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USA: „Unsere“ Demokratie retten!??

Christian Gebhardt, Infomail 1199, 20. September 2022

Die Republikanische Partei ist darauf aus, „unsere“ Demokratie zu stürzen. Die bevorstehenden midterm elections (Zwischenwahlen) werden eine Wahl zwischen einer extremistischen Autokratie und der „besten Demokratie“ sein, die wir je auf Erden gesehen haben. Zumindest versucht die Demokratische Partei, uns das drei Monate vor den Zwischenwahlen im November weiszumachen. Aus Angst, ihre hauchdünne Mehrheit zu verlieren, verweisen die Demokrat:innen auf die Tatsache, dass immer mehr republikanische Vorwahlen auf den von Trump unterstützten und nicht auf den „gemäßigten“ Kandidaten hinauslaufen. Diese radikalen Anhänger:innen Trumps würden nicht nur eine Bedrohung für die demokratischen Rechte (z. B. Abtreibungsrechte oder die Homo-Ehe), sondern auch für die Demokratie als Ganzes darstellen.

Und da ist ein Körnchen Wahrheit dran. Die Ergebnisse der Vorwahlen zugunsten der Hardcore-Trumpanhänger:innen bei den kommenden Zwischenwahlen sind nicht nur ein Zeichen für den anhaltenden Einfluss des Trumpismus innerhalb der Republikanischen Partei, sondern auch ein Zeichen für einen anhaltenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft, selbst nachdem Trump sein Amt niedergelegt hat. Die Republikanische Partei befindet sich mitten in einem Rechtsruck, der von einer Basis von Wähler:innen angeheizt wird, die an die „große Lüge“ des Wahlbetrugs glauben und Druck auf „gemäßigte“ Republikaner:innen ausüben, damit diese sich entweder vorerst zurückhalten oder ihre Politik ändern. In jedem Fall spricht dies für einen Rechtsruck der Republikanischen Partei, der für Revolutionär:innen nicht allzu überraschend kommt. Unabhängig davon, ob dieser Rechtsruck aus echter Überzeugung oder Opportunismus erfolgt, stellt er dennoch eine reale Bedrohung für viele demokratische Rechte der US-Arbeiter:innenklasse insgesamt dar: z. B. Angriffe auf Abtreibungsrechte, die Homo-Ehe, das Wahlrecht usw.

Insgesamt lässt sich die derzeitige Situation in den USA als eine Polarisierung charakterisieren, in der die extreme Rechte in Zusammenarbeit mit der christlichen Rechten immer mehr Einfluss gewinnt und bestimmte Punkte ihrer Agenda durchsetzen kann.

Aber wer sind diese „Gemäßigten“?

Die Demokratische Partei fordert die gemäßigten republikanischen Teile auf, zur Vernunft zu kommen und die Realität der derzeitigen Republikanischen Partei zu erkennen. Eine Person, die in diesem so genannten moderaten Haufen am beliebtesten ist, ist Liz Cheney, eine Politikerin, die in 93 % der Fälle für die Politik von Donald Trump gestimmt hat und nicht als Teil des „progressiven Flügels“, was immer dieser Begriff auch bedeuten mag, innerhalb der Republikanischen Partei bekannt war. Mit ihrer Verteidigung der härtesten Formen des wirtschaftlichen Neoliberalismus gegen die Arbeiter:innenklasse und von Waterboarding (Kopf unter Wasser Drücken) und anderer Folter als legitime außenpolitische Optionen hätte sie noch vor zwei Jahren von keinem Mitglied der Demokratischen Partei als „gemäßigt“ bezeichnet werden können.

Was hat sich also geändert? Cheney hat sich in die Herzen der Demokrat:innen gespielt, indem sie gegen Trumps Verwicklung in den Angriff auf den Kongress am 6. Januar Stellung bezog, ihre Rolle im Ausschuss „6. Januar“ übernahm und für Trumps zweites Amtsenthebungsverfahren stimmte. Obwohl dies wichtige politische Positionen gegen Trumps Form des Autoritarismus waren, können sie ihr früheres politisches Leben als Hardcorepolitikerin des rechten Flügels, die politisch genauso ruchlos war wie ihr berüchtigter Vater, der ehemalige republikanische Vizepräsident Dick Cheney, nicht vergessen machen.

Wahlstrategie der Demokratischen Partei für die Zwischenwahlen

Es stellt sich also die Frage: Warum loben die Demokrat:innen jetzt Cheney? Zwar könnten wir ihnen zugute halten, dass sie glauben, Liz Cheneys Politik hätte sich grundlegend geändert und sie sei nun eine respektvolle Verbündete. Doch selbst wenn die Demokrat:innen dumm genug sind, das zu glauben, deutet das eher auf ihre übergreifende, fehlgeleitete Strategie für die Zwischenwahlen hin, ein Thema, das viel wichtiger ist.

Cheney als gemäßigt darzustellen und sie und ihre Anhänger:innen aufzufordern, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und diese zu stärken, bedeutet, dass die Demokrat:innen einerseits versuchen, Druck auf republikanische Gesetzgeber:innen auszuüben, damit diese entweder in bestimmten Fragen mit ihnen stimmen oder aus der Reihe tanzen und die Partei ganz wechseln. Andererseits beschwören sie diese republikanischen „Gemäßigten“ sowie Unabhängige und unentschlossene Wähler:innen, für die Demokratie, und das bedeutet genauer gesagt, für die Demokratische Partei zu stimmen.

Für uns Revolutionär:innen ist es wichtig festzustellen, dass die Arbeiter:innenklasse – wenig überraschend – in dieser Strategie keine Rolle spielt. Statt sich an der Arbeiter:innenklasse zu orientieren, um den Aufstieg der extremen Rechten und des Trumpismus in den USA zu bekämpfen, versuchen die Demokrat:innen, uns davon zu überzeugen, sich mit Leuten zusammenzutun, die für den politischen Rechtsruck, mit dem wir es zu tun haben, mitverantwortlich sind. Das demokratische Establishment nimmt zudem eine Haltung ein, die den Interessen der Arbeiter:innenklasse zuwiderläuft, indem es diese Debatte derzeit nutzt, um den progressiven Flügel innerhalb der Demokratischen Partei anzugreifen, weil er „zu radikal“ und in Wirklichkeit nicht besser als die radikalen Republikaner:innen sei – eine widerliche Form der Gleichsetzung „beider Seiten“. Auch wenn wir die politische Strategie dieses progressiven Flügels ebenfalls grundlegend ablehnen, sehen wir es als notwendig an, auf diesen Angriff hinzuweisen und die Mitglieder dieses Flügels aufzufordern, die richtigen Schlüsse zu ziehen und mit der Demokratischen Partei zu brechen!

Die bürgerliche Demokratie – der Klebstoff, der sie zusammenhält

Die DemokratIsche Partei verkündet natürlich nicht offen, dass ihre Strategie eigentlich nicht darin besteht, den Trumpismus im Namen der Arbeiter:innen zu bekämpfen. Sie behauptet, dass der Kampf für Demokratie der wichtigste sei und sich alle um ihn scharen sollten. Wer sich gegen die Demokratische Partei stellt, auch wenn er/sie von links kommt, gehört zum falschen Lager und ist es daher nicht wert, mit jenen Kräften zusammenzuarbeiten. Dieser Aufruf, „unsere Demokratie“ zu verteidigen, ist der Klebstoff, der diese Strategie zusammenhalten und die Aktivist:innen der Arbeiter:innenbewegung an die Demokratische Partei binden soll, auch wenn  diese nicht auf der Seite der Arbeiter:innenklasse steht.

Doch niemand erwähnt den Charakter dieser „Demokratie“. Sie wird als abstraktes, natürliches Gesetz dargestellt statt als das, was sie wirklich ist: ein Form der Demokratie, die der herrschende Klasse, der Bourgeoisie nützt! Eine gesellschaftliche Struktur, die dazu da ist, den Kapitalismus und seine zerstörerischen Kräfte zu beherrschen und zu verteidigen. Eine „Demokratie“, die die Krisenlast auf die Schultern der Arbeiter:innenklasse legt, während sie dafür sorgt, dass die Profite für die Kapitalist:innen weiter fließen. Kurz gesagt, eine Demokratie, die wir als Revolutionär:innen überwinden und durch eine Arbeiter:innendemokratie und einen Arbeiter:innenstaat ersetzen wollen! Einen Staat, der wirklich vom Volk und für das Volk geführt wird und nicht durch ein Marionettenspiel, das die Kapitalist:innen vollständig begünstigt.

Wir brauchen eine Arbeiter:innenpartei!

Der Kampf für eine abstrakte Demokratie, in Wirklichkeit einer für eine bürgerliche Herrschaftsform, liefert keine Option für US-Arbeiter:innen. Anstatt innerhalb der Demokratischen Partei zu arbeiten und versuchen, für fortschrittlichere Positionen und Einfluss innerhalb einer Partei zu kämpfen, die sie nicht will – wie Bernie Sanders, die DSA oder Vertreter:innen wie die Squad uns glauben machen wollen –, brauchen wir einen offenen und sauberen Bruch mit der Demokratischen Partei. Dieser sollte zu einer Arbeiter:innenpartei führen, einer Partei, die wirklich die Perspektive der Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe in den Vordergrund stellt, nicht nur, wenn es darum geht, mehr Einfluss oder Stimmen bei Wahlen zu gewinnen, sondern die auch die täglichen Kämpfe der arbeitenden Menschen in den USA führen kann. Eine Partei, die sich mit den laufenden Streikwellen, den Kämpfen gegen die Abschaffung der reproduktiven Rechte, der Wahlrechtsbeschränkungen, der Homo-Ehe und all den anderen Angriffen auf die demokratischen Rechte, die derzeit stattfinden, befasst. Eine Partei, die eine Koalition aus Vertreter:innen all unserer aktuellen Kämpfe für einen vereinten Gegenschlag bilden wird. Eine Partei, die den Arbeiter:innen endlich die Möglichkeit gibt, über ihre Politik und ihr politisches Programm selbst zu entscheiden.

Organisationen wie die Demokratischen Sozialist:innen Amerikas oder das Arbeiter:innennetzwerk Labor Notes sollten eine solche Initiative anführen und lokale Zweigstellen bilden, um eine Struktur für eine politische Debatte zu schaffen, die sich auf die Ausarbeitung eines Programms und eines Kampagnenplans konzentrieren sollte. Diese Debatten sollten nicht nur die Basisorganisationen der Arbeiter:innenklasse einbeziehen, sondern auch die Gewerkschaften auffordern, sich zu beteiligen, ihre Verbindungen zu der Demokratischen Partei zu lösen und sich einer solchen Initiative mit voller Kraft anzuschließen. Auch wenn wir wissen, dass sich die Gewerkschaftsführung nicht freiwillig an einer solchen Initiative beteiligen oder sie gegebenenfalls sabotieren wird, sollten wir zu ihrer Beteiligung aufrufen. Auf diese Weise wird  der Mitgliedschaft der faule Kern der Gewerkschaftsführung vor Augen geführt und liefert uns die perfekten Argumente, um mit ihr zu brechen und sich unserer Sache anzuschließen.

Wir Revolutionär:innen müssen uns in einer solchen Initiative engagieren und für eine revolutionäre Perspektive kämpfen. Wir sollten uns als revolutionäre Strömung innerhalb einer solchen Initiative organisieren, basierend auf einem revolutionären Aktionsprogramm. Wir argumentieren für dieses Programm und versuchen, so viele Mitglieder wie möglich zu sammeln, um für dieses Programm sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei zu kämpfen. Eine solche Taktik würde unweigerlich zu zwei möglichen Ergebnissen führen: Entweder wir gewinnen am Ende die Mehrheit der Partei für unser revolutionäres Programm und schaffen so eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, oder sie führt zu einer offenen Spaltung innerhalb der Initiative mit reformistischen und zentristischen Kräften. Eine Spaltung, die jedoch eine stärkere und gezieltere revolutionäre Organisation in den USA hervorbringen würde. Eine Organisation, die es uns Revolutionär:innen ermöglichen würde, in den aktuellen Kämpfen der Arbeiter:innenklasse mit einer stärkeren Stimme für unsere revolutionären Ideen zu streiten, z. B.: die Notwendigkeit der Überwindung der bürgerlichen Demokratie durch die Einführung der Arbeiter:innendemokratie und Bildung eines Arbeiter:innenstaates!




Proteste gegen Abtreibungsverbote in den USA

Interview mit einer Aktivistin, REVOLUTION (Zuerst veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de), Infomail 1194, 28. Juli 2022

In den USA hat der Oberste Gerichtshof im Juni dieses Jahres ein Urteil erlassen, welches den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einschränken und sogar verbieten kann. Mehrere Bundesstaaten haben bereits angekündigt, die Rechte auf Abtreibungen massiv anzugreifen. Als Reaktion kam es in vielen US-amerikanischen Städten zu Massenprotesten. Wir haben in diesem Interview mit der Aktivistin Lara (Instagram @Lara.islinger) vor Ort gesprochen.

Wer bist du? Wo bist du organisiert?

Ich bin Lara (sie/ihr) und wohne eigentlich in Hamburg. Ich verbringe den Sommer damit, in New York für Shout Your Abortion (SYA) zu arbeiten. SYA ist eine Organisation, die sich für die Entstigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs einsetzt – mit kreativen Aktionen und dadurch, dass wir Menschen eine Plattform geben, um ihre Erfahrungen zu teilen. Aufgrund der aktuellen Situation, also des Urteils des Supreme Court und der Abtreibungsverbote in vielen Staaten, fokussieren wir uns aktuell auf den Zugang zu sicheren Abtreibungen insbesondere durch Abtreibungspillen – egal ob legal oder nicht.

Seit einigen Wochen, bin ich bei New York City For Abortion Rights aktiv, ein sozialistisch-feministisches Kollektiv, das Demos und sogenannte Clinic Defenses organisiert.

Inwiefern bist/warst du Teil der Proteste gegen die neuen Abtreibungsverbote? Was ist dein Ziel?

Gemeinsam mit New York City For Abortion Rights und anderen linksfeministischen Gruppen habe ich einen Protest am Tag der Supreme-Court-Entscheidung organisiert, zu dem 20.000 Leute gekommen sind. Mir ging es bei der Demo vor allem darum, Solidarität auszudrücken mit Menschen in republikanischen Bundesstaaten, in denen nun Abtreibungsverbote und Einschränkungen gelten. Abgesehen von einem erhöhten Andrang in den Abtreibungskliniken wird sich in New York durch das Urteil wenig ändern. Trotzdem spüren wir auch hier den Einfluss von Abtreibungsgegner:innen, da wir sogenannte Clinic Defenses organisieren. Das sind Proteste und Blockaden gegen Abtreibungsgegner:innen, die zu Kliniken prozessieren, eskortiert vom NYPD, und dort Patient:innen belästigen – mitten in New York City.

