Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




Frauenbewegung in den USA und die Abtreibungsfrage

Jan Hektik, Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Seit Jahrzehnten stehen die Abtreibungsrechte im Fokus der Frauenbewegung in den USA – nicht erst seit dem 24.06.2022, als der Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof) die Grundsatzentscheidung „Roe vs. Wade” kippte (Entscheidung Dobbs vs. Women’s Health Organization). Dabei stellen sie nicht nur die Frage der Selbstbestimmung über den eigenen Körpers, des Lebens und der Gesundheit von Frauen auf die Tagesordnung. Der Stand der Bewegung zeigt auch auf, welchen Problemen die Frauenbewegung sich im Kampf gegen die (meist fanatisch christliche) Rechte gegenübersieht.

Rechtliche Situation

„Roe vs. Wade” wurde 1973 gefällt und garantierte seitdem Frauen grundsätzlich das Recht, über den Abbruch von Schwangerschaften selbst zu bestimmen – bis zum Juni 2022. In den Monaten nach dem Urteilsspruch  wurde der Zugang zu Abtreibungs- und Reproduktionsdienstleistungen in fast der Hälfte des Landes drastisch eingeschränkt oder verboten. Viele Kliniken bieten in den betroffenen Bundesstaaten keine Dienstleistungen mehr an, da die Rechtslage unberechenbar geworden ist, mit einer breiten Palette an staatlichen Maßnahmen, die nach dem Urteil eingeführt wurden – einschließlich Verboten, die vor Roe galten (einige davon stammen aus den 1800er Jahren), neuen Gesetzen und mehreren laufenden Gerichtsverfahren. Diese Unvorhersehbarkeit hat in vielen Staaten zu einer abschreckenden Wirkung geführt, so dass Anbieter:innen von Abtreibungen aus Angst vor rechtlichen Schritten ihre Dienste vorsorglich eingestellt haben. Die Lage gestaltet sich nun wie folgt:

In 14 Bundesstaaten ist Abtreibung bis auf wenige Ausnahmen illegal (Alabama, Arkansas, Idaho, Indiana, Kentucky, Louisiana, Mississippi, Missouri, North Dakota, Oklahoma, South Dakota, Tennessee, Texas, West Virginia). Dies bedeutet, auch bei sexualisierter Gewalt, psychischen Folgen oder unmittelbarer Gefahr für die Gesundheit der Mutter und unabhängig von den Überlebenschancen des Kindes ist ein Abbruch der Schwangerschaft in diesen Staaten nicht erlaubt. So verbot jüngst ein texanisches Gericht einer 31-jährigen die Abtreibung ihres höchstwahrscheinlich nicht lebensfähigen Fötusses, die einen Notfallschwangerschaftsabbruch beantragt hatte. Weitere 13 stehen Abtreibung generell feindlich gegenüber und planen entweder die Illegalisierung oder starke Einschränkungen. In 11 wurden der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen vereinfacht und besonders geschützt (Kalifornien, Connecticut, Hawaii, Illinois, Maryland, Minnesota, New York, Oregon, Vermont, Washington).

In den restlichen Staaten ist die Frage nicht so einfach zu beantworten. Beispielsweise versucht die Legislative in Florida, immer wieder Angriffe auf das Abtreibungsrecht durchzuführen, das oberste Gericht Floridas verhindert dies jedoch regelmäßig. Dabei ist herauszustellen: Die rechtliche Lage alleine gibt nicht wieder, wie der Zugang zu Kliniken, die Finanzierung des Eingriffs oder die Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten aussehen. Das heißt, selbst keine oder lediglich partielle Einschränkungen bedeuten nicht automatisch, dass Selbstbestimmung über den eigenen Körper so einfach möglich ist.

Seit dem Urteil des Supreme Court hat rund die Hälfte der Gesetzgeber:innen in den Vereinigten Staaten insgesamt mehr als 500 neue Gesetze zu Abtreibungen erlassen, die zu einer Verschärfung oder einem absoluten Verbot von Abtreibungen geführt haben, drohen allen, die Frauen helfen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, hohe Haft- und empfindliche Geldstrafen und als Arzt/Ärztin auch der Entzug der Berufslizenz. Die krassesten Forderungen der Abtreibungsgegner:innen sind die nach Verhängung der Todesstrafe (South Carolina), Verbot der Zulassung für die Abtreibungspille Mifepriston  und Streichung der Ausnahmen bei Vergewaltigung und Inzest (Texas).

Auswirkung

Schon vor Einschränkung der Selbstbestimmung war in keiner Industrienation die Müttersterblichkeit so hoch wie in den USA. Die Tendenz nimmt aktuell zu. Dabei zeigt die Realität, dass die Auswirkungen der Einschränkungen je nach Klassenlage unterschiedlich ausfallen: Der  Flickenteppich aus verschiedenen Regelungen, der eingeschränkte Zugang zu Krankenversicherungen sowie allgemein schlechte medizinische Versorgung in den USA führen dazu, dass vor allem proletarische Schichten ungleich stärker getroffen werden. Die emotionale Belastung, ungewollt schwanger zu sein, sowie die Ablehnung durch das Umfeld treffen zwar alle, es macht jedoch einen massiven Unterschied, ob man es sich leisten kann, nach Kalifornien zu fliegen, um dort eine Abtreibung durchzuführen, oder dies schlichtweg nicht bezahlen kann. Diesen bleibt dann nur übrig, Abtreibung illegal oder durch Freund:Innen vornehmen zu lassen – oder das Kind zu bekommen.

