1

USA: Anstieg von Femiziden nach Verschärfung von Abtreibungsgesetzen

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 11, März 2023

Die Angriffe auf hart erkämpfte Errungenschaften, Grund- und Bürgerrechte im Zuge des Aufstiegs von Rechtspopulist:innen weltweit gehen weiter – und erste Folgen sind jetzt schon spürbar. Trotz der Abwahl von Donald Trump und der neuen Bundesregierung unter Joe Biden erleben wir in den USA einen enormen Angriff auf Frauenrechte.

Insbesondere reproduktive und Selbstbestimmungsrechte von Frauen werden immer häufiger infrage gestellt. Damit wird Frauen der Zugang zu Beratung sowie Abtreibung im Falle ungewollter Schwangerschaften bewusst erschwert oder gleich gänzlich kriminalisiert, was neben finanziellen Belastungen und gesundheitlichen Risiken im Falle nun illegal durchgeführter Abbrüche weitere Auswirkungen mit sich führt: In den USA lässt sich bereits ein deutlicher Anstieg von Femiziden feststellen, insbesondere an schwangeren Frauen.

Hintergründe

Der Begriff Femizid (engl. femicide) wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zum englischen Begriff „homicide“ (Mord, Totschlag) benutzt. Die feministische Soziologin Diana Russell definiert Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen Mann auf Grund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt auch die Tötung von Kindern mit ein. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer erleiden. Der Femizid stellt, noch vor der Vergewaltigung, die höchste Manifestation der Unterdrückung der Frau und eine extreme Form patriarchaler Gewalt dar.

Auch wenn Boulevardmedien mit reißerischen Schlagzeilen das Gegenteil suggerieren, so sind Femizide keine rein individuellen Tragödien. Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext zwar einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie [beim Feminizid, dem organisierten, massenhaften Femizid] eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung.

Die gesellschaftliche Dimension von Femiziden, also Morden an Frauen, weil sie Frauen sind, erfordert eine Betrachtung der Ursachen für die Zunahme dieser Gewalttaten.

Der von konservativen Richter:innen dominierte Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der USA hatte im Juni 2022 das fast 50 Jahre geltende Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ aufgehoben. Dieses garantierte bisher das landesweite Grundrecht auf Abtreibung. Durch die Entscheidung des Supreme Court können Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche nun einschränken oder gänzlich verbieten, was mehrere konservativ regierte bereits getan haben. Das Urteil wurde deshalb nicht nur in den USA von Abtreibungsgegner:innen als Sieg gefeiert.

Betroffen sind rund 40 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter, die in US-Bundesstaaten leben, in denen Abtreibungen entweder bereits verboten oder nur in eng gefassten Ausnahmefällen möglich sind bzw. in absehbarer Zeit verboten oder stark eingeschränkt werden.

Zunahme von Femizide an Schwangeren

Bereits Ende 2021, noch vor dem Urteil des Supreme Court und den darauffolgenden Restriktionen, gab es Bedenken bezüglich einer Zunahme von partnerschaftlicher Gewalt und Femiziden als mögliche Folgen: „Einige Experten befürchten, dass die Einschränkung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch gefährdete Frauen noch mehr in Gefahr bringen könnte.“ So hatten Studien ohnehin belegt, dass partnerschaftliche Gewalt durch bzw. während Schwangerschaften zunimmt. Frauen war es oft nicht möglich, ihre Schwangerschaft fortzusetzen, und sie entschieden sich aufgrund häuslicher Gewalt zur Abtreibung. Die USA hatten demnach bereits eine sehr hohe Rate an Müttersterblichkeit: „Im Jahr 2018 kamen in den USA auf 100.000 Lebendgeburten 17 Müttersterblichkeitsfälle – mehr als doppelt so viele wie in den meisten anderen Ländern mit hohem Einkommen.“

Forscher:innen der Harvard School of Public Health kommen zu dem Ergebnis, dass es in den USA für Schwangere oder Frauen, die vor kurzem entbunden haben, wahrscheinlicher ist, ermordet zu werden, als durch schwangerschafts- oder geburtsbedingte Komplikationen zu sterben. Tötungsdelikte an Schwangeren sind somit häufiger als solche Todesfälle durch Bluthochdruck, Blutungen oder Sepsis, wie die Forscher:innen in einem Leitartikel beschreiben.

Die Verbreitung von Gewalt in der Partnerschaft ist in den USA ohnehin höher als in vergleichbaren Ländern. Die Gewalt endet oft tödlich und häufig sind Schusswaffen im Spiel. Eine weitere Studie der Tulane University bestätigt diesen Trend, wonach Tötungsdelikte eine der häufigsten Todesursachen bei Schwangeren und Wöchnerinnen in den USA sind.

Die genannten Studien können durch Zahlen belegen, dass neben schwangeren Jugendlichen insbesondere schwarze Schwangere ein wesentlich höheres Risiko hatten, getötet zu werden, als weiße oder hispanische. Dies verwundert nicht, da schwarze Arbeiter:innen in den USA auch heute noch strukturell benachteiligt sind, schlechter bezahlte Jobs haben, oft in beengten Wohnsituationen leben und seltener krankenversichert sind. Die ökonomischen Bedingungen wirken sich daher für diese Bevölkerungsgruppe besonders negativ aus.

Ähnliche Entwicklungen konnten auch in Deutschland im Zuge der Lockdowns der Coronapandemie beobachtet werden, wo aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen Lage und der erzwungenen Nähe auf engstem Raum partnerschaftliche Gewalt um ein Vielfaches zugenommen hat.

Somit war bereits vor den Verschärfungen und Verboten, die auf das Grundsatzurteil des Supreme Court in einigen US-Bundesstaaten folgten, die Ausgangslage für Schwangere alles andere als sicher. Gesetze, die den Zugang von Frauen zu Abtreibung einschränken, können sie weiter gefährden, da die Kontrolle über die reproduktiven Entscheidungen einer Frau oft eine Rolle bei Gewalt in der Partnerschaft spielt. Die Autor:innen der Studie der Harvard School of Public Health weisen explizit darauf hin, dass schwangerschaftsbedingte Tötungsdelikte vermeidbar sind, z. B. indem im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen von Schwangeren gewaltgefährdete Frauen identifiziert und Hilfestellungen angeboten werden können.

Arbeiter:inneneinheitsfront für freie Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung

Doch wie kann, gemessen an diesen permanenten Angriffen und vielfältigen Problemen, eine erfolgreiche Pro-Choice-Bewegung aufgebaut werden? Statt nur auf Verschlechterungen zu reagieren, müssen wir selbst Verbesserungen erkämpfen. Wir dürfen nicht auf den Staat vertrauen oder Illusionen in die Demokratische Partei hegen. Diese konnte bzw. wollte die derzeitigen Angriffe auf bestehende Frauenrechte nicht verhindern. Daher müssen wir unabhängig von ihr gegen den Abbau von Frauenrechten kämpfen. Dabei kommt es auf den Kampf als Klasse an, was bedeutet, dass er durch die Arbeiter:innenklasse geführt und von ihren Organisationen unterstützt werden muss.

Wir fordern daher die Gewerkschaften auf, für eine gemeinsame Kampagne zu mobilisieren. Betriebsräte könnten beispielsweise Betriebsversammlungen einberufen, wo diese Themen und Fragen diskutiert werden. Darüber hinaus können Gewerkschaften mit Streik als Kampfmittel, anders als Einzelpersonen oder andere Gruppen, ökonomischen und politischen Druck auf Kapital und Regierung aufbauen.

Im Rahmen von Aktionstagen und für die Durchführung eines politischen Streiks wäre es außerdem wichtig, Streik- und Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren, kollektive Erfahrungen ermöglichen und auf diese Weise auch zur Stärkung und Demokratisierung des gemeinsamen Kampfes beitragen. Ebenso sind Gewerkschaften personell und finanziell in der Lage, internationale Kooperation und Koordination zu gewährleisten, z. B. durch die Organisation zentraler, internationaler Aktionstage zum Thema Abtreibungsrechte und Selbstbestimmung. Dies ist wichtig, da die Unterdrückung nicht nur in einem Land existiert und zusammen mehr Druck aufgebaut werden kann.

Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einbindung von Gewerkschaften auch einige Probleme mit sich bringt. Gerade im Dienstleistungsbereich, in dem hauptsächlich Frauen arbeiten, organisieren sich nur wenige Arbeiter:innen in ihnen. Ebenso agieren Gewerkschaften häufig reformistisch und beschränken sich auf die Besitzstandswahrung im eigenen Interesse, anstatt Fortschritte für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Es existiert eine Gewerkschaftsbürokratie, die ihren Frieden mit dem jetzigen System geschlossen und ihre Rolle selbst auf das Feilschen um Lohn und Arbeitsbedingungen reduziert hat. Revolutionäre Kommunist:innen müssen sich deshalb für eine klassenkämpferische, antibürokratische Basisbewegung einsetzen, die sich der bürokratischen Spitze entgegenstellt, um die Gewerkschaften zu einem Glied in den Reihen des Kampfes für den Sozialismus umzugestalten.

Des Weiteren rufen wir alle bestehenden Pro-Choice-Bündnisse und -Bewegungen aktiv dazu auf, auch weiterhin gegen den bestehenden Abbau von Frauenrechten zu kämpfen und den Protest erneut auf die Straße zu tragen. Lasst uns die bisher bestehenden Bündnisse und Mobilisierungen bündeln und einen gemeinsamen Aktionstag für den Kampf für Frauenrechte ausrufen!

Gegenwehr

Zur Verhinderung von Femiziden ist der Aufbau von Organen der Gegenmacht erforderlich. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern und rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international:

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!

  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!

  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Das Leben einer Frau muss immer über dem eines ungeborenen Fötus stehen!

  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!

  • Ausbau von Kitas und Kinder-/Jugendbetreuungsangeboten, um Eltern zu entlasten!

  • Für viel mehr finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung von insbesondere (jungen) Frauen und Alleinerziehenden und dafür, dass minderjährige Frauen mit einer Schwangerschaft nicht alle Chancen auf eine gute Zukunft verlieren!

  • Langfristig: Für die Kollektivierung der Kindererziehung in der Gesellschaft!

  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!

Ärzt:innen dürfen die Entscheidung zur Geburtshilfe (Entbindung) bei überlebensfähigen Föten treffen. Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!

Quellen:

Baumgarten, Reinhard (2022): Weitere Rechte auf der Kippe?, online unter https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/abtreibung-usa-supremecourt-101.html

Chang, Leila (2020): Pro Choice: Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/pro-choice-selbstbestimmung/

Chang, Leila (2022): Our bodies, our choice, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/14/our-bodies-our-choice/

Der Standard (2005): USA: Mord als eine der häufigsten Todesursachen für Schwangere, online unter https://www.derstandard.at/story/1962393/usa-mord-als-eine-der-haeufigsten-todesursachen-fuer-schwangere

Frühling, Jonathan (2020): Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/femizide-frauenmorde-international/

Harvard School of Public Health (2022): Homicide leading cause of death for pregnant women in U.S., online unter https://www.hsph.harvard.edu/news/hsph-in-the-news/homicide-leading-cause-of-death-for-pregnant-women-in-u-s/

Insider (2021): Homicide is the leading cause of death for pregnant women in the United States, a new study found, online unter https://www.insider.com/pregnant-women-in-the-us-homicide-leading-cause-of-death-report-says-2021-12

National Institute of Child Health and Human Development (2022): Science Update: Pregnancy-associated homicides on the rise in the United States, suggests NICHD-funded study, online unter https://www.nichd.nih.gov/newsroom/news/091622-pregnancy-associated-homicide

Sanctuary for Families (2022): The Silent Epidemic of Femicide in the United States, online unter https://sanctuaryforfamilies.org/femicide-epidemic/

Suchanek, Martin (2022): Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/femizide-feminizide-und-kapitalistische-krise/

The Guardian (2022): Estimated 45,000 women and girls killed by family member in 2021, UN says, online unter https://www.theguardian.com/global-development/2022/nov/23/un-femicide-report-women-girls-data




Peru: Die Massen verstärken den Widerstand gegen die Machthaber:innen

KD Tait, Infomail 1213, 13. Februar 2023

Peru ist in eine tiefe Krise gestürzt, nachdem der linke Präsident Pedro Castillo am 7. Dezember durch einen Staatsstreich des Parlaments (Kongress) abgesetzt worden war.

Bereits seit sechs Wochen protestieren und blockieren Arbeiter:innen sowie Bäuerinnen und Bauern im ganzen Land und fordern die aktuelle „Präsidentin“ Dina Boluarte – Castillos ehemalige Stellvertreterin – dazu auf, Neuwahlen und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung anzuordnen.

Die Reaktion der Regierung bestand darin zu versuchen, die Bewegung in Blut zu ertränken. Mehr als 50 Menschen wurden bisher getötet, darunter vor allem Mitglieder der bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen, der so genannten rondas campesinas, aber auch Unbeteiligte, wurden von der skrupellosen Polizei erschossen, die die Bevölkerung durch Terror zur Aufgabe zwingen will.

Zusammenstöße und Proteste

Am Mittwoch, den 18. Januar 2023, wurden die 35-jährige Sonia Aguilar und der 60-jährige Salomon Valenzuela nach einem friedlichen Protest in der südlichen Provinzhauptstadt Macusani von Scharfschütz:innen der Polizei erschossen. Diese kaltblütigen Morde haben die örtliche Bevölkerung derart aufgebracht, dass sie das Justizgebäude und die Polizeistation niederbrannte und die Polizei aus der Stadt vertrieb.

Dies ist nur einer von vielen vergleichbaren Vorfällen, die die Zustimmung zu den Protesten verstärken, die bisher am stärksten von den indigenen Aymara und Quechua im ländlichen Süden und in den Hochebenen der Anden getragen wurden, welche ihrerseits 2021 in großer Zahl für Castillo gestimmt haben.

Am 19. Januar kam es jedoch zu einer Ausweitung der Proteste, als die Campesinos ihren Kampf im Rahmen eines landesweiten Generalstreiks, der von den wichtigsten Bauernorganisationen und dem Gewerkschaftsverband CGTP unterstützt wurde, auf die Straßen der Hauptstadt Lima brachten.

Diese Demonstration wurde in Anlehnung an die Proteste aus dem Jahr 2000, die die neoliberale Fujimori-Regierung zu Fall brachten, als „Kundgebung der 4 Suyos“ bezeichnet. Ab Montagabend versammelten sich Zehntausende Bäuerinnen/Bauern und Arbeiter:innen in Lima, wo sie solidarisch von Anwohner:innen empfangen und in Universitätsgebäuden untergebracht wurden.

Die Regierung Boluarte, die von der politischen, juristischen und militärischen Elite des Landes unterstützt wird, hatte zuvor den Ausnahmezustand verhängt, Blockaden an den Hauptzufahrten zur Hauptstadt errichtet und ein Aufgebot von 12.000 militarisierten Polizist:innen, ausgerüstet mit Gewehren, Tränengas und gepanzerten Fahrzeugen, zusammengezogen.

All dies konnte die Delegationen aus den Provinzen jedoch nicht abschrecken, denen sich bei der Demonstration eine große Zahl von Arbeiter:innen und Jugendlichen aus der Hauptstadt anschloss. Ein Versuch, zum Kongress zu marschieren, wurde durch Polizeibarrikaden und Tränengas verhindert. Die Demonstration wurde von der Polizei angegriffen und artete in eine Schlägerei aus, bei der sich die Demonstrant:innen mit selbstgebauten Schilden verteidigten.

Der Aktionstag wurde darüber hinaus im ganzen Land begangen, mit Massenprotesten in vielen regionalen Hauptstädten. Im Süden des Landes wurden Versuche, die örtlichen Flughäfen zu besetzen, mit Schüssen beantwortet: Dabei wurde in der zweitgrößten Stadt der Region Arequipa der 30-jährige Jhancarlo Condori Arcana durch einen Bauchschuss getötet.

Am späten Abend des 19. Januar hielt Boluarte eine Fernsehansprache, in der sie die Proteste als einen Versuch von Gesetzesbrecher:innen bezeichnete, Unruhe zu stiften und die Macht an sich zu reißen. Sie erklärte, ihre Regierung bleibe „fest und geschlossener als je zuvor“. Als Reaktion auf das weitere Erstarken der Opposition weitete sie aber den Ausnahmezustand auf drei weitere Regionen aus und stellte damit fast ein Viertel des Landes unter Kriegsrecht.