Am Montag, dem 4. Juli, war ich mit Shout Your Abortion in Washington DC. Wir haben vor dem Supreme Court einen Stand aufgebaut, an dem wir Limonade verschenkt und Informationen zu Abtreibungspillen verbreitet haben, die man in allen 50 Staaten über die Organisation Aid Access bestellen kann – auch ohne schwanger zu sein (sog. advanced provision). Unser Motto lautet ,Fuck SCOTUS. We’re doing it anyway’. Dieses illegitime, undemokratische Gericht kann uns nicht aufhalten.

Dazu will ich unbedingt betonen, dass das Urteil natürlich Konsequenzen hat, die grausam und ungerecht sind. Unter der Kriminalisierung von Abtreibung (und Fehlgeburten) leiden am meisten Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören – insbesondere Schwarze; Indigene und weitere People of Color; die LGBTQ+-Community; Menschen mit Behinderung; Menschen, die im ländlichen Raum leben; junge Menschen und arme Menschen.

Wie nimmst du die Proteste wahr? Welche Gruppen sind am Start?

Mir geben die Proteste Kraft. Ich finde es gut, dass wir uns den öffentlichen Raum nehmen, um unserer Wut Ausdruck zu verleihen, und als Zeichen der Solidarität mit allen Menschen, die von den Abtreibungsverboten betroffen sind. Die feministische Bewegung nehme ich als zersplittert wahr. Viele linke Aktivist:innen wenden sich vom liberalen, weißenMainstreamfeminismus ab. Andererseits spüren wir in New York eine starke Solidarität von anderen linken Gruppen sowie von den neu gegründeten Gewerkschaften (z. B. der Starbucks-Gewerkschaft), die sich unseren Protesten anschließen.

Wir distanzieren uns von Gruppen, die sogenannte die-ins organisieren, sich mit Blut beschmieren oder Kleiderbügel zu Protesten mitbringen. Unser Punkt ist ja: Wir gehen nicht zurück in die 1960er und frühen 1970er Jahre, bevor Roe entschieden wurde, und als viele Menschen aufgrund unsicherer, illegaler Abtreibungen gestorben sind. Wir wollen keine Angst schüren, sondern Hoffnung machen. Der große Unterschied ist, wir haben heute Zugang zu Abtreibungspillen und wir haben ein Netzwerk von Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung leistet. Wir werden dieses Urteil nicht befolgen. Wir werden nicht aufhören abzutreiben. Wir werden nicht aufhören, uns gegenseitig zu helfen, und wir werden nicht aufhören, für reproduktive Gerechtigkeit zu kämpfen.

Kamala Harris hat als Antwort der Demokraten dazu aufgerufen, diese Entscheidung mit der Stimmabgabe bei den Zwischenwahlen doch noch zu kippen – hältst du das für realistisch?

Die Biden-Regierung und die Demokrat:innen betonen, dass sie Abtreibungsrechte verteidigen wollen, aber ihre Bemühungen auf Bundesebene halten nicht Schritt mit dieser Rhetorik. Die Tatsache, dass die Demokrat:innen in Washington nicht in der Lage sind, Abtreibungsrechte zu stärken, obwohl sie das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses kontrollieren, hat viele Wähler:innen enttäuscht. Ich spüre deutlich die Frustration über die Untätigkeit der Demokrat:innen auf Bundesebene und höre in linken, feministischen Kreisen immer wieder das Wort ‚desillusioniert‘.

Es stimmt: Das Supreme-Court-Urteil hat das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt mehrerer wichtiger Zwischenwahlen katapultiert. Die Wahlen in den Bundesstaaten (etwa von Gouverneur:innen, Generalstaatsanwält:innen, Richter:innen und der Legislative) könnten nun darüber entscheiden, ob Millionen von Amerikaner:innen Zugang zu legalen Abtreibungen haben oder nicht. Viele haben aber das Gefühl, dass die Demokrat:innen – angesichts der hohen Inflation und der niedrigen Zustimmungsraten für Präsident Biden – den Unmut über das Urteil ausnutzen, um Wähler:innenstimmen zu erhaschen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie sie den Zugang zu Abtreibung in den USA gewährleisten und FLINTAs unterstützen werden.

Wenn aber doch noch nicht alles verloren ist: Welche Perspektive siehst du dann noch für FLINTAs in den USA?

Ich lege große Hoffnung in feministische Solidarität und Netzwerke – national und international. Anders als die Demokrat:innen haben wir uns spätestens seit dem Leak des Entwurfs im Mai darauf vorbereitet, dass Roe fallen wird. Wir verbreiten Informationen zu Abtreibungspillen, die per Post in alle 50 Staaten verschickt werden können und sehr sicher sind. Dabei hilft uns Plan C und die europäische Organisation Aid Access. Außerdem gibt es ein solides Netzwerk von regionalen Abortion Funds, das finanzielle Unterstützung für Abtreibungen leistet. Ich habe auch mitbekommen, dass als letzter Ausweg Abtreibungspillen aus Mexiko geschickt werden – kostenlos von dortigen feministischen Kollektiven als Akt der Solidarität mit FLINTAs in den USA. Unser Motto lautet: ‚We will save us.‘ Wir retten uns selber.

Was wünschst du dir von der Bewegung? Und wie können wir hier in Deutschland/der EU sie unterstützen?

Ich wünsche mir von der Bewegung, dass wir uns mehr auf praktische Fragen konzentrieren. Unser Fokus sollte sein: Wie können wir Menschen dabei helfen abzutreiben? Die vollständige Legalisierung von Abtreibung ist dabei natürlich ein wichtiger Faktor – aber nicht der einzige.

Wenn ihr wen aus den USA kennt, könnt ihr Ressourcen zu Abtreibungspillen und Advanced Provision teilen, zum Beispiel Plan C oder Aid Access. Ein großes Problem ist, dass nur 1 von 5 Amerikaner:innen darüber Bescheid weiß. Wenn ihr Geld übrig habt, könnt ihr spenden. Dafür empfehle ich das National Network of Abortion Funds, das Spenden auf regionale Abortion Funds aufteilt und Aid Access bzw. die europäische Mutterorganisation Women on Web. Meine DMs sind immer offen für Fragen. Bitte nicht vergessen: Wir kämpfen in Deutschland den gleichen Kampf: Der §218 muss weg, genau wie weitere Schikanen für ungewollt Schwangere wie Pflichtberatung, Wartezeit und die Gehsteigbelästigung durch Abtreibungsgegner:innen vor Praxen. Der Zugang muss verbessert werden, insbesondere durch die Schließung von Versorgungslücken. Wir sind nicht frei und gleichberechtigt ohne den bedingungslosen und legalen Zugang zu Abtreibung.

Für eine ausführlichere Analyse des Gerichtsurteils und dessen Folgen, aber auch der Frage, warum Abtreibungsrechte eigentlich so stark umkämpft sind und wie wir sie verteidigen können, schaut gerne in unseren Artikel dazu:http://onesolutionrevolution.de/usa-wie-wir-abtreibungsrechte-wieder-zurueck-erkaempfen-koennen/ .




Abtreibungsrechte: Angriff auf schwer erkämpfte Errungenschaften

Veronika Schulz, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Unterschiedlicher hätten Gerichte nicht entscheiden können: Ende Juni beschloss der deutsche Bundestag mit den Stimmen der Ampelkoalition sowie der Linkspartei die Streichung von Paragraph 219a, bekannt als „Werbeverbot für Abtreibungen“. Dieser überfällige Schritt ermöglicht Schwangeren künftig einen einfacheren Zugang zu Informationen sowohl über Ärzt:innen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, als auch über die Methoden, die dazu angewandt werden.

Am selben Tag entschied in den USA der Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof) mit einer Mehrheit konservativer und teils ultrareaktionärer Verfassungsrichter:innen von 5:4 Stimmen, ein knapp 50 Jahre altes Grundsatzurteil zu kippen. Die damalige Entscheidung im Fall „Roe vs. Wade“ garantierte bisher das Recht auf Abtreibung bis zur 23. Schwangerschaftswoche. Das bedeutet, dass bisher in den meisten US-Bundesstaaten Abtreibungen rechtlich nahezu uneingeschränkt möglich waren.

Bereits Anfang Juni war ein im Februar 2022 verfasster erster Entwurf des jetzt verkündeten Urteils über die Nachrichtenseite Politico an die Öffentlichkeit gelangt. Es kam zu spontanen Demonstrationen in über 450 Städten der USA und einem eher verzweifelten Versuch der Demokratischen Partei, das Recht auf Abtreibung durch Kongressbeschluss in einem Bundesgesetz zu verankern. Bisher fehlt jedoch eine Gegenwehr der organisierten Arbeiter:innenklasse.

Dass der Supreme Court ausgerechnet jetzt eine solche Grundsatzentscheidung trifft, hängt auch mit der aktuellen Zusammensetzung des höchsten US-Gerichts zusammen. Ex-Präsident Trump hatte während seiner Amtszeit drei Posten neu besetzt, wodurch sich eine Verschiebung ergeben hat: Von insgesamt neun Richter:innen sind sechs dem konservativen bzw. republikanischen und nur noch drei dem progressiven bzw. demokratischen Lager zuzuordnen. Seine Entscheidung ist jedoch nicht repräsentativ für die Haltung der Bevölkerung zum Thema Abtreibung: Laut Umfragen befürworten um die 70 % der US-Amerikaner:innen „Roe vs. Wade“.

Bedeutung für Schwangere und die Arbeiter:innenklasse

Mit dem neuen Urteil ist der Weg für einzelne Bundesstaaten frei, eigene Gesetze zur Abtreibung und damit Kontrolle über Frauenkörper zu erlassen. Mehrere waren bereits auf dieses Urteil vorbereitet und hatten – teils extreme Verschärfungen bis hin zu (faktischen) Verboten von Schwangerschaftsabbrüchen – bereits als sogenannte „Trigger Laws“ genannte Entwürfe in den Schubladen. Quasi über Nacht sind somit in überwiegend republikanisch regierten US-Bundesstaaten wie Arkansas oder Oklahoma Schwangerschaftsabbrüche für illegal erklärt worden.

Bereits im September 2021 trat das sogenannte „Heartbeat Law“ in Texas in Kraft. Es verbietet Abtreibungen, nachdem ein fötaler Herzschlag in der sechsten Woche festgestellt werden kann – ein Zeitraum, der so kurz ausfällt, dass viele Frauen nicht einmal wissen, dass sie schwanger sind. Es macht keine Ausnahme bei Vergewaltigung oder Inzest. In Texas drohen Schwangeren, Ärzt:innen oder gar Personen, die anderweitig Abtreibungen unterstützen oder ermöglichen, und sei es ein:e Taxifahrer:in zur Beförderung der Schwangeren, hohe Geld- oder Haftstrafen. Was dies für die akut Betroffenen bedeutet, mag sich niemand vorstellen.

Betrachtet man die Karte der US-Bundesstaaten, ist oder wird mit großer Wahrscheinlichkeit in weiten Teilen des Landes – abgesehen von den liberalen Küstenregionen und vereinzelten Staaten im Norden – entweder ein faktisches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen oder ein sehr eingeschränkter Zugang dazu vorherrschen.

Insbesondere Frauen in ländlichen Gebieten des Mittleren Westens sowie einkommensschwachen, migrantischen und Women of Color wird der Zugang zu legalen und sicheren Abtreibungen weiter erschwert bis verweigert. An diesem Punkt zeigt sich der Klassencharakter des Urteils und seiner Auswirkungen. Zweifelsohne sind auch Frauen der bürgerlichen Mittelschicht betroffen, werden jedoch durch soziale Kontakte und finanzielle Mittel auch weiterhin einen Weg finden, auf sichere Weise abzutreiben.

Dadurch zeigt sich, wie durch solch reaktionäre Politik die Ungleichheiten der kapitalistischen Unterdrückung im täglichen Leben von Frauen der Arbeiter:innenklasse verstärkt werden. Langfristig ist dieses Urteil in einem vermeintlich „demokratischen, liberalen westlichen Industriestaat“ auch ein fatales Signal für reproduktive Rechte von Frauen weltweit. Uns muss klar sein, dass es keine objektive oder neutrale Regierungspolitik oder Justiz innerhalb des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen gibt, erst recht keine Rechtsprechung im Sinne der Arbeiter:innenklasse, die an den Grundfesten des Systems rüttelt.

Gegenwehr

Der Aufschrei in den USA und international ist deutlich zu vernehmen. Gut so! Zehntausende haben auf Straßen und Plätzen demonstriert und werden es weiterhin tun. Doch auch die konservativen und evangelikalen, rechten Abtreibungsgegner:innen demonstrieren und scheuen dabei nicht vor Gefährdungen und Verletzungen der Befürworter:innen zurück. Jüngst war ein Auto eines Anhängers dieser durchgeknallten, entsicherten Mittelklassenbewegung, wie sie sich schon beim von Trump inszenierten Sturm aufs Capitol zeigte, in eine protestierende Menschenmenge gerast – unter Inkaufnahme von Tod und Körperverletzungen.

Über Demonstrationen hinaus müssen sich deshalb gerade angesichts der zu allen erlaubten und unerlaubten Mitteln greifenden Rechten Abtreibungsbefürworter:innen auf den Schulterschluss mit der US-amerikanischen Arbeiter:innenbewegung zubewegen. Es ist deren Potenzial, das das Urteil des Obersten Bundesgerichtshofs kippen kann: durch politische Streiks für die Wiederinkraftsetzung von „Roe vs. Wade“ sowie durch, erforderlichenfalls bewaffnete, Verteidigung von Protesten und Abtreibungseinrichtungen mittels gemeinsamer Selbstverteidigungsstrukturen.

Kampf um Selbstbestimmung als Teil des Klassenkampfes

Das Recht der Frau auf körperliche Unversehrtheit ist durch dieses Urteil nicht länger gegeben. Die Gründe für Schwangerschaftsabbrüche sind vielfältig und unabhängig davon, warum eine Frau sich dafür entscheidet, spielt immer auch die Frage der physischen wie psychischen Gesundheit und die Souveränität über den eigenen Körper eine Rolle.

Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht über unsere Körper und reproduktiven Rechte kann nicht länger warten, er muss jetzt konsequent geführt werden. Da wir uns mehr denn je nicht nur gegen Verschlechterungen zur Wehr setzen, sondern die bisherigen Errungenschaften verteidigen müssen, braucht es endlich eine massenhafte Bewegung der Arbeiter:innen. Deshalb fordern wird national und international:

  • Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen finanziert sein!
  • Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!
  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagraphen sowie der Beratungspflicht!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!
  • Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



Kolumbien: Wahlniederlage der Rechten eröffnet nur neue Kampfetappe

Dave Stockton, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei den Wahlen zum Präsidenten und Vizepräsidentin in Kolumbien wurde auf den Straßen der Hauptstadt und anderer Städte mit Jubel begrüßt. Sie löste auch bei führenden Vertreter:innen des linken Flügels in ganz Lateinamerika Begeisterung aus. Der ehemalige brasilianische Präsident Lula da Silva erklärte, dass „ihr Sieg die Demokratie und die fortschrittlichen Kräfte in Lateinamerika stärkt“.

