50. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma

Anlässlich des 50. Jahrestages der blutigen Zerschlagung der chilenischen Revolution veröffentlichen wir im Folgenden erneut eine Analyse aus dem Jahr 2003. Die darin dargelegten Schlussfolgerungen sind leider weiterhin gültig. Der Putsch des Generals Pinochet kostete Zehntausenden den Tod. Der demokratische Imperialismus der USA und ihrer Verbündeten zeigte einmal mehr sein wahres Gesicht. Die Zerschlagung der Revolution offenbarte aber auch die politische Sackgasse der chilenischen Volksfront unter Allende. Wenn wir heute die Revolutionär:innen, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen und Bäuer:innen ehren, die sich heldenhaften der Konterrevolution entgegenstellten, so müssen wir auch die politischen Lehren aus der Niederlage ziehen, auf dass sie sich nie wiederholen möge.

Hannes Hohn, Infomail 1231, 11. September 2023

Am 11. September 1973 ging in Santiago de Chile der Präsidentenpalast, die Moneda, in Flammen auf. Das Militär unter General Pinochet putschte gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende und errichtete eine blutige Militärdiktatur.

Der Putsch beendete die Hoffnung von Millionen Chilen:innen auf die Umgestaltung des Landes und auf die Einführung des Sozialismus. Stattdessen herrschte in Chile nun Friedhofsruhe. Fast alle demokratischen Rechte wurden von der Pinochet-Junta außer Kraft gesetzt und Gewerkschaften und Streiks verboten. Die Löhne wurden halbiert, während sich die Arbeitszeit gleichzeitig erhöhte. Diese Folgen des Putsches verdeutlichen, in wessen Sinn und Auftrag der Mörder Pinochet handelte: in dem der Kapitalist:innen.

Die Unidad Popular

Im Dezember 1969 verabschiedete die Unidad Popular (UP) ein Programm, das verschiedene Reformen und die Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche vorsah. Letztere betraf auch die US-amerikanischen Anteile von fast 50% am Hauptwirtschaftszweig Chiles, dem Kupferbergbau.

Doch anders, als es viele noch heute glauben, war das Programm der UP kein revolutionär-sozialistisches. Ein solches hätte beinhalten müssen, den bürgerlichen Staat (darunter auch den Gewaltapparat) zu zerschlagen und ihn durch Arbeiter:innenräte und -milizen zu ersetzen. Ein solches Programm hätte auch nicht bei der Verstaatlichung einiger Wirtschaftsbereiche stehen bleiben dürfen; es hätte auf die Enteignung der Bourgeoisie als Ganzes und die Einführung einer demokratischen, auf Räte basierenden Planwirtschaft gerichtet sein müssen.

Das Programm der UP Allendes war, trotz seiner sozialistischen Phraseologie, ein bürgerlich-demokratisches Programm.

Die UP war ein (Wahl)Bündnis aus verschiedenen Parteien und Bewegungen, deren wichtigste Kräfte die Sozialistische Partei (SP) und die stalinistische KP waren. Sie stützte sich sozial v. a. auf die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und die ländliche Armut.

Die Unidad Popular war keine zeitweilige, begrenzte Einheitsfront, sondern ein strategisches (Regierungs)Bündnis zwischen Parteien des Proletariats und offen bürgerlichen Kräften – auch wenn diese wie die „Radikale Partei“ zahlenmäßig relativ bedeutungslos geworden waren.

Damit diese – von Marxist:innen „Volksfront“ genannte – Allianz überhaupt zustande kommen konnte, war ein Programm nötig, das strategische Zugeständnisse an die herrschende Klasse machte: den Erhalt des Privateigentums, soweit es nicht zum ausländischen Großkapital gehörte, und des bürgerlichen Staatsapparats.

Nicht der revolutionäre Sturz des Kapitalismus, sondern der Versuch einer Aussöhnung der unvereinbaren Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie lag der Unidad Popular zugrunde.

Triumph mit Schatten

Im September 1970 wurde sie mit 36,3 % stärkste Kraft im Parlament und Salvador Allende (SP) zum Präsidenten gewählt. Der Sieg der Unidad Popular beruhte jedoch weniger auf der Originalität ihres Volksfrontprogramms, sondern v. a. darauf, dass ihre sozialistischen Versprechungen den Erwartungen der Massen entsprachen.

Seit Ende der 1960er war Chile in Unruhe. Die Wirtschaftskrise und die Verschlechterung der Lebenslage der Massen hatten Folgen: Proteste, Streiks und spontane Landbesetzungen nahmen zu. Die Arbeiter:innenklasse, die städtische und ländliche Armut waren in Bewegung geraten. Nicht verwunderlich also, dass die Massen ihre Hoffnungen auf eine grundsätzliche Wende in „ihre“ vorhandenen Arbeiter:innenparteien, die SP und die KP, projizierten. Als diese sich dann zur UP zusammenschlossen, schienen sie stark genug zu sein, „alles zu wagen“.

Doch die siegreiche Unidad Popular hatte zwei Gesichter. Das eine stand für Reformen. Die Neuerungen fingen bei einem täglichen Liter Milch für Chiles Kinder an und reichten bis zur Enteignung von US-Unternehmen.

Doch die Kehrseite der Politik der UP und ihres Präsidenten Allende sollte bald alle Verbesserungen der ersten Periode der Volksfront in Gefahr bringen. Der alte bürgerliche Staatsapparat nämlich blieb bestehen, v. a. die Machtpositionen der Armee und der Sicherheitskräfte blieben unangetastet – im Gegenzug für ihre „Loyalität“. Trotz aller Verstaatlichungen funktionierte die Wirtschaft immer noch auf kapitalistische Art und große Bereiche der Wirtschaft – v. a. der in Chile große Sektor der Klein- und Mittelbetriebe – blieben, wie sie waren.

Um überhaupt auf parlamentarischem Weg zum Präsidenten gewählt zu werden, war Allende auf die Stimmen nicht nur der Volksfront (einschließlich ihrer bürgerlichen Komponenten) angewiesen, sondern auch auf jene der Christdemokrat:innen, der klassischen Partei der chilenischen „nationalen“ Bourgeoisie. Diese lies sich ihre Zustimmung mit grundlegenden Garantien der bürgerlichen Legalität erkaufen – Unantastbarkeit der bestehenden staatlichen Institutionen (Justiz, Polizei, Armee), Verzicht auf die Bildung von Volksmilizen, Respekt vor den Rechten der bürgerlichen Opposition (Privateigentum an den Medien; Freiheit ihrer Organisationen einschließlich der faschistischen Patria y Libertad).

Der von der Volksfront angestrebte Klassenkompromiss und die Zusicherungen an die chilenische Klein- und Mittelbourgeoisie schienen Allende und seinen UP- Partner:innen ein Garant dafür zu sein, dass Wirtschaft, Staatsapparat und Armee sich verfassungskonform verhalten würden. Anfangs, als die Vertreter der alten Ordnung in der Defensive waren, schien das auch der Fall zu sein. Doch es sollte sich bald ändern.

Volksfront in der Krise

Die Anfangserfolge der UP zogen die Massen ebenso stark an, wie sie die Bourgeoisie abschreckten. Die bürgerlichen Kräfte formierten sich. Die faschistische Bewegung Patria y Libertad (PyL = Vaterland und Freiheit) wurde zum Attraktionspol für alle, die dem Volksfrontprojekt überhaupt den Garaus und alle Reformen und sozialen Errungenschaften rückgängig machen wollten. Die PyL griff mit offenem Terror Arbeiter:innen und Bäuer:innen, Gewerkschafter:innen und Linke an.

Aufgeschreckt durch die Enteignung des US-Kapitals übten die USA Druck auf den Kupferweltmarktpreis aus. Daraufhin verfiel dieser, wodurch Chile enorme Einnahmen entgingen. Zugleich wurden auf Druck der USA zugesagte Kredite zurückgezogen. Auch die chilenischen Kapitalist:innen zogen ihr Kapital aus Chile ab.

Die Folge davon waren leere Staatskassen. Dem versuchte die Regierung durch das Anwerfen der Geldpresse zu begegnen, was verstärkte Inflation zur Folge hatte. Die wirtschaftliche Flaute bewirkte, dass sich immer größere Teile der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums von der UP ab- und der bürgerlichen Opposition zuwandten. Zugleich übten sie auf den Staatsapparat und die Armee immer größeren Druck aus, Allende zu stürzen – ein Militärputsch wurde immer wahrscheinlicher.

Zunächst jedoch gingen nicht Soldaten, sondern (klein)bürgerliche Frauen auf die Straße und protestierten auf demagogische Weise mit leeren Töpfen gegen den Mangel, den sie selbst allerdings weniger verspürten als die Lohnabhängigen und die Armut auf dem Land. Dann – ab Oktober 1972 – streikten die Kleinkapitalist:innen, besonders die Fuhrunternehmer:innen und legten das ganze Land lahm.

Begleitet wurden diese dramatischen Ereignisse durch Komplotte und Intrigen hinter den Kulissen. Eine reaktionäre Allianz von CIA, US State Departement, PyL, Generälen und hohen Staatsbeamten plante Mordanschläge gegen Allende, boykottierte die UP-Politik, terrorisierte Arbeiter:innen und Bäuer:innen, ermordete linke Aktivist:innen und selbst regierungstreue Generäle.

Im Juni 1973 schließlich verhinderten zehntausende Proletarier:innen einen von der Reaktion geplanten Marsch auf Santiago. Diese Monate der Unruhe vor dem Sturm deuteten unübersehbar auf die nahe Entscheidungsschlacht hin. Allende und die UP jedoch hielten weiter an ihren Illusionen von Klassenkompromiss und Verfassungstreue fest.

Die Volksfront hatte ihr Reform-Pulver bald verschossen und geriet immer stärker unter Druck. Auch die Massen wurden nun mit Allendes Reformen zunehmend unzufriedener, ohne jedoch mit der UP politisch zu brechen.

Die Landreform wurde nicht konsequent umgesetzt, wodurch viele Landlose oder Landarme nicht genügend Fläche bekamen, um davon existieren bzw. mit größeren Betrieben konkurrieren zu können. Die Landbevölkerung griff deshalb zu spontanen Besetzungen und bildete gegen die reaktionär-faschistischen Terrorbanden der Reichen Selbstschutzorgane.

Wirtschaftskrise, Inflation und die von den (Transport)Kapitalisten erzeugte Versorgungskrise rief auch die Arbeiter:innenklasse auf den Plan. Sie verlangte nicht nur energische Maßnahmen gegen die Unternehmerboykotte von der Regierung. Sie organisierte sich auch selbst in betrieblichen und Wohngebietskomitees, sie bildete Milizen (die tw. bewaffnet waren), sie besetzte Betriebe und übte die Kontrolle aus – zum Schluss über fast 1.000 Unternehmen!