Ein Putsch der herrschenden Klasse

Peru befindet sich seit dem Ende des Rohstoffbooms im Jahr 2014 in einer tiefgreifenden sozialen und politischen Krise. Das Land ist der zweitgrößte Kupferproduzent der Welt und ein bedeutender Lieferant von wichtigen Mineralien wie Gold, Zinn und Zink sowie von Gas. Allerdings ist seine Landwirtschaft stark von Getreide- und Düngemittellieferungen abhängig, die durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die von den USA verhängten internationalen Sanktionen unterbrochen wurden.

Die akute Wirtschaftskrise wurde bereits durch die Coronapandemie weiter verschärft. Der Anteil der im informellen Sektor beschäftigten Bevölkerung stieg fast über Nacht von 75 % auf 90 %. Das überforderte Gesundheitssystem brach faktisch zusammen, so dass Peru die weltweit höchste Coronatodesrate pro Kopf aufwies. Der Mangel an lebenswichtigen Gütern, der in den von der indigenen Bevölkerung bewohnten ländlichen Gebieten bereits gravierend war, breitete sich auf die Armenviertel der Großstädte aus.

Die großen Parteien gerieten zunehmend in Verruf, wurden von Korruptionsvorwürfen erschüttert, lösten und stellten sich bei jedem Amtsenthebungsverfahren und jeder Parlamentsauflösung neu auf.

Vor diesem Hintergrund wurde Pedro Castillo, ein Lehrer und Gewerkschaftsführer, im Juli 2021 gewählt, wobei er Keiko Fujimori, die Kandidatin der Oligarchen und multinationalen Bergbauunternehmen, knapp besiegte. Seine Wahl bedeutete eine Revolte der indigenen und städtischen Armen gegen die neoliberale Politik, die die ländlichen Gebiete weiter verarmt und die Mittel- und Oberschicht bereichert hat.

Castillos Anziehungskraft beruhte weitgehend auf seinem Ruf als unbestechlicher Außenseiter und Kämpfer für die Interessen der Armen, den er sich als Anführer des Lehrerstreiks 2017 erworben hatte. Sein politisches Programm war vage. Es beschränkte sich darauf, eine neue Verfassung vorzuschlagen, den Bergbausektor zu verstaatlichen und dies mit einem konservativen, gesellschaftspolitischen Programm zu verbinden, das sich u. a. gegen die Liberalisierung des Abtreibungsrechts, die gleichgeschlechtliche Ehe, die Abschaffung der Privilegien der katholischen Kirche aussprach.

In der Verfassung von 1993 ist das neoliberale Modell verankert, mit dem die riesigen natürlichen Ressourcen Perus von ausländischem Kapital und seinen peruanischen Agent:innen geplündert wurden. Reformen waren bereits früher vorgeschlagen worden, aber nie zustande gekommen. Trotz dieses zaghaften Programms und der schwachen, von einer Koalition abhängigen Partei waren die peruanischen Eliten, die Oligarch:innen, die Grundbesitzer:innen, der Unternehmerverband und ihre ausländischen Agent:innen entschlossen, nicht das Risiko einzugehen, dass Castillos Anhänger:innen seine Wahl als Signal verstehen könnten, sich das zu nehmen, was ihnen rechtmäßig gehört. Er musste mit allen Mitteln verschwinden.

Nachdem es der Oligarchie mit ihrer hysterischen antikommunistischen Kampagne nicht gelungen war, die Wahl Castillos zu verhindern, griffen sie auf die Methoden rechter Möchtegerndiktatoren wie Donald Trump und Jair Bolsonaro zurück: Sie prangerten die Wahl als Fälschung an, ungeachtet von Beweisen.

Die Anhänger:innen der rechten Parteien, die sich überwiegend aus spanischsprachigen Mittelschichten aus Lima und den Küstenstädten zusammensetzen, Nachfahr:innen der alten Siedlerelite, veranstalteten eine Reihe gewaltsamer Kundgebungen, bei denen das Konquistadorenkreuz und der Hitlergruß ihre rassistische Angst vor einer Übernahme des „europäischen“ Peru durch kommunistische „Indianer:innen“ zum Ausdruck brachten.

Das Scheitern der „Rosa Welle“

Von Anfang an war Castillo ein Gefangener der peruanischen Kapitalist:innen und ihrer Justiz, Polizei und ihres Militärs. In 16 Monaten ernannte er fünf verschiedene Kabinette, ernannte 80 Minister:innen, überstand zwei Amtsenthebungsverfahren und verließ seine Partei Perú Libre (Freies Peru).

Seine immer weiter nach rechts gerückten Ernennungen, darunter auch vom IWF vorgeschlagene „Expert:innen“, führten zu immer neuen Vorwürfen der Vetternwirtschaft und Korruption. Sein Versuch, sich die Gunst Washingtons zu sichern, indem er gemeinsam mit anderen Präsidenten der links-populistischen „Rosa Welle“ wie Gabriel Boric in Chile und Gustavo Petro in Kolumbien die venezolanische Regierung als „undemokratisch“ anprangerte, unterstrich nur seine Schwäche und Abhängigkeit vom Imperialismus.

Dies wurde durch seine Zustimmung zu einer neuen US-Militärmission auf peruanischem Boden zur Ausbildung der Armee und der Polizei des Landes noch verstärkt: eine auf Jahrzehnte angelegte Maßnahme, die die Kontrolle der USA über einen repressiven Sicherheitsapparat zementiert, auf den man sich bei der Verteidigung der Interessen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten in der Region verlassen kann.

Anstatt seine Anhänger:innen zu mobilisieren, um den Widerstand der Oligarchie durch die Besetzung und Enteignung ihres Eigentums zu brechen, versuchte Castillo, die Kräfte zu beschwichtigen, die sich für seinen Sturz einsetzen. Im November bat er die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), eine Abteilung des US-Außenministeriums, die für ihre Beteiligung an von der CIA organisierten Staatsstreichen berüchtigt ist, ihn gegen „eine neue Art von Staatsstreich“ zu verteidigen.

Ihre Antwort vom 1. Dezember, in der sie zu einem „politischen Waffenstillstand“ aufrief und davor warnte, dass die Aktionen beider Fraktionen „den demokratischen Institutionalismus“ Perus gefährdeten, wurde von allen Seiten als Weigerung gewertet, Castillo zu unterstützen, und gleichzeitig als Signal, dass man sich seinem Sturz nicht widersetzen würde.

Am 7. Dezember, angesichts seiner Lähmung und eines dritten Amtsenthebungsverfahrens gegen ihn, handelte Castillo mit unwahrscheinlicher Entschlossenheit, aber seiner charakteristischen Naivität: Er verhängte den Ausnahmezustand, um per Dekret bis zu Neuwahlen zu regieren. Doch ohne die Unterstützung von Armee und Polizei war Castillos 18. Brumaire ein Fiasko, das in einer Gefängniszelle endete, nachdem die Präsidentengarde, die ihn zu seinem Asyl in der mexikanischen Botschaft eskortieren sollte, ihn stattdessen im Polizeipräsidium ablieferte.

Castillos schmachvolles Ende beweist drei Dinge:

Erstens, dass die neue sogenannte „Rosa Welle“ der Linkspopulist:innen ebenso wenig willens oder fähig ist, notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Länder von imperialistischen Plünderungen zu befreien, wie ihre Vorgänger:innen.

Zweitens, dass der US-Imperialismus und seine lokalen Agent:innen in der Zeit drastischen wirtschaftlichen Abschwungs und zwischenimperialistischer Rivalität immer brutalere Mittel zur Unterdrückung der steigenden Flut von Kämpfen vorbereiten, die diese „pinken Linken“ vorerst auf die Chefsessel gebracht haben.

Drittens: Wenn die Arbeiter:innen, die Armen in den Städten und auf dem Lande, nicht mit dem Populismus brechen und ihre eigenen, bewussten politischen und kämpferischen Organisationen aufbauen, werden sie in die Vernichtung geführt, da demokratische Methoden von den aktuellen Machthaber:innen des Kontinents aufgegeben werden.

Sackgasse

Peru wird heute von einer Koalition aus Machthaber:innen regiert, die vordergründig zwar von Castillos ehemaliger Stellvertreterin Dina Boluarte angeführt wird, in Wirklichkeit aber von den rechtsextremen Fujimoristas, den Konzernmedien und der Nationalen Vereinigung für Bergbau, Erdöl und Energie (Sociedad Nacional de Minería, Petróleo y Energía; kurz: SNMPE) gesteuert wird, auf deren Unterstützung sie angewiesen ist.

Trotz der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit Castillo zum Zeitpunkt seiner Verhaftung – Forderungen nach seiner Freilassung sind nicht mit solchen nach seiner Rückkehr an die Macht verbunden – erkennen die Armen auf dem Land und in der Stadt, insbesondere in den indigenen Gebieten, den eigentlichen Charakter der Ereignisse: Ein vom Volk gewählter Präsident, der sabotiert und in eine ohnmächtige Marionette der Oligarch:innen und Konzerne verwandelt wurde, ist abgesetzt worden, um Platz für die Rückkehr der verhassten Fujimoristas und Faschist:innen zu machen, die sich der Verteidigung der Profite des Monopolkapitals verschrieben haben, indem sie die Verarmung der Indigenen, der Arbeiter:innen und der Armen verschlimmern.

In jeder Hinsicht folgen die herrschende Klasse und ihre CIA-Berater:innen dem Drehbuch, das während des Putsches gegen den bolivianischen Präsidenten Evo Morales im Jahr 2019 ausgearbeitet wurde – der selbst beschuldigt wird, in Peru den „Separatismus“ zu schüren –, was einen klaren Angriff auf die von ihnen verachtete indigene Bevölkerung darstellt.

Auf Betreiben der Bergbauunternehmen, die am 20. Januar die Rückkehr zur „Rechtsstaatlichkeit, zum Prinzip der Autorität und der Regeln in einem Umfeld des sozialen Friedens“ forderten, hat die Regierung das Kriegsrecht auf weite Teile des Landes ausgedehnt und Polizeikräfte eingesetzt, die Dutzende unbewaffnete Demonstrant:innen massakrierten. Hunderte von Menschen wurden verhaftet. Bei der jüngsten Razzia wurden mehr als 200 Personen in der Universität San Marcos in Lima verhaftet, wo sich Student:innen und Demonstrant:innen aus dem Landesinneren versammelt hatten.

Die mörderische Repression hat es jedoch nicht geschafft, die Opposition zu unterdrücken, und die diskreditierten etablierten Parteien können keine Unterstützung der Bevölkerung für eine neue Regierung erreichen. Die „demokratische“ Lockvogeltaktik, Castillo durch einen gefügigeren Abgeordneten zu ersetzen, hat die Massen nicht täuschen können. Boluarte sah sich bereits gezwungen, vorgezogene Neuwahlen anzukündigen – allerdings erst für 2024.

Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt hingegen würden der Rebellion einen unzulässigen moralischen und politischen Sieg bescheren. Auch die Forderungen der Bewegung nach einer verfassunggebenden Versammlung sind einem großen Teil der herrschenden Elite ein Dorn im Auge, die sich auf die „Wirtschaftsklauseln“ der Verfassung stützt, um ihren Raubzug zu legalisieren.

Gleichzeitig ist der Widerstand, obwohl er mit jedem Massaker an Größe zunimmt, heterogen und unkoordiniert. Die Führer:innen des größten Gewerkschaftsverbandes CGTP haben sich durch den Druck der Bewegung gezwungen gesehen, deren Forderungen nach Wahlen aufzugreifen und an den Aktionstagen zu Streiks aufzurufen, aber ihre Perspektive sind vorgezogene Wahlen, um die Situation zu entschärfen.

Vom Widerstand zur Revolution

Die Forderungen der Bewegung sind klar: die Absetzung der putschistischen Regierung, die Auflösung des Parlaments und Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung.

Aber die Institutionen der peruanischen „Demokratie“ sind die der Wirtschaftsdiktatur der Oligarchie. Zuzulassen, dass dieses oder ein neu gewähltes Parlament den Widerstand in eine bürgerliche verfassunggebende Versammlung lenkt, die von den offiziellen Institutionen organisiert wird, wäre ein fataler Fehler, der es dem Feind ermöglicht, sich neu zu formieren und für eine neue Offensive aufzurüsten.

Eine solche „legale“ verfassunggebende Versammlung, die unter den Bajonetten der Armee und der Propaganda der Konzernmedien inszeniert wird, wird niemals in die Eigentumsrechte und die militärische Gewalt des Regimes von 1993 eingreifen dürfen. Was wir jetzt brauchen, ist ein Kampfplan, um den Widerstand der Regierung, der Unternehmer:innen und der Sicherheitskräfte zu brechen.

Nach wochenlangem Zögern hat der mit mehr als 800.000 Mitgliedern größte Gewerkschaftsverband CGTP (Allgemeiner Dachverband peruanischer Arbeiter:innen) endlich zu einem unbefristeten, landesweiten Generalstreik aufgerufen, der am 9. Februar beginnen soll. Er fordert unter anderem den Rücktritt von Dina Boluarte als Präsidentin, eine Übergangsregierung, vorgezogene allgemeine Wahlen, ein Referendum über die Verfassung und ein Ende der Tötung protestierender Bürger:innen. Bei dem gewaltsamen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstration vom 4. Februar in Lima wurden Dutzende Menschen verwundet.

Dennoch kann auf die Führung der CGTP kein Verlass sein. Da sie vor allem die Beschäftigten des öffentlichen Sektors vertritt, muss der Streik auf die Beschäftigten im Bergbau, in der Erdöl-, Gas- und Stahlindustrie ausgedehnt werden, wenn er die Räder des Profits zum Stillstand bringen soll. Er muss unter der Leitung einer nationalen Koordination stehen, die aus Vertreter:innen der kämpfenden Organisationen der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und indigenen Massen gewählt wird. Kurz gesagt, die dringende Aufgabe besteht darin, eine Führung aufzubauen, die mit der Perspektive und der Strategie der Revolution gegen die Ausbeuter:innen und ihr System bewaffnet ist.

Die gesamte Logik des Kampfes zum Sturz des Boluarte-Regimes weist jetzt auf die Vorbereitung der Aufstandsbewegung hin, um eine Regierung der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Indigenen zu installieren, die den Volksmassen verantwortlich ist und von einer Arbeiter:innenmiliz gegen die Konterrevolution verteidigt wird.

Nur unter einer solchen Kontrolle wäre es möglich, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die die Autorität und Fähigkeit besäße, das gesamte reaktionäre Gebäude der Oligarchenverfassung hinwegzufegen, indem sie die politische und soziale Macht in die Hände von Räten und einer Volksmiliz legt. Dies wiederum würde den Weg für eine sozialistische Revolution nicht nur in Peru, sondern auf dem gesamten Kontinent ebnen.




Die Versprechen der Regierung Lula

Jonathan Frühling, Neue Internationale 271, Februar 2023

Vier Jahre lang war Brasilien im Griff des rechten Präsidenten Bolsonaro. Die Regenwaldabholzung hat unter ihm historische Höchstwerte erreicht, Corona knapp 600.000 Menschen getötet und die (militante) Rechte wurde massiv gestärkt. Nach einem knappen Rennen ist im zweiten Wahlgang wieder der Reformist Lula da Silva zum Präsidenten gewählt worden.

Allerdings trat dieser nicht nur als Kandidat der Arbeiter:innenpartei PT an, sondern hat eine Volksfront mit offen bürgerlichen, neoliberalen Parteien gebildet. Sein Vizepräsident ist der neoliberale Geraldo Alckmin, der lange Zeit als führendes Mitglied in der PSDB (Partei der Sozialen Demokratie) agierte, welches die wichtigste Oppositionspartei während Lulas letzten beiden Präsidentschaften war.

