Skandal nach der Berlinale: Frieden und freie Meinungsäußerung unerwünscht

Jonathan Frühling, Infomail 1246, 4. März 2024

Jährlich findet in Berlin die Berlinale statt – ein internationales Filmfestival, welches zu den weltweit wichtigsten zählt. Deutschland und seine Kulturstadt Berlin lassen sich nicht lumpen. Zum Programm gehört auch die Verleihung von Preisen in verschiedenen Kategorien. Der Dokumentarfilmpreis ging diesmal an den Palästinenser Basel Adra und seinen israelischen Kollegen und Freund Yuval Abraham. Die beiden hatten sich zusammengetan, um die Doku „No other Land“ zu drehen. Darin geht es um das Leben (und Sterben) unter der kolonialistischen Siedlungspolitik des israelischen Apartheidregimes im Süden des besetzen Westjordanlandes. Sie zeigt drastisch die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Armee und rechtsradikalen Siedler:innen sowie den heroischer Kampf der Palästinenser:innen dagegen.

Bei der Auszeichnung wurde von den Preisträgern ein Ende der Waffenexporte nach Israel gefordert, um den momentan stattfindenden Genozid zu stoppen. Es wurde die Forderung nach einem Ende des Krieges und Frieden zwischen den Völkern im Nahen Osten laut. Das Publikum applaudierte und skandierte: „Free Palestine“. So weit, so erfreulich.

Hetze

Als die Geschehnisse an die Öffentlichkeit drangen, wurde von bürgerlichen Politiker:innen sofort ein Skandal daraus konstruiert. Der Vorwurf des Antisemitismus wurde dafür mal wieder missbraucht. Bürgerliche Politiker:innen wie der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner bezeichneten den Vorfall als unerträglich und forderten zu verhindern, dass sich so etwas wiederholen kann. Der eigentliche Skandal ist also der Grundtenor der zionistischen Hetzer:innen: Wie kann es sein, dass sich ein Künstler unzensiert äußern und öffentlich für Frieden eintreten darf?

Es wurde also offen nach noch mehr Zensur gerufen. Die Parole: „From the river to the sea, Palestine will be free“ fällt ja bereits unter diese. Die grüne Kulturministerin Claudia Roth setzte sich am Ende noch auf die Spitze des Eisberges, als sie beteuerte, dass sie bei der Preisverleihung nur für den Israeli Abraham, nicht aber für den Palästinenser Adra applaudiert hätte. Sie versucht, sich also zu verteidigen, indem sie ihren unverhohlenen Rassismus betont!

Beim Konzert der Hetzer:innen und Demagog:innen wollte der ansonsten blass-blaue FDP-Justizminister Buschmann nicht lumpen lassen. Er forderte strafrechtliche Konsequenzen für angebliche antisemitische Äußerungen bei der Berlinale. Wie ungeniert die Regierungen mittlerweile Lügen in die Welt setzen, zeigt eine Bundespressekonferenz Ende Februar. Auf mehrmalige Nachfragen von Journalist:innen hin, konnte die Sprecherin des Ministerium, Marie-Christine Fuchs, keine einzige konkrete Äußerung benennen. Der Minister, so seine Pressesprecherin, habe sich nur „generell zu Antisemitismus“ geäußert.

Währenddessen tragen Hetze und Falschaussagen Früchte. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar drang ein rechter Mob in das Haus Abrahams in Israel ein und bedrohte seine Familie. Diese musste daraufhin aus der Stadt fliehen. Abraham erhielt zudem zahlreiche Todesdrohungen und musste seine Rückkehr nach Israel deshalb verzögern. Er selbst verteidigte sich gegen den absurden Vorwurf des Antisemitismus. Er verwies darauf, dass der inflationäre Gebrauch dessen ihn seiner Wirkung beraube. Tatsächlicher Antisemitismus würde damit relativiert. Damit hat er Recht, denn was ist denn noch der Unterschied zwischen bewaffneten Faschist:innen, die Brandanschläge auf Synagogen durchführen, und einem israelischen Regisseur, wenn doch beide gleichermaßen Antisemit:innen sind?

Mundtod machen

Die hysterischen und reaktionären Lügen machen aber auch deutlich, wie verzweifelt die herrschende Politik jede Solidaritätsbekundung mit Palästina mundtot machen will. Nichts fürchtet sie mehr als einen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Dieser schreitet jedoch mit jedem Kriegstag voran. Die Verbrechen Israels werden immer bestialischer und lassen sich nicht mehr schönreden. Gaza liegt zu 80 % in Schutt und Asche, 1,8 Millionen wurden Menschen vertrieben, 30.000 sind tot. Kürzlich wurde bekannt, dass Israel systematisch Wohnhäuser in den besetzten Gebieten niederbrennt. Vor wenigen Tagen wurden knapp 1.000 bei der Ausgabe von Hilfsgütern beschossen, wobei 115 ermordet wurden. Der Hunger wird so extrem, dass die ersten Kinder bereits daran gestorben sind. Währenddessen haben die Ermordungen und Vertreibungen auch im Westjordanland explosionsartig zugenommen.

Das alles wird auch möglich, weil Deutschland an Israel Waffen liefert, diplomatische Unterstützung leistet und seine Hilfszahlungen an das UN-Geflüchtetenwerk für Palästina eingestellt hat. Seit Neustem ist es auch noch direkter in den Krieg involviert, indem die Bundesmarine die Drohnenangriffe auf mit Israel assoziierte Schiffe auf See bekämpft.

Doch der Einfluss Deutschlands bedeutet auch, dass wir hier mit unserem Widerstand einen großen Einfluss auf den Krieg nehmen können. Die pro-palästinensische Bewegung bietet der Regierung bereits seit Anfang Oktober ununterbrochen die Stirn und bringt den Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Straßen. Vom 12. – 14. April 2024 findet in Berlin ein Kongress statt, der zum Ziel hat, die Bewegung zu bündeln und weiterzuentwickeln. Zusammen können wir den Krieg und den Genozid beenden!

Hier der Link zur Anmeldung beim Kongress: https://palaestinakongress.de/




Sport: zum Beispiel Beckenbauer

Bruno Tesch, Infomail 1241, 9. August 2023

Die Todesnachricht von Franz Beckenbauer verdrängte am 8. Januar 2024 die brisanten politischen Schlagzeilen der Treckerblockaden unerwartet vom Nachrichtenplatz eins. Vor 15 Jahren kannte ihn noch jedes Kind. Inzwischen war seine Jahrzehnte währende mediale Präsenz jäh abgestürzt.

Im Rahmen des Untersuchungsberichts seiner Antikorruptionskommission tauchten Vorwürfe gegen den Deutschen Fußballbund (DFB) über Schmiergeldzahlungen bei Stimmenkauf für die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 auf. In diesem Zusammenhang schlugen die Vorwürfe gegen den „Kaiser“ wie eine Bombe ein. Der Name Beckenbauers, bislang ein begehrter Werbeträger, verlor seinen Glanz ebenso wie seine Reputation als maßgeblicher DFB-Repräsentant. Er war damals Inbegriff eines unverzichtbaren Zugpferdes des Sports, seine Autorität und Weltgeltung als Sportpersönlichkeit bildeten eine scheinbar sichere Erfolgsgarantie.

V. a. die Sensationspresse hatte ihn zur Ikone hochgeschrieben und jedes seiner Worte als bedeutendes Statement gefeiert. Gelegentliche Kritik aus liberaleren Medien, z. B. an seiner Leugnung von sklavenähnlichen Ausbeutungsverhältnissen bei den Bauten für die Weltmeisterschaft in Katar, konnte ihm noch 2013 nichts wirklich anhaben.

In den letzten zehn Jahren aber wandte sich die Medienwelt brüsk von ihm ab. Vorwürfe der Steuerhinterziehung, Millionenbeträge für ein Ehrenamt kassiert zu haben, standen im Raum. Er, der das Wort eigene Fehler sonst nicht kannte, gestand Verfehlungen nunmehr ein. Die Angriffe gegen ihn konnte er nicht verkraften. Er zog sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurück und erkrankte in den letzten Lebensjahren. Die „Lichtgestalt des deutschen Fußballs“ trat in den Schatten.

Die Karriere des Franz Beckenbauer weist in seinen Stationen jedoch über ein sportliches Einzelschicksal hinaus und vollzog sich vor dem Hintergrund einer Entwicklung, die namentlich den deutschen Fußballsport kennzeichnete.

Groß geworden in den 1950er und frühen 1960er Jahren in eher proletarischem Milieu erlebte er seinen Aufstieg in einer Zeit des Umbruchs. Der DFB vollzog mit der Einführung einer zentralen obersten Spielklasse, der Bundesliga, 1963 einen längst überfälligen Schritt hinaus aus der provinziellen Enge eines föderal verschachtelten Systems. Dies geschah mit der vordergründigen Absicht, im sportlichen Konkurrenzkampf auf internationaler Ebene nicht zurückzufallen. Diese Maßnahme bewirkte sportpolitisch jedoch auch eine Einschränkung der Verbandshoheit und v. a. stellte sie neuen Hierarchien und Eigenständigkeit auf Vereinsebene die Weichen.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Statuten über Spielergehälter und Geschäftsgrundlagen von Vereinen aufweichten. Einem dieser Vereine gehörte auch Franz Beckenbauer an, der als knapp 20-Jähriger mit Bayern München in die Bundesliga einzog. Schnell machte sich bezahlt, einen Klub im Rücken zu haben, der seinen Spielern die besten Annehmlichkeiten in Form von Übungsstätten, sportlicher und medizinischer Betreuung bieten konnte. Franz Beckenbauer trug bald nicht nur den Bayerndress, sondern auch das Trikot der BRD-Auswahl, die er als Kapitän später zu Weltmeisterehren  anführen sollte.

1974 war bereits das Trikotwerbeverbot für Fußballvereine und damit ein weiterer Dominostein auf dem Wege der Durchkapitalisierung des deutschen Fußballs gefallen.

Längst konnten die Vereine ihre Unkosten nicht mehr durch den Erlös aus Stadioneintrittsgeldern für die Spielrunden oder Zuwendungen wohlwollender Mäzen:innen decken, sie mussten andere Einnahmequellen anzapfen. Zunächst wich man auf den Verkauf von Fan-Artikeln aus, doch dies erforderte auch einen erhöhten Personalaufwand.

Feste Werbeverträge mit potenten Geschäftspartner:innen waren gefragt. Neben den Vereinen konnten auch Aktive, falls sie denn sportliche Erfolge und Repräsentanz vorzuweisen hatten, sich auf die Art existenziell arrondieren. Franz Beckenbauer durch Vereinsmeister- und DFB-Auswahltitel war prädestiniert für diese Rolle. Er wäre wahrscheinlich auch Weltfußballer geworden, wenn es diese Auszeichnung denn zu seiner Aktivenzeit bereits gegeben hätte. Im Laufe seiner Karriere generierte er mehr Einnahmen als jeder andere deutsche Fußballer.

Nach dem Ende seiner spielerischen Laufbahn war er eher begleitend tätig und bewegte sich bald in den einflussreichen Kreisen der Arrivierten, auch des Fußballweltverbandes FIFA. Franz Beckenbauer hatte es nicht nötig, sich bspw. im Trainergeschäft zu verbrennen, und dennoch, als die Weltmeisterschaft 1990 anstand, schuf der DFB ihm, der längst nur noch mit dem Beinamen „Kaiser“ apostrophiert wurde, eigens einen in der DFB-Satzung nicht vorgesehenen Posten als „Teamchef“. Er wurde als Macher des Titelgewinns gefeiert, ebenso wie ihm später zugeschrieben wurde, die Weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland geholt zu haben.

Beckenbauer signalisierte auch den Umbruch in der öffentlichen Wahrnehmung einer Sportart. Gegründet als Mannschaftssport, der ihm weltweit den proletarischen Massenanhang beschert hat, klafft eine immer größere Dimension zwischen dem Schein des Identifikationsanreizes, dem Zusammenhalt, der Solidarität im Verein, in einer Mann-/Frauschaft und dem Starkult um Einzelpersonen, der ein völlig anderes, aber gleichermaßen Trugbild im Spitzensport vermittelt.

Franz Beckenbauer betrieb zum Schluss mit Vorliebe einen der Nähe zum Proletariat gänzlich unverdächtigen Einzelsport – Golf. Symbolisch steht dies für seinen Werdegang. Als Sohn eines mittleren Postbeamten schaffte er den Aufstieg und den damit verbundenen Ausstieg aus der Lohnarbeiter:innenklasse zum mehrfachen Millionär, zur Lichtgestalt des deutschen Fußballs – ein Aufstiegsversprechen, das heute mehr und mehr abgenützt ist und gerade deshalb täglich anhand kleiner Beckenbauers bei Sport und Spielen wiederholt wird. Noch als Kaiser war Beckenbauer zugleich seine eigene Kopie, Lichtgestalt und deren unfreiwillige Parodie zugleich. Doch trug er als Kunstfigur noch einen gewissen Schein der Einzigartigkeit mit sich. Heute sind die Idole längst zur Massenware geworden. Ihre inszenierte Individualität ist letztlich nur die Erscheinungsform des Immergleichen. Angesichts der immer größer geworden kommerziellen Sportmaschinerie erscheint der verstorbene Beckenbauer, der lange als ihr Vorreiter galt, wie aus der Zeit gefallen, ein bloß noch nostalgisches Überbleibsel einer vergangenen Periode.