Der Erfolg des Pacto Historico (Historischer Pakt) ist in der Tat ein weiterer Sieg für das, was Kommentator:innen als neue Rosa Flut bezeichnen, und fügt sich in eine Liste ein, die nun Andrés Manuel López Obrador, „AMLO“, im Jahr 2018, Alberto Fernández in Argentinien im Jahr 2019, Luis Arce in Bolivien im Jahr 2020 und, in jüngerer Zeit, die Siege von Gabriel Boric in Chile und Pedro Castillo in Peru im Jahr 2021 umfasst. Dass nun auch Kolumbien hinzukommt, gilt als gutes Omen für einen Sieg Lulas bei den Wahlen in Brasilien im Oktober.

Doch weder in Kolumbien noch anderswo sind dies die radikalen Durchbrüche, die man sich im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts von Hugo Chávez oder Evo Morales und dem „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ erhoffte.

Ende der langen Vorherrschaft der Rechten

Nichtsdestotrotz markiert er das Ende der langen Vorherrschaft der harten Rechten in Kolumbien, symbolisiert durch den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, als Kolumbien die Basis für die Unterwanderung linker Regierungen in anderen Teilen des Kontinents war. Zu dieser Vorherrschaft gehörte auch ein fünfzigjähriger Krieg zwischen aufeinanderfolgenden Regierungen, die von brutalen rechten Paramilitärs unterstützt wurden, gegen die FARC- und ELN-Guerilla. Dieser endete jedoch 2016 mit dem unsicheren Friedensabkommen, das zwischen Präsident Juan Manuel Santos und der FARC in Havanna ausgehandelt wurde.

Der Linksruck ist Ergebnis der Massenaufstände von 2019 und 2021 gegen die verhasste Regierung von Iván Duque. Laut einer Umfrage des Instituts für Entwicklungs- und Friedensstudien wurden während des Paro Nacional (landesweiter Generalstreik) von 2021 mehr als 80 Menschen von Polizei und Militärs ermordet.

Infolge der Inflation ist der Lebensstandard von Millionen von Menschen stark gesunken. Nach offiziellen Angaben wies das Land mit 140.000 Todesfällen eine der höchsten COVID-Sterblichkeitsraten in der Region auf. Im gleichen Zeitraum wurden 3,6 Millionen Kolumbianer:innen in die Armut getrieben, und die Arbeitslosigkeit erreichte 2021 einen neuen Höchststand.

Der Pacto Historico, Petros linkspopulistisches Wahlbündnis, konnte sich an der gesamten Karibik- und Pazifikküste mit großer Mehrheit durchsetzen: Barranquilla (64,16 %), Cartagena (67,46), Cali (63,76) und Bogotá (58,59). Dennoch bleibt die kolumbianische Rechte extrem stark, nicht nur wegen der 48,0 % der Stimmen für ihren Kandidaten Rodolfo Hernández von der Bewegung LIGA (Liga de Gobernantes Anticorrupción; Liga für Regierende gegen Korruption), ehemaliges Mitglied der Partido Liberal (bis 2015), sondern auch wegen ihrer institutionellen Unterstützung in der Armee und der Polizei sowie der rechtsgerichteten Paramilitärs, die immer noch indigene Aktivist:innen ermorden.

Petro ist Gründer und Vorsitzender von Colombia Humana (Menschliches Kolumbien), einer Partei, die aus den Kommunalwahlen 2011 in Bogotá hervorging und sich auf eine große Zahl von Unterschriften stützte, um seine Kandidatur für das Bürgermeister:innenamt zu registrieren, die er auch gewann. Nach Beendigung seiner Amtszeit kandidierte er bei den Wahlen 2018 für das Amt des Präsidenten der Republik, wurde jedoch von der Wahlkommission abgelehnt. Die Partei war das Ziel von paramilitärischen Banden wie den Schwarzen Adlern, die allein im Jahr 2020 fast ein Dutzend ihrer Aktivist:innen ermordeten.

Einen weiteren wichtigen Faktor, der einen echten Wandel in Kolumbien verhindert, bildet der Einfluss, den die USA auf die repressiven Institutionen des Landes ausüben. Kolumbien ist seit den 1960er Jahren Ausgangspunkt für US-Interventionen in vielen südamerikanischen Ländern, darunter auch im benachbarten Venezuela unter Hugo Chávez und Nicolás Maduro. Am 20. Mai bezeichnete Joe Biden Kolumbien als „einen wichtigen Nicht-NATO-Verbündeten“ und versprach, die Streitkräfte des Landes weiterhin mit US-Mitteln zu unterstützen und mit ihnen im Sicherheitsbereich zusammenzuarbeiten. Zwei Tage nach seiner Wahl twitterte der designierte Präsident Petro: „Auf dem Weg zu einer intensiveren und normaleren diplomatischen Beziehung habe ich gerade ein sehr freundliches Gespräch mit US-Präsident Biden geführt“.

Pacto Historico

Petros Politik hat sich trotz seiner Mitgliedschaft in der Guerillagruppe M-19 in den 1980er Jahren längst zu einem respektablen Schwerpunkt auf Wahlen entwickelt. Wie andere „neue“ Führer:innen der Rosa Welle spricht er nicht mehr vom „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“, sondern von der Notwendigkeit einer echten kapitalistischen Entwicklung für Kolumbien. Er behauptet, sein Ziel sei nicht der Sozialismus, sondern die Überwindung der „vormodernen“, „feudalen“ und „sklavenhalterischen“ Überbleibsel. Dies ist keine neue Idee, sondern eine Version der alten Etappentheorie des Stalinismus. Der Pacto Historico beinhaltet auch eine weitere stalinistische Strategie, die „Volksfront“, d. h. Reformen, die mit Hilfe der fortschrittlichen Teile der Bourgeoisie durchgeführt werden sollen. In diesem Sinne hat er davon gesprochen, „technokratische“ Führer:innen zu wählen, um eine Wirtschaftspolitik zu gewährleisten, die die Zustimmung der internationalen Institutionen findet, womit eindeutig der Internationale Währungsfonds gemeint ist.

Dies verheißt nichts Gutes für politische Maßnahmen, wie das in seinem Wahlprogramm versprochene allgemeine kostenlose Gesundheitssystem, für das seine Massenbasis gestimmt hat. Ein zusätzlicher Hemmschuh für die Sozialpolitik des neuen Regimes ist die Tatsache, dass Petro und Márquez über keine funktionierende Mehrheit in der Legislative verfügen werden. Auch hier macht er der rechten Mitte Avancen, indem er behauptet, er wolle „alle Kolumbianer:innen“ vertreten, begleitet von seiner typisch kränklich-sentimentalen Rhetorik über „Liebe für alle, Reiche und Arme“.

Während des Wahlkampfs bot Petro politische Allianzen mit verschiedenen etablierten bürgerlichen Persönlichkeiten an und präsentierte sich ihnen als jemand, der tatsächlich aus der Mitte heraus regieren würde. Er überließ es der schwarzen Aktivistin Francia Márquez, der Tochter eines Bergarbeiters aus einer der am stärksten marginalisierten Zonen des Landes, die Unterstützung von Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und indigenen Basis- und sozialen Bewegungen aufzubauen.

Nach dem Höhepunkt der Mobilisierungen im April/Mai 2021 hat die Führung des Nationalen Komitees, das sich aus Arbeiter:innen-, Bauer:innen- und Student:innengewerkschaften zusammensetzte, die beiden landesweiten Streiks vom revolutionären Sturz der Regierung Duque, geschweige denn von einem Angriff auf den korrupten und mörderischen kolumbianischen Kapitalismus weggeführt und auf ein Wahlziel, die Kandidatur von Petro, ausgerichtet. Zahlreiche junge Aktivist:innen dieser Bewegung sitzen immer noch im Gefängnis, und Petro hat noch nicht auf die Forderungen nach ihrer Freilassung reagiert und bezeichnete die Demonstrant:innen sogar als „Krawallmacher:innen“.

Gleichzeitig verkündet er seinen Wunsch nach „Liebe zwischen allen Kolumbianer:innen“, sowohl den Reichen als auch den Armen. Das kann nichts anderes bedeuten als Klassenkollaboration zwischen den Ausbeuter:innen und Unterdrücker:innen und ihren Opfern. Eine nach dem Friedensabkommen mit der FARC eingesetzte Versöhnungskommission soll einen Bericht vorlegen. Doch wie für ihr Vorbild in Südafrika wird dies wahrscheinlich ein Mittel sein, um die von staatlichen und rechten Banden unter Uribe und früheren Präsidenten begangenen Verbrechen straffrei zu stellen.

Enttäuschung vorprogrammiert

Es ist sicher, dass Petro und Márquez in den kommenden Jahren oder sogar Monaten ihre Anhänger:innen enttäuschen und entfremden werden, wie die übrigen Vertreter:innen der Rosa Welle auf dem ganzen Kontinent. Zum zweiten Mal wird der Linkspopulismus zeigen, dass seine Politik der Klassenkollaboration, die auf der „Vermenschlichung“ des Kapitalismus beruht, einfach nicht funktionieren wird. Im Moment reden die Unternehmer:innen davon, Petro willkommen zu heißen und mit ihm zusammenzuarbeiten, aber in einer Zeit der wachsenden Wirtschaftskrise werden diese Kapitalist:innen, in- und ausländische, alles Positive, das die Regierung versucht, sabotieren. Ebenso wird der IWF die Regierung mit harten Bedingungen für etwaige Rettungspakete in die Schranken weisen. Daraufhin wird Petro ein Zugeständnis nach dem anderen machen und damit seine eigenen Anhänger:innen demoralisieren. Die einzige Antwort für die Arbeiter:innenklasse, Bauern, Bäuerinnen und indigene Bevölkerung in den Städten und auf dem Land ist die Wiederaufnahme der Mobilisierungen, der landesweiten Streiks, mit denen ein Programm radikaler Lösungen für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Krise auf Kosten der Banker:innen, Geschäftsleute und Landbesitzer:innen gefordert wird.

Die Ausschüsse und Volksversammlungen, die die landesweiten Streiks mobilisiert haben, müssen wiederbelebt werden und zu unabhängigen Organisator:innen der Kämpfe geraten, um Petro und Márquez zu zwingen, ihre radikaleren Versprechen zu erfüllen. Sie müssen auch unabhängig sein von Colombia Humana, der Regierung und der Gewerkschaftsbürokratie, die mit ihnen zusammenarbeitet. Diese Unabhängigkeit muss in Form einer revolutionären Arbeiter:innenpartei politisch werden. Die o. a. Basisorganisationen müssen auch in der Lage sein, sich zu verteidigen und gegen die Sabotage der Bosse und die fortgesetzte Unterdrückung durch die Mörder:innenbanden zu wehren. Das bedeutet den Aufbau von Verteidigungsgruppen.

Die Massen haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, es mit den eingeschworenen Organen der Rechten aufzunehmen. Jetzt müssen die Arbeiter:innenklasse und alle anderen Kräfte des Volkes, die bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften, Frauen und Jugend, für einen wirklich revolutionären sozialen Wandel in Kolumbien mobilisieren. Dies wird zwar ein harter und gefährlicher Kampf sein, aber es ist der einzige Weg, der den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen gerecht wird.




USA: Oberster Gerichtshof versetzt Frauenrechten härtesten Schlag seit Generationen

Internationales Sekretariat, Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1191, 28. Juni 2022

Nun haben die reaktionären Kräfte es geschafft. Am 24. Juni wurden die amerikanischen Frauen nach fünfzig Jahren eines begrenzten verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung dieses Rechts beraubt. Unter dem obszönen Slogan „Recht auf Leben“ und der wissenschaftsfeindlichen Behauptung, Abtreibung bedeute die Tötung von Babys, wurde den Frauen die Souveränität über ihren eigenen Körper entzogen. Kein Wunder, dass Frauen in dem Land, das fast einen halben Kontinent umfasst, auf die Straße gingen, um ihrer Wut und Ablehnung Ausdruck zu verleihen.

Mit einer 5:4-Mehrheit hat der Oberste Gerichtshof das von seinen Vorgänger:innen gefällte Urteil Roe versus Wade aus dem Jahr 1973 aufgehoben, das allen Frauen in den USA das Recht einräumte, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Dieses war bereits durch andere Entscheidungen und durch Bundesstaaten mit reaktionären Mehrheiten in ihren Gesetzgebungen und Gerichten eingeschränkt worden, doch nun haben dieselben Kräfte freie Hand.

Sie werden zweifelsohne dazu übergehen, die schwächeren und partiellen Errungenschaften der LGBTIAQ-Menschen und der People of Color in Bezug auf den Grundsatz der persönlichen Autonomie zu beschädigen. Dies ist ein großer Triumph für die religiösen Fanatiker:innen aller Glaubensrichtungen, die die amerikanische Politik bevölkern, trotz einer der ältesten und fortschrittlichsten Errungenschaften der Verfassung, der Trennung von Kirche und Staat.

Die knappe Mehrheit der Fanatiker:innen in dem nicht gewählten Gericht wurde von Donald Trump geschaffen, dem dreistesten sexistischen Präsidenten seit vielen Jahrzehnten, einem Mann, der stolz zugab, dass er Frauen mehrmals sexuell belästigt hatte. Er besaß die Unverfrorenheit zu behaupten, dass „Gott die Entscheidung getroffen hat“ und dafür verantwortlich sei. Dass dieser obszöne Clown nicht wegen offener Aufwiegelung zum Umsturz der Anerkennung seines ordnungsgemäß gewählten Nachfolgers durch den Kongress im Gefängnis sitzt, sagt viel über den Anspruch der USA aus, das weltweite Vorbild für Demokratie darzustellen.

Wenn die fast zwei Drittel der Amerikaner:innen, die sich gegen die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade ausgesprochen haben, es durchgehen lassen, wird das Leben realer, lebender US-Bürgerinnen gefährdet sein. Das Urteil wird nicht das Ende von Abtreibungen bedeuten, sondern nur das Ende legaler und sicherer. Frauen werden in dem Moment sterben, in dem jeder Staat diese ekelhaft falsch benannten „Pro-Leben-Gesetze“ einführt.

Staaten mit republikanischer Mehrheit können nun Gesetze erlassen, die den Schwangerschaftsabbruch weiter einschränken oder ganz verbieten. 13 haben bereits Gesetze im voraus verabschiedet, die ihnen dies praktisch sofort ermöglichen. Einige, darunter Arkansas, Kentucky, Louisiana, Missouri, Oklahoma und South Dakota, haben dies bereits in Kraft gesetzt, und weitere 22 werden ihnen in Kürze folgen. Frauen in diesen Staaten werden versuchen müssen, in Staaten mit liberaleren Regelungen zu gehen, obwohl die reaktionären Staaten Gesetze vorbereiten, die selbst dies schwer bestrafen.