Rechte Gefahr

Wie der Putschversuch im Januar zeigte, ist die rechte Gefahr mit der Wahl keineswegs gebannt. Zur Zeit setzen nicht nur die Arbeiter:innen, die städtische und ländliche Armut, die rassistisch Unterdrückten und Indigenen, die Frauen- und Umweltbewegung auf eine Regierung Lula, sondern auch wichtige Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, die Vizepräsident Alckmin in der PT-geführten Regierung am deutlichsten repräsentiert. Das ist der eigentliche Grund, warum der Putschversuch nie Aussicht auf Erfolg hatte. Doch diese Allianz gegensätzlicher Klassenkräfte und Interessen stellt keine Garantie gegen weitere Putschversuche dar, sondern eine Gefahr für die Zukunft.

Angesichts der rechten Gefahr setzen Lula und die PT wie schon im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie, die den Putsch gegen Dilma mitorganisierte, aus dem Bolsonaro hervorging. Ferner setzen sie auf jenen Militär- und Polizeiapparat, dem der Expräsident entstammt und der Lula nur solange stützen wird, wie er die Interessen des brasilianischen Kapitals verteidigt und die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ruhig zu halten vermag.

Die herrschende Klasse und die imperialistischen Länder kalkulieren damit, dass Lula und die PT in dieser politischen Zwickmühle leichter gefügig gemacht werden können. Angesichts der Wirtschaftskrise lehnen diese Reformen ab, sodass selbst die Versprechen der PT auf parlamentarischem Wege sicher nicht umsetzbar sein werden. Im Folgenden wollen wir sie näher betrachten.

Umweltpolitik

Besonders im Fokus stand während der Wahl in Brasilien der Amazonasregenwald. Lula versprach während der Wahl, bis zum Ende seiner Amtszeit die Rodungen vollständig zu beenden. Es sollen dafür Schutzprogramme aufgelegt und scharfe Kontrollen eingeführt werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, setzte Lula die Umweltaktivistin Marina Silva als Umweltministerin ein, die bereits während seiner ersten beiden Amtszeiten von 2003 – 2008 diesen Posten bekleidete. Wie wenig wir den Versprechen von Lula trauen können, zeigen die Gründe für den Rücktritt von Marina Silva aus Lulas letztem Kabinett: Damals erlaubte Lula die Erschließung entlegener Regenwaldregionen für die Agrokapitalist:innen und Aluminiumindustrie.

Frauenrechte

Wenig Hoffnungen sollten wir auch in Bezug auf Frauenrechte hegen. Schon in seinen ersten zwei Amtszeiten hatte Lula kein Abtreibungsrecht durchgesetzt. Während des Wahlkampfs hat er sich sogar davon distanziert. Grund dafür war, die wachsende Anzahl rechtskonservativer evangelikaler Christ:innen nicht als Wähler:innenbasis zu verlieren. Ihr Anteil liegt mittlerweile bei 32 % an der Bevölkerung. Insgesamt wird es deshalb immer schwieriger, für Frauen- und LGBTQIA-Rechte Unterstützung in der Bevölkerung zu erreichen.

Arbeitsmarkt, Steuern und Renten

Ein weiteres großes Versprechen lautet, die Arbeits- und Rentenreformen rückgängig zu machen, die Michel Temer und Bolsonaro nach dem Sturz der PT-Präsidentin Rousseff durchsetzten. Dazu gehören die Abschaffung des Rechts der Landbevölkerung, früher in Rente gehen zu können, oder die Flexibilisierung von Arbeitsstunden und Urlaubstagen, die nur dem Kapital nutzt. Sozialversicherungsbeiträge, die die Unternehmer:innen zahlen müssen, wurden gesenkt und Renten vom Mindestlohn und von inflationsbedingten Steigerungen entkoppelt. Auch wurden verpflichtende Zahlungen an Gewerkschaften und eine gesetzliche tägliche Höchstarbeitszeit abgeschafft. Bolsonaro hat diese Entwicklung später mit einer weiteren Neoliberalisierung vertieft, z. B. das Renteneintrittsalter massiv erhöht.

Hier fragt sich, wie weit Lula gehen wird, um einerseits den linken Teil seiner Wähler:innenbasis zufriedenzustellen, andererseits seine Koalition mit den wirtschaftsliberalen Parteien nicht zu gefährden. Auch hier sollte mit Alckmin als Vizepräsidenten nicht zu viel erwartet werden. Er selbst hatte 2016 für die Amtsenthebung von Dilma gestimmt, die für den ultraneoliberalen Michel Temer und seine wirtschaftsliberalen Renten- und Arbeitsmarktreformen Platz gemacht. Auch die von Lula versprochene Erhöhung der Reichensteuern droht, am Verhandlungstisch geopfert zu werden.

Wirtschaft

Die wirtschaftliche Lage ist sehr angespannt und macht Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse schwierig. Die Inflationsrate liegt bei 10 %, die Arbeitslosigkeit ebenfalls. Die Coronapandemie hat ihre Spuren hinterlassen und viele Menschen in den Abgrund gestürzt. Sogar der Hunger ist für einen Teil der Bevölkerung wieder zurückgekehrt. Das Wirtschaftswachstum ist mit 3 % gegenüber 2021 gesunken, die Prognosen für 2023 sind mit 1 – 2 % nochmals deutlich geringer. Landwirtschaftliche Erzeugnisse (Soja, Rindfleisch, Zucker) und Rohstoffe (Eisenerz und Rohöl) machen den größten Exportanteil aus. Allerdings ist der Hauptabnehmer China selbst momentan wirtschaftlich geschwächt und kann die Wirtschaft Brasiliens nicht wie noch vor einigen Jahren beflügeln.

Besonders die massive Steigerung der Staatsschulden (momentan 89 % des BIP) belastet die Aussichten für Lulas Präsidentschaft. Um die Wirtschaft voranzubringen, will Lula Infrastrukturprogramme auflegen und staatliche Investitionen erhöhen. So soll der Deindustrialisierung entgegengewirkt werden. In den letzten 10 Jahren ist der Anteil der Industrieproduktion am BIP des Landes von 23,1 % auf 18,6 % gesunken (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169880/umfrage/anteile-der-wirtschaftssektoren-am-bruttoinlandsprodukt-brasiliens/).

Außenpolitik

Die EU und Lula da Silva visieren an, das Mercosur-Freihandelsabkommen zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay und der EU wiederzubeleben. Dies würde der Umwelt massiv schaden und das ungleiche Machtverhältnis zwischen den Staaten vertiefen. Deshalb und da viele EU-Länder durch das Abkommen ihre eigene Landwirtschaft bedroht sehen, ist eine Ratifizierung des Vertrages aber weiterhin ungewiss.

Außenpolitisch wird sich Brasilien versuchen, blockfrei zu positionieren. Wichtigste Handelspartner sind nämlich China und danach die USA. Lula da Silva hat angekündigt, mit allen Wirtschaftsblöcken in normale, geregelte Beziehungen zu treten und die außenpolitische Isolierung des Landes unter Bolsonaro rückgängig zu machen.

Dazu nähert sich Lula z. B. Venezuela unter Maduro oder auch Kuba an. Das wichtigste außenpolitische Projekt könnte die Erweiterung der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) sein, welche besonders China anstrebt, um ein Gegengewicht zu den G7 zu schaffen. Die USA sieht diese Pläne natürlich als Gefahr an.

Erwartete Blockaden im Parlament

Selbst wenn Lula weitergehende Politik ernsthaft verfolgen würde, sind ihm alleine schon durchs Parlament die Hände gebunden. Dort sind nämlich von den 23 vertretenen Parteien die Rechten in der Mehrheit. Die stärkste ist mit 16,5 % und 99 Sitzen Bolsonaros Partido Liberal (PL). Lulas PT hat gerade mal 69 Sitze, das von ihm geführte Bündnis 82. Bei solchen Mehrheitsverhältnissen könnte er sogar wie seine PT-Vorgängerin 2016 durch ein Amtsenthebungsverfahren gestürzt werden, wenn ihm die neoliberalen Parteien die Unterstützung versagen.

Wie der Putschversuch vom Januar zeigt, stehen die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten vor einem doppelten Problem. Einerseits droht die Gefahr von rechts, andererseits hängt die Volksfront mit Alckmin wie ein Mühlstein am Hals der Arbeiter:innenklasse.

Daher ist es für die Arbeiter:innenbewegung unerlässlich, die Lehren aus dem gescheiterten Putschversuch im Januar zu ziehen und sich die Frage zu stellen, wie das Kampfpotential genutzt werden kann, das bei den Demonstrationen am 9. Mai sichtbar wurde, als Hunderttausende gegen die Rechten auf die Straße gingen.

Lehren

Selbst die versprochenen Reformen werden angesichts einer massiv gestiegenen Staatsverschuldung, ökonomischer Stagnation und Stärke der Rechten in Staatsapparat und Parlament und der Abhängigkeit von bürgerlichen Koalitionspartner:innen an der Regierung mit parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzbar sein.

Ein solches Programm kann ebenso wie die Entwaffnung reaktionärer Kräfte nur umgesetzt werden, wenn es mit einer Massenmobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verbunden wird. Die aktuelle Massenunterstützung gegen die Putschist:innen muss für eine solche Offensive zur sofortigen Umsetzung aller Reformversprechen von Lula und der PT sowie Initiierung eines Sofortprogramms gegen Inflation, Armut, Krise genutzt werden.

Es kann nur verwirklicht werden, wenn wir die Privilegien der herrschenden Klasse, deren Privateigentum in Frage stellen. Es ist unmöglich ohne Streichung der Auslandschulden, massive Besteuerung der Reichen, entschädigungslose Enteignung des Agrobusiness’, der großen Industriekonzerne und Finanzinstitutionen. Ohne die Bündelung der Ressourcen des Landes unter Arbeiter:innenkontrolle kann ein Notfallplan im Interesse der lohnabhängigen Massen, der Landlosen und Indigenen sowie der Umwelt nicht durchgesetzt werden.

So wie Polizei und Armee als Garantinnen des Privateigentums fungieren, so Alckmin und andere offen bürgerliche Kräfte als Statthalter:innen der herrschenden Klasse und des Imperialismus in der Regierung. In einer Koalition mit diesen wird ein Notprogramm für die Massen ebenso wenig  umsetzbar sein wie die Bewaffnung von Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten. Wir fordern daher von Lula und der PT einen Bruch mit den offen bürgerlichen Minister:innen und die Bildung einer PT/PSOL/CUT-Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und ein Notprogramm durchsetzt. Eine solche Regierung muss mit allen Mitteln gegen jeden Putschversuch – sei es eines Bolsonaro und seiner wild gewordenen Anhänger:innen, sei es gegen andere bürgerliche Kräfte verteidigt werden.

Lula und die PT-Führung (und wohl auch Teile der PSOL- und CUT-Führung) werden zweifellos einen Bruch mit Alckmin und dem bürgerlichen Staatsapparat mit allen Mitteln zu vermeiden suchen. Es reicht jedoch nicht, diese Politik zu kritisieren und vor ihren fatalen Folgen zu warnen. Revolutionär:innen müssen auch Mittel und Taktiken anwenden, die es den Massen, die heute Lula und der PT folgen, die „ihren“ Präsidenten gegen den Putsch verteidigen wollen, ermöglichen, sich von den Illusionen in ihn und seine Politik zu befreien. Dazu ist es nötig, Lula und die PT dazu aufzufordern, weiter zu gehen, als sie wollen – also den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen voranzutreiben und zu unterstützen und mit der Bourgeoisie zu brechen.

Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Lula und die PT-Führung diesen Schritt gehen. Aber solche Forderungen können als Basis für einen gemeinsamen Kampf mit seinen Anhänger:innen gegen die Reaktion dienen. Sie erlauben es, den Widerspruch zwischen der klassenversöhnlerischen Kompromisspolitik der bürokratischen Führungen von PT und CUT einerseits und den Klasseninteressen der Masse ihrer Anhänger:innen andererseits sichtbar zu machen. Einerseits, indem diese Führungen praktisch auf die Probe gestellt werden können, andererseits, indem die Klasse auf die zukünftigen Kämpfe und einen eventuellen Verrat „ihrer“ Regierung vorbereitet und, wo möglich, der Aufbau von Kampforganen in Angriff genommen wird.

Um eine solche Politik praktisch werden zu lassen, muss eine systematische Einheitsfrontpolitik gegenüber PT und CUT mit dem Kampf für eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei verbunden werden.




Brasilien: Der gescheiterte Putsch – eine Warnung an die Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Infomail 1209, 10. Januar 2023

Tausende Anhänger:innen des abgewählten rechten Expräsidenten Bolsonaro stürmten am 8. Januar Kongress, Senat und Präsidentenpalast in Brasilia. Über Stunden hielt der Mob die Gebäude besetzt. Die Forderung war so einfach wie klar: der Sturz der Regierung Lula/Alckmin und die Machtübernahme durch einen Putsch.

Reaktionärer Spuk

Der reaktionäre Spuk war allerdings nach eigenen Stunden vorbei, nachdem regierungstreue Kräfte der Bundes- und Militärpolizei die Gebäude räumten und über tausend Möchtegernputschist:innen festsetzten.

Der missratene Sturm hatte wohl nie Aussicht auf Erfolg. Von Beginn an war nicht klar, wer eigentlich die Macht übernehmen sollte. Weder Bolsonaro noch irgendein namhafter Militär wollte sich an die Spitze einer Aktion stellen, von deren Aussichtslosigkeit sie von Beginn an überzeugt waren.

Bolsonaro verurteilte sogar die Angriffe, die gegen die „Regeln der Demokratie“ verstoßen hätten – freilich nicht, ohne auch gleich die Lüge aufzutischen, dass unter seiner Präsidentschaft Lula und seine Anhänger:innen ähnlich vorgegangen wären. Die über Twitter verbreitete Distanzierung darf außerdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ziel des Expräsidenten, der sich nach der verlorenen Wahl ins „Exil“ nach Florida zurückgezogen hat, weiterhin der Sturz der Lula-Regierung bleibt. Täglich empfängt er dort weiter Unterstützer:innen, darunter Abgeordnete und Gouverneur:innen. Erst vor kurzem erhielt er auch Besuch vom ehemaligen Sicherheitschef Brasilias, der über Stunden die Putischist:innen gewähren ließ und gegen den jetzt ermittelt wird.

Seit der Wahlniederlage des Expräsidenten, die die Bolsonaristas ohnedies für einen „Fake“ halten, demonstrierten diese „friedlich“ vor Kasernen und forderten einen Putsch. Im November organisierten sie Autobahnblockaden, die von rechtsgerichteten Unternehmer:innen finanziert wurden. Wie beim gescheiterten Putsch kommen viele dieser Kapitalist:innen aus dem Agrarsektor. Ende Dezember, also wenige Tage vor der Vereidigung Lulas, wurde in Brasilia ein Bombenanschlag vereitelt, der Chaos verursachen und eine Intervention des Militärs provozieren sollte.

Der Sturm auf die Parlaments- und Präsidentengebäude stellt einen weiteren Höhepunkt dieser Mobilisierungen dar, aber sicher nicht das Ende dieser Umtriebe.

Staatsapparat

Noch deutlicher als andere Aktionen belegte der missratene Putsch jedoch auch die mehr oder weniger offene Sympathie mit den Bolsonaristas im Polizei- und Staatsapparat. Die lokalen Einsatzkräfte waren nicht „überrumpelt“ worden oder nur „inkompetent“, sondern ließen den Mob gewähren. Polizeikräfte hießen die anreisenden Rechten willkommen , machten Selfies mit den Demonstrant:innen und drehten Videos, in denen ihre Sympathie zum Ausdruck kommt. Kein Wunder also, dass der Mob Kongress, Senat und Präsidentschaftspalast mühelos stürmen und verwüsten konnte.

Und natürlich handelt es sich dabei auch nicht bloß um das „Versagen“ von unteren Rängen, sondern die Anhänger:innen des Expräsidenten finden sich an der Spitze des Polizeiapparates. Der Sicherheitschef von Brasilia, Anderson Torres, war unter Bolsonaro Justizminister. Dieser ignorierte, Medien zufolge, Forderungen aus dem Senat, zusätzliche Sicherheitskräfte zu schicken, nachdem dort die Pläne der in einer Telegramgruppe organisierten Demonstrant:innen bekanntgeworden waren.

Noch am 8. Januar wurde Torres entlassen und die öffentliche Sicherheit der Hauptstadt wurde per Dekret Lulas unter Bundesaufsicht gestellt. Darüber hinaus wurde auch der Gouverneur der Hauptstadtregion von einem Bundesgericht für 90 Tage seines Amts enthoben.

