Deutsche Wohnen, Vonovia & Co.: Enteignung – ja klar! Entschädigung – nein danke!

Martin Suchanek, Neue Internationale 236, April 2019

Die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co.
enteignen“ hat schon jetzt wie eine Bombe eingeschlagen. Noch bevor die erste
Unterschrift gesammelt ist, bringen sich alle Kräfte des politischen und
wirtschaftlichen Establishments in Stellung.

Die Forderung nach Enteignung oder Vergesellschaftung aller
gewinnorientierten Konzerne, die in der Stadt über mehr als 3.000 Wohnungen
verfügen, ruft die VerteidigerInnen des Privateigentums auf den Plan. Dass es
Wohnungsnot und eine massive Steigerung der Mietpreise in Berlin und anderen
städtischen Ballungsgebieten gibt, bestreiten zwar auch die KritikerInnen der
Initiative nicht. Doch drohende Eingriffe in das Privateigentum oder gar die
Enteignung ganzer Unternehmen – beides rein juristisch betrachtet sogar nach
Grundgesetz und Berliner Landesverfassung zulässig – werden von CDU, FDP und
AfD mit allen möglichen „Argumenten“ madig gemacht.

Markt statt Enteignung?

So wittert der FDP-Politiker Sebastian Czaja in der
„Verzögerung und Verhinderung innerstädtischer Verdichtung“ eine Hauptursache
der Berliner Probleme. Es müsse eben mehr und höher hinaus gebaut werden, so
der weise Ratschlag. Dann würden, wenn dereinst das Angebot die Nachfrage
übersteigt, die Mieten wieder sinken. Schön für alle, die es solange schaffen,
bei rasant steigenden Wohnungskosten nicht in die Außenbezirke umsiedeln zu
müssen.

Die Wohnungsnot müsse, wie von einem treuen Anhänger des
freien Marktes nicht anders zu erwarten, mit noch mehr Markt überwunden wurden.
So gelte es, „den Weg zu Wohneigentum durch Senkung der Grunderwerbssteuer
fördern.“ Die GroßinvestorInnen sagen herzlich Danke.

Ähnlich Burkard Dregger von der CDU: „Gegen Wohnungsnot
helfen nur gemeinsame Anstrengungen, auch der Baugenossenschaften und privaten
Wohnungsbaugesellschaften.“ Für den Mann ist nicht nur die Enteignung
Teufelszeug, sondern selbst der Rückkauf privatisierter Wohnungen oder
Wohnungsbaugesellschaften, wie von der Berliner SPD favorisiert. Schließlich
soll lt. FDP und CDU wie auch der gesamten Immobilienbranche am Ende eben mehr
und nicht weniger privatisiert werden. Die hohe Miete sichert schließlich die
Rendite.

Im kapitalistischen Chor darf schließlich auch die AfD nicht
fehlen. Deren Abgeordneter Harald Laatsch weiß schließlich: „Für Mieter ist es
weitgehend unerheblich, wer Eigentümer ihrer Wohnung ist.“ Dafür würden
„Wohlstand und Altersversorgung durch Eigentumsbildung verbessert werden.“
Stimmt – wenn auch nur für die AktionärInnen der Wohnungskonzerne, denen er
beherzt beispringt:

„Nun erleben wir die Wiederkehr des sozialistischen
Gedankens. Linke Parteien und Aktivisten wollen ein neues Experiment auf Kosten
der Allgemeinheit.“

Privatisierung ruiniert MieterInnen

Dabei wollen offen bürgerlichen Parteien vor allem eins: die
Fortsetzung eines „Experiments“, dessen Kosten für die Allgemeinheit längst
bekannt sind.

Die Privatisierung im Wohnungssektor hat hunderttausende
MieterInnen spekulativen Wohnungsbaukapitalien ausgesetzt, die auf eine
schnelle Rendite setzen. Die Deutsche Wohnen (DW) hat es in Berlin zur
Marktführerin auf diesem Gebiet gebracht. Mehr als 100.000 Wohnungen befinden
sich in ihrer Hand. Steigende Mieteinnahmen – bei der DW im Jahr 2018
bundesweit 3,4 %, in Berlin sogar 3,6 % – tragen maßgeblich zur
Gewinnsteigerung bei. 2018 konnte der Konzern den operativen Gewinn auf 480
Millionen Euro steigern, was einer Zunahme von 11 Prozent gegenüber 2017
entspricht. Und das soll längst nicht das Ende der Fahnenstange sein.

Die Rendite für wenige entspricht den Mietpreiserhöhungen
für viele. In Berlin wurden zwischen 1995 und 2006 über 200.000 kommunale
Wohnungen privatisiert (davon rund die Hälfe unter dem rot-roten Senat). Die
Angebotsmiete stieg zwischen 2008 und 2015 um durchschnittlich 60 %, in
Ortslagen wie Neukölln und Kreuzberg um 100 %!

Geht es nach der bürgerlichen Opposition im Berliner
Abgeordnetenhaus, soll noch Öl ins Feuer gegossen und die private
Wohnungsspekulation weiter angeheizt werden.

Und der Senat?

Der einzig richtige Vorwurf dieser HalsabschneiderInnen an
den Senat und die Regierungsparteien besteht darin, dass diese selbst keine
Antwort auf die Wohnungsnot haben. Kein Wunder, denn der Senat laviert zwischen
den berechtigten Forderungen der MieterInnen einerseits und dem Druck des
Kapitals andererseits. Ersteren wird eine Nachbesserung der Mietpreisbremse,
ein Rückkauf der privatisierten Wohnungen und ein Wohnungsbauprogramm, vor
allem der Neubau von Sozialwohnungen, versprochen. Doch all das gleicht einem
Flickwerk, das hinter den eigentlichen Anforderungen ständig zurückbleibt.

Schließlich will es sich der Senat, vor allem SPD und Grüne,
mit der Bauwirtschaft, den Wohnungskonzernen und dem Finanzkapital nicht
verscherzen. Wie leicht, schnell und willfährig die Berliner Koalition vor
diesem Druck einknickt, verdeutlichte gleich am Beginn ihrer Amtsperiode die
Verleumdungskampagne gegen den linken Staatssekretär Andrej Holm, der innerhalb
weniger Wochen von „seiner“ Regierung bereitwillig geopfert wurde.

Zum richtigen Zeitpunkt

Vor diesem Hintergrund wird der Erfolg von „Deutsche Wohnen
& Co. enteignen“ verständlich. Die Initiative kam zum richtigen Zeitpunkt.
Hunderttausende MieterInnen wissen, dass es leider doch einen Unterschied
macht, ob man bei einem profitorientierten Wohnungskapital oder bei einer
kommunalen Wohnungsgesellschaft wohnt – z. B. wenn sie den/die längst
eingesparte/n HausmeisterIn suchen oder bei einer dringend notwendigen
Reparatur tagelang vom Callcenter vertröstet werden.

Mittlerweile haben sich zahlreiche MieterInnenkomitees in
Häusern privater Konzerne gebildet oder Vollversammlungen ihre Unterstützung
für „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ erklärt. Die Initiative hat schon
jetzt, vor Beginn der eigentlichen Unterschriftensammlungen für einen
Volksentscheid eine reale Massenbasis aufgebaut – und ein weiterer Zustrom ist
abzusehen.

Dies ist auch der Grund, warum die SPD nun in der
Wohnungsfrage etwas linker blinkt und auf Rückkauf privatisierter
Wohnungsgesellschaften als Alternative zur Enteignung setzt. Die Grünen stehen
dem Volksbegehren, das schließlich in einen Volksentscheid münden soll,
positiver entgegen. Die Linkspartei hat auf ihrem letzten Landesparteitag die
Unterstützung von „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ beschlossen und
präsentiert die Initiative fast schon als ihre eigene Idee – nicht zuletzt
auch, um von ihrer eigenen unrühmlichen Vergangenheit bei der Privatisierung
zehntausender Wohnungen abzulenken.

Unabhängig davon sollte die Initiative von allen Linken, Anti-KapitalistInnen
und RevolutionärInnen unterstützt werden – nicht nur durch das Sammeln von
Unterschriften, sondern auch durch das Aufbauen von MieterInnenkomitees und
demokratischen Basisstrukturen der Kampagne.

Pferdefüße

Das darf jedoch nicht über mehrere politische Schwächen und
Pferdefüße der Initiative hinwegtäuschen, die offen diskutiert und gelöst
werden müssen. Wir schlagen dazu eine Berliner Aktionskonferenz vor, die nicht
nur unten angesprochene Fragen besprechen, sondern dazu auch verbindliche
Beschlüsse fassen soll.

Die Frage der Beschränkung der Enteignungsforderung auf
Konzerne mit mehr als 3.000 Wohnungen

Wie auch alle Beteiligten an der Initiative zugeben, ist
diese Höhe letztlich willkürlich. Im Grunde sollte es darum gehen, alle Konzerne,
die private Wohnungen zu Bereichungszwecken, also als Wohnungskapital nutzen,
zu enteignen. Deren ganzes Geschäftsmodell beruht darauf, rasch Rendite zu
machen und die Interessen ihrer AktionärInnen zu befriedigen. Ein solches
Modell ist nur machbar durch eine stetige Steigerung der Mieten, mit jeder auch
nur beschränkt „sozialen“ Wohnungspolitik ist es letztlich unvereinbar

Die Höhe der Entschädigung

Die Instrumente Volksbegehren und Volksentscheid sind selbst
in einen recht engen gesetzlichen Rahmen gezwängt – erst recht, wenn es dabei
um finanzielle Fragen geht, die den Haushalt oder das in der bürgerlichen
Gesellschaft höchste aller Rechte, das Eigentumsrecht betreffen. Daher sind
Enteignungen großer Unternehmen selbst gegen Entschädigung so selten. (Anders
ist das natürlich, wenn es sich um die Entschädigung von Kleineigentum im
Interesse des „Gemeinwohls“ handelt, als z. B. die Unternehmen der
ehemaligen DDR via Treuhand v. a. an das deutsche Großkapital übergeben
wurden).

Die Initiative sieht sich nun mit dem Problem konfrontiert,
dass eine entschädigungslose Enteignung wenigstens rechtlich umstritten ist und
leicht den Vorwand liefern kann, das Volksbegehren zu stoppen.

Daher findet dort eine Diskussion über die Höhe einer
möglichen Entschädigung statt. Der Senat und die Immobilienwirtschaft haben
ihrerseits erkannt, dass in diese Frage eine Chance besteht, die
Enteignungsforderung in den Augen der Bevölkerung zu diskreditieren.

Eine „amtliche Kostenschätzung“ des Berliner Senates geht
davon aus, dass die Enteignung von DW & Co. zwischen 28,8 und 36 Milliarden
Euro kosten würde. Dem liegt der aktuelle Marktwert zugrunde.

SprecherInnen des Bündnisses halten dagegen, dass dies ein
weit überhöhter Preis wäre, weil die Spekulation selbst den Marktwert
gesteigert habe. Damit ließe DW sich ihre überhöhten Mieten im Falle einer
Enteignung gewissermaßen noch einmal auszahlen. Aber auch andere „gerechtere“
Modelle gehen noch von 7,3 bis 13,7 Milliarden Euro aus.

Die Zahlen von 28–36 Milliarden wurden zweifellos bewusst
und als Steilvorlage für die Berliner Immobilienlobby lanciert, die diese auch
freudig aufgreift.

So erklärt der Verband der Berlin-Brandenburgischen
Wohnungsunternehmen (BBU): „Die Kosten würden einen gesamten Jahreshaushalt
übersteigen und wären mehr als das Sechsfache der bisherigen BER-Baukosten.“
Ein solches Desaster müsse verhindert werden, indem EigentümerInnen
EigentümerInnen bleiben.

In jedem Fall wird aber deutlich: Die Milliardensummen
müssten aus dem Berliner Haushalt, der jährlich rund 29 Milliarden beträgt,
also aus Steuern und das heißt vor allem aus denen von Lohnabhängigen bezahlt
werden. So soll ein politischer Spaltkeil zwischen Initiative und ArbeiterInnen
getrieben werden.

Zum anderen werden die Entschädigungshöhen in jedem Fall
dazu führen, dass es zu einer Klagewelle kommt. Die „Schuldenbremse“ wird
bemüht werden, um einen etwaig erfolgreichen Volksentscheid für illegal zu
erklären.

Schließlich wird der Druck dazu genutzt werden, im
Abgeordnetenhaus ein Enteignungsgesetz zu verwässern und auf die lange Bank zu
schieben, denn der Volksentscheid bedeutet selbst bei einer überwältigenden
Mehrheit noch lange nicht, dass er auch umgesetzt werden muss, da er das
Abgeordnetenhaus nur zur Formulierung eines Gesetzes verpflichtet, nicht jedoch
dessen konkreten Inhalt festschreibt.

Enteignung – ja, Entschädigung nein!

Unserer Meinung nach kann dieses Problem nur gelöst werden,
indem wir eine Entschädigung kategorisch ablehnen. Allenfalls kann, um
rechtlichen Vorgaben zur Durchführung der Volksbegehrens und später des
Volksentscheids Genüge zu tun, eine rein symbolische Entschädigung von einem
Euro versprochen werden.

Der Grundsatz sollte jedoch klar sein: Die Kapitale, die
sich ohnedies schon an den MieterInnen bereichert haben, sollen nicht
aufgekauft, sondern ihre Wohnungen entschädigungslos enteignet und unter
Kontrolle von MieterInnenkomitees kommunal verwaltet werden.

Damit würden wir erstens eine politische Flanke schließen.
Es wäre unmöglich, die MieterInnen gegen lohnabhängige SteuerzahlerInnen
auszuspielen. Es wäre – gewissermaßen als Nebeneffekt – auch unmöglich, die
Enteignung mit dem Hinweis auf deren hohe Kosten für den Haushalt in Frage zu
stellen.

Politisch würde also die Initiative klarer argumentieren
können.

Plan B notwendig

Zum anderen kann natürlich niemand bestreiten, dass die
Weigerung, eine „angemessene“ Entschädigung an die Immobilienhaie zu zahlen, zu
einer rechtlichen Auseinandersetzung um die Legalität eines Volksentscheides
führen kann.

Aber zu einer solchen Auseinandersetzung wird es
wahrscheinlich ohnedies kommen. Es wäre doch recht verwunderlich, wenn DW,
Vonovia & Co. eine Enteignung in Berlin zuließen, ohne die Gerichte
anzurufen und notfalls jahrelang dagegen zu prozessieren.

Hinzu kommt, dass es nur einen Zusammenbruch bzw. eine
Abwahl des gegenwärtigen Senats und andere parlamentarische Mehrheiten braucht
– und schon wäre jede legale Umsetzung wahrscheinlich auf parlamentarischer
Ebene gekippt oder zumindest in Frage gestellt.

In jedem Fall müssen wir damit rechnen, dass eine
„einfache“, legale Enteignung der großen Unternehmen nicht einfach aufgrund des
Drucks hunderttausender Unterschriften stattfinden wird. So „legal“ und
„verfassungskonform“ kann die Initiative nicht sein, weil die Frage letztlich keine
rechtliche, sondern eine des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ist – und
daher auch nur mittels Mobilisierung von Klassenkräften gelöst werden kann.

Daher tut die Initiative gut daran, sich strategisch und
taktisch folgendermaßen zu orientieren: Das Volksbegehren für den späteren
Volksentscheid, also das Sammeln der Unterschriften zum Erreichen dieser
zweiten Stufe sollte vor allem als politisches Mobilisierungsinstrument und
Mittel zur Sammlung und Organisierung von UnterstützerInnen begriffen werden.