Wie reagierte Allendes „Regierung des Volkes“ auf diese Ansätze von Selbstorganisation und -bewaffnung der Massen?

Sie verurteilte die „linksradikalen“ Aktionen und rief zur „Mäßigung“ auf, um die Bürgerlichen nicht aufzuschrecken und zu noch größerem Widerstand zu ermuntern. Dabei tat sich die „kommunistische“ Partei besonders negativ hervor. Die PyL wurde nicht energisch bekämpft. Polizei und Armee wurden gegen Arbeiter:innen und Bäuer:innen eingesetzt, die „verfassungswidrig“ Unternehmen oder Land besetzt oder sich bewaffnet hatten.

Trotz aller rhetorischen Aufforderungen Allendes an die Massen, die Unidad Popular zu verteidigen, behinderte er real alles, was gegen die Reaktion nötig gewesen wäre. Gegen die Mobilisierungen der Reaktion und deren Putsch-Vorbereitungen gab es nur ein Mittel: Mobilisierung der Arbeiter:innen und der Landarmut.

Die besetzten Betriebe und Ländereien hätten zu Organisationszentren von betrieblichen und lokalen Räten und Milizen werden und diese regional und landesweit zentralisiert werden müssen. Anders als in der russischen oder auch in der deutschen Revolution gab es jedoch in Chile nie eine zentralisierte Rätestruktur, die als Gegenmachtzentrum zur Staatsmacht hätte fungieren können.

Diese hätte den Widerstand gegen die Konterrevolution landesweit organisieren, die Arbeiter:innen und Bäuer:innen bewaffnen und mittels ihrer bewaffneten Macht den bürgerlichen Staat – v.a. die Armee – zerschlagen oder zumindest eine reale Gegenmacht  organisieren können und müssen. Gegen den Wirtschaftsboykott gab es nur einen Weg: Enteignung der gesamten Bourgeoisie und Einführung einer demokratisch geplanten Wirtschaft.

Politik der Linken

Obwohl einige linke Organisationen, besonders die MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) Elemente dieser Strategie verfolgten, fehlte es an einer politischen Partei, die bereits vor 1973 ein revolutionäres Programm in die Vorhut der Arbeiter:innenklasse hätte tragen können und deshalb im entscheidenden Moment stark genug gewesen wäre, die Führung in der Revolution zu übernehmen. Die MIR, zu denen auch die „Trotzkist:innen“ des Vereinigten Sekretariats (VS) gehörten, pendelte aber zwischen opportunistischer Anpassung an die UP und revolutionärer Politik.

So charakterisierte die MIR die Volksfront in den ersten Monaten als „revolutionäre Volksregierung“. Das war die UP aber trotz unbestreitbarer materieller Verbesserungen für die Massen nie. Die UP war keine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung“, die sich gegen den Kapitalismus wandte und sich auf Machtorgane der Klasse stützte, sondern eine, wenn auch durchaus linke bürgerliche Regierung, die selbst ein Bollwerk gegen die Revolution der Massen bildete.

Die Politik der MIR in den ersten Monaten der Volksfront führte aber dazu, dass die Illusionen der Massen in die Regierung Allende bestärkt und nicht bekämpft wurden. Wenn selbst die „revolutionäre Linke“ die Volksfront als „revolutionäre Regierung“ betrachtete – wozu brauchten die Massen dann Räte und eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung? Erst als sich die Volksfront direkt gegen die Arbeiter:innen wandte, ändert die MIR ihre Politik – aber auch das nur inkonsequent.

Zudem hinderte sie ihre strategische Ausrichtung am Guevarismus daran, die Arbeiter:innenklasse als historisches Subjekt der Revolution zu begreifen und systematisch in diesem Milieu zu arbeiten. Die MIR war im wesentlichen eine Organisation, die unter Student:innen und unter der Bäuer:innenschaft verankert war, kaum jedoch im chilenischen Proletariat, das von SP und KP dominiert wurde.

Das Ende

Schon im Sommer 1973 war die UP-Regierung fast handlungsunfähig. Es gab eine Doppelmachtsituation. Hier die Massen mit wenigen Machtmitteln, ohne landesweite Gegenmachtorgane und ohne konsequente revolutionäre Führung hinter der Regierung Allende; dort die Reaktion, die den Staatsapparat und die Armee beherrschte und zu allem entschlossen war. Die UP unter Allende war keine Speerspitze der Massen gegen den drohenden Putsch, sie wollte noch vermitteln, als es die Entscheidung zu erzwingen galt!

Es ging nur noch um Wochen oder Tage. Doch Allende schürte weiter die Illusion der Verfassungstreue, er mobilisiert die Massen nicht und lullte sie mit seinen demokratischen Beschwörungen im Angesicht der Gefahr ein.

Als dann am 11. September die Moneda bombardiert wurde, blieb Allende mutig auf seinem Posten und rief das Volk noch einmal zur „Verteidigung der Revolution auf“. Doch trotz des verzweifelten Widerstands vieler Arbeiter:innen, gelang es dem Militär Dank seiner Überlegenheit und des rigorosen Terrors bald, das Land vollständig zu kontrollieren. Die Massen waren von der Volksfront zu lange demobilisiert und demoralisiert worden, als dass sie den Schlägen des Militärs hätten standhalten können. Zudem fehlte eine einheitliche politische und militärische Führung in Form einer revolutionären Partei.

Das chilenische Proletariat bezahlte einen hohen Blutzoll für die Illusionen ihrer Volksfront-Führer:innen. Nicht nur Präsident Allende kam um. Zehntausende – Linke, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen, Bäuer:innen – wurden von der Soldateska getötet, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Auf Allendes „halbe Revolution“ folgte eine ganze Konterrevolution.

Allendes Versuch, die gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie wie Feuer und Wasser miteinander zu versöhnen endete damit, dass die Volksfront selbst verdampfte.

Die bittere chilenische Erfahrung ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1930er war die Volksfrontstrategie die vorherrschende Strategie aller stalinistischen Parteien. Ihr lag die Idee zugrunde, dass die Revolution auf zwei separate Phasen „verteilt“ sei. In der Praxis hieß das, den Übergang von der bürgerlich-demokratischen Phase zur sozialistischen bewusst zu blockieren, der Bourgeoisie grundsätzliche Zugeständnisse zu machen und die Massen zurückzuhalten – zugunsten der Illusion, dass der Klassengegner sich loyal verhalten würde. Doch dieser politische Königsweg des Stalinismus als „Alternative“ zur Konzeption der Permanenten Revolution, erwies sich ohne Ausnahme immer nur als Sackgasse, als Weg in eine blutige Niederlage.




Chile: Boric gewinnt Präsidentschaftswahlen deutlich

Dave Stockton, Infomail 1174, 22. Dezember 2021

Am 19. Dezember 2021 besiegte Gabriel Boric in der zweiten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen José Antonio Kast und erhielt 55,9 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 55,6 Prozent die höchste seit Abschaffung der Wahlpflicht im Jahr 2012.

Offensichtlich hat die Drohung eines chilenischen Bolsonaro die fortschrittlichen WählerInnen mobilisiert. Die Wahlbeteiligung lag um 1,2 Millionen höher als im ersten Wahlgang, um den Verfechter einer Diktatur im Stile Pinochets und einer neoliberalen Verarmung zu besiegen. Obwohl die liberale bürgerliche Mitte bei der Wahl zerschlagen wurde, ist die Behauptung der bürgerlichen Medien, es handele sich um einen Kampf zwischen zwei Extremen, falsch. Im Fall von Kast gab es zwar ein Extrem, aber Boric ist in Wirklichkeit ein ziemlich „demokratischer Sozialist“ der Mitte, wenn auch ohne Parteibuch.

Dennoch war es völlig richtig, dass praktisch alle Linken für Boric gestimmt haben. Sie haben nicht nur den Aufstieg eines aggressiven Rechten an die Macht verhindert, sondern sie werden auch Boric selbst an der Regierung auf die Probe stellen. Die Stärkung der Moral und des Vertrauens seiner AnhängerInnen wird die besten Voraussetzungen für die Erneuerung der Massenmobilisierung für fortschrittliche wirtschaftliche und politische Forderungen schaffen, die zweifellos notwendig sein wird.

Lehren der Vergangenheit

Das bedeutet, nicht darauf zu warten, dass Boric über das Tempo der Umsetzung seines Programms entscheidet, und schon gar nicht, die Kompromisse zu akzeptieren, die wir von ihm gegenüber der Rechten anzubieten erwarten können. Es bedeutet, die Bewegung der ArbeiterInnenklasse und Jugend aufzubauen und zu organisieren, die seit 2019 in großer Zahl auf die Straße gegangen ist und die Grundlage für die Abschaffung der Pinochet-Verfassung und die Wahl eines jungen „Linken“ gelegt hat.

ChilenInnen, die sich an die Präsidentschaft von Salvador Allende (3. November 1970 – 11. September 1973), die mit seiner Ermordung endete, und an die Diktatur Pinochets (1973 – 1990) erinnern können, wissen, dass die Wahl einer linken Regierung nicht das Ende der Geschichte oder den Beginn glücklicherer Tage bedeutet.

Diese Diktatur, die Kast regelmäßig lobt, war eine der blutigsten der 1970er Jahre. Mehr als 3.000 namentlich identifizierte Menschen wurden getötet oder verschwanden, rund 37.000 wurden verhaftet und unsäglichen Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt, und 200.000 mussten ins Exil fliehen. Wie in Francos Spanien und Videlas Argentinien wurden Pinochet und seine MörderInnenriege nie vor Gericht gestellt, und aus demselben Grund unterstützten die Vereinigten Staaten und die westlichen Demokratien diese Regime weiterhin. Im Fall von Pinochet lag dies daran, dass er der erste war, der die neoliberale Politik der „Chicago Boys“ vollständig durchsetzte. Henry Kissinger (98), der Mann hinter dem Staatsstreich von 1973, ist noch am Leben und wird mit Ehrungen überhäuft, darunter dem Friedensnobelpreis.

Keine faulen Kompromisse!

Kasts 44 Prozent der Stimmen zeigen, dass diejenigen, die von der Diktatur profitierten, nicht verschwunden sind. Eine weitere, bleibende Hinterlassenschaft jener Jahre ist ein rechtsgerichteter Militär- und Polizeiapparat, der zweifellos bereit ist, jedes ernsthaft radikale Programm zu blockieren. Obwohl das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr 12 Prozent erreichen soll, nachdem es 2020 um 5,8 Prozent geschrumpft war, weist die OECD darauf hin, dass es sich dabei um einen kurzfristigen Schub durch ein umfangreiches Konjunkturpaket handelt, und erwartet, dass es bis 2023 auf nur 2 Prozent sinken wird. Es besteht kein Zweifel, dass sowohl das chilenische als auch ausländische Kapital bereits planen, wie sie nach der Wahl von Boric jegliche progressive Politik sabotieren können.