Marxistische Filmkritik: die Sissi-Trilogie

Felix Ruga, REVOLUTION, Infomail 1241, 3. Januar 2024

Dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, die Sissi-Trilogie aus den 1950er Jahren, die jedes Jahr im Wohnzimmer meiner Familie zur Weihnachtszeit läuft, mal etwas bewusster zu schauen, und konnte es zunächst kaum verstehen: Wie kann das eigentlich sein, dass gerade dieser Film zu so einem Weihnachtsklassiker geworden ist? Da geht es kein bisschen um Weihnachten! Aber irgendwie fühlt es sich doch stimmig an. Welche Bedürfnisse werden also bedient? Warum gehört der Film zur Weihnachtstradition doch einiger Familien in Deutschland?

Kurzer Überblick

In der Trilogie wird ziemlich frei das junge Leben der Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sissi und gespielt von Romy Schneider, nacherzählt. Im Grunde verläuft die Handlung entlang ihrem romantischen Verhältnis zu Kaiser Franz. Sie treffen 1853 zufällig aufeinander, während Sissi noch eine jugendliche Adlige in Bayern ist, und verlieben sich natürlich innerhalb weniger Stunden unsterblich ineinander. Damit beginnen dann die ganzen Konflikte des Films: Was ist mit der bereits arrangierten Ehe von Franz? Hat Sissi als niedere Adelige überhaupt das Zeug dazu, Kaiserin zu werden? Wie gewinnt Sissi das Herz des Wiener Hofs und gerade ihrer herrischen Schwiegermutter? Wie kriegen die beiden die Politik und ihre Liebe unter einen Hut? Kann Sissi die politischen Krisen im großen Kaisertum und Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn mit ihrer Forschheit, Cleverness und ihrem Charme lösen? Und dann wird sie auch noch schwanger! Das alles wird dann verhandelt auf Hofbällen, Ausflügen, dem Schloss oder in den vielen humorvollen bis melodramatischen Dialogen.

Damit hätte man schon den ersten Ansatz, was den Film so passend zu Weihnachten macht: Er ist auf mehreren Ebenen „leicht“. Zum einen wäre da natürlich das Filmische, also dass die Ästhetik kitschig und das Schauspiel übertrieben theatralisch ist, sodass man eigentlich immer sofort versteht, was bei den Charakteren so abgeht. Alle Rollen passen ins Gut-böse-albern-Schema. Zum anderen ist die Stimmung leicht, denn man kann den Film eigentlich gar nicht ernst nehmen. Immer, wenn es mal etwas schwerfälliger werden könnte, trampelt irgendein trotteliger Offizier herein oder der Film schneidet rüber zu den herzlich-komischen Eltern von Sissi. Alles wird getragen von der schnulzigen und reinen Romantik zwischen den Protagonist:innen. Kein Wort über die wahren Verhältnisse in der Ehe zwischen dem Kaiser, der seine damals 16-jährige Cousine heiratete oder Sissis ständiger Flucht vom Hof, Magersucht und „Melancholie“. Und letztendlich sind Sissis Adeligenprobleme für uns moderne Arbeiter:innen doch mehr als fremd und deswegen besonders leicht bekömmlich.

Die guade oide Zeit

So weit, so gewöhnlich. Solche seichte Unterhaltung ist so alt wie das Kino selbst und heute mit etwas anderer Ästhetik immer noch weitverbreitet. Um zu verstehen, was die Sissi-Trilogie für die Deutschen so betörend macht, muss man schauen, unter welchen Vorzeichen diese gedreht wurden. Die 3 Filme kamen 1955, 1956 und 1957 raus und lagen damals voll im Trend, denn da wurde eine Heimatschnulze nach der anderen gedreht. Nach der Befreiung Deutschlands von den Nazis kann man hier die Stimmung ablesen: Zum einen hegten die Deutschen immer noch die ideellen Werte von Heimat, Familie, Autorität und symbiotischer Einigkeit zwischen Volk und Staat, zum anderen wurde man jedoch besiegt, gedemütigt und so manche:r wird mit der eigenen Mitwirkung an den Untaten der Nazis konfrontiert, während ein Großteil gar nicht dran denken will. Heimatschnulzen klemmen sich in diesen Widerspruch besonders gut rein: oberflächlich unpolitisch, unkompliziert und unbeschwert, aber gleichzeitig wird die Romantisierung der ganzen alten Naziwerte betrieben.

Die Sissi-Trilogie hat dieses politische Unpolitisch-Sein gemeistert und das ist sicherlich ein entscheidender Grund, warum sie bis heute so ein großer Erfolg ist. Indem man nämlich in die romantisierte Darstellung einer längst vergangenen Zeit schlüpft, bricht man oberflächlich aus der kapitalistischen Modernität aus. Das wird durch den ganzen Kitsch noch weiter zementiert. Dazu werden antimoderne Wünsche befriedigt: Da wäre zum einen natürlich die fast schon skandalöse Idealisierung des Adels und Verniedlichung seiner Herrschaft. Da in dem Film fast ausschließlich Adelige oder deren unmittelbare Bediensteten auftreten, entsteht der Eindruck einer „Klassenlosigkeit“: kein Wort zu den heftigen Klassenkämpfen und revolutionären Bestrebungen zu dieser Zeit, keine Beachtung des anwachsenden Proletariats, der beraubten Bauern-/Bäuerinnenschaft von ihrem Land, am Rande werden mal die aufsteigenden Nationalbewegungen verhandelt. Vor allem geht es aber um die auf magische Weise wohlhabenden Adligen in ihren prunkvollen Sälen. Das gibt mehr als genug Raum für Eskapismus aus den Mühen des modernen Kapitalismus.

Zum anderen sind da die nationalistischen Gefühle, die dem Film zwar aus allen Poren triefen, aber nicht so plump wie im Nazi-Stil. Denn es geht im Film ja nicht um Deutschland, sondern „nur“ um das Habsburgerreich Österreich-Ungarn, was aber für Deutschnationale eigentlich ja auch nur verlorene Deutsche sind, und zwar genau zu einer Zeit, als dieses noch mächtig und groß war und diverse Länder unterjochen konnte. Dadurch wird die Sehnsucht nach der Zeit bedient, „als wir in der Welt noch wer waren“, ohne es so offensichtlich zu machen, dass man sich damit aktiv auseinandersetzen müsste. Das alles kulminiert in der Schlussszene der Trilogie: Venedig will sich vom Habsburgerreich emanzipieren und protestiert, indem dem Kaiserpaar bei der Ankunft nicht zugejubelt wird. Doch Sissi erwärmt mit ihrem Charme die Herzen der Venezianer:innen und die politische Krise ist abgewehrt. Zur Feier schmettert in voller Länge die deutsche Nationalhymne los. Aber zwinker, zwinker – es ist ja nicht wirklich die bundesdeutsche Nationalhymne, sondern Österreich hatte damals die gleiche Melodie! Ist ja nichts dabei, in Zeiten des geteilten Deutschlands die Nation zu beschwören. Alles nur geschichtliche Sorgfalt, nicht wahr?

Schuldige Unschuld und unschuldige Schuld

Zuletzt sollte man sich noch die ideologische Rolle der namensgebenden Protagonistin Sissi anschauen. Hier kann man die Interpretationen zwischen damals und heute etwas aufteilen. Sissi wird in dem Film als gutherzige, liebenswürdige, volksnahe, jugendlich-unschuldige Frau dargestellt, die zwar eigensinnig, aber doch irgendwie pflichtbewusst in die herrschenden Kreise aufsteigt. Mächtig, beliebt, unschuldig und irgendwie einzigartig in einer fremden Welt. Das ist der ferne deutsche Traum in der Nachkriegszeit und dementsprechend war Sissi damals eine besondere Identifikationsfigur.

Aber auch für das aktuelle Zeitenwende-Deutschland hält Sissi etwas bereit. Überhaupt, als weibliche und starke Protagonistin hat sie etwas Modernes. Sie ist eine Rebellin, aber nicht durch Wut oder Kampfeswillen, sondern weil sie einfach ein gutes Herz hat und ideelle Werte verkörpert und sich nicht an den althergebrachten Machtspielchen beteiligen, aber doch die Weltpolitik mitgestalten will. Eigentlich perfektes Spiegelbild der „wertegeleiteten“ Außenpolitik. Und beide sind doch nur Fassade und im Hintergrund bleibt das Streben nach Ordnung im nationalstaatlichen Interesse.

So lässt sich insgesamt auch erklären, warum der Film so ein Weihnachtsklassiker geworden ist: Er bedient über die historischen Perioden hinweg deutsche Träume, setzt sich dabei aber immer in einen unpolitischen und ungefährlichen Kontext und kann deswegen ganz gedankenlos geguckt werden. Wie immer in den Weihnachtsfilmen werden die guten alten Werte wie Familie, Treue und Nächstenliebe ganz großgeschrieben und das alles wird dann in eine ordentliche Portion Kitsch, Frohsinn und Romantisierung gepackt. Nostalgie dürfte das zentrale Moment des Films sein: Schon in den 1950er Jahren hat er eine nostalgische Vergangenheitsklitterung betrieben, heute ist der Film schon aus der Tradition heraus mit Nostalgie verbunden. Dementsprechend sollte man aber die Ideologie des Films als eine reaktionäre verstehen, denn sie ist rückwärtsgewandt im eigentlichen Sinne, will die modernen Probleme mit der Besinnung auf Altes bewältigen ohne eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Konsequenzen. Die Kälte, Konflikte und Widersprüche der kapitalistischen Moderne lassen sich nicht durch solche Beschönigungen lösen, was auch für fast alle weihnachtlichen Vorstellungen gilt. Das kann nur die Überwindung des Kapitalismus schaffen.




Trash TV – harmlose Unterhaltung oder pure Ideologie?

Von Leonie Schmidt, ursprüngliche veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1222, 5. Mai 2023

Wer kennt es nicht: Nach einem anstrengenden Tag in der Schule, Uni oder auf Arbeit mal eben auf der Couch entspannen und etwas anschauen, was keine große Denkleistung erfordert und Unterhaltung verspricht. Und zufälligerweise ist auch gerade die neue Staffel einer Datingshow im Fernsehen angelaufen. Das passt ja eigentlich perfekt! Doch den meisten Zuschauenden wird an einigen Stellen auffallen, dass manche Sachen, die in solchen Sendungen passieren, irgendwie komisch bis problematisch sind. Was das für Elemente sind und weswegen Trash TV trotzdem so erfolgreich ist, wollen wir in diesem Artikel näher betrachten.

Was ist überhaupt Trash TV?

Starten wir erst mal mit den Grundlagen; Trash TV ist kein eigenes Genre, sondern ein Oberbegriff, für Sendungen, die man grob in Scripted-Reality-Sendungen wie „Mitten im Leben“, Dating Shows wie „Der Bachelor“ und Castingshows wie „Germany’s Next Topmodel“ einteilen kann. Es gibt aber auch noch andere Formate, wo sich vor allem Z-Promis gegenseitig die Köpfe einschlagen, wie bspw. „Promis unter Palmen“. Sie alle haben gemeinsam, dass sie möglichst realistisch wirken sollen, auch wenn es in den meisten Fällen mindestens ein grobes Script, Anregungen durch die Produktionsfirma oder einen Schnitt gibt, der Sachen in ein ganz anderes Licht rücken soll. Diese vermeintliche Realität ist also ziemlich gekünstelt und wird dem Drameneffekt entsprechend zurechtgebogen. Viele können das auch nicht erkennen und so fällt es ihnen dann auch schwer, zwischen den Teilnehmer:innen einer Show und ihnen als Privatperson zu unterscheiden. Und auch den Darsteller:innen fällt das auf die Füße, wenn sie für meist wenig Geld ziemlich entwürdigende Sachen tun müssen (es sei denn, sie sind Promis mit hochdotierten TV-Verträgen und Agenturen).