Entscheidend ist jedoch, dass damit eine Bewegung aufgebaut
wird, die (a) die Komitees zum Sammeln von Unterschriften, MieterInnenkomitees,
Vollversammlungen usw. als Kampfinstrumente für weitergehende Aktionen versteht
(z. B. Massenproteste der MieterInnen, Besetzungen von Büros der DW …,
organisierten Mietenboykott) und (b) sich über Unterzeichnungskampagnen in den
Betrieben, Gewerkschaften, Büros, Unis, Schulen zu verbreitern sucht. Letztlich
geht es darum, die Mietenfrage auch in gewerkschaftliche und betriebliche
Auseinandersetzungen zu tragen – z. B. indem Mietsteigerungen durch
angemessene zusätzliche Lohnerhöhungen kompensiert werden und letztlich, indem
die Forderung nach entschädigungsloser Enteignung auch mittels politischer Streiks
stark gemacht und ihre Einlösung erzwungen wird.

Auf diese Art könnte die Initiative ihr volles Potential im
Kampf für ein radikales, Wohnungsprogramm entwickeln, das den Kampf gegen
Mietwucher und Wohnungsnot mit dem gegen das kapitalistische System verbindet.




Fridays for Future – Systemwechsel statt Klimawandel!

Jan Hektik, Neue Internationale 236, April 2019

Hunderttausende SchülerInnen streiken und demonstrieren
Freitag für Freitag weltweit gegen die drohenden, katastrophalen Folgen des
Klimawandels. Allein am 15. März, dem bislang größten internationalen
Aktionstag, beteiligte sich über eine Million Jugendliche in mehr als 100
Ländern. Allein in Deutschland hatten rund 300.000 Besseres zu tun, als in die
Schule zu gehen. In zahlreichen anderen europäischen Hauptstädten waren
Zehntausende auf den Beinen: 50.000 in Paris, 30.000 in Brüssel, 25.000 in
Berlin.

Die Dynamik und die Stärken der Bewegung, ihr unglaubliches
Potential liegen auf der Hand. Erstens greift sie ein reales Menschheitsproblem
auf, eine der großen Überlebensfragenfragen des 21. Jahrhunderts. Zweitens
agiert die Bewegung als internationale, grenzübergreifende Kraft.

Entstehung

„Fridays for Future“ entstand um die Aktivistin Greta
Thunberg, die sich sehr medienwirksam gegen den Klimawandel ausgesprochen hat
und PolitikerInnen regelmäßig zum entschiedenen Handeln auffordert. Ihre
Initiative stieß, sicherlich für viele überraschend, weltweit auf Widerhall.
Seit Monaten ist sie ständig angewachsen mit einem vorläufigen Höhepunkt am 15.
März. Weitere bundesweite und internationale Aktionstage sind geplant, der
nächste am 26. April. Außerdem ist für den 27. September ein weltweiter
Generalstreik (Earth Strike) gegen Klimawandel im Gespräch.

Damit übertrifft sie schon jetzt die Bildungsstreikbewegung
vor einigen Jahren, die in Deutschland auf ihrem Höhepunkt 200.000 bis 300.000
SchülerInnen und Studierende mobilisierte.

Die großen Proteste sind von einer starken Neugier und einem
Willen gekennzeichnet, die Welt mit dem Wissen zu verändern, dass es bald zu
spät sein könnte.

Damit bietet sie unglaubliche Potentiale, vor allem, weil
die führenden bürgerlichen PolitikerInnen in der Zwickmühle stecken. Einerseits
sind die Ängste der Fridays-for-Future-Bewegung gut begründet. Nur fanatische
und phantastische Rechte wie Trump oder die AfD können sie als „Klimaschwindel”
oder Panikmache abtun – und zeigen damit einmal mehr, welches Sicherheitsrisiko
diese Leute für die Menschheit darstellen.

Der Mainstream der bürgerlichen Politik hingegen hat
erkannt, dass die Bewegung breit aufgestellt ist, so dass man sie nicht einfach
diffamieren kann. Dabei spielen Kanzlerin Merkel oder Umweltministerin Schulze
ein doppeltes Spiel. Einerseits sehen sie sich gezwungen, sich positiv auf die
Bewegung zu beziehen, andererseits müssen sie aber auch dafür sorgen, dass sie
folgenlos bleibt. Schließlich soll der Klimaschutz die heiligen Profite der
deutschen Energie- und Autoindustrie nicht gefährden. Schließlich sollen die
Kosten für die Klimakatastrophe und etwaige Reparaturmaßnahmen nicht die
Konzerne, sondern die Masse der Bevölkerung zahlen. Nicht die  imperialistischen Mächte, die
HauptverursacherInnen der Umweltprobleme, sondern die ArbeiterInnen, BäuerInnen
und die Länder der sog. „Dritten Welt” sollen die Hauptlast bürgerlicher
„Umweltpolitik” schultern.

Eine Sache für Profis?

So versuchen sich PolitikerInnen wie Angela Merkel oder
Lindner in einem Spagat. Sie lösen das Problem wie folgt: Während sie sich für
die Ziele der Bewegung aussprechen, kritisieren sie das Fernbleiben von der
Schule und versuchen den Protest über die Thematisierung von Nebensachen zu
delegitimieren. So FDP-Vorsitzender Lindner: „Von Kindern und Jugendlichen kann
man aber nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das
technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen, das ist eine Sache für
Profis“.

Eine Sache für Profis also, Herr Lindner? Was haben diese
sogenannten Profis denn bitte in Sachen Klimaschutz in den letzten 50 Jahren
erreicht? Nichts! Diese Profis sind entweder nicht fähig oder nicht gewillt,
etwas zu ändern und wir haben keine Zeit mehr, darauf zu warten, dass auch VW
erkennt, dass man auf einem zerstörten Planeten niemanden findet, der Autos
kauft. Wir könnten einen Dreijährigen mit der Lösung dieser Aufgabe beauftragen
und er könnte nicht weniger Sinnvolles zum Klimaschutz beitragen als die
ExpertInnen und Profis des Herrn Lindner!

JedeR RevolutionärIn muss Fridays for Future gegen solche
bevormundenden und herabwürgenden Aussagen verteidigen!

Alleine der mediale Rummel um das „Schule Schwänzen“
verdeutlicht doch, dass der Schulstreik die richtige Entscheidung war. Was sind
ein paar Fehlstunden gegen die drohende Überschwemmung und Verwüstung eines
Großteils der Erdoberfläche? Auch ein Lindner müsste das einsehen. Oder geht es
ihm am Ende gar nicht darum, sondern um die Frage der wirtschaftlichen
Interessen? Betrachten wir seine Aussage noch einmal. Was ist eigentlich dieses
„Ökonomisch Machbare“? Ökonomisch machbar wäre es ja, z. B. durch die
Besteuerung der Reichen, der Industrie, des Großhandels und des Finanzkapitals
– also der HauptverursacherInnen der drohenden Klimakatastrophe – den Ausbau
des öffentlichen Nahverkehrs und des Fernverkehrs auf Schienen voranzutreiben
und deren Benutzung kostenlos zu machen.

Würde man alleine die großen Konzerne und die GroßvermögensbesitzerInnen
massiv besteuern, wären Milliarden und Abermilliarden verfügbar. Solche
Maßnahmen, die sich gegen das Kapital richten, gelten Herrn Lindner als
fleißigem Lobbyisten der Besserverdienenden freilich als „ökonomisch nicht
machbar”. Er ist nicht schlauer als die SchülerInnen, die jeden Freitag auf die
Straße gehen. Er und die gesamte bürgerliche Elite vertreten vielmehr ganz
andere Interessen, nämlich die all jener, die von einem Wirtschaftssystem
profitieren, das die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen zerstört, den
von Menschen verursachten Klimawandel in beängstigendem Tempo voranschreiten
lässt.

Kohlekommission und Konzerninteressen

Und um zu verdeutlichen, dass für die deutsche Regierung die
Interessen des Großkapitals wichtiger sind als die Frage der Umwelt, werfen wir
einen kurzen Blick auf die sog. Kohlekommission. Allein die Bewertungsmaßstäbe
machen schon deutlich, woher der Wind weht. Es werden hier folgende Maßstäbe
nebeneinander angesetzt: „Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit,
Wirtschaftlichkeit (Bezahlbarkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Energieinfrastruktur,
Planungs- und Rechtssicherheit.)

Das Ding ist jetzt aber Folgendes: Natürlich hat auch die
normale Bevölkerung ein grundsätzliches Interesse an Versorgungssicherheit,
Energieinfrastruktur und einer gewissen Planungs- und Rechtssicherheit. Aber de
facto sind dies alles Umschreibungen für die Frage der Wirtschaftlichkeit (=
Gewinnträchtigkeit, Profitabilität) aus Sicht der Konzerne. Die Stromversorgung
der Bevölkerung ist nicht gefährdet, wenn der Stromverbauch der Konzerne
verteuert wird, wenn Subventionen gestrichen werden, erst recht nicht durch
einen geplanten und gezielten Ausstieg aus umweltschädlicher Energieproduktion
(Kohle, Kernkraft). Im Gegenteil, die Wettbewerbsfähigkeit, die zunehmende
Konkurrenz und Marktwirtschaft, der Kampf um Profite führen zu größerer
Unsicherheit der Versorgung – und zugleich zu größerer Umweltunverträglichkeit.

Konkret hat die Kohlekommission den Ausstieg aus der
Braunkohleverstromung für 2 Jahrzehnte „gestreckt”, die Energiekonzerne
großzügig entschädigt – und das mit Zustimmung aller Regierungsparteien, aber
auch von Grünen, FDP und Naturschutzorganisationen wie NaBu und BUND!

Was wird gebraucht?

All diese Beispiele verdeutlichen, dass die Umweltfrage die
nach der Organisation der Wirtschaft aufwirft. Niemand kann leugnen, dass die
Rettung der Umwelt international geschehen muss, keine noch so grüne nationale
Wirtschaftspolitik kann erfolgreich sein. Weiterhin wirft es die Frage auf,
welche Interessen und Bedenken zu berücksichtigen sind. Für die deutsche
Regierung sind dies offensichtlich die Profite der Großkonzerne.

Dies zeigt vor allem eines: auch wenn die Linke sich immer
mehr von Klassenpolitik verabschiedet, die Regierung tut dies nicht! Und eine
Bewegung, welche die Klimakatastrophe stoppen will, muss sich deshalb auf
Klassenpolitik stützen. Die Verantwortlichen werden auf keine Apelle, Bitten
oder Ähnliches reagieren. Klimaschutz muss erkämpft werden – oder er wird nicht
stattfinden!

Hierfür wäre auch ein gemeinsamer Kampf von Fridays for
Future und anderer Umweltbewegungen mit den Gewerkschaften nötig. Um die Macht
der Konzerne zu brechen und eine vernünftige, an den Interessen der Masse der
Bevölkerung orientierte Politik durchzusetzen, braucht es nicht nur
Demonstrationen und befristete Streiks an Schulen und Unis. Wir brauchen
politische Massenstreiks, um die entschädigungslose Enteigung der
Energiekonzerne, der Großindustrie, des Verkehrswesens und anderer zentraler Teile
der Wirtschaft unter ArbeiterInnenkontrolle durchzusetzen. Nur so kann ein
nachhaltiger Plan zur Reorganisation der Produktion im Interesse von Mensch und
Umwelt durchgesetzt werden.

Gleichzeitig kann ein effektiver Klimaschutz nur
stattfinden, wenn auch Alternativen geschaffen werden. Ein ausgebauter
kostenloser öffentlicher Nahverkehr, die Verlagerung der Produktion nach der
Maßgabe, Transportwege zu kürzen, die Offenlegung der Geschäftsgeheimnisse und
Patente sind notwendige Maßnahmen, dies zu garantieren. Vor allem in der Frage
umweltfreundlicher Produktion ist der Kapitalismus mit seinen Patenten und der
Konkurrenz um Technologie, Marktanteile und Profite ein Hemmnis, welches
verhindert, dass die weltweite Produktion unter den technisch besten und
umweltfreundlichsten Bedingungen stattfinden kann.

Zweifellos muss für Reformen, erste Schritte und
unmittelbare Maßnahmen bereits im Kapitalismus gekämpft werden – eine
endgültige Lösung bietet jedoch nur eine weltweite demokratisch organisierte
Planwirtschaft.

Was fordert Fridays for Future?

Wenn es um die Frage des Kapitalismus, der Ursachen der
Umweltprobleme geht, zeigen sich jedoch auch die Schwächen von Fridays for
Future, die wir überwinden wollen und müssen.

Zur Zeit sehen wir wenig davon in der Bewegung. Viele der
Aktionen und Demonstrationen beschränken sich auf Appelle an „die
PolitikerInnen“, die Parlamente, Regierungen und internationale
Institutionen  wie EU, UNO.
Politisch betrachtet entspricht das der Politik der Grünen!

Die Entscheidungen in Fridays for Future werden überwiegend
von Mitgliedern der Grünen, des BUND, des NaBu, von Greenpeace oder anderen
NGOs getroffen. Ein Bündnis mit den Gewerkschaften oder überhaupt einen Bezug
auf die ArbeiterInnenklasse streben diese Kräfte nicht an und die Führung von
Fridays for future versucht mit Flyerverboten und gezieltem Vorziehen der
NGO-Mitglieder auf Ortsgruppentreffen die Kontrolle über die Bewegung zu
behalten.

Diese undemokratische und ausgrenzende Politik stößt auch
bei vielen AktivistInnen auf Unmut. Damit dieser nicht verpufft, treten wir für
demokratische Strukturen für alle UnterstützerInnen von Fridays for Future, für
eine offene politische Diskussion über die Strategie und Zukunft der Bewegung
ein.

Zur Zeit ist die Bewegung zwar von linksbürgerlichen und
kleinbürgerlichen Kräften geführt. Aber das muss nicht so sein. Die Grünen
haben in den letzten Jahren immer wieder bewiesen, dass ihre Umweltpolitik vor
allem kapitalverträglich sein soll. Heute betrachten sie die Bewegung als
Mittel, möglichst viele Stimmen bei den EU-Wahlen abzugreifen und geben sich
als UnterstützerInnen der Bewegung. Doch gestern erst haben sie dem
Kohlekompromiss zugestimmt. Nach dem Ende der Großen Koalition im Bund bilden
sie womöglich mit CDU/CSU die nächste Regierung. Solche Kräfte dürfen nicht
bestimmen, wer welche Fahne bei den Demos trägt und welche politische Richtung
sie einschlägt.

Von einem Kampf gegen den Kapitalismus wollen die Grünen und
die NGOs längst nichts mehr wissen. Diese Politik steht letztlich im
Widerspruch zu den Interessen von Millionen aktiven Jugendlichen.

Daher treten wir für eine klassenkämpferische,
antikapitalistische Perspektive ein und tragen diese in die Bewegung. Alle
Kräfte, die das auch wollen, sollten sich dazu zusammenschließen, um Fridays
for Future zu demokratisieren, Basisstrukturen an den Schulen aufzubauen und
aktiv Bündnisse mit den Gewerkschaften zu suchen. In Ländern wie Belgien und
Frankreich haben Gewerkschaften zu den Streiks aufgerufen – das brauchen wir
auch in Deutschland!

