahl durchzuführen, gefolgt von
einem Referendum über das aktuelle Abkommen.

Corbyn in Nummer zehn

Labour sollte jeden Vorschlag für eine Übergangsregierung
unter einer vermeintlich neutralen Figur wie dem Tory Ken Clarke ablehnen. Ein
solcher Kompromiss würde den Weg zu prinzipienlosen Allianzen bei den
nachfolgenden Parlamentswahlen und sogar zur Labour-Beteiligung an einer
Koalitionsregierung mit Liberal-DemokratInnen oder sogar den Anti-Brexit-Tories
ebnen.

Wir müssen den Druck auf die Abgeordneten erhöhen, um ein
solches Szenario zu verhindern. Unnachgiebigkeit bezüglich Prinzipien ist in
dieser Situation die einzige realistische Politik.

In der Zwischenzeit müssen die Labour-Partei und der
Gewerkschaftsdachverband TUC ihr volles Gewicht hinter Massenproteste stellen,
bis Johnson gestürzt ist. Das bedeutet Besetzungen, Blockaden und Arbeitsniederlegungen.
Wenn es sich als unmöglich erweist, Johnson mit parlamentarischen oder
wahltaktischen Mitteln zu entfernen, muss der TUC bereit sein, einen
Generalstreik dazu auszurufen.

Die Bewegung auf der Straße muss sich auf diesen möglichen
nächsten Schritt vorbereiten, indem sie Ausschüsse aus Delegierten von
Gewerkschaften, der Labour Party und der breiteren Bewegung zur Koordinierung
des Widerstandes einsetzt.

Labours Programm

Wenn in den nächsten Wochen keine Parlamentswahlen
stattfinden, müssen wir die Zeit nutzen, nicht nur, um uns darauf
vorzubereiten, sondern auch, um den größtmöglichen Druck von Mitgliedern
Labours und der Gewerkschaften für ein wirklich radikales Manifest auszuüben,
das wirklich für viele, nicht für wenige etwas bringt. Die Labour Party muss
alle Unklarheiten über den Brexit aufgeben und erklären, dass sie gegen diesen
ist. Sie muss deutlich machen, dass sie für die Freizügigkeit, für die
Verteidigung des Rechts aller Lohnabhängigen und Studierenden auf Arbeit und
Studium in Großbritannien eintritt. Sie muss sich verpflichten, die
Abschiebungen zu beenden und die abscheulichen Haftanstalten zu schließen und
all diese Maßnahmen in ihr Manifest aufzunehmen.

Das bedeutet, aus einer Position der Stärke heraus eine
Offensive gegen die Institutionen des internationalen Kapitalismus einzuleiten,
einschließlich eines europaweiten Kampfes gegen Kürzungsprogramme und die
neoliberalen Verträge der EU sowie gegen die aufkommende rassistische Rechte.
Eine solche Offensive sollte auf einer europaweiten Koordination des
Widerstandes, auf demokratischen internationalen Sozialforen basieren. Das
Motto der Solidarität mit den ArbeiterInnenbewegung des Kontinents sollte
lauten: „Gegen das Europa des Kapitals! Für die Vereinigten Sozialistischen
Staaten von Europa!“

Die Labour-Partei sollte die leeren Versprechen der Tories
von Milliarden für Bildung und das Gesundheitssystem NHS als zynisches
Bestechungsgeld anprangern, nur um Unterstützung für No Deal zu erkaufen.
Labour sollte seine eigenen schüchternen Ausgabengrenzen aufgeben und eine
große Investition in Wohnen, öffentliche Dienstleistungen und Umwelt mittels
eines demokratischen, von den Lohnabhängigen kontrollierten Produktionsplans
zusagen – finanziert nicht durch Kredite auf den Anleihemärkten oder durch
Anwerfen der Notenpresse, sondern durch Besteuerung und Enteignung des
Reichtums von Kapital und Vermögen.

Labour sollte deutlich machen, dass sie ein umfassendes
Programm für Hausbau und zur Umweltsanierung auf den Weg bringen wird, das sich
insbesondere auf Bereiche konzentriert, die seit den Tagen von Thatcher
vernachlässig und heruntergewirtschaftet wurden.

Last, but not least, hat Johnsons Staatsstreich Millionen
von Menschen die undemokratische Realität der britischen Verfassung offenbart.
Eine Labour-Regierung sollte das Gesetz über die befristete Amtszeit des
Parlaments abschaffen und eine verfassunggebende Versammlung einberufen, die in
allgemeiner Wahl von allen über 16 bestimmt wird, um den reaktionären feudalen
Müll der Monarchie, des Kronrats (Privy Council), des nicht gewählten
Oberhauses zu beseitigen, und das Recht des schottischen Parlaments
verteidigen, ein Referendum über die eigene Unabhängigkeit durchzuführen.

Der Wahlkampf

Die Kampagne, mit der Labour, Momentum und die Gewerkschaften
zum allgemeinen Wahlkampf mobilisieren, muss sich grundlegend von den üblichen,
ritualisierten Veranstaltungen unterscheiden. Wir brauchen Aktionen in den
Innenstädten, Demonstrationen und massenhafte politische Mobilisierungen, die
die Jugend und die ArbeiterInnenklasse sowie rassistisch unterdrückte
Minderheiten sowie die ArbeiterInnen aus der EU mobilisieren. Wir müssen
zeigen, dass die Menschen, die wirklichen arbeitenden Menschen, überwältigend
auf der Seite der Labour Party stehen, und wir müssen eine Regierung fordern,
deren antikapitalistische Maßnahmen den Weg zu einer sozialen Revolution ebnen
und zu einer sozialistischen Republik Großbritannien innerhalb Vereinigter
Sozialistischer Staaten Europas.




Saudi-Arabien und Iran – Konterrevolutionäre Rivalen

Robert Teller, Neue Internationale 240, September 2019

Beide Staaten
stehen seit 1979 in offener Feindschaft zueinander. Saudi-Arabien ist enger
Verbündeter der USA, das iranische Regime entstand aus einer Revolution gegen
eine pro-amerikanische Diktatur und legitimiert sich seit jeher über seinen
vorgeblichen Anti-Imperialismus.

Beide
beanspruchen eine Führungsrolle innerhalb der islamischen Welt. Dass sich das
saudische Königshaus und das iranische Regime dabei auf einander
entgegengesetzte islamische Interpretationen berufen, taugt nicht als Erklärung
für ihre Feindschaft. Der Konflikt ist vielmehr eine Folge von geopolitischen
Allianzen und ihres politischen Charakters.

Für die aktuelle
Konfliktsituation sind mehrere Aspekte von Bedeutung: Die Rivalität
imperialistischer Mächte, die im Nahen und Mittleren Osten ausgetragen wird,
und die Rolle Saudi-Arabiens und Irans als „Energie-Supermächte“ und
Konkurrenten am Weltmarkt. Besondere Bedeutung für den Konflikt haben der
US-Einmarsch im Irak und die Auswirkungen der Arabischen Revolutionen 2011.

Geschichte
Saudi-Arabiens

Der heutige
saudische Staat entstand 1932 in Folge etwa zweihundert Jahre andauernder
Versuche der Saud-Dynastie, die Arabische Halbinsel zu unterwerfen. Zur Zeit
des Osmanischen Reiches waren diese Versuche alle zum Scheitern verurteilt.
1945 vereinbarten Präsident Roosevelt und König Abd al-Aziz Ibn Saud eine
Partnerschaft, die im Grunde bis heute Bestand hat. Saudi-Arabien sollte zum
verlässlichen Partner, Energielieferanten und politischen Gegengewicht zum
sowjetischen Einfluss im arabischen Raum werden. Das saudische Königshaus
erkaufte sich mit dem Ölexport in die USA die Garantie, jederzeit militärischen
Schutz zu erhalten. Saudi-Arabien hat die größten nachgewiesenen Ölressourcen
weltweit, ist weltgrößter Ölexporteur und unter den ÖlproduzentInnen das
Schwergewicht mit dem größten Einfluss auf die Ölpreise. Während die USA
Saudi-Arabien als größter Ölproduzent überholt haben, hat aufgrund der
geologischen Verhältnisse die saudische Förderung nach wie vor die geringsten
Produktionskosten. Das saudische Königshaus verfügt über die Macht, durch
Steigerung der Fördermenge den Ölpreis unter den Betrag zu drücken, der für
schwieriger zu erschließende Lagerstätten noch profitabel ist.

Das saudische
Königshaus kann im arabischen Raum auf die längste Kontinuität politischer
Herrschaft zurückblicken. Hätte es auf der arabischen Halbinsel kein Erdöl
gegeben, so wäre dem saudischen Staat wohl das gleiche Schicksal beschieden
gewesen wie zahllosen anderen arabischen Staaten, deren schwache Bourgeoisien
bis heute unfähig sind, ihr Land zu einen und zu regieren, und daher lange Zeit
zwischen Staatsstreichen und imperialistischen Interventionen nicht zur Ruhe
kamen. Doch die besonderen Bedingungen einer Rentenökonomie ermöglichten es dem
saudischen Herrscherhaus, sich einen Staat nach seinem Bilde zu schaffen: eine
korrupte Despotie, deren primärer Zweck darin besteht, Petrodollars in die
Taschen einiger hundert Prinzen zu schaufeln.

Die scheinbar
nie versiegende Geldquelle des Ölexports erlaubte es dem Königshaus auch, seine
Herrschaft in einer von atypischen Klassenverhältnissen geprägten Gesellschaft
zu festigen. Der Staat stützt sich auf eine privilegierte Schicht saudischer
ArbeiterInnen und Verwaltungsangestellten. Die ArbeiterInnenklasse in
Saudi-Arabien besteht zum größten Teil aus MigrantInnen, die für begrenzte Zeit
und in ihrer Mehrheit in vollkommener Rechtlosigkeit im privaten Sektor
überausgebeutet werden.

Dennoch steht
Saudi-Arabien vor einer Reihe grundsätzlicher Probleme. Das ist zum einen die
im Verhältnis zum Reichtum des Herrscherhauses wirtschaftliche Rückständigkeit.
Weder hat sich eine vom Königshaus unterscheidbare nationale Bourgeoisie
herausgebildet noch eine indigene ArbeiterInnenklasse. Das Land ist stark vom
Import von Waren und Arbeitskraft abhängig.

Zum anderen
kostet der staatliche Sektor mit seinem hohen Lohnniveau viel Geld. Die
vergangenen Jahre waren aufgrund des hohen Staatsdefizits bereits von sozialen
Einschnitten und vom Schrumpfen der privilegierten, aristokratischen Schicht
gekennzeichnet, auf die sich der saudische Staat stützt. Es sollte auch nicht
vergessen werden, dass trotz weitreichender staatlicher Wohlfahrtsprogramme der
Anteil der saudischen StaatsbürgerInnen, die in Armut leben, bei etwa 20 %
liegt.

Und drittens ist
der saudische Staat hochgradig abhängig von der politischen Partnerschaft mit
westlichen Regierungen. Diese Partnerschaft hat auch für diese einen
politischen Preis: den Vorwurf der Unterstützung des mörderischen Kriegs im
Jemen und der Rückendeckung für die extrem repressive Politik des Königshauses.

Geschichte Irans

Das iranische
Mullah-Regime geht zurück auf die Iranische Revolution im Jahr 1979, die den
heutigen Nahen und Mittleren Osten maßgeblich geformt hat. Der Sturz des
Schah-Regimes war der Sieg einer gewaltigen Streikbewegung. Sie beendete die
Ära unmittelbarer Kontrolle durch die USA und die ehemalige Besatzungsmacht
Großbritannien. Doch die Früchte der Revolution gingen aufgrund des Fehlens
einer revolutionären Führung und der Volksfrontpolitik der Tudeh-Partei an die
Bewegung des erzreaktionären Ajatollah Chomeini verloren. Ein anderer Teil der
iranischen Linken wandte sich dem Guerillakampf zu, anstatt den massenhaften
Kampf der ArbeiterInnen anzuführen. Manifest wurde die drohende Niederlage der
Iranischen Revolution mit dem von den USA unterstützten irakischen Angriff
1980. Es folgte 1982 die Zerschlagung der gesamten politischen Opposition durch
das Mullah-Regime.

Dieses setzte
seither auf eine pan-islamische Politik, um seinen Einfluss im arabischen Raum
auszubauen. Dabei ist nicht nur der Aufstieg der Hisbollah im Libanon zu
nennen. Das iranische Regime hegte auch lange Zeit gute Beziehungen zur
sunnitischen Muslimbruderschaft in Ägypten.

Iran und der
US-Einmarsch 2003 im Irak

Die US-Invasion
im Irak 2003 führte zwar innerhalb kurzer Zeit zum Zusammenbruch des
Saddam-Regimes, doch schaffte es das US-Militär nicht, das entstandene
Machtvakuum zu füllen.

Die Invasion,
die die direkte Kontrolle der USA über den Irak herstellen sollte, führte
stattdessen zur Verankerung schiitischer, dem iranischen Regime ergebener
Kräfte. Im Angesicht des Erstarkens sunnitisch-fundamentalistischer Kräfte –
mit Unterstützung ehemaliger BaathistInnen – in der Erhebung gegen die
US-Besatzung sah sich das US-Militär auf einmal Seite an Seite mit den vom Iran
unterstützten Milizen, die das Ziel der US-Invasion, ein stabiles
pro-westliches Regime zu etablieren, hätten durchkreuzen können.

Im Kriegstrommeln
der US-Rechten gegen den Iran zeigt sich auch heute ein tiefer Widerspruch
innerhalb des US-Imperialismus: Trump möchte das Militär aus Syrien und
Afghanistan zurückziehen, ohne aber dem Iran das Feld zu überlassen. Eine
US-Invasion im Iran würde sehr wahrscheinlich den ganzen Nahen und Mittleren
Osten ins Chaos stürzen. Daher gibt es auch innerhalb der US-Rechten Stimmen,
die einen Krieg ablehnen, gerade weil der Iran als Ordnungsmacht nicht zu
ersetzen ist. Hier liegt auch der Interessenskonflikt mit Israel und
Saudi-Arabien, die Irans Regionalmachtambitionen nicht anerkennen.

Saudi-Arabien,
Iran und die Arabische Revolution

Die relative
politische Stabilität des saudischen Regimes bedeutete in den Jahren ab 2011,
dass das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land der arabischen Welt ein
Hort der dortigen Konterrevolution wurde. Dass aber auch Saudi-Arabien vor
einer revolutionären Erhebung nicht immun sein würde, zeigte die Erhebung in
Bahrain, die im März 2011 durch eine saudische Militärintervention
niedergeschlagen wurde, um ein Übergreifen zu verhindern.

Die Arabischen
Revolutionen trafen nicht zufällig vor allem die schwächeren Regime
unvorbereitet. In Ägypten, dem Land mit der größten ArbeiterInnenklasse im
arabischen Raum, konnte Sisis Putschregime 2013 nur durch die Ermutigung und
Unterstützung des saudischen Königshauses den endgültigen Sieg über die
Revolution erringen, den in dessen Folge drohenden Staatsbankrott abwenden und
den Militärstaat wieder aufrichten. In Syrien war das saudische Regime einer
der Hauptsponsoren der mächtigen islamistischen Rebellenkoalitionen Dschaisch
al-Islam (Armee des Islams) und Ahrar al-Scham (Islamische Bewegung der freien
Männer der Levante) und trägt maßgebliche Verantwortung für die Niederlage der
revolutionären Erhebung von 2011. Das saudische Königshaus konnte als Rückgrat
der arabischen Konterrevolution seinen Einfluss in der Region ausbauen. Das
kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies mit gewaltigen Kosten erkauft
wurde. Der Krieg im Jemen, unter dem Vorwand begonnen, iranischen Einfluss zu
bekämpfen, ist für Saudi-Arabien militärisch gescheitert und hat wohl bislang
weit über 100 Mrd. US-Dollar gekostet.

Das iranische
Regime hat sich seinerseits 2011 von Beginn an darauf festgelegt, das Assad-Regime
zu verteidigen – unter anderem, weil es die syrische Revolution als Fortsetzung
der Massenproteste im Iran 2009/2010 sah. Die Unterstützung mit Waffen,
Technologie, militärischen BeraterInnen und Finanzhilfen hat das syrische
Regime vor dem Sturz gerettet. Seit etwa 2013 ist iranisches Militär in Syrien
im Einsatz. Zur gleichen Zeit baute das iranische Regime eine Art
„Fremdenlegion“ in Syrien auf, deren Mitgliederzahl die der ausländischen
sunnitischen DschihadistInnen deutlich übersteigen dürfte. Die Entscheidung der
US-Regierung von 2015, auf die kurdischen YPG-Kräfte zu setzen, ist auch der
Lektion des Irak-Kriegs geschuldet, d. h. der Versuch, ein Gegengewicht zum
iranischen Einfluss zu schaffen.

Letztendlich hat
also das Scheitern der Arabischen Revolutionen auch dem iranischen Regime
geholfen, seinen Einfluss in der Region auszuweiten. Sinnbildhaft für die
Hoffnungslosigkeit der US-Interventionspolitik ist wohl der Einmarsch von
Daesch (Islamischer Staat; IS) im Nordirak im Juni 2014, dem zunächst weder die
irakische Zentralregierung noch die kurdische Autonomieregierung etwas
entgegenzusetzen vermochten. Schnell wurde unter US-Führung eine Militärallianz
zusammengezimmert, die das Schlimmste abwenden sollte. Das Rückgrat der
Bodentruppen waren abermals schiitisch-fundamentalistische Kräfte.

Im Iran wie auch
in Saudi-Arabien herrscht nicht Gottes Wille, sondern das Kapital. Die globale
Krisensituation macht Massenerhebungen nicht nur möglich, sondern sehr
wahrscheinlich, wie die Proteste der vergangenen Jahre im Iran gezeigt haben.
Nicht erst die massive Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage aufgrund der neuen
US-Sanktionen hat zu einer Welle von Streiks geführt, die sich meist gegen die
Entwertung der Löhne durch die auf 50 % gestiegene Inflation richten. Die
Repression des Regimes hat nur dazu beigetragen, den Streiks eine zusätzliche
politische Komponente zu geben, wie etwa Streiks in Solidarität mit den
ArbeiterInnen der Zuckerfabrik Haft Tappeh Ende 2018 gezeigt haben. Die
iranische ArbeiterInnenklasse kämpft, und in dieser Situation ist es notwendig,
eine neue revolutionäre Organisation aufzubauen, die die Lehren des Scheiterns
der Iranischen Revolution zieht und ein Programm für den Sturz des Regimes
durch die ArbeiterInnenklasse entwickelt.




Mahle-Konzern: Gegen alle Entlassungen und Schließungen!

Karl Kloß, Neue Internationale 240, September 2019

Nachdem die Geschäftsführung des MAHLE-Konzerns im Mai
diesen Jahres ein Sparprogramm aufgesetzt hatte, wurden im weiteren Verlauf bis
Ende Juli die Schließungen der Standorte in Telford (Großbritannien) und
Öhringen (Deutschland) angekündigt.