Abtreibungen werden in den meisten Teilen des Südens und des Mittleren Westens illegal sein, wo es für die Ärmsten, oft Women of Color, schwierig sein wird, in einen Staat zu reisen, in dem sie weiterhin legal bleiben. In vielen Staaten werden Gesetze erlassen, die die Frauen selbst kriminalisieren. Mehr als die Hälfte, 58 Prozent, aller US-Frauen im gebärfähigen Alter, etwa 40 Millionen Menschen, leben in diesen Staaten, und ihre Partner:innen und sogar Taxifahrer:innen die ihnen helfen, werden ebenfalls mit hohen Geldstrafen belegt. Der so genannten „Pille danach“ wird die Illegalisierung angekündigt, und sogar die Empfängnisverhütung wird von den Abtreibungsgegner:innen bedroht.

Es liegt auf der Hand, dass diese rechten Kräfte die Frauen in ihren reproduktiven Fähigkeiten einschränken wollen. Sie sind sich bewusst, dass die fehlende Kontrolle darüber durch die Frauen selbst die Grundlage für die Aufrechterhaltung einer patriarchalischen Gesellschaft ist, und dass sie die Uhr auf ihre archaischsten Versionen zurückdrehen. Die Religionen spüren instinktiv, dass das Leiden der Frauen unter diesem System die Zuflucht zu ihrem spirituellen Opium fördert und die Stimmen für die Rechten erhöht.

Aus all diesen Gründen ist das Recht der Frau auf körperliche Autonomie ein Menschenrecht, das historisch mit demselben Prinzip verbunden ist, das auch der Abschaffung der Sklaverei zugrunde lag: der persönlichen Freiheit. Kein Wunder also, dass die Staaten, die sich darauf vorbereiten, Frauen auf diese Weise erneut zu versklaven, oft diejenigen sind, in denen weiße Vorherrschaft und Polizeimorde an Schwarzen immer noch extrem stark ausgeprägt sind.

Aus demselben Grund sollte der Kampf um die Aufhebung dieses Urteils die Unterstützung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten in den USA finden, einer Mehrheit, die sich im Obersten Gerichtshof überhaupt nicht widerspiegelt und im Senat, im Repräsentantenhaus und in den Verfassungen der Bundesstaaten, in denen die Unterdrückung der Wähler:innenschaft grassiert, in keiner Weise anerkannt wird.

Auf internationaler Ebene müssen die Frauen- und Arbeiter:innenbewegung und alle fortschrittlichen Kräfte zur Unterstützung unserer Schwestern in den USA mobilisieren. Die jüngsten Bewegungen in Spanien, Polen, Irland und Argentinien zeigen, was getan werden kann. Überall auf der Welt gibt es die gleichen reaktionären Mächte, die durch die Siege ihrer Gesinnungsfreund:innen in den USA ermutigt werden.

Die Botschaft von Vizepräsidentin Kamala Harris bringt die Antwort der Demokratischen Partei auf den Punkt: „Es ist noch nicht vorbei; die Wähler:innen werden das letzte Wort haben“. Mit Blick auf die Zwischenwahlen, die voraussichtlich die Kontrolle der Republikanischen Partei über den Senat stärken und ihr sogar das Übergewicht im Repräsentantenhaus verleihen werden, lautete ihre Botschaft: „Sie haben die Macht, Führer:innen zu wählen, die Ihre Rechte verteidigen und schützen werden.“

Nein! Die US-Frauen müssen antworten: „Wir haben eine viel größere Macht als das. Wir können dieses erzreaktionäre Urteil kippen und unsere Rechte auf der Straße und am Arbeitsplatz wiederherstellen, indem wir Kliniken und ihre Patient:innen, Pflegepersonal und Ärzt:innen durch direkte Massenaktionen verteidigen.“

Eine Massenbewegung von Frauen und ihren männlichen und transsexuellen Unterstützer:innen gegen das Urteil des Obersten Gerichts vom 24. Juni muss in einem ähnlichen Ausmaß ausbrechen wie die Black Lives Matter-Bewegung im Jahr 2020. Sie sollte sich auf die Forderung nach einer Revolution erstrecken, die alle reaktionären Organe und Gesetze hinwegfegt, die sogar den Anspruch der USA, eine demokratische Republik zu sein, entstellen.

Es ist die amerikanische Arbeiter:innenklasse, die diesen Kampf anführen muss, indem sie Massendemonstrationen mit Massenstreiks unterstützt, insbesondere in den Bundesstaaten, die diese abscheuliche Entscheidung anwenden – Staaten, die oft auch über drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze verfügen.

Es geht dabei um mehr als nur um „Sicherheit in Zahlen“. Es gibt die Kraft, alle Säulen des Hauses der Unfreiheit zu stürzen, das von Republikaner:innen und Demokrat:innen gleichermaßen errichtet wurde, als sie die wirklichen Errungenschaften der amerikanischen Geschichte einschränkten und rückgängig machten: die Abschaffung der Sklaverei, die große Gewerkschaftsbewegung der 1930er Jahre, die Errungenschaften der Bürgerrechte der 1960er Jahre und die Errungenschaften der Frauen und LGBTQI in den 1970er Jahren. Aber nichts wird von Dauer oder sicher sein, bis die Klasse und das System, das diese Monster hervorgebracht hat, der sexistische und rassistische Kapitalismus, endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden.




USA: ein Sieg für die Basisorganisation bei Amazon Staten Island

Dave Stockton, Infomail 1187, 10. Mai 2022

Am 1. April 2022 kam es zu einem der eindrucksvollsten Siege für die US-Arbeiter:innenschaft seit langem. Im riesigen Amazon-Lagerhaus JFK8 auf Staten Island, einem von 5 Bezirken in New York City, stimmten bei einer offiziellen, von der Nationalen Arbeitsbeziehungsbehörde (NLRB) durchgeführten Urabstimmung über die Anerkennung der Gewerkschaft 2.654 Beschäftigte dafür und 2.131 dagegen. Nur einen Monat später erhielten die Feierlichkeiten jedoch einen Dämpfer, als am 2. Mai bekanntgegeben wurde, dass eine ähnliche Abstimmung in einem zweiten Lagerhaus auf Staten Island, dem Sortierzentrum LDJ5, in dem rund 1.500 Beschäftigte arbeiten, mit 618 Nein- und 380 Ja-Stimmen gescheitert war.

Amazon Labor Union

Die Gewerkschaft Amazon Labor Union (ALU), die den Sieg am JFK8 organisiert hat, reagierte mit einem Tweet: „Die Organisierung wird an diesem Standort und darüber hinaus fortgesetzt. Der Kampf hat gerade erst begonnen.“ In der Tat hat die Geschäftsleitung des Konzerns die Entscheidung in der größeren Anlage angefochten. Eine Anhörung wird am 23. Mai in Phoenix (Bundesstaat Arizona) stattfinden.

Wie in den meisten Amazon-Werken gibt es auch in Staten Island eine enorme Fluktuation des Personals – etwa 150 % pro Jahr, zum großen Teil wegen der schrecklichen Bedingungen, der lähmenden Arbeitsnormen, des Mangels an Pausen und der hohen Unfallrate. Dies sind wirklich die „dunklen satanischen Mühlen“ des 21. Jahrhunderts.

Der Sieg bei JFK8 wurde von einer Gewerkschaft, der ALU, errungen, die in der Fabrik selbst entstand, unabhängig von großen Verbänden wie der AFL-CIO oder Change to Win. Die Gewerkschaft erhob sich gegen Jeff Bezos, den zweitreichsten Mann Amerikas mit einem Vermögen von rund 200 Mrd. US-Dollar. Gegen den Amazon-Goliath ist die ALU selbst ein junger David. Sie wurde 2020 von Chris Smalls, einem Amazon-Beschäftigten, der entlassen wurde, weil er Proteste gegen die entsetzlichen COVID-19-Sicherheitsbedingungen des Unternehmens angeführt hatte, und einem Team von JFK8-Beschäftigten gegründet, die, wie in New York nicht anders zu erwarten, aus einer Vielzahl ethnischer Hintergründe stammen.

Diese Menschen, die der so genannten Generation-U (für Gewerkschaft) angehören, führten die Aktion an und nicht die „erfahrenen“ professionellen Gewerkschaftsorganisator:innen. Sie taten es einfach, indem sie mit ihren Arbeitskolleg:innen „gewerkschaftlich sprachen“, Telefon-Banking betrieben und soziale Medien nutzten. Es sollte aber auch erwähnt werden, dass sich Ortsverbände (Zweigstellen) der großen Gewerkschaften um die ALU geschart haben, darunter UNITE HERE Local 100, Communications Workers Local 1102, Food and Commercial Workers (UFCW) Local 342 sowie die Coalition of Black Trade Unionists. Es bleibt zu hoffen, dass der Erfolg der Basisorganisation auch auf die bürokratischeren großen Gewerkschaften übergreift und dazu beiträgt, sie zu demokratisieren und für eine militantere direkte Aktion zu gewinnen.

Wie zu erwarten war, fährt Amazon fort, seine Belegschaft einzuschüchtern und zu schikanieren.

In der Zwischenzeit hat Starbucks Workers United – eine Organisation, die der Service Employees International Union (Internationale Dienstleistungsgewerkschaft SEIU) angeschlossen ist – vor kurzem eine weitere Wahl gewonnen, womit die Gewerkschaft 10 von 11 Wahlen seit ihrem ersten Erfolg in Buffalo (Bundesstaat New York) im Dezember für sich entscheiden konnte. In Buffalo haben die Starbucks-Beschäftigten jedoch erneut gestreikt, um gegen eine Ankündigung des 4 Milliarden US-Dollar schweren Konzernchefs Howard Schultz zu protestieren, wonach versprochene Gehaltserhöhungen und Leistungssteigerungen nicht für Standorte gelten würden, die bereits gewerkschaftlich organisiert sind oder eine gewerkschaftliche Organisierung planen.

Diese Entwicklungen kommen nach der Enttäuschung über eine gescheiterte Urabstimmung im Amazon-Bestellausführungszentrum in Bessemer, Alabama, durch die Retail, Wholesale and Department Store Union (Einzel-, Großhandels- und Lagerhausgewerkschaft), obwohl derzeit eine Nachzählung durch die NLRB stattfindet. Der Erfolg der ALU in Staten Island und der Misserfolg in Bessemer sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in New York bei 27 % liegt, während er in Alabama nur 6 % beträgt.

Die NLRB-Vorschriften sind stark auf die Arbeit„geber“:innen ausgerichtet und erlauben es Unternehmen wie Amazon und Starbucks, ihre Beschäftigten an Seminaren gewerkschaftsfeindlicher Berater:innen teilnehmen zu lassen, während sie Gewerkschaftsorganisator:innen den Zugang zu ihren Werksparkplätzen verwehren und das Wachpersonal Flugblätter von Beschäftigten konfiszieren lassen, die es wagen, sie mitzunehmen. Eine Studie des Economic Policy Institute (wirtschaftspolitisches Institut) aus dem Jahr 2019 ergab außerdem, dass die Unternehmensführungen in mehr als 40 % der Gewerkschaftswahlen die gesetzlichen Rechte der Arbeiter:Innen verletzten und in 20 % der Fälle gewerkschaftsfreundliche Lohnabhängige illegal entließen.

Diktatur des Kapitals

Marx wies in „Das Kapital“ darauf hin, dass im Vergleich zur Sphäre der Warenzirkulation, dem Markt, wo alles auf der Grundlage von Gleichheit, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu funktionieren scheint, sobald die Arbeiter:innen die Sphäre der Produktion, den Arbeitsplatz, betreten, eine regelrechte Diktatur des Kapitals herrscht.

Es ist ein äußerst ermutigendes Zeichen, dass Arbeitsplätze, die sich der gewerkschaftlichen Organisierung entziehen sollen, in denen die Unternehmensleitungen ihre Beschäftigten ausspionieren und „Störenfriede“ in fast totalitärer Weise ausmerzen, beginnen, sich zu organisieren und zu wehren. Ermutigend ist auch das Potenzial des Widerstands von Arbeiter:innen in den größeren Gewerkschaftsverbänden, wie die Streikabstimmung von 56.000 Mitgliedern der SEIU-Ortsgruppe 721 im County Los Angeles. Die Ortsgruppe besteht aus Beschäftigten im Bereich der psychischen Gesundheit, Sozialdienstleistungen und Pflege- bzw. Erziehungspersonal, die zu den am meisten ausgebeuteten Arbeiter:Innen gehören und unter den schrecklichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zu leiden hatten.

Nur kämpferische Gewerkschaften, die in der Belegschaft verwurzelt sind und über eine starke lokale, nationale und internationale Unterstützung verfügen, können den im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern oder Kanada niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad überwinden, der die USA seit den 1980er Jahren kennzeichnet.

Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass fast 50 % der nicht gewerkschaftlich organisierten amerikanischen Arbeiter:innen eine gewerkschaftliche Vertretung wünschen. Dennoch erschweren die Gesetze vieler Bundesstaaten die Anerkennung und den Abschluss eines Gewerkschaftsvertrags enorm. Eine grundlegende Änderung der extrem gewerkschaftsfeindlichen Gesetze des Landes ist unabdingbar, wenn diese Beschäftigten überhaupt eine Chance auf eine gewerkschaftliche Organisierung erhalten sollen.

Es muss eine Charta der Arbeiter:innenrechte ausgearbeitet werden, die eine gewerkschaftliche Vertretung in allen Betrieben, einen Gewerkschaftsvertrag und das Streikrecht umfasst, wenn die Arbeiter:innen dafür stimmen, und alle Gewerkschaften, ob groß oder klein, müssen sich verpflichten, dafür zu kämpfen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Charta muss eine Verpflichtung zur Rassen- und Geschlechtergerechtigkeit bei der Einstellung sein.

Aber nur ein Klassenkampf, der so groß oder noch größer ist als in den 1930er Jahren, kann dies bewirken. Was die Arbeiter:innen, die versuchen, ihre gefängnisähnlichen Arbeitsplätze gewerkschaftlich zu organisieren, brauchen, ist die kämpferische Solidarität anderer Arbeiter:innen und der sie umgebenden Gemeinden, die sich national und international ausbreitet, insbesondere im Falle großer multinationaler Konzerne wie Amazon.

Aber die Arbeiter:innen in jedem Betrieb müssen auch die volle Kontrolle über ihre Organisation und über die Streiks behalten, die sie brauchen, um die Arbeitszeit zu verkürzen, die Löhne zu erhöhen und die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ein/e Arbeiter:in der Stufe 1 in Staten Island, der/die Artikel für den Versand staut, kommissioniert oder verpackt, verdient nur 18 US-Dollar pro Stunde und einen Zuschlag von 2 US-Dollar pro Stunde (!) für die Nachtarbeit von Donnerstag bis Samstag, 18:00 bis 6:45 Uhr morgens. Angesichts des rasanten Anstiegs der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise wird die Notwendigkeit eines Lohnkampfes immer dringlicher.