Denn wenn wir den Klimawandel wirklich stoppen wollen,
dürfen wir nicht nur seine Auswirkungen bekämpfen, wir müssen seine Ursache
angehen – und die heißt Kapitalismus!

Systemwechsel statt Klimawandel!

  • Entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung der Energiekonzerne und ihrer Netze unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Organisierter Ausstieg aus der Stromerzeugung mittels hergebrachter atomarer Kernspaltung und Verbrennung von fossilen Energieträgern! Weiterbeschäftigung der Kraftwerksbeschäftigten zu gleichen Löhnen und Bedingungen!
  • Einheitlicher Tarif für alle Beschäftigten in dieser Branche (Kohle, Atom, Windenergie etc.)!
  • ArbeiterInnenkontrolle über Betrieb, Planung und Forschung unter Hinzuziehung von ExpertInnen, die das Vertrauen der Klasse genießen!
  • Offenlegung der Geschäftsgeheimnisse, nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der technischen (Patente…) und damit Aufhebung der Konkurrenz darum!
  • Weg mit den Rezepten des „grünen“ Kapitalismus und dem EEG-Flickwerk (Zertifikate, Ökosteuer, EEG-Umlage, Stromsteuer)! Finanzierung des Kohleausstiegs durch progressive Steuern auf Einkommen, Vermögen und Gewinne statt indirekter Massensteuern!
  • Energiewende heißt: integrierter Plan, der auch Verkehr, Landwirtschaft und Industrie umfasst, nicht nur den Stromsektor!
  • Für ein Forschungsprogramm, bezahlt aus Unternehmensprofiten zur Lösung der EE-Speicherproblematik!
  • Für einen rationalen Verkehrsplan! Ausbau des ÖPNV statt der Sackgasse Elektro-PKW! Güter und Menschen bevorzugt auf die Schiene!
  • Weltweiter Plan zur Reparatur der Umweltschäden und Angleichung der Lebensverhältnisse!



Algerien: Ein Volksaufstand gegen das alte Regime

Mo Sedlak, Neue Internationale 236, April 2019

Es gibt
Marionettenregierungen, und dann gibt es Abd al-Aziz Bouteflika. Der algerische
Präsident kann seit einem Schlaganfall 2014 nicht mehr sprechen und ist ein
offensichtlich machtloses Feigenblatt der herrschenden algerischen Eliten.
Trotzdem wurde er am 22. Februar für eine fünfte Amtszeit aufgestellt. Dieser
Tropfen hat das Fass in Algerien zum Überlaufen gebracht: Seitdem gehen
Millionen auf die Straßen. Sie kämpfen gegen weit mehr als die mittlerweile
zurückgezogene Kandidatur, nämlich gegen extrem ungleich verteilten Reichtum
und eine kaum versteckte Diktatur von MilliardärInnen, ManagerInnen und
Militärs.

Charakter,
Erfolg, Aufgaben

Die
bisherigen Erfolge der algerischen Bewegung unterstreichen die zentrale Rolle
der ArbeiterInnen und Jugendlichen in sozialen und politischen Kämpfen. Die
Mehrheit der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Sie hatte die
Massendemonstrationen dominiert. Und obwohl Teile der Gewerkschaften der
herrschenden Nationalen Befreiungsfront FLN die Treue halten, wurde Bouteflikas
Kandidatur genau am 11. März zurückgezogen, nachdem die Kampagne für einen
Generalstreik immer mehr Fahrt aufnahm. Dafür wurden die Wahlen auf unbestimmte
Zeit verschoben, was die Bewegung weiter anstachelt.

Auch die
VeteranInnen der algerischen Befreiungsbewegung aus den 1960er Jahren
mobilisieren gegen die herrschende Ein-Parteien-Ordnung, die den Namen der
antikolonialen KämpferInnen, der FLN für sich beansprucht.

Aber auch
Teile der KapitalistInnen und des Staatsapparats haben sich von ihrer
ehemaligen Marionette distanziert. Kleine Gewerbetreibende nahmen am
Generalstreik am 22. März teil und der Armeechef verkündete, das Militär werde
auf Seiten der protestierenden Bevölkerung stehen. Das ist natürlich unrichtig
– die Freitagsdemonstrationen richten sich gegen das ganze herrschende System
aus OligarchInnen, ÖlmanagerInnen und Staatsapparat. Es zeigt aber, wie viel
Angst die Generalstreikforderung und die anhaltende Massenmobilisierung den Herrschenden
einjagt.

Die
Bewegung in Algerien ist ein Massenaufstand gegen ein System, das exemplarisch
für den kapitalistischen Imperialismus steht. Trotz der Weigerung der
Gewerkschaften und des Unvermögens der Linken, die Bewegung anzuführen, treiben
Jugendliche, ArbeiterInnen, Arme und unteres Kleinbürgertum den Kampf voran.
Mit ihren weitestgehend friedlichen Massendemonstrationen haben sie dem Regime
bereits Niederlagen zugefügt.

Gleichzeitig
fehlt eine Organisierung, die mehr als die Überwindung der himmelschreiendsten
Ungerechtigkeiten bringen kann. Die Gefahr besteht, dass die Bewegung wie in
Ägypten, Tunesien und Libyen in einem konterrevolutionären Rückschlag
vernichtet wird. Aber selbst wenn das nicht eintreten sollte, wird auch die
Einführung einer formaleren bürgerlichen Demokratie die Grundprobleme der
Bevölkerung nicht lösen. Für eine darüber hinausgehende Perspektive, in der die
Macht und der relative Reichtum im Land in den Händen der ArbeiterInnen liegt,
fehlt aber die Organisation, um sie umzusetzen. So eine Organisation zu
schaffen und den Aufstand nicht versanden zu lassen, ist heute die wichtigste
Aufgabe.

Die FLN

Die heute
herrschende FLN (Nationale Befreiungsfront) führte den Unabhängigkeitskampf
gegen Frankreich an, der 1962 gewonnen wurde. Davor begingen die BesatzerInnen
vor allem seit dem Erstarken der Bewegung ab 1945 brutale Massaker mit
insgesamt Hunderttausenden oder sogar mehr als einer Million Toten. Folter,
Massenhinrichtungen und das Zerstören ganzer Dörfer gehörten zur französischen
Strategie. Der Sieg gegen die UnterdrückerInnen war ein zentraler
antiimperialistischer Erfolg des 20. Jahrhunderts.

Gleichzeitig
etablierte sich der algerische bürgerliche Nationalismus als neue Herrschaft.
Die heldenhaft und aufopfernd Kämpfenden unter den algerischen ArbeiterInnen
und Armen fanden sich in einem nationalen Kompromiss und einer bürgerlichen
Herrschaft wieder. Die Rolle der Guerilla wurde hervorgehoben, die Arbeits- und
Straßenkämpfe wurden dagegen heruntergespielt.

Entwicklung
der Regimes

Dabei
hatten sie eine zentrale Rolle gespielt: Ab Mitte der 1950er Jahre
erschütterten eintägige Streiks die algerische Kolonie und das französische
Festland. 1955 besetzten Soldaten, die nicht gegen die algerische Bewegung
eingesetzt werden wollten, ihre Kaserne. Als die Polizei vorrückte, schlossen
sich mehrere Tausend ArbeiterInnen den Straßenkämpfen an. In Algerien waren es
vor allem HafenarbeiterInnen, deren Kämpfe bis hin zu einem gemeinsamen
Generalstreik mit tunesischen ArbeiterInnen 1956 eskalierten.

Leider
spielten linke Organisationen nicht immer eine rühmliche Rolle. Es waren
französische SozialdemokratInnen der alten SFIO (Französische Sektion der
ArbeiterInneninternationale, d. h. der II. Internationale) unter Guy Mollet,
die den terroristischen Ausnahmeberechtigungsakt, der Folter und Erschießungen
zur Folge hatte, durchsetzten. Die Französische Kommunistische Partei (PCF) und
die UdSSR unter Chruschtschow kooperierten mit de Gaulle in seinem verlogenen
„Selbstbestimmungsprozess“ ab 1959, dem noch 3 Jahre brutaler Krieg folgten.
Die Vierte Internationale unter Michel Pablo verharmloste derweil die
bürgerlich-nationalistische FLN-Regierung unter Ben Bella. Pablo trat ihr sogar
als Minister bei, statt eine unabhängige Organisation der ArbeiterInnen
aufzubauen und die Revolution voranzutreiben.

Nach
wenigen Jahren Unabhängigkeit gelang es der FLN-Fraktion um Houari Boumedienne
und der Nationalen Volksarmee ANP 1965, die Macht in einem Putsch an sich zu
reißen. Auf den Putsch folgte ein Ein-Parteien-Regime, ein korruptes Netz aus
Staatsapparat, Ölbranche und Militär.

Ab den
1980er Jahren zeigte der FLN-Nationalismus sein grausames Gesicht, als der
Widerstand der BerberInnen-Bevölkerung gegen die Unterdrückung ihrer nationalen
Identität brutal niedergeschlagen wurde. Ihnen wurden alle kulturellen
Veranstaltungen untersagt, der Anti-BerberInnen-Chauvinismus wurde zur
ideologischen Stütze des Regimes.

1988 kam es
zu einem Aufstand gegen die FLN, die unter dem Druck dieser Proteste Wahlen für
1991 ansetzte. Als sich ein Sieg der islamistischen „Islamischen Heilsfront“
FIS abzeichnete, wurden die Wahlen abgebrochen. Es kam zu einem blutigen
BürgerInnenkrieg zwischen FLN und FIS, in dem mehr als hunderttausend Menschen
starben. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die FLN selbst ab 1976
versuchte, den Islam in der Verfassung zu verankern, und damit die
islamistische Kanalisierung der Unzufriedenheit quasi vorprogrammierte.

Es war der
heutige Marionettenpräsident Bouteflika, 1999 vom Militär eingesetzt, der einen
Versöhnungsprozess anstieß und die FLN-Herrschaft stabilisierte. Ab 2002 führte
er umfassende Privatisierungen durch. Damit zerstreute er die Illusionen, die
auch manche Linke in den angeblichen „ArbeiterInnenstaat“ Algerien hegten, die
auf nichts mehr als ein paar Zugeständnissen an besonders gut organisierte
FabrikarbeiterInnen und einer staatskapitalistischen Industriepolitik
basierten. Nach ökonomischer oder demokratischer Kontrolle durch die
ArbeiterInnenklasse konnte unter der FLN lange gesucht werden.

Massive
Ungleichheit

In Algerien
besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung 80 % des Vermögens. Zum Vergleich:
In Österreich, nicht gerade einem Vorreiterland, was gleiche
Vermögensverteilung angeht, sind es etwas über 50 %. Vor allem die Renten aus
dem Öl- und Gasgeschäft, das etwas weniger als ein Drittel des
Bruttoinlandsprodukts ausmacht, gehen an die mit der FLN verbundenen Eliten.
Die Arbeitslosenrate liegt bei etwa 6 %, unter Jugendlichen bei fast 24 %.

Die
Unzufriedenheit nimmt derweil nicht ab. Seit dem Beginn der Proteste waren
Schätzungen zufolge 10-15 Millionen auf der Straße. In Algerien leben etwa 41
Millionen Menschen. Seit mehreren Wochen gibt es umfassende Bildungsstreiks.
Die Generalstreikwelle konnte ursprünglich mehrere Hunderttausende
mobilisieren. Auch die besonders privilegierten und speziell von Repression
betroffenen ArbeiterInnen der Ölindustrie legten die Arbeit nieder. Trotzdem
dürfte die Streikbewegung abschwellen, nicht zuletzt weil die
Gewerkschaftsbewegung ihre teilweise Loyalität zur FLN nicht abgelegt hat.

Die
Erfolge, auf denen eine algerische Revolution aufbauen könnte, sind ebenso
offensichtlich wie deren Hindernisse. Die ArbeiterInnenklasse hat ihre Macht
bewiesen und dürfte sich ihrer auch bewusst werden. Sie muss sie jetzt in
Organisationsformen unabhängig vom Regime gießen und die Gewerkschaften auf
einen radikalen Oppositionskurs zwingen. Eine Partei, die den Aufstand in die
Revolution übergehen lässt, kann ArbeiterInnen, Jugendliche und arme Bäuerinnen
und Bauern vereinen und die Macht erobern.

Gleichzeitig
werden in Algerien die Lehren der permanenten Revolution offensichtlich, die
Leo Trotzki als erster systematisch ausformuliert hat. Im Widerspruch zwischen
entwickelten kapitalistischen Klassenverhältnissen und Machtstrukturen abseits
der bürgerlichen Demokratie kann nur die ArbeiterInnenklasse die Aufgaben einer
bürgerlich-demokratischen Revolution durchführen. Sie muss sie aber, wenn sie
die demokratische Revolution mit der Macht in den Händen vollenden will, zur
sozialistischen Revolution weiterführen.

Permanente
Revolution

Das
bedeutet, dass die ArbeiterInnenklasse selbst demokratische Forderungen – nach
Organisationsfreiheit, Gleichheit von Mann und Frau, Selbstbestimmungsrecht für
nationale Minderheiten, Abschaffung des Präsidialsystems, Einberufung einer
verfassunggebenden Versammlung – aufstellen muss, um die Masse der
Lohnabhängigen, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, der städtischen und ländlichen
Armut für sich zu gewinnen. Doch selbst die demokratischste Konstituierende
Versammlung wird die Frage nicht lösen, welche Klasse herrscht. Daher müssen
RevolutionärInnen für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung
kämpfen, die sich auf Räte und bewaffnete Milizen stürzt. Der bürgerliche Staatsapparat
muss zerschlagen, die einfachen Soldaten für die Revolution und zur Bildung von
Soldatenräten gewonnen werden. Eine ArbeiterInnenregierung muss unmittelbar die
demokratischen und sozialen Forderungen der Massen durch ein Notprogramm zu
Linderung der Not und sozialen Ungleichheit angehen. Dies ist freilich nur
möglich durch die Enteigung der Superreichen und großen Unternehmen unter
ArbeiterInnenkontrolle und das Erstellen eines demokratischen Plans.

Die größte
Fallgrube ist hier die Allianz mit den Bürgerlichen und der Eliten, die sich
jetzt von Bouteflika abwenden, wo seine Niederlage glasklar geworden scheint.
Sie versuchen mit Wahlverschiebung und ähnlichen Manövern den Aufstand
versanden zu lassen.

Die Emeute
in Algerien zeigt: Eine Revolution im 21. Jahrhundert ist möglich. Sie ruft
aber auch die Fehler des 20. Jahrhunderts, die Kapitulation vor den
Bürgerlichen und die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse wieder in
Erinnerung. Es muss gelingen, aus den Niederlagen zu lernen und die objektiven
Möglichkeiten in zukünftige Siege umzuwandeln.




Wagenknechts Rückzug – Linkspopulismus am Ende?

Tobi Hansen, Neue Internationale 236, April 2019

Offiziell begründete Fraktionschefin Wagenknecht ihren
Rückzug aus dem „Aufstehen“-Vorstand gesundheitlich. Eine zwei Monate
andauernde Krankheit hätte ihr Grenzen aufgezeigt, an die sie nicht mehr stoßen
wolle. Ein politischer Mensch wolle sie bleiben und weiter für ihre
Überzeugungen eintreten – natürlich unter Beibehaltung ihres Mandats.