Trash TV gibt es in der deutschen Fernsehgeschichte noch nicht so lange, denn nach dem 2. Weltkrieg und der Zweiteilung Deutschlands wurde im BRD-Fernsehen eher ein Fokus auf „Erziehung zur Mündigkeit“ gelegt, weswegen es hauptsächlich ernsthafte Formate gab, in denen auch in vielen Fällen Wissen vermittelt wurde. Erst mit der Einführung der Privatsender wie z. B. RTL in den 1980er Jahren wurde ein neuer Fokus deutlich: Es ging auf einmal um Einschaltquoten (und Werbeeinnahmen), denn anders konnte man sich nicht gegen die gefestigten Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durchsetzen. So gab es bspw. Shows wie „Tutti Frutti“, eine Erotik-Spielshow in den 1990er Jahren auf RTL. Klares Vorbild: das US-amerikanische DayTime TV. Gerne wurden hier vor allem Talkshow-Formate mit skandalträchtigen Dramen als Anregung übernommen. Diese waren besonders in den späten 1990ern bis zu den frühen 2000ern angesagt, zum Beispiel „Britt – der Talk um eins“. Aber auch heute noch kann festgestellt werden, dass alle Trash-TV-Formate ein Art Äquivalent im englischsprachigen Raum haben, sei es nun „Love Island“ oder „Too hot to handle“.

Medienwissenschaftler:innen sehen die Vorläufer außerdem in Freakshows und französischem Kasperletheater: Mit anderen Worten, reißerische Inhalte, Fremdscham und seichte Unterhaltung prägen die Sendungen und sind auch deren Erfolgsrezept. Denn ja, natürlich wollen wir sehen, wie 10 Singles gegen ihren Sexdrive ankämpfen und uns darüber lustig machen, dass sie es wirklich nicht 14 Tage aushalten können wie bei „Too hot to handle“. Wenn die Einschaltquoten stimmen, klingeln natürlich auch die Werbeeinnahmen im Portemonnaie (oder wie bei Netflix die Einnahmen aus den Abogebühren). Aber der Fokus auf Geld und Aufmerksamkeit ist mitnichten das einzige Problem, das die beliebten Shows haben. Sie lenken uns ab von den wichtigen Themen des Lebens, lassen uns abstumpfen, haben also eine Art Zerstreuungseffekt, der uns vom Leben während kapitalistischer Krisen ablenken soll. Außerdem vermitteln sie auch in vielerlei Hinsicht falsche Werte und Bilder über bestimmte Personengruppen.

Klassismus und der Hass auf Hartz-IV-Empfänger:innen

Besonders sieht man das zum Beispiel in Scripted-Reality-Sendungen wie „Mitten im Leben“, „Familien im Brennpunkt“ oder im Doku-Format „Hartz aber herzlich“, umgangssprachlich auch als „Asi-TV“ bezeichnet, in welchen Stereotypen über Menschen, welche in Armut leben, vermittelt werden. Oft soll es so wirken, als hätten diese selbst Schuld an ihrer Lage, seien faul, egoistisch, drogen- und alkoholabhängig, schlechte Eltern mit viel zu vielen Kindern, aus denen auch nie etwas werden wird. Auch werden sie auffällig oft als besonders dick mit krass ungesunder Ernährung dargestellt, die den ganzen Tag nur auf der Couch sitzen und fernsehen. Das alles passiert, während in Deutschland Hartz-IV-Empfangende Sanktionen hereingedrückt bekommen und in Maßnahmen gezwungen werden, wollen sie nicht ohne das Minimum an Lebensstandard dastehen.

Laut Armutsforscher Christoph Butterwegge wird durch diese Darstellung einerseits Angst angeheizt, ebenso wie Dome & Co. im Plattenbau zu landen. Den Zuschauenden fällt es aber auf Basis der Stereotypisierung und extremen Überspitzung umso leichter, sich zu distanzieren und zu erheben und sich auch im realen Leben als etwas Besseres zu fühlen.

Diese These lässt sich gut daran bekräftigen, wie die Sendungen in sozialen Netzwerken kommentiert werden. Hier wird gefordert, den Frauen in Armut ihre Kinder wegzunehmen. Es wird darüber gelästert, dass sie es wagen, von ihrem Hartz IV nicht nur Lebensmittel einzukaufen, sondern auch mal Zigaretten oder sich die Nägel machen zu lassen. Wer arm ist, verdient nur das Allernötigste, so der Tenor.

Allerdings sei an dieser Stelle gesagt, dass die Herabwürdigung der Armen in den letzten Jahren eher subtiler geworden ist, als es vorher noch üblich war, und der Blick vermeintlich differenzierter wirkt. Aber die Distanzierung und der Argwohn bleiben natürlich trotzdem bestehen. Denn nicht immer ist das Gefühl der Zuschauenden, etwas Besseres zu sein, ausschließlich reine Arroganz. Manchmal zeigt es sich auch eher in der Hinsicht, dass man sich denkt, dass man es im Vergleich zu „denen“, doch eigentlich ganz gut hat und sich nicht beschweren kann.

So wachsen Vorurteile und Hass. Es kommt zu einer Entsolidarisierung und Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse, was natürlich besonders schlimm ist, wenn es aufgrund der Krise wieder Sozialkürzungen gibt und die geeinte Solidarität gegen diese umso notwendiger wird.

Den Traumprinz in 10 Folgen finden?

Aber im Trash TV geht es nicht immer nur um Armut und Elend. Oft genug werden auch Datingshows produziert, die meistens an exotischen Orten spielen, wo alle Teilnehmenden halbnackt am Pool flanieren, Party machen und ab und zu ein paar „anstrengende“ Challenges bewerkstelligen oder auf Einzel- und Gruppendates gehen. Was das Ziel ist, ist eigentlich klar: Hier soll der/die Traumpartner:in gefunden werden. An dieser Stelle wird also ein bestimmtes Ideal von romantischen, hetero- und cis- normativen Beziehungen vermittelt, die auch schön monogam zu sein haben. Denn wer es wagt, bei den Datingshows nicht nur eine Person im Visier zu haben, wird unter Garantie mit Drama oder, je nach Format, sogar mit dem Ausschluss konfrontiert.

Doch so romantisch das Ideal einer Zweierbeziehung auch wirken mag, oberflächlicher als in diesen Shows geht es eigentlich gar nicht. Der Fakt, dass es insbesondere in Shows wie „Der Bachelor“, wo es einen Hauptcharakter und um ihn konkurrierende Teilnehmende gibt, darum geht, jemanden von sich in ca. 10 Folgen zu überzeugen und die restlichen Kandidat:innen auszuschalten, klingt nicht nach einem Rahmen, in welchem sich eine zwischenmenschliche Beziehung, basierend auf Gemeinsamkeiten, Kommunikation und Nähe entwickeln kann. Konkurrenz zwischen potentiellen Love Interests, wie wir es aus der Realität von Datings Apps kennen, wird hier noch einmal zugespitzt und durch symbolische Interaktionen wie die Rosenübergabe untermauert. Die Oberflächlichkeit dieser Beziehungen zeigt sich auch an ihrer Dauer, die meistens kaum den Zeitraum von Produktion und Ausstrahlung überschreitet.

Auch wird in den meisten dieser Sendungen Sexualität zwar konstant durch Anspielungen angedeutet, aber es wird immer auf den „richtigen“ Moment gewartet oder gleich klargemacht, dass sie im Rahmen der Sendungen keinen Raum einnehmen darf und bis nach dem Finale gewartet werden muss, wobei vorher das Höchste der Gefühle schlabbrige Zungenküsse sind. Auch das entspricht der bürgerlichen Sexualmoral, dass man, wenn man es mit jemandem ernst meint, nicht gleich drauflosvögeln darf und Intimität aufgespart werden muss (was natürlich in extremer Form auf das Warten bis zur Hochzeitsnacht zurückzuführen ist).

Des Weiteren haben viele, vor allem männliche Teilnehmer, ein sehr rückschrittliches Geschlechterbild. Frauen werden als passive Objekte gesehen, die „klargemacht“, „abgeschleppt“ oder überredet werden müssen, die ruhig sein sollen, wenn der Mann spricht, kein Drama machen und sich ganz einfach unterordnen sollen. Der Mann hingegen tritt als klassischer, aktiver Macho und Eroberer auf, der sich nimmt, was ihm vermeintlich zusteht. Auch werden sie schon nach einer kurzen Kennenlernphase oder auch, wenn sie gerade mal ein Auge auf den oder die Angebetete geworfen haben, ziemlich schnell besitzergreifend.

Das alles basiert natürlich auf der Rollenverteilung, die uns allen im Kapitalismus auferlegt wird, um die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die doppelte Ausbeutung der Frau durch unbezahlte Reproduktions- und Lohnarbeit zu legitimieren. Ebenso basiert darauf das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, mit all seinen Einschränkungen, aus dem sich auch die hier reproduzierte bürgerliche Sexualmoral ergibt.

Aber wer macht da eigentlich alles mit?

Wenn wir uns die Anforderungen anschauen, im Bikini oder in der Badehose am Pool zu lungern, wird schnell klar: vor allem normschöne Menschen, die auch als Models und Influencer:innen tätig sein könnten oder dies bereits spätestens nach Ausstrahlung sind. Die Männer sind durchtrainiert und sollen teilweise durch Tattoos noch männlicher wirken. Die Frauen kommen mit langen Haaren, makelloser Haut und schlanken Kurven daher. Personen abseits dieser Ideale sieht man so gut wie gar nicht. Vor allem im Format „Love Island“ wird auch oft in der Villa trainiert und über Ernährung philosophiert. Außerdem geben viel Teilnehmende in den Interviews an, dass ihre Partner:innen durchtrainiert, schlank und bloß nicht dick sein sollten. So wird auch das Bild zementiert, dass nur normschöne Personen es verdient haben, geliebt zu werden. Und für alle anderen gibt es dann Datingshows, in denen ausschließlich Plus-Size-Personen auftreten, sie sich also nur „unter ihresgleichen“ umsehen dürfen.

Außerdem sind die meisten, die dabei sind, weiß und stehen auch offenkundig auf weiße, blonde Frauen, wie Onyi, Teilnehmerin der aktuellen Staffel „Too hot to handle Germany“, kritisiert. Netflix hatte sie zwar als Diversity Bonus gecastet, aber es war klar gewesen, dass die meisten anderen Teilnehmenden ganz andere Präferenzen haben. Das hat sie als Außenseiterin dastehen lassen, wie sie selber und andere auf TikTok kritisierten. Das ist natürlich alles andere als gute Repräsentation in dieser Show und es ist verständlich, dass dieser Umgang mit einer WOC (Woman of Colour; farbige Frau) im TV dem Selbstbewusstsein von Rassismus-Betroffenen nicht gerade guttut, sondern sogar schadet.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht sollten sich die Produktionsfirmen überlegen, ob sie sich Diversität wirklich auf die Fahne schreiben sollten. Grundsätzlich wird nämlich immer davon ausgegangen und die Sendungen sind auch so aufgebaut, dass alle hetero sind und eine binäre Geschlechtsidentität haben. Denn die Einteilung in Mann und Frau spielt eine große Rolle in Challenges oder Auswahlverfahren bzw. Pärchenbildungen bspw. bei „Love Island“. Außer in der aktuellen Staffel von „Too hot to to handle Germany“, wo Bisexualität aber auch eher eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es keine gleichgeschlechtlichen Verpaarungen, es sei denn, es ist ein explizit homosexuelles Datingformat.

Dasselbe in Regenbogenfarben oder alles besser bei Prince(ss) Charming?

Explizit queere Datingformate gibt es in Deutschland für Schwule mit Prince Charming seit 2019, mit Princess Charming für Lesben seit 2021. Alleine, dass es so lange gebraucht hat, ist schon ein Witz, die ersten Heterofolgen von „Der Bachelor“ gab es bereits erstmals 2003 in der deutschsprachigen Version!

Aber so gut, wie es gemeint ist, so schlecht ist es auch umgesetzt. Werfen wir einmal einen Blick auf Princess Charming. Vor allem in der ersten Staffel gab es einiges an „Problemen“, was fast noch beschönigend ausgedrückt ist. Die Teilnehmer:innen konnte man queeren bzw. lesbischen Stereotypen geradezu zuordnen, vielleicht mit einigen Ausnahmen. Wer da nicht reingepasst hat, wurde unter den Teppich gekehrt, denn auch hier wurde bspw. Bisexualität nicht ernst genommen, denn in der Show geht es ja „nur um Frauen, die auf Frauen stehen“. Realistische Repräsentation sieht anders aus. Ebenso, dass immerzu von lesbischen Frauen gesprochen wurde, obwohl sich unter den Teilnehmenden auch eine nicht-binäre Person, nämlich Gea, befand. In einer Folge wurde sogar über their nicht-binäre Identität gesprochen und they musste einer anderen Kandidatin alles genaustens erklären. Die Sendung ist also auch ziemlich cis-normativ.