Auch wenn der Spuk beendet wurde: Unterschätzt werden darf die Gefahr, die von der Rechten ausgeht, keineswegs. Im Gegenteil. Dass nur einige Tausend Hardcorereaktionär:innen ausreichten, um in die Parlaments- und Regierungsgebäude einzudringen, zeigt, was droht, wenn sich die soziale Lage weiter verschlechtert, die Klassenkonfrontation verschärft und Lula und die PT mit einer prokapitalistischen Politik ihre eigenen Wähler:innen enttäuschen.

Zur Zeit setzen nicht nur die Arbeiter:innen, die städtische und ländliche Armut, die rassistisch Unterdrückten und Indigenen, die Frauen- und Umweltbewegung auf eine Regierung Lula, sondern auch wichtige Sektoren der brasilianischen Bourgeoisie, die Vizepräsident Alckmin in der PT-geführten Regierung repräsentiert. Das ist der eigentliche Grund, warum der Putschversuch nie Aussicht auf Erfolg hatte. Doch diese Allianz gegensätzlicher Klassenkräfte und Interessen stellt keine Garantie gegen weitere Putschversuche dar, sondern eine Gefahr für die Zukunft.

Angesichts der rechten Gefahr setzen Lula und die PT wie schon im Wahlkampf auf ein Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie, die den Putsch gegen Dilma mitorganisierte, aus dem Bolsonaro hervorging. Lula und die PT setzen angesichts der rechten Gefahr und der Aktionen der Bolsonsaristas auf jenen Militär- und Polizeiapparat, dem der Expräsident entstammt und der Lula nur solange stützen wird, wie er die Interessen des brasilianischen Kapitals verteidigt und die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ruhig zu halten vermag.

Dies gilt auch für die Spitzen des westlichen, demokratischen Imperialismus. US-Präsident Joe Biden, der deutsche Kanzler Olaf Scholz und EU-Ratspräsident Charles Michel stellten sich ebenso auf die Seite von Lula/Alckmin wie die Staatschefs von Mexiko, Obrador, und Argentinien, Fernández. Mit scharfen Worten verurteilten sie den „Angriff auf die Demokratie“. Dabei vergaßen sie freilich zu erwähnen, dass sie solche von ihren Verbündeten in Israel, Saudi-Arabien oder der Türkei wenig kümmern. Sie vergaßen vor allem zu erwähnen, dass sie Lula/Alckmin vorrangig nicht wegen „Rechtsstaat“ und „Demokratie“ verteidigen, sondern weil sie sich von der neuen Regierung engere und friktionsfreiere Beziehungen zur USA und EU erhoffen als unter Bolsonaro.

Lehren

1. Die Anhänger:innen Bolsonaros werden sich formieren und radikalisieren. Auch wenn sie unmittelbar nicht über den Rückhalt verfügen, die Regierung zu stürzen, so werden sie weiter eine radikale, kleinbürgerlich-reaktionäre Bewegung aufbauen, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Polarisierung zu einer faschistischen Massenbewegung entwickeln kann. Auch wenn sie sich demagogisch als Kraft gibt, die gegen das Establishment mobilisiert, so richtet sie sich vor allem gegen die Arbeiter:innenbewegung, deren Parteien und Gewerkschaften, die sie als „Elite“ und „Parasiten“ imaginiert. Auf dieser Grundlage steht sie als Reserve des Kapitals zu Verfügung, eine Funktion, die sie im Agrobusiness schon heute ausübt.

2. Auch wenn die Militärpolizei und die Spitzen von Armee und anderen staatlichen Institutionen zur Zeit die Regierung verteidigen, so stellt das nur eine Momentaufnahme dar. Dass Bolsonaro und seine Partei im Repressionsapparat und bei Militärs viel Unterstützung fanden und finden, ist kein Zufall. Schließlich agierten die Repressionskräfte seit Jahren – einschließlich der Regierungszeiten von Lula und Dilma – als brutale Vertreter:innen der herrschenden Klasse. Die indigenen Gemeinden und die Favelas wurden und werden regelmäßig von diesen angegriffen – bis hin zum Mord.

3. Alle Verbindungen von Polizei, Militärpolizei und Streitkräften mit dem Sturm auf das Parlament und den Präsidentenpalast müssen öffentlich gemacht und untersucht werden. Das darf aber nicht Militärgerichten, korrupten Berufsrichter:innen oder einem Parlament überlassen werden, in dem die Bolsonaristas die größte Fraktion stellen. Dazu müssen nicht nur alle Akten öffentlich gemacht, sondern auch Arbeiter:innentribunale eingerichtet werden, die die Verwicklung des Staats- und Repressionsapparates in die rechten Aktionen, aber auch in die Angriffe auf Indigene und Favelas sowie deren Zusammenarbeit untersuchen und aburteilen.

4. Indem Lula und die PT weiter auf den bestehenden Staatsapparat im Kampf gegen die rechte Gefahr setzen, machen sie sich selbst von diesem abhängig, zu deren Geisel für den Fall größerer Klassenkämpfe. Angesichts der Inflation, der ökonomischen Stagnation, des Terrorismus der Großgrundbesitzer:innen gegen Indigene und die Umwelt – um nur einige zu nennen – sind diese unvermeidlich, wenn die Unterdrückten nicht die ganze Last der Misere tragen sollen.

5. Gegen die rechten Umtriebe wie gegen die Polizeigewalt dürften wir uns nicht auf den Repressionsapparat verlassen. Es reicht nicht, den Apparat von kriminellen und putschistischen Beamt:innen zu säubern. Die Gewerkschaften, die MST, die MTST, die PT, die PSOL, PSTU, PCO und andere linke Organisationen müssen vielmehr selbst Selbstverteidigungseinheiten der Lohnabhängigen und unterdrückten Massen aufbauen, die ihre Stadtviertel schützen, gegen etwaige Putschist:innen, Paramilitärs und kriminelle Banden vorgehen. Von Lula und der PT müssen wir fordern, diese aktiv voranzutreiben und die reaktionären Einheiten zu entwaffnen. In den Streitkräften müssen demokratische Soldat:innenkomitess aufgebaut werden, die die Kommandogewalt der Offizier:innen brechen.

6. Bei seinem Amtsantritt versprach Lula eine ganze Reihe von Reformen, darunter die Beendigung der Rodung des Regenwaldes, die Stärkung der Rechte der indigenen Bevölkerung, die Rücknahme neoliberaler Konterreformen der Bolsonaro-Regierung bezüglich Renten, Arbeitszeit, Mindestlohn sowie gewerkschaftsfeindlicher Gesetze. Deren Bekämpfung wurde zu einem Hauptziel seiner Regierung erklärt. Doch diese Reformen werden angesichts einer massiv gestiegenen Staatsverschuldung, ökonomischer Stagnation und der Stärke der Rechten im Staatsapparat und Parlament und der Abhängigkeit von bürgerlichen Koalitionspartner:innen an der Regierung mit parlamentarischen Mitteln nicht durchsetzbar sein.

7. Ein solches Programm kann ebenso wie die Entwaffnung reaktionärer Kräfte nur umgesetzt werden, wenn es mit einer Massenmobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verbunden wird. Die aktuelle Massenunterstützung gegen die Putschist:innen muss für eine solche Offensive zur sofortigen Umsetzung aller Reformversprechen von Lula und der PT sowie eines Sofortprogramms gegen Inflation, Armut, Krise genutzt werden.

8. Es kann nur verwirklicht werden, wenn wir die Privilegien der herrschenden Klasse, deren Privateigentum in Frage stellen. Es ist unmöglich ohne Streichung der Auslandschulden, ohne massive Besteuerung der Reichen, ohne entschädigungslose Enteignung des Agrobusiness, der großen Industriekonzerne und Finanzinstitutionen. Ohne die Bündelung der Ressourcen des Landes unter Arbeiter:innenkontrolle kann ein Notfallplan im Interesse der lohnabhängigen Massen, der Landlosen und Indigenen sowie der Umwelt nicht durchgesetzt werden.

9. So wie Polizei und Armee als Garanten des Privateigentums im Staatsapparat fungieren, so fungieren Alckmin und andere offen bürgerlichen Kräfte als Garanten des Privateigentums, der herrschenden Klasse und des Imperialismus in der Regierung. In einer Koalition mit Alckmin wird ein Notprogramm für die Massen ebenso wenig  umsetzbar sein wie die Bewaffnung von Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten. Wir fordern daher von Lula und PT einen Bruch mit den bürgerlichen Minister:innen und die Bildung einer PT/PSOL/CUT-Regierung, die sich auf die Arbeiter:innenklasse stützt und ein Notprogramm durchsetzt. Eine solche Regierung muss mit allen Mitteln gegen jeden Putschversuch – sei es eines Bolsonaro und seine wild gewordenen Anhänger:innen, sei es gegen andere bürgerliche Kräfte verteidigt werden.

10. Lula und die PT-Führung (und wohl auch Teile der PSOL- und CUT-Führung) werden zweifellos einen Bruch mit Alckmin und dem bürgerlichen Staatsapparat mit allen Mitteln zu vermeiden versuchen – ganz wie sie schon im Wahlkampf auf eine Volksfront mit dem Kapital setzten. Es reicht jedoch nicht, diese Politik zu kritisieren und vor ihren fatalen Folgen zu warnen. Revolutionär:innen müssen auch Mittel und Taktiken propagieren, die es den Massen, die heute Lula und der PT folgen, die „ihren“ Präsidenten gegen den Putsch verteidigen, ermöglichen, sich von den Illusionen in Lula und seine Politik zu befreien. Dazu ist es nötig, Lula und die PT dazu zu zwingen, dazu aufzufordern, weiter zu gehen als sie wollen – also den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen voranzutreiben und zu unterstützen und mit der Bourgeoisie zu brechen.

11. Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass Lula und die PT-Führung diesen Schritt gehen, so erlauben solche Forderungen, einen gemeinsamen Kampf mit seinen Anhänger:innen gegen die Rechte und die Reaktion aufzunehmen, sie erlauben es, den Widerspruch zwischen der klassenversöhnlerischen Kompromisspolitik der bürokratischen Führungen von PT und CUT einerseits und den Klasseninteressen der Masse ihrer Anhänger:innen nutzbar zu machen. Einerseits, indem diese Führungen praktisch auf die Probe gestellt werden können, andererseits, indem die Klasse auf die zukünftigen Kämpfe vorbereitet und, wo möglich, der Aufbau von Kampforganen in Angriff genommen wird.

12. Um eine solche Politik praktisch werden zu lassen, muss eine systematische Einheitsfrontpolitik gegenüber PT und CUT mit dem Kampf für eine neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei verbunden werden.




USA: Wie können US-Gewerkschaften das Streikverbot niederschlagen?

Dave Stockton, Infomail 1208, 22. Dezember 2022

Während die Eisenbahner:innen in Großbritannien mit den Drohungen der Tory-Regierung konfrontiert sind, ihre Streiks durch „Mindestdienst“-Gesetze unwirksam zu machen, wurde die Streikabstimmung von 115.000 US-Güterbahner:innen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen gerade vom Kongress „beiseitegeschoben“. Und zwar nicht von den rechten Republikaner:innen, sondern von „Arbeiter Joe“ Biden und den Demokrat:innen, die sich als „Freund:innen der Arbeit,nehmer’:innen“ ausgeben und das Geld der Gewerkschaften und die Unterstützung der Mitglieder bei Wahlen annehmen.

Gesetz

Am 2. Dezember unterzeichnete US-Präsident Biden ein Gesetz, das die Eisenbahner:innen daran hinderte, einen landesweiten Streik für bessere Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen zu beginnen. Biden, der sich selbst als „arbeiter:innenfreundlichster Präsident in der amerikanischen Geschichte“ bezeichnet hat, hat den Beschäftigten, die seit drei Jahren keine Gehaltserhöhung erhalten haben, ganz einfach das Streikrecht genommen.

Sie kämpften für einen 15-tägigen bezahlten Krankenurlaub pro Jahr und für Änderungen bei der Zeit- und Personalplanung, damit die Arbeiter:innen nicht mehr gezwungen sind, zermürbende Arbeitszeiten zu leisten. Gegenwärtig erhalten die Beschäftigten keine Krankheitstage, und viele haben keine Zeit, sich mit ihrer Familie zu treffen oder sich ausreichend zu erholen.

Als im Sommer dieses Jahres eine landesweite Stilllegung der Eisenbahn möglich wurde, eilte die Regierung auf der Grundlage des arbeiter:innenfeindlichen Eisenbahnarbeitsgesetzes von 1926 … den Bossen zu Hilfe.

Biden setzte die Präsidiale Notstandsbehörde (PEB) ein, um die Verhandlungen zu verfolgen und eine Einigung zu erzielen. Die vorläufige Vereinbarung, die der Kongress nun wahrscheinlich durchsetzen wird, wurde von der Regierung Biden im September ausgehandelt.

Acht der 12 an den Verhandlungen beteiligten Gewerkschaften stimmten dem Vertrag zu, die anderen vier, die 55 Prozent der Beschäftigten vertreten, lehnten ihn jedoch ab. Da die vorgeschriebene Bedenkzeit abläuft, hätte ein Streik am 9. Dezember beginnen können. Die Gewerkschaftsführer:innen haben versucht, ihre Mitglieder von einem zwischen den Arbeit„geber“:innen und der Gewerkschaft unter direkter Vermittlung der Regierung ausgehandelten Vertrag zu überzeugen, aber eine Gruppe gewerkschaftsübergreifender Aktivist:innen, Railroad Workers United (Vereinigte Eisenbahnarbeiter:innen), hat sich für ein Nein eingesetzt.

Der Kongress hat den Arbeiter:innen nun einen Vertrag ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auferlegt, der weiterhin Wochenarbeitszeiten von bis zu 80 Stunden vorsieht. Mit der Behauptung, der aufgezwungene Vertrag enthalte „eine historische Lohnerhöhung von 24 % für die Bahnbeschäftigten“, verschwieg Bidens Büro die Tatsache, dass sich die Erhöhung über fünf Jahre erstrecken würde: weniger als 5 % pro Jahr in einer Zeit eskalierender Inflation.

Die Demokratische Partei beruft sich auf die Tatsache, dass ihre Abgeordneten und Senator:innen auch dafür gestimmt haben, dass Bahnmitarbeiter:innen sieben Tage bezahlten Krankenurlaub erhalten. Die Wahrheit wird durch Bidens eigene Aussage enthüllt, dass sie sie bekommen werden, „sobald ich die Republikaner:innen überzeugen kann, das Licht zu sehen“ – d. h. sie werden sie nicht bekommen. Das liegt daran, dass Biden und die Demokrat:innen im Kongress die sieben Tage in einen separaten Gesetzentwurf aufgenommen haben, der vom Verbot von Streiks und dem erzwungenen Vertrag getrennt ist.

Ursprünglich hatte sich das Weiße Haus gegen die Aufnahme von bezahlten Krankheitstagen in den von der Regierung auferlegten Vertrag ausgesprochen, doch der linke Flügel der Partei im Repräsentantenhaus (die so genannte Riege) und Senator Bernie Sanders hatten dagegen protestiert. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, tarnte den Verrat, indem sie getrennte Abstimmungen anberaumte: eine über den Vertragsentwurf und eine weitere über einen Vorschlag für sieben Tage bezahlten Krankenurlaub, was weniger als die Hälfte der Gewerkschaftsforderungen ausmachte.

Sie wusste genau, dass letzterer Vertrag im Senat niemals durchkommen würde. Er wurde mit acht Stimmen Mehrheit abgelehnt, während das Gesetz zur Durchsetzung des Vertrags den Senat mit 80 zu 15 Stimmen passierte. Auf diese Weise wurden die Eisenbahner:innen ihres Streikrechts beraubt, und es wurde ein für die Bosse vorteilhafter Vertrag durchgesetzt, „um einen möglicherweise lähmenden nationalen Stillstand des Schienenverkehrs abzuwenden“.

Da die wirtschaftliche Bedrohung durch einen landesweiten Bahnstreik die einzige Kraft war, die die Arbeiter:innen gegen ihre Milliardärsbosse wie Warren Buffett einsetzen konnten, hatten Biden und Pelosi sie entwaffnet. Die Partei und der Präsident, die für sich in Anspruch nehmen, „Freund:innen der Arbeit,nehmer’:innen“ zu sein, hatten die Frage des berühmten Pete-Seeger-Songs „Which Side Are You On“ (Auf welcher Seite stehst Du?) fair und ehrlich beantwortet – nicht auf ihrer!