Es liegt auf der Hand, dass jede Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Organisierung eine Wiederbelebung der Klassenpolitik erfordert. In den großen Gewerkschaftskampagnen und Streiks der 1930er Jahre, als Millionen junger wie schwarzer Arbeiter und Arbeiterinnen in die Gewerkschaften strömten, waren es IWW (Industriearbeiter:innen der Welt), sozialistische, kommunistische und trotzkistische Aktivist:innen, die die Kämpfe anführten. Die Sozialist:innen von heute, angefangen bei den 90.000 Mitgliedern der Demokratischen Sozialist:innen Amerikas, aber auch die kleineren revolutionären Gruppen, sollten sich von der Unterstützung der Kandidat:innen der Demokratischen Partei ab- und sich dem Klassenkampf in den Betrieben und Gemeinden zuwenden. Diese wiederum können zu einem riesigesn Rekrutierungsfeld für eine neue Partei der Arbeiter:innenklasse geraten.

Es scheint, dass selbst Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), die Abgeordnete für den 14. Kongressdistrikt von New York, sich weigerte, ins Lagerhaus auf Staten Island zu kommen, um ihre Unterstützung zu zeigen, und Senator Bernie Sanders kam erst an Bord, als die Schlacht schon gewonnen war. Wie viel weniger kann man von Joe Biden, dem „Freund der Arbeiter:innen“, erwarten? Was kann man von einer Demokratischen Partei erwarten, der Amazon 10 Millionen US-Dollar für Bidens Kampagne im Jahr 2020 gespendet hat?

Wenn Arbeiterkandidat:innen bei Wahlen antreten, sollten sie ihren Wähler:innen auf einer unabhängigen sozialistischen Plattform Rede und Antwort stehen und von ihnen abrufbar sein. Vorzugsweise sollten sie Aktivist:innen mit Erfahrung in Gewerkschaften oder kommunalen Kämpfen sein. Eine Wiederbelebung der organisierten Arbeiter:innenschaft kann dem Aufbau einer echten Arbeiter:innenpartei in Amerika enorm zugutekommen.




USA: der durchgesickerte Gesetzesentwurf und seine Bedeutung für das Recht auf Abtreibung

Marcus Otono, Infomail 1187, 8. Mai 2022

Der kürzlich durchgesickerte „erste Entwurf“ eines Mehrheitsgutachtens des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten (SCOTUS = Supreme Court of the United States), mit dem das Urteil Roe versus Wade, das das Recht auf Abtreibung in den gesamten Vereinigten Staaten legalisierte, aufgehoben wird, hat landesweit zu einer Explosion von Wut und Protesten geführt. Der Gerichtshof wird seine endgültige Entscheidung Ende Juni oder Anfang Juli fällen.

Entwurf

In dem Entwurf des berüchtigten rechten Richters Samuel Alito heißt es, die ursprüngliche Entscheidung Roe vs. Wade (RvW) aus dem Jahr 1973 sei „von Anfang an ungeheuerlich falsch“ gewesen. Sie müsse daher aufgehoben werden, ebenso wie das Urteil Planned Parenthood (geplante Elternschaft) gegen Casey aus dem Jahr 1992, das RvW als geltendes Recht und Präzedenzfall bestätigte.

In den USA ist eine solche Aufhebung durch den Obersten Gerichtshof selten und historisch. Mehr als 50 Jahre lang stützten sich diese Urteile auf das im vierzehnten Verfassungszusatz verankerte Recht auf Schutz der Privatsphäre vor staatlicher Einmischung in persönliche Entscheidungen. Das Kassieren der bestehenden Urteile würde es vielen Bundesstaaten ermöglichen, drakonische Gesetze zu erlassen, die das Recht der Frau auf die Entscheidung über die Fortsetzung der Schwangerschaft aufheben.

Es wird erwartet, dass die Hälfte der US-Bundesstaaten die Abtreibung in den meisten, wenn nicht in allen Fällen verbieten wird, selbst wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. In der anderen Hälfte, selbst wenn sie legal bleibt, wird der Druck auf Kliniken und medizinische Dienstleister:innen durch Patient:innen aus anderen Bundesstaaten immens sein, so dass Wartelisten entstehen, die es den Frauen unmöglich machen würden, rechtzeitig Zugang zu dem Eingriff zu erhalten.

Die Auswirkungen dieses grausamen Vorgehens rechter Politiker:innen und der allzu mächtigen Kräfte religiöser Bigotterie werden arme Frauen und Frauen aus der Arbeiter:innenklasse sowie ihre Partner:innen, Familien und Freund:innen besonders hart treffen. In Verbindung mit dem jüngsten texanischen Gesetz, das es „interessierten Parteien“ erlaubt, Anbieter:innen von Schwangerschaftsabbrüchen zu verklagen und von diesen Klagen finanziell zu profitieren, wird dieser Angriff auch jene gefährden, die Frauen bei der Suche nach einem Schwangerschaftsabbruch helfen, selbst in einem Staat, in dem das Verfahren legal bleibt. In Texas wurde kürzlich eine Frau wegen Mordes angeklagt, weil sie eine Abtreibung an sich selbst vorgenommen hat.

Sogar Fahrer:innen eines Transportunternehmens wie Uber könnten verklagt werden, weil sie jemanden zu einer Abtreibung fahren. Ehemänner könnten verklagt werden, weil sie die Abtreibung finanzieren, wenn ein abtreibungsfeindlicher Staat Klagen gegen sie zulässt, obwohl der Eingriff in Staaten durchgeführt wird, in denen er noch legal ist. Die Unterstützer:innen der so genannten „Recht auf Leben“-Kampagne werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um den Eingriff überall zu verbieten. Sie werden auch versuchen, so genannte Plan-B-Medikamente und Intrauterinspiralen zu verbieten, die ebenfalls eine Abtreibung einleiten. Und alle einzelstaatlichen Gesetze, die dies abmildern oder umgehen wollen, könnten durch eine Berufung an denselben Obersten Gerichtshof aufgehoben werden, der Roe vs. Wade überhaupt erst gekippt hat.

Die durchgesickerte SCOTUS-Entscheidung spiegelt nicht die Ansichten der meisten normalen Amerikaner:innen wider. Die letzte Umfrage des Senders CNN ergab, dass 69 % der US-Bürger:innen gegen eine Aufhebung des RvW sind. Darunter waren sogar 72 % der republikanisch eingestellten Wähler:innen. Aber in unserer großartigen Demokratie werden die Ansichten der Mehrheit – selbst wenn sie sich gegen den Druck der rechten Medien, der Kirchen usw. aufbäumen – systematisch vereitelt.

Bürgerliche „Demokratie“ – nicht für die Mehrheit

Mit manipulierten Gesetzgebungsbezirken, massiver Wählerunterdrückung für Schwarze, People of Color und die Arbeiter:innenklasse und direkter Repression, die laut Oberstem Gerichtshof völlig legal ist, können der rechte Flügel, verkörpert durch die Republikanische Partei und begünstigt durch die Demokrat:innen, eine Mehrheit alter weißer Männer in schwarzen Roben (und eine Alibifrau) die Wünsche von fast 70 % der Bevölkerung überstimmen.

Die Demokratische Partei ist nicht viel besser. In seiner Antwort und Forderung nach einem Bundesgesetz zum landesweiten Schutz der Abtreibungsrechte sah sich Biden gezwungen, zunächst die undichte Stelle zu verurteilen. Die zweite Partei des US-Imperialismus hatte 50 Jahre Zeit, ein solches Gesetz zu verabschieden, hat aber nichts unternommen. Es wäre viel schwieriger, eine Mehrheit von 535 Gesetzgeber:innen dazu zu bringen, ein Abtreibungsgesetz auf Bundesebene aufzuheben, als die Zusammensetzung eines neunköpfigen, nicht gewählten Gremiums von Jurist:innen zu ändern, um das Gleiche zu tun. Dennoch tat sie nichts und zog es vor, den Schwarzen Peter dem Obersten Gerichtshof zuzuschieben, anstatt ihre Wählbarkeit durch den Schutz des Abtreibungsrechts zu riskieren.

Sie reden viel über die Rechte der Frauen, vor allem, wenn sie keine Macht haben, das Ergebnis zu beeinflussen, aber am Ende mehr für die Demokrat:innen stimmen und spenden. Die Reaktion von Senatorin Elizabeth Warren zeigt dies deutlich. „Ich bin wütend, verärgert und entschlossen“, sagte sie auf einer Demonstration vor dem Gericht. Ihre Antwort? „Der Kongress der Vereinigten Staaten kann Roe vs. Wade als Gesetz des Landes beibehalten – er muss es nur tun“. Sie bezog sich damit auf das Gesetz zum Schutz der Gesundheit von Frauen, das im März im Senat scheiterte, weil alle Republikaner:innen und der demokratische Senator Joe Manchin aus West Virginia, ein erbitterter Feind jeder fortschrittlichen sozialen Reform oder demokratischen Maßnahme, die Biden in sein Gesetzgebungsprogramm aufgenommen hatte, dagegen waren.

Selbst die Held:innen der „extremen“ Linken in der US-Politik, Bernie Sanders und Alexandria Ocasio Cortez, gingen nicht über „mehr wählen und spenden“ hinaus, indem sie die Abschaffung der Taktik überzogener Redezeit (Filibuster) und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zum Schutz der Abtreibungsrechte forderten. Das ist als Hilfsmaßnahme natürlich schön und gut, aber angesichts der Zusammensetzung des derzeitigen Kongresses nutzlos. Sie sollten sich eher an Millionen von Menschen auf der Straße wenden, als im Kongress Reden zu halten.

Die Grundlage für das ursprüngliche Urteil wurde aus der im 14. Zusatzartikel der US-Verfassung verankerten „Privatsphäre“ abgeleitet. Alitos Urteilsentwurf und die Zustimmung der Mehrheit zu diesem heben alle Rechte auf, die auf diesem wichtigen Zusatz beruhen. Wenn es nicht ausdrücklich in der Verfassung steht, kann es nicht abgeleitet werden, so die verdrehte Logik der derzeitigen Mehrheit des Obersten Gerichtshofs. Das bedeutet, dass jeder Staat, der ein Gesetz zur Einschränkung oder Regulierung des privaten Verhaltens einer Person erlassen will, dies tun kann. Einige Beispiele für persönlichen Umgang, der eingeschränkt werden könnte – aber dabei muss es nicht bleiben –, sind unter anderem die Homo-Ehe, Trans-Rechte, die Ehe zwischen verschiedenen Ethnien, individuelle Sexualpraktiken, Waffenrechte für Unterdrückte und eine ganze Reihe anderer Verhaltensweisen, die von den Gesetzgebern:innen in verschiedenen rechtsgerichteten Staaten als „abweichend“ angesehen werden könnten.

Der rechte Flügel und seine superreichen Förder:innen werden alles tun, um jeden Fortschritt bei der Förderung der individuellen Rechte umzukehren, um den weißen, männlich dominierten Siedler:innenstaat an der Spitze zu halten. Oberste Schiedsrichterin über diese Gesetze wird jenes Gericht sein, das die Schleusen zur Unterdrückung geöffnet hat.

Was die Mehrheit für „gerecht“ hält, gilt nicht, wenn es um die Ausübung der Staatsgewalt geht. Die Mehrheitsherrschaft war immer ein Mythos, aber einer, der in Zeiten aufrechterhalten werden konnte, in denen die Profitraten des Kapitalismus die Angriffe nicht zu ungeheuerlich machten. Der Schleier, der den Mythos vor einer Überprüfung schützte, wird zerrissen und zerfleddert, so dass die hässliche Wahrheit des Autoritarismus zum Vorschein kommt. Die Aufgabe der revolutionären Sozialist:innen besteht darin, die Schlussfolgerungen für die US-Arbeiter:innen zu ziehen, dass das Ziel einer Arbeiter:innendemokratie und einer sozialistischen Wirtschaft zur Orientierung für Millionen werden muss.

Wie kann man sich wehren?

Obwohl die vom Obersten Gerichtshof geplante Entscheidung seit Monaten angekündigt worden war, hat diese Indiskretion Millionen Menschen schockiert. Die große Herausforderung besteht darin, der Empörung Taten folgen zu lassen. Auf Biden oder die Demokratische Partei mit ihren hauchdünnen Mehrheiten im Kongress zu warten oder sich auf die Zwischenwahlen im November zu konzentrieren, wäre fatal.

Nur die direkte Aktion von Millionen Menschen, die die Regierungs- und Profitmaschinerie zum Stillstand bringen und bereit sind, sich den Gerichten und der Polizei zu stellen, kann die Richter:innen, die Politiker:innen und die Polizei dazu zwingen, sich zurückzuziehen und die Souveränität der Frauen über ihren eigenen Körper (und den von LGBTIAQ-Personen) in jedem Bundesstaat der Union anzuerkennen.

Spontane Demonstrationen haben sich vor dem Obersten Gerichtshof in Washington und in vielen anderen Städten versammelt, aber es werden große Mobilisierungen nötig sein, so schnell wie möglich, die nicht nur die Frauenbewegung einbeziehen, die wir unter Trump erlebt haben, sondern alle fortschrittlichen Kräfte, die durch diese Entscheidung bedroht sind.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklasse in den Gewerkschaften mobilisiert werden muss, von denen fast die Hälfte Frauen sind, und dass die nicht organisierten Betriebe erreicht werden müssen, um Aktionen durchzuführen, die die Wirtschaft treffen. Rollierende Streiks, Sit-ins am Arbeitsplatz, informative Streikposten und mehr sollten in Betracht gezogen werden, bis ein Bundesgesetz verabschiedet wird, das das Recht der Frau schützt, selbst zu entscheiden, was sie mit ihrem Körper macht. Wenn möglich, sollten die Aktionen auf lokaler, einzelstaatlicher, regionaler und nationaler Ebene koordiniert werden, um eine maximale Wirkung zu erzielen.

Langfristig brauchen wir eine politische Partei, die den Bossen die Stirn bietet, nicht nur in den Parlamenten, sondern auch auf den Straßen, an den Arbeitsplätzen und in den Gemeinden im ganzen Land. Wir brauchen eine politische Partei der Arbeiter:innen und der Unterdrückten, und das ist definitiv nicht die Demokratische Partei. Sie hatte ihre Chance, und in ihrer sklavischen Ergebenheit gegenüber dem Kapitalismus, dem Staat und dem System der Bosse hat sie bewiesen, dass sie in einem echten Kampf um unser Leben wertlos ist.

Kurz- und mittelfristig müssen Sozialist:innen an vorderster Front jeder Bewegung stehen, die eine „Untergrundbahn“ der Unterstützung aufbaut, um Abtreibungswillige dorthin zu bringen, wo sie die medizinische Versorgung erhalten können, die sie brauchen, sei es in einem anderen Staat oder einem anderen Land.

Wir müssen uns auch an vorderster Front an militanten Demonstrationen beteiligen, die im ganzen Land kontinuierlich stattfinden. Das kann keine einmalige Angelegenheit sein. Das Land „unregierbar“ zu machen, bedeutet nicht die liberale Idee, zu einer Demonstration zu gehen und dann zu einem Champagner-Brunch. Es bedeutet tägliche, wöchentliche, monatliche Demos und Sit-Ins, Arbeitsunterbrechungen und Besetzungen, die den Alltagstrott stören. Es bedeutet, immer wieder Festnahmen und Schlimmeres zu riskieren. Es bedeutet, ein Schwurgerichtsverfahren zu fordern, um das Gerichtssystem zu stören und Arbeiter:innentribunale zu fordern, damit die schlimmsten Straftäter:innen gegen Frauen und die Bevölkerung verurteilt werden.