Dabei weisen viele der Bundesstaaten mit Abtreibungsverbot bereits jetzt die schlechtesten wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen für Frauen und Familien in den USA auf wie keinen garantierten, bezahlten Urlaub aus familiären und medizinischen Gründen, keine Ausweitung der MedicAid-Deckung auf 12 Monate nach der Geburt und schon jetzt höhere Armutsquoten von Frauen und Kindern als im Landesdurchschnitt. Diese Entscheidung sorgt letzten Endes dafür, dass die wirtschaftliche Stellung von Frauen sich weiter verschlechtert, und drängt sie in die Abhängigkeit von Beziehungen – und setzt sie auch der Situation aus, partnerschaftliche Gewalt aushalten zu müssen. Ebenso ist herauszustellen, dass nicht-weiße Frauen, insbesondere Schwarze, besonders davon getroffen werden, da sie schon jetzt überproportional in Gegenden mit schlechter medizinischer Infrastruktur leben, im Kindbett sterben und von rassistischen Übergriffen und Benachteiligungen im Gesundheitssystem betroffen sind.

Und der Widerstand?

Immer wieder kommt es zu größeren Protesten, zumeist angeführt von den Demokrat:innen wie zum 50. Jahrestag der „Roe vs. Wade”-Entscheidung, bei der Tausende auf die Straße gingen. Jedoch hat der Widerstand mehrere Probleme: Die sporadischen Proteste sind kaum miteinander koordiniert, was ihre Ausweitung erschwert. Vor allem ist jedoch die Strategie der Führung der Proteste – der bürgerlichen Demokratischen Partei – fehlerhaft. Hier zeigt sich sehr anschaulich, welche Probleme mit dem klassenübergreifenden Kampf für Unterdrückte verbunden sind.

Das Motto der Demokrat:innen lautet: wählen, bilden und überzeugen. Ganz nach dem Motto: „Wir müssen nur gut genug darlegen, warum es wissenschaftlich und gesundheitlich richtig ist, Menschen, die die das Recht auf Abtreibung anerkennen, in Positionen wählen, wo sie Entscheidungen treffen können, dann werden sich Gesetze und Gerichte danach richten. Schließlich haben doch auch die Rechten über Gesetzgebung und den Supreme Court diese Änderung bewirkt.“

Diese Überlegung krankt jedoch an zwei Denkfehlern: Zum einen vertauscht sie Ursache und Wirkung. Die US-amerikanische Rechte stellt eine Bewegung dar, welche durch Demonstrationen, Verbreiten von Propaganda und Angriffen ihre Ziele durchsetzt, damit die Republikanische Partei vor sich hertreibt und ihre Ziele umsetzt. Die Gesetzgeber:innen und Richter:innen im Supreme Court sind nämlich dabei nicht das Mittel, sondern Ergebnis einer kämpfenden Bewegung, welche auch nicht davor zurückschreckt, faschistoide Elemente zu verwenden. Dass sie Teile der Bevölkerung ansprechen kann, liegt auch nicht an mangelnder Aufklärung dieser, sondern entweder daran, dass diese ihre gesellschaftliche Stellung halten wollen oder sich bereits in einer schlechten ökonomischen Situation befinden und keine andere Alternative aufgezeigt bekommen, außer gegen marginalisierte Gruppen zu kämpfen.

Gerade deswegen ist zum anderen der Weg der Überzeugung fehlerhaft. Über 2/3 der US-Bevölkerung stehen dem Abtreibungsrecht grundsätzlich positiv gegenüber. Es gilt nicht, das letzte Drittel zu überzeugen, sondern sich zu fragen, weshalb 1/3 über 2/3 entscheiden kann und wie dies zu beheben ist. Wenn 70 % Mehrheit nicht reichen, warum sollten es 80 % tun? Wenn die Demokrat:innen seit den 1970er Jahren keine ihrer Mehrheiten genutzt haben, um Abtreibungsrechte gesetzlich zu verankern, warum sollten sie es in Zukunft tun?

Warum eigentlich?

Die Republikaner:innen und Rechten mit der gesellschaftlichen Dynamik über ein Werkzeug, ihre Position durchzusetzen. Die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung über weibliche Körper zementiert die Herrschaft von Männern über Frauen in Beziehungen, stärkt die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie und bietet Männern eine Ablenkung von der Krise (und individuell ein Gefühl ihrer Abschwächung), während es gleichzeitig Frauen bindet und daran hindert, dagegen zu kämpfen. Natürlich gibt es nicht irgendwo eine geheime Verschwörung rechter Köpfe, die einen Masterplan über die Stärkung der bürgerlichen Familie ausgeheckt haben, sondern es sind gesellschaftliche Kräfte und Tendenzen, die bestimmte Verhaltensweisen, Organisationen und Bewegungen stärken und andere schwächen.