Es besteht jedoch die Gefahr, dass Boric den Weg der Annäherung an die AnhängerInnen von Kast beschreitet, um die Kluft zwischen „den“ ChilenInnen zu überwinden überwinden. Der Preis für einen solchen faulen Klassenkompromiss wird darin bestehen, dass er alle radikalen Elemente seines Programms fallen lässt, insbesondere die Besteuerung der reicheren Teile der Bevölkerung, um sinnvolle Sozialreformen zu finanzieren. Dies könnte die Massenbewegungen demoralisieren und demobilisieren, wenn es keine konzertierte Opposition der Gewerkschaften und der Linken gibt.

Sollte er jedoch ernsthafte Reformen anstreben, ist mit Sabotage und Störungen seitens der chilenischen Führungsschicht im Kongress und im Wirtschaftsleben zu rechnen. Die USA und ihre willfährigen internationalen HelferInnen wie der IWF werden Boric der Menschenrechtsverletzungen und der Diktatur beschuldigen. Obwohl Chile über eine relativ fortschrittliche Wirtschaft verfügt und einst als „älteste Demokratie Lateinamerikas“ bezeichnet wurde, bleibt es dennoch eine Halbkolonie, die Sanktionen und Blockaden ausgesetzt sein könnte, sollte es versucht sein, den „bolivarischen“ Weg eines Chávez oder Morales einzuschlagen.

Die chilenische Linke und alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte, die für Boric gestimmt haben, müssen sich erneut auf der Straße und am Arbeitsplatz mobilisieren, ihre eigenen Forderungen erheben und auf alles gefasst sein, was ihre FeindInnen vorbringen. Mehr noch, die junge Linke muss sich auf das radikale, ja revolutionäre Vermächtnis des 20. Jahrhunderts besinnen und sich von den kompromittierenden und pazifistischen Traditionen des „demokratischen Sozialismus“, dem Boric nahesteht, lösen. Die chilenischen KapitalistInnen, bewaffnet mit ihren Militär- und Polizeikräften und, hinter ihnen stehend, der CIA, sind echte TigerInnen, die sich nicht friedlich durch Wahlmandate und bürgerliche Demokratie ihrer Zähne und Krallen berauben lassen.




Den Vormarsch der Reaktion in Chile stoppen – Kritische Wahlunterstützung für Boric!

Markus Lehner, Infomail 1173, 16. Dezember 2021

Am 19. Dezember findet die hart umkämpfte und stark polarisierte Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile statt. Im ersten Wahlgang lag der rechtsextreme Antonio Kast mit 27,9 % vor dem Kandidaten des Linksbündnisses „Apruebo Dignidad“ (dt.: „Ich stimme der Würde zu“), Gabriel Boric, der 25,8 % der Stimmen auf sich vereinen konnte.

Wie wir vor dem ersten Wahlgang im Artikel „Das Ende des chilenischen Modells?“ dargestellt haben, finden diese Wahlen in einer seit zwei Jahren von Protesten geprägten Situation statt. Seit Oktober 2019 steht das „Modell Chile“, das lange als Eldorado neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik galt, durch eine immer stärker werdende Protestbewegung der großen Zahl der VerliererInnen dieses Modells unter Beschuss. Jugendliche, Frauen, ArbeiterInnen, Indigene, MigrantInnen haben das Heft des Handelns in die Hand genommen  und auch die bisher in die Nach-Pinochet-Ära integrierte sozial-liberale „Concertación“ (Sozial- und ChristdemokratInnen; dt.: „Koalition der Parteien für die Demokratie“) von der Führung der Opposition verdrängt.

Stattdessen sind die Bündnisse rund um die Kommunistische Partei Chiles, insbesondere die „Frente Amplio“ (dt.: „Breite Front“) in den Vordergrund gerückt. Gabriel Boric, ein früherer Sprecher der StudentInnenproteste und Repräsentant dieser Front, hat zusammen mit den GewerkschaftsführerInnen und FunktionärInnen der KP daran mitgewirkt, dass die Protestbewegung letztlich in den Prozess der Neugestaltung der Verfassung übergeleitet wurde. Mit dem Referendum zum Verfassungsprozess und der Wahl zur Konstituante in diesem Mai zeigt dieser reformistische Weg natürlich inzwischen seine erwartungsgemäßen Grenzen. Dass dieser parlamentarisch-institutionelle Weg die Grundpfeiler der sozialen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten des „Modell Chile“ grundlegend angreifen könnte, ist für immer weniger Beteiligte der Proteste glaubhaft. Dies hat sich nicht nur in der äußerst geringen Wahlbeteiligung für die Konstituante ausgedrückt, sondern auch in dem vehementen Wiederaufflammen der Protestbewegung seit September 2021. Trotz dieser aufkeimenden Unzufriedenheit hofft die Masse der Bewegung und der unterdrückten Klassen bei den Wahlen auf  Boric, und das erst recht angesichts der Alternative: ein Wahlsieg des rechten Pinochet-Verehrers Kast.

Die Rechte vereint die Bourgeoisie

Mit dem Schwinden des Vertrauens in den Verfassungsprozess fühlt sich auch die Rechte wieder stark genug, um ihre Kräfte zu mobilisieren. Es gibt nicht wenige in den Mittelschichten und auf dem Land, die durch die hohen Ausbeutungsraten und die Stellung Chiles auf dem Weltmarkt eine günstige soziale Stellung erworben haben. Die Proteste und die Wahlversprechen der Linken wurden daher von der Rechten benutzt, um den drohenden wirtschaftlichen Niedergang gerade gegenüber diesen Schichten zu beschwören. Dazu kommt, dass sie mit Kast einen Kandidaten gefunden haben, der mit allen Elementen des Rechtspopulismus auch weit über die üblichen Konservativen hinaus mobilisieren kann. Insbesondere war Chile in den letzten Jahrzehnten ein Anziehungspunkt für MigrantInnen aus ganz Lateinamerika, z. B. aus Haiti. Diese wurden in den letzten Jahren immer mehr an den Rand gedrängt und sind Ziel starker rassistischer Ausgrenzung. Hetze gegen MigrantInnen und Indigene (insbesondere die Mapuche) als „Hort der Kriminalität“ und „SchmarotzerInnen“ sind für Kast ebenso Kernelement seiner Propaganda wie Klimawandel-Leugnung, Hetze gegen Homosexuelle und die Beschwörung der „Gefahr des Feminismus“. Trotz dieser widerlichen Züge eines Anden-Bolsonaro (mit dem er sich auch gerne auf Fotos zeigt) verfügt Kast über die vollständige Unterstützung des chilenischen Establishments. Die Angst, selbst vor dem Wahlsieg der reformistischen Linken, lässt die chilenische Bourgeoisie auf Kast setzen, um nicht nur eine Marionette des Neoliberalismus im Präsidentenpalast sitzen zu haben, sondern auch einen Erzreaktionär, der bereit ist, gestützt auf den Staatsapparat und eine kleinbürgerlich-reaktionäre AnhängerInnenschaft, mit dem linken Spuk Schluss zu machen.

In den letzten Umfragen (in Chile gibt es seit letzter Woche allerdings ein Umfragemoratorium) lag Boric mehr oder weniger knapp vor Kast. Die fortschrittliche Massenbewegung, aber auch die meisten WählerInnen zentristischer Parteien tendieren eher dazu, Boric zu wählen. Außerdem liegt er insbesondere bei Frauen, Jugendlichen und ArbeiterInnen im Verhältnis 40:20 vorne. Insbesondere Frauenorganisationen haben zu Recht gegen die reaktionären, frauenfeindlichen Programmpunkte von Kast mobil gemacht und rufen in großer Zahl zur Wahl von Boric auf. Gleiches gilt für alle wichtigen Gewerkschaftsführungen. Boric verspricht vor allem die Rücknahme der Privatisierungspolitik in Bereichen wie Gesundheit und Rente. Dies führt auch zu einer starken Unterstützung in den Umfragen bei älteren WählerInnen.

Die Präsidentschaftswahl stellt angesichts der politischen Krise und Zuspitzung der gesellschaftlichen Polarisierung der letzten Jahre auch eine wichtige Konfrontation nicht einfach zwischen zwei KandidatInnen dar, sondern zwischen den gesellschaftlichen Hauptklassen, zwischen Lohnarbeit und Kapital. Trotz der reformistischen Grenzen der Politik und des Programms von Boric kann und darf die ArbeiterInnenklasse hier nicht neutral bleiben. Auch alle linken, revolutionären Kräfte müssen mit ihrer Stimme mithelfen, Kast an der Wahlurne zu schlagen. Denn sein Sieg wäre eine Niederlage für die gesamte ArbeiterInnenklasse, die Jugend, die Frauen, Indigene, die armen Bauern und Bäuerinnen in Chile und ganz Lateinamerika.

Grenzen des Reformismus

Gleichzeitig dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass Boric,  die KP und die „Frente Amplio“ nicht die notwendige revolutionäre Antwort auf die Probleme von sozialer Ungleichheit und Unterdrückung in Chile darstellen. Ihr Manöver, die Protestbewegung in das Fahrwasser des Verfassungsprozesses zu lenken, hat dagegen tatsächlich die Möglichkeit einer revolutionären Zuspitzung der Proteste 2019 abgewürgt und so der Reaktion ermöglicht, wieder die Initiative zu erlangen. Dass mit der Enttäuschung in Bezug auf die eigentlichen Ziele des Protestes jetzt die Konterrevolution umso schlimmer wieder ihr Haupt erhebt, ist letztlich kein Wunder. Daraus ergibt sich die Polarisierung bei der gegenwärtigen Wahl, zwischen einem Kandidaten der reformistischen Linken, die die Lohnabhängigen und Unterdrückten repräsentiert, und der extremen Rechten mit Unterstützung der Bourgeoisie.

Auch wenn Wahlen und Parlamentarismus letztlich nichts an den wirklichen Fragen der Macht (sprich den dahinterliegenden Eigentumsverhältnissen) ändern können, so spiegelt sich gerade in solch einer polarisierten Kampagne nicht nur das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen wider. Der Ausgang selbst wird in dieses eingehen.

Es kann der ArbeiterInnenklasse daher nicht egal sein, wer solche Wahlen gewinnt. Ein Wahlsieg von Kast wäre sicherlich für die herrschende Klasse eine Ermutigung zu weiteren Angriffen und würde der Konterrevolution zudem ein „demokratisches“ Mandat geben. Für die sozial Unterdrückten und die Protestierenden der letzten Jahre wäre dies ein schwerer Rückschlag und keine Ermutigung für den weiteren Kampf, sondern hätte wahrscheinlich sogar entmutigende Wirkung.