Angriff mit Ansage

Dass weitere Standorte ebenfalls geschlossen werden sollen,
ist sehr wahrscheinlich. Darauf lässt bereits das Vorgehen der Geschäftsführung
in der Vergangenheit schließen. So wurden vor drei Jahren, kurz nachdem die
aktuelle Standort- und Beschäftigungssicherung abgeschlossen wurde, insgesamt
sechs Werke innerhalb weniger Wochen aus dem Konzern ausgegliedert und
anschließend verkauft. Und auch die immer wieder von Seiten der Geschäftsführung
ins Spiel gebrachte „Transformation“ wird dazu beitragen. Dabei geht es darum,
dass im Zuge der Umstellung der Produktionsprozesse auf E-Mobilität einerseits
und Digitalisierung andererseits mehrere tausend Arbeitsplätze in absehbarer
Zeit überflüssig werden. Denn die meisten der Produktionswerke in Deutschland
sind bei MAHLE, ähnlich wie auch bei anderen ZulieferInnen und auch
AutoherstellerInnen, größtenteils auf den Verbrennungsmotor ausgelegt. Da hilft
auch die „duale Strategie“ nicht viel, bei der auf beide Antriebskonzepte
gesetzt wird. Denn die Konkurrenz hat das Gleiche vor. Somit entscheidet sich
am Ende dieser Kampf dadurch, wer „effizienter“ und „kostenoptimierter“
produzieren lässt. Letzteres bedeutet, dass die Kapitalseite dort fertigen lässt,
wo sie höhere Profite aufgrund der besseren Ausbeutungsbedingungen erzielen
kann. Dass dies aufgrund des im europäischen Vergleich hohen Lohnniveaus nicht
in Deutschland sein wird, ist die logische Schlussfolgerung dessen.

Reaktion der IG Metall auf den Angriff

Nachdem der Angriff auf die Belegschaft verkündet wurde, kam
erst mal von Betriebsratsseite kein Widerstand, sondern nur Protest, dass sie
vorher nicht informiert worden wäre. Es gab keine Anstalten, überhaupt
irgendwelche Aktionen zu organisieren, um der Geschäftsführung zu
verdeutlichen, dass sie mit ihren Plänen nicht durchkommen darf. Das wäre in
diesem Moment die einzig richtige Antwort gewesen.

Das Stillhalten ging selbst der lokalen IG Metallspitze und
dem Bezirksleiter Zitzelsberger zu weit. Aber erst als die Geschäftsführung
ankündigte, Öhringen zu schließen, konnte er die Betriebsräte zu Aktionen
motivieren.

Darauf folgten mit Unterstützung der IG Metall dann im Juli
zwei Aktionstage, an denen sich insgesamt knapp 3.000 Beschäftigte aus ganz
Deutschland beteiligten.

Bei einer der Kundgebungen Ende Juli sagte Zitzelsberger
dann: „Die Anzeichen häufen sich, dass etliche Unternehmen den Wandel der
Zukunft mit Konzepten von gestern gestalten wollen. Dabei nutzen sie teils auch
das allgemeine Umfeld der Transformation aus, um strukturelle Probleme zu
lösen. Davor können wir nur warnen: Wer ganze Standorte kaputtspart und
Investitions- und Weiterbildungsbudgets zusammenstreicht, wird die Zukunft
nicht bewältigen können.“

Hier wird ziemlich deutlich, worum es auch der IG Metall –
wie den Betriebsräten – in Wahrheit nur geht: „mitzureden“ und
„mitzugestalten“. Die Belegschaften werden nur deshalb gegen Werksschließungen
und Verlagerungen mobilisiert, um die KapitalistInnen wieder an den Verhandlungstisch
zu bringen. Denen wird signalisiert, dass ihre Profitziele okay sind, aber die
Zukunft „fair“ gestaltet werden muss. Für die Belegschaften heißt das: Die IG
Metall will den geplanten Stellenabbau so „sozial“ wie möglich mitgestalten.
Dies wird auch am folgenden Zitat deutlich:

„Veränderung wird es immer geben und wir sind auch bereit,
diese Veränderungen mitzugehen. Aber dazu braucht es kluge Prozesse und
Weitsicht statt Streichkonzerte.“

Angst vor Kontrollverlust

Die Klassenzusammenarbeit ist den reformistischen
BürokratInnen in Fleisch und Blut übergegangen. Sie ignorieren, dass dieses
System weder Krisen vermeiden noch umwelt- oder menschengerecht „transformiert“
werden kann. Sie können sich keine Alternative vorstellen und wollen es auch
nicht, solange ihre Posten gesichert sind.

Die Kehrseite dieser Klassenzusammenarbeit – ihr Beitrag –
ist es, die Kontrolle über die Klasse zu bewahren. Die IG Metall-StrategInnen
sind immer darum bemüht, das Heft der Auseinandersetzungen mit der Kapitalseite
in der Hand zu behalten. Dabei ist es egal, ob es sich um einen
„Umstrukturierungsprozess“ im Sinne von Entlassungen, Schließungen usw. oder um
Streiks handelt.

So nahm der erste Bevollmächtigte der IG
Metall-Geschäftsstelle Schwäbisch Hall bei der gleichen Kundgebung Bezug auf
Flugblätter, welche in Öhringen verteilt worden waren. Anlässlich der dortigen
Werksschließung hatten diese aufgefordert, jede Verlagerung von Maschinen,
Anlagen und den Abtransport von Produkten zu verhindern und keine VertreterInnen
der Geschäftsleitung in das Werk zu lassen. Jetzt meinte der IG
Metall-Vertreter in etwa, man solle auf so was nicht hören, da die
VerfasserInnen der Belegschaft sowieso nicht helfen könnten.

Leider sagte er nicht, wie denn das Aktionsprogramm der IG
Metall für Öhringen aussieht, wie auch Zitzelsberger den tausenden
DemonstrantInnen nicht sagte, wie der Kampf  denn weiter geht.

Uns liegt das besagte Flugblatt vor und wir unterstützen die
Initiative der MitarbeiterInnen, die sich solidarisch mit den von Werksschließung
betroffenen KollegInnen sowohl in Öhringen wie auch in Telford zeigen. Ja, die
Belegschaften müssen die Kontrolle den BürokratInnen entreißen und selbst
entscheiden, wie gekämpft wird. Das heißt nicht, dass die BetriebsrätInnen und
IG Metall-SekretärInnen aus der Verantwortung gelassen werden dürfen: Sie haben
versprochen, für alle Arbeitsplätze zu kämpfen! Sie sind den Belegschaften
Rechenschaft schuldig, was sie verhandeln.

Bittstellerei

Nun hat der Gesamtbetriebsrat in einem Flugblatt erklärt,
dass das Vorgehen der Geschäftsführung (GF) nicht „fair“ sei. Stattdessen wird
erneut von „Zukunftsprodukten“ schwadroniert und sie dazu aufgefordert, man
möge doch bitte einen „Qualifizierungsfonds“ einrichten, mit dem dann die
MitarbeiterInnen für die Entwicklung und Produktion dieser „Zukunftsprodukte“
qualifiziert werden sollen. Weiter wird in diesem Flugblatt erneut gefordert,
dass die Arbeitsplätze sicher sein müssten, dass das Werk in Öhringen nicht
geschlossen werden dürfe und der Abbau gestoppt werden müsse. Von einem Aufruf
zum Kampf an die Beschäftigten fehlt dabei jede Spur. Stattdessen gibt es nur
Appelle an die GF. Ja sogar die Zusage: „Wir stehen dem Wandel nicht im Wege,
sondern wollen ihn aktiv gestalten.“ Passend dazu wurde auch der Slogan
„FairWandel – FairMAHLE“ von der IG Metall ins Leben gerufen.

Was nach einer sinnvollen Forderung klingt, ist bei näherer
Betrachtung allerdings eine reine Mogelpackung: Die Geschäftsführung wird zwar
„Zukunftsprodukte“ entwickeln und produzieren lassen, dies allerdings nicht in
Deutschland, sondern in den billigeren Werken in (Süd-)Osteuropa (z. B. in
Polen, Ungarn, Rumänien oder Slowenien). Damit werden zwei Ziele verfolgt:
Einerseits will man mit niedrigeren Lohnkosten den eigenen Gewinn steigern (nicht
umsonst gibt es von Seiten der GF nach wie vor das Ziel, den Umsatz auf 25 Mrd.
Euro bis 2030 zu verdoppeln und die Umsatzrendite auf 7,5 % zu steigern),
andererseits soll somit die Belegschaft gespalten und eine internationale
Solidarisierung verhindert werden, indem man sie gegeneinander ausspielt.

Perspektive

Gerade wenn es darum geht, sich europaweit gegen
Werksschließungen zu solidarisieren, bleibt die IG Metall ihre ganzen
Versprechen schuldig. Es ist zwar ein nettes Symbol, wenn eine kleine Delegation
aus einem Produktionswerk in Portugal zu einer Demo nach Deutschland kommt,
damit ist es aber noch längst nicht getan. Warum wurde z. B. niemand der
Betroffenen aus Telford zu der Demo und der Kundgebung am 25.07. angefragt? Und
warum gab es keinerlei Solidaritätsbekundungen von Seiten der RednerInnen mit
den Leuten aus Telford? Diese Fragen müssen sich die Verantwortlichen der IG
Metall gefallen lassen. Ebenso ist ihr anzukreiden, dass sie im Vorfeld dieses
Aktionstages großspurig von einem „europäischen Aktionstag“ getönt hatte, bei
dem „internationale Solidarität“ gezeigt werden sollte. Erst im Nachgang und
äußerst schleppend kam es dann zu einer Berichterstattung über die Aktionen in
anderen Ländern. Erst einen (!) Monat nach dem europäischen Aktionstag wird ein
Flugblatt verteilt, in dem inhaltlich nichts gesagt wird, außer dass es
diesen  gab, und man findet auf der
Rückseite ein paar schöne Fotos von ganzen sechs (!) Standorten bei insgesamt
92 Standorten in Europa. Wo ist der Plan, dass es nächstes Mal alle sind?

Hierbei zeigt sich also einmal mehr die Standortborniertheit
der IG Metall-Oberen: Statt weitergehende Aktionen gemeinsam mit anderen
Gewerkschaften aus anderen Ländern zu planen, zu koordinieren und gemeinsam
durchzuführen, beschränkt man sich lieber darauf, den Angriff der GF in
Deutschland möglichst sozial zu gestalten. Gerade bei einem global agierenden
Konzern wie MAHLE ist es dringend notwendig, dass man sich international
koordiniert und vernetzt um eine Spaltung der Belegschaften anhand nationaler
Grenzen zu vermeiden. Wir rufen daher dazu auf, Aktionskomitees innerhalb der
europäischen Gewerkschaften wie auch innerhalb der IG Metall zu gründen, um
eine bessere internationale Koordination bewerkstelligen zu können. Diese
müssen jederzeit der Basis rechenschaftspflichtig und zudem jederzeit wähl- und
abwählbar sein. Nur so kann volle demokratische ArbeiterInnenkontrolle
gewährleistet werden. Außerdem ist es wichtig, die Verhandlungsteams
demokratisch zu wählen. Diese müssen ebenso wie die Aktionskomitees
rechenschaftspflichtig, stets wähl- und abwählbar sein.

Wir brauchen daher ein Aktionsprogramm für den Widerstand
gegen die Angriffe der Geschäftsführung:

  • Keine Werksschließungen, keine Entlassungen! Rücknahme aller Sparmaßnahmen!
  • Blockade jeder Verhandlungen über Entlassungen und Überstunden – egal aus welchem Standort, ob Produktion oder Konzernzentrale!
  • Keine Vereinbarungen, keine Gespräche der Betriebsräte und der IG Metall über irgendwas! Dies ist das falsche Signal in der jetzigen Situation gegenüber der Belegschaft!
  • Stattdessen Versammlungen jede Woche, auf denen die Betriebsräte berichten, was die GF will und gegenüber der Belegschaft darstellen, wie sie mit Überstunden und anderen Anträgen seitens der GF verfahren!
  • Internationale Solidarität mit allen Werken, die von Schließungen und Entlassungen betroffen sind!
  • Besetzung der Werke, die geschlossen werden sollen!
  • Entschädigungslose Enteignung des Konzerns mit allen Tochtergesellschaften unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle!
  • Offenlegung aller Verträge und Konten, um zu prüfen, wie viel Kapital tatsächlich vorhanden ist!



Metall- und Elektroindustrie – Dulgers Drohung

Frederik Haber, Neue Internationale 240. September 2019

Gesamtmetall hat sich Gedanken gemacht und lange vor der
nächsten Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie Vorschläge zur Reform des
Flächentarifvertrags veröffentlicht. Der Präsident dieses Arbeit„geber“-Verbandes,
Reiner Dulger, hat dazu ein Interview gegeben und Wind ins Sommerloch geblasen
(SZ, 23.7.19).

Angriff

Als Angriff auf die IG Metall wird dies in den Medien und
von politischer Seite angesehen und in der Tat schiebt Dulger der IG Metall den
Schwarzen Peter für alles Mögliche zu: Die Gewerkschaft habe mit dem letzten
Tarifabschluss Arbeitsplätze in Deutschland, mit der Einführung von
Ein-Tages-Streiks die „Arbeitskampfparität“ gefährdet und sei damit schuld
daran, dass jetzt noch mehr Firmen in eine Verbandsmitgliedschaft „Ohne Tarif“
(OT) wechseln würden.

Nach neun Jahren Boom steht die Wirtschaft in Deutschland
vor einer heftigen Rezession und diejenigen, die am fettesten davon
profitierten, jammern schon mal. Das deutsche Export-Kapital, das mit der
Autoindustrie, dem Maschinenbau und der Rüstungsindustrie überwiegend in
Gesamtmetall organisiert ist, hat gemeinsam mit der Chemie-Industrie nicht nur
die globale Konkurrenz in den Boden gestampft, sondern auch weiter höhere
Profite als die meisten Branchen im heimischen Markt eingefahren. Natürlich
waren diese auch erheblich höher als die Lohnerhöhungen der Beschäftigten.
Jetzt vernichten oder verlagern in vielen Konzernen die KapitalistInnen
Arbeitsplätze.

Der Begriff der „Parität“ ist im Zusammenhang mit
Arbeitskampf bereits lächerlich. Die KapitalistInnen lehnen jegliche „Parität“,
also Waffengleichheit, in allen betrieblichen Auseinandersetzungen ab. Weder
einzelne Beschäftigte noch Betriebsräte und Gewerkschaften haben irgendwo einen
Krümel davon.

Die Flucht in den „OT“-Bereich haben die UnternehmerInnen
selbst organisiert. Es war ein wichtiger Teil der Kampagne, die Tarifbindung zu
untergraben. 1996 galt noch für 70 Prozent der Beschäftigten im Westen und 56
Prozent im Osten ein Flächentarifvertrag. 2018 waren es nach Angaben des
Instituts- für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nur noch 49
beziehungsweise 35 Prozent.

Dabei hat es die IG Metall doch nicht an Anpassungsfähigkeit
mangeln lassen und sofort betont ihre Sprecherin: „Von der Tarifautonomie und
den Flächentarifverträgen profitierten Beschäftigte wie Unternehmen
gleichermaßen … Dies einseitig in Frage zu stellen, schadet allen.“
(Handelsblatt, 23.07.2019 ). Die Spitze der Gewerkschaft hält unverrückbar an
der SozialpartnerInnenschaft fest, eine ausführliche Erklärung zu Dulgers
Vorstoß fehlt bisher.

Vermutlich wird sie auf dem Gewerkschaftstag kommen, der am
6. Oktober in Nürnberg beginnt. Vermutlich ist Dulgers Attacke auch auf diesen
gezielt. Eine Steilvorlage für den Vorsitzenden Hofmann, sich nochmals in dem
„Erfolg“ von 2018 zu sonnen und scharfe Worte in den Raum zu werfen. Eine gute
Gelegenheit, von der Zuspitzung in vielen Betrieben und Konzernen abzulenken
und seine SozialpartnerInnen an ihre gesellschaftliche Verantwortung zu
erinnern, die sie trotz aller Beschwörungen noch nie wahrgenommen haben.

Des Pudels Kern

Auch Dulger argumentiert letztlich im Namen der
Partnerschaft. Er weiß, dass er die Kollaboration der reformistischen
Gewerkschaftsführung braucht, um die Belegschaften von Großbetrieben und in
arbeitsteiligen Industrien zu kontrollieren. Und da bereitet ihm der wachsende
Anteil der OT-Mitglieder in seinem Verband Sorgen.

Es könnten ja wirklich Zeiten kommen, in denen es keine
Drohung an die Gewerkschaften ist, dass durch Verbandsaustritte Streiks in
einzelnen Betrieben nötig würden, „Häuserkampf“ heißt das im
Gewerkschaftssprech. Zeiten, in denen die Gewerkschaften eine kämpferische
Führung entwickeln, KollegInnen die Dinge selbst in die Hand nehmen und/oder
die trägen BürokratInnen zum Kampf zwingen. Dann heißt OT eben auch OF: „Ohne
Friedenspflicht“. Das heißt, die einzige legale Lücke im bundesdeutschen
Anti-Streikrecht wäre offen.

Genau hier fordert Dulger aber jetzt: „Genauer: Ohne Bindung
an den Flächentarifvertrag. Diese Unternehmen halten sich dann nicht
gezwungenermaßen, aber freiwillig an den Tarifvertrag, oder zumindest an große
Teile davon. Deshalb sollten wir Tarifbindung künftig anders definieren. Wenn
ein Tarifvertrag zum Beispiel aus maximal 25 Komponenten besteht, könnte man
jeden als tarifgebunden bezeichnen, der mehr als fünf oder sechs davon
akzeptiert.“ (SZ, 23.7.19)

Der Traum des Kapitalisten Dulger, der die
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen für Teufelszeug hält: Betriebe
werden als tarifgebunden bezeichnet, wenn sie 20 % dieser Abmachungen
freiwillig einhalten. Eine solche Bezeichnung macht nur Sinn mit rechtlichen
Konsequenzen. Will Dulger diese für die Beschäftigten oder für die Unternehmen?
Will er, dass Tarifteile für die Beschäftigten einklagbar sind oder will er das
Streikrecht erneut einschränken? Oder beides?

Es scheint so, als ob das „Draufhauen auf die IG Metall“
(Handelsblatt) nur Begleitmusik ist. Dass es vielmehr um ein Angebot an die
IGM-Spitze geht, dieser mehr „Tarifbindung“ = Einfluss zu verschaffen, wenn
auch in einer Mogelpackung, und zugleich die Friedenspflicht auf diese
OT-Betriebe auszudehnen. Es geht um einen neuen Angriff auf das Streikrecht,
also eine Fortsetzung der bisherigen Krönung der verräterischen Klassenzusammenarbeit,
als 2015 dieses für Minderheitsgewerkschaften abgeschafft worden war. Kriege
werden mit Friedensverträgen vorbereitet. Klassenkriege auch.