Die Republikaner:innen und die Rechte profitieren gewissermaßen davon, dass ihre Ziele weniger widersprüchlich sind. Wer sich auf das religiös motivierte Verbot von Abtreibungen, Enthaltsamkeit als Verhütungsmethode und den Segen der bürgerlichen Familie beruft, kommt nicht nur gut bei religiösen Fundamentalist:Innen und konservativen Traditionalist:Innen an, sondern fördert auch nebenbei ein Umfeld, in welchem Frauen noch einfacher entlassen, unterbezahlt, teilzeitbeschäftigt und in die Reproduktionsarbeit getrieben werden können. Dies ist ein großes Plus für Unternehmer:innen – insbesondere in Krisenzeiten –,  welche Lohn- und Reproduktionskosten senken und nebenbei einen psychologischen Effekt der Überlegenheit bei ihren Arbeitern erzielen können, welcher sie ruhigstellt.

Die Demokrat:innen können sie sich in manchen Fragen zwar liberaler positionieren, kämpfen gegen offenen Sexismus, die Wurzel der Unterdrückung (die bürgerliche Familie) wollen sie jedoch nicht angreifen. Denn das würde bedeuten, dass sie mit ihrer Politik zugunsten der Profite der Unternehmen brechen müssten.

Wie kann die Bewegung Erfolg haben?

Um eine erfolgreiche Bewegung für Selbstbestimmung über den eigenen Körper auf die Beine zu stellen, bedarf es mehrerer Schritte:

Gemeinsame Forderungen, Slogans und koordinierte Proteste bilden einen ersten Schritt, um den bestehenden Aktivitäten einen gemeinsamen Deckel zu geben sowie mehr Ausstrahlung zu erreichen. Dies kann Ergebnis von Absprachen zwischen Organisationen sein, jedoch braucht es eine Strategiekonferenz, bei der Aktivist:innen zusammenkommen können und verbindliche Beschlüsse und Aktivitäten verabschieden. Dort muss diskutiert werden, wie die Bewegung aufgebaut werden kann – und wie ihr Weg verlaufen soll, ihre Forderungen zu erreichen. Unserer Meinung nach hat die Vergangenheit gezeigt, dass die Demokrat:innen sich zwar gerne an den Protesten beteiligen dürfen, ihre Strategie ist jedoch unzureichend und kann nicht als Grundlage genommen werden.

Wenn eine Bewegung Erfolg haben will, darf sie nicht nur Massendemonstrationen organisieren, sondern muss sich an Schulen, Universitäten sowie in Betrieben verankern und vor Ort präsent sein. Um das zu erreichen, ist es nicht nur wichtig, Aktivitäten vor Ort zu organisieren. Es ist auch notwendig, nicht nur gegen das Abtreibungsverbot zu kämpfen, sondern für konkrete Verbesserungen. Die Realität zeigt: Arme Schichten sowie insbesondere Nicht-Weiße sind besonders von den Abtreibungsverboten betroffen. Es müssen also Forderungen entworfen werden, die den Kampf um Selbstbestimmung mit dem für breitere Verbesserungen der Arbeiter:innenklasse insgesamt verbinden helfen. Ziel muss es sein, Druck auf die Gewerkschaften auszuüben, sodass diese sich aktiv an den Protesten beteiligen, selber mobilisieren und gemeinsam mit der Bewegung den politischen Streik als Waffe zur Durchsetzung der Forderungen lancieren können:

  • Reproduktive Gerechtigkeit jetzt: Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung!
  • Menschen statt Profite: Für ein staatliches Gesundheitssystem, in das alle einzahlen und welches alle Gesundheitsleistungen inklusive Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Geburten ohne Zusatzleistungen abdeckt (Single Payer HealthCare System)!
  • Schluss mit Abhängigkeit: Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Flächendeckender Ausbau von Schutzräumen für Betroffene von sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter, sowie LGBTIA+!
  • Für Aufklärungskampagnen an Schulen, Universitäten und in Betrieben durch Gewerkschaften zu Sexismus, sexuellem Konsens und Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

In so einer Bewegung ist es wichtig, dass Sozialist:innen eine revolutionäre Perspektive hereintragen. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass diese Probleme einer systematischen Umwälzung mindestens des US-Gesundheits-, Justiz-, Regierungs- und Polizeisystems bedürfen. Solange es einen Flickenteppich aus privaten Krankenkassen und Gesundheitseinrichtungen gibt, wird die Gesundheit (und werden damit sichere Abtreibungen, Schwangerschaften und Geburten) ein Privileg der Reichen sein! Das heißt: Wir unterstützen den Kampf für Reformen und Verbesserungen. Gleichzeitig muss dieser damit verbunden werden, dass Elemente von Arbeiter:innenkontrolle in die Forderungen mit eingebunden werden, um sicherzustellen, dass diese im Interesse der Klasse umgesetzt werden und aufzeigen, wie der Kapitalismus überwunden werden kann. Das kann beispielsweise so aussehen:

  • Versorgung garantieren: Verstaatlichung des Gesundheitssektors unter Kontrolle der Arbeiter:innen! Flächendeckender Ausbau von Kliniken, insbesondere in ländlichen Regionen, sowie massive Aufstockung des Personals!
  •  Schluss mit Diskriminierung in der Medizin: Für Sensibilisierungskampagnen gegen sexistische und rassistische Vorurteile!
  • Armut stoppen: Anhebung des Mindestlohns auf 15 USD/Stunde und Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation! Finanzierung durch die Besteuerung der Reichen und verbindliche Offenlegung der Geschäftskonten gegenüber den Gewerkschaften!