Weitere Kritikpunkte sind der unbegrenzte Zugriff und der damit zusammenhängende Konsum von Alkohol. Im Prinzip sieht man die Teilnehmer:innen ständig mit einem Glas Sekt in der Hand und natürlich werden auch so die eigenen Hemmungen fallengelassen. Einerseits trägt das natürlich zur gesamtgesellschaftlichen Normalisierung dauerhaften Alkoholkonsums bei, auf der anderen Seite kam es (unter anderem, aber natürlich nicht nur deswegen) auch mehrfach zu übergriffigem Verhalten am Set. So gab es zum Beispiel einen Outcall wegen sexualisierter Gewalt gegenüber der Influencerin Wikiriot durch Jo, eine andere teilnehmende Person. Besonders in der Kritik steht hier neben der Täterin auch die Produktionsfirma, die sich nicht zu den Vorkommnissen äußern will und ein An-die-Öffentlichkeit-Treten für die betroffenen Personen durch eine Verschwiegenheitsklausel erschwert hat. Auch in der zweiten Staffel kam es zu bedrängenden Szenen während einer Party mitsamt aufgezwungenen Küssen, obwohl vorher Grenzen aufgezeigt wurden. Statt, dass die Produktionsfirma hier eingreift und verantwortungsvoll handelt, wurde das sogar in die Dramaturgie mit eingebaut!

Wir sehen also: Nur weil LGBTIA+ draufsteht, ist leider nicht alles perfekt, im Gegenteil. Denn natürlich werden auch diese Sendungen im Kapitalismus produziert und sind somit den gesellschaftlichen Zwängen und Einschaltquoten unterworfen. So positiv, wie höhere Diversität erst einmal scheinen mag, zeigen diese Beispiele doch einmal mehr, dass Unterhaltung, welche auf Basis von Kapitalinteressen erstellt wird, nicht derartig progressiv sein kann, wie wir uns das vielleicht erhoffen.

Daher fordern wir:

  • Gegen unterdrückerische Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen, … ) genauso wie Google, Instagram und Co.!

  • Für organisierte Medienarbeit durch Räte aus Zuschauer:innen, Arbeiter:innen und Kreative ohne die Reproduktion von Unterdrückung!

  • Für eine internationale, proletarische antisexistische Bewegung!



Kontext verzerrendes Bildergewitter gewinnt vier Oscars

Leo Drais, Infomail 1216, 13. März 2023

Da hat die deutsche Netflix-Neuverfilmung von „Im Westen Nichts Neues“ also vier Oscars gewonnen: ein bildgewaltiger Film, dessen Plot jedoch eine Welt versinnbildlicht, die wieder am Rand des Weltenbrandes steht und keinen Ausweg daraus findet. Warum ist das so?

Krieg als Kunst als Ware

Dass ein Antikriegsfilm – und als solcher darf sich die Arbeit von Regisseur Edward Berger auf jeden Fall bezeichnen – auch nichts anderes als eine Ware ist, die Geld auf dem Filmmarkt einspielen soll, ist ja kein Geheimnis. Genauso wenig, dass die Oscars selbst Teil dieser Industrie sind, die sich in der Verleihungschoreographie quasi selbst geil findet.

Zwangsläufig führt das jedoch zu einer besonderen Form der Dramaturgie, die schnell ins Ahistorische übergeht. Zum Beispiel, wenn der Film in einer der Anfangsszenen die mythisierte Kriegsbegeisterung ins Jahr 1917 verlegt, eine Zeit, die längst von Hunger, Kriegsmüdigkeit und Zynismus geprägt war.

Oder indem die Handlung des Romans auf 148 Minuten zusammengestaucht wird. Relevante Szenen des Romans – etwa der Streich Paul Bäumers und seiner Kameraden an ihrem erniedrigenden Ausbilder; der Fronturlaub; das Unverständnis und die Verlorenheit, die Bäumer zuhause fühlt; seine Begegnung mit russischen Kriegsgefangenen – haben da drin logischerweise keinen Platz. Es bleibt das Geschehen in den Gräben, wo der Film technisch groß aufgefahren hat und durchaus sehr überzeugende schauspielerische Leistungen zeigt.

Dennoch: Netflix produziert doch sonst aus jedem noch so abgedroschenen Thema eine von durchschnittlicher Mittelmäßigkeit durchsetzte Serie. Hier wäre mal die Chance gewesen, darüber hinauszuwachsen.

Aber letztlich ist das egal. Den durchschnittlichen Zuschauer:innen reicht das Gemetzel, um ihrer Angstlust nachzugehen und dann zu sagen: „Schrecklich!“ oder „Krass!“

Konzernproduktionen von Netflix, Warner oder Disney haben weder die Aufgabe noch den Anspruch, historische Ereignisse korrekt zu kontextualisieren. Ihre Macher:innen haben auch selbst gar kein Bewusstsein dafür. Das ist ja gerade die Crux mit der Ideologie. Am Set denken sie vielleicht wirklich, sie tragen hier dazu bei, zukünftige Kriege zu verhindern. Aber ob es diese Gedanken gestern auch beim Applaus gab?

Klar könnte man jetzt sagen, dass Erich Maria Remarques Roman diesen Kontext selbst nicht herstellt. Das stimmt. Die Kritik ist trotzdem gerechtfertigt, weil Bergers Film bei allen Weglassungen aus dem Roman selbst einen zweiten Handlungsstrang zusätzlich geschaffen hat, der direkt so, wie er dargestellt wird, auf Geschichtsklitterung im Dienste des Dramas hinausläuft.

Kriegsende ohne Revolution

Es geht um die Verhandlungen im Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne, die zum Waffenstillstand führten.

Was der Film definitiv gut darstellt, ist die besondere Sinnlosigkeit der letzten Angriffsversuche selbstsüchtiger Befehlshaber, die noch Minuten vor dem Waffenstillstand Menschen ins Feuer trieben.

Das Problem liegt im Kontext der Verhandlungen selbst.

Während die Herrschenden auf allen Seiten vier Jahre lang kein Problem damit hatten, Massen auf die Schlachtbank zu führen, taucht nun der gute Matthias Erzberger von der konservativen Zentrumspartei auf und appelliert vor Humanismus triefend bei den französischen Unterhändlern um Frieden.

Noch 1916 stand derselbe Erzberger für einen Siegfrieden ein, ab 1918 für einen „Verständigungsfrieden“ – also einen Frieden, den die Imperialist:innen am Runden Tisch beschließen, um die Welt dort unter sich aufzuteilen.

Das größte Problem an der Erzählung im Film ist, dass diese Friedensbemühungen bei Erzberger (Daniel Brühl) als rein einsichtige Guter-Mensch-Tat erscheint, auch wenn immerhin anklingt, dass die Oberste Heeresleitung in ihm einen nützlichen Trottel gefunden hat, der das schmutzige Geschäft des Friedens – also der Niederlage – übernahm und das Militär somit die Dolchstoßlegende zur Wahrung des eigenen Gesichts bemühen konnte.

Aber ohne die aussichtslose Kriegssituation und vor allem ohne die heraufziehende Novemberrevolution lassen sich die Waffenstillstandsbemühungen auf deutscher Seite nicht verstehen. Letzteres lässt der Film sträflich einfach weg. Während im Roman der Protagonist „Entweder gibt es Frieden oder eine Revolution“ denkt, fällt dieses R-Wort nirgends im Film. Das wäre aber Pflicht gewesen im Sinne einer historischen Richtigkeit. Denn während das Buch im Oktober 1918 endet, treibt der Film die Handlung ja bis in den November.

Natürlich war auch Remarque kein Revolutionär. Aber er vermied es, sich die Finger am falschen Frieden zu verbrennen, indem er sich rein auf die Perspektive Paul Bäumers konzentrierte.

Berger und Netflix sind aber absichtlich über dieses Perspektive hinausgegangen und bei ihnen ist der ganze Frieden nicht mehr als eine gute Tat der Herrschenden. Er erscheint nicht als etwas, womit sie ihren eigenen Kopf vor der Revolution retteten. Denn selbstredend war Erzberger genauso wie Ebert, Noske und Co. ein entschiedener Gegner der sozialistischen Revolution.

Kontext heute

Und damit mal zurück in die Gegenwart, in die Zeit des Krieges in der Ukraine, wo der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erneut eskaliert. Die NATO handelt hier in der Unterstützung der Ukraine genauso wenig selbstlos wie ein Erzberger in Compiègne. Sie verfolgt durch das ukrainische Militär eigene imperialistische Interessen gegenüber der russischen Konkurrenz.

Es gibt viele frappierende Parallelen, sei es, dass es wie ein Jahr nach dem Beginn des ersten Weltkrieges auch heute wieder einen Munitionsmangel gibt oder sei es, dass Bachmut mit Verdun verglichen wird.

Entsprechend kam der Film für die westlichen Verbündeten zur genau richtigen Zeit. Russland erscheint in den Köpfen der Meisten als der Aggressor – was es ja auch ist. Die Kriegsziele werden jedoch kaum hinterfragt, was die westliche Seite angeht. Jetzt taucht so ein Film auf, der die Schrecken des Krieges zeigt, und: Oha! Das wiederholt sich ja heute, und Russland hat Schuld daran. Über die Angst vor dem Krieg bindet „Im Westen Nichts Neues“ die Zuschauer:innen in die westlichen Kriegsbemühungen ein, der Pazifismus landet auf dem Bauch. Die vier Oscars sind kein Zufall. Mindestens unbewusst wirken die Bilder des Krieges von damals und heute zusammen.

Für die Macher:innen des Films gilt, dass sie sich, indem sie mit dem Finger mahnend auf die Vergangenheit weisen, heute moralisch auf der richtigen Seite wähnen. Aber: Psst! – auf dieser Seite wähnten sich viele Kulturschaffende auch vor 109 Jahren!

Russland hat den Krieg zwar begonnen, aber wenn dieser zum Dritten Weltkrieg ausartet tragen dafür alle daran beteiligten Herrschenden Schuld, und alle sind sie von ihrer Unschuld überzeugt. Manche Regisseur:innen von Antikriegsfilmen sind vielleicht, ohne es zu wissen, auf dem besten Weg, zur moralischen Unterstützung des Krieges zu werden.

Stellt sich noch die Frage nach der Verhinderung und dem Ende des Krieges.

Für Marxist:innen ist in Gedenken an Rosa Luxemburg (über deren Tod Matthias Erzberger bestimmt nicht traurig war) klar, dass die Weltlage auf Sozialismus oder Barbarei hinausläuft.

Der Sozialismus ist kaum als eine Alternative für unsere Gegenwart bekannt. Das ist auch den Produzent:innen nicht vorzuwerfen. Wohl aber, historisch inkorrekt und unvollständig gearbeitet zu haben. Und das wirkt nun mal auch ins barbarische Heute.

In den letzten Jahren gab es viele Filme, die die Geschichte zum Gegenstand nahmen. Babylon Berlin ist ein anderes Beispiel dafür, wobei die Serie offen zur eigenen Fiktion steht.

Trotzdem: Das Ergebnis dieser Produktionen ist, auch wenn das die Macher:innen vielleicht nicht wollen, dass die Vergangenheit noch rätselhafter, willkürlicher und naturgesetzlicher erscheint, als sie das sowieso schon im Schulunterricht ist. Aber Geschichte ist Pseudonatur. Sie wird von Menschen gemacht und Menschen können sie auch positiv bewusst auflösen.

Weit weg von solchen Ideen (Wofür auch, es ist ja eine kapitalistisch vergewaltigte Kunst, die Geld und Ruhm bringen soll!) ist die Vergangenheitsbewältigung der modernen Großfilmindustrie darauf reduziert, die Geschichte als mitreißendes Drama auf die Leinwand zu tragen – und damit selbst zum Teil des sehr realen Gegenwartsdramas zu werden.




80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2

Leo Drais, Neue Internationale 271, Februar 2023

Am 2. Februar 1943 kapitulierten die ausgehungerten und halb erfrorenen Reste der 6. Armee im Kessel von Stalingrad. 80 Jahre später, in einer Zeit, in der der Krieg um die Neuaufteilung der Welt wieder auf europäischem Boden tobt, wird von allen beteiligten Seiten die Erinnerung an die Vergangenheit für den eigenen Zweck in die Gegenwart geholt. Es ist das Heute, in dem die Geschichte von gestern geschrieben wird.

Die russische Propaganda bemüht den Heldenmut der Roten Armee, bezieht sich auf die einstige sowjetische Größe, um im Krieg gegen die angeblich faschistisch beherrschte Ukraine eigene imperialistische Ansprüche moralisch zu verkleiden.

In Deutschland wird demgegenüber die Erinnerung an Stalingrad wie immer von einer Zahl begleitet: 6.000. So viele Wehrmachtssoldaten fanden den Weg zurück nach Deutschland und Österreich. 95 Prozent derer, die in Stalingrad kämpften, starben dort oder in Gefangenschaft. Es ist eine der Zahlen, die in der bundesdeutschen Geschichte betont wird, seit es sie gibt. Sie ermöglicht, dass die bürgerlich-demokratische Imperialistin Bundesrepublik als Nachfolgerin des Dritten Reichs gerade in der Erinnerung an die „bis zum Schluss treue 6. Armee“ auch eine psychologisch entlastende Opferrolle spielen kann.