Landtagswahlen: Blaue Augen für die Ministerpräsidenten – Katastrophe für die Linkspartei

Tobi Hansen, Neue Internationale 240, September 2019

Seit Wochen werden die
Wahlen in Brandenburg, Sachsen und am 27. Oktober in Thüringen ausschließlich
unter dem Gesichtspunkt diskutiert, ob die AfD stärkste Kraft werden kann. In
Sachsen und Brandenburg kann das nun beantwortet werden. Die AfD schaffte Platz
1 nicht, wurde aber dort mit großem Abstand jeweils zweitstärkste Partei.

Die sächsische CDU und
die Brandenburger SPD feiern, dass sie trotz enormer Verluste stärkste Kraft
geblieben sind und ohne sie keine Landesregierung gebildet werden kann. Das
soll „die Demokratie“ retten, für „stabile“ Verhältnisse sorgen und den
Anschein vermitteln, dass trotz enormer Wahlerfolge der AfD alles beim „Alten“
bleiben kann.

Bundespolitisch
verschafft dies der Großen Koalition zumindest den Spielraum, dass die
Regierung bis zum Dezember hält. Die CDU kann die Nachfolge von Merkel
vorbereiten. Die SPD-Regierungsbeteiligung hält bis zum Dezember, wo auf einem
Bundesparteitag „planmäßig“ neue Vorsitzende und Vorstand gewählt werden und
eine „Bilanz“ der Großen Koalition gezogen wird.

Das Ergebnis

Laut vorläufiger
amtlicher Hochrechnung haben die Parteien in  Sachsen folgendermaßen abgeschnitten: CDU 32,1 %
(-7,3), AfD 27,5 % (+ 17,8), Linkspartei 10,4 % (-8,5), Grüne
8,6 % (+2,9), SPD 7,7 % (-4,7), FDP 4,8 % (+1). Damit ist eine
Zweierkoalition augeschlossen. Die sog. Kenia-Koalition (CDU, Grüne,
SPD) erscheint als wahrscheinlichste Regierungsvariante.

In Brandenburg ergibt
sich folgendes Bild:
SPD 26,2 % (-5.7), AfD 23,5 (+11,3), CDU 15,6 % (-7,4),
Linkspartei 10,7 % (-7,9), Grüne 10,8 % (+4,6), BVB/FW (Brandenburger
Vereinigte Bürgerbewegung/Freie Wähler) 5,0 % (+2,3). Die FDP scheitert mit 4,1 %
am Einzug in den Landtag.

Hier wird die SPD zu
einer Dreierkoalition gezwungen sein. Als Alternativen stehen Rot-Rot-Grün
oder  „Kenia“ (mit CDU und Grünen)
zur Auswahl. Die Brandenburger CDU schloss zuvor selbst Koalitionen mit der Linkspartei
nicht aus (Novum!), also wird die SPD es sich aussuchen können.

AfD jubelt

Auch die Verfahrensfehler
bei der Listenaufstellung, die zur Beschränkung auf max. 30 Sitze über
Zweitstimmenanteil führten, vermochten die Partei angesichts von 15
Direktmandaten nicht zu schwächen. Die AfD hat ihr Ergebnis gegenüber den
letzten Landtagswahlen verdreifacht und nunmehr bei drei aufeinanderfolgenden
Wahlen (inkl. Bundestageswahl und Europawahl) über 25 % eingefahren.

Wie auch Spitzenkandidat
Kalbitz in Brandenburg gehört Urban zum nationalistischen „Flügel“ innerhalb
der AfD. Dieser wurde somit nun auch bundesweit weiter gestärkt.

Dass die tiefere
Verstrickung des Brandenburger Spitzenkandidaten Kalbitz in das faschistische
Milieu das Wahlergebnis ebenfalls nicht geschmälert hat, lässt auch in der
Bundespartei einige Auseinandersetzungen erwarten, insgesamt wohl aber eine
weitere Entwicklung nach rechts, insbesondere falls, was zu befürchten ist, die
Thüringer AfD unter Höcke im Oktober auch noch einen Wahlerfolg einfahren
sollte.

Zwei Entwicklungen der
AfD im Osten Deutschlands sind dabei entscheidend für den Wahlerfolg. Erstens
gelingt es, die kleinbürgerlichen Schichten äußerst stark zu mobilisieren. So
erhielt die AfD lt. Umfragen in Brandenburg 34 % der Stimmen unter den
„Selbstständigen“, in Sachsen immerhin auch 29 %. Sie konnte damit
eindeutig in klassische CDU- und FDP-WählerInnenschaft eindringen. Vor allem
bei den ehemaligen NichtwählerInnen mobilisierte sie mit Abstand die meisten
Stimmen. Erschreckend ist sicherlich der hohe Anteil an den „ArbeiterInnen“ –
in Brandenburg 44 %. Auch wenn das nicht mit der ArbeiterInnenklasse
gleichgesetzt werden darf und der Anteil unter den Angestellten mit 26 %
deutlich geringer ausfiel, so verdeutlicht es den Einbruch in lohnabhängige
Milieus. Sicherlich wurde das z. B. in Brandenburg noch einmal durch die
besondere Situation in der Lausitz angesichts des Ausstiegs aus der Braunkohle
verschärft. Jedenfalls hat die AfD in dieser Region einige Direktmandate
erobert.

Vor allem Angst vor
Veränderungen, die sozialen Abstieg bedeuten könnten, treibt alle
Bevölkerungsschichten um und an, dies sorgt für große Mobilisierung zur Wahl.

Dabei bilden Rassismus
und Chauvinismus quasi den gemeinsamen „Kitt“, der eigentlich gegensätzliche
soziale Lagen verbindet und die AfD als zweitbeste Vertretung „ostdeutscher
Interessen“ erscheinen lässt.
Mögen auch viele Menschen subjektiv sie aus „Protest” gewählt haben, so hat
sich dieser verfestigt und die “ProtestwählerInnen” lassen sich von Rassismus,
Zusammenarbeit mit offenen Nazis von der Wahl nicht abschrecken.

Das Zusammenwirken der kleinbürgerlichen Schichten mit weiteren rassistischen bis hin zu faschistischen Organisationen der „extremen Rechten“ wie NPD, Der III. Weg, Identitäre Bewegung, „Pro Chemnitz“, einer äußerst militanten „Hooligans gegen Salafisten/HOGESA“-Verankerung in diesen Bundesländern, einer „NS-Musikszene“ usw. zeigt die extrem gute lokale Aufstellung, die sich die AfD zunutze machen kann. Dadurch kann sie sich gemeinsam mit anderen rechten lokalen Kräften und MandatsträgerInnen als die Kraft des Volkes vor Ort darstellen.

Die AfD baut sich gerade in der ehemaligen DDR als
gesellschaftliche Kraft mit Massenanhang im kleinbürgerlich-reaktionären
Spektrum auf, die perspektivisch auch immer größeren Teilen des BürgerInnentums
und des Kapitals eine „verlässliche“ Machtalternative bieten will – von
BürgermeisterInnen in den Kommunen bis hin zur Beteiligung an
Landesregierungen.

Dies tut sie z. B.
mit dem Slogan „Vollendet die Wende“, „Wende 2.0“. Sicher bringt diese
Formulierung auch eine große gesellschaftliche Tragik zum Ausdruck. Die
Tatsache, dass sich 30 Jahre nach der kapitalistischen Restauration der DDR die
nationalistischen und faschistischen SchergInnen des Kapitals anschicken, die
Wende zu vollenden, ist selbst ein dramatischer Ausdruck der Niederlagen der
ostdeutschen ArbeiterInnenklasse wie des politischen Versagens von SPD und
Linkspartei.

Kandidat Kalbitz, der in
Athen schon mal die NS-Flagge hisste, begründete diesen Slogan mit der sozialen
Realität, nämlich den immer noch niedrigeren Rentenniveaus der Ostdeutschen.
Bevor „andere“ – gemeint sind MigrantInnen und Geflüchtete – Geld bekommen,
sollte doch erst mal die Rente angeglichen werden. So werden reale soziale
Skandale wie Altersarmut, Ungleichheit, das Abhängen ganzer Regionen
angesprochen. Dass Einkommen, Arbeitszeiten, Infrastruktur, Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen auch 30 Jahre nach der Wende nicht angeglichen sind, hat
freilich die AfD nicht erfunden. Sie greift vielmehr diese Realität des
Kapitalismus auf und verbindet sie mit nationalistischer und rassistischer Hetze.
Dabei spielen ihr alle anderen Parteien mehr oder weniger willig in die Hände,
die die soziale Misere verharmlosen und Jahr für Jahr erklären, dass sie die
Lebensverhältnisse der Menschen doch verbessert hätten.

Dass die AfD-Wirtschafts-
und -Sozialpolitik eigentlich neoliberal bis auf die Knochen ist, dass sie die
öffentlichen Rentenkassen an Fonds verscherbeln will, spielt in ihrer
öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Zum anderen kann die AfD einfach
darauf setzen, dass sie die “Systemparteien” – also allen anderen – ungestraft
einfach als „LügnerInnen” bezeichnet, selbst wenn sie einmal die Wahrheit sagen
sollten.

Die „Mitte”

Die Ergebnisse von CDU und SPD
und auch der Grünen blieben einigermaßen im Rahmen des Erwarteten. Die Parteien
der Großen Koalition sind mit einem blauen Auge davongekommen und können weiter
regieren. Sie rechnen „Erfolge” – Verteidigung der Ministerpräsidentenposten –
gegen Misserfolge (Verluste an Stimmen) auf.

Die gesamte
Mobilisierungskraft der kleinbürgerlichen wie lohnabhängigen Mittelschichten
drückt sich auch im Erfolg der Grünen, partiell auch der FDP und der BVB/FW
aus. Letzte haben sich vor allem auf Kosten der CDU behauptet. Die Grünen
wiederum haben unter der Jugend allgemein stark gewonnen (20 % der 18–24-Jährigen
in Sachsen, 27 % in Brandenburg). So konnten sie ihr historisch bestes
Ergebnis in den Bundesländern holen, auch wenn sie hinter den Umfragen noch
deutlich zurückblieben.

Somit können die Grünen
einmal eine SPD-geführte Regierung „retten“, das andere Mal die CDU. Das zeigt
auch ihre flexiblen Verwendungsmöglichkeiten für diesen bürgerlichen
Parlamentarismus als Zünglein an der Waage, gewissermaßen als „Ersatz“-FDP.

Klare Verliererin – die
Linkspartei

Dass der allgemeine
gesellschaftliche Rechtsruck der Linkspartei nicht einfach den Rücken stärkt,
stimmt sicher. Ebenso sorgen Regierungsbeteiligungen selten bis nie für gute
Wahlergebnisse. Doch die Ergebnisse vom 1. September können in beiden
Bundesländern nur als katastrophal bezeichnet werden. Bei gestiegener
Wahlbeteiligung halbierte sie sich in beiden Bundesländern. Dabei sind die
extremen Verluste in Brandenburg von 7,9 % angesichts der Politik der
Landesregierung noch einigermaßen nachvollziehbar. In Sachsen fielen sie jedoch
in der Opposition mit 8,5 % noch desaströser aus. Verloren hat die
Linkspartei vor allem an SPD, AfD und Grüne in Brandenburg, in Sachsen an alle
(vor allem CDU und AfD mit 24.000 bzw. 26.000 Stimmen). Hinzu kommt, dass die
Linkspartei trotz der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung kaum an Stimmen
zulegen konnte.

Während die Partei bis
zuletzt ihre Politik in Brandenburg schönredete, träumte der sächsische
Spitzenkandidat Gebhardt vor wenigen Tagen noch von Rot-Rot-Grün. Jetzt vereint
diese Möchtegern-Koalition in Sachsen ungefähr genau soviel Stimmen auf sich
wie die AfD.

Am Wahlabend zeigte sich
das Spitzenpersonal der Linken „betroffen“. Niederlagen in Bundesländern, in
denen die Partei stets um die Spitzenplätze konkurrierte, können auch zu
Zäsuren werden. In Brandenburg schaffte die Linkspartei nach einer verhunzten
„Regionalreform“, meist nur noch mit Postengeschacher und Skandälchen von sich
reden zu machen. Ansonsten blieb sie treue Vollstreckerin von Woidke und setzte
z. B. ein neues Polizeigesetz mit durch. In Sachsen versuchte Rico
Gebhardt, sich und die Linkspartei als Verteidigerin von Humanismus und
Liberalismus neu zu erfinden.

Weder konnte die äußerst
regierungserprobte Brandenburger Linkspartei die Renten angleichen noch Hartz
IV aus der Welt schaffen, geschweige denn dafür sorgen, dass sich militante
faschistische Kreise und Netzwerke nicht weiter ausbreiten. Ähnlich den
weiteren ostdeutschen Landesverbänden wurde brav mitregiert, kommunal auch mal
mit der CDU Übereinkunft erzielt. Die Linkspartei ist Verwalterin der
kapitalistischen Restauration geworden. Und sie wurde auch Opfer der eigenen
und ständig verbreiteten Illusionen in die reformistische Politik des
Mitregierens. Wer andauernd behauptet, dass die Politik einer „Reformregierung“
im Brandenburger Landtag die Verhältnisse wirklich verbessern und so zu einem
„Modell“ der sozialen Transformation werden könne, der braucht sich nicht zu
wundern, dass die WählerInnen irgendwann einmal den reformistischen Versprechen
nicht mehr Glauben schenken wollen.

Dementsprechend sinken
auch die Hoffnungen der WählerInnenschaft, dass diese Partei soziale Sicherheit
und vielleicht sogar Verbesserungen des Lebensstandards durchsetzen könnte –
die Realität programmiert die Wahlniederlage.

Beim Bundesparteitag 2020
wird ein neuer Vorstand gewählt. Objektiv könnten diese Niederlagen dem
Wagenknecht-Lager eher helfen und dem aktuellen Vorstand schaden. Sicherlich
wird die Linkspartei nun alles auf Ministerpräsident Ramelow in Thüringen
setzen.

Die Linkspartei hat längst
aufgehört, als quasi-automatischer Bezugspunkt für Sorgen um sozialen
Abstieg, Arbeitsplätze, Ungerechtigkeit für die ostdeutsche Bevölkerung zu
fungieren. Die Politik der Partei war dabei in den Jahren nach der Wende
sicherlich auch nicht so viel besser, wie heute ein verklärender Blick in die
Vergangenheit suggerieren möchte – aber die Partei verfügte damals (noch als
PDS) über stärkere Basis- und Vorfeldstrukturen, was ihr Image als
„Kümmerpartei“ begründete.

Während diese
gesellschaftliche Verankerung in großen Teilen der lohnabhängigen Bevölkerung
schwächer wurde, konnte sie weder unter der Jugend noch unter der betrieblichen
ArbeiterInnenklasse eine ähnliche Basis aufbauen. Klimapolitik blieb ihr gerade
in Brandenburg fremd, wo sie um die Braunkohle einen Eiertanz aufführt. Der
geringere gewerkschaftliche Organisationsgrad in Sachsen wie Brandenburg
bedeutet auch, dass es der AfD leichter fiel, in die ArbeiterInnenklasse
einzubrechen, was sich auch in den Stimmengewinnen der Rechten in Regionen mit
sinkender Bevölkerung zeigt. Aber auch die Tatsache, dass sich die Linkspartei
selbst nie um eine stärkere betriebliche und gewerkschaftliche Verankerung
bemühte, dass sie mehr auf die Gewinnung von (linken) BürokratInnen und
FunktionärInnen setzte, drückt sich jetzt in ihren schlechten Ergebnissen aus.

Angesichts dieser
Katastrophe fallen die ersten Erklärungen des Spitzenpersonals der Linkspartei
geradezu lächerlich aus, weil sie in rein konjunkturellen Fragen
(Ministerpräsidentenbonus) die Ursache für das Desaster suchen, nicht in der
parlamentsfixierten lahmen „Reformpolitik“ der Partei selbst.

Was tun?

In Brandenburg wäre es
wichtig, dass gegen eine erneute Regierungsbeteiligung mobilisiert wird. Eine
Fortsetzung der Beteiligung an Rot-Rot-Grün bringt der ArbeiterInnenklasse
nichts, für die Linkspartei wäre der weitere Niedergang vorprogrammiert – und
die AfD würde sich dabei als „die Opposition“ weiter profilieren.

Unsere kritische
Wahlunterstützung für die Linkspartei galt vor allem den WählerInnen und
AktivistInnen der sozialen, der klimapolitischen Bewegung, den
GewerkschafterInnen, wie auch der lokalen „Antifa“, damit sie sich gegen den
Rechtsruck organisieren. Dazu kann die Linkspartei ein „Mittel“ sein und dies
sollte auch bei Wahlen ausgedrückt werden.

Rund um die
Organisationen der ArbeiterInnenbewegung wie auch der sozialen Bewegungen, der
„Linken“ allgemein muss der gemeinsame Kampf gegen die Regierungen wie gegen
die AfD jetzt im Vordergrund stehen. Eine Linkspartei an der Regierung ist
dabei keine Hilfe, im Gegenteil.

Nach den Wahlerfolgen in
Sachsen und Brandenburg werden die AfD wie auch das faschistische Umfeld weiter
versuchen, die „Linke“ einzuschüchtern, „No-Go-Areas“ wie auch „national
befreite Zonen“ auszubauen. Darauf brauchen wir eine Antwort, müssen gemeinsam
mit den Geflüchteten und MigrantInnen unsere Wohngebiete gegen die AfD und
Fascho-Pest verteidigen.

Während die Aufspaltung
des bürgerlichen Lagers voranschreitet, verlieren auch die bürgerlichen
ArbeiterInnenparteien. In Ostdeutschland polarisiert die AfD diese Entwicklung
sowohl in kleinbürgerlichen Schichten wie auch in Teilen der
ArbeiterInnenklasse und rückt dem „Sieg“ bei einer Wahl immer näher.

Die bürgerlichen
ArbeiterInnenparteien SPD und Linkspartei vertiefen ihre strategische Krise,
die bei der SPD ein munteres Führungsquiz eröffnet hat. Beide starren auf den
Aufstieg der AfD wie das Kaninchen auf die Schlange, indem sie sich an ein
parlamentarisches Bündnis nach dem anderen klammern. Statt auf Mobilisierung
und Klassenkampf setzen sie – nicht nur die SPD, sondern auch weite Teile der
Linkspartei – auf ein Bündnis mit bürgerlichen „DemokratInnen“.

In Zeiten kommender
Wirtschaftskrisen, akuter Handelskriege, baldiger Restrukturierungen im
industriellen Sektor, Massenentlassungen und weiterer Prekarisierung der
sozialen Bedingungen, einer vertieften ökologischen Gesamtkrise bedeutet diese
Politik nichts anderes, als die Lohnabhängigen an eine Allianz mit den
„demokratischen“ VertreterInnen des Kapitals zu binden und der AfD-Demagogie in
die Hände zu spielen, dass sie als einzige „die einfachen Leute“ vertrete. Die
Lehre kann nur lauten: Schluss mit diese Politik!