Bewegung alleine reicht nicht

Das zeigt die Richtung, in die es gehen muss. Die Aufgabe von Revolutionär:innen in den USA ist letzten Endes eine dreifache: a) der Aufbau einer Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit; b) Bildung eines Pols in dieser Bewegung, der eine revolutionäre Perspektive aufzeigt; und c) der Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, die es schafft, unterschiedliche Bewegungen zu sammeln und mit einer Perspektive, einem realen Programm zum Erfolg zu führen – also das kapitalistische System zu zerschlagen. Ihre Aufgabe besteht  somit nicht primär darin, zu Wahlen anzutreten, sondern die Kämpfe zu organisieren, planen und aktiv zuzuspitzen. Dabei muss sie als Bindeglied zwischen den verschiedenen kämpfenden Gruppen (People of Colour, Frauen, Gewerkschaften, LGBTIA+, Umweltbewegung) fungieren und den offenen Kampf gegen die Politik der Mitverwaltung des Kapitalismus seitens Demokrat:innen und Gewerkschaftsführung in diese tragen. Nur so kann letzten Endes gesichert werden, dass reproduktive Gerechtigkeit nicht nur als Wahlkampfslogan benutzt, sondern aktiv umgesetzt wird. Dabei ist essentiell, dass in Gewerkschaften oder politischen Organisation der Arbeiter:innenbewegung gesellschaftlich unterdrückte Gruppen das Recht haben, einen Caucus zu bilden, sich gesondert nur unter sich zu treffen, um die eigene Unterdrückung in einem Schutzraum diskutieren zu können!




Argentinien: Milei und sein Kabinett erklären den Klassenkrieg

Martin Suchanek, Infomail 1241, 6. Januar 2024

Argentiniens neuer Präsident Milei und sein rechtes Kabinett machen Ernst. Im Dezember verkündete er eine Schocktherapie für das Land, die an die „Reformen“ der rechtsperonistischen Regierung Menem und an die neoliberalen Programme seit Pinochet erinnert.

Der Amtsantritt im Dezember begann mit einem 10-Punkte-Liberalisierungs- und Sparprogramm. Im Fernsehen verkündete Milei danach ein Maßnahmenpaket zum wirtschaftlichen „Wiederaufbau“, das DNU (Decreto de Necesidad e Urgencia = Notwendigkeits- und Eildekret), das 366 bestehende Gesetze abschaffen oder abändern soll. Schließlich wurde Ende Dezember ein Mega-Gesetzespaket mit 664 Artikeln auf den Weg mit dem euphemistischen Titel „Grundlagen und Ansatzpunkte für die Freiheit der Argentinier“ gebracht, das seither auch unter dem Namen „Ley Ómnibus“ (Omnibus-Gesetz) bekannt wurde.

Generalangriff

Schon bei der Vorstellung des DNU verkündete er den öffentlichen Notstand in wirtschaftlichen, finanziellen, steuerlichen, administrativen, Renten-, Tarif-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten. Die Maßnahmen des DNU wie auch das Mega-Gesetzespaket vom Ende Dezember 2023 stellen einen massiven, seit Jahrzehnten nicht dagewesenen, gebündelten Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten dar:

Zum einen beinhalten sie massive Deregulierungen, darunter die Aufhebung staatlicher Preiskontrollen für Mieten, öffentliche Versorgung, Bergbau und Industrie sowie Privatisierungen. Staatliche Anteile an insgesamt 41 Einrichtungen (darunter Häfen, Post, Flugverkehr, Kernkraftwerke und weitere Energieunternehmen) sollen privatisiert, bei Handel und Finanzen soll der Verbraucher:innenschutz gänzlich gestrichen werden.

Den zweiten großen Block machen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen aus. Die ohnedies schon lückenhaften Arbeitsrechte sollen weiter liberalisiert, Probezeiten verlängert und Kündigungsschutz weiter ausgehöhlt werden. Strafen und Kontrollen für die Beschäftigung von Schwarzarbeit sollen entfallen.

Vor allem aber sollen die Arbeitskampfrechte extrem beschnitten werden. Die Beteiligung an Betriebsblockaden soll hinkünftig als Kündigungsgrund anerkannt werden. So müsste auch bei Streiks die Hälfte der Produktion in wesentlichen Bereichen aufrechterhalten bleiben. Zu diesen gehören unter anderem große Teile der Industrieproduktion und Dienstleistungen, darunter die Herstellung von Medikamenten, der Transportsektor, Radio und Fernsehen.

Auch die politischen Rechte der Arbeitslosen kommen unter die Räder. So droht bei Beteiligung an Demonstrationen der Entzug der Sozialhilfe. Generell sollen alle politischen Versammlungen mit mehr als 3 Personen genehmigungspflichtig werden. Leiter:innen von Versammlungen, die den öffentlichen oder privaten Verkehr oder Transport behindern, müssen mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen, wenn das Dekret und die Gesetzesvorlagen durchgehen.

Mileis Stützen

Bei seinen Vorhaben können sich Milei und sein Kabinett der Unterstützung der herrschenden Klasse Argentiniens sicher sein. Generell stützt sich seine Regierung neben einigen extrem rechten Figuren und Vertreter:innen seines Parteienbündnisses La Libertad Avanza (LLA; deutsch: Die Freiheit schreitet voran), wie z. B. der Vizepräsidentin Victoria Villarruel, auf „bewährte“ Vertreter:innen des Kapitals, die schon unter der rechten Regierung Macri (2015 – 2019) im Amt waren.