Auch ein Wahlsieg von Boric ist natürlich keine Garantie für bessere Kampfbedingungen oder tatsächliche Veränderungen. In jedem Fall ist nur der Kampf in den Arbeits- und Ausbildungsstätten, auf der Straße und in sozialen Protesten der wirkliche Hebel gegen das Wiedererstarken der Rechten und für einschneidende soziale Veränderungen. Vor allem aber müssen wir anerkennen, dass ein großer Teil der ArbeiterInnen, Frauen, Indigenen etc. tatsächlich glaubt, dass ein Wahlsieg von Boric ihren Kampf voranbringe. Dies machen sowohl die Umfragen als auch die Unterstützung durch Gewerkschaften und soziale Bewegungen mehr als deutlich. RevolutionärInnen müssen natürlich vor Illusionen in Boric warnen (siehe sein Agieren im Abkommen zur „Befriedung der Proteste“) und die ihn unterstützenden Organisationen zu unabhängiger Mobilisierung im Kampf gegen rechts, zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens, zur Einführung einer staatlichen Rente etc. aufrufen.

Boric wird vielmehr versuchen, sich mit der Bourgeoisie und ihren im Parlament vertretenen Parteien auf die Aufrechterhaltung der alten Ordnung zu einigen (was man schon an seinen jüngsten „Versprechen“ sieht, dass man leider einige der Inhaftierten der Protestbewegung nicht amnestieren könne).

Eine kritische Unterstützung von Boric bei den Wahlen muss diese Zugeständnisse anprangern und von ihm und den Massenorganisationen einfordern, mit dieser Politik zu brechen. RevolutionärInnen muss dabei bewusst sein, dass Boric und die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und reformistischen Parteien und Organisationen, auf die er sich stützt, diesen Schritt nicht gehen wollen. Wenn wir die Mobilisierung jedoch vorantreiben und den Kampf zuspitzen wollen, so müssen wir die Unterstützung von Boric damit verbinden, seinen AnhängerInnen zu helfen, über die Begrenzungen seiner Politik hinauszugehen. Dabei ist es notwendig, an die durchaus bedeutenden Versprechungen des Kandidaten anzuknüpfen wie z. B. ein einheitliches und öffentliches Gesundheitssystem für alle, eine solidarische Altersversorgung,  Steuererhöhungen für Reiche und Unternehmen und Anerkennung der indigenen Völker und ein Dialog mit ihnen sowie Abschaltung aller Kohlekraftwerke bis zum Ende seiner Regierungszeit.

Wir rufen daher zur kritischen Wahlunterstützung von Boric ohne Illusionen auf und verbinden diese mit der Notwendigkeit, die Protestbewegung fortzusetzen und  eine organisierte Opposition zur bestehenden Ordnung voranzutreiben. Wir fordern ihn, die KP und die „Frente Amplio“ auf, mit der Bourgeoisie zu brechen und eine Regierung der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen zu bilden, die sich auf die Mobilisierung der Massen stützt, auf Stadtteil- und Betriebskomitees und diese zu Räten in Stadt und Land ausbaut; auf eine Mobilisierung, die die Konterrevolution entwaffnet und die ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen bewaffnet, die die einfachen SoldatInnen auffordert, mit den OffizierInnen zu brechen und SoldatInnenräte zu bilden. Eine solche Regierung müsste zugleich, drastische Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Wahlversprechen und zur Enteignung des chilenischen und ausländischen Großkapitals und Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft ergreifen.

Auch wenn Boric, die KP und die Frente diese radikalen, antikapitalistischen Schritte hin zu einer sozialistischen, revolutionären Umwälzung nicht gehen wollen, so können und sollen diese Forderungen helfen, die ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen davon zu überzeugen. Doch das wird nur möglich sein, wenn RevolutionärInnen bereit sind, diese im Kampf gegen Kast zu unterstützen.

Absentismus ist nicht revolutionär!

In diesem Zusammenhang müssen wir uns damit beschäftigen, welche Antworten andere Linke in Chile geben. Sicherlich ist es verständlich, dass viele der aktivsten Beteiligten an den wieder aufgenommenen Protesten keine Hoffnung in Boric setzen und ihn wegen seiner Teilnahme an dem „Befriedungsabkommen“ als „Verräter“ betrachten. Revolutionäre Politik kann sich aber nicht an verständlichen Abneigungen orientieren, sondern muss sich nach den Notwendigkeiten in der gegebenen Situation ausrichten. Und die aktuelle Lage ist dadurch geprägt, dass in dieser entscheidenden Zuspitzung eben kein/e KandidatIn der Protestbewegung mit einem Programm zur revolutionären Lösung der Krise zur Wahl steht – und gleichzeitig ein in der ArbeiterInnen- und sozialen Bewegung stark verankerter Kandidat sehr viel Unterstützung gerade von dieser Seite erhält. Wir mögen dies zur Illusion erklären und vor seiner wahrscheinlichen zukünftigen Politik warnen. Aber dies kann kein Argument sein, in der aktuellen Klassenkonfrontation, die die Wahl auch darstellt, nicht eindeutig Stellung zu beziehen. Wer nicht bereit ist, Boric und die Massenbewegung auch an der Wahlurne gegen die Reaktion zu unterstützen, weigert sich nur, die ArbeiterInnenklasse in dieser gesellschaftlichen Großkonfrontation zu stärken, und trägt somit letztlich nur dazu bei, die Chancen von Kast zu verbessern. Wer mit einer Wahlenthaltung zu einem Sieg von Kast beiträgt, wird zu Recht bei den enttäuschten ArbeiterInnen, Frauen, Jugendlichen, Indigenen und Bauern/Bäuerinnen, die Boric gewählt haben, kein besonders gutes Gehör für die notwendige Fortsetzung des Kampfes gegen rechts und für soziale Veränderung finden. Im Gegenteil ist die Gefahr der Demoralisierung groß, wenn dann die reformistische Linke wie in Brasilien ihre AnhängerInnen um Volkfrontprojekte „gegen rechts“ versammelt.

Von daher halten wir die Wahlposition der „Partido de Trabajadores Revolucionarios“ (PTR, chilenische Sektion der Fracción Trotskista – Cuarta Internacional) für falsch. In mehreren Deklarationen zur Stichwahl gibt sie als Slogan zur Wahl aus: „Kast und die Rechte besiegen, aber ohne Illusionen in Boric und sein Projekt“ (z. B.: https://www.laizquierdadiario.cl/A-derrotar-a-Kast-y-la-derecha-sin-confiar-en-Boric-ni-en-su-proyecto). Die berechtigte Kritik an Boric und seiner Rolle im „Befriedungsabkommen“ sowie an seinem halbherzigen Programm verbindet sie nicht mit der Taktik der kritischen Wahlunterstützung – wie wir sie auf Basis der Methode von Lenin und Trotzki oben entwickelt haben. Während sie richtigerweise betont, dass nur unabhängige Mobilisierungen der Klasse den Kampf gegen rechts und für soziale Veränderungen voranbringen können, tut sie so, als ob der Ausgang der Wahl und die Tatsache der massenhaften Illusionen in Boric dafür völlig unerheblich wären.  Sie rettet sich dann in die widersprüchliche und schwammige Formel:  „Wir organisieren diesen Kampf mit den Genossinnen und Genossen, die im Bewusstsein dessen, was Boric repräsentiert, kritisch für ihn stimmen werden, sowie mit denjenigen, die der Rechten entgegentreten wollen und nicht wählen werden, weil sie der Meinung sind, dass Boric nicht die Forderungen des Oktobers vertritt“. D. h., sie selber ruft nicht zur Wahl von Boric auf (also tritt wohl für Wahlenthaltung ein), „toleriert“ aber die Wahl von Boric, sofern sie kritisch „im Bewusstsein dessen, was Boric repräsentiert“, erfolgt.

Wenn Boric so ein Verräter sein soll, dass sich kritische Wahlunterstützung verbietet, warum arbeitet man dann gerade mit denjenigen zusammen, die genau wissen, was Boric repräsentiert – und nicht z. B. mit den tausenden, die tatsächlich Illusionen in Boric hegen, aber die richtigen Forderungen, die er auch verficht, tatsächlich umgesetzt sehen wollen? Wird die PTR bei den Mobilisierungen jetzt in Zukunft überprüfen, ob nur Menschen, die wissen, was Boric und seine politische Strömung repräsentieren, teilnehmen? ArbeiterInnen, die von Boric, den Gewerkschaftsführungen, der KP etc. erwarten, dass sie ein staatliches Gesundheits- und Rentensystem auf sozialer Grundlage einführen und die gewerkschaftsfeindlichen Arbeitsgesetze abschaffen, werden in großer Zahl nicht einfach durch Aufklärung oder Schulung oder „vollkommen unabhängige Mobilisierung“ lernen, dass dies keine dafür geeignete Führung ist.

Wir müssen  den ArbeiterInnen im Kampf helfen, die Schranken der reformistischen Führung zu erkennen. Das bedeutet nicht nur, vor dieser Politik zu warnen, sondern auch, die Mobilisierung und Konfrontation zuzuspitzen, um den ArbeiterInnen in organisierter Form zu ermöglichen, über die Politik von Boric hinauszugehen und daraus eine alternative, revolutionäre Führung mit Verankerung in den Massen aufzubauen. Bei der Wahlauseinandersetzung im Abseits zu stehen, vor allem vor Illusionen in den reformistischen Kandidaten Boric zu warnen und die kleine, radikale Minderheit zum unabhängigen Kampf gegen die Gefahr von rechts „jenseits des Wahlspektakels“ aufzurufen – das ist pseudorevolutionäre Pose, die in Wirklichkeit einem Fernbleiben von der realen Konfrontation bei den Wahlen, einer Verweigerung des Kampfes gegen die Reaktion gleichkommt. Wer die „Kritik“ am Reformismus und das Beschwören der „unabhängigen Mobilisierung der Klasse“ als Begründung zur Wahlenthaltung heranzieht, weigert sich nur, die Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen den  Kandidaten von  vereinigter Bourgeoisie und Reaktion zu unterstützen. Die Überwindung der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse ist auf dieser Basis unmöglich.




Das Ende des chilenischen Modells?

Markus Lehner, Neue Internationale 260, November 2021

Viele Jahrzehnte war Chile eines der Lieblingsländer von Wallstreet & Co. Das Land galt als Modell für den „Weg nach oben“ im Sinne des Neoliberalismus. Natürlich konnte schlecht bestritten werden, dass am Beginn dieser Erfolgsgeschichte die „unschöne“ brutale Militärdiktatur des Pinochet-Regimes mit seinen Toten und Folteropfern stand, aber nach der „Transition“ zu angeblich demokratischen Verhältnissen sei es zu einem Vorbild für den globalen Süden geworden.