Der Kampf gegen Rechts
darf dabei nicht auf den Kampf gegen die AfD beschränkt bleiben. Eine Linke,
eine ArbeiterInnenbewegung, die Hunderttausende Lohnabhängige von den rechten
DemagogInnen wieder gewinnen will, muss den Kampf gegen die soziale Misere, die
realen Missstände in Angriff nehmen. Dazu braucht es einen Kampf gegen
Billiglohn und Hartz IV, gegen weitere drohende Entlassungen, für ein
öffentliches Programm zum Ausbau der Infrastruktur, von Bildung,
Gesundheitswesen, ökologischer Erneuerung im Interesse der Lohnabhängigen,
kontrolliert von der ArbeiterInnenklasse und finanziert durch die Besteuerung
der Reichen – um nur einige Beispiele zu nennen. Kurzum, es braucht den
gemeinsamen Kampf der Linken, der Gewerkschaften wie aller
ArbeiterInnenorganisationen.

Angesicht der drohenden
Angriffe, und um gemeinsamen Widerstand zu entwickeln, brauchen wir
Aktionskonferenzen auch bundesweit, um den Kampf gegen Rechtsruck, AfD,
militante faschistische Gruppierungen und gegen die laufenden und drohenden
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, auf Arbeitsplätze und
unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu koordinieren.




Die Spaltung des CWI: Ein Bruch geht durch die Mitte

Martin Suchanek, Infomail 1066, 2. September 2019

Die Spaltung des CWI (Committee for a workers
international = Komitee für eine Arbeiterinternationale) stellte für die
Beteiligten wie für die außenstehenden BeobachterInnen des Prozesses sicher
keine Überraschung dar. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Organisation in
zwei etwa gleich große Gruppierungen zerbrach. Beide beanspruchen für sich, die
„eigentliche“ internationale Strömung zu verkörpern und die politische und
programmatische Tradition des CWI fortzuführen.

Der folgende Artikel gliedert sich in zwei große
Abschnitte. Im ersten werden wir den Bruch nachzeichnen und auf einige
Eigentümlichkeiten der Form der Auseinandersetzung eingehen. Alle Teile, die
aus der Spaltung des CWI hervorgingen, reklamieren ebenso wie die ebenfalls aus
der CWI-Tradition entstandene IMT (International Marxist Tendency =
Internationale Marxistische Tendenz) das politisch-methodische Erbe ihrer
Strömung für sich und sehen im Anknüpfen an diese Tradition einen entscheidenden
Schritt zum Aufbau einer trotzkistischen, revolutionären Organisation. Genau
diese Vorstellung werden wir im zweiten Teil des Textes kritisieren. Wir werden
zeigen, dass in den politischen Grundlagen, die im CWI längst vor der Spaltung
mit der IMT Anfang der 1990er Jahre beschlossen wurden, schon das eigentliche
Problem angelegt war, das aufgrund der politischen Entwicklungen der letzten
Jahre verstärkt an die Oberfläche trat und schließlich zur Spaltung führte.

Spaltung

Formell vollzog die Fraktion „In Verteidigung
eines proletarischen, trotzkistischen CWI“ (In Defence of a Working Class
Trotskyist CWI) den Bruch, als sie am 21. Juli auf einer Konferenz der
Socialist Party, der Sektion in England und Wales, mehrheitlich den Kurs einer
„Neugründung des CWI“ (Refoundation of the CWI) beschloss. Schon zuvor hatte
die Fraktion mehrfach erklärt, dass sie unter keinen Umständen zulassen wolle,
dass die Ressourcen des CWI „in die falschen Hände“ fallen.

Die internationale Konferenz, die im Anschluss
an die Tagung der englischen und walisischen Sektion vom 22.–25. Juli stattfand
und zu der nur die AnhängerInnen der Fraktion eingeladen wurden, vollzog diesen
Bruch sodann auf internationaler Ebene. Die Spaltung war damit amtlich. Nach
eigenen Angaben beteiligten sich Delegierte aus folgenden Ländern: England und
Wales, Schottland, Irland, Deutschland, Frankreich, Österreich, Finnland,
Indien, Sri Lanka, Malaysia, Chile und den USA. UnterstützerInnen aus Südafrika
und Nigeria konnten wegen Visaproblemen nicht teilnehmen.

So optimistisch und zuversichtlich sich die
Verlautbarungen dieser Strömung auch lesen mögen, sie können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass sie nur eine Minderheit der Sektionen des CWI unterstützt.

Diese andere Strömung, die heute als „provisorisches
Komitee“ des CWI auftritt, konnte sich formal immer auf eine Mehrheit im
Internationalen Exekutivkomitee (IEK) der Organisation stützen, also eine
Mehrheit des höchsten Leitungsorgans zwischen den internationalen Konferenzen.
Die Strömung um Peter Taaffe kontrolliert hingegen nur das kleinere, eigentlich
dem IEK verantwortliche und untergeordnete Internationale Sekretariat (IS).
Nachdem sich abzeichnete, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im IEK nicht mehr
ändern ließen, entschloss sich die Fraktion um Taaffe offenkundig dazu, Kurs
auf die Spaltung zu nehmen, indem sie sich weigerte, jedem Beschluss der
„kleinbürgerlichen Mehrheit“ auf dem IEK kategorisch zu folgen, und in jedem
Fall die Kontrolle über den Apparat der Organisation zu sichern gedachte. Dies
geht schon daraus hervor, dass sich das von der Fraktion geführte IS schon im
Frühjahr weigerte, eine Sitzung des IEK einzuberufen resp. einer solchen Folge
zu leisten, um so nicht abwählt werden zu können.

Praktisch hatte sich auch die Mehrheit des IEK
schon vor Ende Juli 2019 als eigene internationale Gruppierung zu formieren
begonnen. Wichtige Sektionen hatten schon seit Monaten ihre Beitragszahlungen
eingestellt und praktisch eine „Gegenfraktion“ zur „historischen Führung“ des
CWI um Peter Taaffe aufgebaut.

In diesem Sinn sprach die Mehrheit des IEK, die
sich auf die deutliche Mehrzahl der Sektionen stützt (wenn auch nicht unbedingt
auf die Mehrheit der Mitglieder des CWI, da die englisch/walisische Sektion
sicher noch immer die weitaus größte sein dürfte), durchaus zu Recht von einem
„Putsch“ und einem offenen Bruch des Statutes des CWI.

Nur einen Tag nach der Konferenz der Socialist
Party in England und dem Aufruf zur „Neugründung“ des CWI durch die
„proletarische“ Fraktion trat auch die Mehrheit des IEK an die Öffentlichkeit.
Während Taaffe und Co. das CWI neu gründen wollen, will die Mehrheit als CWI
weitermachen. So lässt deren „provisorisches Komitee“ verlauten:

Neben den kriminellen Handlungen einer unverantwortlichen degenerierten bürokratischen Führung hat diese Krise für unsere Organisation auch das Gegenteil gezeigt: dass das CWI eine gesunde und lebendige Organisation ist, in der es einer Mehrheit gelungen ist, sich gegen die bürokratische Degeneration zu behaupten und die Einheit der überwiegenden Mehrheit unserer Internationale aufrechtzuerhalten, obwohl sie sich dabei gegen einige ihrer Gründer*innen mit größter Autorität behaupten muss.

Die CWI-Mehrheit ist vereint, intakt und verfügt über beträchtliche Kampfkraft in über 30 Ländern rund um den Globus!“

Wie bei jeder Scheidung können wir erwarten,
dass in den nächsten Wochen und Monaten noch mehr oder weniger heftig um das
Tafelsilber, also die Ressourcen der Organisation, gerungen wird – inklusive
wechselseitiger Vorwürfe bürokratischer oder gar „krimineller“ Machenschaften.

Auch wenn die Mehrheit des IEK
formal-demokratisch sicher im Recht ist, dass die Fraktion um Taaffe und die
IS-Mehrheit das Statut gebrochen haben, so kann ein Blick in die Geschichte des
CWI nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Vergangenheit beide Seiten an
solchen bürokratischen Manövern beteiligt waren – sei es beim Bruch mit der
IMT, sei es bei der Duldung der kriminellen Methoden führender Mitglieder ihrer
ukrainischen Sektion um die Jahrhundertwende, als diese gut ein Dutzend anderer
internationaler Strömungen finanziell betrog.

Die Schwierigkeiten der Ursachensuche

Vor allem aber erklärt der Verweis auf die
rasche und bürokratische Zuspitzung des Fraktionskampfes nicht, warum es
überhaupt zu diesen Verwerfungen und schließlich zur Spaltung kam. Schon die
Entstehung einer Fraktion um den Kern der internationalen Führung ist in
Organisationen mit einem revolutionären Anspruch verwunderlich. In der Regel
werden Fraktionen und Tendenzen zur Korrektur der politischen Linie der
Organisation gegen die bestehende politische Führung gebildet, nicht als
politisches Kampfmittel des Führungskerns.

Erst recht verwunderlich wird die Sache, wenn
wir den unmittelbaren Anlass zur Gründung der Fraktion um Peter Taaffe in Rechnung
stellen, nämlich eine Abstimmungsniederlage über die Tagesordnung auf einer
internationalen Leitungssitzung Ende 2018. Damals wollten Taaffe und das von
ihm geführte Internationale Sekretariat die Diskussion über die Arbeit der
irischen Sektion ins Zentrum der Tagung rücken. Dieser wurde eine
kleinbürgerliche Abweichung vom Programm des CWI vorgeworfen wurde. Die
IEK-Mehrheit folgte diesem Tagesordnungsvorschlag jedoch nicht, was die
Strömung um Taaffe als eine Tolerierung, wenn nicht Zustimmung zum
Opportunismus der irischen Sektion betrachtete.

Ein Blick auf deren Wahlkampagne und
Intervention in die Anti-Abtreibungskampagne offenbart, dass dieser Vorwurf
keineswegs unbegründet war. Wohl aber muss sich eine internationale Führung –
zumal eine mit etlichen Hauptamtlichen – die Frage gefallen lassen, warum sie
die Sitzung nicht mit einem Dokument zur Arbeit der Sektion vorbereitet hat und
warum sie ihre Kritik nicht allen IEK-Mitgliedern und der irischen Führung
schriftlich und anhand von Zitaten und Belegen zugänglich gemacht hat. Sie muss
sich die Frage gefallen lassen, warum sie erst zu diesem Zeitpunkt mit ihrer
Kritik rausrückte und eine opportunistische Entwicklung in der irischen Sektion
feststellte, nachdem diese jahrelang aufgrund ihrer Wahlerfolge als „Kronjuwel“
des CWI über den grünen Klee gelobt worden war.

Auf all diese Fragen folgte beredtes Schweigen.
Die internen Dokumente, die in den letzten Monaten über soziale Medien an die
Öffentlichkeit kamen, umfassen zwar mehrere hundert Seiten – sie erlauben es jedoch
kaum, die wechselseitigen Anschuldigungen anhand klarer Fakten und Argumente
nachzuvollziehen.

Der Fraktion um Taaffe kann immerhin zugutegehalten
werden, dass sie schwerwiegende politische Differenzen für die damals drohende
und nunmehr vollzogene Spaltung des CWI ins Feld führte, nämlich eine
kleinbürgerliche Abweichung vom Programm des CWI, eine Anpassung an den
kleinbürgerlichen Feminismus, die Identitätspolitik sowie eine Abkehr von der
ArbeiterInnenklasse als zentralem Subjekt der gesellschaftlichen Umgestaltung.
Die irische Sektion und die Mehrheit des CWI würden in die Fußstapfen des
„Mandelismus“, also der Politik des Vereinigten Sekretariats der Vierten
Internationale, treten, der immer wieder aufgrund von Opportunismus und, in
früheren Jahren, aufgrund von revolutionärer Ungeduld „Ersatzsubjekte“ für das
Proletariat gesucht hätte.

In diesem Sinn versucht die Fraktion um Taaffe,
eine politische Differenz ins Zentrum zu rücken, freilich ohne diese
politisch-faktisch schlüssig zu untermauern. Den durchaus umfangreichen
Dokumenten mangelt es nicht an scharfen Anschuldigungen, es fehlen aber
überzeugende Darlegungen und Beweisführungen. Die „kleinbürgerlichen
Abweichungen“ werden oftmals durch eher anekdotenhafte Erzählungen belegt, z. B.
durch Berichte über politisch problematische Referate einzelner, auch führender
GenossInnen der irischen Sektion. Eine Analyse ihrer Wahlplattformen oder eine
Kritik an den opportunistischen Seiten ihrer Anti-Abtreibungsplattform wurde
allenfalls angedeutet.

Beispiel Rosa

Die fehlende Propaganda für den Sozialismus durch die irische Sektion wurde unserer Meinung nach zu Recht angeprangert. Bemerkenswert ist freilich, dass in der gesamten „proletarisch-trotzkistischen“ Kritik überhaupt kein Bezug darauf genommen wurde, dass die von der CWI dominierte und angeführte Plattform „Reproductive rights against Oppression, Sexism and Austerity“ (Rosa) die Forderung nach unbefristeter und kostenloser Abtreibung auf Verlangen nicht aufstellte. Stattdessen beschränkte sie sich auf die nach einer 12-wöchigen Fristenlösung.

Es spricht zwar nichts dagegen, eine
Massenkampagne für eine 12-wöchige Fristenlösung gegen ein gesetzliches Verbot
der Abtreibung kritisch zu unterstützen. In Irland traten jedoch die schon
bestehenden Anti-Abtreibungskampagnen Abortion Rights Campaign (ARC) und Cork
Women’s Right to Choose Group im Gegensatz zu Rosa immer schon für die radikalere
Forderung nach Abtreibung ohne Fristenlösung ein. Die CWI-Sektion und die internationale
Führung präsentierten Rosa zwar als „radikalere“, weil angeblich
sozialistischere und proletarischere Kampagne, stellten aber bewusst die
Forderung nach einer Fristenlösung auf, weil sie so hofften, dass die Kampagne
dem bestehenden, oft auch katholisch beeinflussten „ArbeiterInnenbewusstsein“
leichter zu vermitteln wäre.

Dieser reale Opportunismus wie auch das Fehlen
eines Übergangsprogramm der Sektion, das den Kampf um demokratische Rechte,
soziale Forderungen mit dem Kampf um eine sozialistische Revolution verbunden
hätte, wurde nicht einfach von der Sektion auf eigene Rechnung vorangetrieben.
Über Jahre hindurch galten die Arbeit der Sektion, ihrer Abgeordneten, ihre breiten
Kampagnen und ihre elektoralen Erfolge als Musterbeispiel „richtiger“
sozialistischer Intervention. Erst spät „entdeckte“ die ehemalige CWI-Führung
die „Abweichungen“ – und „übersah“ dabei bis heute einen zentralen Aspekt des
Opportunismus der Anti-Abtreibungskampagne.

Der Grund dafür ist wohl darin zu suchen, dass
dies nicht ins Narrativ der „proletarischen“ Fraktion passt. Sicher hat diese,
wenn auch spät, zu Recht kritisiert, dass die irische Sektion keinen
Schwerpunkt darauf legte, Gewerkschaften in die Kampagne gegen die Abtreibung
zu ziehen, dass leichtfertig und kritiklos Aussagen
kleinbürgerlich-feministischer Autorinnen oder Vertreterinnen der
#Metoo-Bewegung übernommen wurden. All dies musste dann als Beweis für die
Übernahme von Positionen des Feminismus und von Identitätspolitik herangezogen
werden – freilich ohne selbst in langen Dokumenten zur „Identitätspolitik“
diese selbst einer marxistischen Kritik zu unterziehen oder deren theoretische
und programmatische Reflexion in der Politik der irischen Sektion nachzuweisen.
Stattdessen werden seitenweise die Errungenschaften der Frauenpolitik der
britischen Militant-Strömung und CWI-Sektion angeführt, die zumeist mehrere
Jahrzehnte zurückliegen.

Nicht minder bemerkenswert ist die Tatsache,
dass Sektionen, denen heute ein Abrücken vom Proletariat vorgeworfen wird, noch
im November 2018, also beim letzten Meeting eines gemeinsamen IEK, enorme
Fortschritte attestiert wurden. So hätte sich beispielsweise die soziale
Zusammensetzung der US-amerikanischen „Socialist Alternative“ positiv verändert
und sie ihren Schwerpunkt auf die Gewerkschaften verlagert. Heute steht sie im
Lager der „kleinbürgerlichen Abweichung“, des Opportunismus gegenüber Sanders
und der Demokratischen Partei. Dabei „vergisst“ die „proletarische Fraktion“ um
Peter Taaffe, dass der Opportunismus gegenüber Sanders, die Unterstützung seiner
Präsidentschaftskandidatur im Rahmen der Demokratischen Partei (wie zuvor schon
die Unterstützung grüner Kandidaturen wie der von Ralph Nader und Jill Stein)
international anerkannte CWI-Politik war.

Anekdoten statt Argumente

Bei der Ursachensuche und beim inhaltlichen
Nachvollzug der Spaltung ergibt sich generell eine Schwierigkeit. Auf
Schuldigungen, Vorwürfe … antworten beide Seite vor allem mit einer schier
endlosen Aufzählung vergangener Ruhmestaten. So verweist die Strömung um Taaffe
immer wieder auf die „glorreichen“ Zeiten des CWI, die sie offenkundig in den 1980er
Jahren und Anfang der 1990er Jahre ansiedelt.

Die Mehrheit des IEK wiederum versuchte, sich
gegen die Vorwürfe der Fraktion durch Relativierung und den Verweis auf eigene
politische Erfolge zu behaupten. Mantraartig warf sie ihrerseits der Strömung
um Taaffe vor, alles nur aufzubauschen und zu übertreiben.

Somit ergibt sich die Eigenart, dass nach
vollzogener Spaltung beide Seiten versprechen, ausführlichere Dokumente zur
Darlegung ihrer Kritik und ihres jeweiligen Standpunkts nachzureichen. Die
Geschichte der „revolutionären“ Linken mag zwar reich an Spaltungen sein. In der
Regel verfassten die im Streit liegenden Seiten jedoch ihre wichtigsten
Fraktionsdokumente im Laufe des Kampfes – und reichten sie nicht erst nach der
Spaltung nach.

Allein die Verlaufsform des Fraktionskampfes
wirft ein problematisches Licht auf das Innenleben und die „demokratische
Tradition“ des CWI. Gerade in solchen Kämpfen, die – darüber sollte sich kein/e
RevolutionärIn Illusionen machen, auch zum Leben und zur Entwicklung
kommunistischer oder sozialistischer Organisationen gehören –, zeigt sich auch
die Reife und Qualität einer Organisation.

Differenzen in grundlegenden programmatischen
Fragen werden immer wieder zu Spaltungen führen, sollten sie nicht in eine
Klärung münden (inklusive der Möglichkeit einer gemeinsamen, höheren revolutionären
Synthese). Die Frage der Einschätzung „neuer“ sozialer Bewegungen, der Taktik
und Politik in der entstehenden neuen Frauenbewegung, in der Umweltbewegung, in
nationalen Befreiungskämpfen, im Kampf gegen Rassismus, in der Haltung zum
Brexit und zur Krise der EU, der Taktik gegenüber Corbyn, die Charakterisierung
Chinas, die Einschätzung der Weltlage … stellen wirklich grundlegende Fragen
dar, die jede Organisation, die ernsthaft einen revolutionären Anspruch stellt,
beantworten muss.