Noch immer hält sich der keinen Fakten standhaltende Mythos einer neben SS und Gestapo „sauberen, unschuldigen“ Wehrmacht, die in Stalingrad zum doppelten Opfer wurde, eingekesselt von der Roten Armee, preisgegeben von Hitler. Auch wenn der Mythos nicht mehr offen aufrechterhalten wird, viele bürgerliche Historiker:innen, WELT und Co. hängen ihm unterschwellig nach – 6.000.

Leben und Schicksal

Weitgehend geschichts- und gesichtslos bleiben in der deutschen Geschichtsschreibung demgegenüber die, die in Stalingrad die Wende brachten und damit die Befreiung vom Faschismus einleiteten.

Wer sich diesem Blick nicht versperren will, sollte die monumentale Stalingrad-Dilogie von Wassili Grossman lesen. Der erste Teil, „Stalingrad“, zeichnet den Weg der sowjetischen Gesellschaft bis zum Wendepunkt der Schlacht, als nur noch wenige hundert Meter die deutschen Soldaten von der Wolga trennten. Er war Thema des ersten Teils der Buchbesprechung (https://arbeiterinnenmacht.de/2022/08/25/80-jahre-stalingrad-wassili-grossmans-epos-ueber-die-sowjetunion-im-krieg-teil-1/)

„Leben und Schicksal“ greift die Handlung wieder auf und führt sie bis zur Rückkehr evakuierter Stadtbewohner:innen in die Trümmer der Schlacht fort.

Es ist ein Werk, das weit über die Grenzen der Stadt hinausgeht und zu Recht als das „Krieg und Frieden“ des 20. Jahrhunderts gilt. Grossman nimmt uns mit in die Familie Schaposchnikow, deren Mitglieder den Krieg unterschiedlich erleben: Als Sohn, der als Soldat stirbt. Als Mutter, die um ihn trauert. Als Schwiegersohn, der im Kraftwerk „Stalgres“ arbeitet und durch seine Tochter in den Trümmern Großvater wird. Als evakuierte Großmutter, die ihre Tochter in den Bomben der Wehrmacht verlor. Als liebende Menschen vor einer Kulisse voller Tod und Gewalt.

Wir kommen mit in sowjetische Forschungseinrichtungen, wir kommen mit ins berühmte Haus 6-1 (Pawlowhaus), wo wir die Funkerin Katja Wengrowa kennenlernen, eine unterrepräsentative Darstellung der über eine Million Frauen in der Roten Armee.

Wir blättern um und landen in den Nächten der südrussischen Steppe, in den Gräben der Wehrmacht, in den Unterständen der sowjetischen Kommandanten, nachdem wir gerade noch in Kasan, in Moskau waren.

Und wir bekommen das Schicksal der sowjetischen Jüdinnen und Juden gezeigt.

Wassili Grossman hat seiner Figur Viktor Strum in einem fiktiven Brief die Worte geschrieben, die er von seiner Mutter nie erhielt: „Lebe, lebe, lebe ewig … Mama.“

Jekaterina Grossman wurde bei Berditschew (Berdytschiw) zusammen mit 30.000 anderen Jüdinnen und Juden ermordet.

Schoah und sowjetische Verharmlosung

Ihr ist „Leben und Schicksal“ gewidmet. In dem Brief, der ein ganzes Kapitel einnimmt, beschreibt Anna Strum, wie sich mit dem plötzlichen Auftauchen der Wehrmacht auch in der ukrainischen Bevölkerung der eliminatorische Antisemitismus Bahn bricht, Nachbar:innen zu Helfer:innen der Schoah werden. Schließlich werden junge Männer aus dem Ghetto geführt, um vor der Stadt ihre eigenen Massengräber auszuheben.

Mindestens 1.500.000 sowjetische Jüdinnen und Juden wurden in der Schoah ermordet. Obwohl die meisten von ihnen vor Ort erschossen wurden, zeichnet Grossman trotzdem den Weg der Stalingrader Jüdin Sofia Lewinton bis ins Lager und zu ihrer Ermordung in der Gaskammer.

Er verarbeitet dabei seine eigene Erfahrung des Vernichtungslagers Treblinka, dessen Befreiung er als sowjetischer Kriegsreporter miterlebte. Seine Eindrücke der Schoah in Osteuropa flossen ein in seine Mitarbeit am „Schwarzbuch“, das durch das Jüdische Antifaschistische Komitee erstellt wurde und das Schicksal der Jüdinnen und Juden in der besetzten Sowjetunion untersuchen sollte. Noch vor seiner Veröffentlichung wurde es von der sowjetischen Führung unterdrückt. Der großrussische Chauvinismus Stalins bekämpfte die Herausstellung des jüdischen Schicksals im Zweiten Weltkrieg unter dem Vorwand der Gleichheit, die es für nationale Minderheiten sowie Jüdinnen und Juden nicht gab. Stalins Begründung, alle Sowjets hätten gleichermaßen unter dem Faschismus gelitten, war letztlich eine Relativierung der Schoah.

Das und unter anderem die antisemitischen Kampagnen Stalins rund um die angebliche „Ärzteverschwörung“ waren es, die Grossmans Überzeugung in das stalinistische Sowjetsystem erschütterten. Dieser Wandel wird auch in den Unterschieden zwischen den beiden Teilen seines Werkes deutlich. Während „Stalingrad“ gegenüber der Bürokratie weitgehend kritiklos, jedoch auch alles andere als verherrlichend bleibt, offenbart „Leben und Schicksal“ eine scharfe Kritik an der stalinistischen Diktatur.

Abrechnung ohne Ausweg

So wird die Figur Viktor Strums zum Opfer einer antisemitischen Kampagne. Ihm droht, seine Stellung an einer Forschungseinrichtung zu verlieren. Er wird dann aber auf persönliche Intervention Stalins vollumfänglich rehabilitiert – Strum betreibt Kernforschung.

Anders ergeht es Nikolai Krymow, der sich als sowjetischer Emporkömmling und Kommissar bei der Truppe schließlich in der Lubjanka wiederfindet, dem Moskauer Gefängnis des NKWD. Auch wenn es offenbleibt, wird klar, dass sein Weg ins Arbeitslager des Gulagsystems führt.

Von der scheinbaren Freiheit der „Tauwetterperiode“ beflügelt, geht Grossman mit den Tabus des Stalinismus ins Gericht: 1937, den Moskauer Prozessen, der Vertreibung von Minderheiten, dem Hungertod Tausender. Er lässt seine Figuren über Trotzki und andere sprechen, von deren konterrevolutionärer Schuld sie nicht überzeugt sind. Er stellt dar, wie sehr Karrierismus und Intrigen die Köpfe der Wissenschaft, der Fabriken und der Roten Armee prägten. Bezeichnenderweise geht während der Siegesfeier von Stalingrad der betrunkene Armeegeneral Tschuikow gekränkt auf den von Chruschtschow bevorzugten Generaloberst Rodimzew los.

Dem KZ-Insassen Mostowskoi werden von einem SS-Mann die Parallelen des sowjetischen und faschistischen Terrors aufgedrängt. Er wehrt sich dagegen, fühlt die dahinterliegende Amoral des Nazis, und doch kann er sich gegen den Gedanken nur schlecht wehren. Es ist unter anderem diese oberflächliche Ähnlichkeit zweier Gewaltherrschaften, die bis heute den Sozialismus verfemt. Den dahinter stehenden Klasseninhalt des Nationalsozialismus, der den Kapitalismus rettete, und seinen Unterschied zum nichtkapitalistischen „Sozialismus“, der eigentlich Stalinismus war, kennen nur die wenigsten.

Trotzdem ist Grossman anders als andere Dissident:innen kein Restaurator des Kapitalismus. Im Gegenteil brandmarkt er das System und die Kaste Stalins als etwas, das sozialistischen Idealen widerspricht, fordert Demokratie und Freiheit für einen humanistischen Sozialismus. Und am Ende ist es ja dieser Unterschied, der den Kampf der Roten Armee für Revolutionär:innen unbedingt unterstützenswert machte – die Tatsache, dass die Sowjetunion trotz der Diktatur der Bürokratie gegenüber dem Kapitalismus näher am Sozialismus stand, sie geschichtlich betrachtet ein Fortschritt war.

An diesem Punkt offenbaren sich dann auch die Schwächen Grossmans, die allerdings weniger seine Schuld sind. Sie zeigen eher die Tiefe und Gründlichkeit, mit der der Stalinismus revolutionäres Bewusstsein in der Sowjetunion ausgerottet hatte. Der Weg zur Verwirklichung seiner Ideale im Sozialismus, der Gedanke einer politischen Revolution gegen die Bürokratie findet sich in seinem Roman nicht wieder – und er schafft damit ein Bild, das der sowjetischen Gesellschaft selbst entsprach.

Trotz Schwächen: Groß

Denn auch wenn in dem Buch eine Aufbruchstimmung spürbar wird, die die Schrecken der 1930er Jahre hinter sich lassen will, so bleibt Stalingrad doch zugleich auch Ausgangspunkt eines ideologischen Siegeszuges des Stalinismus, der sich als Befreier vom Faschismus gerieren und durchsetzen konnte und letztlich die Ausweitung seiner Herrschaft über Osteuropa erreichte. Revolutionäre Keime waren bald erstickt.

Das Fehlen einer Perspektive, die über Hoffnung und Humanismus hinausgeht, tut der Größe der beiden Romane keinen Abbruch, auch nicht, dass sie an manchen Punkten etwas ahistorisch sind  oder sich Grossman an den Romanfiguren Hitlers und Stalins überhebt. Denn anders als die sowjetische Literatur der Zeit zeigt Grossman kein voluntaristisches Bild vom idealen (eigentlich sich selbst fremden) Sowjetmenschen, sondern eines, das wie der Mensch selbst ist – unvollkommen und widersprüchlich, eines, das mit dem eigenen Gewissen ringt und gerade da zeigt, wie totalitäre Systeme psychisch wirken.

Letztlich scheiterte die Veröffentlichung von „Leben und Schicksal“ an eben diesem System. Anstelle einer Veröffentlichung in einer angeblich entstalinisierten UdSSR Chruschtschows wurde das Manuskript beschlagnahmt. Freund:innen und Bekannte Grossmans schmuggelten eine Kopie in den Westen, die dortige Veröffentlichung erlebte der Autor nicht mehr.

Dichtungen und Erinnerungen sind immer eine Reflexion der Realität, nie die Realität selbst. Hier schließt sich der Kreis zu den unterschiedlichen Betrachtung der Schlacht von Stalingrad.

Heute lernen wir aus den unterschiedlichen Gedenken an Stalingrad vielleicht mehr über die heutigen Historiker:innen, Ideolog:innen und Regierungen als über die Schlacht selbst. Aus Grossmans Prosa und seiner Entwicklung können wir erfahren, wie weit das Bewusstsein und die Hoffnung eines Menschen reichen konnten, der in der Sowjetunion gegen den Strom schwamm und zu einer eigenständigen Kritik an ihrem System fand, als viele vom „Genossen Stalin“ sprachen.

Und obwohl Wassili Grossman „Leben und Schicksal“ erfunden hat, glaubt man ihm hier etwas, was 2023 weder bei russischen noch westlichen Stalingrad-Rezeptionist:innen wirklich glaubhaft erscheint: die Suche nach Wahrheit.

Literaturempfehlungen zur Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

Grossman, Wassili: Stalingrad, Ullstein Berlin 2022

Grossman, Wassili: Leben und Schicksal, Ullstein Berlin 2020

Ehrenburg, Ilja / Grossman, Wassili / Lustiger, Arno: Das Schwarzbuch – Der Genozid an den sowjetischen Juden, Rowohlt, Reinbek 1995

Sowjetische Sichtweisen auf Stalingrad: Hellbeck, Jochen: Die Stalingrad Protokolle, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014

Zum Schicksal weiblicher Rotarmistinnen: Alexijwitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Suhrkamp Taschenbuch 2015

Marxistische Einordnung der Schlacht und des Krieges: Mandel, Ernest: Der Zweite Weltkrieg, isp-Verlag, Frankfurt am Main 1991




Italien: Zur Verteidigung von Ravepartys aus einer Klassenperspektive

Luca Gagliano, PCL Italien, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Vorwort der Redaktion: Der folgende Artikel wurde von Luca Gagliano, (Partito Comunista dei Lavoratori, Italien) verfasst und behandelt die neuen Gesetze zu Raves. Seit Ende November gibt es in Italien eine rechte Regierung, geführt von der postfaschistischen Fratelli d’Italia mit Giorgia Meloni an der Spitze. Eines ihrer ersten Gesetzen war das Antiravedekret, welches ein Strafmaß für die Organisierung oder „Förderung“ illegaler Raves und anderer „gefährlicher Versammlungen“ von drei bis sechs Jahren Gefängnis vorsieht. Diese waren ursprünglich beschrieben als alle, die Häuser besetzen, um „Events“ (jetzt spezifiziert auf musikalische Events) zu organisieren.

„Witchtek“ war einer von solchen Raves in Modena, welches am 31. Oktober von 300 Bereitschaftspolizist:innen gewaltsam aufgelöst wurde.