Der Rückzug

Darüber sprach sie wenige Tage später bei „Anne Will“ mit
dem Fokus auf jene Beschäftigten, die sich eben wegen Überlastung, Stress und
Burnout nicht einfach von einem Job zurückziehen können. Schließlich haben
diese weder Mandat noch Vermögen, so dass sie sich einen „Rückzug“ einfach
nicht leisten können. Seitdem war Frau Wagenknecht recht präsent in den
bürgerlichen Medien. Bei der „Welt“ oder beim „Stern“ teilte sie vor allem
gegen den aktuellen Vorstand aus, setzte de facto ihren Kampf medial fort.
Hauptpunkt von Wagenknechts Angriff auf den Vorstand war der vorgebliche
Unterschied in der Zielgruppe der Linkspartei:

„Es gibt zwei Konzepte linker Politik. Entweder man
konzentriert sich auf die akademisch geprägten großstädtischen Milieus – den
Weg ist die Parteiführung in den letzten Jahren gegangen. Oder man bemüht sich
um die abstiegsbedrohte Mittelschicht und die Ärmeren.“

Wagenknecht weiter: „Eine Linke, die von den Menschen, denen der Raubtierkapitalismus am übelsten mitspielt, nicht mehr gewählt wird, hat ihre Seele verloren.“ (https://www.stern.de/politik/ deutschland/sahra-wagenknecht-im-stern—politik-ist-eine-schlangengrube–8628780.html)

Bislang folgte nur Sevim Dagdelen ihrer Verlautbarung, für
führende Funktionen der Fraktion nicht mehr zu kandidieren. Ansonsten bleiben
Rücktrittsankündigungen auch aus dem Wagenknecht-Lager aus. Der Parteivorstand
hält sich bislang eher zurück. Während Riexinger noch auf Wahlkampfauftritte
von Wagenknecht 2019 hofft, wird inhaltlich nicht weiter geantwortet.
Offenkundig setzt man darauf, dass sich der Streit um die von Wagenknecht und
Co. forcierte linkspopulistische Neuausrichtung mit ihrem Rückzug von selbst
erledigt.

Eine wirkliche inhaltliche Debatte will schließlich auch die
derzeitige Führung nicht. Sie käme nur zu leicht in Bedrängnis angesichts der
Tatsache, dass man sich die „offenen Grenzen“ auf die Fahne schreibt, während
die Landesregierungen in Berlin, Brandenburg und Thüringen weiter fleißig
abschieben und den staatlichen Rassismus umsetzen. Ähnliche Doppelbödigkeit
gilt bekanntlich für die Frage des Braunkohleausstiegs oder verschärfter Polizeigesetze
wie jüngst in Brandenburg.

Bei der Frage der „Milieus“ ist bezeichnend, dass die
Lohnabhängigen im Konflikt zwischen Wagenknecht und dem Vorstand kaum erwähnt
werden. Er erscheint eher als Stadt-Land-Konflikt nach dem Motto: hier die
„Hipster-Linke“ Kipping und dort Wagenknecht, die sich um die Rentnerin vom
Dorf kümmert.

Ungelöst

Das wesentliche Problem der Linkspartei wird von beiden
reformistischen Führungscliquen nicht gelöst – sie hat keine Alternative zum
Kapitalismus und zum „Mitregieren“. Dabei haben von Letzterem weder die
„großstädtischen Milieus“ noch die „abstiegsbedrohte Mittelschicht und die
Armen“ Nutzen ziehen können. Im Gegenteil, die Mitverwaltung des Kapitalismus
durch die Linkspartei unterscheidet sich praktisch nicht von jener der SPD oder
der Grünen.

Als „Lösung“ wollte Wagenknecht mit der Sammlungsbewegung
„Aufstehen“ die gesellschaftlichen Mehrheiten kippen. Die Bewegung sollte Druck
auf die Linkspartei machen und zugleich eine rot-rot-grüne Bundesregierung
vorbereiten, indem „Stimmung“ für eine andere Politik mit Wagenknecht als
Galionsfigur gemacht würde. Viele derjenigen, die ihr per Mail und „sozialen
Medien“ folgten, sahen in Wagenknecht immer noch die „linke“ Alternative zum
Vorstand, diejenige, die wirklich SPD und Grüne angreife, die anstelle von
Agenda 2010 und Hartz IV eine „wirklich soziale“ Politik setzen würde.

Mit „Aufstehen“ sollten nicht nur die Ausrichtung und
Kräfteverhältnisse in der Linkspartei verändert werden, auch die gescheiterte
Politik der Sozialdemokratie, den Kapitalismus zu zügeln, die Marktwirtschaft
sozial auszugestalten, wurde wieder aufgelegt.

„Aufstehen“ vor der Implosion

Mit ihrer „Sammlungsbewegung“, dem 170.000 Personen umfassenden Mailverteiler und einem „professionellen“ Trägerverein von „Aufstehen“ wollte Wagenknecht sich eben um die abstiegsbedrohten Mittelschichten und die Ärmeren kümmern.Aber auch dort trat sie aus dem politischen Vorstand zurück. Als Reaktion darauf sind jetzt erst mal alle Führungsmitglieder, die nicht in der Linkspartei waren, ausgetreten. Der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Bülow versucht sich mit einer „Aktionsplattform“, während der Grüne Volmer zum Hintergrund des permanenten Konflikts zwischen dem Vorstand und dem Trägerverein kundtat, dass es eine Kontroverse gegeben habe, „ob Aufstehen eine sich von unten frei entfaltende, parteiunabhängige Bewegung mit offener strategischer Zielsetzung oder eine politische Vorfeldorganisation einer bestimmten Strömung der Partei Die Linke sein sollte.“  (www.taz.de/!5582420/)

Den Trägerverein leitet weiterhin Dramaturg Bernd Stegemann.
Hier sammelt sich Geld und Einfluss und hier sollte wohl beschlossen werden,
was man in der Linkspartei nicht durchsetzen konnte, nämlich die Forderung nach
„offenen Grenzen“ zu streichen. Dementsprechend handelte der Trägerverein auch
als politische Führung. Die Benennung eines politischen Vorstands Anfang des
Jahres entsprach eher dem Versuch, überhaupt eine vom Verein formal unabhängige
Spitze der Bewegung nach außen präsentieren zu können, die nicht nur aus
„PrätorianerInnen“ und „Fans“ der Wagenknecht bestanden.

Verein wie Sammlungsbewegung dienten beide auch und vor
allem als Fußtruppen für Wagenknecht und Lafontaine. Dass dies besonders
parteipolitisch motiviert ist in Bezug auf die Linkspartei, wurde spätestens
klar, als Wagenknecht offiziell die #unteilbar-Demonstration im Herbst 2018
ablehnte. Während mit Volmer und SPDlerInnen wie Hudson Berlin zumindest als
„Aufstehen“ repräsentiert war, wollte die Galionsfigur der „Sammlungsbewegung“
nichts mit den 240.000 auf der Straße zu tun haben. Offiziell wurde dies damit
begründet, dass sich die Demonstration faktisch für „offene Grenzen“
ausgesprochen hätte, was leider im #unteilbar-Aufruf gar nicht gefordert worden
war. Garniert wurde das mit kruden nationalistischen Theorien über offene
Grenzen, das Finanzkapital, und dass Soros die ganze Geflüchtetenbewegung über
NGOs anheize oder gar steuere.

Ob Wagenknecht solche Theorien teilt, ist nicht bekannt. Bei
Herrn Stegemann besteht in jedem Fall ein Nahverhältnis zu solchen reaktionären
Positionen. In seinem aktuellen Buch „Die Moralfalle – für eine Befreiung
linker Politik“ bekennt er sich nicht nur zur „guten, alten“
sozialdemokratischen Wohlfahrtspolitik, sondern auch dazu, dass ein Teil der
ArbeiterInnenklasse, nämlich MigrantInnen und Geflüchtete, von ihr ausgegrenzt
wird. Offene Grenzen und mangelnde Integration der Geflüchteten gefährdeten
diesen „hochdifferenzierten Wohlfahrtsstaat“, ja machten ihn de facto
unmöglich.

Klassenbegriff?

Gleichzeitig wird beklagt, dass der „Klassenbegriff“
beschädigt worden sei und niemand mehr eine „soziale Idee“ hätte – außer
vielleicht Frau Wagenknecht, für die die ArbeiterInnenklasse in erster Linie
eine nationale Klasse darstellt. Es mutet schon obskur an, wenn eine Strömung
wie „Aufstehen“, die sich von der Klassenpolitik Richtung Populismus
verabschiedet, die „Beschädigung“ eines Klassenbegriffes beklagt, den sie
längst an der Garderobe zur Populismusbühne abgelegt hat.

Natürlich ist „Aufstehen“ nicht wegen Wagenknecht und nicht
wegen des Dualismus von Verein und Vorstand zerbrochen. Das Projekt scheiterte
sicherlich auch an einer guten Dosis Dilettantismus, wie sich an den kläglichen
Mobilisierungen ablesen ließ.

„Aufstehen“ hat keine einzige Initiative gestartet, kaum
eine Mobilisierung zu Stande gebracht, die nur annähernd an die Größe ihrer
Maillisten herangekommen wäre. Außerhalb von Talkshows und Saalveranstaltungen
fand die „Bewegung“ nicht statt. Ein Aktionstag der Friedensbewegung wurde zwar
gekapert, nicht zuletzt, weil viele „Friedensbewegte“ der Linkspartei bei
„Aufstehen“ waren. Bei einer zentralen Kundgebung mit Sahra Wagenknecht
versammelten sich gerade 1.000 Menschen vor dem Brandenburger Tor und der
„Buntwesten“-Aktionstag riss bundesweit keine 5.000 vom Hocker.

Währenddessen gingen Hunderttausende bei „Friday for Future“
oder den Warnstreiks im öffentlichen Dienst auf die Straße – hier spielte
„Aufstehen“ keine Rolle. In Karlsruhe entscheiden RichterInnen über die Frage
der Hartz-IV-Sanktionen, die Millionen in Armut getrieben haben, und wo ist
„Aufstehen“? Aktuell gibt es eine Online-Fragestunde mit der Tante Sahra, wie
auch das „Team Sahra“ wieder verstärkt in den virtuellen Vordergrund rückt.

Im Hintergrund sprach Lafontaine vor einiger Zeit noch über
die möglichen wahltechnischen Ambitionen von „Aufstehen“ z. B. zur EU-Wahl,
diese seien aber erst mal ad acta gelegt. Schließlich wolle man keine „Spaltung
der Linken“.

In Wirklichkeit wollten Lafontaine und Wagenknecht mit
„Aufstehen“ ein Mittel an die Hand bekommen, das sowohl als Pressure-Group für
die Linkspartei dient wie als mögliches „unabhängiges“ Projekt für den Fall
einer Spaltung. Funktionieren konnte diese natürlich nie als „Bewegung“ oder
„von unten“, sondern es bedurfte immer einer bürokratischen Lenkung von oben
und der Verkörperung der Bewegung in einer unumstrittenen Führungsfigur, eben
in Sahra Wagenknecht. Ohne Star ist daher wohl auch die Luft raus aus dem
Fan-Club. Sicherlich kann „Aufstehen“ weiter vor sich hindümpeln, Karteien verwalten
und so tun, als würde man sich jetzt um die „Basisarbeit“ kümmern. Raus kommt
dabei – unabhängig von den Intentionen etlicher Mitglieder – allenfalls ein
Fanclub, der auf die Rückkehr des Stars wartet, sollte sich Wagenknecht zu
einem Rückzug vom Rückzug entscheiden.

Zukunft?

Ob es dazu kommt oder nicht, hängt in erster Linie von der
Entwicklung der Linkspartei, genauer von deren Abschneiden bei den nächsten
Wahlen ab. Sollten die Europa- und anstehenden Landtagswahlen verloren gehen,
so wird der Vorstand massiv unter Beschuss geraten. Das könnte den Boden für
ein Comeback von Sahra Wagenknecht bereiten – sei es in Form einer
Führungsrolle in der Linkspartei samt politischer Neuausrichtung oder eines
wiederbelebten linkspopulistischen Konkurrenzprojektes.

Die „Realpolitik“ der Linkspartei wird in jedem Fall weiter
Unglaubwürdigkeit, Halbherzigkeit hervorbringen. Die links-reformistischen
Versprechungen von Vorstand und Fraktion werden ihre Grenzen an der
Regierungspolitik in den Bundesländern und dem biederen Parlamentarismus der
Partei finden. Solcherart werden ihre inneren Widersprüche immer wieder den
Boden bereiten, in dem der Linkspopulismus einer Wagenknecht Wurzeln schlagen
konnte.

Die Linke in der Linkspartei müsste dem eigentlich eine
entschieden revolutionäre Politik des Bruchs mit dem Reformismus
entgegenstellen. Genau das tut sie aber seit Jahren nicht. Vielmehr suchte und
sucht sie Allianzen, Kompromisse, Zusammenarbeit mit dem linken Flügel des
Vorstandes und ordnet sich diesem unter, so wie der „linke“ Vorstand die
Realpolitik der Landesregierungen in Berlin, Brandenburg und Thüringen
toleriert oder verteidigt.

Solange die Linke in der Linken selbst keinen Kurs auf einen
revolutionären Bruch mit allen Schattierungen des Reformismus verfolgt, spielt
sie letztlich nur die Rolle einer integrierenden Schein-Opposition. Sie deckt
damit nicht nur den Vorstand politisch, sie erleichtert, ja ermöglicht es erst
einem Linkspopulismus, sich als „echte Opposition“ zum Realo-Kurs des
Parteivorstandes zu inszenieren. Auch mit dem absehbaren Scheitern von
„Aufstehen“ ist daher die Gefahr des Linkspopulismus keineswegs gebannt.




Landtagswahlen und Rechtsruck in Sachsen

REVOLUTION Dresden, Neue Internationale 236, April 2019

In Sachsen
stehen am 1. September die Landtagswahlen an. Die Umfragewerte für die AfD
(derzeitig  rund 24 %), die
ständig stattfindenden rassistischen Aufmärsche und Übergriffe machen eins
deutlich: Der Rechtsruck schreitet in immer größeren Schritten voran und äußert
sich immer mehr auch auf der Straße wie beispielsweise in den Mobilisierungen
der rechten und faschistischen Kräfte in Chemnitz letztes Jahr. Die Linke
befindet sich immer noch in der Defensive oder ist gar passive Zuschauerin. In
Chemnitz haben FaschistInnen ihr wahres Gesicht gezeigt: Menschen, die dem „deutschen“
Bild nicht entsprachen oder vermeintlich links aussahen, wurden gejagt und
zusammengeschlagen. Die Linke war vor Ort in der Unterzahl und konnte somit den
Rechtsextremen nicht ansatzweise den öffentlichen Raum streitig machen. Auch
rechtsradikale Strukturen wie „Der III. Weg“ und die „Identitäre Bewegung“
profitieren vom Rechtsruck und werden immer selbstbewusster, treten offen auf
und suchen den Schulterschluss mit der AfD.