Die Democratic Socialists of America (DSA), die größte selbsternannte „sozialistische“ Gruppierung in den USA, sollte bei all diesen Aktionen eine führende Rolle übernehmen und nicht nur den Lockvogel für die Demokratische Partei bei Wahlen und der Mittelbeschaffung spielen.

Gewerkschaften und DSA-Ortsverbände sollten Aktionen koordinieren, um unorganisierte Arbeiter:innen in den Kampf einzubeziehen. Das letztendliche Ziel sollte ein unbefristeter Generalstreik sein, bis die Tyrannei der Minderheit in dieser Frage überwunden und gestürzt ist. Dies würde den Weg zu einer echten, d. h. einer „Arbeiter:innendemokratie“ in den Vereinigten Staaten weisen.

All diese Maßnahmen und mehr werden in diesem Kampf erforderlich sein. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um zu denken, dass dieses Urteil nicht für einen selbst gilt. Die Auswirkungen von Alitos Urteilsentwurf werden letztendlich für alle gelten, auf die eine oder andere Weise. Der Staat und die politische Klasse sind gegen uns, und wir müssen uns geschlossen gegen sie stellen.

Wir müssen eine internationale Bewegung gegen den Kapitalismus und für die Bildung einer neuen Fünften Internationale verkörpern. Schließt Euch uns in diesem Kampf an!




Kanada: „Freiheitskonvois“ als rechtsradikales Straßentheater

Andy Yorke, Infomail 1182, 16. März 2022

Die „Antiimpfbewegung“ nahm Anfang des Jahres mit dem Start des „Freiheitskonvois“ in Kanada eine neue Wendung, ausgelöst durch eine neue gesetzliche Verpflichtung, die ungeimpfte Frächter:innen (weniger als 15 Prozent) ab dem 15. Januar für zwei Wochen in Quarantäne stellte.

Die liberale Regierung von Justin Trudeau sah sich zum Handeln gezwungen, da in den ersten 40 Tagen von Omikron mehr Fälle auftraten als im gesamten Jahr 2020, eine Rekordzahl von Krankenhausaufenthalten zu verzeichnen war und die Zahl der Todesfälle stark anstieg.

Weniger als eine Woche später machte sich ein „Freiheitskonvoi“ von Antiimpf-Trucker:innen von Vancouver an der Westküste Kanadas aus auf den Weg in die Hauptstadt Ottawa, um das Parlament zu blockieren, bis das Gesetz aufgehoben war. Als der Konvoi nach Osten fuhr, kamen Unterstützung und Geld herein, mit 5,5 Millionen Dollar an Solispenden. Die Bewegung entwickelte sich zu einem Protest gegen alle Beschränkungen wegen Covid oder, für einige, zum Sturz der Regierung Trudeau.

Bis zu 3.000 Schwerlaster und andere Fahrzeuge sowie 15.000 Demonstrant:innen legten Ottawa ab dem 28. Januar lahm, bevor sich Hunderte von Lastwagen und ihre Anhänger:innen niederließen, um das Parlament für die nächsten drei Wochen zu umzingeln.

Die Bewegung blockierte auch mehrere Grenzübergänge, wobei sich zu den Lastwagenfahrer:innen ebenfalls die Traktoren, Kleinlastwagen und Autos der UnterstützerInnen gesellten. Sechs Tage lang war die Ambassadorbrücke zwischen Kanada und Detroit (USA) blockiert, über die ein Viertel des gesamten Güterverkehrs zwischen den beiden Ländern im Wert von bis zu 400 Millionen Dollar pro Tag abgewickelt wird.

Unter dem massiven Druck der Wirtschaft berief sich Trudeau am 14. Februar auf das Notstandsgesetz, das es der Polizei erlaubt, Protestler:innen zu verhaften, Geld- und Haftstrafen zu verhängen, LKW-Fahrerlizenzen auszusetzen und Fahrzeuge zu beschlagnahmen sowie Bankkonten von Einzelpersonen und Einlagen aus Finanzierungskampagnen einzufrieren. Am 18. Februar fand in Ottawa eine groß angelegte Polizeiaktion statt, bei der mindestens 191 Personen verhaftet und zahlreiche Fahrzeuge abgeschleppt und beschlagnahmt wurden.

Sozialist:innen sollten repressive Gesetze oder deren Anwendung durch den kapitalistischen Staat nicht unterstützen, da diese immer mit zehnmal mehr Gewalt gegen die Linke eingesetzt werden. Aber in Wirklichkeit ermutigte das sanfte Vorgehen der örtlichen Polizei gegen die Trucker:innen, wobei einige Polizist:innen offen mit ihrer Sache sympathisierten, den Protest, während die Regierung wochenlang nichts unternahm.

Und das, obwohl Umfragen zeigten, dass eine solide Mehrheit der Kanadier:innen gegen die Proteste war, auch wenn viele angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen und schlechten Bezahlung der meisten Fahrer:innen anfangs mit einigen ihrer Ziele sympathisierten.

Am 13. Februar gingen die Einwohner:innen von Ottawa gegen die Schließung ihrer Stadt und ihrer Lebensgrundlage vor und schüchterten Gruppen von Blockierer:innen ein. Bis zu 1.000 Anwohner:innen umzingelten stundenlang einen Konvoi, der in Richtung Parliament Hill unterwegs war, bevor sie die Autos und Kleintransporter in die Flucht schlugen, denen sie ihre Flaggen und Aufkleber des Freiheitskonvois abnahmen.

Ein Aktivist der Gemeindesolidarität Ottawa (CSO), der auch lokale Gewerkschaften angehören, erklärte: „Wir sind ernsthaft besorgt darüber, wie die Regierungen mit der Pandemie umgegangen sind, aber wir lehnen es ab, wie die extreme Rechte diese Unzufriedenheit mobilisiert. Wir bauen eine Bewegung der Arbeiter:innenklasse auf, die unsere Gemeinschaften und unsere Rechte verteidigen kann.“

Zweifellos war die Bedrohung durch eine Arbeiter:innenbewegung, die sich der extremen Rechten entgegenstellt und arbeiter:innenfreundliche Maßnahmen gegen Covid-19 fordert, mitverantwortlich für Trudeaus Entscheidung, endlich zu handeln.

Jetzt machen sich Freiheitskonvois in anderen Ländern auf den Weg, da die in den „sozialen Medien“ vernetzte Antiimpfbewegung diese Taktik in Frankreich, Neuseeland und nun auch in den USA kopiert hat. Ein Konvoi verlässt Kalifornien, um Washington DC rechtzeitig zu Bidens Rede zur Lage der Nation am 1. März zu erreichen. Aktivist:innen sollten dem Beispiel der CSO und der Gegendemonstrant:innen in Ottawa folgen.

Kleinbürgerliche Reaktion

Zu dem Konvoi gehörten einige Lastwagen mit Konföderierten- oder sogar Naziflaggen (die Protestierenden behaupteten, letztere seien gegen die Regierung gerichtet). Die kanadische antirassistische Gruppe AntiHate hat dokumentiert, dass die Rechtsextremen den Kern des Konvois bilden, nicht seine Ränder. James Bauder, der Gründer von Canada Unity, dem Dachverband rechtsextremer Organisationen, der den Konvoi ins Leben gerufen hat, unterstützt die QAnon-Verschwörungstheorie und behauptet, Covid-19 sei „der größte Betrug der Geschichte“.

Sprecher Benjamin J. Dichter kandidierte für die Konservative Partei gegen die „zunehmende Islamisierung Kanadas“. Bei der Blockade des Grenzübergangs nach Montana (USA), Coutts in Alberta, nahm die Polizei 13 Personen im Zusammenhang mit einem großen Waffenlager mit dem faschistischen „Diagonalsymbol“ fest. Es überrascht nicht, dass Donald Trump, Tucker Carlson von Fox News und viele Politiker:innen der republikanischen Partei in den USA den Konvoi unterstützt haben. Die rechten Unterstützer:innen aus der Mittelschicht sind ihre Zielwähler:innen.

Die „Freiheitskonvois“ gehören weder zur Arbeiter:innenklasse noch sind sie fortschrittlich. Bei den großen Lastwagen handelt es sich meist um Eigentümer:innen und Kleinunternehmer:innen, während die Traktoren Landwirt:innen repräsentieren. Einige Arbeiter:innen mögen zwar in den Kleintransportern, Geländewagen und anderen Fahrzeugen gekommen sein, aber als Einzelpersonen, die für eine rechtsextreme Kampagne mobilisiert wurden. Zwar sollte niemand entlassen werden, weil er nicht geimpft ist, doch ist es reaktionär, mitten in einer weltweiten Pandemie die Covid-Kontrollen abschaffen zu wollen.

Populistische Bewegungen, ob links oder rechts, werden immer legitime Themen aufwerfen (wie die Entlassung von Ungeimpften), die einige Arbeiter:innen anziehen. Anstatt sich auf diese Bewegungen zu konzentrieren, sollten die Sozialist:innen darauf drängen, dass die Gewerkschaftsbewegung, die in der Pandemie zu passiv war, wenn es um proletarische Klassenfragen ging, aktiv wird.

Das wird sich als wesentlich erweisen, wenn wir von einer Pandemie zu einer Spar- und Lebenshaltungskostenkrise übergehen, was der Linken die Möglichkeit gibt, der extremen Rechten die Initiative zu entreißen und die Arbeiter:innenklasse in einem Kampf zur Verteidigung unseres Lebensstandards zu vereinen.




USA: Trotz der Pandemie – die ArbeiterInnenklasse erwacht

Marcus Otono, Infomail 1176, 20. Januar 2022

In der US-amerikanischen ArbeiterInnenklasse geschieht etwas trotz des massiven Anstiegs der Infektionen mit der Omikron-Welle. Sie erwacht zur Militanz. Und obwohl es stimmt, dass sich diese neu gefundene Zielstrebigkeit seit dem großen Aufstand in Wisconsin 2011 und den Occupy-Wall-Street- und Black-Lives-Matter-Protesten in den darauffolgenden Jahren entwickelt hat, hat es ein Jahrzehnt gedauert, bis sie die organisierte ArbeiterInnenklasse auf breiter Basis erreicht hat.

Auch wenn die Gewerkschaften im letzten Jahr immer mehr Aktionen am Arbeitsplatz durchgeführt haben, folgen sie doch dem Massenexodus von ArbeiterInnen, die ihre schlechten Jobs in Scharen kündigen. Im August kündigten 4,3 Millionen Lohnabhängige ihren Arbeitsplatz, was einen Rekord für diese Art von Einzelmaßnahmen darstellt und als „Große Kündigung“ bezeichnet wird. Angesichts des geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrads in den USA ist diese Art des individuellen „Streiks“ der ArbeiterInnenschaft letztlich das Ergebnis von vier Jahrzehnten stagnierender oder sinkender Reallöhne und schwindender Sozialleistungen. Jetzt wird er durch steigende Preise für die meisten Güter, die die ArbeiterInnen tatsächlich zum Überleben brauchen, wie Miete, Hypothekenzahlungen, Lebensmittel und Versorgungsgüterpreise angeheizt.

Für viele gab es keine andere Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit zu zeigen, als ihren miesen Job zu schmeißen und zu versuchen, etwas anderes zu finden, das zumindest geringfügig besser ist. Die meisten scheinen eine Art von Selbständigkeit anzustreben, da sie der Meinung sind, dass sie besser dran sind, wenn sie sich als ihr/e eigene/r ChefIn durchschlagen, als wenn sie sich abmühen, um den Gewinn eines/r anderen zu steigern.

Der Fluch der „Unternehmensgewerkschaft“ wird von den Gewerkschaftsführungen mindestens seit den Tagen von Ronald Reagan propagiert. Dieser US-Präsident brach dem gewerkschaftlichen Widerstand das Genick, als er zu Beginn seiner Amtszeit den Streik der FluglotsInnengewerkschaft PATCO niederschlug und anschließend „Gewerkschaft“ in ein Schimpfwort verwandelte. Nachdem die ArbeiterInnenschaft jahrzehntelang niedergehalten wurde, sollte es niemanden überraschen, dass es so lange gedauert hat, bis die Basis begriffen hat, was Kapitalismus für die ArbeiterInnen tatsächlich bedeutet.

Streikoktober und Erntedankstreik führen zu Streikweihnachten

Jahrzehntelang wurden den Gewerkschaftsmitgliedern Verträge von räuberischen KapitalistInnen aufgezwungen, die mit einer Gewerkschaftsbürokratie unter einer Decke stecken, die schwört, dass die einzige Möglichkeit für die Beschäftigten, ihre Arbeitsplätze zu behalten, darin besteht, hart erkämpfte Verbesserungen bei Löhnen und vor allem bei Sozialleistungen zurückzugeben. Durch die Androhung und die tatsächliche Verlagerung von Arbeitsplätzen an Orte mit noch schlechteren Bedingungen und billigeren Arbeitskosten wurden die Belegschaften dazu verleitet, viel mehr aufzugeben, als sie in jahrzehntelangen Verhandlungen erreicht hatten. Es waren immer die ArbeiterInnen, denen gesagt wurde, dass sie diejenigen sind, die für das Wohl des Unternehmens Opfer bringen müssen. GeschäftsführerInnen, Vorstände, Hedgefonds-BanditInnen und Wall-Street-ProfiteurInnen fühlen sich frei, alle Produktionsgewinne zu erbeuten und zu plündern, die durch die Zugeständnisse erzielt wurden, während die Lohnabhängigen leiden.

In jedem Vertrag und insbesondere in denen, die seit der großen Rezession 2008/09 ausgehandelt wurden, wurde den Beschäftigten versprochen, dass diese Zugeständnisse nur vorübergehend sein und nur so lange gelten würden, bis das Unternehmen wieder profitabel ist und ihre Opfer in vollem Umfang zurückzahlen würde. Aber die Gier eines Systems, das nur auf die nächste vierteljährliche Gewinnbilanz schaut, sowie die allgemeine Instabilität des Kapitalismus selbst lassen diese Rückzahlung nicht zu. Man kann die Menschen nur so lange mit Irreführung und Illusionen täuschen, bis sie die Versprechen als glatte Lügen erkennen. Nach der Pandemie scheinen wir an diesem Punkt angelangt zu sein, an dem die Illusionen für einen großen Teil der ArbeiterInnenklasse diskreditiert sind.

Sogar der behäbige und konservative Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO hat sich, zumindest vorübergehend, von der Militanz einer ganzen Reihe von ArbeiterInnen anstecken lassen. Mehr als 100.000 gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte haben zu Streiks aufgerufen, von denen die meisten auch tatsächlich stattfanden, und diesen Aufschwung als „Streikoktober“ und „Streikerntedank“ bezeichnet. Ein paar der Kampfmaßnahmen seien hier genannt:

Von Portland (Oregon) bis Buffalo (New York) streiken Tausende von Krankenschwestern und -pflegern gegen die „gewinnorientierte“ Gesundheitsindustrie, die von ihnen verlangt, unter körperlicher und psychischer Gefährdung und bei Burnout zu arbeiten, um die von COVID-19 betroffenen AmerikanerInnen zu pflegen. Zweistufige Verträge sind ebenfalls ein Faktor bei diesem Streik.