So bekleidet Luis Caputo das Amt des Wirtschaftsministers. Zur Außenministerin wurde die Ökonomin Diana Mondino ernannt, die auch gleich die Abschaffung aller Außenhandelsbeschränkungen und den, mittlerweile vollzogenen, Bruch mit den BRICS versprach. Der konservativen Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich untersteht das Ministerium für Innere Sicherheit, ihr Parteifreund Luis Petri bekleidet das Amt des Verteidigungsministers.

Auch wenn Milei und seine Partei einen exzentrischen und auch etwas obskuren Anstrich haben mögen – und manche ihrer Forderungen wie die Einführung des US-Dollar als nationale Währung auch mangels Bereitschaft der USA wenig Chance auf Realisierung haben –, so ist der direkte Einfluss des argentinischen Kapitals und seiner westlichen imperialistischen Verbündeten wohl ungebrochener als bei fast jeder anderen Regierung seit Jahrzehnten.

Vor allem der Finanzsektor setzt große Hoffnungen in Milei, denn schließlich verspricht er lukrative Anlagemöglichkeiten. Kein Wunder also, dass der Aktienmarkt nach der Kabinettsbildung einen kurzfristigen Aufstieg von 22 % erlebte. Auch wenn Milei in den USA Trump nähersteht als Biden, so begrüßen die USA und der IWF nicht nur die angekündigten neoliberalen Sparmaßnahmen und Privatisierungen, sondern auch seine enge Westbindung.

Schließlich hat die neue Regierung auch nicht vor, in allen Bereichen zu kürzen. Die Ausgaben für Militär und innere Sicherheit sollen erhöht werden. Milei hat außerdem für alle drei Teilstreitkräfte neue Oberkommandierende ernannt und etwa zwei Drittel des Führungsstabs ausgetauscht. Auch im Verteidigungsministerium wurden zahlreiche Posten neu besetzt.

Hindernisse auf institutioneller Ebene

Zugleich sieht sich Milei wichtigen institutionellen Hindernissen gegenüber. In den beiden Kammern des Parlaments stellt seine Partei La Libertad Avanza nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten – 38 im 257 Abgeordnete umfassenden Kongress, 8 im 72-köpfigen Senat. Auch wenn sie in der ersten Kammer des Parlaments zusammen mit der konservativen Juntos por el Cambio theoretisch über eine Mehrheit verfügt, so ist diese wackelig, weil sie generell zu allen Maßnahmen nicht sicher ist. Die peronistische Unión por la Patria verfügt in beiden Kammern über eine relative Mehrheit (109 von 257 im Kongress, 34 von 72 im Senat). Gerade im Senat benötigt die peronistische Allianz nur die Stimmen von 2 der 6 unabhängigen Senator:innen, um eine Regierungsmehrheit zu verhindern. Eine Mehrheit für die Regierung ist zwar unsicher, in den letzten Wochen vermochte jedoch die Vizepräsidentin Villaruel, Kräfte des rechten Provinz-Peronismus einzubinden, womit es also auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Regierung eine Mehrheit verschaffen kann.

Zweitens können die Gerichte Milei einen Strich durch die Rechnung machen wie jüngst, als einige Dekrete zur Arbeitsmarktreform vom obersten Gericht aufgehoben wurden.

Auch wenn Milei wahrscheinlich eine Reihe seiner Maßnahmen durch die beiden Kammern des Parlaments bringen könnte, so würde eine solche Form des Regierens immer wieder auch langwierige Verhandlungen und Kompromisse mit den Parlamentarier:innen inklusive der peronistischen Opposition, der „Kaste“, erfordern.

Genau das wollen Milei, seine Regierung und die argentinische Bourgeoisie vermeiden. Sie wollen die aktuelle Krise und die Niederlage des Peronismus nutzen, um auch mit dessen institutionellem und politischem Vermächtnis aufzuräumen.

Als populistische Partei und Bewegung inkludierte der Peronismus und auch das politische System, das er etablierte, eine institutionelle, korporatistische Einbindung der Arbeiter:innenklasse über die Apparate der Gewerkschaften sowie von klientelistischen Organisationen der Arbeitslosen und anderen gesellschaftlicher Gruppen. Dem entspricht auch der Charakter der peronistischen Partei, die eine klassenübergreifende Allianz, eine Art Volksfront in Parteiform darstellt – natürlich auf Kosten der Arbeiter:innenklasse.

Ganz allgemein mussten die Lohnabhängigen für diesen Korporatismus in den letzten Jahren einen hohen Preis in Form von sinkenden Löhnen und Einkommen zahlen. Die Inflationsrate von rund 140 % (Oktober 2023) wurde über Jahre nicht kompensiert. Rund 40 % der Bevölkerung lebten schon vor dem Amtsantritt Mileis unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend.