AfD und andere
Rechte

Es besteht die
Gefahr, dass die AfD nach den kommenden Landtagswahlen stärkste Fraktion im
Landtag wird. Unter Umständen wird sie dann mit der CDU gemeinsam eine
Regierung bilden. Sofern Christdemokratie, FDP, Grüne und SPD gemeinsam keine
Mehrheit erreichen, könnte erstere mit der AfD koalieren. Doch egal ob eine
CDU-AfD-Regierung zustande kommt oder nicht, die AfD wird die CDU weiter nach rechts
drängen. Die Folgen davon werden schwerwiegend sein. Schon jetzt wird im
Kabinett das neue Polizeigesetz (PVDG) diskutiert und es soll noch im April vom
Landtag verabschiedet werden. Nach den Wahlen werden mit Sicherheit weitere
repressive Gesetze und der Ausbau des Überwachungs- und Sicherheitsapparates
folgen. Der alltägliche und staatliche Rassismus wird noch offener zutage
treten usw.

Zudem ist die
AfD nicht die einzige Partei, die rechts von der seit über 25 Jahren
regierenden CDU steht und zu den Landtagswahlen antritt. Neben der Rechtsabspaltung
von André Poggenburg, der Partei „Aufbruch deutscher Patrioten“ (AdP), will
sich auch die neu gegründete Partei von Frauke Petry („Die blaue Partei“ bzw. „Die
Blauen“), welche sich selbst als rechts von FDP und CDU, aber links von der AfD
stehend beschreibt, zur Landtagswahl antreten. Beide Parteien rechnen sich gute
Chancen aus, über die 5 %-Hürde zu kommen. Außerdem tritt noch die NPD an,
womit sich demnach insgesamt vier rechts von der CDU stehende Parteien zu den
Wahlen aufstellen lassen. Inwieweit und ob die Abspaltungen der AfD in Sachsen
überhaupt eine relevante Rolle bei den Landtagswahlen spielen werden, ist
fraglich. Es wäre auch denkbar, dass sich die neue Partei Poggenburgs zum
Sammelbecken für rechtsradikale und faschistische Kräfte entwickelt. Ob die
Abspaltungen der AfD nach den Landtagswahlen überhaupt noch eine Perspektive
haben werden oder ob sie genauso wie die liberal-konservative Partei von Bernd
Lucke (Liberal-Konservative Reformer/LKR, bis 2016: Allianz für Fortschritt und
Aufbruch/ALFA) in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, wird sich zeigen. Klar
ist jedoch, dass die AfD trotz ihrer internen Zerstrittenheit und ihrer
geschwächten Position infolge der Spaltungen nach wie vor die größte rechte Gefahr
für die Werktätigen und die organisierte Linke darstellt.

Wie kämpfen?

Um gegen den
Rechtsruck und die AfD anzukämpfen, braucht es eine breit aufgestellte,
schlagkräftige linke Bewegung. Hierbei könnte die Partei DIE LINKE mit ihrer
Basis und ihren Mitteln eine entscheidende Rolle spielen. Jedoch ist deren Führung
bisher nicht darauf aus, ihre Partei darauf vorzubereiten, diese Rolle
einzunehmen. Ganz im Gegenteil: Linke Spitzenkandidaten wie Rico Gebhardt begreifen
die eigene Partei nur als „letzte Bastion des Humanismus“ und Teil von
„Bürgerbündnissen“. Sie negieren jeglichen Klassenbezug des Kampfes gegen
rechts – und damit auch die nötigen Schritte, um eine antifaschistische bzw.
antirassistische Einheitsfront und die ArbeiterInnenbewegung wieder aufzubauen
und gegen den Rechtsruck in Stellung zu bringen. Dies spielt letztlich der AfD
weiter in die Hände.

Darum muss es
unsere dringendste Aufgabe sein, mit allen Mitteln und Möglichkeiten diesen
Rechtsruck und den Siegeszug der Rechten, insbesondere den der AfD,
aufzuhalten. Dabei dürfen wir uns nicht auf andere linke Organisationen, wie
reformistische Parteien und deren opportunistische Führungen verlassen. Diese
haben dem Rechtsruck bisher nichts effektiv entgegensetzen können und werden
auch zukünftig die ArbeiterInnenbewegung und den antirassistischen Kampf in
eine Sackgasse führen.

Aber zugleich
ist es notwendig, die Mitglieder, UnterstützerInnen und WählerInnen der
Gewerkschaften, von Linkspartei und auch der SPD für den gemeinsamen Kampf
gegen Rassismus, Faschismus und Rechtspopulismus zu gewinnen. Ohne diese
ArbeiterInnen und Jugendlichen fehlen uns schlichtweg die Kräfte, der AfD, den
anderen rechten Parteien oder Pegida wirksam und erfolgreich entgegenzutreten.

Wir als
revolutionäre, kommunistische Jugendorganisation müssen klare antifaschistische
und antirassistische Positionen beziehen und alles tun, um eine Einheitsfront
aller linken Gruppen und der Organisationen der ArbeiterInnenklasse gegen den
Rechtsruck aufzubauen. Wir müssen die SchülerInnen in den Schulen, die
Jugendlichen in den Ausbildungsstätten und Universitäten organisieren, denn sie
sind oft diejenigen, die am entschlossensten gegen Rassismus und Faschismus
kämpfen wollen. Sie sind zumeist noch nicht durch das System und die bürgerliche
Propaganda korrumpiert worden und mögen nicht tatenlos zuschauen, wie sie in
Zukunft von RassistInnen (oder gar FaschistInnen) im Nadelstreifen regiert
werden. Darum arbeiten wir in Sachsen derzeitig aktiv mit anderen Jugendlichen
an der Durchführung einer gemeinsamen antirassistischen Kampagne. Unser Ziel
ist es, durch Aktionen, Kundgebungen, Veranstaltungen u. v. m. vor
allem SchülerInnen zu erreichen und bei der Selbstorganisation in den Schulen
zu unterstützen. Der Höhepunkt unserer Kampagne soll ein Schulstreik Ende Juni
werden. Wir wollen versuchen, dabei alle interessierten Jugendlichen und linken
Gruppen, die ebenfalls die Notwendigkeit des Aufbaus einer antirassistischen
Aktionseinheit erkennen, mit einzubeziehen.

Am 1. Mai will
die NPD in Dresden aufmarschieren. Wir befinden uns derzeit mit anderen
Jugendlichen und linken Jugendorganisationen in der Planung und im Austausch
darüber, wie wir es schaffen, uns den FaschistInnen in den Weg zu stellen und
dabei gleichzeitig auch unsere eigenen Inhalte und Positionen auf die Straße zu
tragen. Aktuell steht daher die Anmeldung einer Demonstration an, die vom
„Picknick“ der Partei DIE LINKE zum Gewerkschaftshaus führen soll. Wir wollen
dabei insbesondere jene Jugendlichen und ArbeiterInnen erreichen, denen es
nicht ausreicht, Würstchen zu essen, während die FaschistInnen der NPD
versuchen, uns unseren Tag zu nehmen. Wir werden uns im Anschluss an unsere
Demonstration den Aktivitäten gegen den Naziaufmarsch anschließen und deutlich
machen, dass der Erste Mai, der Kampftag der Arbeiter und Arbeiterinnen, rot
bleibt!




100 Jahre Münchner Räterepublik

Jürgen Roth, Neue Internationale 236, April 2019

Am 7. November 1918 wurde der König
davongejagt. Spontan entstand ein ArbeiterInnen-, Soldaten- und
Bauern-/Bäuerinnenrat. Bayern wurde zum „Volksstaat“ erklärt. Die provisorische
Regierung bestand aus 3 unabhängig-, 4 mehrheits-sozialdemokratischen und einem
parteilosen Minister. Ministerpräsident war Kurt Eisner (USPD). Sie stützte
sich auf einen provisorischen Nationalrat, in dem die Räte neben den alten
Landtagsfraktionen und diversen Berufsorganisationen vertreten waren.

Die USPD verfolgte auch in München ihre
bekannte Linie, die Räte in die zukünftige Verfassung zu inkorporieren. Die
Anordnung „Organisation und Befugnisse der Arbeiterräte“ vom 17.12.1918 gestand
den Räten ausdrücklich keine Vollzugs- oder Kontrollgewalt zu. Im Gegenteil,
sie verfügte noch die Trennung der ArbeiterInnen- von den Soldatenräten,
unterstellte die Bauern-/Bäuerinnenräte dem Innenministerium und wies den
ArbeiterInnenräten untergeordnete Amtspflichten als Hilfsorgane der Bürokratie
zu. Justiz, Polizei und Beamtenapparat blieben intakt.

Die MehrheitssozialdemokratInnen hatten mit
Unterstützung aller GegenrevolutionärInnen die Landtagswahlen am 12. Januar
1919 durchgesetzt und die zentristische Verzögerungstaktik Eisners durchkreuzt.
Die USPD verlor dabei enorm. Die MSPD wurde zweitstärkste Partei. Die KPD
beteiligte sich nicht.

Der Zusammentritt des Landtags verzögerte
sich angesichts der ungeklärten Lage, solange die Machtfrage noch nicht
entschieden war. In Bayern war die nicht demobilisierte Reichswehr immer noch
die bewaffnete Macht. Versuche der Bildung von Bürgerwehren hatten die
A&S-Räte verhindert. Nur die Republikanische Soldatenwehr in München unter
Aschenbrenner hatte sich für die Zwecke der alten Ordnungsparteien als
zuverlässig genug erwiesen.

Die Ermordung Eisners

Der populärste Mann Bayerns wurde am
21.2.1919 erschossen, als der Landtag zusammentreten sollte. Der Attentäter
Graf Arco-Valley war Reaktionär und mit Innenminister Erhard Auer (MSPD)
befreundet. Der Zorn der Massen schlug die Abgeordneten in die Flucht. In
mehreren Städten traten die ArbeiterInnen in den Generalstreik. Der durch
VertreterInnen der SPD und Gewerkschaften neu konstituierte Zentralrat übernahm
die Regierungsgeschäfte. Levien (KPD) u. a. schieden daraufhin aus ihm aus. Der
ZR kam zu einer „Grundlage der Einigung“: die Räte sollten verfassungsmäßig
verankert werden, ein sozialistisches Ministerium entstehen, das bis zur neuen
Verfassung gemeinsam mit einem/r vom Bauern-/Bäuerinnenbund zu stellenden
LandwirtschaftsministerIn regieren sollte. Je 1 Mitglied der 3 Rätesparten
sollte beratendes Stimmrecht im Ministerrat genießen, das stehende Heer durch
eine republikanische Schutzwehr ersetzt werden. Die „Verfassungsmäßigkeit der
Räte“ – abhängig von der Zustimmung durch die große Mehrheit der
GegenrevolutionärInnen im Landtag – war der Köder für die Massen.

Der Rätekongress

Er tagte vom 25.2. bis zum 8.3.1919. Neben
endlosen Debatten versuchten sich SPD und USPD auf einen Weg aus dem Schwebezustand
heraus zu einigen, in dem der Rumpf der alten Regierung neben dem ZR regierte
(Nürnberger Kompromiss). Der Landtag wählte am 17. März eine neue Regierung
unter Hoffmann (MSPD). Ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen und
Rückendeckung durch die ZR-Mehrheit hing sie weiter in der Luft. Die
bürgerlichen Parteien duldeten sie als Bollwerk gegen den Bolschewismus.

Die SPD wollte zunächst eine offene
Koalition mit den Bürgerlichen vermeiden, um die Massen nicht an Unabhängige
und KommunistInnen zu verlieren. Außer Versprechen über „Vorbereitungen zur
Sozialisierung“ hatte Hoffmanns Ministerium aber nichts anzubieten.

Die Riesenstreiks im Ruhrgebiet, in
Mannheim, Stuttgart, die drohenden Ausstände in anderen Gebieten, die Ausrufung
der ungarischen Räterepublik, militärische Erfolge der sowjetischen Roten Armee
wirkten sich auch in Bayern aus. Die Sympathie mit den KommunistInnen, an deren
Spitze der Anfang März nach München entsandte Leviné stand, nahm zu, wenn auch
die Partei nicht in gleichem Tempo ausgebaut werden konnte.

Die Scheinräterepublik

Am 3.4. forderte eine Versammlung der MSPD
(!) in Augsburg die Ausrufung der Räterepublik. Der „linke“ Sozialdemokrat und
ZR-Vorsitzende Niekisch fuhr mit dieser Forderung ins Münchner
Kriegsministerium. Einige Minister waren sich bereits mit den Führungen der
MSPD, USPD und den AnarchistInnen einig. SPD, USPD und KPD sollten paritätisch
die MinisterInnen stellen, die Regierung Hoffmann werde sich damit abfinden.
Die KommunistInnen schlossen prinzipiell die Zusammenarbeit mit der MSPD in
einer Regierung aus, aber auch eine am grünen Tisch künstlich geschaffene
Räterepublik ohne Massenaktion. Die Verhältnisse in Deutschland und
insbesondere Bayern seien dafür nicht reif. Sie wurden als VerräterInnen am
Proletariat denunziert. Um vorher noch Nordbayern zu gewinnen, sollte die
Proklamation der Räteherrschaft auf den 7.4. verschoben werden. Die Regierung
Hoffmann verzog sich nach Bamberg, nahm ihr wichtigstes Instrument – die
Notenpresse – mit. Ihr Kriegsminister Schneppenhorst, der in Nordbayern für die
Räterepublik trommeln wollte, fuhr nach Nürnberg und kam später mit den
Nosketruppen zurück.

Der Erklärung der KPD lag folgende
Einschätzung zugrunde: für AnarchistInnen, Unabhängige und
MehrheitssozialistInnen verkörperte die Räterepublik nicht etwas grundsätzlich
Neues, eine Revolution der Gesellschaft, sondern einen rein formellen
Regierungswechsel. Die Ministerriege würde in einer bürgerlichen Republik, die
mit etwas „Räteöl“ in Form der „Mitbestimmung“ durch einzelne RäteministerInnen
gesalbt war, weiter wie bisher verfahren können.

AnarchistInnen und USPD hofften auf ein
„sozialistisches Ministerium“, das unabhängig vom Landtag würde arbeiten
können. Schneppenhorsts Verhalten bewies, dass es sich für ihn bei der Unterstützung
für die Proklamation der Räterepublik um einen Trick handelte, eine
Provokation, um alle konterrevolutionären Kräfte aufzurütteln, weiße Garden zu
bilden.

Die „Münchner Rote Fahne“ nannte die
Scheinrepublik ein „Werk abhängiger und unabhängiger Kompromissler und
phantastischer Anarchisten“. Der alte Beamten-, Polizei- und Justizapparat
blieb unbehelligt, „sozialisiert“ wurden Universität und Presse (!), letztere
aber nicht mal zensiert. Die Bankkonten der Reichen wurden erst gesperrt, als
die Frage der Lohnauszahlung drängte. Auch bei der Bewaffnung der
Arbeiterschaft wurde gestümpert; 600 Gewehre waren die ganze „bewaffnete
Staatsmacht“. Das Bürgertum wurde nicht entmachtet. Die Räteregierung wurde nur
in Oberbayern anerkannt. Die KPD erklärte trotzdem ihren festen Willen, selbst
die Scheinräterepublik gegen die Reaktion zu verteidigen.

 Die 2. Räterepublik – eine echte ArbeiterInnenregierung

Am Sonntag, dem 13. April, verhaftete die
Republikanische Schutzwehr einige Minister, besetzte öffentliche Gebäude und
überfiel eine Sektionsversammlung der KPD. Diese rief zu den Waffen. Am Abend
war der gegenrevolutionäre Putschversuch gescheitert. Betriebs- und
Kasernenräte tagten. Ein 15-köpfiger Aktionsausschuss aus SozialdemokratInnen,
Unabhängigen und KommunistInnen löste den ZR der Scheinräteregierung ab.