Das Ravepartydekret ist eine Gefahr, die auch die Arbeiter:innenbewegung betrifft.

Solidarität mit den Organisator:innen und Teilnehmenden von Witchtek! Neben der Räumung, den Klagen und der Beschlagnahmung ist noch etwas viel Schwerwiegenderes passiert: ein Gesetzesdekret, das sich angeblich nur gegen Raves richtet. Leider handelt es sich um einen Angriff der Regierung, welcher darüber hinausgeht. Es ist ein Angriff auf die Organisation vieler Praktiken des Kampfes der Arbeiter:innenklasse: Haus-, Fabrikbesetzungen, Streiks, Demonstrationen und vieles mehr. Solidarität und Verteidigung müssen in erster Linie gegenüber der Bewegung der freien Partys (Raves) betont werden, die direkt betroffen und beeinträchtigt ist. Sie darf nicht ignoriert oder verunglimpft werden, weil sie ein falsches Modell der linken und sozialen Opposition annimmt.

Gegen falsche Mythen! Es geht um viel mehr als eine Party

Besetzung und Selbstverwaltung sind für die Bourgeoisie und ihre Funktionär:innen eine störende Praxis, da sie die allgemeine Profit- und Managementdynamik ihrer Politik unterlaufen. Die Anwendung der profitorientierten Markt- und Politiklogik erzwingt das unterdrückerische und intolerante Gesellschaftsmodell, welches nicht bürgerlich-konforme Ausdrucksformen verhindern möchte.

Die vielen Formen des praktischen Widerstands bilden jedoch einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung eines neuen kritischen Bewusstseins. In der Besetzungs- und Selbstverwaltungsszene können viele Aspekte geschützt und entwickelt werden, die durch die kapitalistische Gesellschaft diskriminiert sind. Das gilt von der freien Entfaltung der eigenen Geschlechtsidentität über musikalische und kreative Innovationen (in allen künstlerischen Bereichen) bis hin zur Erschwinglichkeit von Großveranstaltungen. Es geht um mehr als eine Party, denn sie ist durch die Art und Weise, wie sie organisiert ist und mit der bestehenden Ordnung kollidiert, in ihrem Wesen ein politisches Ereignis.

Klassenverteidigung. Wir entlarven das Geschwätz der Reformist:innen

Wir haben nichts mit jenen gemeinsam, die dieses neue Gesetz nur von einem verfassungsrechtlichen und liberal-bürgerlichen Standpunkt aus kritisieren. Die Freiheit und die Verfassung, die sie verteidigen, schützen das Privateigentum, über welches bisher die Eigentümer:innen der Fabrikhalle (Ort des Raves) verfügen. Es die Bourgeoisie, welche dieselben Hallen als Ort der Ausbeutung nutzt, zugunsten ihrer eigenen Profitinteressen.

Wir sind daher nicht an der sogenannten öffentlichen Ordnung interessiert. Wir hegen kein Interesse an der Regierbarkeit dieses Systems, weil es dasselbe ist, das uns jeden Tag bei der Arbeit ausbeutet und unterdrückt. Wir wollen es stürzen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht auch für demokratische Rechte und fortschrittliche Errungenschaften im Hier und Jetzt kämpfen sollen. Zusätzlich müssen wir aber die Verantwortung derjenigen Betrüger:innen anprangern, die uns einerseits sagen, dass wir als Bürger:innen Rechte haben, und andererseits diese dem Proletariat verweigern. Schließlich müssen wir mit den Illusionen der reformistischen Parteien brechen, die immer wieder versuchen, in der Hoffnung auf die Regierbarkeit des kapitalistischen Systems an die Regierung zu kommen.

Castlemorton 2022

Erinnern wir uns an den Criminal Justice and Public Order Act von 1994 nach dem Castlemorton Common Festival von 1992 (England). Er stellte Musik unter Strafe, die „ganz oder überwiegend durch eine Abfolge von sich wiederholenden Takten gekennzeichnet ist“. Das italienische Dekret ist ebenso lächerlich, aber aufgrund seiner Formulierung weitaus gefährlicher: Es ist ein offener Angriff auf die Organisation von Massenprotesten.

„Gesetze werden uns nicht aufhalten“, erklären Aktivist:innen der Bewegung. Leider spielen manchmal auch die Gesetze und die Befugnisse des Staates eine große Rolle bei der Entwicklung einer sozialen Opposition. Die Besetzungen, die aufgrund des Gesetzes von 1994 in England zurückgegangen sind, belegen das. Mit dem Wissen, dass die Realität nicht nur von Ideen abhängt, dürfen wir daher nicht akzeptieren, dass dieses Gesetz ohne nennenswerten Widerstand der Massen verabschiedet wird. Umso mehr müssen wir jetzt alle Kräfte vereinen: die Organisator:innen der freien Partys mit Arbeiter:innenorganisationen, Verbänden und Gewerkschaften. Aufbau einer vereinigten Massen- und Klassenfront, die dem staatlichen Angriff mit gleicher Kraft begegnen kann!

Wir fordern nicht nur, dass das Schwert des/r Henker:in verfassungsgemäß ist. Wir fordern seine/ihre Enthauptung. Für eine antikapitalistische, internationalistische und revolutionäre Perspektive müssen wir mit einigen unmittelbaren Forderungen beginnen:

  • Bußgeldfreie Freigabe von Musikinstrumenten und Transportmitteln
  • Rücknahme der Anklage gegen die Organisator:innen
  • Keine Konsequenzen für die erfassten Personen
  • Abschaffung des Ravepartyerlasses
  • Einrichtung eines internationalen Widerstandsfonds gegen Klagen und Beschlagnahmen
  • Für eine große nationale Demonstration als Reaktion auf den Angriff des Staates
  • 10, 100, 1000 Raves gegen bürgerliches Recht und Ordnung. Es lebe die Selbstorganisation der Unterdrückten!



Katar: Politikum Fußballweltmeisterschaft

Bruno Tesch, Neue International 269, November 2022

Die Sportart Fußball genießt einen hohen Aufmerksamkeitsgrad. Die vom 20. November bis 18. Dezember 2022 in Katar stattfindende Weltmeisterschaft männlicher Teilnehmer erhitzt nicht nur die Gemüter der milliardenfachen Fangemeinde, sondern sorgt sogar für politischen Gesprächsstoff.

Fouls

Die Vita dieses Massenphänomens ist durchzogen von zahllosen sportlichen Höhepunkten, jedoch auch von den Niederungen der Gesellschaftsordnung, in der es entstanden ist. Die Bandbreite der hässlichen Begleiterscheinungen erstreckt sich von Homophobie, Frauenunterdrückung (z. B. Verbot weiblicher Fußballvereine seitens des DFB von 1955 – 1970), sexuellem Missbrauch über Rassismus, Chauvinismus bis hin zu offenen Gewaltausbrüchen wie jüngst in Indonesien. Korruptionsaffären, die Herausbildung einer Sportwetten- und Spielervermittlungsmafia gehören ebenso zum Alltagsbild dieses Showgeschäfts.

Dies sind jedoch keine Auswüchse, die mittelfristig zu beseitigen wären und den Organismus des Sports gesunden lassen könnten. Nein, das Krebsgeschwür des Kapitalismus hat sich längst tief in den Körper hineingefressen.

Von Beginn an, seit Ende des 19. Jahrhunderts, als der Fußball in Großbritannien professionalisiert wurde, erhob sich bereits die Klassenfrage in dieser Sportart. Sie fand rasch Massenanhang im Proletariat als Akteure auf dem Spielfeld und den Zuschauer:innenrängen. Die Geschäftsführung in Vereinen und überörtlichen Verbänden lag jedoch stets in bürgerlichen Händen.

Die Arbeiter:innensportbewegung, v. a. in Deutschland, durchbrach kurzzeitig die bourgeoise Dominanz, baute u. a. einen eigenen Spielbetrieb auf und setzte dem reaktionären Boykott gegen die junge Sowjetunion, der sich auch im Sport manifestierte, eine tätige Solidarität entgegen. Der Faschismus zerschlug auch die Arbeiter:innensportvereine. Nach dem 2. Weltkrieg kapitulierten die reformistischen Arbeiterverräter:innen wieder und überließen dem Klassenfeind einen durch und durch verbürgerlichten Sportbetrieb.

FIFA

Auf Landesebene konstituierte sich 1900 in Leipzig mit dem Deutschen Fußballbund (DFB) ein (einfluss)reicher Sportverband. Er ist der größte auf der Welt und mit weiteren 210 nationalen Verbänden Mitglied der FIFA (Féderation Internationale de Football). Dieses Konstrukt ist in der Schweiz als steuerbegünstigter gemeinnütziger Verein eingetragen und übt die Aufsichtsfunktion über den Fußball in all seinen Belangen aus.

Die nationalen Organisationen treten auf einem Kongress zusammen, entscheiden über statuarische Fragen und wählen den FIFA-Präsidenten. Da jedes Mitgliedsland eine gleichberechtigte Stimme hat, scheint dies bürgerlich-demokratischen Kriterien zu genügen. Doch der Präsident hatte bis 2016 weitreichende Machtbefugnisse und Managementkompetenzen. Trotz Reformen und Verlagerung des operativen Geschäfts auf den Generalsekretär hat sich nicht wirklich etwas geändert.

Die FIFA unterhält nach wie vor ein undurchsichtiges Gestrüpp von Subunternehmen, Beraterverträgen und Anwaltskanzleien und agiert wie ein kapitalistisches Großunternehmen. Das System von Löhnen, Aufwandsentschädigungen und Boni etwa in Höhe von 100 Millionen US-Dollar sowie der Finanzfluss an Einzelmitglieder im Vorfeld von Abstimmungen ähnelt einer verschlossenen Auster (Quelle: https://netzwerkrecherche.org/stipendien-preise/verschlossene-auster/verschlossene-auster-2012-fuer-die-fifa/). Dieses Geschäftsgebaren rief 2015 und 2016 sogar die schweizerische Bundesstaatsanwaltschaft auf den Plan, die das FIFA-Hauptquartier durchsuchte, letztlich jedoch ohne bindende strafrechtliche Konsequenzen.

Ihren Umsatz, allein 2021 waren dies rund 766 Millionen US-Dollar (Quelle:  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160262/umfrage/ertraege-der-fifa/), generiert die FIFA zur Hauptsache durch Verkäufe von Medienübertragungs- und Marketingrechten: Verantworten muss sich die Organisation praktisch nur gegenüber ihren Sponsor:innen und großen Konzernen. Letztere können sogar den (zeitweiligen) Ausschluss oder Sanktionen für nationale Verbände erwirken, wenn nicht die genehmigte Sportkleidung oder entsprechende Logos getragen werden. So wurden Kamerun 2004 während der WM-Qualifikation im Zuge des berühmten Trikotstreits zwischen Adidas und Puma 6 Punkte abgezogen (Quelle: https://www.spiegel.de/sport/fussball/trikotstreit-kamerun-fordert-die-fifa-heraus-a-300077.html).

Weiterhin gehören zu den Aufgaben der FIFA auch die Vergabe und Oberaufsicht von Fußballweltmeisterschaften. Für 2022 fiel die Wahl auf Katar.

Katar

Katar, als koloniales Erbe des britischen Imperialismus erst vor 50 Jahren in die Unabhängigkeit entlassen, ist als Staat nur überlebensfähig durch große Vorkommen von fossilen Energieträgern wie Erdöl und Erdgas. Es ist weltweit für den höchsten CO2-Ausstoß pro Kopf verantwortlich und trägt damit zur globalen Erderwärmung bei. Die Rohstoffe, Lieferung petrochemischer Produkte (Düngemittel) sowie die Anbindung an den US-Imperialismus durch den Sitz des Hauptquartiers der US-Truppen im Nahen Osten machen Katar zu einem unverzichtbaren Anlauf- und Stützpunkt für die US-Außenpolitik. Atmosphärische Störungen wegen Vorwürfen der Unterstützung von Terrorismus, wie unter Trump geäußert, wurden von der Biden-Administration wieder beigelegt.

Regiert wird die Halbinsel am Persischen Golf ohne Wahlen und Parteien von einer islamischen Scheichdynastie, die nur etwa 10 % der Bevölkerung repräsentiert. Diese Elite verfügt über 90 % des Einkommens. Den Hauptanteil an Lohnabhängigen stellen Arbeitsmigrant:innen aus Ländern Süd- und Südostasiens dar, denen Rechte wie Gewerkschaftsgründung oder Streiks versagt werden. Frauen ist der freie Arbeitsmarkt kaum zugänglich. Sie sind durch die herrschende Scharia rechtlich am stärksten benachteiligt.