Gerade in stürmischen Zeiten von Krise und
Instabilität, eines Vordringens der Rechten und des Rechtsrucks, aber auch von
Massenwiderstand in der Situation der Defensive braucht eine revolutionäre
Organisation vor allem Klarheit, Perspektive und deren Zusammenfassung in Form
eines internationalen Programms. Jede andere Haltung mag möglich sein, nur ganz
sicher ist sie weder proletarisch noch revolutionär.

Marxismus und Fraktionskampf

In diesem Sinne hätte der Fraktionskampf –
unabhängig davon, ob er zu einer Spaltung führte oder nicht – zu einer Klärung
und politischen Schulung für tausende Mitglieder werden können. So endete
z. B. der Fraktionskampf in der US-amerikanischen, trotzkistischen SWP
1939/1940 zwar mit einer Spaltung, zugleich aber führte die Auseinandersetzung zu
einer politischen Klärung grundlegender methodischer und programmatischer Fragen.
Es ist kein Zufall, dass im Laufe dieser Diskussion zwei „Klassiker“ zu Fragen
des Parteiaufbaus, Trotzkis „In Verteidigung des Marxismus“ und Cannons „Kampf
für die proletarische Partei“ entstanden.

Einen solchen erzieherischen, das Bewusstsein
und Verständnis des Leninismus und Trotzkismus hebenden Charakter kann die
Debatte freilich nur haben, wenn in einer Krisenperiode die innerparteiliche
Demokratie ausgeweitet wird, um so ein Klima der Konzentration auf die
politische Klärung zu schaffen. Trotzki ging in den 1930er Jahren sogar so
weit, einer kleinbürgerlichen Opposition in der US-amerikanischen SWP
parteiinterne Garantien innerparteilicher Demokratie und Loyalität zu geben –
unabhängig davon, wer bei der Konferenz eine Mehrheit gewinnen würde. Für den
Fall eines Sieges der bolschewistischen Mehrheit schlug er vor, der Opposition
in der SWP(US) weitere Rechte als Minderheit (einschließlich einer begrenzten
öffentlichen Debatte der Differenzen) zuzugestehen. Für den Fall des Sieges der
kleinbürgerlichen Opposition drängte er darauf, als loyale Minderheit für die
Richtungsänderung in der Partei zu kämpfen.

Im CWI hatte keine der beiden Strömungen eine
ernsthafte interne, klärende, die Mitglieder politisch weiterentwickelnde
demokratische und fraktionelle Auseinandersetzung im Sinn. Der demokratische
Zentralismus schien allenfalls als Lippenbekenntnis Bedeutung zu haben. Die
Fraktion um Taaffe zog aus einer möglichen Niederlage offenkundig den Schluss,
dass es besser sei, das Vermögen und die Strukturen des Ladens so weit möglich
in Sicherheit zu bringen, statt auch nur für ein Jahr um die Mehrheit
organisiert zu kämpfen.

Diese Haltung scheint jedoch keineswegs nur von
der „proletarischen“ Fraktion vertreten zu werden. Die Sektionen aus Spanien,
Portugal, Venezuela und Mexiko, die seit dem 21. Juli 2019 als „Internationale
Revolutionäre Linke“ agieren und auch in Deutschland MitstreiterInnen aus der
Hamburger SAV gewonnen haben, verhielten sich recht ähnlich. Ursprünglich waren
sie Teil der Fraktion um Peter Taaffe. Ende März 2019 traten jedoch auf einem
Fraktionstreffen größere Differenzen zum Vorschein, was nicht nur mit dem
Austritt der vier Sektionen aus der Fraktion, sondern auch gleich aus dem CWI
endete.

Die Mehrheit des CWI-IEK beteuerte lange, dass
die Differenzen eigentlich gar nicht real wären und alle auf dem Boden des
CWI-Programms stünden. Naturgemäß trug diese Position auch nichts zur Klärung
bei. Die scharfe Konfrontation auf dem IEK im November 2018 und die Gründung
einer Fraktion erschienen so als eigentlich rein persönlich-bürokratisches
Vorgehen, nicht als Ausdruck politischer Differenzen. Selbst wenn diese
wirklich nur „übertrieben“ gewesen wären, so hätte sich die Mehrheit zumindest die
Frage stellen müssen, was auf Seiten der Fraktion dazu geführt hatte, worin
also deren politischer Fehler bestand. In ihrer Antwort auf die Abspaltung ist
sie gezwungen, das gewissermaßen nachzuholen, wenn sie schreibt:

„Die ehemalige, für die tagtägliche Arbeit des
CWI zuständige Führung, die einen bürokratischen Putsch in der Organisation
durchgeführt hat (die Mehrheit des Internationalen Sekretariats und die
Minderheitenfraktion, die es um sich herum versammelt hat), zeigte mangelndes
Vertrauen bezüglich der Intervention in diese Bewegungen. Sie betonten die Befürchtung,
dass unsere Mitgliedschaft von der kleinbürgerlichen Identitätspolitik und
anderen ‚fremden Ideen‘ in diesen Bewegungen verwirrt sein könnte, und zogen es
nach ihren eigenen Worten vor, sich ‚einzugraben‘ und auf Ereignisse innerhalb
der offiziellen Arbeiter*innenbewegung zu warten.

Sie griffen unsere Sektionen in Irland und den USA, die erfolgreich große Kämpfe von Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen führten, in denen sie Siege erzielten und gleichzeitig das Banner des revolutionären Sozialismus prinzipientreu und flexibel hochhielten, für ‚Kapitulation vor kleinbürgerlicher Identitätspolitik‘ an. Die Mehrheit ist der Ansicht, dass eine solche Haltung nicht dazu geeignet ist, die proletarischen Prinzipien des Sozialismus zu schützen sondern unsere Mitgliedschaft unvorbereitet lassen würde und die kleinbürgerlichen Einflüsse in einigen der wichtigsten Massenmobilisierungen unserer Epoche unangefochten lassen würde.“ (Ein bürokratischer Putsch wird die Mehrheit des CWI nicht vom Aufbau einer starken revolutionär-sozialistischen Internationale aufhalten!)

Die falsche Methode, interne Auseinandersetzungen
zu führen, bedeutete nicht nur, dass die Spaltung bürokratische Formen annahm.
Der Fraktionskampf konnte so nicht einmal jene Funktion erfüllen, die er in einer
genuin revolutionären Organisation leisten sollte – Erhöhung des politischen
Niveaus der Organisation, Klärung und Schärfung der Argumente und damit auch
des Bewusstseins der Mitglieder. Solcherart könnte ein Fraktionskampf, selbst
wenn er in einer Spaltung endet, zumindest eine überaus intensive marxistische
Schulung mit sich bringen.

Dass es dazu nicht kam, erfordert jedoch selbst eine Erklärung. Diese muss unsere Meinung nach gerade dort gesucht werden, wo alle Spaltprodukte (einschließlich der lange zurückliegenden Abspaltung in Gestalt der IMT) ihre Stärke vermuten – in der ständig beschworenen „Tradition“ des CWI, die eng mit Grant, Woods, Taaffe verbunden ist. Wir werden an dieser Stelle nicht die gesamte Tradition „nacherzählen“, sondern verweisen auf einige in diesem Zusammenhang grundlegende Kritiken unserer Strömung (z. B. auf die Broschüre: Mit Nachtrabpolitik zum Sozialismus?).

Die „Tradition“ des CWI

Wir werden uns daher nur auf einige grundlegende
Eigenheiten dieser Tradition des Zentrismus, also einer Organisation, die
zwischen revolutionärem Kommunismus und Reformismus schwankt, eingehen, die zum
Verständnis der aktuellen Krise und Spaltung von größter Bedeutung sind.

Die Entwicklung des CWI als eigenständige
politische Strömung in Britannien und ab den 1970er Jahren auf internationaler
Ebene ist eng mit der Arbeit der Militant-Strömung und ihrer VorgängerInnen in
der Labour Party verbunden.

Um einen langfristigen, strategisch ausgelegten
Entrismus, also die organisierte Arbeit in der Labour Party (und später in
anderen reformistischen oder auch nationalistischen Parteien wie dem ANC) zu
rechtfertigen, entwickelten die GründerInnen der Strömung um Ted Grant ein
besonderes Verständnis von Entwicklung des Klassenbewusstseins und der
„Radikalisierung“ der ArbeiterInnenklasse.

Im Falle einer Zuspitzung des Klassenkampfes
würden die proletarischen Massen (wieder) in deren traditionelle Parteien
strömen, also in sozialdemokratische und, zur Zeit vor dem Zusammenbruch des
Ostblocks, auch in die stalinistischen. In manchen Ländern könnten de facto
auch links-bürgerliche oder nationalistische Formationen eine solche Funktion
übernehmen (z. B. ANC in Südafrika im Kampf gegen die Apartheid oder die
PPP in Pakistan).

Dahinter steckte nicht nur ein Schematismus, der
immer schon empirisch fragwürdig war. So schwollen im französischen Mai 1968
keineswegs einfach die „traditionellen“ Organisationen an, sondern die radikale
Linke erlebte einen massiven Aufschwung. Ebenso verhielt es sich in Italien
1969 und in den Folgejahren. All dies waren günstige Bedingungen für die
Schaffung direkt revolutionärer Parteien. Die Tatsache, dass die Gruppierungen
des ArbeiterInnenautonomismus, des Maoismus und Trotzkismus gegenüber den
reformistischen Parteien über keine ausreichende Taktik verfügten, offenbart
zwar eine fatale Schwäche dieser Organisationen, sie bestätigt aber keinesfalls
das Schema der Militant-Strömung.

Dieses wurde Anfang der 1990er Jahre – insbesondere
nach der Rechtswende der internationalen Sozialdemokratie – von der Mehrheit
des CWI um Peter Taaffe ein Stück weit in Frage gestellt. Im Gegensatz zu den
AnhängerInnen des CWI-Gründervaters und wichtigsten Theoretikers Ted Grant sahen
sie in der Arbeit in der britischen Labour Party keine weitere Perspektive mehr
und traten für den „eigenständigen“ Aufbau ein. 1992 erfolgte international die
Spaltung. Sicher ging auch diese nicht ohne bürokratische Manöver und Intrigen
vonstatten, aber das neu aufgestellte CWI konnte sich auf eine eindeutige
Mehrheit stützen und nahm Kurs auf den Aufbau eigener Organisationen außerhalb
der traditionellen Sozialdemokratie oder auf die Mitarbeit in „neuen“
Linksparteien, also linken reformistischen Parteien (wie z. B.
Rifondazione Comunista in Italien).

Die sozialdemokratischen Parteien – zuvor noch
als reformistische ArbeiterInnenparteien charakterisiert – änderten praktisch
überall ihren Charakter und wurden zu offen bürgerlichen Parteien erklärt.

Der Bruch war methodisch jedoch keineswegs so
grundlegend, wie es auf den ersten Blick erscheinen sollte. Während die
Charakterisierung der sozialdemokratischen Parteien geändert wurde, so
behielten beide Strömungen die falsche Vorstellung der Entwicklung revolutionären
Bewusstseins bei. Dem CWI erscheint das reformistische nämlich nicht als eine
Form bürgerlichen Bewusstseins, sondern als eine notwendige Entwicklungsstufe auf
dem Weg zum revolutionären Bewusstsein. Während die Strömung um Grant und
Woods, also die heutige IMT (in Deutschland: Der Funke) an dem klassischen
Schema und der Charakterisierung der Sozialdemokratie festhielt, führte das CWI
zwar das Schema fort, aber ohne Labour oder SPD als konkrete und notwendige Zwischenstufen
zur Entwicklung des Bewusstseins zu betrachten. Diese Rolle übernehmen entweder
diverse „Linksparteien“ (europäische Linkspartei, reformistische Strömungen in-
oder außerhalb bestehender Parteien), die Gewerkschaften oder der Aufbau
„eigener“ Parteien auf einem letztlich zentristischen Programm.

Programmatisch führte das Schema schon früh,
also lange vor der Spaltung von CWI und IMT, zu wichtigen Anpassungen an den
Reformismus bzw. an das (angenommene) vorherrschende Bewusstsein der
ArbeiterInnenklasse:

  • Die Militant-Strömung theoretisierte als einzige trotzkistische Strömung die Möglichkeit eines friedlichen, parlamentarischen Weges zum Sozialismus. Mittels einer Mehrheit und einer Massenmobilisierung der ArbeiterInnenklasse könne das Proletariat die Macht erobern und behaupten, ohne den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und die konterrevolutionären Umsturzversuche der Bourgeoisie niederwerfen zu müssen.

„All die Intrigen und Verschwörungen der Kapitalisten können auf der Basis einer kühnen sozialistischen Politik, die von der Massenmobilisierung der Arbeiterbewegung unterstützt wird, nichtig werden. In Großbritannien ist eine völlig friedliche Umwandlung der Gesellschaft möglich, aber nur, wenn die ganze Kraft der Arbeiterbewegung kühn dazu verwendet wird, um die Veränderung zu bewirken.“ (Militant, What We Stand For, 1985, Zitiert nach Colin Lloyd, Richard Brennner und Eric Wegner: Voran, Vorwärts und die Militant-Tendenz: Bruch und Kontinuität einer Wende, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm12/cwi.htm) Mit anderen Worten: Wenn die ArbeiterInnenklasse nur wolle, müsse der bürgerliche Staatsapparat eines der mächtigsten imperialistischen Länder der Welt nicht durch eine Revolution zerschlagen und die Konterrevolution gewaltsam niedergehalten werden. Militant und ihren Nachfolgern zufolge wird das Unmöglich möglich, hört die friedliche Umwandlung auf, ein reformistisches Hirngespinst zu sein, wenn die Massen nur „mobilisiert“ bleiben.

  • Dieser fundamentale Bruch mit der marxistischen Staatstheorie und deren Revolutionsverständnis hatte notwendige programmatische Konsequenzen, die sich praktisch in allen CWI-Programmen wiederfinden. Die Frage der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates, der Bewaffnung der Klasse (Milizen, Soldatenräte) bleibt außen vor. Dies folgt einerseits aus der theoretischen Revision, zum anderen aus der Anpassung an das vorherrschende nicht-revolutionäre Bewusstsein der Klasse, die man durch „Linksradikalismus“ nicht verprellen wollte.
  • Eine weitere Form der Anpassung bestand darin, dass die Militant-Strömung (ähnlich wie andere Gruppierungen des britischen Trotzkismus) schon sehr früh die Losung einer „Labour-Regierung auf einem sozialistischen Programm“ vertrat – eine Parole, die praktisch die Möglichkeit einer revolutionären Regeneration der Labour Partei oder anderer reformistischer Parteien implizierte.
  • In der Labour Party wie auch in der „unabhängigen“ Arbeit wurde die Anpassung an vorherrschende Stimmungen der ArbeiterInnenklasse – und darüber vermittelt an das bürgerliche System – noch vertieft. So weigerte sich Militant im Malvinas-Krieg zwischen Britannien und Argentinien von Beginn an, für die Niederlage des britischen Imperialismus, also der eigenen Bourgeoisie, einzutreten. In der Frage der „offenen“ Grenzen passte sich das CWI über Jahre an den Sozial-Chauvinismus in der ArbeiterInnenklasse an und lehnte es beständig ab, für die Abschaffung aller Einreisekontrolle einzutreten. Die Abschaffung jeder staatlichen Selektion zwischen „guten“ und „schlechten“, also für das Kapital verwertbaren und nicht verwertbaren MigrantInnen wäre der ArbeiterInnenklasse nämlich nicht „vermittelbar“. Statt also dem Chauvinismus in der Klasse politisch und argumentativ entgegenzutreten, wird dieser als „natürlich“ hingenommen. Diese Anpassung findet sich schließlich aktuell besonders deutlich beim sog. „Workers Brexit“, einer angeblich linken Variante des Brexit. Damit soll der Einfluss rechts-populistischer DemagogInnen wie Farage oder Johnson bekämpft werden – in Wirklichkeit läuft das CWI diesen hinterher und kehrt darüber hinaus all jenen Lohnabhängigen, die gegen den Brexit sind, den Rücken. Hier erweist sich die Nachtrabpolitik nicht nur als opportunistisch, sondern auch als nutzlos, blöde und kontraproduktiv.

Nachtrabpolitik

Die Nachtrabpolitik des CWI hat jedoch eine
theoretische Wurzel. Es lehnt – ebenso wie die IMT – bewusst die Lenin’sche
Konzeption der Entwicklung des Klassenbewusstseins ab, wie sie z. B. in
„Was tun“ dargelegt wird. So schreibt Alan Woods in „Bolshevism: road to
revolution“:

„Die Arbeiterklasse beginnt aus lebender Erfahrung mit Ausbeutung und Unterdrückung ein sozialistisches Bewußtsein zu entwickeln, angefangen mit der aktiven Schicht, die die Klasse führt. (…) Der Klassenkampf selbst schafft unausweichlich nicht nur ein Klassenbewußtsein, sondern auch ein sozialistisches Bewußtsein.“ (Zitiert nach RSO, CWI und IMT, Marxismus Nr. 30, Februar 2009, S. 57)

Wie zahlreiche andere RevisionistInnen, die die
Lenin’sche Polemik gegen den Ökonomismus für „überzogen“ halten und daher
meinen, seine gesamte Theorie verwerfen zu können, übersieht Woods, dass seine
Vorstellung nicht nur jener von Lenin und Kautsky, sondern auch der von Marx
diametral entgegensteht. Im ersten Band des Kapital legt Marx dar, dass das
Lohnarbeitsverhältnis selbst das Bewusstsein der Klassen prägt. Die
Transformation des Werts der Ware Arbeitskraft in Arbeitslohn inkludiert auch
eine ideologische, bewusstseinmäßige Verkehrung des realen
Ausbeutungsverhältnisses:

„Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die Mehrarbeit oder unbezahlte Arbeit als bezahlt. Dort (in der Sklaverei; Anm. d. Autors) verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstarbeiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters.

Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (Marx, Das Kapital, Band 1, S. 562)

Dies verdeutlicht wohl hinlänglich, dass sich aus
der „lebendigen Erfahrung mit Ausbeutung und Unterdrückung“ überhaupt kein
Klassenbewusstsein spontan entwickelt, sondern dass die „lebendige Erfahrung“,
der Verkauf der Ware Arbeitskraft und noch das Aushandeln der Verkaufsbedingungen
der Ware Arbeitskraft, also die regelmäßige Reproduktion des
Kapitalverhältnisses, notwendigerweise bürgerliches Bewusstsein hervorbringt.