„Sozialistische“ Streikbrecher:innen

Noch aufschlussreicher ist, dass die fünf Mitglieder der linken „Riege“ – die Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), Cori Bush, Ilhan Omar und Jamaal Bowman – mit einer Ausnahme die Hand für die Annahme der Resolution gehoben  haben, mit der die Vereinbarung durchgesetzt wurde, ebenso wie der „sozialistische“ Senator Bernie Sanders, obwohl sie erkannt haben, dass sie schlecht für die Arbeiter:innen ist. Natürlich haben sie auch für die Entschließung gestimmt, die sieben Krankheitstage vorsah. Aber sie wussten bereits, dass dies ein Blindgänger war.

Die einzige Gegenstimme eines Mitglieds der „Riege“  kam von der Abgeordneten Rashida Tlaib. Bush, Omar und AOC sind ebenfalls Mitglieder der Democratic Socialists of America (DSA). Die Hauszeitschrift der Partei, Jacobin, versuchte, diesen Verrat zu vertuschen. Der Redakteur Branko Marcetic behauptete, dass die Abstimmung von Bernie Sanders und der „Truppe“ für sieben Tage Krankenstand „ein weiteres Zeichen für den bescheidenen, aber bedeutenden politischen Wandel im politischen Leben der USA ist, der dank der größeren Bekanntheit von Sanders und seinen progressiven Verbündeten im Kongress stattgefunden hat“.

Die Arbeiter:innen müssen die bittere Lektion lernen, dass die Demokratische Partei für die Kapitalist:innen und nicht für die Arbeiter:innenklasse kämpft. Und zu dem von der DSA-Mehrheitsführung befürworteten „schmutzigen Bruch“ gehört auch die Abstimmung über die Verweigerung des Streikrechts für Arbeiter:innen. DSA-Mitglieder sollten fordern, dass die Organisation die Mehrheit der Stimmen dieser „Riege“ verurteilt und den Prozess der Abspaltung von der zweiten Partei des US-Imperialismus einleitet, um eine unabhängige Partei für alle US-Arbeiter:innen und die sozial und rassisch Unterdrückten zu bilden – eine, die antirassistisch, antisexistisch und antikapitalistisch ist.




USA: Zwischenwahlen zeigen Notwendigkeit einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei

Andy Yorke, Infomail 1205, 1. Dezember 2022

Die Zwischenwahlen in den USA am 8. November waren ein Schock für die Kommentator:innen, die Präsident Biden und der Demokratischen Partei eine Katastrophe voraussagten. Tatsächlich war der Umschwung gegen die etablierte Partei so gering wie seit vielen Jahren nicht mehr, obwohl Biden in den Meinungsumfragen rekordverdächtig unbeliebt ist.

Die von Ex-Präsident Trump vorhergesagte „rote Welle“ zugunsten der Republikanischen Partei blieb aus. In der Tat haben viele der von ihm unterstützten MAGA-Kandidat:innen (Make America Great Again) verloren oder deutlich unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Vielmehr kam es in beiden Parteien zu einer Verschiebung in Richtung „Mitte“. Biden ist sicherlich in seiner Fähigkeit geschwächt, den Großteil seiner innenpolitischen Agenda durch das Repräsentantenhaus zu bringen, aber die Zwischenwahlen waren eine weitaus schwerwiegendere Niederlage für Donald Trump und den von ihm unterstützten rechtspopulistischen Flügel.

Seine Erklärung über seine Kandidatur für 2024 war dementsprechend schwach und schlecht gelaunt. Er drohte seinem republikanischen Mitstreiter Ron DeSantis, der einen Erdrutschsieg bei der Wahl zum Gouverneur von Florida erzielte, mit Enthüllungen, die seine Chancen irreparabel beeinträchtigen würden.

In der Republikanischen Partei zeichnet sich nun ein wahrer Bürger:innenkrieg ab. DeSantis lehnt Trump als Person ab, nicht aber seinen Rechtspopulismus, wie seine Reden zeigen. Dies wird durch sein Eintreten für ein Anti-Woke-Gesetz (soll Gutheißen oder Billigung bestimmter Unterrichtsinhalte durch staatliche Lehrkräfte verhindern) untermauert. Mit dem reaktionären Vorstoß soll das Gutheißen oder die Billigung bestimmter Unterrichtsinhalte durch staatliche Lehrkräfte verhindert werden, so zum Beispiel das Aufgreifen von Lehren der „Critical Race Theory“. Jedes Eingeständnis der rassistischen Vergangenheit und Gegenwart Amerikas soll faktisch aus dem Unterricht verbannt werden.

Auf der anderen Seite gingen Biden und die rechte und mittlere Seite der Demokrat:innen gestärkt aus der Wahl hervor und konnten sich gegen jede ernsthafte Herausforderung von links um Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez und neben dieser den anderen 3 Mitgliedern der „Squad“ (Truppe) – Ilhan Omar, Ayanna Pressley, Rashida Tlaib – behaupten. Sicherlich spielte das Thema Abtreibung der Demokratischen Partei in die Hände und ermöglichte es ihnen, den Vorteil zu überwinden, den die Republikanische Partei in Bezug auf die sich verschlechternde Wirtschaftslage (8 – 9 % Inflation) zu besitzen glaubte.

Jacobin, die Website der Demokratischen Sozialist:innen Amerikas (DSA), lobt in den höchsten Tönen den Sieg von John Fetterman in Pennsylvania als Ergebnis einer starken Wahlkampfunterstützung durch den Gewerkschaftsverband Change to Win und die Aktivist:innen der Lehrer:innengewerkschaft von Pennsylvania; ein Beweis für die immer noch aktiven Verbindungen zwischen den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei. Fetterman vertritt in der Tat relativ progressive Ansichten zu Themen wie der Legalisierung von Cannabis, Abtreibung und einem Mindestlohn von 15 US-Dollar. Aber er prangerte auch den Slogan „Defund the police“ (Keine Finanzierung der Polizei) als „absurd“ an, er erklärte, er werde „hart gegen China“ vorgehen, und er sprach sich für Fracking aus. Er ist bestenfalls ein Mitte-Links-Populist.

Zwischen den kapitalistischen Parteien

Trotz alledem bleiben die amerikanischen Arbeiter:innen, insbesondere diejenigen, die sich an der anhaltenden Streikwelle und den gewerkschaftlichen Organisierungsbestrebungen beteiligen, in dem nicht enden wollenden Wahlzyklus zwischen den beiden kapitalistischen Parteien gefangen, mit einem weiteren zweijährigen Kampf, um Trump oder DeSantis aus dem Weißen Haus und die Konzerndemokrat:innen an der Macht zu halten. Sie können die Ausrede eines festgefahrenen republikanischen Repräsentantenhauses und rechter Demokrat:innen wie Joe Manchin im Senat nutzen, um all die eher arbeiter:innenfreundlichen Versprechen aus Bidens Manifest für 2020 über Bord zu werfen.

Sanders und der linkspopulistische/demokratische sozialistische Flügel drängten auf mehr „wirtschaftliche Botschaften“, die für die Arbeiter:innen attraktiv sein sollten, um die Wahlkampfspots zu ergänzen, die sich auf die Abtreibung konzentrierten – eine versteckte Kritik, dass Biden nicht radikal genug sei. Aber in Wirklichkeit wird die Wirtschaftspolitik der Demokratischen Partei immer die Interessen der Hochfinanz und des Großkapitals in den Vordergrund stellen. Das hat sie schon immer getan, selbst unter der stark mythologisierten Roosevelt-New-Deal-„Koalition“ mit Gewerkschaftsbürokrat:innen und Bürgerrechtsführer:innen. Nur ein unabhängiger Klassenkampf, das Gespenst der Revolution, könnten der herrschenden Klasse radikale Reformen abtrotzen, nicht das fein austarierte politische System und die Hoffnung auf kleine Fortschritte.

Doch die Mehrheit der reformistischen Linken in den USA, allen voran die DSA und die Zeitschrift Jacobin, wollen Arbeiter:innen, Frauen, ethnische Minderheiten und Jugendliche in der Tretmühle der Wahlpolitik halten, indem sie für die Demokratische Partei stimmen und in vielen Fällen auch für sie kandidieren, die zweite Partei des US-Kapitalismus, in der die Spenden der Unternehmen diejenigen der Gewerkschaften in den Schatten stellen, die nur einen weiteren Minderheitenstatus bekleiden.

Das Sanders-Experiment – das zweimal, 2016 und 2020, durchgeführt wurde – hat bewiesen, dass eine „politische Revolution gegen die Milliardär:innenklasse“ nicht durch die Demokratische Partei stattfinden kann, obwohl das Organisationsgremium, das Demokratische Nationalkomitee, die mächtigste und am besten platzierte Herausforderung für ihre Autorität seit Jahrzehnten enthält.

Ein Teil der Jakobiner:innen und einige kleine linke Fraktionen sagen, sie wollen einen „schmutzigen Bruch“ mit der Demokratischen Partei und schließlich eine Arbeiter:innenpartei aufbauen. Wahl für Wahl verzögern sie jedoch die tatsächliche Umsetzung dieser Strategie. Ihr jüngster Vorschlag besteht darin, Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez aufzurufen, diesen Bruch anzuführen, trotz der offensichtlichen Tatsache, dass sie jetzt mehr denn je in der DP integriert sind.

Eine Strategie des „sauberen“ Bruchs bedeutet andererseits, alle Befürworter:innen einer wirklichen Unabhängigkeit zugunsten der Arbeiter:innenklasse zu vereinen, um bei den kommenden Bundesstaats- oder Kommunalwahlen und im Jahr 2024 Arbeiter:innen- und/oder sozialistische Kandidat:innen zu unterstützen. Dies sollte innerhalb der DSA und in den Gewerkschaften verfolgt werden, aber auch die radikalen Aktivist:innen unter den Kämpfer:innen für die Rechte von Frauen, Farbigen, Klimagerechtigkeit usw. einbeziehen.

Es bedeutet, dies auf der Grundlage eines kämpferischen Aktionsprogramms zu tun, um eine unabhängige Arbeiter:innenpartei mit allen laufenden Auseinandersetzungen zu verbinden, einschließlich der Kämpfe gegen Rassismus und die populistische Rechte und ihre faschistischen Ränder. Das Ziel sollte sein, entweder einen DSA-Konvent 2023 zu gewinnen, um ein solches Programm zu verabschieden und einen sofortigen Bruch mit der Demokratischen Partei zu beschließen, oder einen Kongress all derer einzuberufen, die dazu bereit sind.




Haiti: Nein zur UN-US- oder französischen Militärintervention!

Dave Stockton, Infomail 1203, 26. Oktober 2022

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen berät über einen Aufruf seines Generalsekretärs António Guterres zu „bewaffneten Maßnahmen“, um den wichtigsten Hafen Haitis freizugeben und einen humanitären Korridor zu schaffen, um die, wie er es nennt, „absolut albtraumhafte Situation“ zu lösen. Aus Kreisen der Biden-Administration verlautet, der Präsident erwäge die Option, Truppen von den engsten Verbündeten der USA in Lateinamerika einzusetzen, vor allem wegen der massiven Ablehnung früherer nordamerikanischer „Stiefel auf haitianischem Boden“ durch die Einwohner:innen.

Im Jahr 2010 gab es einen Einsatz von US-Marineinfanterieeinheiten, der angeblich die Lieferung von Hilfsgütern nach dem schrecklichen Erdbeben erleichtern sollte. In der Praxis bestand ihre Haupttätigkeit darin, Plünderungen zu verhindern, bei denen es sich in vielen Fällen einfach um hungrige Menschen handelte, die versuchten, Lebensmittel zu bekommen. Die US-Truppen entfremdeten die haitianische Bevölkerung, die sie der sexuellen Belästigung und rassistischen Verhaltensweisen beschuldigte. Es ist klar, dass die Menschen in Haiti keine weitere bewaffnete Scheinintervention aus humanitären Gründen wünschen oder unterstützen.

Lage im Land

Sicherlich ist die wirtschaftliche Lage im Lande erschreckend. Jean-Martin Bauer vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) äußert, dass fast die Hälfte der Bevölkerung, 4,7 Millionen Menschen, von akutem Hunger betroffen ist. Darüber hinaus ist das Land mit einem Ausbruch der Cholera konfrontiert, der auf den Mangel an sauberem Trinkwasser zurückzuführen ist. Beim letzten Ausbruch vor etwa zehn Jahren, nach dem Erdbeben, starben 10.000 Menschen. Bauer sagt:

„Wir haben auch 19.000 Menschen, die im Stadtteil Cité Soleil in Port-au-Prince leben, die mit dem konfrontiert sind, was wir eine Nahrungsmittelkatastrophe nennen würden. Jüngste Daten deuten darauf hin, dass eines von fünf Kindern in diesem Viertel von akuter Unterernährung betroffen ist.“ 75 Prozent der jungen Menschen des Landes sind arbeitslos.

Haitis Staatsfinanzen sind seit langem bankrott, und zwar aus verschiedenen Gründen, die von der grassierenden Korruption bis zu den winzigen Steuereinnahmen reichen, die nur 5,6 Prozent des BIP betragen. (Frankreichs Quote liegt bei 45,4 Prozent.)

Banden

Auch die Frage der Banden ist alles andere als unbedeutend. Bewaffnete Banden kontrollieren die Hälfte der Hauptstadt und haben seit letztem Monat das wichtigste Treibstoffterminal in der Hauptstadt Port-au-Prince blockiert und den Zugang zu den Versorgungswegen im ganzen Land unterbrochen. Es liegt auf der Hand, dass Haiti Lebensmittel, Treibstoff und sauberes Wasser braucht. Natürlich braucht das Land „Recht und Ordnung“, um Lebensmittel und medizinische Teams sicher in die derzeit abgeschnittenen Gebiete zu bringen. Aber dies muss von der Masse der Menschen selbst, an der Basis, geschaffen werden.

Echte Ordnung und Frieden werden nicht durch ausländische Truppen geschaffen, die bei ihren zahlreichen früheren Interventionen die Lage nur noch verschlimmert haben, nicht zuletzt, weil die Bereitstellung humanitärer Hilfe nie ihr Hauptanliegen bildete.

Außerdem sind die Banden eine Folge und nicht die Ursache der schrecklichen Probleme des Landes. Diese rühren von der zersplitterten politischen Elite des Landes her, die jegliche demokratische und soziale Lösung für Haitis Armut blockiert und die Banden bewaffnet und finanziert hat. Doch hinter dieser korrupten haitianischen Elite steht der westliche Imperialismus, insbesondere die USA, aber auch Frankreich, Kanada, Spanien und andere, die die natürlichen Ressourcen des Landes gestohlen haben, anstatt das Land zu entwickeln.

Die westlichen Medien konzentrieren sich vor allem auf das Problem der Banden, aber in den letzten Monaten und auch schon mehrmals in den vergangenen Jahrzehnten hat das Land große Wellen von Straßenprotesten erlebt, denen sie viel weniger Aufmerksamkeit schenkten. Die letzten fanden im vergangenen Jahr und in den letzten Monaten statt, um gegen die steigenden Kraftstoff- und Lebensmittelpreise zu protestieren und den Rücktritt von Interimspremierminister Ariel Henry zu fordern, der kein demokratisches Mandat besitzt.

Er wurde nach der „mysteriösen“ Ermordung von Präsident Jovenel Moise im Juli 2021 durch professionelle Auftragskiller:innen, die, wie viele Haitianer vermuten, von Personen aus den USA und Kolumbien organisiert wurden, faktisch von der US-Administration eingesetzt. Moise gehörte einer rechtsgerichteten neoliberalen Partei an und stellte 2017 die Armee wieder auf, die 1995 nach einer Reihe von blutigen Militärputschen aufgelöst worden war.

Die neue Truppe verfügte nur über etwa 500 Soldat:innen und war den Banden, deren Zahl heute auf 20.000 bis 30.000 geschätzt wird, zahlenmäßig weit unterlegen. Die haitianische Polizei, die etwa 15.000 Kräfte zählt, ist nur mangelhaft ausgerüstet. Daher verbündete sich Moise mit einigen der Banden, um die Straßenproteste der Opposition gegen seine Sparmaßnahmen zu unterdrücken.