Die argentinische Bourgeoisie will aber die Kosten des Korporatismus nicht mehr länger tragen, sondern mit ihm Schluss machen. Milei erwies sich mit seiner demagogischen Rhetorik und seiner populistischen Hetze gegen die „Kaste“, worunter er eine bunte Mischung von peronistischer Bürokratie, Vetternwirtschaft, aber auch die organisierte Arbeiter:innenklasse und Linke zusammenfasst, als probates Mittel, bei den Wahlen nicht nur die traditionellen Unterstützer:innen der Konservativen und Rechten aus den Mittelschichten und dem Kleinbürger:innentum anzusprechen, sondern auch bedeutende Teil der „Deklassierten“, der Arbeitslosen und Prekären, für die sich das  peronistische Sozialstaatsversprechen längst als Chimäre erwiesen hatte.

Milei ist jedoch bewusst, dass das eigentlich entscheidende Hindernis für seine Angriffe nicht im Parlament oder in der Justiz zu finden sein wird, sondern in den Betrieben und auf der Straße. Auch wenn die argentinische Arbeiter:innenklasse durch die Auswirkungen der Krise, durch Arbeitslosigkeit und einen sehr großen, nicht mehr tariflich regulierten Sektor geschwächt ist, so ist sie noch nicht geschlagen.

Ruf nach einem „Ermächtigungsgesetz“

Das von Milei vorgeschlagene Omnibus-Gesetz beinhaltet daher nicht nur ein Programm des neoliberalen Generalangriffs auf allen Ebenen. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass die Legislative für zwei Jahre ihre wichtigsten gesetzgeberischen Befugnisse an die Regierung abgeben soll. Es handelt sich also um ein Notstandsgesetz, das Präsident und Regierung faktisch sämtliche Staatsmacht übertragen soll, also zeitlich begrenzte, quasi diktatorische Vollmachten, um dieses Programm gegen Widerstand durchzuziehen.

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Milei dieser Schachzug gelingt. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ihm die erste Kammer diese Machtbefugnis überträgt und das würde reichen, da beide Kammern das Gesetz blockieren müssten. Eine zweite Hürde wäre das Verfassungsgericht, denn das Ermächtigungsgesetz widerspricht eigentlich dem argentinischen Grundgesetz. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass dies eine zuverlässige Garantie gegen die Notstandsmaßnahmen ist.

Hinzu kommt, dass Milei – sollten die Institutionen sein Ansinnen blockieren – diese für die Fortdauer der Krise verantwortlich machen wird. Schon jetzt baut er rhetorisch die Alternative auf, dass das Land zwischen seinen „Rettungsmaßnahmen“ oder einer „Katastrophe“, also dem Zusammenbruch wählen müsse. Und diese stellt bei einer Inflationsrate von mittlerweile 160 % eine reale Möglichkeit dar. Auch wenn keine seiner Maßnahmen umgesetzt wird, so wird sich die soziale Lage weiter dramatisch verschärfen. Milei wird versuchen, eine solche Entwicklung für sich zu nutzen, und dafür die korrupten und parasitären Vertreter:innen des „alten“ Argentiniens verantwortlich machen, den Peronismus und eine Kaste von faulen Menschen, die am Sozialstaat hängen und seine „Rettung“ verhindern. Solcherart könnte er den Boden für eine „härtere“ Gangart vorbereiten, bis hin zu einem offenen Präsidialputsch, um die parlamentarischen und institutionellen Hindernisse für die „Rettung des Landes“ zu beseitigen.

Auch wenn die institutionellen Auseinandersetzungen die Angriffe Mileis verlangsamen mögen, so verfügt die peronistische Opposion, die selbst jahrelang soziale Verschlechterungen durchsetzte und bei den Wahlen mit dem rechtsperonistischen Kandidaten Massa angetreten war, über keine wirkliche Alternative. Sie will letztlich in die Verwaltung der Krise einbezogen werden, weil sie keineswegs deren Ursachen wirklich angehen will oder kann.

Generalstreik!

Die einzige Kraft, die den Generalangriffe der Regierung Mileis und des Kapitals abwehren kann, ist die Arbeiter:innenklasse. Schon im Dezember fanden erste wichtige Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung statt, organisiert von Arbeitslosenverbänden und vom kleineren Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos Autónoma (CTAA). Der größte Gewerkschaftsverband Confederación General del Trabajo (CGT) ruft zu Protestkundgebungen vor dem Parlament während der Gesetzesdebatte und zu einem Generalstreik für den 24. Januar auf. Korrekterweise tun dies auch die Mitgliedsorganisationen der FIT-U, die Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einer Einheitsfront des Widerstandes gegen die Angriffe der Regierung auffordern.

Protestaktionen und Demonstrationen oder ein eintägiger Generalstreik können helfen, die Kräfte des Widerstands gegen die Angriffe der Regierung, gegen ein drohendes neoliberales Massaker und das Ermächtigungsgesetz zu sammeln. Sie werden aber sicher nicht reichen, um Milei und sein Kabinett zu stoppen.

Gegen den Generalangriff hilft nur ein Generalstreik. Die Gewerkschaften müssen dazu aufgefordert werden, diesen auszurufen und zu organisieren und mit jeder falschen Rücksichtnahme auf und Unterordnung unter die parlamentarischen Manöver der peronistischen Partei zu brechen. In den Gewerkschaften braucht es dazu Basisversammlungen und eine organisierte klassenkämpferische Opposition, die die Führung zum Kampf treibt oder selbst die Initiative ergreift.