Durch die Stadien- und Unterkunftsbauten für die Weltmeisterschaft, die praktisch alle neu aus dem Boden gestampft werden mussten, stieg der Bedarf an Arbeitskräften zusätzlich. Dies führte dazu, dass in den letzten 10 Jahren der vermehrten Bautätigkeit viele Arbeitsmigrant:innen aus Südasien nach dem sogenannten Kefala-System angeheuert wurden. Dieses beinhaltet, dass jede(r) ausländische Beschäftigte eine/n einheimische/n Bürg:in benötigt – in der Regel handelt es sich dabei um den/die (Sub-)Unternehmer:in. Meist werden hier sämtliche Arbeitsrechte und -schutzbestimmungen missachtet. Viele Arbeiter:innen mussten ihre Pässe abgeben. Ihnen wurden teilweise monatelang Lohnzahlungen vorenthalten. Etliche verunglückten auf den Baustellen und über 6.500 mussten ihren Einsatz gar mit dem Leben bezahlen (Quelle: https://www.tagesschau.de/ausland/fifa-wm-katar-menschenrechtsverstoesse-101.html). Die Angehörigen der Opfer bekamen oft erst nach internationalen Protesten almosenhafte Entschädigungen.

Kritik

Bereits mit Bekanntgabe der Vergabe der Weltmeisterschaft an Katar regte sich Kritik, die sich mit Herannahen des Ereignisses noch deutlich verstärkt hat. Die bürgerlich-liberale Tonart hob zumeist das Prozedere hervor, die offensichtlich erkaufte Entscheidung, die zum Zuschlag an einen Staat geführt habe, der sowohl sachlich (fußballerisch nicht verankert) wie politisch (Menschenrechte nicht beachtend) nicht auf die Werteagenda der nördlichen Halbkugel gehöre. In der Empörung dieser Kommentator:innen schwingt eine gehörige Prise Selbstgerechtigkeit und auch rassistischer Unterton („Fußballentwicklungsland“) mit. Dieselben Figuren, die die Entscheidung aus diesem Blickwinkel verdammen, vollführen einen „Salto mor(t)ale“; sie haben anscheinend vergessen, dass auch das deutsche „Sommermärchen“ von 2006 nur durch Schmiergelder ergaunert worden ist. Zudem akzeptieren sie den Deal der deutschen Regierung zum Erdgasimport mit Katar wiederum als realpolitisch gerechtfertigt, das Wort „Menschenrechte“ darf dann beiläufig erwähnt werden.

Auch vorgeblich linke Vorschläge zum Protest gegen diese „WM der Schande“ bleiben hilflos bzw. bestenfalls in kleinbürgerlichem Aktionismus stecken. Appelle an Sendeanstalten, die Spiele nicht zu übertragen, verhallen ungehört. Die Weigerung von Gastwirtschaften, während der Weltmeisterschaften für ihre Gäste Fernsehapparate einzuschalten, kann auf der Ebene eines individuellen Boykotts nur eine wirkungslose Geste bedeuten.

Viel zur kurz greift auch eine bürgerliche Parole, welche fordert „Fußball ja – Ausbeutung nein“, reißt sie doch einen Zusammenhang auseinander, den der moderne Profifußball mit seinen Ingredienzien Menschenhandel und Sportinvaliditätsrisiko längst hergestellt hat.

Was also tun?

Eine fortschrittliche Kritik muss unmittelbar an den Zuständen ansetzen, denen die Arbeiter:innen in Katar ausgesetzt sind:

  • Zerschlagung des Kefala-Systems

  • Entschädigungslose Enteignung aller Firmen, die dieses angewendet haben oder weiter anwenden

  • Angleichung der Mindestlöhne an internationale Standards und die aktuelle Inflationsrate

  • Entschädigung für die Angehörigen der Verunglückten aus den Taschen der reichen Elite, der Ausbeuter:innenfirmen und den Fonds der FIFA

  • Volle gewerkschaftliche und arbeitsrechtliche Standards für Arbeiter:innen in Katar und in den übrigen Anrainerstaaten

  • Volle unbeschränkte Aufenthalts- und Staatsbürger:innenrechte für Arbeitsmigrant:innen einschließlich Zuzug ihrer Familien

  • Gewerkschaftlich organisierte Kampfmaßnahmen z. B. in Form von Arbeiter:innenstreiks, um drohende Spielausfälle zur Durchsetzung ihrer Forderungen zu nutzen. Solche Maßnahmen könnten durch Boykott der Spiele bspw. durch Techniker:innen und Kameraleute von Sendeanstalten verstärkt werden. Diesen könnten sich Fanprojekte im Rahmen einer internationalen Solidaritätskampagne mit den Beschäftigten in Katar anschließen.



80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 1

Leo Drais, Infomail 1196, 25. August 2022

Der Abend des 23. August 1942 gilt als der Beginn der Schlacht um Stalingrad. Deutsche Truppenverbände stießen nördlich der Stadt bei Rynok an die Wolga vor. Ein Bombenangriff der Luftwaffe mit über 600 Flugzeugen tötete Tausende, die nicht aus der Stadt evakuiert worden waren.

Die Schlacht wurde zum Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, vielleicht nicht unbedingt militärisch, jedoch unbedingt psychologisch. Goebbels sah sich nach der Niederlage zur Ausrufung des „totalen Krieges“ gezwungen. In den von den Deutschen besetzten Gebieten keimte die Hoffnung auf Befreiung.

Die Wehrmacht wurde in Stalingrad eingekesselt, nachdem sie selbst die Stadt umzingelt und die Rote Armee fast daraus verdrängt hatte. Die Armee Hitlers erfror und verhungerte im russischen Winter bei – 30 Grad. Entsetzungsversuche scheiterten. Ende Januar 1943 ging der deutsche Generalfeldmarschall Paulus mit den völlig erledigten Resten der sechsten Armee in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Gerade mal 6.000 sollten aus ihr zurückkehren.

Ab Stalingrad war die Rote Armee die initiative Kraft im Krieg an der Ostfront. Zwei Jahre später fiel Berlin.

Ukrainekrieg und Neuschreibung der Geschichte

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine versuchen gewisse Rechte und Konservative, noch stärker geschichtsrevisionistisch das Gedenken an die Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee aus der deutschen Erinnerung zu tilgen. Eine Entfernung des sowjetischen Ehrenmals auf der Straße des 17. Juni in Berlin wurde ins Spiel gebracht, die Sowjetunion mit dem russischen Imperialismus Putins gleichgesetzt.

Umso wichtiger ist es, die Geschichte zu verteidigen!

Mit der Sowjetunion kämpfte nicht eine imperialistische Macht gegen eine andere – Deutschland – sondern ein Arbeiter:innenstaat, der sich gegen den Hitlerfaschismus verteidigte, die „chemisch destillierte Essenz des deutschen Imperialismus“, wie Trotzki schrieb.

Letzterer analysierte zugleich auch, dass sich der stalinistische und der faschistische Staat zwar der Form nach ähneln, nicht jedoch in ihrem Inhalt.

Für beide Staatsformen hat sich der Begriff des Totalitarismus durchgesetzt, eine Organisation der Diktatur, die bis in die letzten Ecken der Gesellschaft ihre Fühler ausgestreckt hat, allgegenwärtig ist, einen riesigen Teil der Bevölkerung selbst in ihren Apparat einbindet, um eine umfassende Überwachung und Unterdrückung zu verwirklichen. Dieser Umstand macht es heute so leicht, die Sowjetunion und den Putinismus in eins zu setzen, als Ausdrücke eines antidemokratischen, großrussischen Chauvinismus, wobei es natürlich auch Putin selbst ist, der sich positiv auf die Macht der Sowjetunion bezieht um den eigenen Imperialismus propagandistisch zu verkleiden.

Das ist Erbschleicherei.

Denn der entscheidende Unterschied zwischen der Sowjetunion und dem Drittem Reich ist der, dass beide Staaten unterschiedliche Systeme des Eigentums und der Produktion vertraten und verteidigten. Der NS-Staat war der Inbegriff des kriselnden Kapitalismus, der wild um sich schlug, um nicht in der Konkurrenz unterzugehen. Nicht umsonst heißt es vom Imperialismus, dass er das höchste Stadium des Kapitalismus darstellt.

In dieser Betrachtung der Geschichte stellte die Sowjetunion einen Fortschritt dar, einen Ort, wo das Kapital nicht mehr Produktion und Gesellschaft bestimmte. Das ist der Grund, warum die Verteidigung der Sowjetunion wichtig und richtig war – trotz der Deformation durch die Bürokratie, die selbst eine Agentin des Imperialismus auf Weltebene darstellte, fleißig mit Hitler, Großbritannien und den USA paktierte, gegen die Interessen der Arbeiter:innenklasse.

„Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts

Geschichtsschreibung ist immer relativ zur Wahrheit.

Und die bürgerliche Geschichtsschreibung kann nicht anders, als sich selbst immer als den letzten Schluss der Menschheit darzustellen, sei es in bürgerlichen Demokratien oder Diktaturen – das Ende der Geschichte sei erreicht.

Dargestellt wird die Geschichte dabei als die großer Männer, die nach Belieben die Erzählung der Welt bestimmt haben, die aufgetaucht sind und ein Land wie ein Rattenfänger in den Abgrund gestürzt oder es zu glorreichen Siegen gegen fremde Invasor:innen  geführt haben.

In etwa so erscheinen Hitler und Stalin in den Schulbüchern.

Dabei sind die, die Krieg führen, nicht die „großen Männer“, sondern wesentlich die einfache Bevölkerung.

Einer, der dieser Bevölkerung ein literarisches Denkmal gesetzt hat, ist Wassili Semjonowitsch Grossman. Sein Werk wird als das „Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts gehandelt. Doch während Tolstoi seinen ebenfalls monumentalen Roman viele Jahrzehnte nach den Napoleonischen Kriegen schrieb und sie selbst nie erlebt hatte, war Grossman als wehruntauglicher Kriegsberichterstatter selbst über 1.000 Tage an der Front gewesen.

Sein Werk besteht aus einer Dilogie. „Stalingrad“ erzählt die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft im Krieg vom Überfall der Deutschen bis in den Herbst 1942. Der zweite Teil „Leben und Schicksal“ greift hier den Faden wieder auf, entwickelt die Figuren des ersten Teils weiter.

Dabei bauen die beiden Romane auf ihren insgesamt 2.300 Seiten nicht einfach aufeinander auf.

Sie erzählen selbst Grossmans Geschichte und Wandel. Während „Stalingrad“ unter dem Titel „Für eine gerechte Sache“ sehr beschnitten und zensiert noch unter Stalin erschien und eine entsprechende Konformität mit dem Regime ausdrückt, stellt „Leben und Schicksal“ eine Abrechnung nicht nur mit dem Faschismus, sondern auch mit dem Stalinismus dar, die auch der angeblichen Entstalinisierung und Tauwetterperiode unter Chruschtschow zu scharf war. „Leben und Schicksal“ wurde beschlagnahmt, eine Kopie jedoch in den Westen geschmuggelt, wo es posthum nach dem Tod Grossmans veröffentlicht wurde.

Stalingrad auf 1.200 Seiten

Trotzdem ist auch „Stalingrad“ alles andere als ein stumpfes Propagandawerk des Stalinismus – zumal in seiner erst letztes Jahr im Deutschen vollständig erschienenen Fassung. Die Kritik erfolgt hier oft subtil, zwischen den Zeilen. Es ist ein Roman, der sich in einem Spannungsfeld bewegt: „Was darf und kann ich schreiben, was muss, was will ich schreiben?“

Der „große Stalin“ kommt, ganz im Gegensatz zu Schulbüchern, kaum in „Stalingrad“ vor. Das stilistisch im sozialistischen Realismus gehaltene Buch stellt uns die sowjetische Bevölkerung in ihrer Breite vor, belegt, dass der Krieg vor allem ihrer war, dass sie ihn führte, litt und kämpfte. Grossman zeigt uns auch die, die es nicht in die Geschichtsbücher schaffen: Arbeiter:innen, Bäuer:innenfamilien, einfache Soldat:innen.

Dabei beschränkt er sich nicht einfach auf das Geschehen an der Front. Anhand der fiktiven, weit  verästelten Familie Schaposchnikow erfahren wir vom Alltag, von Normalität und Gesprächen abseits des Krieges, von der Arbeit, der Liebe und ihren Irrungen, den Sorgen einer Familie um den Sohn an der Front, der Evakuierung und den Diskussionen über den Krieg.

Wir kommen mit in Fabriken, ins Elektrizitätswerk „Stalgres“ südlich Stalingrads, in Forschungseinrichtungen und Bergwerke am Ural, dahin, wo die wirtschaftliche Stärke im  Krieg zum Tragen kommt – letztlich die entscheidende Größe, anhand derer Trotzki schon zu Beginn des Krieges prognostizierte, dass Deutschland ihn verlieren wird.

Ganz ohne Zahlen zeigt Grossman die Überlegenheit selbst der bürokratisierten Planwirtschaft, ihrer Fähigkeit, in kürzester Zeit ganze Fabriken an den Ural zu verlegen, weg von der Front. Völlig zu Recht betont eine Figur, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft schon Siege errungen wurden, obwohl sich die Wehrmacht immer noch und scheinbar unaufhaltsam Richtung Osten bewegte.