Erfolg für wen?

Erfolgreich war die „Transition“ tatsächlich nur für die Reichen und globalen Konzerne, während die soziale Ungleichheit enorm zunahm. Die „Reformen“ der Militärdiktatur hatten praktisch alles nur Mögliche privatisiert. Die „Transition“ brachte zwar gewisse soziale Rechte zurück, aber die Gewerkschaften blieben in ein strenges Reglement eingespannt und konnten insbesondere im privaten Bereich kaum wirkungsvoll für Einkommenssteigerungen der arbeitenden Massen auftreten.

Auch die mit dem Gewerkschaftsverband CUT verbundenen Parteien (Sozial- und ChristdemokratInnen, KommunistInnen) brachten in den Jahren, als sie an der Regierung beteiligt waren, wenig Änderung. Allenfalls wurden die schlimmsten Folgen des Neoliberalismus abgefedert wie etwa durch Anhebungen von Mindest- und Soziallöhnen. So kommt es, dass im Paradies der Wallstreet heute der Monatsdurchschnittslohn eine/r ArbeiterIn bei 530 US-Dollar liegt.

Massenproteste

Als im Oktober 2019 die Ticketpreise für die Metro in Santiago um fast 4 % erhöht werden sollten, kam es in Folge zu einem regelrechten Aufstand. Mit Verzögerungen schlossen sich auch die Gewerkschaften mit Arbeitsniederlegungen an – und drohten gar mit Generalstreik.

Das Ziel der Massenbewegung war schnell klar: das Ende des „chilenischen Modells“! Dieser Wunsch wurde auch noch durch die Reaktion der Herrschenden bestärkt, die einen Polizeieinsatz befahlen, der an die schlimmen Zeiten der Diktatur erinnerte. Insbesondere die Übergriffe gegen Frauen und Indigene führten zu einem Zusammengehen der schon vorher starken Frauen- mit der sozialen Bewegung, aber auch mit den Protesten gegen den Rassismus gegen Indigene. Der Ruf nach dem Rücktritt von Piñera war so stark, dass die Kommunistische Partei und die mit ihr verbündete Frente Amplio (Breite Front von Linksparteien; FA) zunächst die Aufforderung der Regierung zu Verhandlungen ausschlugen.

Während sich ArbeiterInnen, Frauen, Indigene, kommunale AktivistInnen immer mehr in selbstorganisierten Strukturen vernetzt hatten und auf den Sturz der Regierung hinarbeiteten, fanden die reformistischen BürokratInnen einen anderen Ausweg – die Einleitung der Erarbeitung einer neuen Verfassung, die die noch von Pinochet verantwortete und in der Transition kaum veränderte ablösen sollte. Auch wenn die Einleitung eines verfassunggebenden Prozesses mit demokratischen Vorgaben für die Wahl und Durchführung einer Konstituante von großen Teilen der Bewegung als Erfolg gefeiert wurde, blieb die Regierung damit an der Macht und konnte ihre Krisenpolitik weiter durchziehen und zusätzlich noch den Verfassungsprozess so gut wie möglich beschneiden.

Damit war auch klar, dass letztlich die Proteste weitergehen würden. Ihr Wunsch nach einer Kehrtwende weg von einem privatisierten Gesundheits-, Renten-, Erziehungssystem etc. war mit dem Versprechen einer neuen Verfassung in keiner Weise garantiert. Die reformistischen Organisationen versprachen, diese Reformen mit Hilfe der Wahlurne umzusetzen – im „Superwahljahr“ 2021. In diesem Jahr fanden nicht nur die Wahlen zur Konstituante (im Mai) und zu den Provinzregierungen statt, sondern steigt im November die erste Runde der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Die eigentliche Entscheidung werden die Stichwahlen im Dezember bringen, da für beide Wahlen 50 % der gültigen Stimmen nötig sind, um die Präsidentschaft oder ein Abgeordnetenmandat zu erringen.

Wahlen

Die geschwundenen Illusionen darüber, was im Wahltheater und in einem jahrelangen Verfassungsprozess tatsächlich zu erreichen ist, drückten sich bereits in der geringen Wahlbeteiligung zur verfassunggebenden Versammlung aus (37 %) – im Jahr zuvor bei der Abstimmung über die Einberufung beteiligte sich noch über die Hälfte der ChilenInnen. Allerdings wurde der Plan der Herrschenden durchkreuzt, durch den Listenzwang etablierten Parteien wieder eine Mehrheit zu verschaffen. Die traditionell herrschenden Kräfte (die Konservativ-Liberalen Piñeras und die „Konzentration“ von Sozialistischer und Christdemokratischer Partei) fielen beide unter vernichtende 20 %.  Nur die FA konnte ein nennenswertes Ergebnis erzielen, während Listenverbindungen unabhängiger BasiskandidatInnen große Erfolge aufwiesen. Die FA errang außerdem auch bei den Gouverneurswahlen wichtige Erfolge, z. B. mit dem Gewinn einer ihrer FrauenaktivistInnen in Santiago.

Mit Gabriel Boric liegt auch für die Präsidentschaftswahlen momentan der Kandidat der FA in den meisten Umfragen in Führung. Der 35-Jährige war selbst einer der führenden Köpfe der StundentInnenrevolte 2011 und später Frontfigur in verschiedenen unabhängigen linken Organisationen, die im Umfeld der KP standen und zum Kern der FA wurden. Obwohl Boric am besagten Abkommen mit Piñera beteiligt war, wird er vom Zentralorgan des globalen Liberalismus, dem britischen „Economist“, in dessen Ausgabe vom 30. Oktober als „gefährlicher Radikaler“ gekennzeichnet. Angeprangert wird vor allem, dass die Linke in der neuen Verfassung Strafen gegen die Glorifizierung der Militärdiktatur bzw. für Verharmlosungen von deren Folterregime fordert. Dies wird als Beginn einer „Unterdrückung der Meinungsfreiheit“ gesehen.

Ebenso bedenklich findet der Economist, dass die Verfassung auch gegen die Stimmen der bisher herrschenden Parteien durchgesetzt werden solle – natürlich ein schlimmer „antidemokratischer“ Akt: Die liberale Bourgeoisie betrachtet es offenkundig schon als antidemokratisch, wenn sie überstimmt wird (und die Liberalen in der chilenischen Konstituante vereinen weniger als ein Drittel der Mandate). An die Wand gemalt werden natürlich die schlimmen Folgen von ökologischen Auflagen für den Bergbau und die Ankündigungen von Wiederverstaatlichung, die Boric wie auch die Linke in der Konstituante äußern. Das Wahlprogramm der FA konzentriert sich tatsächlich auf solche Punkte wie die Wiedereinführung eines staatlichen Gesundheitssystems. Boric will z. B. ein System ähnlich dem NHS in Britannien in Chile einführen.

Ende des Neoliberalismus?

Nun sind einige dieser Programmpunkte sicherlich auch wichtige Forderungen der Protestbewegungen. Aber wäre bei einem Wahlsieg von Boric tatsächlich mit dem Ende des „Neoliberalismus“ in Chile zu rechnen?

Dem stehen mehrere Hindernisse entgegen. Die FA-Spitzen wollen im Parlament, in der Konstituante und auch in den Gewerkschaften weiterhin mit Teilen des Establishments, vor allem aus der „Konzentration“ (Sozialdemokratie, Christdemokratie), zusammenarbeiten. Sie und die „unabhängigen Linken“ in der Konstituante sind ihrerseits nicht wirklich zu einem entscheidenden Bruch mit dem bisherigen System bereit.

Dabei erweist sich die Behauptung, erstmal ginge es „nur“ um ein Ende des Neoliberalismus, als hochproblematisch. Sie geht nämlich von der falschen Vorstellung aus, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen speziell der krisenhaften Entwicklung in Lateinamerika eine andere, „menschlichere“ Form von Kapitalismus in Chile geben könnte und diese dauerhaft von der herrschenden Klasse akzeptiert würde. Eine Infragestellung der wichtigen Rolle Chiles in den internationalen Produktionsketten wird schnell zu einer Konfrontation mit den mächtigen Kapitalien im In- und Ausland führen. Auch eine von Boric geführte Regierung müsste sich entweder schnell mit dem internationalen Kapital arrangieren (mit ein paar sozialen Regulierungen im Gesundheitssystem als Brosamen) – oder zu einer radikalen Konfrontation mit dem Kapital gezwungen sein.

Was letztere betrifft, ist die weitere Entwicklung und Verstärkung der sozialen Proteste von entscheidender Bedeutung. Nachdem einige der mit Corona begründeten Einschränkungen jetzt im Oktober gelockert worden waren, hat sich diese Bewegung wieder in ihrer vollen Radikalität gezeigt. Gerade zum Jahrestag des 2019er Protestes kam es wieder zu Straßenschlachten, bei denen die Hauptlosung laut „Economist“ die Forderung nach dem Ende des Kapitalismus war. Einmal mehr ging die Polizei mit aller Härte vor und es kam landesweit zu 3 Todesopfern. Natürlich benutzen die bürgerliche Presse und ihre FreundInnen im liberalen Ausland die Zuspitzung auf der Straße, um vor der „Anarchie“ und der „Zertrümmerung“ der ökonomischen Sicherheit zu warnen, sollte Boric die Wahlen gewinnen.

Zuspitzung

Bezeichnend auch, was sich dann im bürgerlichen Lager getan hat: War lange Zeit der „gemäßigte“ Liberale Sebastián Sichel der Piñera-Gruppierung der Wunschkandidat der Bourgeoisie, so rückte jetzt der Pinochetfan José Kast in den Vordergrund. In einigen Medien wird bereits behauptet, er würde Boric in den Umfragen überholen. Das Projekt Kast setzt ganz auf die Law-and-Order-Schiene, die Abwendung der drohenden „Anarchie“ – daneben verkündet Kast den Bau von Grenzbefestigungen gegen die „Migrationsflut“, die angeblich den chilenischen Wohlstand bedroht, wie auch entschiedene Maßnahmen gegen „kriminelle“ Mapuche.

Dies zeigt, dass die krisenhafte Entwicklung in Lateinamerika nun auch in Chile wie zuvor in Brasilien zur Konfrontation zwischen der Linken und einer Bourgeoisie führt, die nicht mehr davor zurückschreckt, solche Clowns und Rassisten wie Bolsonaro oder Kast als ihre „Retter“ aufs Schild zu heben, so wie es Marx schon am Aufstieg des Louis Bonaparte beschrieben hatte.