Elementarformen des Klassenkampfes – z. B.
der Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen – können zwar in der
Aktion bestimmte Flausen, Mystifikationen (z. B. die Vorstellungen von
„Gerechtigkeit“, vom Staat, …) praktisch in Frage stellen. Aber sie führen
keineswegs spontan zur Bildung von Klassenbewusstsein, geschweige denn zum „sozialistischem
Bewusstsein“. Das rein gewerkschaftliche Bewusstsein, das zweifellos „spontan“
aus der Erfahrung in dieser Form des Klassenkampfes erwächst, stellt Marx und
Lenin zufolge noch immer eine Art bürgerlichen Bewusstseins dar. Der
Reformismus bürgerlicher ArbeiterInnenparteien wie z. B. der Labour Party,
der SPD oder der Linkspartei ist im Grunde nichts anderes als eine Ausweitung
dieser Form bürgerlichen Bewusstseins auf die politische Ebene. Gegenüber dem
rein gewerkschaftlichen stellt das zwar einen Fortschritt dar, weil es die
Notwendigkeit einer Partei der ArbeiterInnenklasse anerkennt – aber
nichtsdestotrotz bleibt auch eine solche, reformistische Partei eine
bürgerliche, auf dem Boden des Kapitalismus agierende politische Kraft, das
reformistische Bewusstsein daher bürgerliches Bewusstsein.

Der Boden für die Bildung revolutionären
Klassenbewusstseins wird zwar durch Krisen, Verwerfungen, Massenaktionen,
Aufstände usw. befördert, weil Fragen des Klassenkampfes und Machtfragen zu
unmittelbar praktischen werden. Nichtsdestotrotz erfordert die Hervorbringung konsequent
revolutionären Klassenbewusstseins auch dann eine theoretische Analyse, eine
wissenschaftliche Verallgemeinerung, die nicht nur und auch nicht vorrangig aus
der eigenen Erfahrung, sondern nur aus der verallgemeinerten Erfahrung aller
Klassekämpfe hervorgehen kann. Diese wird nicht spontan entwickelt, sondern bedarf
theoretischer Anstrengung. Revolutionäre Politik muss für den Marxismus auf
einer revolutionären Theorie fußen – ansonsten ist sie keine.

Diese Theorie muss in den Klassenkampf, in die
ArbeiterInnenklasse getragen werden – sei es durch politisch bewusste
Lohnabhängige, sei es durch kleinbürgerliche oder bürgerliche TheoretikerInnen,
die sich den wissenschaftlichen Sozialismus zu eigen gemacht haben. In die
Klasse tragen darf dabei natürlich nicht mit „Aufklärung“ verwechselt werden,
sondern bedeutet, für ein Programm zu kämpfen, das eine Brücke zwischen Theorie
und Erfahrung schlägt, das einen Weg weist, die beschränkten Kämpfe für soziale
und politische Reformen mit dem für die sozialistische Revolution zu verbinden.

Die Vorstellung, dass Klassenbewusstsein aus der
Erfahrung oder dem spontanen Klassenkampf notwendig erwachse, stellt nicht nur
einen fundamentalen Bruch mit dem Marxismus dar – sie rechtfertigt logisch auch
eine Nachtrabpolitik, eine Anpassung an des bestehende Bewusstsein, wie es
Lenin an den ÖkonomistInnen kritisierte.

Sie unterstellt nämlich, dass rein
gewerkschaftliches oder reformistisches Bewusstsein schon einen halben Schritt
zum revolutionären darstellen würden, dass diese nur quantitativ erweitert
werden müssen und sich organisch in „revolutionäres“ verwandeln würden.

Ökonomischer Kampf als eigentlicher
Klassenkampf?

In Wirklichkeit bedeutet revolutionäres
Klassenbewusstsein jedoch einen qualitativen Bruch mit dem Reformismus. Der
Kampf für revolutionäre Politik beinhaltet daher in nicht-revolutionären Zeiten
immer ein Ankämpfen gegen das spontane, vorherrschende Bewusstsein – auch innerhalb
der ArbeiterInnenklasse. Der Verzicht z. B. auf den Kampf um „offene
Grenzen“ oder Anpassung an die sozialchauvinistischen Stimmungen in der
britischen ArbeiterInnenklasse in der Frage des „Workers Brexit“ stellt
hingegen eine Form der Nachtrabpolitik dar, der Anpassung an das vorherrschende,
nicht-revolutionäre Bewusstsein der Klasse, insbesondere an den
Sozial-Chauvinismus.

Das Zitat von Woods, das bis heute dem
Verständnis von Klassenbewusstsein und dessen Entwicklung bei allen Flügeln von
CWI und IMT zugrunde liegt, impliziert noch eine bestimmte Haltung zu den
Formen des Klassenkampfes. Bekanntlich unterscheiden Engels und in seiner
Nachfolge auch Lenin und andere MarxistInnen zwischen drei Hauptformen des
Klassenkampfes: dem gewerkschaftlichen, dem politischen und dem ideologischen
(oder theoretischen). Die Aufgabe einer revolutionären Partei besteht darin,
alle drei systematisch zu betreiben und im Rahmen einer revolutionären
Strategie zu verbinden, die auf die politische Machtergreifung der
ArbeiterInnenklasse ausgerichtet ist.

In der CWI-Tradition wird unwillkürlich – und im
direkten Gegensatz zu allen klassischen marxistischen TheoretikerInnen – der
ökonomische Kampf zum Kern des Klassenkampfes.

Die Verklärung des gewerkschaftlichen
Klassenkampfes zum eigentlichen Klassenkampf, des reformistischen
ArbeiterInnenbewusstseins zum eigentlichen Sprungbrett für „revolutionäres
Bewusstsein“ stellt letztlich eine ideologische Rechtfertigung des Workerismus
dar, der die CWI-Strömung seit ihrer Entstehung prägt.

Es ist daher kein Wunder, dass diese Tendenz
gegenüber Kämpfen der Unterdrückten – nationalen Befreiungsbewegungen,
antirassistischen Kämpfen, dem Kampf für Frauenbefreiung oder gegen sexuelle
Unterdrückung – immer wieder skeptisch, oft direkt sektiererisch auftrat. So
lässt sich das bis heute an der links-zionistischen Position zu Palästina oder
der sektiererischen Haltung zum nationalen Befreiungskampf in (Nord-)Irland
zeigen.

Wenn wir von einer ökonomistischen Vorstellung
der Entwicklung des Klassenbewusstseins ausgehen, so erscheint das nicht
sonderlich problematisch, ja sogar als eine Tugend, sich auf die „echten“
ArbeiterInnenfragen zu konzentrieren.

Von einem leninistischen Standpunkt aus ist das jedoch
fatal. In „Was tun“ erklärt Lenin schließlich nicht nur, dass Klassenbewusstsein
von außen in die Klasse getragen werden muss – er legt auch verständlich und
bündig dar, was revolutionäre Klassenpolitik inhaltlich auszeichnet.

„Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Mißbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewußtsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewußtsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden. Wer die Aufmerksamkeit, die Beobachtungsgabe und das Bewußtsein der Arbeiterklasse ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf sie selber lenkt, der ist kein Sozialdemokrat, denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verbunden mit der absoluten Klarheit nicht nur der theoretischen … sogar richtiger gesagt: nicht so sehr der theoretischen als vielmehr der durch die Erfahrung des politischen Lebens erarbeiteten Vorstellungen von den Wechselbeziehungen aller Klassen der modernen Gesellschaft. Darum eben ist die Predigt unserer Ökonomisten, daß der ökonomische Kampf das weitest anwendbare Mittel zur Einbeziehung der Massen in die politische Bewegung sei, so überaus schädlich und ihrer praktischen Bedeutung nach so überaus reaktionär.“ (Lenin, Was Tun, LW 5, S. 426)

Dass revolutionäre Organisationen eine klare
Position zum Kampf gegen Frauenunterdrückung, gegen die Unterdrückung der
Jugend, gegen Imperialismus, Rassismus und nationale Unterdrückung einnehmen,
dass sie mit einem Klassenstandpunkt in diese Bewegungen intervenieren und
einen revolutionären Kurs skizzieren, stellt keine „konjunkturelle“ Aufgabe
dar. Sie ergibt sich auch nicht nur negativ aus der Notwendigkeit, die Dominanz
bürgerlicher und kleinbürgerlichen Ideologien in Bewegungen der Unterdrückten
zu bekämpfen. Vielmehr folgt die Notwendigkeit, eine Politik zu entwickeln, die
sich gegen alle Formen von Ausbeutung und Unterdrückung wendet, aus dem
Charakter des proletarischen Befreiungskampfes selbst. Die ArbeiterInnenklasse
kann sich nämlich nur selbst befreien, wenn sie alle Verhältnisse umwirft, in
denen der Mensch eine erbärmliches, geknechtetes Wesen ist, indem sie sich
selbst durch die Revolution befreit und revolutioniert.

Das ökonomistische Schema von Woods hingegen
legt auf allen Gebieten nahe, dass der Kampf gegen soziale Unterdrückung oder
auch die „Staatsfrage“ durch das naturnotwendig stetig steigende Gewicht und
Bewusstsein der Klasse „letztlich“ und gewissermaßen automatisch gewonnen,
gelöst wird.

Die Krise des CWI ist eine Krise ihres Schemas

Die Krise des CWI muss unserer Auffassung nach
als eine Krise dieses Schemas und bestimmter damit verbundener Erwartungen an
die Entwicklung der ArbeiterInnenklasse, ihres Bewusstseins und des CWI selbst
verstanden werden.

Anders als viele konkurrierende trotzkistische
Strömungen – allen voran das „Vereinigte Sekretariat der Vierten
Internationale“, aber auch als der Morenoismus – schien das CWI nach der
Spaltung von der IMT mit großen Schritten voranzuschreiten. Die Führung der
Organisation setzte sich das Ziel, zur größten „trotzkistischen“ Strömung
weltweit zu werden. Nach der großen Krise 2008–2010 wurden diese Hoffnungen
anscheinend noch verstärkt zum Ausdruck gebracht.

Doch der Durchbruch kam nicht. Die
verschiedenen, öffentlich gewordenen Dokumente des Fraktionskampfes im CWI
legen vielmehr nahe, dass die Organisation international betrachtet in den
letzten 10 Jahren stagnierte. Zweitens offenbaren die wechselseitigen Vorwürfe
der Fraktionen, dass die Mitgliederzahlen jahrelang übertrieben wurden, um
andere Strömungen zu beeindrucken oder die Moral der eigenen Mitglieder zu
heben. Diese Beschönigung der Mitgliederstatistiken funktionierte anscheinend
jahrelang. Im Zuge der Krise hatte und hat das sicher eine demoralisierende
Wirkung auf viele GenossInnen, die schließlich jahrelang über den Zustand der
eigenen Organisation hinters Licht geführt wurden.

Drittens verschoben sich im CWI auch die
politischen Gewichte und das Verhältnis zwischen den Sektionen. Jahrelang galten
die Dominanz und politische Führungsrolle der englischen und walisischen
Sektion, der Socialist Party (SP), als unangefochten. Doch die Autorität von
Taaffe und Co. wurde ganz zweifellos unterminiert.

Politik der SP

Auch wenn die Fragen der Politik der SP selbst
in den fraktionellen Auseinandersetzungen kaum zur Sprache kamen und auch wenn
die Mehrheit des IEK diese praktisch nicht kritisierte, so war wohl
offenkundig, dass sie politisch nicht vorankam und „bestenfalls“ weniger an
Einfluss und Mitgliedern verlor als die andere große zentristische
Organisation, die SWP. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens das Festhalten am
„Workers Brexit“. Für die SP stellte die Mehrheit für den Austritt Britanniens
aus der EU einen Sieg der ArbeiterInnenklasse dar, die Führung der SAV in
Deutschland bezeichnete ihn als „Grund zu Freude“. Und die SP in Britannien
hält bis heute daran fest, dass sich Labour und die Gewerkschaften an die
Spitze einer imaginären „linken“ Brexit-Bewegung stellen müssten:

„Um erfolgreich zu sein, muss Corbyn diese Botschaft beharrlich, laut und deutlich aussprechen – einhergehend mit dem Versprechen, bezüglich des Brexit und darüber hinaus Maßnahmen für die Arbeiter*innenklasse durchzuführen. Auf dieser Grundlage könnten Labour und die Gewerkschaften Massen für einen Brexit im Interesse der Arbeiter*innenklasse mobilisieren und damit auch der Kampagne der Rechtspopulist*innen gegen die EU etwas entgegensetzen.“ (https://www.sozialismus.info/2019/04/sozialistinnen-und-der-brexit/)

Eine „Partei“, die zwischen Sieg und Niederlage
nicht zu unterscheiden weiß, die meint, die Brexit-Bewegung mit einem
nationalen Weg zum Sozialismus schlagen zu können, und dabei all jenen
Lohnabhängigen und MigrantInnen den Rücken kehrt, die gegen den
nationalistischen Brexit-Wahn kämpfen wollen, benötigt weder die britische noch
sonst eine ArbeiterInnenklasse.

Zweitens weigerte sich die SP, in die Labour
Party unter Corbyn einzutreten und auf Hunderttausende nach links gehende AktivistInnen
zuzugehen. Statt ihre eigene, vorschnelle Erklärung der Labour Party als „rein
bürgerliche Partei“ zu redividieren, klammerte sich die Taaffe-Führung an
dieser falschen Einschätzung fest und wählte die Selbstisolation außerhalb von
Labour. Zweifellos hätte eine Revision der Charakterisierung der Labour Party
kritische Fragen bezüglich der eigenen Vergangenheit aufgeworfen. Politisch
geholfen hat diese sture Verteidigung des eigenen Fehlers sicher nichts.
Erschwert wurde dieser Fehler sicher auch dadurch, dass die Labour Party unter
Corbyn auf einem links-reformistischen Programm antrat, von dem sich die SP
viel schwerer inhaltlich abzusetzen vermochte. Ihre falsche Haltung zum Brexit
und ihre Ablehnung offener Grenzen führten außerdem dazu, dass sie in diesen
zentralen Fragen des Klassenkampfes rechts von vielen Labour-AktivistInnen
stand und steht.

Entwicklung anderer Sektionen

Während die SP auf dem absteigenden Ast war,
errangen andere Sektionen des CWI – insbesondere die irische und US-amerikanische
– durchaus beachtliche Wahlerfolge auf kommunaler oder gar nationaler Ebene.

Nicht nur Größenverhältnisse änderten sich, auch
die politische Schwerpunktsetzung der einzelnen Sektionen wandelte sich und
wurde unterschiedlicher. Das CWI der 1970er und 1980er Jahre folgte einem
weitgehend einheitlichen Aufbauplan seiner Sektionen – der Arbeit in
bestehenden Massenparteien und in den Gewerkschaften. Alle Strömungen, die eine
entristische Arbeit verweigerten, wurden als „SektiererInnen am Rande der ArbeiterInnenbewegung“
denunziert. Eine solche oberflächliche Immunisierung der eigenen Mitglieder
gegenüber der „restlichen Linken“ war naturgemäß nach dem Austritt aus Labour
oder SPD nicht mehr oder nur noch bedingt möglich.

Hinzu kam, dass einige Sektionen ihren
Schwerpunkt in „neuen“ reformistischen Linksparteien suchten, andere wie die SP
in England auf den eigenen Aufbau setzten. Die Aufbautaktik wurde somit uneinheitlicher.
Mit dem Linksschwenk von Labour unter Corbyn stellte sich natürlich auch die
Frage, warum eine Arbeit in der zahlenmäßig stagnierenden deutschen Linkspartei
unbedingt notwendig sei, während ein organisierter Kampf in der Labour Party
abgelehnt wurde. Während man sich in Britannien von der „Corbyn-Bewegung“ fernhielt,
wurde zugleich die Präsidentschaftskampagne von Sanders in der offen
bürgerlichen Demokratischen Partei unterstützt.

Auch die Arbeit in den Gewerkschaften, jahrelang
in Form opportunistischer Anpassung an die linke Bürokratie ein Aushängeschild
der englischen Sektion, wurde angesichts von Niederlagen der organisierten
ArbeiterInnenklasse wie des Aufstiegs neuer sozialer Bewegungen in einigen
Ländern depriorisiert. So agierte die irische Sektion vor allem in der
Frauenbewegung und der Kampagne gegen Abtreibung.

Anpassung an unterschiedliche Milieus

Diese verschiedenen Taktiken und Aufbaumethoden
folgten mehr und mehr den unmittelbaren Bedürfnissen einzelner Sektionen.
Zugleich mussten sie früher oder später die Frage der Aufbaumethode, der
Klassenpolitik (Haltung zu den DemokratInnen in den USA), der Position zu kleinbürgerlich
geführten Bewegungen usw. aufwerfen.

Eine offene Diskussion über all diese Fragen war
jedoch über Jahre zurückgestellt worden. Es wurde eine einheitliche Linie
suggeriert, auch wenn diese in der Realität mehr und mehr aufgeweicht wurde.

Eine revolutionäre Organisation, die auf Basis
eines gemeinsamen, wissenschaftlichen Programms agiert, kann mit solchen
unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen nationaler Sektionen eigentlich leicht
leben, da es das internationale Programm erlaubt, ebendiese in einen
gemeinsamen Kontext zu stellen. Für eine ökonomistische Organisation verhält es
sich grundsätzlich anders. Gehen wir davon aus, dass das revolutionäre
Bewusstsein direkt aus dem Klassenkampf entsteht, so tendiert natürlich eine
Verschiebung des jeweiligen Fokus auch dazu, dass sich das Milieu, aus dem das
Bewusstsein organisch erwachsen soll, grundlegend ändert.

Solang alle einen Schwerpunkt auf einigermaßen
ähnliche Gewerkschaftsarbeit und auf reformistische Parteien legen, werden sich
noch einigermaßen ähnliche „Bewusstseinsansätze“ ergeben.

Anders wird es freilich, wenn verschiedene
Sektionen in unterschiedlichen Milieus und Bewegungen agieren und intervenieren
– und das noch umso mehr, als manche davon einen klassenübergreifenden
Charakter tragen. Der Kampf schafft dabei selbst kein gemeinsames revolutionäres
Bewusstsein, sondern unterschiedliche nicht-revolutionäre Bewusstseinsformen.
Diese können Formen der Identitätspolitik und des bürgerlichen oder kleinbürgerlichen
Feminismus (wie in Irland darstellen), es können ebenso Spielarten des
Reformismus und Sozial-Chauvinismus wie in Britannien sein.

So richtig daher der Vorwurf der ehemaligen
IS-Mehrheit um Peter Taaffe auch hinsichtlich der Anpassung der irischen
Mehrheit und ihrer UnterstützerInnen an die Identitätspolitik sein mag, so bleibt
die ganze Kritik blind gegenüber der Tatsache, dass diese Anpassung durchaus
aus der ökonomistischen Vorstellung der Entwicklung von Klassenbewusstsein
entspringt, die dem CWI immer schon zugrunde lag.

Wenn die „proletarische Tendenz“ von einer
Rückkehr zur „ArbeiterInnenpolitik“ spricht, so meint sie letztlich eine
Rückkehr zu den echten, ökonomistischen Wurzeln des CWI. Dieser Appell mag zu
einem Zusammenrücken der verbliebenen AnhängerInnen führen, zu einer Lösung der
Probleme des CWI wird er nicht führen – erst recht nicht mit einer Anpassung an
das vorherrschende linke, gewerkschaftliche ArbeiterInnenbewusstsein.