Die KommunistInnen beherrschten den
Ausschuss allerdings durch ihre revolutionäre Erfahrung, ihr klares Programm
für die Machtübernahme. Nicht dass sie die Aussichten für die
Überlebensfähigkeit der Rätemacht jetzt günstiger einschätzten, entschied ihren
Eintritt in die 2. Räteregierung. Die revolutionären ArbeiterInnen – gerade
erst siegreich – würden aber gegen den anmarschierenden Feind so oder so
kämpfen müssen. Wenn die KPD sich an ihre Spitze stellte, dann minimierte das
die demoralisierenden Auswirkungen einer Niederlage.

Die bewaffnete Macht ging von der regulären
auf die Rote Armee unter Kommando des Matrosen Rudolf Eglhofer über. Die
Ordnungsgewalt übten Rote Garden aus, nachdem die bürgerliche Polizei
entwaffnet wurde. Die Stadtverwaltung wurde den Betriebsräten übertragen, die
Räteregierung durch Neuwahlen der A&S-Räte bestätigt. Die bürgerliche
Justiz wurde durch ein Revolutionstribunal ersetzt. Zur Sicherung der Ernährung
wurden Beschlagnahmeaktionen durchgeführt, jede Kontenabhebung wurde
kontrolliert. Während des Generalstreiks erschienen nur die „Mitteilungen des
Vollzugsrats“, nachher die Organe der ArbeiterInnenpresse. Die bürgerliche
Presse blieb verboten. Telefon und Telegraph wurden ständig überwacht. Die
Betriebe begannen mit der Sozialisierung von unten. Auch militärisch gab es
Erfolge zu verzeichnen.

Doch die inneren Streitigkeiten mit der
USPD wuchsen. Toller, Klingelhöfer und Maenner sprachen sich vor den
Betriebsräten am 26. April gegen die KommunistInnen und für eine Kapitulation
vor der Hoffmann-Regierung aus. KPD und Rote Armee trotzten der Absetzung der
KommunistInnen durch die eingeschüchterten Räte und kämpften bis zum 3. Mai.
Dann hatten die KonterrevolutionärInnen endgültig München erobert.

KPD-Politik

Wesentliche Elemente des Bolschewismus
schlugen sich in der Politik der jungen Organisation im Unterschied z. B. zur
wesentlich stärker verankerten Bremer KPD nieder. Kritik an reformistischen,
anarchistischen, populistischen und zentristischen Konzeptionen und deren
führenden VerfechterInnen paarte sich mit flexibler Einheitsfronttaktik
(Verteidigung der 1. „Räterepublik“). Es wurde betont, dass sich die KPD nur an
einer echten ArbeiterInnenregierung beteiligen würde wie an der der 2.
Räterepublik vom 14.-27. April 2019.

Ihr gelang lediglich unter dem Druck der
Ereignisse und der Zeit nicht mehr der entscheidende nächste Schritt zu ihrem
Ziel: Etablierung einer Münchner Kommune – die Auflösung der Reste der
Reichswehr im Stadtgebiet. Sie widersetzte sich auch ihrer Abwahl durch die
Räte am 27. April und stellte die Führung der militärischen Operationen gegen
die Weißen. Die bayrische KPD hat damit mehr Weitblick und Mut, mehr
Verantwortungsbewusstsein vor der Revolution bewiesen als die ZweiflerInnen an
der Richtigkeit des Eintritts in die 2. Räteregierung in der KPD-Zentrale.

Eugen Leviné stellte nach seiner Ankunft in
München deren Politik zunächst sicher, damit die örtliche KPD keine
Abenteuerpolitik wie beim sog. Spartakusaufstand oder der Ausrufung der Bremer
Räterepublik betrieb. Andererseits schloss die lokale Organisation ebenso
richtig die Beteiligung an einer unechten, bürgerlichen ArbeiterInnenregierung
aus, wie sie die Bremer Räterepublik verkörperte.

Schwächen

Ihre Schwächen blieben wie im übrigen
Reich: unklare bzw. unzureichende Wahlberechtigungskriterien für die Räte
(Benachteiligung von Frauen, keine Beschränkung des Wahlrecht in den
Soldatenräten auf die proletarischen Mannschaftsdienstgrade), Unverständnis von
revolutionärem Parlamentarismus (Ausnutzen der Parlamentstribüne, keine
Forderung nach einer Konstituante). In der verfassunggebenden Versammlung hätte
die KPD ein Programm für die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates
einbringen und an einen der wenigen positiven Beschlüsse des 1.
Reichsrätekongresses anknüpfen müssen, die sog. Hamburger Punkte
(disziplinarische und Kommandogewalt in der Armee bei den Räten, Wahl der
Kommandeure etc.).

Diese Schritte zur Abschaffung des
stehenden Heeres, zu einer echten Volksbewaffnung hätten nur unter einem
Räteregime, nach Aufbau und Sieg roter Arbeiterinnenmilizen eingeleitet werden
können. Die Verknüpfung der Demokratiefrage mit den Hamburger Punkten hätte ein
einigendes Band zwischen AnhängerInnen einer Rätediktatur und SPD- wie
USPD-Mitgliedern, aber auch weitverbreitetem kleinbürgerlichen Antimilitarismus
schmieden und damit den möglichen Wendepunkt in Richtung Revolution in
Permanenz in ganz Deutschland darstellen können.




Tarifkampf bei der Berliner BVG: Solidarität mit dem Streik!

Leo Drais, Neue Internationale 236, April 2019

In den
vergangenen Monaten fanden nicht nur die Tarifverhandlungen des öffentlichen
Dienstes der Länder statt. In Berlin kämpfen die ArbeiterInnen der Berliner
Verkehrsgesellschaft (BVG) für bessere Arbeitsbedingungen.

Zu dem
Zeitpunkt, da dieser Artikel verfasst wird, steht ein 24- Stunden-Streik am 01.
April an, nachdem die Verhandlungen zwischen ver.di und dem Kommunalen
Arbeitgeberverband (KAV) am 28. März abgebrochen wurden. Dieser Streik verdient
in jedem Fall unsere Solidarität!

Forderungen

Konkret
gefordert werden von ver.di: eine 36,5-Stunden-Woche, Weihnachtsgeld für neu
Eingestellte, Wegfall der unteren Lohngruppen in Verbindung mit schnelleren
Gehaltssprüngen sowie eine Einmalzahlung von 500 Euro für
Gewerkschaftsmitglieder.

Angesichts der
explodierenden Mieten in der Stadt und der geringeren Entlohnung der
BVG-ArbeiterInnen im Vergleich zu anderen Infrastrukturbeschäftigten
(DB/Deutsche Bahn, BWB/Berliner Wasserbetriebe, BSR/Berliner Stadtreinigung)
sind die Forderungen mehr als berechtigt. Zudem müssen die BVG-Beschäftigen
seit Jahren die verfehlte Personalpolitik ausbaden. Auch deshalb ist die
Arbeitszeitverkürzung um 2,5 Stunden pro Woche so wichtig und richtig.

Berlin bildet
dabei nur die Spitze des Eisberges. Laut ver.di fehlen bundesweit im ÖPNV mehr
als 30.000 Beschäftigte. Hier zeigen sich die Folgen von Privatisierungen und
der sogenannten Schuldenbremse, die die Kommunen zum Sparen verdonnert und
damit die Kosten der Finanzkrise 2008 vor allem auf die ArbeiterInnen abwälzt –
sei es durch geringe Löhne, Überlastung, fehlendes Personal oder durch hohe
Fahrpreise.

Dementsprechend
quer stellen sich die Arbeit„geber“Innen. Dreist war das Angebot Mitte März von
12 % über 5 Jahre Vertragslaufzeit. Das Ziel ist eindeutig: die Belegschaft
durch einen hohen Wert blenden und sie gleichzeitig möglichst lange in die
Friedenspflicht zwingen. Gleichzeitig verdient eine Sigrid Nikutta
(BVG-Vorstand) 500.000 Euro pro Jahr und fährt selbstverständlich mit einer
dicken Limousine durch die Gegend.

Wo gestreikt
wird, da lauert auch der Streikbruch. Beim zweiten Warnstreik am 15. März
lieferte ver.di gleich selbst die Möglichkeit zur Schwächung des
Arbeitskampfes, indem die Gewerkschaft lediglich die FahrerInnen der Busse zum
Streik mobilisierte.

Wie kämpfen?

Zu Recht
empörten sich viele BVGlerInnen, viele Fahrgäste konnten auf Tram und U-Bahn
ausweichen. Diese Art von Teilwarnstreik schwächt den Kampf. Daher ist es nur
richtig, dass zum 1. April wieder die gesamte Belegschaft mobilisiert wird.
Dazu gehört die Forderung, die ver.di nicht aufgestellt hat, an Subunternehmen
ausgelagerte Buslinien mitsamt ihren Beschäftigten wieder unters Dach der BVG
zu integrieren! Diese Linien werden am Montag nahezu uneingeschränkt betrieben
und damit den Streik unterlaufen.

Aber auch aus
einer anderen Ecke droht der Streikbruch: Die S-Bahn Berlin – ihrerseits
Tochter der Deutschen Bahn AG und daher nicht Teil der Tarifverhandlungen – hat
bereits angekündigt, Betriebsreserven zu mobilisieren, um die Auswirkungen des
Streiks abzufedern. Hier wären die EisenbahnerInnengewerkschaften EVG und GdL
sowie die Betriebsräte gefragt, diesen Streikbruch zu verhindern.

Diese
Widersinnigkeit gegenseitigen Streikbruchs von Beschäftigten desselben Sektors
und die Untätigkeit, diesen zu verhindern, verweist darauf, wie notwendig der
Kampf für eine Transport- und Logistikgewerkschaft ist, die alle im Sektor
Beschäftigen umfasst und die demokratisch von diesen kontrolliert wird statt
durch Vorgaben der BürokratInnen. Für diese klassenkämpferische Neuausrichtung
muss in der Basis von ver.di, GdL und EVG in Form von oppositionellen
Strukturen gegen die Apparatschiks gekämpft werden.

Für den Streik
selbst gilt, was wir bereits im Flugblatt zum ersten Ausstand der BVG
schrieben: Nur ein entschlossener Arbeitskampf kann die Lage ändern – und das
heißt: vom Warnstreik zum unbefristeten Vollstreik! Damit ein solcher breit
getragen wird und erfolgreich sein kann, braucht es Vollversammlungen der
Beschäftigten. Ver.di soll so rasch wie möglich die Urabstimmung einleiten.
Inhalt von Versammlungen in den Depots wie einer Vollversammlung bei der BVG
muss vor allem eine Diskussion sein, wie die Forderungen ohne faule Kompromisse
erzwungen werden können. Dazu braucht es rechenschaftspflichtige
Streikleitungen, die aus der Belegschaft heraus gewählt werden und den
Arbeitskampf koordinieren. Die Verhandlungskommission muss diesen Versammlungen
gegenüber rechenschaftspflichtig und von diesen abwählbar sein. Es darf keinen
Abschluss ohne Zustimmung der Gewerkschaftsmitglieder geben!

Streik und
Verkehrsfrage

Eine Aufwertung
des Berufes der FahrerIn ist eines der Versprechen der viel gepriesenen
Verkehrswende. Die Parteien des Berliner Senats (SPD, Linke, Grüne) befinden
sich in der 
Tarifauseinandersetzung auf Arbeit„geber“Innenseite, auch wenn sie
vorgeben, die SchülerInnenbewegung Fridays for Future zu unterstützen und den
öffentlichen Nahverkehr zu stärken.

Trotzdem wird
die Finanzierbarkeit als Grund vorgeschoben, die Forderungen ver.dis
abzulehnen. Dies zeigt nicht nur die engen Grenzen der kommunalen Kassen,
sondern auch die eines grünen Kapitalismus. Wenn sie nicht finanzierbar ist,
gibt es eben keine Qualitätssteigerung im ÖPNV, gibt es weder mehr Personal
noch Entlastung der FahrerInnen.

Deswegen treten
wir anstelle einer kapitalistischen Verwaltung durch Land und BVG-ChefInnen für
eine demokratische Kontrolle durch die VerkehrsarbeiterInnen und lohnabhängigen
Fahrgäste in Form eines gewählten Verkehrsplanungskomitees ein. Unser Ziel ist
ein kostenloser ÖPNV, finanziert durch hohe Besteuerung der Reichen und
KapitalistInnen insbesondere der Automobil- und Ölindustrie sowie privater
Verkehrsgesellschaften. Auch aufgrund dieses Zusammenhangs sollten sich ver.di
und die streikenden SchülerInnen zusammentun, Schulstreiks und BVG-Streik
zusammenführen. Unbefristeter Streik für unsere Zukunft!




Internationaler Frauenkampftag 2019: Eine Bewegung entsteht

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 236, April 2019

Millionen Frauen demonstrierten am 8. März gegen Ausbeutung,
Unterdrückung, Diskriminierung, Sexismus und Gewalt.

In Spanien legten wie schon 2018 rund 6 Millionen Beschäftigte
die Arbeit nieder. Der internationale Frauen*streik gipfelte dort erneut in
einer massenhaften Beteiligung gewerkschaftlich organisierter Arbeiterinnen wie
auch ihrer männlichen Kollegen. Ohne den Druck der betrieblichen Basis wäre es
sicher nicht möglich gewesen, diesen Streik so massenhaft zu entfalten.

Die anarchosyndikalistischen Gewerkschaften CNT sowie CGT
hatten ohnedies offiziell zu einem 24-Stunden-Streik aufgerufen. Die zwei
größten, reformistisch geprägten Gewerkschaften, CC.OO und UGT, organisierten
immerhin einen zweistündigen Warnstreik. In manchen Regionen, wie Kastilien-La
Mancha, agierten sie linker und riefen zu einem ganztägigen Generalstreik der
Frauen im öffentlichen Dienst auf. Im Baskenland und Katalonien scheint die
Beteiligung besonders stark gewesen zu sein.

Zweifellos hat das Vorbild der spanischen Frauen auch die
Bewegung in anderen europäischen Ländern inspiriert. In Italien, Belgien und
anderen europäischen Ländern zeigten sich wichtige erste Ansätze von
Frauenstreiks, zu denen auch linke Basisgewerkschaften aufriefen, während sich
die großen Dachverbände CISL und UIL gegen die Bewegung stellten und den
Frauenstreik sogar als „gegen die Frauen gerichtet“ denunzierten.

Besonders groß war die Bewegung auch 2019 in Lateinamerika.
In Chile gingen allein in der Hauptstadt Santiago de Chile 200.000 auf die
Straße. In Argentinien prägten ebenfalls Massendemonstrationen das Bild, die
radikaleren Gewerkschaften riefen zu Streiks auf. In Brasilien demonstrierten
Hunderttausende, auch wenn dort der Fokus der aktuellen Mobilisierung stärker
auf den Streik- und Aktionstag gegen die sog. Rentenreform Ende März gelegt
wurde.

In der Türkei setzten sich tausende Frauen gegen die
Angriffe der PolizeischergInnen Erdogans auf die Demonstration in Istanbul zur
Wehr. Landesweit gingen Zehntausende trotz massiver Repression auf die Straße.