Eine politische Zuspitzung ist in der kommenden Periode daher unvermeidlich. Programm und Strategie der KP und FA bilden dabei jedoch selbst ein zentrales Problem für die Lösung der Krise im Interesse der Lohnabhängigen, der Bauern/Bäuerinnen und Unterdrückten. Warum? Weil sich ihre Volksfrontpolitik, also das Verfolgen eines Regierungsbündnisses mit den gemäßigten Teilen der herrschenden Klasse, wie schon unter Allende als Fessel für den heroischen Kampf der chilenischen Massen erweisen wird müssen. Andererseits stützen sich KP und FA auf die Gefolgschaft von Millionen und feste Stützen in den Gewerkschaften. Daher werden weit über eine Million Lohnabhängige und AktivistInnen der sozialen Bewegungen diesen Parteien ihre Stimme geben, um so die verschiedenen Fraktionen des chilenischen und internationalen Kapitals zu schlagen.

Taktik

Es ist die Aufgabe von RevolutionärInnen, diesen Prozess zu vertiefen und zuzuspitzen. Zur Zeit gibt es in Chile keine alternative, revolutionäre Partei der Klasse, auch wenn verschiedene linke Organisationen in Teilbereichen über eine gewisse Verankerung verfügen. Dazu zählt sicherlich auch die PTR („Revolutionäre ArbeiterInnenpartei“, chilenische Sektion der „Trotzkistischen Fraktion“). Mit ihren wenigen Kräften trat sie im Mai bei den Wahlen zur Konstituante an und erzielte 50.000 Stimmen – sicherlich ein achtbares Ergebnis, aber mit 0,8 % weit von einem signifikanten Einfluss in der Klasse entfernt. Für die kommenden Wahlen ging die PTR ein Wahlbündnis mit anderen linken Kleingruppen ein, die „Front für ArbeiterInneneinheit“.

Sehr wahrscheinlich wird diese Kandidatur angesichts der Konfrontation von FA und der Rechten kein sehr viel besseres Ergebnis als die PTR für die Konstituante erzielen. Hinzu kommt, dass das Programm dieses Wahlblocks zwar korrekte Kritik an der FA und ihrem Verrat mit dem „Abkommen“ enthält, selbst aber kein revolutionäres, antikapitalistisches Aktionsprogramm aufstellt. Es enthält zwar richtige Forderungen nach Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle, es fehlt jedoch das Aufzeigen der notwendigen Mittel zu ihrer Durchsetzung wie die Frage des Kampfes um eine ArbeiterInnenregierung, des Bruches mit dem bürgerlichen Staat und der Errichtung der Räteherrschaft der ArbeiterInnenklasse. Die Kandidatur stellt somit auch auf programmatischer Ebene keine revolutionäre, sondern bloß eine zentristische, zwischen Reform und Revolution schwankende, Alternative dar.

Kritische Unterstützung für Boric!

Vor allem aber beantwortet die Kandidatur eines Bündnisses kleiner linker Gruppierungen nicht die Frage, welche Haltung RevolutionärInnen in der Konfrontation zwischen Boric und den offen bürgerlichen KandidatInnen bei den Präsidentschaftswahlen einnehmen sollen bzw. zwischen denen der FA/KP und den offen bürgerlichen Kräften bei den Parlamentswahlen.

Die aktuelle zugespitzte Situation erfordert, in dieser Konfrontation zur Wahl von Boric und der FA/KP aufzurufen. RevolutionärInnen müssen deutlich machen, dass sie diese gegen den unvermeidlichen Angriff der herrschenden Klasse und direkt konterrevolutionärer Kräfte verteidigen. Zugleich müssen sie von der FA/KP fordern, mit den offen bürgerlichen Kräften – konkret jenen der  „Konzentration“ zu brechen.

Dies ist umso wichtiger, als ein großer Teil der organisierten ArbeiterInnenklasse, der sozial Unterdrückten und selbst der AktivistInnen der Protestbewegung weiterhin der Führung reformistischer Organisationen folgt. Das betrifft vor allem die Kernschichten der Lohnabhängigen. Trotz „Neoliberalismus“ hat sich in Chile der „informelle Sektor“ (deregulierte Beschäftigungsbedingungen) nur auf unter 30 % belaufen, während er im Rest des Kontinents auf über 60 % gestiegen ist. In Chile hat sich das Bruttosozialprodukt von 1990 bis 2015 verdreifacht. Auch wenn, wie anfangs ausgeführt, für die Masse der Bevölkerung dabei nur Brosamen abfielen, so hat sich doch eine besser bezahlte mittlere Schicht von ArbeiterInnen herausgebildet, die auch stark in den Gewerkschaften vertreten ist und für die reformistischen Parteien (KP und SP) eine feste soziale Basis darstellt. Sicher ist auch, dass ohne den Gewinn dieser Schichten und der Gewerkschaften keine wirkliche Umwälzung in Chile möglich sein wird.

Gerade die Krise der letzten Jahre hat auch viele dieser besser bezahlten ArbeiterInnen getroffen und zwingt sie zu einer politischen Neuorientierung. Die politische Stärkung der FA gegenüber der „Konzentration“ ist ohne diese Entwicklung gar nicht zu erklären – natürlich ebenso wie der Aufstieg Kasts durch die sich bedroht fühlenden Mittelschichten.

Ein Wahlaufruf für Boric bedeutet nicht, die Kritik an seinem Programm und seiner Rolle beim „Abkommen“ zurückzustellen. Aber er bedeutet, dass man den Millionen ArbeiterInnen und sozial Unterdrückten, die für ihn stimmen wollen, erstens sagt, dass es uns nicht egal ist, ob Boric oder Kast (oder ein anderer bürgerlicher Kandidat) siegt. Vielmehr geht es darum, Boric zu helfen, sie zu besiegen.

Mobilisierung

Gleichzeitig gilt es, deutlich zu machen, den Kampf für die Forderungen von Boric tatsächlich auf der Straße fortzuführen. Schon jene nach einem frei zugänglichen Gesundheitswesen für alle oder Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle werden sich nur durch Massenmobilisierungen erzwingen lassen. Diese würden zugleich eine Grundlage für die Bildung von Aktionsräten in den Betrieben und Kommunen schaffen. Diese Konfrontation mit dem Kapital würde die Frage aufwerfen, welche Klasse herrscht – und damit die Bildung einer ArbeiterInnenregierung auf die Tagesordnung setzten, die zur Enteignung der Bourgeoisie und der Zerschlagung ihres Staates schreitet. Dies wäre eine Taktik, mit der tatsächlich sowohl die Masse der Protestbewegung wie auch die kämpferischen Teile von Gewerkschaften und AnhängerInnen der reformistischen Parteien für ein revolutionäres Projekt gewonnen werden könnten. Die Kräfte der sozialen Revolution in Chile sind dabei, sich herauszubilden – es kommt jetzt darauf an, dass auch eine politische Führung entsteht, die diese zum Sieg über den chilenischen Kapitalismus führt.




Chile: Massenbewegung erzwingt Verfassungskonvent

Chris Clough, Infomail 1125, 10. November 2020

Im vergangenen Jahr haben die Massen in Chile einen heroischen Kampf gegen die herrschende Klasse geführt und sie gezwungen, demokratische und wirtschaftliche Reformen zu gewähren, um die Bewegung zu besänftigen. Ein Jahr später, am 19. Oktober, kehrte das chilenische Volk auf die Straße zurück, um den Eliten zu zeigen, dass die Bewegung weitergeht. Dann, am 25. Oktober, stimmte die Bevölkerung in einem von der Regierung zugestandenen Referendum mit überwältigender Mehrheit für die Neufassung der alten Verfassung durch die Einsetzung eines Verfassungskonvents mit 155 BürgerInnen. Bei einer Wahlbeteiligung von 90 % stimmten fast 80 % für die Abschaffung der alten Verfassung von 1980, die von Chiles brutalem Diktator Augusto Pinochet eingeführt worden war.

2019: Als Chile „aufwachte“

Vor etwas mehr als einem Jahr pries die chilenische herrschende Klasse die Nation als einen Leuchtturm der Stabilität und des Erfolgs an, da sie pro Kopf das reichste Land Südamerikas ist. Aber das war nicht das Chile, das die große Mehrheit der einfachen Menschen erlebte. Chile ist die ungleichste Nation Südamerikas mit mehr als einem Drittel der Menschen, die in Städten leben, die unter extremer Armut leiden.

Ein kleiner Anstieg der U-Bahn-Tarife genügte, um das Pulverfass zu entzünden und das Land 2019 in wochenlangen Unruhen mit Riesendemonstrationen, zunehmenden Streiks und täglichen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften zu überfluten. Chile erlebte einige seiner größten Demonstrationen aller Zeiten, und eine Streikbewegung von Berg- und  HafenarbeiterInnen, LKW- und BusfahrerInnen nötigte die GewerkschaftsführerInnen zu Generalstreiks, die die zuvor unnachgiebige Regierung dazu zwangen, verzweifelt Reformen zur Rettung ihrer Verwaltung anzubieten.

Bevor die Regierung Reformen einräumte, hatte sie versucht, die Bewegung zu unterdrücken und zu besiegen. Sie setzte die Polizei in großer Zahl ein und entfesselte die verhassten nationalen Sicherheitskräfte, die Carabineros, um die DemonstrantInnen zu terrorisieren. Schließlich schickte sie sogar zum ersten Mal seit der Diktatur das Militär auf die Straße. Das Ergebnis waren 30 Tote, Hunderte von Erblindeten und Schwerverletzten und Tausende von Verhafteten, von denen 2.500 sechs Monate später immer noch im Gefängnis sitzen würden.

Selbst diese Repression brachte die Massen nicht zum Schweigen, die Demonstrationen wurden zunehmend militanter. Die Protestierenden setzten einfallsreiche Methoden zur Bekämpfung der militarisierten Bereitschaftspolizei ein, wie z. B. den massenhaften Einsatz von Laserpointern, um den Einsatz von Sturmhelmen, gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern zu verhindern. Noch bedeutsamer war, dass die wachsende Streikwelle und, parallel dazu, die Anfänge einer populären ArbeiterInnendemokratie, die sich in Basisversammlungen zur Koordinierung der Bewegung formierte, die Regierung in Panik versetzten und sie zwangen, zu akzeptieren, dass die Bewegung nicht unterdrückt werden konnte.

Als nächstes bot die rechte Regierung des Milliardärs Sebastián Piñera wichtige Wirtschaftsreformen an, darunter eine Erhöhung der Löhne, der Steuern für Reiche und eine Anhebung der miserabel niedrigen Renten. Doch auch das reichte nicht aus: Der Generalstreik eskalierte und forderte den Sturz der Regierung. Schließlich schlossen sich die herrschende Klasse und die politischen Parteien (einschließlich der wichtigsten Parteien, die behaupten, die ArbeiterInnenklasse zu vertreten, wie Frente Amplio [Breite Front] und die Kommunistische Partei) zusammen und boten einen Ausweg an, indem sie versuchten, die Bewegung auf die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung zur Neuerarbeitung der Verfassung zu beschränken.