Eine der größten Banden ist die G9, deren vollständiger Name „G9 Familie und Verbündete“ lautet und die von einem ehemaligen Polizisten, Jimmy Chérizier (Babekyou), angeführt wird. Wie der Name schon sagt, handelt es sich um einen Zusammenschluss von neun in der Hauptstadt ansässigen Banden, deren Kräfte das größte Tanklager des Landes blockiert und 50 Millionen US-Dollar für die Verteilung von Erdölprodukten gefordert haben, was zu großen Engpässen in ganz Haiti führte. Chérizier ist ein erbitterter Gegner von Henry und besteht darauf, dass seine Bande in Wirklichkeit eine politische Bewegung ist. Er gibt Interviews vor einem Poster von Che Guevara.

Geschichte

Haiti blickt auf eine lange Geschichte von US-Militärinterventionen und -besetzungen zurück, die bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreichen; die erste dauerte 30 Jahre. Die USA unterstützten die berüchtigte Duvalier-Dynastie, „Papa Doc“ und „Baby Doc“, zwischen 1957 und 1985. Dann unterstützte die CIA 1991 einen Militärputsch, durch den der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes, Jean-Bertrand Aristide, gestürzt wurde. Als die Militärjunta 1994 mit einem Volksaufstand konfrontiert wurde, besetzten 20.000 von den USA gesponserte „friedenserhaltende“ Truppen Haiti. Ihr Ziel war nicht, wie sie behaupteten, die Wiederherstellung der Demokratie, sondern die Verhinderung der Machtergreifung durch Aristide-freundliche Kräfte.

Aristides linkspopulistische Partei Fanmi Lavalas (Wasserfallfamilie; in Bezug auf die biblische Sintflut) gewann die Wahlen 2001 erneut mit einem ehrgeizigen Programm sozialer Reformen, die in vielerlei Hinsicht denen von Hugo Chávez in Venezuela ähnelten. Doch als er versuchte, diese umzusetzen, wurde er von der einheimischen Elite und der US-Regierung sabotiert, die einen Bürger:innenkrieg auslösten und Aristides Entführung und Absetzung im Jahr 2004 verursachten.

Ein nicht unwesentliches Motiv für diese Putsche war die Entschlossenheit der USA, radikale „Experimente“ wie in Kuba oder Venezuela zu verhindern und auch die Kontrolle über Haitis Naturreichtum zu erlangen. Das Land verfügt über große, noch nicht erschlossene Öl- und Kupferreserven sowie über Uranvorkommen und die zweitgrößten Iridiumvorräte der Welt.

Forderungen und Perspektive

Angesichts einer weiteren geplanten Intervention durch US- oder UN-Kräfte sollten Sozialist:innen und Internationalist:innen in den USA und Europa fordern:

  • Keine militärischen Operationen auf der Insel durch externe Kräfte!

  • Eine internationale Hilfsaktion – zur Bereitstellung von Lebensmitteln, Treibstoff und medizinischer Versorgung, aber ohne Bedingungen und unter Kontrolle der Haitianer:innen selbst!

Sozialist:innen weltweit sollten den Kampf des Proletariats des Landes – einschließlich der riesigen Zahl der städtischen Armen – gegen die korrupte Elite und den US-Imperialismus unterstützen.

Inselbewohner:innen, die in gewaltiger Zahl gegen aufeinander folgende korrupte und repressive Regierungen demonstriert haben, müssen ihre eigene Basisdemokratie in Gestalt von Delegiertenräten aus den Betrieben, den Elendsquartieren und auf dem Lande schaffen. Diese sollten die Verteilung von Notversorgungsgütern an die Bedürftigsten überwachen und organisieren. Solche Räte müssen Milizen formieren zum Schutz und zur Wiederherstellung von Ordnung für die Bevölkerung.

Darauf aufbauend könnte eine Arbeiter:innen und Bäuerinnenregierung errichtet werden, die Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung abhalten, die lokale Oligarchie stürzen und das Land dem Würgegriff des Imperialismus entwinden könnte.




Brasilien: Zwischen zwei Wahlgängen

Dave Stockton, Infomail 1201, 9. Oktober 2022

Entgegen den Meinungsumfragen des Landes, die Lula da Silva einen klaren Sieg in der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen voraussagten, zeigt das Ergebnis – 47,9 % für Lula und 43,6 % für Bolsonaro – der Abstimmung vom 2. Oktober, dass sein Gegenkandidat, der rechtsextreme Demagoge Jair Bolsonaro, immer noch die Chance auf einen Überraschungssieg am 30. Oktober hat. Er schnitt besser als erwartet in Brasiliens südöstlicher Region ab, die die bevölkerungsreichen Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais umfasst.

Darüber hinaus hat die extreme Rechte ihre Position bei den Wahlen zum Senat gefestigt. Bolsonaros falsch benannte Liberale Partei (PL) gewann 14 Sitze gegenüber nur 8 Sitzen für Lulas Arbeiter:innenpartei (PT) und wurde damit zur größten politischen Gruppe im Oberhaus. Die PL belegte mit 99 Sitzen auch den ersten Platz in der Abgeordnetenkammer, die jedoch, da sie nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, von den 20 Parteien des sogenannten „großen Zentrums“ (Centrão) mit 148 Sitzen dominiert wird. Dieses wird jedoch von einem Verbündeten Bolsonaros, Arthur Lira (Progressistas, PP), angeführt, der von Bolsonaro großzügig finanziert wurde, um seine Verbündeten zu wählen.

Auch bei den Gouverneurs- und Senatswahlen erzielten die Anhänger:innen Bolsonaros und anderer rechter Parteien ein besseres Resultat als erwartet, obwohl die PT die Stadt São Paulo mit einem Vorsprung von 10 Prozent gewann. Sie erreichte im Nordosten und in Minas Gerais, einem wichtigen Wahlbezirk, durchaus ihr Wahlziel.

Die anderen Präsidentschaftskandidat:innen, die nun von der zweiten Runde ausgeschlossen sind, waren Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Bewegung der Brasilianischen Demokrat:innen (MDP) mit vier Prozent und Ciro Gomes von der Mitte-Links-Partei der Demokratischen Arbeit (PDT) mit knapp über drei Prozent. Kommentator:innen gehen davon aus, dass ihre Wähler:innen eher zu Lula als zu Bolsonaro wechseln werden, aber das Umwerben ihrer Führer:innen wird Lula im Wahlkampf für die zweite Runde wahrscheinlich weiter nach rechts rücken.

Polarisierung

Lulas „Sieg“ in der ersten Runde ist also alles andere als ein Gewinn für die Linke. Die Wahl von Geraldo Alckmin, einer konservativen bürgerlichen Persönlichkeit, zu seinem Vizepräsidenten bedeutet in Verbindung mit der Macht der Rechten im Kongress und in vielen Provinzen, dass von ihnen im Amt nichts Radikales zu erwarten ist. Selbst wenn Lula sich aus ihrer Zwangsjacke befreien und Reformen zugunsten der Arbeiter:innenklasse vorschlagen würde, hätten die Rechten in Alckmin einen weiteren Michel Temer, der 2016 den „institutionellen Putsch“ gegen die PT-Präsidentin Dilma Rousseff anführte.

Offensichtlich gibt es unter großen Teilen der Arbeiter:innenklasse, der schwarzen, indigenen und LGBTIAQ-Gemeinschaften, vielen progressiven Teilen der Frauen, der Jugend und der Mittelschicht enormen Hass und Angst vor Bolsonaro. Viele einflussreiche Wirtschaftskreise unterstützen jetzt Lula als das kleinere Übel wegen Bolsonaros katastrophaler Politik in den Bereichen Covid und Wirtschaft. Seine Regierungsbilanz ist eine Katastrophe, angefangen bei der Übernahme von Donald Trumps Politik der Verleugnung und des Werbens für Quacksalbermedizin, die zum Tod von 700.000 Menschen geführt hat. Die Aufhebung von Umweltschutzgesetzen und die offene Förderung des Abbrennens und der Abholzung von noch mehr Amazonas-Regenwald haben zu einer Verdoppelung der CO2-Emissionen in den Jahren 2019/20 im Vergleich zum Durchschnitt des vorherigen Jahrzehnts geführt.

Zu Bolsonaros arbeiter:innenfeindlichen Wirtschaftsreformen gehören die sogenannten Arbeits- und Rentenreformen und die Kürzung des Familienunterstützungsprogramms „Bolsa Família“.  Im Jahr 2019 erlebte dieses Programm den stärksten Rückgang in der Geschichte: Die Zahl der empfangenden Familien ging von 14 Millionen auf 13 Millionen zurück, während die Zahl derer, die in der Schlange standen, um das Programm zu erhalten, 1,5 Millionen überstieg. Die Zahl der Brasilianer:innen, die Hunger leiden, stieg von Ende 2020 bis Anfang 2022 von 19,1 Millionen auf 33,1 Millionen, das sind etwa 15,5 Prozent der Bevölkerung. Bei einer jährlichen Inflationsrate von 8,73 Prozent können diese Zahlen nur noch schlimmer werden.

Bolsonaros Ideologie und Rhetorik weisen sicherlich starke Anklänge an den Faschismus auf, und seine Anhänger:innen verüben gewalttätige, sogar mörderische Angriffe auf Persönlichkeiten der Arbeiter:innen- und anderer fortschrittlicher Bewegungen. Es handelt sich jedoch noch nicht um eine voll entwickelte faschistische Massenmiliz, die in der Lage wäre, eine faschistische Diktatur zu errichten. Auch die oberen Ränge der brasilianischen Bourgeoisie rufen nicht zu einem solchen Ergebnis auf. Das Gleiche gilt für Washington, ganz zu schweigen von den imperialistischen Mächten in der Europäischen Union.

Sie würden Lula eindeutig bevorzugen, vor allem einen gezähmten Lula mit Alckmin als Vizepräsidenten. Alckmin war bis vor kurzem einer der wichtigsten Führer einer der größten Parteien der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB. Für die Wahl wechselte er zu einer kleineren Partei. Während seiner Zeit als Gouverneur von São Paulo ließ er Lehrer:innenstreiks niederschlagen und Demonstrationen unterdrücken und war Mitinitiator des so genannten Pinheirinho-Massakers im Jahr 2012, bei dem mehr als 1.500 Familien – zwischen 6.000 und 9.000 Menschen – mit Hubschraubern, Panzern, Pferden und Tränengas aus den größten Favelas, den Elendsquartieren der Region, vertrieben wurden. Er ist auch nicht einfach nur Vizepräsident. Er bringt in Lulas „breites Bündnis“ (Volksfront) eine Koalition von Parteien und Abgeordneten ein, die die wirtschaftlichen und sozialen Grenzen jeglicher echter Reformen festlegen werden.

Bolsonaro und die Gefahren  eines Putsches

Vor der Wahl sagte Bolsonaro: „Wenn ich verliere, dann weil die Wahl gefälscht wurde“, und seine massenhafte reaktionäre Anhänger:innenschaft wäre sicherlich zu einem weitaus ernsthafteren Versuch fähig, an der Macht zu bleiben, als die Anhänger:innen von Donald Trump, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol stürmten.Die brasilianische Gesellschaft ist eindeutig von einem reaktionären Block um Bolsonaro polarisiert, ähnlich wie Trump und die Republikaner:innen in den USA. Wahrscheinlich hat er  jetzt mehr gut bewaffnete Anhänger:innen als Trump bei der Erstürmung des US-Kapitols, so dass eine Wiederholung dieses Vorgangs vermutlich noch blutiger und zerstörerischer sein würde. Bolsonaro selbst hat praktisch einen Umsturz versprochen, der auf der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses beruht.

Zwei Faktoren mögen dagegen sprechen. Erstens: Angesichts der Position der Mehrheit der Bourgeoisie, der Mehrheit ihrer Parteien, der Haltung Bidens, der potenziellen Stärke der Arbeiter:innenpartei, des CUT-Gewerkschaftsverbands und anderer gesellschaftlicher Kräfte wäre dies ein komplettes Abenteuer.

Die deutliche Stärke, die Bolsonaros Kräfte bei den Wahlen an den Tag gelegt haben, lässt einen logischeren Weg vermuten, seine Position in den Gouverneursämtern und im Senat sowie die unzweifelhafte Sympathie der Polizei und eines Teils des Oberkommandos der Armee zu nutzen, um eine Regierung Lula-Alckmin zu blockieren und vereiteln.  Schließlich werden die nächsten Jahre wahrscheinlich von einer weltweiten Wirtschaftskrise geprägt sein, und die Regierung wird nicht über die Mittel für soziale Reformen verfügen, die Lula in den Jahren 2003 – 2010 zur Verfügung standen. Ob Bolsonaro dieses Maß an Geduld aufweist, werden wir bald sehen.

In jedem Fall sollten die Arbeiter:innen und alle Unterdrückten Brasiliens nicht darauf warten, dass die fortschrittliche Bourgeoisie und die liberalen Imperialisten im Ausland, geschweige denn die Streitkräfte des Landes, die Demokratie verteidigen. Man kann auch nicht erwarten, dass Lula sich mutiger oder entschlossener verhält als Salvador Allende 1973 in Chile. Ein entwaffnetes Volk, wie geeint es auch sein mag, wird immer besiegt werden. Die Arbeiter:innen- und Volksorganisationen müssen mehr tun als nur demonstrieren. Sie müssen Delegiertenräte und bewaffnete Milizen bilden, um sich gegen Bolsonaros Banden und gegen jede Intervention des Militärs zu schützen.

Revolutionär:innen, die dem klaren Rat von Leo Trotzki aus den 1930er Jahren und der Praxis von Lenin aus dem Jahr 1917 folgen, sollten Lula-Alckmin weder an der Urne noch nach dem Wahlgang Vertrauen aussprechen. Wir sollten nur Arbeiter:innen- und sozialistische Kandidat:innen (einschließlich der PT) unterstützen, wenn diese unabhängig von allen bürgerlichen Parteien sind. Wir sollten für alle PT- und sozialistischen Kandidat:innen stimmen, die dies tun und in den Massen gut verwurzelt sind, gerade um die Kräfte der Klassenunabhängigkeit zu stärken. Mit ihnen sollten wir eine Einheitsfront bilden, die in der Lage ist, nicht nur Bolsonaro, sondern auch Lula-Alckmin zu bekämpfen, wenn diese die Rechte und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen angreifen.

Eine Regierungskoalition mit der Bourgeoisie wird nicht in der Lage sein, lebenswichtige Reformen durchzuführen, die die Arbeiter:innenklasse braucht, sondern wird zusammen mit den Gewerkschaften der CUT die Arbeiter:innen dazu drängen, Opfer zu bringen und ihren Kampf zu zügeln, um diese Regierung im Amt zu halten. Das wiederum wird die Kräfte der Arbeiter:innen und aller anderen fortschrittlichen Strömungen schwächen. Was die Verteidigung gegen einen Bolsonaroputsch angeht, so befürworten wir eine Einheitsfront der PT, der Gewerkschaften, kleinerer Parteien wie der PSOL und der PSTU sowie der kommunistischen Parteien, um ihn zu besiegen. Wir plädieren jetzt dafür, dass sie Verteidigungseinheiten bilden, um jeden Angriff auf die Regierung von rechts abzuwehren.

Gleichzeitig müssen wir für die Bildung von Aktionsräten kämpfen, an denen sich alle Kräfte der Arbeiter:innenklasse und des Fortschritts beteiligen. Wir müssen für ein Programm revolutionärer antikapitalistischer Maßnahmen gegen Inflation, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung eintreten, Land für Landlose, Selbstbestimmung und Landrechte für indigene Gemeinschaften und geplanten Widerstand gegen Umweltzerstörung fordern.




Wahlen in Brasilien – der Kampf geht in eine neue Etappe

Markus Lehner, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Seit fast einem Jahrzehnt befindet sich die brasilianische Wirtschaft in der Krise. Das einstige „Schwellenland“ wird von Stagnation, Inflation und Arbeitslosigkeit gebeutelt. Weit über die offiziellen Zahlen hinaus sind über 50 Millionen Brasilianer:innen ohne Arbeit, weitere mehr als 30 Millionen prekär beschäftigt – für einen großen Teil der brasilianischen Bevölkerung ist das tägliche Überleben damit zur Hölle geworden.