Umgekehrt sind bei der Mehrheit des IEK weitere
Anpassungen an kleinbürgerliche Kräfte und Ideologien, vor allem aber eine
Tendenz zum Föderalismus und zur Beliebigkeit zu erwarten. Anders als die
Strömung um Taaffe stellt sie eher eine Koalition von GegnerInnen der „alten“
Führung dar – über einen einheitlichen Gegenentwurf dürfte sie nicht verfügen.
Es handelt sich vielmehr um eine Gruppierung nationaler Sektionen, für die ihr
jeweiliger „nationaler“ Aufbau im Zentrum stehen dürfte – und damit ist
entweder Beliebigkeit oder weitere Spaltung vorprogrammiert.

Mit der Spaltung wird in jedem Fall die Krise
des CWI nicht vorüber sein. Die politischen Fehler der letzten Jahre – wie
Brexit, … – werden in den kommenden erst recht ihren Tribut fordern. Während
von der Strömung um Taaffe eher eine sektiererische Haltung zur neuen
Frauenbewegung oder zur Umweltbewegung zu erwarten ist, werden andere auf
Anpassung setzen. Und solche kann – nehmen wir nur den Aufstieg populistischer
Bewegungen wie der Gilets Jaunes – zu weit größeren Fehlern als eine Adaption
an Identitätspolitik oder Reformismus führen. Eine solche Entwicklung ist auch
deshalb zu befürchten, weil alle Strömungen des CWI bislang eine Verharmlosung
der reaktionären Entwicklungen der letzten Jahre eint.

Weltlageeinschätzung

So geht ihre letzte und einstimmig
verabschiedete, gemeinsame Weltlageeinschätzung mit keinem Wort auf deren
veränderten Charakter seit der Niederlage des Arabischen Frühlings in Syrien
und Ägypten und der von Syriza ein. Natürlich bestreitet das CWI dabei nicht,
dass es diese Niederlagen gegeben hat, wohl aber dass diese für die Entwicklung
des globalen Kapitalismus einen Rechtsruck und eine reaktionäre Phase bedeuten.

Wie wir sehen können, kann diese selbst
Massenwiderstand wie z. B. in Brasilien, Generalstreiks wie in Indien oder
gar Revolutionen wie im Sudan hervorbringen. Aber das ändert nichts daran, dass
die ArbeiterInnenklasse in einer Situation der Defensive agiert – einer
Defensive, die nicht nur die Schwäche der Klassenorganisationen, sondern auch
das Vordringen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien in den Bewegungen
der Widerstandes wie in der ArbeiterInnenklasse selbst beinhaltet. Eine
Hauptgefahr – aber sicher nicht die einzige – stellt dabei der (Links-)Populismus
dar.

In den Thesen des CWI vom November 2018
erscheint dies jedoch vielmehr als Prozess, als Polarisierung, bei der erstens
nicht ausgemacht werden könne, welche Kraft – Reaktion oder Revolution – im
Vormarsch ist, und bei der die Entwicklung des Klassenbewusstseins letztlich
nur als eine Frage der Zeit erscheint, also der spontanen Entwicklung von Massenmobilisierungen.
So heißt es in dem Papier:

„Der Aufstieg des politisch nebulösen Populismus wurzelt in der Weltwirtschaftskrise von 2007/08 und ihren Folgen. Bürgerliche Analyst*innen, darunter Francis Fukuyama und eine Reihe von Kommentator*innen, spotten darüber, dass es nicht diese Linke, sondern die Rechte war, die am meisten von den politischen Folgen dieser Krise profitierte. Das stellt die Realität völlig auf den Kopf. Die Arbeiter*innenklasse wandte sich in vielen Ländern zunächst einmal der Arbeiter*innenbewegung und der Linken zu, um eine Erklärung und Lösungen für die Krise zu finden. Die Linke hätte angesichts der Schwere der Rezession, die zur Diskreditierung des Kapitalismus und seiner politischen Vertretung führte, erheblich gewinnen können.“ (https://www.sozialismus.info/2019/01/die-lage-der-welt-das-kapitalistische-system-steht-vor-politischen-und-sozialen-umbruechen)

Hier flüchtet sich das CWI einhellig in den
Konjunktiv. Zur Bestimmung des aktuellen Kräfteverhältnisse ist leider nicht
entscheidend, was hätte kommen können, sondern wie sich Bewusstsein und
Kräfteverhältnis real entwickelten.

Hinter dieser Formulierung steht letztlich ein
objektivistisches Hoffen, dass die „Radikalisierung“ und Bewusstseinsbildung
der ArbeiterInnenklasse einem „gut aufgestellten“ CWI bei den nächsten größeren
Mobilisierungen Massen in die Arme treiben würden. Die letzten Jahre zeigen,
dass die Weigerung des CWI, ihren eigenen Ökonomismus kritisch zu hinterfragen
und abzulegen, die Organisation zur Spaltung getrieben hat. Nur wenn das CWI,
einzelne Abspaltungen oder GenossInnen die falschen methodischen Grundpfeiler
ihrer Tendenz in Frage stellen, kann aus dieser Krise Positives erwachsen.




Brasilien: Tage des Feuers

Markus Lehner, Neue Internationale 240, September 2019

Seit Beginn der Trockenzeit in der Amazonasregion ist dieses
Jahr dort ein wahres Inferno an Waldbränden ausgebrochen. Allein im August
handelt es sich jede Woche um Tausende. Diese sind zwar sehr unterschiedlich in
der Größe, summieren sich aber zu einem Katastrophenzustand, von dem inzwischen
die vier brasilianischen Bundesstaaten Rondônia, Pará, Mato Grosso und Amazonas
betroffen sind. Aufnahmen von Satelliten zeigen, dass pro Minute Regenwald in
der Größe von etwa 1,5 Fußballfeldern abbrennt.

Verbrecherische Politik

Die Mitschuld der verbrecherischen Bolsonaro-Regierung an
diesem ökologischen Desaster mit globalen Auswirkungen ist unbestreitbar.
Agro-Business und extraktive Industrien (wie der Bergbaukonzern Vale) haben für
ihre globalen Geschäfte ein starkes Interesse an der rücksichtslosen Ausbeutung
der Amazonasregion. Durch die Vorgängerregierungen und internationalen Druck
war das enorme Entwaldungstempo seit 2004 von jährlich über 20.000
Quadratkilometer auf unter 10.000 zurückgegangen. Offensichtlich ist es die
„Entwicklungsstrategie“ der Bolsonaro-Regierung, im Interesse ihrer
wesentlichsten GeldgeberInnen diese „Zurückhaltung“ wieder vollständig
aufzugeben. Die „Umweltbedenken“ wurden als Behinderung der wirtschaftlichen
Interessen Brasiliens verunglimpft, internationale Kritik als
„Neokolonialismus“ abgetan und jede nur erdenkliche Hetze gegen
UmweltaktivistInnen, Landlosenbewegung und indigene AmazonasbewohnerInnen vom
Zaun gebrochen.

Gleich zu Beginn der Präsidentschaft von Bolsonaro wurden
IBAMA (Brasilianisches Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche
Ressourcen; Umweltbundesamt Brasiliens) „gesäubert“, 21 der 27
Regionaldirektoren abgesetzt und ihre Mittel drastisch gekürzt. Mit Tereza
Cristina, der Landwirtschaftsministerin, bekam eine direkte Lobbyistin des
Agrobusiness die Verantwortung für die Amazonasregion übertragen. Der
„Umweltminister“ Ricardo Salles erklärte, dass es die oberste Pflicht seines
Ministeriums ist, die „Rechte der LandbesitzerInnen zu schützen“. Daher werden
nicht nur die Aktionen gegen illegale Landbesetzungen jetzt rechtzeitig
angekündigt, es gibt auch die niedrigsten Strafen für illegale Brandrodungen
seit Jahrzehnten. Die 980 Millionen Dollar, die die EU für die
Wiederaufforstung im Amazonas zur Verfügung gestellt hat, werden von Salles zur
„Entschädigung“ von Agrounternehmen verwendet (die die jetzt freigegebenen
Gebiete sich zumeist illegal angeeignet hatten). Schließlich brachte Flávio
Bolsonaro, der Sohn des Präsidenten, der selbst Senator ist, ein Gesetz ein,
das die Verpflichtung zum Schutz bestimmter Pflanzenarten, die
LandbesitzerInnen bisher einhalten mussten, lockert.

Was auch immer die Regierung bisher an Maßnahmen gesetzt
hat: klar ist, dass sich LandbesitzerInnen, Konzerne und ihr gesellschaftliches
Umfeld in der Amazonasregion durch Bolsonaro ermutigt fühlten, alle Schranken
fallen zu lassen. Seit dem Amtsantritt von Bolsonaro im Januar wurden bis Juni
79.000 neue Brände gezählt, ein Anstieg um 82 % gegenüber dem Vorjahr. Die
kriminelle Energie der LandeigentümerInnen wird am Beispiel des Überfalls auf
das indigene Volk der Wajapi im Bundesstaat Amapá deutlich: Am 24. Juni drangen
Bewaffnete eines Bergbaukonzerns für Rodungsarbeiten in das als „geschützt“
ausgezeichnete Gebiet ein, vertrieben die EinwohnerInnen und töteten dabei
mehrere Menschen, darunter deren Sprecher Emyra: ein Mord, der unter den
Indigenen-AktivistInnen großes Entsetzen verbreitete. Dies ist Ausdruck des
Charakters der Bolsonaro-Bewegung: von GroßgrundbesitzerInnen unterstützt, gibt
es in den ländlichen Regionen Mittelschichten und HandlangerInnen, die sich
rassistisch aufgeladen mit mörderischer Energie auf die Hindernisse für das
„echte Brasilianertum“ stürzen: Indigene, landlose LandarbeiterInnen und
KleinbäuerInnen (meist durch die MST vertreten), UmweltaktivistInnen und Linke:
eine mit Bolsonaro verbundene Bewegung, die durchaus Ähnlichkeiten mit den
italienischen FaschistInnen der 1920er Jahre im Klassenkampf um die Latifundien
der Po-Ebene hat. Daher sind die Waldbrände nicht nur ein ökologisches
Desaster, sie sind auch Teil einer gewalttätigen Bewegung gegen alle, die
Interesse an einem nachhaltigen Umgang mit dem Regenwald haben. So stellt es
auch die Erklärung der MST (die von Bolsonaro als „Terrororganisation“ bezeichnet
wird) zu den jüngsten Bränden fest: Die Abschaffung der bisherigen (schwachen)
Schutzbestimmungen im Amazonasgebiet ist das eine, aber „zur selben Zeit wächst
die Verfolgung und Kriminalisierung der Teile der Bevölkerung, die
traditionellerweise die Biome Brasiliens erhalten: die einfache Landbevölkerung
und die Indigenen“ (Queimar a Amazonia e crime contra humanidade, MST, 23.8.).
[Biom: Großlebensraum der Erde; Makro-Ökosystem]

So ist es auch kein Wunder, dass kürzlich bekannt wurde,
dass über einen Whatsapp-Verteiler der bolsonaristischen LandeigentümerInnen
für den 10. August zu einem „Tag des Feuers“ aufgerufen wurde entlang der
Bundesstraße 163, die die jetzt besonders betroffenen Regionen Mato Grosso und
Pará (beim Rio Tapajós) verbindet. Nachdem diese Whatsappgruppe von 70
LandeignerInnen durch die Zeitschrift Globorural geleakt worden war, konnte das
lächerliche Ablenkungsmanöver von Bolsonaro, dem zufolge die
Umweltorganisationen die Brände selber legen würden, um ihm zu schaden, nicht
mehr aufrechterhalten werden. Inzwischen muss selbst der Bolsonaro zutiefst
ergebene Justizminister Moro gegen die tatsächlichen BrandstifterInnen
ermitteln lassen (Globorural, Grupo usou whatsapp para convocar „dia do fogo“
no Para; 25.8.).

Entwicklung der letzten Jahre

Natürlich sind Waldbrände am Rand des Amazonasgebiets und in
der angrenzenden Savannenlandschaft (Cerrado) speziell in der Trockenzeit
nichts Ungewöhnliches, haben sich jedoch durch bestimmte Umstände in den
letzten Jahren periodisch verstärkt. Zu beachten ist, dass normalerweise selbst
in der „Trockenzeit“ im Amazonasgebiet durchschnittlich mehr Regen fällt als in
unseren Breiten in den regenreichsten Monaten. Das Gebiet lebt einerseits vom
Abregnen der feuchten Luftmassen der äquatorialen Nord-/Südostpassatwinde, die
sich in der zweiten Jahreshälfte entsprechend abschwächen. Andererseits erzeugt
der Regenwald selbst ein Mikroklima, das auch in der Trockenzeit noch für
ausreichend Regen sorgt. In den Millionen-Jahren, in denen sich der Regenwald
gebildet hat, haben speziell die Regenwaldbäume aufgrund der nährstoffarmen
Böden die Fähigkeit zu enormem Wasserumsatz entwickelt. Zur Aufnahme von
Kohlendioxid und Abgabe von Wärme über Wasserdampf haben sie ein Kreislauf-,
Wurzel- und Porensystem entwickelt, das sie pro Tag 1000 Liter aus Bodenwasser
umsetzen und in die Atmosphäre abgeben lässt (die Bäume unserer Breitengrade
schaffen durchschnittlich um die 400 Liter). Dies senkt die Temperatur im
Waldgebiet (durch die über das Wasser dem Boden entnommene Wärmeenergie),
bewässert große Gebiete und sorgt durch die Sonnenabstrahlung der großen
Wolkenbänke (Albedo-Effekt) für einen zusätzlichen Klimaschutz.

Die schon bisher betriebene Abholzung hat messbare
langfristige Auswirkungen auf das regionale und globale Klima. Seit 1970 wurden
800.000 Quadratkilometer (von ursprünglich 4 Millionen) abgeholzt, mit einem
gemessenen Effekt von 0,6 Grad Erwärmung im Amazonasbecken. Die abgeholzten
Gebiete sind noch mal im Durchschnitt um 4,3 Grad wärmer, was bei
landwirtschaftlicher Nutzung wiederum gesteigert wird (ohne die Wirkungsweise
der Waldflora kann nur ein Bruchteil des Regenwassers im Boden gehalten werden,
der Großteil fließt ab). Die nährstoffarmen so gewonnenen Böden sind nach 4–5
Jahren zumeist unbrauchbar. Viele werden aufgegeben und versteppen (was den
Hunger nach immer neuen Abholzungen erklärt). Diese immer größeren Schneisen
des Cerrado in den Regenwald untergraben das Mikroklima in immer mehr Bereichen
des Waldes – und ab einer bestimmten Gesamttemperatur (beim heutigen Tempo wird
die Erwärmung bis 2050 seit 1970 um 1,5 Grad gestiegen sein) funktioniert die
„Wasserpumpe“ Baum in diesen Bereichen nicht mehr. Dann werden selbst
Regenwaldbäume zu leichter Beute von Funkenflügen und Wind. Nach
unterschiedlichen Modellen wird daher inzwischen von bestimmten „Kipppunkten“
des Waldsterbens im Amazonasbecken gesprochen. Seit langem wird davon
gesprochen, dass mit 40 % Verlust (relativ zur Größe 1970) ein Punkt
erreicht wäre, wo die Selbstregeneration und der Mikroklimaschutz
zusammenbrechen und der Wald als Ganzes bedroht ist (also der Region die
Versteppung drohen könnte). Inzwischen werden Modelle mit 20–25 %
diskutiert, die schon nahe an den heute erreichten 17 % Waldvernichtung
sind (https://advances.sciencemag.org/content/4/2/eaat2340).

Die Auswirkungen der Erreichung dieses Kipppunktes wären
nicht nur für das regionale Klima, und damit für die natürlichen Grundlagen der
Landwirtschaft in Südamerika, verheerend. Das Amazonasbecken enthält 40 %
des Weltbestandes an Regenwäldern und 10–15 % der globalen Biodiversität.
Vor allem aber ist der Regenwald auch eine riesige Kohlenstoffsenke: In der
Biomasse der Regenwälder steckt so viel Kohlenstoff, wie die Menschheit derzeit
in 10 Jahren verbrennt. In „normalen“ Jahren (ohne extreme Dürreereignisse) nimmt
der Amazonasregenwald etwa 1,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus der
Atmosphäre auf und wirkt damit der Erderwärmung durch Treibhausgase entgegen.
In den letzten Dürrejahren mit großen Brandereignissen, die seit den
2000er-Jahren im 5-Jahresrhythmus stattfanden (das letzte war 2015), kehrte
sich dies um. Dann bewirkt die Verbrennung der Kohlenstoffreservoirs des
Waldes, dass in so einem Jahr mehr Treibhausgase entstehen, als zur selben Zeit
von China und den USA zusammen hervorgebracht werden. Dabei sind diese
Dürreereignisse selbst ein Produkt des Klimawandels. Es lässt sich ein
Zusammenhang mit den El-Ninjo-Phänomenen nachweisen (die Erwärmung im
Ostpazifik führt zu einer Umkehr der Konvektionsströme über Südamerika, was zu
einer Abschwächung der für den Regenwald lebenswichtigen Passatwinde führt).
Entscheidend ist derzeit aber, dass in diesem Jahr dieses Wetterphänomen noch
nicht sein Maximum erreicht hat – dieses ist erst im nächsten Jahr
wahrscheinlich (die Auswirkungen können wir uns heute noch gar nicht
vorstellen!). Gerade dies zeigt deutlich, wie sehr menschengemacht das
derzeitige Ausmaß der Brandkatastrophe ist. Sollten die Vorhersagen für die
nächsten beiden Jahre stimmen und die brasilianische Politik sich nicht
grundlegend ändern, so wären die Auswirkungen auf den Regenwald und das
Weltklima beängstigend!

Reaktionen

Sehr zum Unmut von Bolsonaro ließ sich die Katastrophe in
Amazonien vor der Weltpresse und globalen Umweltverbänden nicht verbergen –
auch die Entlassung des Direktors der Satellitenüberwachung half nichts mehr,
nachdem die NASA diesem „Nestbeschmutzer“ auch noch in allen Punkten recht
gegeben hatte. Bolsonaros Politik steht jetzt weltweit am Pranger – und dies
ist angesichts der großen Exportpläne speziell des Agrobusiness keine gute Publicity.
Hatte man sich doch gerade durch das Mercosur/EU-Abkommen riesige Geschäfte mit
Fleisch und Tierfutter nach den zu erwartenden Zollsenkungen versprochen.
Sicherlich hat besonders der französische Präsident sein Herz für den Amazonas
speziell auch aufgrund der Bedenken seiner heimischen Agrarlobby entdeckt. Klar
ist jedoch, dass jetzt auch die brasilianische Agroindustrie „Maßnahmen“
fordert und erkennt, dass Bolsonaro ihrem Geschäft gerade schadet. In vielen
Punkten muss jetzt zurückgerudert werden. Der Einsatz der brasilianischen Armee
zur Brandbekämpfung muss jedoch auch als Element des inneren Klassenkampfes
verstanden werden.