Nach diesen Zugeständnissen und nach wochenlanger Repression gingen die Demonstrationen weiter, allerdings in geringerem Umfang. Als die Pandemie zuschlug, verstummte die Bewegung weitgehend. Die herrschende Klasse atmete zweifellos zögerlich auf. Doch diese Atempause war nur von kurzer Dauer, da die Pandemie in die Wirtschaftskrise mündete und gleichzeitig die Ungleichheiten und Unzulänglichkeiten des Gesundheitswesens und des Kapitalismus im Allgemeinen aufdeckte, wodurch sich die Bedingungen, die die anfängliche Rebellion ausgelöst hatten, noch verschärften.

Über die verfassunggebende Versammlung hinaus

In einem Land mit 19 Millionen EinwohnerInnen hat das Coronavirus 18.000 Menschen getötet, darunter über 3.500, die keine medizinische Behandlung erhielten. Daneben hat die Armut ein seit der wirtschaftlichen Depression Anfang der 1980er Jahre nicht mehr gekanntes Niveau erreicht, und rund ein Drittel der Bevölkerung ist arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es überrascht daher nicht, dass Streiks und Proteste, auch von der indigenen Mapuche-Bevölkerung, in den letzten Monaten wieder zugenommen haben. Die Regierung versuchte, diese zu zerschlagen, unterstützt durch repressive Gesetze (z. B. die Mobilisierung des Militärs ohne Verhängung des Kriegsrechts), die sie in den dazwischen liegenden Monaten mit Unterstützung politischer Parteien, darunter Frente Amplio, vorbereitet hatte. Doch dies, einschließlich der vielfach publik gemachten krankenhausreifen „Behandlung“ des 16-jährigen Anthony Araya durch die Polizei, hat das Feuer nur noch weiter angefacht, was zu der massiven Beteiligung an der Demonstration am 19. Oktober führte.

Die Fortführung der Bewegung, sowohl auf den Straßen als auch in den Betrieben, an Schulen und Universitäten, ist unabdingbar, wenn sie eine dauerhafte Veränderung bewirken soll. Der Sieg des Referendums über die Einsetzung eines Verfassungskonvents ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, der die herrschenden Klasse zwingt, ein großes demokratisches Zugeständnis zu machen. Alleine stellt er jedoch eine Sackgasse dar. Der Prozess ist voller Fallstricke und Hindernisse, die seine Wirksamkeit, den Willen des Volkes wirklich zu repräsentieren, dämpfen sollen. Er basiert auf demselben undemokratischen Wahlprozess wie die Parlamentswahlen. Es handelt sich um einen langsamen Prozess (der bereits verschoben wurde), der sich frühestens bis 2022 in die Länge ziehen soll, aber, was noch wichtiger ist, er ist gefesselt von einer Politik, die nur Entscheidungen mit 2/3-Mehrheit zulässt, eine Regel, die seinen Radikalismus abstumpfen wird.

Noch grundlegender ist, dass selbst ein so demokratisches Gremium wie ein verfassungsgebender Konvent oder eine solche Versammlung innerhalb der Grenzen des undemokratischen kapitalistischen Systems existiert. Ein System, das von einer winzigen Gruppe Reicher dominiert wird (die obersten 1 % besitzen 26 % des Reichtums), die durch ihre Ausbeutung der Bevölkerung über den gesamten Besitzstand und die wirtschaftliche Macht der Gesellschaft verfügen und diese genutzt haben, um einen mächtigen Staat aufzubauen, der ihren Interessen dient und ihren Willen durch eine brutale Polizei und militärische Hierarchie durchsetzt.

SozialistInnen sollten sich auf jeden Fall für eine möglichst radikale neue Verfassung einsetzen und für die Anerkennung der Rechte der indigenen Völker, die entschädigungslose Enteignung der Großindustrie, Landbesitzrechte derer, die den Boden bewirtschaften, und die Auflösung der Polizei und ihre Ersetzung durch demokratische Milizen, die aus Werktätigen bestehen, kämpfen. Aber jede Illusion, dass eine Konvention diese Forderungen durchsetzen kann, geschweige denn zu erwarten, dass eine kapitalistische Regierung sie umsetzt, wäre ein tödlicher Fehler.

Jeder Versuch, solch radikale Maßnahmen durchzusetzen, wird von der herrschenden Klasse und ihrem Staat mit Sabotage und schließlich mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die überwältigende Lehre aus den Erfahrungen der 1970er Jahre in Chile. Damals wurde Salvador Allende, ein selbsternannter Marxist, zum Präsidenten des Landes gewählt, und dennoch wurde seine gesamte Verwaltung von der herrschenden Klasse Chiles, unterstützt von ihren imperialistischen HerrInnen im Ausland, angegriffen, gestört und sabotiert. Als es nicht gelang, die Bewegung zu zerschlagen, unterstützten sie einen Putsch unter Führung des brutalen Generals Pinochet (Allendes eigener Verteidigungsminister), der die Revolution in Blut ertränkte.

Die Lehren aus der Vergangenheit dürfen nicht vergessen werden. Der Verfassungskonvent kann eine Plattform bieten, um Ideen, wie das neue Chile aussehen sollte, zu popularisieren, aber der einzige Weg, die notwendigen Veränderungen vorzunehmen, um der Mehrheit der Menschen in Chile ein würdiges Leben zu ermöglichen, ist letztlich eine Revolution. Dazu ist es notwendig, vor den Gefahren zu warnen, die mit dem Vertrauen in den demokratischen guten Willen der herrschenden Klasse verbunden sind. Stattdessen muss unter den Massen eine eigenständige und gegen den Kapitalismus  gerichtete Demokratie aufgebaut werden, wie sie sich während der Proteste im vergangenen Jahr herausgebildet hat.

Diese Demokratie, die sich aus Massenversammlungen der ArbeiterInnenklasse, der Armen und der einfachen SoldatInnen zusammensetzt und in den Arbeitsplätzen, Schulen und Stadtvierteln verwurzelt ist, kann als eigenständiger Machtpol fungieren, der um die Herrschaft kämpft, die Bewegung auf die Werktätigen anderer Länder ausdehnt und die notwendigen Veränderungen herbeiführt, um den Kapitalismus und seine unvermeidlichen Symptome von Armut, Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden.




Chile – „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre!“

Chris Clough, Infomail 1076, 6. November 2019

Chile schließt
sich einer wachsenden Liste von Ländern an, die derzeit eine Massenrevolte für
eine bessere Welt erleben, frei von Korruption, Armut und Sparpolitik. Dazu gehören
derzeit Ecuador, Libanon, Hongkong, Sudan, Irak und Chile.

Wie kam es zu
den Protesten?

Chile hat
inzwischen wochenlang Unruhen, Proteste und Massenstreiks gegen die Regierung
des Milliardärs Sebastián Piñera erlebt. Die Demonstrationen begannen als
Reaktion auf eine Fahrpreiserhöhung in der U-Bahn von Santiago um 30 Pesos (ca.
4 Cent) für einfache Fahrten.

Chile ist die Nation
unter den OECD-Staaten, in denen die Schere zwischen Arm und Reich am weitesten
auseinanderklafft. 36 Prozent der städtischen Bevölkerung leben in extremer
Armut. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt inzwischen 26,5 Prozent des
gesamten chilenischen Bruttoinlandsprodukts. Chile hat zehn MilliardärInnen auf
der Forbes-Liste, mit einem Gesamtvermögen von rund 40 Milliarden US-Dollar,
was etwa 16 Prozent des BIP entspricht. Unterdessen können es sich 50 Prozent
der Menschen nicht leisten, in die privatisierten Rentenfonds einzuzahlen und
erleiden so im hohen Lebensalter großen Mangel. Junge Menschen erleiden lange
Zeiträume der Arbeitslosigkeit und 30 Prozent ihrer Arbeitsplätze sind
befristet.

Die derzeitigen
HerrscherInnen Chiles und ihre imperialistischen UnterstützerInnen hatten kein
Verständnis für die Unzufriedenheit, die unter der Oberfläche brodelte. Nur
eine Woche vor dem Ausbruch der Demonstrationen hatte die „Financial Times“
einen Artikel veröffentlicht, in dem Chile als „Leuchtturm der Stabilität und
des guten Managements“ bezeichnet wurde. Piñera selbst erklärte, dass
Chile im Verhältnis zu anderen lateinamerikanischen Nationen „wie eine Oase
aussieht, weil wir eine stabile Demokratie haben [und] die Wirtschaft wächst“.

Angesichts der
ohnehin schon hohen Lebenshaltungskosten und niedrigen Einkommen war die Erhöhung
der Metrofahrpreise der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die
StudentInnen besetzten die Stationen und öffneten die Ketten an den Einlasssperren,
um den Massen freien Verkehr zu ermöglichen. Als die Polizei mit roher Gewalt
reagierte, verbreitete sich der Widerstand wie ein Lauffeuer im ganzen Land.
Bald gab es Kämpfe mit der Polizei und Gebäude wurden niedergebrannt. Abgeordnete
im Unterhaus des Parlaments verließen ihre Kammer und 20.000 PolizistInnen
wurden aus der ganzen Stadt zusammengezogen, um wichtige Regierungsgebäude zu
verteidigen, während Tausende von DemonstrantInnen die Institutionen der
herrschenden Elite belagerten.

Aber natürlich
ist die Geschichte viel mehr als das. Wie eine populäre Losung der Bewegung
verkündet: „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre!“ Ein Hinweis auf
die Jahrzehnte seit dem Ende der von den USA und Britannien unterstützten
Diktatur, in denen die meisten repressiven Institutionen des Regimes, die
Ergebnisse massiver Privatisierungen und die von ihnen geschaffene
wirtschaftliche Ungleichheit weitgehend unberührt blieben.

Als Reaktion auf
diese Bewegung setzte die Regierung nicht nur die bereits gehassten Carabineros
(dem Verteidigungsministerium unterstellte Nationalpolizei), sondern auch das
Militär erstmals seit dem Ende der verhassten Diktatur von Augusto Pinochet im
März 1990 auf der Straße ein.

Bisher wurden bislang
20 Menschen getötet, 123 Menschen von Armee und Polizei verwundet und über
5.500 verhaftet, wobei schreckliche Berichte über Folter und sexuelle Gewalt über
sie verbreitet wurden. Der Staat erklärte eine Ausgangssperre auf Grundlage von
Gesetzen aus der Verfassung der Diktatur von 1980. Aber nichts davon hat die
Menschen abgeschreckt, die entschlossen sind, ihre Forderungen nach
Gerechtigkeit fortzusetzen.