Diese Situation hat sich durch den teilweisen Zusammenbruch des Gesundheitssystems während der Pandemie noch verschärft. Nicht nur, dass über 700.000 Menschen im Gefolge von Corona gestorben sind, haben sich durch die praktisch nicht vorhandene Pandemiepolitik die Arbeitsausfälle so gehäuft, dass auch wirtschaftlich ein schwerer Einbruch erfolgte. Zu dieser ökonomischen, sozialen und gesundheitspolitischen Krise kommt die Verschärfung der ökologischen, die neben der wahnwitzigen Abholzung im Amazonas-Regenwald auch vermehrt zu durch den Klimawandel bedingten Katastrophen führt. Die soziale Spaltung in Brasilien betrifft auch verstärkt Indigene, Nicht-Weiße, Frauen und LGTBIAQ+-Menschen, die nicht erst seit der Bolsonaro-Regierung unter verstärkten Angriffen auf ihre Rechte leiden.

Politische Dauerkrise

Zu dieser Gemengelage gesellt sich seit dem Sturz der letzten PT-Regierung (Partido dos Trabalhadores; Partei der Arbeiter:innen) die politische Krise. Das mit dem „Übergang“ von der Militärdiktatur in den 1980er Jahren geschaffene politische System funktioniert nur durch ein komplexes Geflecht an politischen Parteien, die über mehr oder weniger offene Korruption mit den unterschiedlichen Kapitalgruppen verbunden sind. Über diese Form der „Kooperation“ wird ihre Unterstützung für Regierungen vermittelt.

Während des Wirtschaftsaufschwungs der frühen 2000er Jahre war die PT unter Lula in der Lage, für eine gewisse Zeit die Arbeiter:innenklasse in dieses System einzubinden und somit die sozialen, ökologischen und politischen Konflikte zu kanalisieren. Weil sie im Gegensatz zu den meisten offen bürgerlichen Parteien über eine Massenorganisation verfügte, war sie unter Kontrolle einer reformistischen Führung sogar eine gewisse Stabilitätsgarantin für den brasilianischen Kapitalismus.

Mit Beginn der Krise zwischen 2012 und 2015 setzte die Bourgeoisie jedoch zunehmend auf den Bruch mit der PT und eine neoliberale Radikalkur. Der Putsch gegen Dilma ermöglichte unter Temer „Reformen“ der Arbeitsbeziehungen (weitgehende Informalisierung der Arbeitsverträge), Austrocknung der öffentlichen Haushalte (Verankerung von Schuldenbremsen in der Verfassung) und eine Beschleunigung von Privatisierungen. Die Unbeliebtheit Temers und die wachsende Protestbewegung drohten, 2018 die PT wieder an die Macht zu bringen – worauf die Bourgeoisie auf die Karte des Rechtspopulismus in Gestalt des bis dahin unbedeutenden Rechtsaußen Jair Bolsonaro setzte.

Bolsonaro und die Bourgeoisie

Auch wenn die Ideologie Bolsonaros und seine Rhetorik Anklänge an den Faschismus aufweisen, so hatte er bei der Wahl keine Massenbewegung und faschistische Milizen in einer Zahl hinter sich, die notwendig gewesen wäre, um tatsächlich ein faschistisches Regime zu errichten. Auch wenn Kräfte im bewaffneten Staatsapparat seine rechte Politik unterstützen und auch in der Regierung die Zahl der Militärs anstieg, so wurde doch in Brasilien keine faschistische Diktatur errichtet, die die Arbeiter:innenbewegung insgesamt zerschlägt und atomisiert, auch wenn die wachsende Zahl an repressiven Aktionen und politischen Morden nicht verharmlost werden darf.

Die Regierung Bolsonaro war zudem durch große Widersprüche zwischen den verschiedenen bürgerlichen Kräften geprägt, die dieses Regime unterstützen. Der Rechtsaußen war nie in der Lage, diese divergierenden Interessen und Machtzentren zu einer einheitlichen Politik zu formen. Das Ergebnis war ein absurdes Chaos von halbherzigen Maßnahmen, die ihren Gipfel in der völlig wirren Coronapolitik fanden. Es ist kein Wunder, dass auch große Teile der Bourgeoisie inzwischen Bolsonaro nicht mehr als Präsidenten haben wollen. Im Vorlauf zur Präsidentenwahl kam es bei einschlägigen Meetings von Unternehmer:innen und Vertreter:innen der US-Administration zu eindeutigen Stellungnahmen gegen eine erneute Präsidentschaft Bolsonaros, die zunächst in der Suche nach einem/r „dritten“ Kandidat:in mündeten. Als dies scheiterte, kam die PT wieder ins Spiel.

Nach dem Dilma-Putsch wurde versucht, die PT auszugrenzen, wenn nicht gar zu zerschlagen. Zentral dabei waren der Prozess und die Inhaftierung von Lula. Als wenn die Korruption nicht im Zentrum des politischen Systems des Kapitalismus in Brasilien stünde, wurden die PT und allen voran Lula zu ihrem Zentrum erklärt und ihr dafür stellvertretend der Prozess gemacht („Lava Jato“-Prozesse, benannt nach der sog. Autowaschaffäre). Doch die PT überlebte und blieb sogar Kern von Protesten gegen die Temer-Reformen und ihre Fortsetzung unter Bolsonaro.

PT, Lula und Alckmin

Die PT und der von ihr geführte Gewerkschaftsdachverband CUT erwiesen sich auch als wichtig, um die wachsenden Massenproteste zu kanalisieren und wieder in Richtung Alternativen bei Wahlen zu lenken. Die Angst vor weiteren Protesten und die Unzufriedenheit mit Bolsonaro führten die Bourgeoisie wohl dazu, die PT wieder als Teil der Lösung ihrer Probleme zu sehen. Plötzlich wurde „entdeckt“, dass bei den Prozessen gegen Lula Unregelmäßigkeiten passiert waren. Das oberste Gericht annullierte seine Verurteilung und stellte seine vollen politischen Rechte wieder her.

Lula begann danach, sofort die Karte des „Anti-Bolsonaro“ zu spielen. Unter dem Motto, dass es vor allem darauf ankomme, eine weitere Präsidentschaft Bolsonaros zu verhindern, sollte es oberstes Ziel der PT und ihrer Unterstützer:innen sein, nicht auf die Straße zu gehen, sondern ein „breites Bündnis“ für die kommende Präsidentschaftswahl zu schmieden. Für dieses fand sich denn auch einer der wichtigsten Vertreter der brasilianischen Bourgeiosie, Geraldo Alckmin, als „running mate“ für die Kandidatur zur Präsidentschaft (für die nun die Liste Lula-Alckmin von der PT unterstützt wird).

Alckmin ist nicht nur einer der prominentesten Politiker der wichtigsten Partei der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB (auch wenn er formell für die Wahl zu einer kleineren bürgerlichen Partei übergetreten ist). Er war für diese nicht nur 2006 Präsidentschaftskandidat gegen Lula, sondern auch langjähriger Gouverneur der wichtigsten Region Brasiliens, Sao Paulo. In Sao Paulo unterdrückte er nicht nur auf brutale Weise Streiks (wie den großen Lehrerstreik) und Demonstrationen (wie die gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr), er war auch Mitverantwortlicher für das „Pinheirinho-Massaker“ bei der Zwangsräumung einer der größten Favelas in der Region. Alckmin ist nicht nur als Wirtschaftsliberaler bekannt, er bringt auch eine entsprechende Koalition von Parteien (oder besser gesagt Abgeordneten) in das „breite Bündnis“ ein, die letztlich bei einer Regierung Lula-Alckmin die wesentlichen politischen Linien vorgeben werden (d. h. ohne die die PT nicht die Spur einer Mehrheit im Kongress haben würde). Zudem verkörpert Alckmin als Vizepräsident wieder die Möglichkeit, im Ernstfall den Dilma-Putsch diesmal gegen Lula durchzuführen.

Polarisierung und Putschgefahr

Die Wahl ist klar zwischen Lula/Alckmin und Bolsonaro polarisiert. Andere Kandidat:innen werden es nicht in den zweiten Wahlgang schaffen, sollte Lula nicht sowieso schon im ersten Wahlgang gewinnen. Natürlich stellt eine zweite Amtszeit von Bolsonaro eine große Bedrohung dar, da er inzwischen beachtliches repressives Potenzial angesammelt hat. Er hat seine Stellung im Staatsapparat und gegenüber den bewaffneten Organen genutzt, um nicht nur dort seine Anhängerschaft auszubauen, sondern auch große bewaffnete Unterstützerorganisationen aufzubauen (von pensionierten Militärpolizist:innen, über Jägervereine, bis zu Biker:innen und bewaffneten Milizen der Agrobosse). Ein Sieg Bolsonaros würde daher sicherlich eine Steigerung der Repression bedeuten.

Für den wahrscheinlichen Fall einer Wahlniederlage wird jetzt von immer abenteuerlicheren Putschdrohungen aus dem Bolsonaro-Lager berichtet. Ein solcher Putsch wäre angesichts der mangelnden Unterstützung durch große Teile der Bourgeoisie und der US-Administration zwar tatsächlich reines Abenteurertum – ist aber deswegen nicht ausgeschlossen. Gegen diese rechte Gefahr muss die Arbeiter:innenklasse ihre Einheitsfront aufbauen und sie mit ihren Mitteln bekämpfen (inklusive dem Aufbau von Selbstverteidigungskräften und eigenen Milizen). Sollte es tatsächlich zu einem Putsch und einer folgenden Repressionswelle kommen, müsste sofort eine Massenbewegung bis hin zum Generalstreik diesen sofort zu Fall bringen. Es wäre hier fahrlässig, auf die „demokratischen“ Teile in Armee, Parteien, Gerichten und Staatsapparat zu setzen (wie jetzt in den verschiedenen offenen Briefen suggeriert wird). Die Gefahr eines solchen halbfaschistischen Putsches könnte nur durch entschlossene Massenaktion gestoppt werden. Diese würde zugleich die Allianz von PT und CUT mit der Bourgeoise massiv unter Druck bringen, weil Alckmin ganz sicher keine bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der Arbeiter:innenklasse auf der Straße sehen will.

Volksfront und Wahltaktik

Eine Lula/Alckmin-Regierung dagegen würde tatsächlich eine Fortsetzung der Temer’schen „Reformen“ bedeuten. Auch wenn Lula eine Revision der Arbeitsmarkt- und Haushaltsdekrete verspricht, ist angesichts seines Bündnisses klar, dass dies höchstens Kosmetik bleiben wird. Dies betrifft auch die Fortsetzung der Privatisierungspolitik und lässt angesichts der Haushaltslage auch keine wesentliche Verbesserung der Sozialleistungen für die Millionen von notleidenden Brasilianer:innen erwarten. Angesichts der zu erwartenden weiteren Verschlimmerung der wirtschaftlichen und ökologischen Krise wird somit die Enttäuschung über die nächste Lula-Präsidentschaft sehr schnell einsetzen.

Mit Lula als Präsident werden zugleich die PT und die CUT wachsende Massenproteste noch weiter zurückzuhalten versuchen. Wenn es dann der Linken nicht gelingt, eine alternative Führung zu PT/PCdoB aufzubauen, wird der Massenunmut notwendigerweise wiederum den rechtsextremen Rattenfänger:innen in die Hände spielen (ob mit Bolsonaro, seinen Söhnen oder welchem Clown auch immer an der Spitze).

Wie Trotzki schon an Hand der Volksfront in Frankreich in den 1930er Jahren nachgewiesen hat, stellen diese und ihr Elektoralismus samt bürgerlicher Koalitionspolitik die beste Vorbereitung für die nächste Welle der rechten Mobilisierung bis hin zum Faschismus dar. Für Volksfronten als solche kann es daher niemals auch nur eine kritische Wahlunterstützung geben. Das trifft aber wie in Frankreich in den 1930er Jahren natürlich nicht für die Kandidat:innen der reformistischen Parteien in der Volksfront zu, sofern deren Wahl möglich ist, ohne die offen bürgerlichen gleich mitzuwählen. Revolutionär:innen können daher nicht für die Liste Lula/Alckmin bei den Präsidentschaftswahlen stimmen, weil diese nur im Paket ankreuzbar ist. Eine Stimme für Lula/Alckmin kommt daher unwillkürlich nicht nur einer für Lula, sondern auch für den bürgerlichen Kandidaten, also die gesamte bürgerliche Koalition, gleich.

Anders verhält es sich mit einzelne Kandidat:innen der PT, aber auch der mit ihr verbündeten PCdoB oder der PSOL für Sitze im Kongress. Für die Wahl dieser Kandidat:innen fordern wir ihre Wähler:innen jedoch auf, sie zum Bruch mit der bürgerlichen Koalition, zum Widerstand gegen die neoliberale Regierungspolitik unter welcher Führung auch immer und zur Unterstützung der Massenproteste gegen Krise und rechte Gefahr zu zwingen. Wir fordern von PT, PCdoB, PSOL und CUT, eine Minderheitsregierung gestützt auf die Mobilisierung ihrer Anhänger:innen zu bilden.

Brasilianische Linke

Die brasilianische Linke hat eine intensive Auseinandersetzung mit der Kandidatur Lulas hinter sich. Ausgehend von den Kampagnen zu seiner Befreiung haben sich nach seiner Entlassung bald Initiativen zu „Lula Presidente“ gebildet, die das mit Massenprotesten und einer reinen PT-Kandidatur verbinden wollten (z. B. so die PCO). Tatsächlich war dies auch geeignet, um dann gegen die sich abzeichnende Lula/Alckmin-Liste Widerstand in der PT und den anderen Parteien (insbesondere der PSOL) zu entfalten. Dieser fand tatsächlich breite Resonanz, wurde jedoch letztlich durch die undemokratischen Manöver von Parteiapparat und Lula selbst umgangen und kaltgestellt.

In der PSOL trat deren bekannteste Führungsfigur, Guilherme Boulos (ihr letzter Präsidentschaftskandidat und Kandidat als Gouverneur für Sao Paulo), sofort mit Begeisterung für die Unterstützung der Lula/Alckmin-Koalition ein. Doch in der Partei gab es beträchtlichen Widerstand, der auch in der Frage der Aufstellung einer eigenen Kandidatur kumulierte. So argumentierte eine der 25 Tendenzen innerhalb der PSOL, die „Esquerda Marxista“ (in der die Sektion der IMT aktiv ist), dass es gegen die Volksfront notwendig sei, im ersten Wahlgang eine/n eigene/n Kandidat:in aufzustellen – um dann im zweiten Wahlgang notwendigerweise gegen Bolsonaro für Lula/Alckmin, also auch für den offen bürgerlichen Kanidaten, zu stimmen. Die MAIS (aus der PSTU 2016 wegen deren Weigerung, gegen den Temer-Putsch zu mobilisieren, ausgeschlossen und heute eine PSOL-Tendenz) argumentierte dagegen, dass die Massenmobilisierungen zu schwach seien, und daher Lula/Alckmin zu wählen, zur Abwehr der faschistischen Gefahr nötig wäre. Letztlich wurde der Disput undemokratisch auf einer dazu eigentlich nicht legitimierten „Delegiertensitzung“ mit 35:25 Stimmen für die Lula-Unterstützung entschieden.

Als „linke Alternative“ zu Lula/Alckmin kandidiert jetzt vor allem (wie immer) die PSTU im Zusammenhang des „Revolutionär Sozialistischen Pols“. Die Kandidatinnen für die Liste (darunter mit Raquel Temembé die einzige indigene Vizepräsidentschaftskandidatin) haben im brasilianischen Wahlsystem keine Chance. Parteien, die nicht im Kongress vertreten sind, verfügen außerdem über keinen Zugang zu Medien und TV-Debatten. PCB und PU werden auch unter einem Prozent der Stimmen bleiben. Doch sind diese Parteien nicht nur ungenügend in der Klasse verankert (auch wenn die PSTU eine Rolle in den Gewerkschaften spielt), sie sind auch gegenüber den großen Illusionen der Massen in Lula und PT blind.