In Brookwood (Alabama) streiken tausend Mitglieder der United Mine Workers (Vereinigte BergarbeiterInnen) seit April 2021 gegen weitere vom Unternehmen geforderte Einbußen. Dabei handelt es sich um die Beschäftigten, die bereits Zugeständnisse gemacht hatten, um das Unternehmen 2016 vor dem Konkurs zu „retten“. Die Firma Warrior Met Coal ist zwar wieder rentabel, aber nur die GeschäftsführerInnen und das obere Management haben mit Gehaltserhöhungen davon profitiert. Und sie verlangen immer noch weitere Einschränkungen von der Belegschaft.

Die Werke des Landmaschinenherstellers John Deere wurden geschlossen, weil Tausende von United Auto Workers-(UAW)-Gewerkschaftsmitgliedern die Arbeit niedergelegt haben, um gegen ein Unternehmen zu protestieren, das in diesem Jahr bisher über 6 Milliarden US-Dollar Gewinn gemacht hat und von seinen Beschäftigten immer noch Zugeständnisse verlangt, einschließlich „zweistufiger“ Vertragsbestimmungen, die Neueingestellte benachteiligen. Obwohl der Streik inzwischen beigelegt ist, wurde mindestens ein Angebot des Unternehmens von den Mitgliedern abgelehnt.

Die Beschäftigten des Lebensmittelkonzerns Kellogg’s traten in den Streik, nachdem sie während der Pandemie Tausende von Überstunden geleistet hatten, um die AmerikanerInnen, die während der letzten 18 Monate der Isolation zu Hause festsaßen, mit Lebensmitteln zu versorgen. Der Cornflakesriese versuchte außerdem, den Beschäftigten einen „zweistufigen“ Vertrag aufzuzwingen, der zu einem massiven Einkommensgefälle zwischen neu eingestellten und altgedienten Beschäftigten führen wird – ein weiterer Streik, der mit einem zweifelhaften Ergebnis beigelegt wurde.

Nicht mitgezählt sind dabei Streiks, die zuvor zum Abschluss kamen, wie bei der Zimmerleute-Gewerkschaft Pacific Northwest Carpenters Union (NWCU) und bei den Nahrungsmittelherstellern Nabisco und Frito Lay. Auch die Streikgenehmigungen, die dazu geführt haben, dass die Bosse eingeknickt sind, wie die der IATSE (The International Alliance of Theatrical Stage Employees) für die Beschäftigten in der Film- und Fernsehindustrie, sind nicht berücksichtigt.

Dies ist nur eine repräsentative Auswahl der derzeit stattfindenden Arbeitskampfmaßnahmen. Laut Statistik zur Erfassung von Arbeitsniederlegungen an der Cornell University gab es im Oktober und November des vergangenen Jahres 103 Streiks und insgesamt 332 seit dem 1. Januar 2021. Viele wurden beigelegt, viele aber auch nicht. Es ist klar, dass die ChefInnen in absehbarer Zukunft die Bedürfnisse ihrer ArbeiterInnen berücksichtigen müssen, anstatt sie einfach als gegeben hinzunehmen.

Mit der Führung, wo möglich, ohne sie, wenn nötig

In Anlehnung an die LehrerInnenstreiks im Jahr 2018, die über soziale Medien von den Mitgliedern organisiert wurden, die ihre Führung ignorierten, als diese versuchte, sie vom Streik abzuhalten, wurden die meisten dieser Streiks von den Mitgliedern und nicht von oben angeordnet. So wurden beispielsweise die meisten der anfänglich zwischen den VerhandlungsführerInnen der Gewerkschaften und den FirmenbesitzerInnen erzielten vorläufigen Vereinbarungen von den Mitgliedern in einer Ratifizierungsabstimmung abgelehnt. Obwohl die Zahlen schwer zu berechnen sind, kommt es in der Regel nicht zu Streiks, ohne dass mindestens eine ausgehandelte Vereinbarung abgelehnt wird. Wir wissen, dass die ArbeiterInnen von Deere, die Zimmerleute im Nordwesten, die Bergleute, die Beschäftigen bei Kellogg’s und einige andere die Versuche ihrer FührerInnen, ihre Streiks zu entschärfen, zurückgewiesen haben, indem sie die von diesen ausgehandelten Abmachungen und dann auch Vergleichsangebote ablehnten, nachdem sie in Streikpostenkette angetreten waren. Dies scheint ein weit verbreitetes Phänomen zu sein, bei dem die Mitglieder in Bezug auf Militanz und Forderungen nach Aktionen schneller sind als ihre Führung.

Neben den in der jüngsten Vergangenheit zugestandenen Löhnen und Leistungen ist ein Hauptstreitpunkt bei vielen Verhandlungen die Forderung der Arbeit„geber“Innen nach einem „zweistufigen“ Vertrag für neu eingestellte im Vergleich zu altgedienten Arbeitskräften. Dies war ein wichtiges Thema bei vielen der aktuellen Streiks, einschließlich des UAW-Streiks gegen John Deere, des Streiks bei Kellogg’s und des Pflegepersonals gegen Kaiser Permanente, ein Pflegemanagement-Konsortium.

Zweistufige Pläne verstoßen gegen einen zentralen Grundsatz der Gewerkschaftsbewegung: „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Obwohl dies jahrelang für einige Leistungen wie Urlaubsdauer erlaubt war, ist es ein Verrat an der Idee einer demokratischen Gewerkschaft, neue MitarbeiterInnen zu zwingen, weniger Geld zu verdienen und weniger oder gar keine Renten- und/oder Krankenversicherungsleistungen zu erhalten. Es handelt sich auch um einen indirekten Angriff auf die Idee des Gewerkschaftswesens selbst. Denn warum sollte ein/e neue/r Mitarbeiter/in einer Gewerkschaft beitreten, die nicht für seine/ihre Gleichstellung am Arbeitsplatz kämpft?

Für das Unternehmen läuft natürlich alles auf den Gewinn hinaus. Je weniger es seinen ArbeiterInnen an Löhnen und Sozialleistungen zahlen kann, desto mehr Gewinn erzielt es. Für die Bosse ist das eine einfache Sache. Sie können noch so viel Getöse um ihre Beschäftigten machen, aber der/die „Held/in“ der Pandemie im Jahr 2020 wird schnell zum „Gewerkschaftsrowdy“ im Jahr 2021. Trotz des Geschreis, das die Demokratische Partei verbreitet, ist der Klassenkampf in der Tat ein Nullsummenspiel. Wenn sich sonst nichts ändert, gewinnen die ArbeiterInnen, verlieren die Bosse und umgekehrt. Die UnternehmenseigentümerInnen verstehen das sehr gut, weshalb sie, wenn sie gezwungen sind, bessere Löhne zu zahlen, versuchen, ihre Gewinne durch Produktivitätssteigerungen oder den Abbau von Sozialleistungen wieder hereinzuholen. Allzu oft unterstützen die GewerkschaftsbürokratInnen einen solchen „Kompromiss“, aber die Lohnabhängigen sollten ihn als das erkennen, was er ist.

Gegenwärtig scheint es, dass sogar die Gewerkschaftsbürokratie beschlossen hat, dem jüngsten Aufschwung der Militanz aus dem Weg zu gehen, aber niemand sollte erwarten, dass dies von Dauer ist. Die Gewerkschaftsbürokratie hat im kapitalistischen System nur ein Ziel, nämlich die Wut der Belegschaften in einen Vertrag zu lenken, der für das Unternehmen so vorteilhaft ist, wie es die aktuellen Bedingungen erlauben. Als Beweis dafür sei daran erinnert, dass selbst die Verträge, die angenommen wurden, entweder nicht oder nur knapp mit der aktuellen Inflationsrate Schritt gehalten haben, die im letzten Monat des Jahres 2021 auf 7 Prozent gestiegen ist.

Auch die Abschaffung der von den Bossen geforderten Zwei-Klassen-Pläne wurde nicht dauerhaft durchgesetzt. In einigen Fällen wurden diese undemokratischen Forderungen der Konzerne vorübergehend ausgesetzt, aber keineswegs  aus künftigen potenziellen Verträgen ausgeschlossen. Die einzige Möglichkeit, diesen unvermeidlichen Verrat zu vermeiden, besteht darin, die Bürokratie wie ein Falke zu beobachten, jeden angebotenen Vertrag sorgfältig zu prüfen und unabhängige ArbeitInnenausschüsse einzurichten, die den Streik, die Vertragsverhandlungen und die Ratifizierungsabstimmung überwachen. Wenn die Geschäftsführung schreit: „Wir stehen vor dem Bankrott“, dann müssen die ArbeiterInnen Einsicht in die Bilanzen verlangen. Wenn die Unternehmen sich wirklich in einer schwierigen finanziellen Lage befinden, sollte es kein Problem sein, dies zu beweisen.

Demokratisierung der Gewerkschaften

In Verbindung mit dieser verstärkten Militanz gibt es einen ständigen Drang zur „Demokratisierung“ der bestehenden Gewerkschaften mit Basisgruppen, die die Belange der wirklichen ArbeiterInnen stärker zum Ausdruck bringen. Dies ist nicht unbedingt eine neue Entwicklung, auch wenn es in einigen Gewerkschaften so sein mag. In vielen Fällen gibt es bereits seit langem laufende Kampagnen, so z. B. bei den Teamsters for a Democratic Union (TDU), die vor kurzem die Mitgliederkontrolle errungen haben, und bei der UAW die Unite All Workers for Democracy (UAWD) (Vereinigung aller ArbeiterInnen für Demokratie). Der Caucus of Rank-and-file Educators (CORE),  die Basisvereinigung im ErzieherInnenwesen, agierte als treibende Kraft bei den LehrerInnenstreiks im Jahr 2018.

Solche Initiativen sollten unterstützt werden, da sie eine wertvolle Kontrolle über die etablierten, überbezahlten hauptamtlichen FunktionärInnen darstellen, die die meisten großen Gewerkschaften von heute leiten, aber sie können nicht die einzige Lösung sein. Selbst „demokratisierte“ Grundeinheiten laufen Gefahr, von OpportunistInnen übernommen und von der Machtstruktur kooptiert zu werden. Deshalb muss jede/r, der/die in einem demokratischen Gremium wie einer Gewerkschaft  in leitende Positionen kommt, sorgfältig überwacht und von den Mitgliedern zur Rechenschaft gezogen werden.

Es stellt sich auch die Frage nach der Ausrichtung des Basisgremiums (Caucus). Wurde es gebildet, um die derzeitige Führungsstruktur zu ersetzen wegen Ideen, Strategien und Taktiken und/oder Korruption? Oder ist er dazu da, eine völlig andere Sicht auf den Zweck der Gewerkschaft zu vermitteln? Die Ersetzung einer kollaborierenden Klassenführung durch eine anfänglich „demokratischere“ Version derselben Strategie wird früher oder später zu denselben Verträgen mit Zugeständnissen an die Bosse führen, die die alte Führung unterstützt hat. Nur demokratische Ortsgruppen, die die Realität des tatsächlichen Klassenkampfes verstehen, werden in der Lage sein, die Attacken des Kapitalismus in seinem Spätstadium zu bekämpfen.

Von allen Fraktionen, die diese Strategie zur Demokratisierung der Gewerkschaften verfolgt haben, ist die von Peter J. McGuire in der Zimmerergewerkschaft vielleicht diejenige, die bei der jüngsten Streikwelle am erfolgreichsten war. Dieses Basiskomitee organisierte nicht nur den Streik gegen den Willen der Gewerkschaftsführung, sondern bekämpfte diese auch, als sie versuchte, die Strategie und Taktik des Streiks zu kontrollieren, das „Wann, Wo und an welcher Baustelle“ Streiks und Postenketten aufgestellt werden sollten . Sie organisierten den Widerstand gegen den immensen Druck der Führung, noch mehr konzessionäre Vertragsangebote zu akzeptieren, und beeinflussten die Mitglieder, nicht weniger als vier Angebote abzulehnen, bevor der Streik schließlich beigelegt wurde. Kurz gesagt, die McGuire-Fraktion verstand, dass es mit der „Demokratisierung“ der Gewerkschaft allein nicht getan ist. Organisierte ArbeiterInnen in jeder Gewerkschaft müssen alle Aspekte von Arbeitskampfmaßnahmen selbstbewusst kontrollieren und den Kampf an allen Fronten führen, auch innerhalb der Gewerkschaft und notfalls gegen die Führung.

Sie haben sich auch an die Spitze des Kampfes gegen die Trennung der Gewerkschaften voneinander und von der Klasse im Allgemeinen gestellt. Mit anderen Worten, sie haben Verbündete im Kampf willkommen geheißen, darunter das Mitglied des Stadtrats von Seattle und der Sozialistischen Alternative (SALT), Kshama Sawant, und gegen die Hetze gegen „Rote“ der Gewerkschaftsführung gekämpft, die versucht hat, ihre Stimme zum Schweigen zu bringen.

Verbündete

In den letzten zehn Jahren haben die Gewerkschaften auf lokaler Ebene die Notwendigkeit erkannt, nicht organisierte ArbeiterInnen, unterdrückte Gemeinschaften und sympathisierende externe Gruppen wie die Demokratischen SozialistInnen (DSA) zu erreichen, um Verbündete und UnterstützerInnen zu gewinnen, wenn sie streiken müssen. Es scheint, dass diese Zeit jetzt gekommen ist. Zu dieser Kontaktaufnahme gehört auch eine Lockerung der – oft unausgesprochenen – Beschränkungen der Zusammenarbeit mit „KommunistInnen und SozialistInnen“ in Fragen des Klassenkampfes und der Gewerkschaftspolitik.

Obwohl dieser Einsatz schon seit einiger Zeit andauert, ist er immer noch eher im Bereich der „Öffentlichkeitsarbeit“ angesiedelt als in dem der Aktion. Von einigen Ausnahmen abgesehen, geht die Unterstützung für die Eindämmung von KillerInnen in Polizeiuniform nicht so weit, dass man streikt, bis sie gestoppt werden, sondern beschränkt sich auf die Teilnahme an Demonstrationen und die Abgabe von Unterstützungserklärungen für ermordete Opfer. Natürlich ist das alles besser als gar nichts, aber wie die LehrerInnenstreiks 2018 gezeigt haben, kann man selbst im feindlichsten politischen Klima mit Streiks tatsächlich Forderungen durchsetzen.