Und natürlich wäre das Werk Grossmans unvollständig, wenn er nicht auch den Blick auf die Offizier:rinnen und Kommissar:innen der Roten Armee, auf Bürokrat:innen und Bezirksvorsitzende werfen würde. Der Apparat ist allgegenwärtig, erfährt in „Stalingrad“ mehr Glorifizierung als Kritik.

Andererseits erzählt Grossman von Bildern des Krieges, die der Stalinismus gern verschwiegen hat. Von Läusen und Diebstahl, von Entkulakisierten, die auf die Deutschen warten, vom Pessimismus und der fast schon routinierten Selbstverständlichkeit, mit der sich die Rote Armee immer weiter zurückzog, bis an die Wolga. Erst Stalingrad brachte ein Bewusstsein dafür, dass der Faschismus besiegt werden kann.

Kollektives Schicksal im Einzelnen

Grossmans Figuren verkörpern nicht diese plumpe Einfachheit, die sonst dem sozialistischen Realismus anhaftet. Sie sind komplex und ambivalent, sie tragen das kollektive, massenhafte Schicksal der sowjetischen Bevölkerung in sich selbst aus.

Aus unterschiedlichen persönlichen Blickwinkeln erleben wir das erste Bombardement, wie die Familie Schaposchnikow zerstreut wird, erfahren vom Hadern und der Hingabe Einzelner ihrem Schicksal gegenüber. Wir lernen einen Soldaten kennen in seinen Sehnsüchten, seinen Erinnerungen an die Familie, von der er aufbrach, seinen Wünschen und seinem Pflichtgefühl, und dann fällt er, mit allen seinen Kampfgenossen.

Nichts von den charakterlosen, redundanten und kitsch-banalen Soldatenschicksalen aus billigen TV-Dokus ist hier zu finden. Bei Grossmann werden sie vielmehr ganz nah und lebendig.

Dafür projiziert Grossman die Innenwelten der Menschen oft fantastisch und expressiv in die Natur Südrusslands, auf die Wolga, die Steppe, den Himmel, der den Feuerschein des brennenden Stalingrads reflektiert.

Wir erleben das Spannungsfeld zwischen dem Krieg, der Massen mit sich zieht, über das Leben einer ganzen Bevölkerung bestimmt und dem, was das für die Einzelnen, aus denen diese Masse besteht, bedeutet, für Gedanken, Handlungen und ihr Bewusstsein. Die allermeisten Menschen handeln aus ihren unmittelbaren, eigenen Erfahrungen heraus.

Die Überzeugung von der Notwendigkeit, gegen den Faschismus zu kämpfen, finden die Figuren, fanden die Menschen in der Sowjetunion von sich aus. Die Motive waren jedoch unterschiedliche: von der Überzeugung sozialistischer Überlegenheit bis zur Vaterlandsverteidigung – immerhin war ja auch die offizielle Bezeichnung des Krieges der „große, vaterländische“.

Offenes Ende

Der Roman endet nicht mit dem sowjetischen Sieg an der Wolga, sondern mitten in der Schlacht, an dem Punkt, wo der deutsche Vormarsch zum Stillstand kommt.

Auch wenn „Stalingrad“ nur subtil in seiner Kritik ist, ist es trotzdem unbedingt lesenswert und weit davon entfernt, ein Propagandawerk zu sein. Gerade für Revolutionär:innen und Marxist:innen, die sich mit Trotzkis Analysen der UdSSR auskennen, kann es nur bereichernd sein. Es verleiht dem sonst trockenen Geschichtsbewusstsein Lebendigkeit und einen tiefen Einblick in die Breite der sowjetischen Gesellschaft zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Einen Blick, der hilfreich ist, in einer Zeit, wo imperialistische Kriegspropaganda auf allen Seiten Konjunktur hat.

Und endlich ist „Stalingrad“ auch deshalb lesenswert, weil es mit seinem offenen Ende auf den zweiten Teil „Leben und Schicksal“ vorbereitet – eine Abrechnung einerseits, mit verkürzten Schlüssen andererseits.

Demnächst: Stalingrad, Faschismus und Stalinismus: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2




Documenta fifteen und der Antisemitismusvorwurf

Jonathan Frühling, Infomail 1193, 19. Juli 2022

Im Sommer 2022 findet in Kassel über einen Zeitraum von 100 Tagen die fünfzehnte Ausgabe einer der größten und wichtigsten Ausstellungen für moderne Kunst weltweit statt: die documenta. Dieses Jahr steht sie massiv in der Kritik. Doch was ist dieses Mal an ihr besonders und sind die Vorwürfe gegen sie berechtigt?

Die documenta fifteen

Dieses Jahr ist bei der documenta einiges anders. Statt einem/einer angesehenen Kurator:in, der/die fast immer aus der sogenannten „westlichen“ Welt kam, wird die Ausstellung in diesem Jahr von einem indonesischen Kollektiv namens Ruangrupa kuratiert. Auch die eingeladenen Künstler:innen unterscheiden sich fundamental von den vorherigen Ausstellungen. Statt vor allem die auf dem Kunstmarkt besonders angesehene Kunst auszustellen (und im Voraus schon ihren Verkauf durch große Galerien an finanzkräftige Kund:innen zu planen), kommen Künstler:innen vor allem aus dem globalen Süden zur Sprache.

Ein Filmstudio aus einem Slum in Uganda, Kunst von Dalits (Angehörigen der untersten Kaste) aus Indien, ein Verein, der Kunst und Sozialarbeit in einem Slum von Nairobi macht, ein Kollektiv queerer, indigener Menschen aus Neuseeland oder Voodoo-Kunst aus Müll und menschlichen Knochen aus Haiti, um nur wenige Beispiele zu nennen. Kaum einer dieser Menschen würde ihre oder seine Kunst sonst jemals in Europa auf die Bühne bringen können. Mit ihren Produktionen kommen natürlich auch ihre Geschichten, politischen Positionen und Forderungen. Kurz gesagt repräsentiert die Kunst auf der documenta weit mehr als jemals zuvor die Opfer von Rassismus und sozialer Ausbeutung, Angehörige unterdrückter Völker, Nationen, Kasten und Klassen auf der ganzen Welt.

Die Hetze im Vorfeld

Schon im Vorfeld wurde die documenta für ihr Konzept kritisiert. Kritik kam vor allem an der Einladung des Kollektivs „Question of funding“, da dieses aus Palästina stammt. Es war also abzusehen, dass sich in der Kunst auch Kritik an dem weißen und kolonialen Apartheidstaat Israel ausdrücken würde, da die tagtägliche brutale Unterdrückung für die Menschen vor Ort natürlich sehr bestimmend ist.

Bundespräsident Steinmeier machte auf der Eröffnung der documenta bereits klar, dass das Existenzrecht Israels in Deutschland nicht verhandelbar sei. Der Vorwurf des Antisemitismus stand mal wieder im Raum und wurde wie gewohnt mit Antizionismus gleichgesetzt, also mit der Kritik am Staat Israel bzw. dessen rassistischer Ideologie.

Kritisiert wurde zudem, dass keine Kulturschaffenden aus Israel eingeladen wurden. Ruangrupa argumentierte schlicht damit, dass es keine Verbindungen zu einem israelischen Kollektiv habe und sich nicht verpflichtet fühlte, von bestimmten Ländern Künstler:innen einzuladen.

Auch die Rechte machte, von bürgerlicher Politik und Presse motiviert, im Vorfeld mobil und brach in den Ausstellungsraum von „Question of funding“ ein, verwüstete ihn und beschmierte ihn mit rassistischen Graffitis. Schon vorher waren Sticker gegen den Islam und für den zionistischen Apartheidstaat aufgetaucht. Offensichtlich wurde dadurch, dass sich der deutsche Staat und die politische Rechte durch die Anwesenheit progressiver Künster:innen angegriffen fühlten.

Antisemitische Kunst auf der documenta

Kurz nach der Eröffnung kam dann der Supergau: Ein am zentralen Friedrichsplatz aufgehängten 8 x 12 m großes Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi, welches den Kampf gegen die US-gestützte rechte Militärdiktatur in Indonesien (1965 – 1998) symbolisierte, zeigte eine eindeutig antisemitische Figur. Zu sehen ist ein orthodoxer Jude mit spitzen Zähnen, bösen Augen, einer großen Nase und einer gespaltenen Schlangenzunge. Alles das sind gängige antisemitische Muster, wie sie vor allem im 20. Jahrhundert z. B. vom deutschen Faschismus genutzt wurden. Auf seinem Hut prangern SS-Runen, welches die Jüdinnen und Juden in die Ecke von Nazis stellen soll.

Das verantwortliche Kollektiv Taring Padi entschuldigte sich für die Darstellung und übernahm gleichzeitig die Verantwortung. Es begründet die Darstellung damit, die Unterstützung des Staates Israel für Suhartos Militärdiktatur und die Ermordung von rund einer halben Million Mitglieder und Anhänger:innen der Indonesischen KP zeigen zu wollen.

Die Figur schockiert wohl alle, die die documenta gegen bürgerliche und rechte Kritik verteidigt haben. Sie zeigt außerdem, wie in der Gesellschaft, auch in sonst fortschrittlichen Zusammenhängen, plumper Antisemitismus weiterhin existieren kann.

Verschwiegen wird freilich in der bürgerlichen Berichterstattung zumeist die Selbstkritik des indonesischen Kollektivs. Das Banner wurde nach kurzer Zeit abgehängt. Ein Übermalen der entsprechenden Figur wäre zwar besser gewesen. Es hätte dafür gesorgt, das fortschrittliche Moment des Banners in der Öffentlichkeit zu halten, und gleichzeitig sichergestellt, dass die antisemitische Figur niemals mehr für irgendwen sichtbar wird.

Diskussion über Antisemitismus

Für alle bürgerlichen und reaktionären Kräfte war der Vorfall natürlich ein gefundenes Fressen. Die gesamte deutsche (und internationale) Presse berichtete über die Vorfälle und sah sich in ihren vorausgegangenen Anschuldigungen bestätigt. Seitdem wächst der Druck auf die documenta. Die Generaldirektorin Sabine Schormann ist bereits zurückgetreten, Besucher:innen bleiben fern.

Doch die Kritik der bürgerlichen Presse, von Politiker:innen wie Steinmeier, Roth und Co. zielt nicht auf ein Ausstellungsstück. Für sie geht es vielmehr darum, die berechtigte Kritik an einer plumpen, antisemitischen Darstellung zu missbrauchen, um die gesamte Ausrichtung der diesjährigen documenta, eigentlich die bisher politisch fortschrittlichste,  zu verunglimpfen und zu einem finanziellen Desaster zu gestalten.

In der Diskussion fällt auch eine Sache besonders auf, die oben schon angeschnitten wurde. Es findet eine totale Vermischung und Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus statt. Deren Zweck besteht darin, den progressiven Kampf des palästinensischen Volkes gegen Unterdrückung zu dämonisieren und damit die gesamte documenta anzugreifen. Genauso geht es in Deutschland tagtäglich linken Organisationen, die sich für die Befreiung unterdrückter Völker einsetzen!

Gegen jeden Antisemitismus!

Wir müssen jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Zugleich dürfen Internationalist:innen zu den Verbrechen des Staates Israel nicht schweigen. Ständiger Krieg, nationale Unterdrückung der Palästinenser:innen, rassistische Gesetze und ein enges Bündnis mit den USA oder mit Deutschland beweisen, dass er keinen Schutzraum für das jüdische Volk, sondern ein Instrument der imperialistischen Unterdrückung bildet. Wir unterstützen daher den Befreiungskampf der Palästinenser:innen, das Recht auf Rückkehr der Vertriebenen und alle antizionistischen Kräfte in Israel gegen das System der Apartheid und den Kampf für einen gemeinsamen multinationalen Staat in Palästina/Israel, in dem alle Menschen gleichberechtigt leben können. Dies wird den Kampf gegen wachsenden Antisemitismus nicht schwächen, sondern vielmehr stärken.

Der Kampf gegen nationale Unterdrückung, Antisemitismus und Kapitalismus bildet letztlich eine Einheit. Die bürgerliche Presse, Steinmeier und ihre antideutschen und rechten Unterstützer:innen sind dabei nicht unsere Verbündeten. Die Künstler:innenkollektive, die auf der documenta ausstellen, dagegen bringen progressive Positionen zum Ausdruck. Wir verteidigen ihr Recht auf Freiheit der Kunst, ohne gleichzeitig zu ihren Fehlern zu schweigen. Doch diese sind keine Grund, die Ausstellung zu boykottieren oder unkritisch im Chor der bürgerlichen und rechten Kritik an der documenta mit zu heulen. Also kommt nach Kassel, schaut euch die Kunst an und kommt mit den Menschen über Politik ins Gespräch! Der Austausch und unsere Solidarität können die Kämpfe in ihren Ländern motivieren.