Die Einheitsfront für den Generalstreik richtet sich aber nicht nur an die Gewerkschaften und die radikale Linke, sondern auch an Arbeitslosenorganisationen, soziale Bewegungen, die Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung, indigene Gemeinden und Student:innenorganisationen.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückging und viele Lohnabhängige arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, aber auch um den Kampf möglichst effektiv zu führen, sind Massenversammlungen in den Betrieben wie auch Stadtteilen nötig, die Streik- und Aktionskomitees zu wählen und diese als Kampforgane auf lokaler, regional und landesweiter Ebene zu zentralisieren.

Angesichts der zugespitzten Lage wird die Regierung gegen jeden größeren Widerstand mit polizeilicher Repression, eventuell auch mit reaktionären Banden und rechten Gruppierungen vorgehen. Schon in den letzten Wochen wurden die Befugnisse des Ministeriums für Innere Sicherheit ausgeweitet – und es unterliegt keinem Zweifel, dass Ministerin Bullrich davon Gebrauch machen wird. Daher muss ein Generalstreik auch durch Streikposten und Selbstverteidigungsorgane, embryonale Arbeiter:innenmilizen, geschützt werden.

Ein unbefristeter Generalstreik kann die Angriffe der Regierung stoppen, er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – die Frage, ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben von Milei kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen die Inflation, die Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen. Ein solches Programm würde seinerseits die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und des Finanzsektors unter Arbeiter:innenkontrolle erfordern, um so für alle einen existenzsichernden Mindestlohn oder ein Einkommen zu sichern, um die Löhne an die Preissteigerungen anzupassen und die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen zu reorganisieren.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass die FIT-U aufhören muss, als bloße Wahlfront aus mehreren zentristischen Organisationen zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros (Demonstrant:innen, die Straßen und Unternehmen blockieren) und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für eine solches Programm kämpfen wollen.




Venezuela und die zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Jonathan Frühling, Infomail 1239, 17. Dezember 2023

Geschichte Venezuelas von 1998 – 2013

1998 wurde Hugo Chaves zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Dies war der Startpunkt einer Linksentwicklung auf dem südamerikanischen Kontinent. Diese Art des Linkspopulismus wurden nach Chaves als Bolivarismus bezeichnet (in Anlehnung an den antikolonialen General Símon Bolívar, der als wichtigste Person des antispanischen Befreiungskampfes im Norden des Kontinents gilt). Die politische Grundlage dieser Regierungssysteme war die Verstaatlichung einige Schlüsselindustrien. In Venezuela ist dabei vor allem Ölindustrie zu nennen. Von den so generierten Staateseinnahmen wurden vielfältige soziale Programme finanziert. Es gab zur Zeit Chaves genügend Wohnraum, günstige Bildung und gute Krankenversorgung. Außerdem wurden Arbeitsrechte verbessert und solid Renten- und Sozialsysteme eingeführt. Dadurch gewann Chaves ein großes Ansehen bei der Linken weltweit, besonders aber bei der verarmten Bevölkerung Venezuelas.

Allerdings ist dies keineswegs ein “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”, was von Chaves und ähnlichen Regierungen in Bolivien, Ecuador oder Argentinien immer behauptet wurde. Tatsächlich handelte es sich um einen Klassenkompromiss. Trotz Verstaatlichung eines Teils der Industrie blieb das Privateigentum an Produktionsmitteln überall voll intakt. Ausbeutung von Arbeitskraft und damit eine Generierung von Mehrwert blieben Grundlage der Wirtschaft. Deshalb billigte die Bourgeoisie diese Regime. Außerdem schafften die sozialen Reformen politische Stabilität, die auch für die Bourgeoisie von Vorteil war. Streiks, die über den beschränkten Reformismus hinausgingen und die Klassenzusammenarbeit gefährdeten, wurde auch in Venezuela unter Chaves brutal niedergeschlagen. Zudem entwickelte sich ein durch und durch korrupter Staatsapparat, der letztlich der Bourgeoisie und vor allem sich selbst dient.

Ab 2013: Das Scheitern des Bolivarismus

Wie wir bereits Ende der 90er Jahre vorausgesagt haben, musste der Bolivarismus scheitern, da die Interessen der Bourgeoisie und der Lohnabhängigen absolut gegensätzlich sind und deshalb nicht ewig befriedet werden können. Der Zeitpunkt war gekommen, als 2013 die Ölpreise einbrachen. Die Sozialprogramme mussten dann zurechtgestutzt werden. So verlor die Regierung einen guten Teil der unterdrückten Klassen als Unterstützer:innen. Linke Proteste wurden von der Regierung brutal unterdrückt, das Land entwickelte sich ab 2013 unter dem neue Präsidenten Maduro vollständig zu einer Diktatur. Das beides entfremdete noch mehr Menschen von der Regierung. Auch die Profite der Bourgeoisie wurden mit der Wirtschaftskrise schmaler. Sie hatte damit genug vom Klassenkompromiss und wollte von diesem Zeitpunkt an eine durch und durch bürgerliche Regierung. Auch die USA sah nun die Möglichkeit gekommen, einen Regimechange herbeizuführen. Sie verhängte schon unter Obama ab 2015 immer mehr Sanktionen, die letztlich das Ziel hatten, das Land völlig in den Ruin zu treiben und so die Regierung zu destabilisieren. Damit waren Obama und später Trump leider erfolgreich. Heute existiert quasi eine völlige Blockade gegen Venezuela und jedes Land, welches mit Venezuela handelt, wird selbst sanktioniert. (Gerade am 20.10.2023 wurden die Sanktionen gelockert, da der Präsident Maduro Wahlen für 2024 angekündigt hat). Außerdem gibt es allerhand Sabotage von Seiten der herrschenden Klasse innerhalb des Landes.