Die Armee wirkt dort nicht nur als erweiterte Feuerwehr,
sondern als Unterstützung im Kampf gegen die dortigen „TerroristInnen“
(UmweltschützerInnen, Indigene, Landlose,…). Ebenso werden die „Hilfsaktionen“
aus Europa und den USA, besonders die zur „Wiederaufforstung“, sicher wieder
als „Entschädigung“ zum Verzicht auf weitere Brandrodungen eingesetzt werden.
Aus Deutschland und Co. sind diese PR-Aktionen vor allem als Instrumente zu
verstehen, das Mercosur-Abkommen in jedem Fall zu retten.

Trotz der großen Bekenntnisse zum Klimaschutz und der
Ermahnungen an den „bösen“ Bolsonaro wollen deutsche Industrie und Politik ihr
großes Brasiliengeschäft („ein unheimlich interessanter Zukunftsmarkt“ nach
einem Anlagefondsmanager, der der deutschen Bank nahesteht) nicht durch „so
etwas Nebensächliches“ in Frage stellen lassen. Hatten doch wichtige
VertreterInnen der deutschen Konzerne (von Daimler, VW, Bayer bis zur Deutschen
Bank) ihre unverhohlene Unterstützung für Bolsonaro schon vor dessen Wahl zum
Ausdruck gebracht. Auch gegenseitige Besuche von WirtschaftsvertreterInnen nach
der Wahl zeigen deutlich, dass man gegenseitig große Geschäfte und
Investitionen erwartet. Dazu passt dann auch, dass der SPD-Außenminister bei
seinem Besuch in Brasilien vor allem von Bolsonaros Bereitschaft zur
Zusammenarbeit gegenüber Venezuela sprach – aber kaum die semi-faschistische
Politik dieses Gangsters noch die sich abzeichnende Amazonas-Katastrophe
erwähnte. Da wurde selbst der CSU-Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung Müller deutlicher, als er den ökologisch bedenklichen Anstieg
von billigem Soja-Futtermehl aus den Amazonas-Brandregionen anprangerte.

Ablenkungsmanöver

Natürlich werden jetzt wieder vor allem „die
VerbraucherInnen“ in die Verantwortung genommen, die durch ihren Fleischkonsum
und Kauf billiger Agrarimporte die VerursacherInnen des Ganzen seien. Abgesehen
wird davon, dass die Preise auf den internationalen Agrarmärkten nur zum Teil
von den ErzeugerInnen bestimmt werden, sondern durch eine Kette von
MitprofiteurInnen von Lebensmittelkonzernen, Handelsketten bis zu
Warenterminbörsen. Verkannt wird auch die globale Dimension der beteiligten Märkte:
der Handelskrieg zwischen den USA und China führt gerade jetzt zu einem enormen
Anstieg der Nachfrage nach Soja und Fleisch aus Brasilien für China.
„Verhaltensänderungen“ einiger tausend MarktteilnehmerInnen aus europäischen
Mittelklassefamilien werden angesichts dieser Struktur der globalen Agrar- und
Rohstoffmärkte nichts bewirken – schon gar nicht angesichts der Schnelligkeit,
mit der auf die dramatische Situation des Regenwaldes reagiert werden muss. Es
ist eine billige Masche der eigentlichen VerursacherInnen, die Verantwortung
auf „die VerbraucherInnen“ abzuschieben, die dann auch noch durch das
Green-Washing von Produkten mittels fragwürdiger Ökolabels zur Kasse gebeten
werden.

Tatsächlich ist die Klimakatastrophe wie auch die Gefährdung
grundlegender Biotope ein klarer Fall von Marktversagen, von der Unmöglichkeit
in diesem System, solche Probleme über „den Markt“ (etwa durch
Zertifikatehandel, indirekte Steuern oder Produktbewertungen) zu lösen. Denn
der Markt ist nur die Vermittlung der eigentlich problematischen
Kapitalverwertungsinteressen, die – wie auch das brasilianische Beispiel zeigt
– die drohende ökologische Katastrophe wesentlich mit hervorbringen. Daher kann
dieser Katastrophe nur entgegengewirkt werden, wenn man radikal die Eigentumsfrage
stellt. Die genannten Probleme erfordern einen globalen Plan von
Wiederaufforstung bis zur systematischen Umstellung auf klimaneutrale
Produktion auch im Agrarsektor.

Perspektive

Natürlich ist auch die Durchsetzung eines solchen globalen
Planes angesichts des Zeithorizonts der Probleme und der erwiesenen Langsamkeit
globaler Klimapolitik keine Soforthilfe. Daher müssen heute die weltweiten
Umweltbewegungen im Zusammenkämpfen mit den sozialen Bewegungen vor Ort die
jeweiligen Staaten zu radikalen Maßnahmen zwingen. Im Fall von Brasilien heißt
dies: Enteignung der Agro- und Bergbaukonzerne, Agrarreform zur Umverteilung
des Großgrundbesitzes an die Bevölkerung auf dem Land und Entwicklung eines
Planes zur Wiederaufforstung des Regenwaldes sowie zu seiner ökologischen
Bewirtschaftung – alles unter Kontrolle der sozialen und ökologischen
Bewegungen, vor allem der LandarbeiterInnen und KleinbäuerInnen. Nein zu den
aus Massensteuern finanzierten „Geldfonds“ von G7, EU & Co., die nur wieder
in die Kassen der GroßgrundbesitzerInnen fließen werden. Stattdessen sollen die
imperialistischen Konzerne Steuern aus ihren Gewinnen für die Regenwaldprojekte
unter Kontrolle der armen Landbevölkerung zahlen! Nein zu jeder Unterstützung
von Bundesregierung und deutschen Konzernen für das Bolsonaro-Regime – es wird
keine Rettung des Regenwaldes ohne den Sturz dieses rechts und marktliberalen
Regimes geben! Daher: vor allem Unterstützung für die Bewegung zum Sturz von
Bolsonaro, die im Kampf gegen dessen sozialen und gesellschaftlichen Amoklauf
schon mehrere Generalstreiks durchgeführt hat! Sofortiger Abbruch der
Ratifizierung des Mercosur/EU-Abkommens, das den Interessen der deutschen
Konzerne in Brasilien wie auch dem der brasilianischen Agrarkonzerne in die
Hände spielt – und nie ein Mittel zur Bewahrung des Amazonasgebietes sein kann (wie
uns das die Bundesregierung verkaufen will)!

Alle diese Forderungen müssen von einer ernsthaften Bewegung
gegen den Klimawandel, wie es FFF beansprucht zu sein, aufgegriffen werden und
anstelle der verfehlten Strategie von Verbraucher-Kritik gestellt werden!
Machen wir Amazonastag am 5. September und Klimastreik am 20.
September zum Beginn einer globalen Bewegung zur Enteignung des Kapitals, das
als Ganzes diesen Planeten zerstört!




Solidarität mit dem Kampf der Bevölkerung von Jammu und Kaschmir

Erklärung der Revolutionary Socialist Movement, Pakistan, 10. August 2019, Infomail 1064, 11. August 2019

Am 5. August
präsentierte Amit Shah, Indiens Innenminister und gleichzeitig Präsident der
regierenden Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP), im Rajya Sabha
(Staatenversammlung; zweite Kammer), dem Oberhaus des indischen Parlaments,
einen Präsidentenbefehl zur Aufhebung von Artikel 370, einer
Verfassungsbestimmung, die dem Staat Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus
einräumte. Nach einer kurzen Debatte wurde die Resolution im Oberhaus mit einer
Mehrheit von 125 Stimmen gegen 61 angenommen.

Aufhebung von
Artikel 370

Im Unterhaus
(Lok Sabha; Volksversammlung; erste Kammer) wurde der Beschluss mit einer Mehrheit
von 367 Stimmen gegen 67 Stimmen gefasst. Artikel 370 gab der gesetzgebenden
Versammlung Jammus und Kaschmirs die Befugnis, eigene Gesetze in allen
Bereichen zu erlassen, mit Ausnahme von Fragen der Außenpolitik, der
Verteidigung und der Kommunikation, die bei Delhi blieben. Außerdem hatte der
Staat Jammu und Kaschmir das Recht auf eine eigene Verfassung und eine eigene
Flagge. Diese Verfassungsbestimmungen verpflichteten den indischen Staat, diese
Bestimmungen nicht ohne die volle Zustimmung beider Seiten zu ändern.

Mit der
Aufhebung von Artikel 370 wurde all dies jedoch beendet. Der Staat Jammu und
Kaschmir wurde seines Status der begrenzten Autonomie innerhalb Indiens
beraubt. Die von der BJP ausgearbeitete Resolution schlägt ferner vor, den
Staat in zwei Unionsterritorien aufzuteilen: erstens Jammu und Kaschmir und
zweitens Ladakh. Das bedeutet, dass die erstere ihre eigene gesetzgebende
Versammlung beibehalten und die indische Zentralregierung einen
(weisungsgebundenen) Gouverneurstatthalter ernennen wird, während Ladakh direkt
von Delhi aus regiert wird, d. h. es wird dort keine eigene gesetzgebende
Versammlung geben.

Darüber hinaus
wurde unter der Präsidialverordnung auch Artikel 35-A aufgehoben. Diese
Verfassungsbestimmung erlaubte es der Legislative des Staates Jammu und
Kaschmir zu definieren, wer die ständigen BewohnerInnen des Staates sind,
d. h. seine BürgerInnen. Dies war ein Gesetz aus der Zeit der
Maharadscha-Herrschaft vor 1947, nach dem einE Nicht-Kaschmiri nicht in den
Genuss der Bestimmungen für den Kauf von Land in Kaschmir und den Eintritt in
den Staatsdienst kommen konnte (Maharadscha: großer Herrscher/Fürst/König).
Nun, da Kaschmir keine eigene Verfassung mehr haben wird, muss es sich wie
jeder andere Staat an die indische Verfassung halten. Das bedeutet auch, dass
alle indischen Gesetze automatisch auf Kaschmiris anwendbar sind und Menschen
von außerhalb des Staates dort Immobilien kaufen können. Kurz gesagt, der Staat
Jammu und Kaschmir wurde zu einem Teil Indiens gemacht, indem man ihm seinen
Sonderstatus entzogen hat.

Bereits viele
Tage vor der Aufhebung von Artikel 370 war eine Situation ähnlich einem
Ausnahmezustand geschaffen worden, in der alle Nichtansässigen, TouristInnen,
StudentInnen und ArbeitsmigrantInnen in Kaschmir zur Ausreise gezwungen wurden.
In einer der ohnehin schon am stärksten militarisierten Zonen der Welt wurde
der Einsatz von Truppen erhöht. Die örtliche Polizei wurde aller Autorität
beraubt und entwaffnet, während alle Bildungseinrichtungen geschlossen und die
BewohnerInnen von Jugendherbergen vertrieben wurden. Darüber hinaus wurden
Internet-, Mobilfunk- und sogar Festnetztelefondienste eingestellt. Außerdem
wurde sogar die kaschmirische Führung im Dienste der indischen Staatsinteressen
unter Hausarrest gestellt, während die Führung der FreiheitskämpferInnen hinter
Gittern landete. Mehr als 500 Menschen sitzen in Haft, und es gab Berichte,
dass 50 DemonstrantInnenen getötet wurden, als sie versuchten, zu mobilisieren
und der Ausgangssperre zu trotzen.

In dieser
Situation kursieren alle möglichen Gerüchte, die eine Atmosphäre von Angst und
Chaos erzeugen.

Hindutva-Politik

All dies
geschieht natürlich im Rahmen der Hindutva-Politik von Narendra Modi. Hindutva
ist das neue Gesicht des indischen Kapitals, das versucht, sich China als
Wirtschafts- und Militärmacht anzugleichen. Die Modi-Regierung will die
Kriegshysterie fördern, damit einerseits jeder Widerstand und jede
Meinungsverschiedenheit im Namen des Vorwurfs der „Feindschaft gegenüber
Indien“ zerschlagen werden kann. Andererseits zielen solche Maßnahmen darauf
ab, indischen KapitalanlegerInnen die Möglichkeit zu geben, Kaschmir
auszubeuten und zu plündern. Sofort nachdem Kaschmir seines Sonderstatus
beraubt wurde, hat die KapitalistInnenklasse auf beiden Seiten der Grenze
Gefühle von Hass und Kriegshysterie verbreitet.

Auf der einen
Seite der Grenze wird die aktuelle Entwicklung als Sieg für die Modi-Regierung
wahrgenommen. In Pakistan hingegen sieht die KapitalistInnenklasse, die mit
einer schweren Wirtschaftskrise konfrontiert ist, ihren einzigen Ausweg
ebenfalls im Schüren von Kriegshysterie. Die aktuelle Entwicklung hat die
beiden Atommächte in Konfliktstellung gebracht. Sollte jedoch tatsächlich ein
Krieg stattfinden, würde der größte Preis dafür von der einfachen Bevölkerung
getragen werden, insbesondere von Kaschmiris, die seit 70 Jahren die Hauptlast
der Politik der beiden Länder getragen haben.

Dennoch hat die
aktuelle Situation auch die Chancen für einen neuen Kampf geschaffen. Dieser
neue Kampf würde einerseits der barbarischen Besetzung kaschmirischer Länder
und der Massaker durch Indien entgegenstehen und andererseits auch die Rolle
des pakistanischen Staates, der seine eigene Hegemonie in der Region haben
will, in Verbindung mit der Politik des pakistanischen Staates in seinen
besetzten Gebieten, den so genannten Asad Kaschmir (teilautonomes
pakistanisches Gebiet) und Gilgit-Baltistan (Nordregion; pakistanisches
Sonderterritorium unter Bundesverwaltung), die die Region in zwei Teile
zerrissen hat, deutlich machen.

Fragen neuer
neuen Bewegung

Es ist sehr
wahrscheinlich, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine neue Bewegung entstehen wird,
die die Selbstbestimmung Kaschmirs zum Ziel hat und alle Nationen im Staat
Jammu und Kaschmir zu einer Unabhängigkeitsbewegung zusammenführt. In diesem
Zusammenhang sind einige Dinge zu berücksichtigen, sollte eine solche Bewegung
ausbrechen. Die Grundlage dieser Bewegung muss dringend säkular sein, um die
Spaltungen zu überwinden, die durch hinduistische versus muslimische politische
Ideologien hervorgerufen werden, und zweitens sollte die Bewegung keine
Illusionen in irgendeinen der umliegenden Staaten oder in die imperialistischen
Mächte wie die USA oder China haben. Alle diese Mächte hegen ihre eigenen
egoistischen Interessen und jede Zusammenarbeit mit ihnen im Namen der Lösung
des Konflikts in Kaschmir kann verheerende Folgen für die dortige Bevölkerung
haben.

Die Vereinten
Nationen sind in Wirklichkeit auch eine Institution, die über ihren
Sicherheitsrat stets die imperialistischen Interessen schützt, wo immer diese
DiebInnen sich einigen können. Andernfalls ist dieses Gremium gelähmt und tut
nichts. Das kaschmirische Volk ist sich bewusst, dass die UNO in den letzten 72
Jahren der Besetzung und Teilung des Landes durch Indien und Pakistan praktisch
akzeptiert hat, anstatt den Konflikt zu lösen und ein Referendum abzuhalten,
wie 1948 versprochen wurde. Stattdessen müssen die Bewegung und ihre Führung
direkt an die Massen der ArbeiterInnenklasse in Indien und Pakistan appellieren,
sich für Klassensolidarität einzusetzen.

Im Gegensatz zu
dem, was in den pakistanischen Mainstream-Medien präsentiert wird, genießt die
Hindutva-Ideologie nicht in allen Bereichen der indischen Gesellschaft
Anerkennung. Stattdessen haben sich Organisationen von StudentInnen, Frauen und
ArbeiterInnen gegen diese Politik der BJP-geführten Regierung gestellt. Anstatt
das Recht auf Selbstbestimmung für Kaschmir und den Abzug der indischen Truppen
aus dem Staat zu fordern, haben sich die Hauptströmungen der indischen Linken
weitgehend gegen die Aufhebung von Artikel 370 ausgesprochen, weil sie die
Entwicklung als Bedrohung für die indische Verfassung und den Säkularismus
sehen.

Anstatt sich der
indischen Besatzung und Kolonisierung der Region als Verletzung des Grundsatzes
des Rechts auf Selbstbestimmung zu widersetzen, verteidigt die Linke de facto
diese Kolonisierung, indem sie sich auf Kaschmir als einen integralen
Bestandteil des indischen Staates bezieht. Und das, obwohl die indischen
Streitkräfte seit Jahrzehnten die schlimmsten Gräueltaten gegen das
kaschmirische Volk verüben, lange bevor Artikel 370 widerrufen wurde.

In den von
Indien besetzten Gebieten Jammu und Kaschmir sind durch die Auferlegung einer
Gouverneursherrschaft durch Narendra Modi trotz Medienberichterstattungsverbot
und Ausgangssperre Proteste junger Menschen ausgebrochen. Einige
DemonstrantInnen wurden getötet und jede Art von demokratischer Aktivität wird
durch den Einsatz von nackter Gewalt und Angst unterdrückt. Die Zahl der Proteste
wird in den nächsten Tagen wahrscheinlich zunehmen und der indische Staat wird
jede erdenkliche Methode anwenden, um die Bewegung zu zerschlagen. Wir haben in
der Vergangenheit gesehen, wie Delhi zu Massenverhaftungen, Folter, Massakern
und Vergewaltigungen gegriffen hat, um viele Arten von Kämpfen zu zerschlagen.
Die kaschmirische Bewegung muss auf solche Repressionen vorbereitet sein und
sich bewaffnen, um die Bewegung gegen militärische Barbarei und Unterdrückung
zu verteidigen.

Alle wirklich
demokratischen und arbeitenden Kräfte müssen verlangen:

  • Das Ende der Besetzung des Staates Jammu und Kaschmir!
  • Den Abzug aller Streitkräfte der Teilungsmächte, einschließlich der paramilitärischen Polizei, aus dieser Region.
  • Freilassung aller politischen Gefangenen und inhaftierten DemonstrantInnen.
  • Aufhebung aller Beschränkungen der demokratischen Freiheiten wie der Versammlung, der Medien usw.
  • Anerkennung des souveränen Status von vor 1947 für ganz Jammu und Kaschmir.

Die Bildung von
Nachbarschafts- und Betriebskomitees ist eine wichtige Aufgabe, sowohl um den
Widerstand zu mobilisieren als auch, sobald die Bedingungen es zulassen, um
Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung durchzuführen, die
über die Zukunft des Staates Jammu und Kaschmir nach den Wünschen der
Bevölkerung der Region entscheiden soll. Darüber hinaus muss der Kampf für ein
sozialistisches Kaschmir Teil eines Kampfes für ein sozialistisches Südasien
werden. Auf dem Weg zu diesem Ziel ist es die Pflicht und im Interesse aller
unterdrückten Nationen und der ArbeiterInnenklasse, in voller Solidarität mit
dem Kampf für die Freiheit Kaschmirs zu stehen. Hier ist die Rolle der
indischen ArbeiterInnenklasse, die im Januar einen 150 Millionen starken
eintägigen Generalstreik durchgeführt hat, entscheidend.