Die Bewegung
breitete sich am 19. Oktober in den Armenvierteln der Hauptstadt Santiago aus,
wo die Menschen der Ausgangssperre mit Cacerolazos (Schlagen auf Töpfe und
Pfannen) trotzten. Piñera reagierte mit der Erklärung, „wir befinden uns im Krieg
mit einem/r mächtigen FeindIn“ und verteidigte die blutigen Aktionen der
Polizei mit dem Argument, dass „die Demokratie nicht nur das Recht, sondern die
Pflicht hat, sich mit allen Mitteln zu verteidigen“. Ja, Kugeln gegen ein
unbewaffnetes Volk.

Organisierte
ArbeiterInnenklasse

Die organisierte
ArbeiterInnenklasse trat nun in den Kampf ein; Kupferbergleute (die etwa 30
Prozent des weltweiten Kupfers produzieren) marschierten mit dem Ruf nach einem
Generalstreik auf den Lippen aus ihren Betrieben heraus. Sie schlossen sich den
HafenarbeiterInnen an, die über 20 Häfen geschlossen haben; LKW-FahrerInnen,
die die Autobahnen blockiert haben und BusfahrerInnen, die nach der Ermordung
eines/r ihrer KollegInnen durch die Polizei ihre Arbeitsstätte verließen.

Diese Aktionen
bringen die Nation zum Stillstand und lähmen die Fähigkeit der KapitalistInnen,
Profite zu erzielen. Das Vereinigte ArbeiterInnenzentrum (CUT;
Gewerkschaftsdachverband) und der Mesa Social (Sozialausschuss) riefen einen
eintägigen Generalstreik aus, der im ganzen Land stark befolgt wurde. Am 26.
Oktober waren die Straßenproteste die größten in der Geschichte des Landes, da über
eine Million Menschen in die Straßen der Hauptstadt Santiago strömten, etwa 5
Prozent der gesamten Bevölkerung des Landes.

Angesichts einer
Bewegung von solcher Größe war Präsident Piñera gezwungen, seine Meinung zu ändern
und den DemonstrantInnen den Rücktritt aller seiner MinisterInnen, aber nicht
seinen eigenen, anzubieten.

„Der Marsch, den
wir gestern gesehen haben, war ein massiver und friedlicher Marsch. Wir alle
haben die Botschaft gehört. Wir haben uns alle verändert“, erklärte er.

Er sprang beinah
über seinen Schatten, als er eine so genannte Sozialagenda anbot, die eine Erhöhung
des Mindestlohns, zusätzliche Rentenfinanzierung und eine Besteuerung der
Reichen vorsieht. Aber die Reaktion der Massen war klar, Krümel vom Tisch würden
nicht mehr ausreichen, sie kämpfen für grundlegende Veränderungen.

Das ist nicht
verwunderlich, vor allem angesichts der Geschichte Chiles. 1973 wurde die
sozialdemokratische geführte Volksfrontregierung von Salvador Allende in einem
blutigen, von der CIA unterstützten Putsch zur Einsetzung Pinochets gestürzt.
Das Militär begann sofort, die Massenbewegung, die Allende unterstützte,
zusammenzutreiben und zu zerstören.

In den folgenden
Jahren leisteten die berüchtigten neoliberalen Ökonomen, die „Chicago Boys“,
Pionierarbeit mit der so genannten Schockdoktrin, der raschen Privatisierung
von Industrie, Bildung und sogar von Sozialhilfe, der Umkehrung der
fortschreitenden Reformen der Allende‘schen Regierung der Volkseinheit und
sogar derjenigen der ChristdemokratInnen, die Allende vorausgegangen waren.
Diese neue Wirtschaftsdoktrin sollte bald die ganze Welt umspannen, verstärkt
eingesetzt durch PolitikerInnen wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher.

Das Ergebnis ist
ein kapitalistisches System zunehmender Ungleichheit, in dem eine kleine
Minderheit riesige Vermögen auf Kosten von Arbeitsplätzen, Löhnen, kollektiver
Organisation und Menschenrechten angesammelt hat. Chile, das erste Land, an dem
auf diese Weise herumexperimentiert wurde, leidet noch heute unter den Folgen.
Seine herzlose herrschende Klasse hat den Reichtum, den sie durch den Verkauf
der reichen Ressourcen Chiles an multinationale Konzerne in den imperialistischen
Kernländern erzielt hat, gehortet.

Falsche
Strategien

Die größte Kraft
unter den protestierenden Massen ist die Frente Amplio, die 2017 gegründet
wurde. Wie ihr Name, die „breite Front“, vermuten lässt, setzt sie sich
aus vielen kleinen Parteien zusammen, darunter Kräften aus der massenhaften
StudentInnenbewegung 2011 in Chile, aber auch aus der Liberalen Partei, einer bürgerlichen
Partei, die Verbindungen zum rechten Flügel unterhält. Bei den Parlamentswahlen
2017 gewann sie 20 Prozent der Stimmen und 20 von 155 Abgeordneten. Ein so
heterogenes Organ kann eindeutig keine klare Strategie vorantreiben, obwohl es
eine konstituierende Versammlung fordert, um die Überreste der Pinochet-Ära zu
beseitigen.

Unterdessen
forderte die Kommunistische Partei Chiles, obwohl sie den Aufruf zu einem
Generalstreik unterstützte, die ArbeiterInnen auf, aus Angst vor Zusammenstößen
mit der Armee nicht auf die Straße zu gehen. Sie kritisiert die Einladung von
Piñera zum Dialog, aber nur, weil er die Kräfte der Bevölkerung ausschließt.
Sie sieht den Weg nach vorn eindeutig darin, ihn zu weiteren Reformen zu drängen,
anstatt einen umfassenden Kampf einzuleiten, um ihn und mit ihm das gesamte
Post-Pinochet-Regime, das so viel von dem neoliberalen Erbe des Generals bewahrt,
zu Fall zu bringen.

Stattdessen
fordert die KP Reformen: ein neues Rentensystem, angemessene Löhne, die die
Armutsgrenze überschreiten, eine 40-Stunden-Woche, die Beendigung des
Ausnahmezustands und die Untersuchung der Repression, eine konstituierende
Versammlung zur Schaffung eines parlamentarischen Einkammersystems und das
Einfrieren von Reformen der Steuer-, Renten- und Arbeitsgesetze zugunsten der
Reichen. Die chilenische KP beendet die Liste mit den Worten: „Piñera muss
antworten. Er und seine Regierung sind für diese Krise verantwortlich.“

Kurz gesagt, die
KP-FührerInnen wiederholen die katastrophale Politik von vor einem halben
Jahrhundert. Sie streben Reformen innerhalb eines kapitalistischen Systems an,
das noch weniger in der Lage oder bereit ist, diese zu gewähren, außer als vorübergehende
Maßnahmen, um die Massen von der Straße zu holen. Sie sehen nicht, dass Chile
in eine revolutionäre Situation geraten ist, die revolutionäre Maßnahmen und
keine parlamentarischen Reformen erfordert.

Jede Strategie,
die die Machtstrukturen in den Händen der PolitikerInnen und Generäle der
KapitalistInnenklasse ruhen lässt, ist zum Scheitern verurteilt, ja sie öffnet
den Weg für noch schrecklichere Unterdrückung. Obwohl die Forderung von Frente
Amplio und KP nach einer konstituierenden Versammlung richtig ist, würde ihre Überlassung
in Händen der jetzigen Regierung und der staatlichen Behörden eine solche
Konstituante in eine echte Zwangsjacke stecken.

Sie wäre nicht
wirklich souverän und auch nicht in der Lage, die revolutionären Maßnahmen zu
ergreifen, die das Land braucht. Dazu gehört auch die Untersuchung und
Bestrafung derjenigen, die für die Verbrechen der Militärdiktatur sowie für die
Morde und Folterungen der letzten Tage verantwortlich sind.

Welche Lehren
sind zu ziehen?

Die Lehren aus
dem Jahr 1973 müssen gezogen werden, als Allende und seine von der KP unterstützte
Sozialistische Partei behaupteten, dass es einen Weg gäbe, das Leben der
arbeitenden Bevölkerung radikal zu verbessern, ja sogar eine sozialistische
Revolution mit ausschließlich friedlichen Mitteln unter Nutzung des
kapitalistischen Staates durchzuführen. Die Antwort der KapitalistInnen darauf
war eine ständige wirtschaftliche Sabotage, während Allende im Amt war, und als
das den Willen des Volkes nicht brach, entfesselten sie das Monster Pinochet.

Wenn die
Bewegung vermeiden will, die Tragödien der Vergangenheit erneut zu durchleben,
darf sie nicht in einen Verhandlungskompromiss mit Piñera hineingezogen werden.
Die ArbeiterInnenklasse kann nicht die Organe des kapitalistischen Staates, d. h.
die Parlamente, die Polizei, die Justiz, übernehmen und sie für ihre eigenen
Zwecke nutzen. Die ArbeiterInnenparteien, die dies tun, dienen unweigerlich der
Bourgeoisie, wenn sie nicht das Schicksal von Allende erleiden.

Die
ArbeiterInnenklasse und die Jugend beginnen laut Berichten bereits mit der
Schaffung von Koordinierungsorganen, die die Dynamik und Energie der
Massenbewegung bewahren und steuern können. Diese müssen sich zu vollwertigen Räten
der ArbeiterInnen und Armen mit Verteidigungsorganen entwickeln, wenn sie sich
der Herausforderung stellen wollen, Piñera zu verdrängen. Solche Organisationen
wurden im Laufe der Geschichte dutzende Male gegründet, darunter in den 1970er
Jahren in Chile mit den damaligen Cordones Industriales.

Diese
scheiterten nur, weil sie bzw. ihre politischen Führungen nicht rechtzeitig
erkannten, dass die Gewinnung der MannschaftssoldatInnen, die Zerstörung des
militärischen Oberkommandos, eine dringende Notwendigkeit war. Kurz gesagt, sie
haben das unbedingte Gebot der Errichtung einer ArbeiterInnenregierung und Durchführung
einer sozialistischen Revolution nicht erkannt.

Stattdessen setzten
sie unter Führung von Allende und der Sozialistischen Partei sowie der Chilenischen
Kommunistischen Partei und den Gewerkschaften auf die falsche Strategie der
Volksfront, ein Bündnis mit dem angeblich „demokratischen“ Flügel der
KapitalistInnen, den ChristdemokratInnen. Letzterer übergab sie schließlich der
zarten Gnade von Augusto Pinochet, der selbst von Allende ernannt wurde, welcher
sich für seine demokratische Empfehlung gegenüber den Massen verbürgte.

Um eine ähnliche
Katastrophe abzuwenden, müssen die Werktätigen in Chile auf ihre eigenen
Organisationen und ihre eigene Macht setzen, eine Macht, die bereits große
Zugeständnisse erzwingt und von Tag zu Tag stärker werden kann, wenn sie nicht
in Verhandlungen gelockt wird.