Dabei spielt die PT auch aufgrund ihrer Rolle in der CUT eine entscheidende Rolle in der Organisierung und Kanalisierung aller klassenbasierten Proteste in Brasilien. Damit werden bestimmte Teile der PT natürlich auch bei Protesten gegen eine Lula/Alckmin-Regierung dabei sein. Es kann daher nicht nur darum gehen, eine eigenständige, neue Partei aufzubauen (oder wie die PSTU sich als solche zu präsentieren), sondern man muss auch Taktiken entwickeln, die Massen von ihrer bisherigen Führung zu brechen. Daher ist es ein Fehler, solche schlecht verankerten Eigenkandidaturen (auf letztlich linksreformistischen Programmen) auch noch mit einer sektiererischen Position gegenüber der Wahl einzelner PT/TCdoB/PSOL-Kandidat:innen für die Kongresswahlen zu verbinden. Dies trifft auch auf die MRT (brasilianische Sektion der FT) zu, die zwar eine richtige Kritik an der Lula/Alckmin-Liste (und auch an der falschen „Faschismus“-Analyse eines großen Teils der linken Lula-Untersützer:innen) übt, aber als Wahlposition nur die Option der Unterstützung der PSTU sieht – und natürlich der Vorbereitung der Kämpfe nach der Wahl. Die MRT-Vision der Verbindung aller gegenüber Lula kritischen Kräfte von MRT, PSTU, PCB, PU ist in diesem Zusammenhang nicht nur unrealistisch, sondern verkennt auch, dass beträchtliche Teile der Aktivist:innen und Avantgardeelemente, die jetzt mit Bauchschmerzen Lula wählen, entscheidend sein werden für den Kampf um den Aufbau der Protestbewegung nach der Wahl.

Letzteres mussten wir auch in der Diskussion mit unserer eigenen Sektion erkennen. Auch wenn wir programmatisch bezüglich der zentralen Forderungen eines revolutionären Aktionsprogramms mit ihr vollkommen übereinstimmen, gibt es taktische Differenzen. Nachdem der Kampf gegen die Unterstützung der Lula/Alckmin-Liste in der PT und PSOL verloren war, stellte sie fest, dass ein überwältigender Teil der Arbeiter:innenavantgarde und der Vertreter:innen sozial Unterdrückter nunmehr trotz aller Bedenken zur Wahl von Lula/Alckmin entschlossen ist, um Bolsonaro zu verhindern. Hinzu kommt, dass in der polarisierten Situation die Gefahr eines „faschistischen Putsches“ in der Linken (vor allem durch die PT) so überzeichnet wird, dass alle, die nicht für Lula/Alckmin stimmen wollen, sofort als indirekte Unterstützer:innen von Bolsonaro gebrandmarkt werden.

So richtig die Erkenntnis ist, dass die aktuelle Polarisierung massenhafte Illusionen in die PT befördert hat und diese große Teile der Klasse wie der Avantgarde organisiert, so begingen unsere Genoss:innen den Fehler, für eine kritische Unterstützung von Lula-Alckmin einzutreten, auch wenn sie gleichzeitig vor dem sicheren Verrat einer solchen Regierung warnen und zum Kampf dagegen aufrufen. Aus den oben genannten Gründen halten wir eine kritische Wahlunterstützung für eine Volksfront für einen schweren taktischen Fehler. Nachdem sich diese Differenz nicht lösen ließ, legte die Liga Socialista ihre Mitgliedschaft in der Liga für die Fünfte Internationale als Sektion nieder. Wir hoffen allerdings, dass sich im Zuge der Auseinandersetzungen nach der Wahl diese Differenzen wieder lösen lassen, und wir unterhalten weiter geschwisterliche Beziehungen zu den Genoss:innen. Ungeachtet dieser Differenz unterstützen wir sie jedoch im Kampf gegen rechts und die schweren Auswirkungen der Krisen in Brasilien. Wir rufen dazu auf, den Kampf der brasilianischen Arbeiter:innen und Unterdrückten gegen Verelendung und faschistische Gewalt weltweit vor und nach der Wahl zu unterstützen.




USA: „Unsere“ Demokratie retten!??

Christian Gebhardt, Infomail 1199, 20. September 2022

Die Republikanische Partei ist darauf aus, „unsere“ Demokratie zu stürzen. Die bevorstehenden midterm elections (Zwischenwahlen) werden eine Wahl zwischen einer extremistischen Autokratie und der „besten Demokratie“ sein, die wir je auf Erden gesehen haben. Zumindest versucht die Demokratische Partei, uns das drei Monate vor den Zwischenwahlen im November weiszumachen. Aus Angst, ihre hauchdünne Mehrheit zu verlieren, verweisen die Demokrat:innen auf die Tatsache, dass immer mehr republikanische Vorwahlen auf den von Trump unterstützten und nicht auf den „gemäßigten“ Kandidaten hinauslaufen. Diese radikalen Anhänger:innen Trumps würden nicht nur eine Bedrohung für die demokratischen Rechte (z. B. Abtreibungsrechte oder die Homo-Ehe), sondern auch für die Demokratie als Ganzes darstellen.

Und da ist ein Körnchen Wahrheit dran. Die Ergebnisse der Vorwahlen zugunsten der Hardcore-Trumpanhänger:innen bei den kommenden Zwischenwahlen sind nicht nur ein Zeichen für den anhaltenden Einfluss des Trumpismus innerhalb der Republikanischen Partei, sondern auch ein Zeichen für einen anhaltenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft, selbst nachdem Trump sein Amt niedergelegt hat. Die Republikanische Partei befindet sich mitten in einem Rechtsruck, der von einer Basis von Wähler:innen angeheizt wird, die an die „große Lüge“ des Wahlbetrugs glauben und Druck auf „gemäßigte“ Republikaner:innen ausüben, damit diese sich entweder vorerst zurückhalten oder ihre Politik ändern. In jedem Fall spricht dies für einen Rechtsruck der Republikanischen Partei, der für Revolutionär:innen nicht allzu überraschend kommt. Unabhängig davon, ob dieser Rechtsruck aus echter Überzeugung oder Opportunismus erfolgt, stellt er dennoch eine reale Bedrohung für viele demokratische Rechte der US-Arbeiter:innenklasse insgesamt dar: z. B. Angriffe auf Abtreibungsrechte, die Homo-Ehe, das Wahlrecht usw.

Insgesamt lässt sich die derzeitige Situation in den USA als eine Polarisierung charakterisieren, in der die extreme Rechte in Zusammenarbeit mit der christlichen Rechten immer mehr Einfluss gewinnt und bestimmte Punkte ihrer Agenda durchsetzen kann.

Aber wer sind diese „Gemäßigten“?

Die Demokratische Partei fordert die gemäßigten republikanischen Teile auf, zur Vernunft zu kommen und die Realität der derzeitigen Republikanischen Partei zu erkennen. Eine Person, die in diesem so genannten moderaten Haufen am beliebtesten ist, ist Liz Cheney, eine Politikerin, die in 93 % der Fälle für die Politik von Donald Trump gestimmt hat und nicht als Teil des „progressiven Flügels“, was immer dieser Begriff auch bedeuten mag, innerhalb der Republikanischen Partei bekannt war. Mit ihrer Verteidigung der härtesten Formen des wirtschaftlichen Neoliberalismus gegen die Arbeiter:innenklasse und von Waterboarding (Kopf unter Wasser Drücken) und anderer Folter als legitime außenpolitische Optionen hätte sie noch vor zwei Jahren von keinem Mitglied der Demokratischen Partei als „gemäßigt“ bezeichnet werden können.

Was hat sich also geändert? Cheney hat sich in die Herzen der Demokrat:innen gespielt, indem sie gegen Trumps Verwicklung in den Angriff auf den Kongress am 6. Januar Stellung bezog, ihre Rolle im Ausschuss „6. Januar“ übernahm und für Trumps zweites Amtsenthebungsverfahren stimmte. Obwohl dies wichtige politische Positionen gegen Trumps Form des Autoritarismus waren, können sie ihr früheres politisches Leben als Hardcorepolitikerin des rechten Flügels, die politisch genauso ruchlos war wie ihr berüchtigter Vater, der ehemalige republikanische Vizepräsident Dick Cheney, nicht vergessen machen.

Wahlstrategie der Demokratischen Partei für die Zwischenwahlen

Es stellt sich also die Frage: Warum loben die Demokrat:innen jetzt Cheney? Zwar könnten wir ihnen zugute halten, dass sie glauben, Liz Cheneys Politik hätte sich grundlegend geändert und sie sei nun eine respektvolle Verbündete. Doch selbst wenn die Demokrat:innen dumm genug sind, das zu glauben, deutet das eher auf ihre übergreifende, fehlgeleitete Strategie für die Zwischenwahlen hin, ein Thema, das viel wichtiger ist.

Cheney als gemäßigt darzustellen und sie und ihre Anhänger:innen aufzufordern, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und diese zu stärken, bedeutet, dass die Demokrat:innen einerseits versuchen, Druck auf republikanische Gesetzgeber:innen auszuüben, damit diese entweder in bestimmten Fragen mit ihnen stimmen oder aus der Reihe tanzen und die Partei ganz wechseln. Andererseits beschwören sie diese republikanischen „Gemäßigten“ sowie Unabhängige und unentschlossene Wähler:innen, für die Demokratie, und das bedeutet genauer gesagt, für die Demokratische Partei zu stimmen.

Für uns Revolutionär:innen ist es wichtig festzustellen, dass die Arbeiter:innenklasse – wenig überraschend – in dieser Strategie keine Rolle spielt. Statt sich an der Arbeiter:innenklasse zu orientieren, um den Aufstieg der extremen Rechten und des Trumpismus in den USA zu bekämpfen, versuchen die Demokrat:innen, uns davon zu überzeugen, sich mit Leuten zusammenzutun, die für den politischen Rechtsruck, mit dem wir es zu tun haben, mitverantwortlich sind. Das demokratische Establishment nimmt zudem eine Haltung ein, die den Interessen der Arbeiter:innenklasse zuwiderläuft, indem es diese Debatte derzeit nutzt, um den progressiven Flügel innerhalb der Demokratischen Partei anzugreifen, weil er „zu radikal“ und in Wirklichkeit nicht besser als die radikalen Republikaner:innen sei – eine widerliche Form der Gleichsetzung „beider Seiten“. Auch wenn wir die politische Strategie dieses progressiven Flügels ebenfalls grundlegend ablehnen, sehen wir es als notwendig an, auf diesen Angriff hinzuweisen und die Mitglieder dieses Flügels aufzufordern, die richtigen Schlüsse zu ziehen und mit der Demokratischen Partei zu brechen!

Die bürgerliche Demokratie – der Klebstoff, der sie zusammenhält

Die DemokratIsche Partei verkündet natürlich nicht offen, dass ihre Strategie eigentlich nicht darin besteht, den Trumpismus im Namen der Arbeiter:innen zu bekämpfen. Sie behauptet, dass der Kampf für Demokratie der wichtigste sei und sich alle um ihn scharen sollten. Wer sich gegen die Demokratische Partei stellt, auch wenn er/sie von links kommt, gehört zum falschen Lager und ist es daher nicht wert, mit jenen Kräften zusammenzuarbeiten. Dieser Aufruf, „unsere Demokratie“ zu verteidigen, ist der Klebstoff, der diese Strategie zusammenhalten und die Aktivist:innen der Arbeiter:innenbewegung an die Demokratische Partei binden soll, auch wenn  diese nicht auf der Seite der Arbeiter:innenklasse steht.

Doch niemand erwähnt den Charakter dieser „Demokratie“. Sie wird als abstraktes, natürliches Gesetz dargestellt statt als das, was sie wirklich ist: ein Form der Demokratie, die der herrschende Klasse, der Bourgeoisie nützt! Eine gesellschaftliche Struktur, die dazu da ist, den Kapitalismus und seine zerstörerischen Kräfte zu beherrschen und zu verteidigen. Eine „Demokratie“, die die Krisenlast auf die Schultern der Arbeiter:innenklasse legt, während sie dafür sorgt, dass die Profite für die Kapitalist:innen weiter fließen. Kurz gesagt, eine Demokratie, die wir als Revolutionär:innen überwinden und durch eine Arbeiter:innendemokratie und einen Arbeiter:innenstaat ersetzen wollen! Einen Staat, der wirklich vom Volk und für das Volk geführt wird und nicht durch ein Marionettenspiel, das die Kapitalist:innen vollständig begünstigt.

Wir brauchen eine Arbeiter:innenpartei!

Der Kampf für eine abstrakte Demokratie, in Wirklichkeit einer für eine bürgerliche Herrschaftsform, liefert keine Option für US-Arbeiter:innen. Anstatt innerhalb der Demokratischen Partei zu arbeiten und versuchen, für fortschrittlichere Positionen und Einfluss innerhalb einer Partei zu kämpfen, die sie nicht will – wie Bernie Sanders, die DSA oder Vertreter:innen wie die Squad uns glauben machen wollen –, brauchen wir einen offenen und sauberen Bruch mit der Demokratischen Partei. Dieser sollte zu einer Arbeiter:innenpartei führen, einer Partei, die wirklich die Perspektive der Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe in den Vordergrund stellt, nicht nur, wenn es darum geht, mehr Einfluss oder Stimmen bei Wahlen zu gewinnen, sondern die auch die täglichen Kämpfe der arbeitenden Menschen in den USA führen kann. Eine Partei, die sich mit den laufenden Streikwellen, den Kämpfen gegen die Abschaffung der reproduktiven Rechte, der Wahlrechtsbeschränkungen, der Homo-Ehe und all den anderen Angriffen auf die demokratischen Rechte, die derzeit stattfinden, befasst. Eine Partei, die eine Koalition aus Vertreter:innen all unserer aktuellen Kämpfe für einen vereinten Gegenschlag bilden wird. Eine Partei, die den Arbeiter:innen endlich die Möglichkeit gibt, über ihre Politik und ihr politisches Programm selbst zu entscheiden.

Organisationen wie die Demokratischen Sozialist:innen Amerikas oder das Arbeiter:innennetzwerk Labor Notes sollten eine solche Initiative anführen und lokale Zweigstellen bilden, um eine Struktur für eine politische Debatte zu schaffen, die sich auf die Ausarbeitung eines Programms und eines Kampagnenplans konzentrieren sollte. Diese Debatten sollten nicht nur die Basisorganisationen der Arbeiter:innenklasse einbeziehen, sondern auch die Gewerkschaften auffordern, sich zu beteiligen, ihre Verbindungen zu der Demokratischen Partei zu lösen und sich einer solchen Initiative mit voller Kraft anzuschließen. Auch wenn wir wissen, dass sich die Gewerkschaftsführung nicht freiwillig an einer solchen Initiative beteiligen oder sie gegebenenfalls sabotieren wird, sollten wir zu ihrer Beteiligung aufrufen. Auf diese Weise wird  der Mitgliedschaft der faule Kern der Gewerkschaftsführung vor Augen geführt und liefert uns die perfekten Argumente, um mit ihr zu brechen und sich unserer Sache anzuschließen.

Wir Revolutionär:innen müssen uns in einer solchen Initiative engagieren und für eine revolutionäre Perspektive kämpfen. Wir sollten uns als revolutionäre Strömung innerhalb einer solchen Initiative organisieren, basierend auf einem revolutionären Aktionsprogramm. Wir argumentieren für dieses Programm und versuchen, so viele Mitglieder wie möglich zu sammeln, um für dieses Programm sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei zu kämpfen. Eine solche Taktik würde unweigerlich zu zwei möglichen Ergebnissen führen: Entweder wir gewinnen am Ende die Mehrheit der Partei für unser revolutionäres Programm und schaffen so eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, oder sie führt zu einer offenen Spaltung innerhalb der Initiative mit reformistischen und zentristischen Kräften. Eine Spaltung, die jedoch eine stärkere und gezieltere revolutionäre Organisation in den USA hervorbringen würde. Eine Organisation, die es uns Revolutionär:innen ermöglichen würde, in den aktuellen Kämpfen der Arbeiter:innenklasse mit einer stärkeren Stimme für unsere revolutionären Ideen zu streiten, z. B.: die Notwendigkeit der Überwindung der bürgerlichen Demokratie durch die Einführung der Arbeiter:innendemokratie und Bildung eines Arbeiter:innenstaates!