Angesichts der gesetzlichen Beschränkungen für Streiks und gewerkschaftliche Aktivitäten und, ja, der Angst der Gewerkschaftsführungen davor, obliegt es den Verbündeten, in Abstimmung mit den Gewerkschaftsmitgliedern, auf weitere Schritte zu drängen, wenn diese notwendig sind, um Streiks erfolgreich zu machen. Es ist schön und gut, die GewerkschaftsführerInnen zu unterstützen, wenn sie einen Streik gegen die Bosse führen, aber ein/e gute/r Verbündete/r muss auch Fehler und Irreführung anprangern, wenn Streiks im Gange sind. Die DSA sollte in einer guten Position sein, um die Forderungen der Gewerkschaften mit sekundären Streikposten und Demonstrationen voranzutreiben, die weiter gehen, als die Gewerkschaften in der Lage oder willens sind zu gehen. Aber dafür müssen DSA wie auch Gewerkschaften von ihrer vollständigen Konzentration auf Wahlpolitik und lokale „gegenseitige Hilfe“ wegkommen. In Zeiten des verschärften Klassenkampfes, der durch einen Streik verkörpert wird, wird es nicht ausreichen, für die DemokratInnen zu stimmen. Und natürlich müssen wir uns im Falle eines von der Führung durchgesetzten, aber von den Mitgliedern abgelehnten Zugeständnisses immer auf die Seite der Mitglieder stellen.

Mit anderen Worten: Ein/e gute/r Verbündete/r muss immer bereit sein, die Wahrheit so zu sagen, wie er/sie sie sieht, ungeachtet des Drucks, sich um jeden Preis „zu einigen“. Dieser Druck ist real, vor allem dort, wo das gewerkschaftliche Bewusstsein den Kampf auf den „besten verfügbaren Deal“ beschränkt, anstatt die Frage zu stellen, wer wirklich die Macht am Arbeitsplatz hat, die ArbeiterInnen oder die EigentümerInnen. Ironischer Weise – oder vielleicht auch nicht so ironisch – ist der schnellste Weg zum „besten Angebot“ immer der, die Macht der Lohnabhängigen am Arbeitsplatz zu demonstrieren. Je mehr Macht die ArbeiterInnen zeigen, desto schneller werden die Bosse einlenken.

Mehr Militanz im Jahr 2022

So aufregend der Anstieg der Militanz im Jahr 2021 auch war, so groß ist das Potenzial für mehr im Jahr 2022. Einem Bericht des datenanalytischen Dienstes von Bloomberg Law zufolge, der von der Zeitschrift Labor Notes nachgedruckt wurde, werden zwischen November 2021 und Ende 2022 etwa 200 Verträge für 1,3 Millionen Beschäftigte zur Verhandlung und zu möglichen Aktionen anstehen. Und dabei handelt es sich nur um Verträge, die mitgliederstarke Gewerkschaften in Großunternehmen abschließen, ohne die vielen Verträge in kleineren Firmen und neu organisierten Betrieben zu berücksichtigen, die ganz neue Verträge aushandeln werden. Da der Arbeitskräftemangel des vergangenen Jahres im neuen Jahr voraussichtlich nicht wesentlich nachlassen wird, sollten wir davon ausgehen, dass sich die kämpferische Haltung von Streikoktober bis Streikweihnachten fortsetzen und hoffentlich bei immer mehr ArbeiterInnen noch weiter verbreitet wird.

Die großen Verträge, die zur Verhandlung anstehen, decken die ganze Bandbreite der Branchen ab, von den Hafen- und LagerarbeiterInnen der ILWU über die Beschäftigten in Lebensmittelgeschäften, die der UFCW (Gewerkschaft der Lebensmittel- und HandelsarbeiterInnen) angehören, bis hin zu den Beschäftigten in Ölraffinerien, die der Steelworkers Union angehören. Darüber hinaus gibt es im ganzen Land LehrerInnen, Krankenhausangestellte, Beschäftigte im Hochschulbereich und TelekommunikationsarbeiterInnen. Es wird erwartet, dass sich die Teamster-AktivistInnen voll an den Verhandlungen über den Vertrag für das Abschleppen von Autos von Abstellplätzen zu Autohöfen beteiligen werden, was die jüngsten Engpässe beim Autoverkauf möglicherweise noch verschärfen könnte.

Die UFCW-Vertragsverhandlungen in der Nahrungsmittelbranche sind insofern besonders interessant, als die Gewerkschaft versucht, Aktionen in mehreren Bundesstaaten gegen zwei große Lebensmittelketten im Westen der USA zu koordinieren. Man hofft, dass sie sich auch mit den UFCW-Ortsverbänden in den Stop-and-Shop-Filialen im Osten der USA, deren Vertrag im Februar ausläuft, abstimmen wird, um aus dieser Aktion eine umfassendere zu gestalten, die sich einem sektorweiten Streik nähert.

Die IWLU repräsentiert die HafenarbeiterInnen der Westküste. Ihr muss immer Aufmerksamkeit geschenkt werden wegen ihrer strategischen Bedeutung und der möglichen Wirkung von Kampfmaßnahmen auf die Weltwirtschaft sowie ihrer kämpferischen Geschichte. Der Vertrag läuft am 1. Juli 2022 aus. Eine relativ kleine Anzahl von HafenarbeiterInnen kann äußerst wirksam einen riesigen Teil des Weltkapitalismus lahmlegen, besonders wenn sie sich mit Verbündeten vor Ort und den LastwagenfahrerInnen zusammentun, wie das schon mehrfach in der Vergangenheit geschah, um zu verhindern, dass Schiffsladungen gelöscht und vom Hafen abtransportiert werden.

Einige der großen Schlüssel, die 2022 in ein Jahr der Wasserscheide zum Umbruch für Arbeitsrechte und ArbeiterInnenmacht verwandeln könnten, liegen in diesen beiden Kämpfen. Die Koordination der LebensmittelarbeiterInnen muss zu einer Vorlage für jede Gewerkschaft und jeden Streik, aber ausgeweitet werden und den gesamten organisierten Teil der ArbeiterInnenklasse einbeziehen. Streiks sollten möglichst zusammen mit anderen Arbeitsniederlegungen anberaumt werden, besonders in zusammenhängenden Industrien. Streikende LKW-FahrerInnen im Verein mit HafenarbeiterInnen bringen die Logistik zu einem kreischenden Halt. LehrerInnen in gemeinsamem Streik mit Cafeteria-ArbeiterInnen und sympathisierenden StudentInnen können mit Aktionen im höheren Bildungssektor zusammengespannt werden. Nichtmedizinische Bedienstete im Krankenhaus könnten zusammen mit dem Pflegepersonal streiken. Der Mut zur Arbeitsniederlegung kann andere ArbeiterInnen anstecken, selbst wenn sie noch nicht gewerkschaftlich organisiert sein sollten.

40 und mehr Jahre schlechter Abschlüsse, Betrügereien und Rückschläge für die ArbeiterInnenklasse scheinen nun zu Ende zu gehen im Verlauf der weltweiten Pandemie, die uns genau gezeigt hat, wie wenig wir für die Bosse zählen. Ein Jahr, nachdem wir als „wichtig“ beweihräuchert wurden, versuchen sie nunmehr, uns wieder Verträge aufzunötigen, die uns Zugeständnisse abpressen wollen. Sie dienen nur dazu,  uns um selbst das bisschen zu betrügen, was wir für unsere Arbeit verdient haben.  Die Zeit ist reif zu beweisen, wie viel unsere Arbeit wert ist, indem wir sie den EigentümerInnen dieses verfaulten Systems vorenthalten.

Es versteht sich von selbst, dass alle SozialistInnen unter den Vorzeichen einer Wiederbelebung der ArbeiterInnenbewegung alles Erdenkliche tun müssen, um solidarische Maßnahmen auf Orts- und Landesebene für gegenwärtige und geplante Streiks zu organisieren. Solche Solidarität kann den Kampf auch in Bereiche hineintragen, die noch nicht ins Streikgeschehen eingegriffen haben. Eine Massenstreikwelle wird alle TeilnehmerInnen stärken. Politische Parteien wie die Demokratischen SozialistInnen und ihre Jugendorganisation können zur historischen Wiederbelebung  der ArbeiterInnenbewegung in den USA beitragen, auf politischer  und auf gewerkschaftlicher Ebene. Eine solche Wiederauferstehung ist längst überfällig und die richtige Antwort an Präsident Biden und den Fehlschlag der Demokratischen Partei, ihre Versprechen an die ArbeiterInnen durch den Kongress zu bringen, nicht zuletzt wegen der Sabotage aus den eigenen Reihen.

Die Labor-Notes-Konferenz in Chicago vom 17.  –  19. Juni  2022 wird eine große Gelegenheit bieten, die Kräfte der gegenwärtigen Streikwelle zusammenzubringen und Fragen von gewerkschaftlicher Demokratie, Antikapitalismus und der politischen Vertretung der ArbeiterInnenbewegung mit einer eigenen Partei zu erörtern. 2022 ist das Jahr, groß zu denken.




Chile: Boric gewinnt Präsidentschaftswahlen deutlich

Dave Stockton, Infomail 1174, 22. Dezember 2021

Am 19. Dezember 2021 besiegte Gabriel Boric in der zweiten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen José Antonio Kast und erhielt 55,9 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 55,6 Prozent die höchste seit Abschaffung der Wahlpflicht im Jahr 2012.

Offensichtlich hat die Drohung eines chilenischen Bolsonaro die fortschrittlichen WählerInnen mobilisiert. Die Wahlbeteiligung lag um 1,2 Millionen höher als im ersten Wahlgang, um den Verfechter einer Diktatur im Stile Pinochets und einer neoliberalen Verarmung zu besiegen. Obwohl die liberale bürgerliche Mitte bei der Wahl zerschlagen wurde, ist die Behauptung der bürgerlichen Medien, es handele sich um einen Kampf zwischen zwei Extremen, falsch. Im Fall von Kast gab es zwar ein Extrem, aber Boric ist in Wirklichkeit ein ziemlich „demokratischer Sozialist“ der Mitte, wenn auch ohne Parteibuch.

Dennoch war es völlig richtig, dass praktisch alle Linken für Boric gestimmt haben. Sie haben nicht nur den Aufstieg eines aggressiven Rechten an die Macht verhindert, sondern sie werden auch Boric selbst an der Regierung auf die Probe stellen. Die Stärkung der Moral und des Vertrauens seiner AnhängerInnen wird die besten Voraussetzungen für die Erneuerung der Massenmobilisierung für fortschrittliche wirtschaftliche und politische Forderungen schaffen, die zweifellos notwendig sein wird.

Lehren der Vergangenheit

Das bedeutet, nicht darauf zu warten, dass Boric über das Tempo der Umsetzung seines Programms entscheidet, und schon gar nicht, die Kompromisse zu akzeptieren, die wir von ihm gegenüber der Rechten anzubieten erwarten können. Es bedeutet, die Bewegung der ArbeiterInnenklasse und Jugend aufzubauen und zu organisieren, die seit 2019 in großer Zahl auf die Straße gegangen ist und die Grundlage für die Abschaffung der Pinochet-Verfassung und die Wahl eines jungen „Linken“ gelegt hat.

ChilenInnen, die sich an die Präsidentschaft von Salvador Allende (3. November 1970 – 11. September 1973), die mit seiner Ermordung endete, und an die Diktatur Pinochets (1973 – 1990) erinnern können, wissen, dass die Wahl einer linken Regierung nicht das Ende der Geschichte oder den Beginn glücklicherer Tage bedeutet.

Diese Diktatur, die Kast regelmäßig lobt, war eine der blutigsten der 1970er Jahre. Mehr als 3.000 namentlich identifizierte Menschen wurden getötet oder verschwanden, rund 37.000 wurden verhaftet und unsäglichen Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt, und 200.000 mussten ins Exil fliehen. Wie in Francos Spanien und Videlas Argentinien wurden Pinochet und seine MörderInnenriege nie vor Gericht gestellt, und aus demselben Grund unterstützten die Vereinigten Staaten und die westlichen Demokratien diese Regime weiterhin. Im Fall von Pinochet lag dies daran, dass er der erste war, der die neoliberale Politik der „Chicago Boys“ vollständig durchsetzte. Henry Kissinger (98), der Mann hinter dem Staatsstreich von 1973, ist noch am Leben und wird mit Ehrungen überhäuft, darunter dem Friedensnobelpreis.

Keine faulen Kompromisse!

Kasts 44 Prozent der Stimmen zeigen, dass diejenigen, die von der Diktatur profitierten, nicht verschwunden sind. Eine weitere, bleibende Hinterlassenschaft jener Jahre ist ein rechtsgerichteter Militär- und Polizeiapparat, der zweifellos bereit ist, jedes ernsthaft radikale Programm zu blockieren. Obwohl das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr 12 Prozent erreichen soll, nachdem es 2020 um 5,8 Prozent geschrumpft war, weist die OECD darauf hin, dass es sich dabei um einen kurzfristigen Schub durch ein umfangreiches Konjunkturpaket handelt, und erwartet, dass es bis 2023 auf nur 2 Prozent sinken wird. Es besteht kein Zweifel, dass sowohl das chilenische als auch ausländische Kapital bereits planen, wie sie nach der Wahl von Boric jegliche progressive Politik sabotieren können.

Es besteht jedoch die Gefahr, dass Boric den Weg der Annäherung an die AnhängerInnen von Kast beschreitet, um die Kluft zwischen „den“ ChilenInnen zu überwinden überwinden. Der Preis für einen solchen faulen Klassenkompromiss wird darin bestehen, dass er alle radikalen Elemente seines Programms fallen lässt, insbesondere die Besteuerung der reicheren Teile der Bevölkerung, um sinnvolle Sozialreformen zu finanzieren. Dies könnte die Massenbewegungen demoralisieren und demobilisieren, wenn es keine konzertierte Opposition der Gewerkschaften und der Linken gibt.

Sollte er jedoch ernsthafte Reformen anstreben, ist mit Sabotage und Störungen seitens der chilenischen Führungsschicht im Kongress und im Wirtschaftsleben zu rechnen. Die USA und ihre willfährigen internationalen HelferInnen wie der IWF werden Boric der Menschenrechtsverletzungen und der Diktatur beschuldigen. Obwohl Chile über eine relativ fortschrittliche Wirtschaft verfügt und einst als „älteste Demokratie Lateinamerikas“ bezeichnet wurde, bleibt es dennoch eine Halbkolonie, die Sanktionen und Blockaden ausgesetzt sein könnte, sollte es versucht sein, den „bolivarischen“ Weg eines Chávez oder Morales einzuschlagen.

Die chilenische Linke und alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte, die für Boric gestimmt haben, müssen sich erneut auf der Straße und am Arbeitsplatz mobilisieren, ihre eigenen Forderungen erheben und auf alles gefasst sein, was ihre FeindInnen vorbringen. Mehr noch, die junge Linke muss sich auf das radikale, ja revolutionäre Vermächtnis des 20. Jahrhunderts besinnen und sich von den kompromittierenden und pazifistischen Traditionen des „demokratischen Sozialismus“, dem Boric nahesteht, lösen. Die chilenischen KapitalistInnen, bewaffnet mit ihren Militär- und Polizeikräften und, hinter ihnen stehend, der CIA, sind echte TigerInnen, die sich nicht friedlich durch Wahlmandate und bürgerliche Demokratie ihrer Zähne und Krallen berauben lassen.