Deutschland

Auch in Deutschland scheint der Frauenstreik angekommen zu
sein. Bundesweit gingen rund 70.000 auf die Straße, in Berlin 20.000 bis
25.000, in Hamburg 10.000, in Leipzig 4.000, in Köln 3.000, München, Freiburg
und Kiel je 2.000, in Kassel und Stuttgart je 1.000. Dies sind deutlich mehr
als in den letzten Jahren, auch wenn von einem massenhaft befolgten politischen
Streik (noch) nicht die Rede sein konnte. Immerhin stellten Beschäftige bei
Amazon in Bad Hersfeld ihre tariflichen Auseinandersetzungen in den Kontext des
Frauenstreiks, organisierten eine Betriebsversammlung – und zeigten damit auch
einen Weg, wie Arbeitsniederlegungen am 8. März zu einer Realität werden
können.

Die Zahlen der Demonstrationen sind jedenfalls ermutigend –
und machen Lust auf mehr.

Dabei stellen sie nur einen kleinen Auszug der Aktionen von
den Frauen dar, die am 8. März überall auf der Welt demonstriert haben.
Insgesamt können wir beobachten, wie immer mehr und mehr Frauen auf die Straße
gehen und für ihre Rechte demonstrieren. So gab es im Jahr 2018 in rund 177
Ländern Proteste, für 2019 liegen uns noch keine endgültigen Zahlen vor. Wenn
wir die Gesamtsituation betrachten, dürfen wir freilich den Blick nicht nur auf
den 8. März legen. Ausgehend von Bewegungen wie Ni Una Menos in Argentinien und
dem Women’s March against Trump in den USA entstanden in Ländern wie Indien
oder Brasilien Massenbewegungen gegen Angriffe auf die Rechte der Frauen,
sexuelle und patriarchale Gewalt (bis hin zum massenhaften Femizid). Zusammen
mit dem Frauen*streik bilden sie seit einigen Jahren den sichtbaren Ansatz
einer neuen, internationalen Frauenbewegung.

Warum?

Der Rechtsruck ist schließlich auch eine Ursache der immer
stärkeren Angriffe auf Frauenrechte. Interessanterweise bleiben diese jedoch
nicht unbeantwortet: Seit mehreren Jahren können wir erleben, wie Frauen sich
zahlenmäßig stark gegen Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts über ihren
eigenen Körper, Gewalt oder die sich verschlechternde ökonomische Situation
wehren. Ob die Schwarzen Proteste in Polen, Ni Una Menos in Argentinien,
Proteste gegen Vergewaltigung in Indien: alles sind Widerstandsmaßnahmen der
letzten Jahre, die im Bewusstsein von Millionen Frauen präsent sind und
teilweise Erfolge errungen haben.

Besonders herauszustreichen ist hier auch der Women’s March
in den USA. Zum Amtsantritt Trumps initiiert, demonstrierten dort rund 3
Millionen Frauen. Dabei blieb es aber nicht: In anderen Großstädten auf der
Welt solidarisierten sich Frauen und gingen unter dem gleichen Namen für
Frauenrechte auf die Straße. Neben One Billion Rising stellt diese eine der
größten  Aktionen dar, die zeigten,
dass sich unter einem gleichen Slogan Proteste länderübergreifend koordinieren
lassen und somit eine wichtige Grundlage für Vernetzungen und eine
internationalistische Ausrichtung der lokalen Aktionen gelegt werden kann.

Wir als Organisation glauben, dass diese Proteste zwei
größere Ursachen haben.

Auf der einen Seite gibt es Angriffe auf bereits bestehende,
erkämpfte Rechte: Sparmaßnahmen wie Streichungen der Kitaplätze; Teuerung von
Pflegeangeboten; Versuche, Abtreibungsrechte einzuschränken seitens der
Regierung und der Rechten. Das heißt, ein Teil der Kämpfe ist defensiv.

Auf der anderen Seite gibt es auch immer mehr wachsende
Proteste, vor allem in Asien. Dies hat mit einem generellen Wachstum der
ArbeiterInnenklasse auf diesem Kontinent zu tun. Frauen werden dort mehr und
mehr in die Produktion einbezogen. Damit wächst auch gleichzeitig ihre
Doppelbelastung durch Lohn- und Reproduktionsarbeit (also Haushalt, Erziehung,
Pflegearbeit). Gleichzeitig ermöglicht ihnen das mehr Zugang zu Bildung und
eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit, sodass ihre Lage nicht nur durch
doppelten Druck und die Last erz-reaktionärer Unterdrückung geprägt ist,
sondern auch Möglichkeiten schafft, vermehrt und aktiver für ihre Rechte zu
kämpfen.

Das alles führt uns zu den Fragen: Wie können wir dieses
Potenzial nutzen und den Kampf gegen Ungleichheit und Unterdrückung erfolgreich
führen?

Es bedarf dazu einer internationalen Bewegung – einer, die
die unterschiedlichen Probleme, die Frauen weltweit betreffen, zusammenfasst
und eine gemeinsame Perspektive aufwirft. Ob nun von der Muslima, die das Recht
hat, ihren Glauben so zu praktizieren, wie sie es möchte, über schwarze Frauen,
die nicht länger der massiven Polizeigewalt und rassistischen Angriffen
ausgesetzt sein wollen, bis hin zur pakistanischen Arbeiterin, die nicht länger
für einen Hungerlohn arbeiten will, ob für geflüchtete Frauen oder die
Pflegerin hier in Deutschland: Es ist unsere Aufgabe, für die unterschiedlichen
Situationen die Gemeinsamkeiten in der sexistischen Unterdrückung deutlich zu
machen und eine internationale Perspektive zu formulieren. Wenn wir diese
aktuellen Kämpfe betrachten, dann lassen sich 5 konkrete Forderungsblöcke
daraus ableiten:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den
Produktionsprozess!

2. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!

3. Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Das sind alles Forderungen, die sich auf viele grundlegende
Problematiken beziehen, mit denen wir Frauen – und damit meinen wir in erster
Linie die Masse der Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, der
Bauern-/Bäuerinnenschaft und den nicht ausbeutenden Schichten der städtischen
Mittelschichten – zu kämpfen haben. Und um diese mit Leben zu füllen, müssen
wir die Proteste, die es gibt, miteinander koordinieren. Es bedarf zweierlei:
einmal einer Möglichkeit, wo sich die unterschiedlichsten Aktivistinnen
austauschen können, denn es gibt bereits Kämpfe, die vernetzt und verbunden
werden müssen. Aktionskonferenzen in Anlehnung an die Sozialforen könnten da
eine Möglichkeit sein.

Der zweite Punkt ist die Basisorganisierung der Bewegungen
vor Ort. Wir müssen uns dort, wo wir uns tagtäglich bewegen, organisieren,
demokratische Strukturen geben – z. B. Vollversammlungen, um zu Aktionen zu
mobilisieren und die Probleme international mit denen vor Ort zu verbinden, um
nicht nur diejenigen zu erreichen, die sich bereits dafür interessieren. Damit
das passiert, ist es ebenfalls wichtig, Druck auf bereits bestehende
Organisationen wie beispielsweise Gewerkschaften auszuüben und dort aktiv
einzugreifen. Der Frauenstreik in Spanien ist vor allem deshalb so groß, weil
sich Gewerkschaftsgliederungen bewusst daran beteiligen und dafür auch
mobilisieren. Denn nur wenn wir eine Bewegung sind, die ihre Basis auf der
Straße hat und nicht nach einem Tag verschwunden ist, können wir unsere
Forderungen durchsetzen!

Die Bewegung, die am 8. März weltweit sichtbar wurde, birgt
das Potential, zu einer neuen proletarischen Frauenbewegung zu werden, einer,
die die Befreiung der Frauen und LGBTIA-Menschen als Teil des Klassenkampfes
betrachtet und mit einer revolutionären Perspektive verbindet. So kann sie
zugleich auch zu einer Vorkämpferin für eine neue, revolutionäre Internationale
werden.




Britannien: Brexit – letzter Akt?

Dave Stockton, Infomail 1048, 27. März 2019

Am Samstag, den 23. März,
füllten über eine Million Menschen die Straßen und Plätze im Zentrum Londons in
der wohl größten Demonstration der britischen Geschichte. Sie forderten eine
Volksabstimmung über den Tory-Brexit-Deal, einschließlich der Alternative,
Artikel 50 zu widerrufen und den Brexit zu verhindern. Sie bildeten eine
Menschenmenge von der Park Lane zum Trafalgar Square durch Whitehall bis
zu  einem Rednerpodium vor dem
Parlament. Einige Leute mussten 3 oder sogar 4 Stunden warten, bis sie
losmarschieren konnten.

Unterdessen hatte eine
Online-Petition für eine Volksabstimmung über vier Millionen Unterschriften
erreicht. Am 25. März stieg die Zahl der UnterzeichnerInnen auf 5,3 Millionen.
Wird das Parlament auf die Menschen hören? Bislang gibt es kein Anzeichen
dafür. Sich an ihr „Mandat“ für 2016 festklammernd, bestehen die
Brexit-BefürworterInnen darauf, dass eine erneute Konsultation der Bevölkerung
ein Verstoß gegen die Demokratie wäre!

TeilnehmerInnen

Der Marsch wurde von
einer Koalition aus Liberalen, dem rechten Labourflügel, schottischen
NationalistInnen und verschiedenen Prominenten organisiert und geleitet und
wurde von einem Wald aus blauen EU-Flaggen dominiert. Dennoch war der Geist der
DemonstrantInnen eine klare Ablehnung des nationalistischen und rassistischen
Charakters des Brexit-Projekts und die TeilnehmerInnen sprachen sich für ein
Willkommen der Flüchtlinge und MigrantInnen aus. Wie jede/r weiß, ist das
zentrale Motiv der Brexit-BefürworterInnen, die Einwanderung zu stoppen („die
Kontrolle über unsere Grenzen wiederzuerlangen“), so dass jede/r an den
Schildern sehen konnte, dass der Geist des Marsches antirassistisch war.

Eine Gruppe linker
Abgeordneter, darunter Kate Osamor und Clive Lewis, und von Gewerkschafts- und
WahlkreisaktivistInnen versammelte sich, um auf dem Marsch einen vereinigten
linken Block zu bilden. Er wurde von „Another Europe is Possible“ and „Labour
for a Socialist Europe“ organisiert und von der Transport- und
Verkehrs-Gewerkschaft und ihrem Generalsekretär Manuel Cortes unterstützt.
Sowohl Cortes als auch Clive Lewis sprachen bei einer Kundgebung, als die
DemonstrantInnen darauf warteten, loszugehen.

Lewis sagte: „Brexit ist
ein Tory-Projekt. Es ist ein rassistisches Projekt. Es geht um die
Deregulierung der Wirtschaft und den Angriff auf die Rechte der hier geborenen
ArbeiterInnen und der ArbeitsmigrantInnen. (…) Also marschieren wir als
linker Block zusammen, weil wir uns weigern, die Idee zu akzeptieren, dass die
Anti-Brexit-Bewegung Eigentum nur von PolitikerInnen offen bürgerlicher
Parteien der Mitte ist.“

Die Demonstration war
durch die große Beteiligung junger Menschen, von denen die meisten beim
Referendum nicht stimmberechtigt waren, und BürgerInnen der anderen 27
EU-Länder, die im Vereinigten Königreich arbeiten oder studieren,
gekennzeichnet, die jetzt in einem Klima der Fremdenfeindlichkeit und Gewalt
mit einer Registrierungspflicht und möglicherweise Abschiebung konfrontiert
sind, falls Brexit nicht gestoppt wird.

Bemerkenswerterweise
fehlten der Labour-Chef Jeremy Corbyn und auch die große Mehrheit der linken
Parteiführung. Ebenfalls fehlte Momentum, die „basisdemokratische Bewegung“ zur
Unterstützung von Corbyn, deren eigentliche Wurzeln in den letzten zwei Jahren
verwelkt sind. Auch die Plakatwälder von Socialist Worker und der Socialist
Party , die normalerweise britische Demos schmücken, um den Eindruck von
Masseneinfluss für ihre schrumpfenden Sekten zu erwecken, waren nicht zu sehen.

Die Hauptkräfte der britischen Linken, die sich in die Illusion eines linken Brexit oder „Lexit“ verliebt haben, waren während der tiefen Krise, die Großbritannien seit Monaten heimsucht, nicht in der Lage, etwas Bedeutendes zu sagen oder zu tun. Ihre einzige Errungenschaft bestand darin, diese aufstrebende progressive Bewegung unter der Führung der rechten Seite der Labour Party und kleinerer Parteien wie der Grünen zu belassen. Sie fürchten, ihre völlige Bedeutungslosigkeit auf den Straßen selbst zu demonstrieren, und sie können sie sich den echten Brexit-BefürworterInnen mit ihren Union Jacks (britische Nationalflaggen) und Anti-ImmigrantInnen-Parolen anschließen.

Parlamentarische Farce und Labour

Während der gesamten
parlamentarischen Farce wurde die große Mehrheit der Mitglieder der Labour
Party und der WählerInnen, die, wie man sich erinnern sollte, auch in Gegenden,
die mehrheitlich für den Austritt stimmten, für den Verbleib in der EU votiert
haben, von der linken Führung getäuscht und demobilisiert. Mit der Behauptung,
dass die Freizügigkeit der ArbeiterInnen „beendet werden“ und die Entscheidung
des Volkes im Jahr 2016 „respektiert werden muss“, haben sie jede echte
Forderung nach einer „Volksabstimmung“ auch bis zuletzt blockiert und verzögert.
Dies hat deutlich gemacht, dass die Entschließung der Liverpooler
Labour-Konferenz, die eine solche Abstimmung „auf den Tisch legte“, eine
grausame Täuschung war.

Unterdessen haben die
Corbyn-Führung und Momentum jede ernsthafte Diskussion darüber, wie die
Europapolitik der Labour Party aussehen sollte, blockiert. Sie haben die
Notwendigkeit, ihren Parteivorsitzenden gegen die Rechte in der
Labour-Parlamentsfraktion zu „unterstützen“, als Vorwand benutzt. Diese
unehrliche Politik zeigt, wie oberflächlich und vorübergehend sich die
Demokratisierung der Partei erwiesen hat.

Jetzt steht Theresa Mays
Erpressungsstrategie, die Uhr bis zum 29. März herunterlaufen zu lassen – die
Frist wurde jetzt bis zum 13. April verlängert -, um die Abgeordneten von Tory
und Labour zu zwingen, ihren Deal zu unterstützen, ohne Haltelinien da. Das
Land blickt nun in den Abgrund eines Ausstiegs ohne Abkommen. Hunderttausende,
ja Millionen von ArbeiterInnen und StudentInnen vom europäischen Festland
könnten ohne sicheren Status verweilen oder zum Verlassen des Landes gezwungen
werden. Alle InternationalistInnen in Großbritannien sollten sich
zusammenschließen, um diesen Brexit um jeden Preis zu stoppen.

Gegen die Kosten des Brexit

Dies wird weitere
Massendemonstrationen im ganzen Land erfordern. Zweitens müssen die
Gewerkschaften in den Kampf gegen Brexit, in Aktionen hineingezogen werden –
nicht durch gemeinsame Pressekonferenzen mit der Industriellenorganisation, dem
CBI, wie sie es letzte Woche getan haben, sondern indem sie ihre Mitglieder
entweder gegen einen aus dem Grab gestiegenen May-Deal oder die wirtschaftliche
und soziale Katastrophe nach einem „No Deal“ mobilisieren.

Angesichts dieser Bedrohung sollte der Gewerkschaftsdachverband TUC einen Generalstreik einleiten, um die Abwälzung der Kosten des Brexit auf die ArbeiterInnen zu verhindern, und eine Volksabstimmung fordern. Lokale Aktionsausschüsse aus den Basisorganisationen der Gewerkschaften, lokaler Labour-Party-Ortsgruppen, StudentInnenverbänden, der MigrantInnen und antirassistischer Gruppierungen sollten gebildet werden, um direkte Aktionen einzuleiten und zu verbreitern – egal welche Tricks die Tories anwenden, um den Brexit durchzuziehen.

Aber es ist die Labour Party, deren Mehrheit starke anti-nationalistische Gefühle hegt, die das wichtigste Schlachtfeld bleibt. Die Mitgliederbasis sollten ihre Abgeordneten auffordern, darauf zu bestehen, dass die Labour Party eine Resolution vorlegt, in der sie (a) die sofortige und bedingungslose Aufhebung von Artikel 50 und (b) eine Volksabstimmung über jeden vorgeschlagenen Brexit-Deal einschließlich der Option „No Brexit“ fordert. Natürlich sollte Labour auch gegen May und ihre Regierung einen Misstrauensantrag stellen.

Nicht zuletzt müssen Labour und die Gewerkschaften, die für die Millionen, die sich gegen Brexit stellen, sprechen, einen Aktionsplan verabschieden gegen das Leiden der benachteiligten Regionen, für offene Grenzen für Flüchtlinge und ArbeitsmigrantInnen, gegen die Banken und neoliberalen PolitikerInnen, ob in der Londoner City oder in Frankfurt und Brüssel.

Die internationalistische Linke muss sich europaweit vernetzen, um den Aufstieg der rassistischen Rechten zu bekämpfen, um die Verhängung von Sparmaßnahmen durch die Behörden der EU und der Eurozone gegenüber Ländern wie Griechenland zu bekämpfen, um das Recht auf Selbstbestimmung von Nationalitäten wie den KatalanInnen durchzusetzen und Flüchtlinge und ArbeitsmigrantInnen zu schützen.

Ein sofortiger Schritt für Gewerkschaften, die gegen Sparpakete und Rassismus auftreten, für sozialistische Parteien und Jugendorganisationen bestünde in der Einberufung eines Europäischen Sozialforums, auf dem sie ihre Bemühungen koordinieren und ein Aktionsprogramm ausarbeiten könnten. Andernfalls wird es den rassistischen PopulistInnen wie Farage oder Le Pen überlassen, sich demagogisch gegen das „Europa der Bankiers und der Neoliberalen“ zu stellen. Gegen die EU, wie sie heute ist, müssen wir nicht den Ruf nach Sozialismus in einem Land der Lexit-BefürworterInnen erheben, sondern die Forderung nach Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

Red Flag beteiligte sich am linken Block und verteilte auf der Demo ein Flugblatt: Stop Brexit – by any means necessary




Neuseeland: Massenmord in Christchurch

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, 18. März 2019, Infomail 1047, 19. März 2019

Die terroristische Ermordung von 50
MuslimInnen und die teilweise lebensgefährliche Verwundung von weiteren 48 in
Moscheen in Christchurch, in der Region Canterbury an der Ostküste der Südinsel
Neuseelands liegend, ist das jüngste erschreckende Zeugnis für den Anstieg des
gewalttätigen Rassismus weltweit. Obwohl solche Ausschreitungen oft das Werk
kleiner rechtsextremer Netzwerke oder pathologischer „EinzelgängerInnen“ sein
mögen, werden die Ideen, die sie motivieren, von einem viel größeren und
wachsenden Spektrum politischer Kräfte getragen, die Hass verbreiten wie Pegida
in Deutschland, Tommy Robinson (bürgerlicher Name: Stephen Yaxley-Lennon), die
FLA (Fußballanhängervereinigung) oder UKIP (Partei für die Unabhängigkeit des
Vereinigten Königreichs) unter Gerard Batten in Großbritannien. Einige befinden
sich bereits in mit enormer Macht ausgestatteten Positionen, allen voran Donald
Trump.

Viele der Opfer in Christchurch waren
Flüchtlinge und stammten aus Syrien, Jordanien, Pakistan und Bangladesch.
Neuseeland hat eine sehr kleine muslimische Gemeinschaft, etwa ein Prozent der
Gesamtbevölkerung. Doch die RassistInnen stellen sie als Bedrohung für „unsere“
Zivilisation dar und geben vor, ihre Opfer zu sein. Tatsächlich sind sie die
TäterInnen und würden uns alle in die Barbarei stürzen, wenn es nach ihrem
Willen ginge.

Wie bei anderen mörderischen Gewalttaten
folgte auf das Entsetzen schnell die Heuchelei. Stunden nach dem Angriff
erklärte die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern, dass es in
Neuseeland „keinen Platz für die AnstifterInnen von Hass“ gebe. Aber die
gleiche Ardern hat mit Mitgliedern von New Zealand First, einer offen
rassistischen Partei, eine Regierung gebildet und überließ der Partei drei
Kabinettssitze, obwohl sie bei den Wahlen 2017 nur 7,2 Prozent erzielte.

Rassistische Morde

Der Massenmörder Brenton Harrison Tarrant,
ein 28-jähriger australischer weißer Rassist und Neonazi, hat seinen Angriff
auf die beiden Moscheen mit einer Helmkamera live mitgefilmt. Videoclips seiner
Tat verbreiteten sich bald weltweit über Facebook, Twitter, YouTube und Reddit.
Dies stellt einen Schritt dar, die sozialen Medien als Waffe zu nutzen, nicht
nur um rassistische Ideologie zu verbreiten, sondern auch um Massenmorde
anzuregen.

Tarrant veröffentlichte zwei Tage zuvor
auch ein 74-seitiges Manifest, „The Great Replacement“ (Der Große Ersatz), das
den norwegischen Neonazi und Massenmörder Anders Behring Breivik kopierte. Es
enthielt die von Grund auf paranoiden Fantasien über muslimische Einwanderung
und Terrorismus, die einen „weißen Völkermord“ darstellen, und die Aussage,
dass US-Präsident Donald Trump „ein Symbol für die erneuerte weiße Identität“
sei.

Breivik hat 2011 77 Menschen ermordet und
Tarrant behauptet, mit ihm in Kontakt gestanden zu haben. Er ist zu einem
Helden und Vorbild für Online-HasserInnen gegen MuslimInnen, Juden und
Jüdinnen, FeministInnen, Schwarze und LGBT+-Menschen geworden.

Breiviks Hauptziel war nicht eine Moschee,
sondern ein Sommercamp der Arbeidernes Ungdomsfylking (AUF =
ArbeiterInnen-Jugendliga) auf der Insel Utøya bei Oslo. Dort tötete er 69 junge
SozialistInnen, nur weil ihre Organisation Flüchtlinge unterstützt und ihnen
geholfen hat. Er betrachtete seine jungen Opfer als „RassenverräterInnen“ und
seine Tat inspirierte in den folgenden Jahren zweifellos eine ganze Reihe von
rassistischen Morden.

In Großbritannien scheint ein identisches
Motiv Thomas Alexander Mair angespornt zu haben, als er am 16. Juni 2016 die
Labour-Unterhausabgeordnete Helen Joanne „Jo“ Cox erschoss und erstach. Cox war
bekannt für ihre Arbeit bei der Aufnahme von Flüchtlingen und für die
Unterstützung von deren Bewegungsfreiheit. Der Mord geschah in den letzten Tagen
der Brexit-Kampagne, die einen Anstieg der Angriffe auf MuslimInnen und mehrere
versuchte Brandanschläge auf Moscheen geschürt hatte. Während seines Angriffs
rief Mair „This is for Britain“ (Dies ist für Britannien), „Keep Britain
independent“ (Haltet Britannien unabhängig) und „Put Britain first“ (Stellt
Britannien an die erste Stelle).

Ein Jahr später, am 19. Juni 2017, griff
Darren Osborne eine Menschenmenge vor dem Muslimischen Wohlfahrtshaus in der
Nähe der Finsbury-Park-Moschee in Nordlondon an und tötete eine Person.

Das Muster der Angriffe auf Gebetsstätten
richtet sich jedoch nicht ausschließlich gegen MuslimInnen. In den USA sind
Kirchen seit langem Ziel von weißen RassistInnen. Am Abend des 17. Juni 2015
schoss ein 21-jähriger Dylann Roof bei einem Gebetstreffen in der Emmanuel
African Methodist Episcopal Church in der Innenstadt von Charleston, South
Carolina, neun ältere AfroamerikanerInnen nieder.

Am 12. August 2017 sah die Öffentlichkeit
die Unite-the-Right-(Vereinigt die Rechte)-Märsche in Charlottesville,
Virginia, wo verschiedene weiße RassistInnen, Neonazis und die Alt-Right einen
Fackelmarsch auf den Universitätscampus durchführten und „Juden/Jüdinnen werden
uns nicht ersetzen“ und „Unser Blut, unser Boden“ riefen. Am nächsten Tag wurde
Heather Heyer von einem weiteren Mörder, James Alex Fields Jr., der mit seinem
Auto in eine Gruppe von GegendemonstrantInnen raste, absichtlich überfahren und
tödlich verletzt. Donald Trumps Antwort war die Verurteilung von „Hass,
Fanatismus und Gewalt auf vielen Seiten“, indem er Fields eindeutig mit den
antifaschistischen GegendemonstrantInnen gleichsetzte, zu denen Heyer gehörte.

Am 27. Oktober 2018 wurden in der
Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh, Pennsylvania, von Robert D. Bowers, einem
weiteren weißen Rassisten, elf Menschen getötet und sieben verletzt. Während
seiner Tat schrie er: „Alle Juden/Jüdinnen müssen sterben“!

Gemeinsamer Nenner

All diese Gräueltaten, ob gegen
MuslimInnen, Farbige, Juden/Jüdinnen oder MigrantInnen, haben einen gemeinsamen
Nenner: Rassismus – ein Rassismus, der in einer längeren Zeit der
kapitalistischen Stagnation, die von Krisen unterbrochen wird, leicht an Fahrt
gewinnt. Dies gilt umso mehr in Zeiten, in denen die ArbeiterInnenbewegung
aufgrund ihrer falschen Führung keinen Widerstand leistet und keine echte und
dauerhafte Lösung bietet, nicht nur für sich selbst, sondern für alle
Ausgebeuteten und Unterdrückten. Diese Lösung ist der Sozialismus, ein
Sozialimus, der nur durch die politische Macht der ArbeiterInnenklasse errichtet
werden kann.

Wenn bestimmte Klassen oder Teile von
Klassen mit einem akuten sozialen Niedergang konfrontiert sind, aber nicht
fähig oder willens sind, die eigentliche Quelle ihrer Unsicherheit und
Hilflosigkeit zu erkennen, können ihre Ressentiments und ihr Hass leicht gegen
noch stärker unterdrückten und noch angreifbarere Teile der Gesellschaft
gerichtet werden.

Die größte Gefahr, der wir heute ausgesetzt
sind, sind nicht terroristische Einzelpersonen oder kleine Gruppen von
Neonazis, sondern die Teile der rechten kapitalistischen Parteien, die
milliardenschweren Medien, die populistischen Parteien und PolitikerInnen, die
den Rassenhass gegen MuslimInnen, Juden/Jüdinnen, Flüchtlinge, MigrantInnen aus
Afrika, dem Nahen Osten, Lateinamerika oder Asien schüren.

Heute pflegen Donald Trump und seine
soziale Basis, die von der Alt Right beeinflusst wird, die Verbindung zu
„identitären“, von einer „Überlegenheit“ der Weißen überzeugten, offen
faschistischen Kräften. Dies zeigt sich in Trumps Antwort auf die Vorfälle von
Christchurch. Vom Weißen Haus aus nannte er das Blutvergießen „eine
schreckliche Sache“, leugnete aber, dass die rassistische Rechte eine wachsende
Bedrohung auf der ganzen Welt sei, und sagte, es sei „eine kleine Gruppe von
Menschen, die sehr, sehr ernste Probleme haben“.

In einem Interview mit dem
Breitbart-Nachrichtendienst in dieser Woche drohte Trump kaum verhüllt mit
einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit der Linken, womit er seine liberalen
KritikerInnen im Kongress sowie den Massenwiderstand auf den Straßen meint:

„Wissen Sie, die Linke spielt ein härteres
Spiel, es ist sehr komisch. Ich denke eigentlich, dass die Leute auf der
rechten Seite härter sind, aber sie handeln noch nicht härter. Okay? Ich kann
Ihnen sagen, dass ich die Unterstützung der Polizei, die Unterstützung des
Militärs, die Unterstützung der „Bikers For Trump“ habe. Ich habe die harten
Leute, aber sie handeln noch nicht hart, bis sie zu einem bestimmten Punkt
kommen, und dann wäre es sehr schlecht, sehr schlecht.“

Nach den schrecklichen Ereignissen in
Neuseeland haben die „verantwortungsbewussten und seriösen“ Medien das
anhaltende Geschrei gegen Facebook und die sozialen Medien fortgesetzt, als
wären diese der Ursprung des giftigen Rassismus und der Hasspropaganda. In
Großbritannien zum Beispiel sind es die gängigen Boulevardzeitungen wie Daily
Mail, Express und Sun, die hasserfüllte gefälschte Nachrichten und Karikaturen
von das Land überschwemmenden „Scheinflüchtlingen“, „pakistanischen
VergewaltigerInnen“, KinderschänderInnen usw. verbreiten.

Vorbereiten!

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
verbreiteten die rechten Medien die abscheulichste antisemitische Propaganda,
deren Themen und Bildern dem islamophoben Material von heute bemerkenswert
ähnlich waren. Aus dieser Kultur des Rassismus entstehen sowohl
EinzelterroristInnen als auch rassistische Banden, die EinwanderInnen
angreifen.

Dies sollte uns davor warnen, dass die
Verbreitung radikaler rechtsextremer Ideen, insbesondere wenn ihre Kräfte aus
dem Schatten auftauchen und auf die Straße gehen, von der Linken wirksamer
bekämpft werden muss.

  • Erstens müssen wir jeden rassistischen und faschistischen Mobilisierungsversuch stoppen, unsere Straßen zu kontrollieren oder ImmigrantInnen einzuschüchtern und ethnische oder religiöse Minderheiten als Zielgruppe zu bedrohen. Wenn wir das nicht tun, werden sie unweigerlich zu vollständig faschistischen Kräften heranwachsen, die die Existenz der ArbeiterInnenbewegung geffährden. Wo auch immer sie hingehen, unser Slogan und unsere Praxis muss „No Pasaran“, d. h. „Sie werden nicht durchkommen!“, sein.
  • Zweitens müssen wir die Jugendlichen, Frauen und ArbeiterInnen der Gemeinschaften, die die RassistInnen attackieren, stärker und vollständiger in die ArbeiterInnenbewegung einbeziehen, sie gegen die Schikanen von Polizei- und Einwanderungsbehörden verteidigen und auf ihrem Recht auf Aufenthalt, Arbeit und gleichberechtigtem Zugang zu allen Vorteilen und Rechten bestehen, die andere BürgerInnen genießen.
  • Drittens müssen wir den Aufbau einer mächtigen Bewegung, von Parteien und Gewerkschaften, die gegen die Sparpolitik auftreten, und den Kampf für den Sozialismus vorantreiben. Nur eine starke positive Kraft, die für ein anderes Gesellschaftssystem steht, kann den Sumpf des Rassismus trockenlegen.