Dass sich das Regime halten kann, liegt vor allem daran, dass die Armee die Regierung unterstützt und die führenden Generäle Angst haben, ihre Machtstellung unter einer USA-treuen und neoliberalen Regierung zu verlieren. Außerdem gibt es noch Teile der unterdrückten Klassen, die dem Regime die Treue halten, weil sie wissen, dass sie vom Neoliberalismus noch weniger zu erwarten haben. Außerdem gibt es auch regierungstreue Milizen, die neben der Armee existieren, und die einen Putsch schwieriger machen würden, als z.B. in Bolivien.

Wirtschaftliche und soziale Krise in Venezuela 2023

Venezuela ist heute durch die US-Blockade und den Widerstand der Bourgeoisie innerhalb des Landes heute faktisch ein failed state. Das Land ist einer der ärmsten der Welt. Das BIP liegt kaufkraftbereinigt bei 200 Mrd. US-Dollar. Das durchschnittliche pro Kopf Einkommen mit rund $ 3400 (2022) ist das 159. niedrigste der gesamten Welt. Die Wirtschaft ist seit 2013 um ein Drittel geschrumpft. Die Inflation ist von 2013 bis 2017 von 40 % auf 428 % gewachsen. Seit 2017 die US-Sanktionen greifen, ist sie auf unvorstellbare 65.000 % gestiegen, um dann bis 2022 auf 200 % zu sinken (Prognose für 2023: 400 %)  (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/).

Das Geld ist so wertlos geworden, dass es in Kolumbien an Touris verkauft wird und daraus zum Teil Handtaschen hergestellt werden. Es gab auch immer mal wieder Währungsreformen, die vorsahen einige Nullen zu streichen. An der realen Situation hat das natürlich nichts geändert. Die Arbeitslosigkeit ist auch explodiert. 2018 erreichte sie einen Wert von über 35 % (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/). Viele Menschen haben deshalb ihre Lebensgrundlage verloren und sind hungernd auf der Straße gelandet; das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. In dem Zuge der Krise ist auch die Gangkriminalität explodiert. Venezuela ist heute das gefährlichste Land Südamerikas. Selbst für die, die überleben können oder konnten, bot und bietet das Land keine Zukunft mehr.

Zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Aufgrund dieser grausamen Lage habe bis 2023 über 7 Millionen Menschen das Land verlassen. Dies ist nach Syrien die größte Flüchtlingsbewegung, die es momentan auf der Welt gibt. Rund 6 Millionen haben in Südamerika und der Karibik Zuflucht gesucht, alleine 2,5 Millionen in Kolumbien. (Quelle: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/venezuela)

Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hat zum Teil Trinkwasser und Hilfspakete entlang der Flüchtlingsrouten zur Verfügung gestellt und geholfen die Menschen als Geflüchtete zu registrieren. Allerdings sind die Programme völlig unterfinanziert. Programme zur Ernährung, Bildung oder dem Schutz von Kindern mussten nach kurzer Zeit wieder eingestellt werden. Eigentlich bräuchte es nur 61 Millionen US-Dollar pro Jahr für die Finanzierung der Programme (ungefähr 3/4 des Geldes, was Deutschland für eine F-35 Kampfjet ausgibt oder 1/1640 des 100 Mrd. Sondervermögens der Bundeswehr). Aber 2023 waren nur 12 Prozent davon finanziert, also schlappe 7,3 Millionen (ungefähr 2 Leopard 2 Kampfpanzer) (Quelle: ebd.). Die Menschen werden als faktisch völlig im Stich gelassen.

Situation der Geflüchteten in Südamerika

Wie überall, wo Menschen zu Fuß flüchten, sind sie dabei von massiven Gefahren durch Wetter, Tiere und im besonderen Menschen bedroht. Hunger, Krankheiten und (sexuelle) Ausbeutung gehören für diese Menschen zum Alltag. Die Situation der Geflüchteten ist auch in ihren Zielländern in Südamerika katastrophal. Durch Corona sind diese Länder sowieso schon wirtschaftlich zerrüttet. Die Mittelklassen sind erodiert, Armut und Kriminalität grassieren wie nie zuvor. Formelle Arbeit zu finden ist als illegale Geflüchtete natürlich unmöglich, zumal der informelle Sektor in Ländern wie Kolumbien oder Peru 80% der Arbeitskräfte umfasst! Die Länder basieren also faktisch fast ausschließlich auf einer Schattenwirtschaft, in der es keine Arbeitsrechte gibt. Zudem gibt es sehr viel Diskriminisierung und Entrechtung, was dazu führt, dass Venezulaner:innen entweder gar nicht oder zu schlechteren Löhnen eingestellt werden. So lassen sich die einheimischen Lohnabhängigen gegen die Geflüchteten ausspielen. Viele landen völlig mittellos auf der Straße und geraten so in die Fänge der Mafia, die sie für ihre Zwecke missbraucht. Frauen bleibt oftmals keine andere Möglichkeit als sich für Hungerlöhne kontrolliert von der Mafia zu prostituieren. Männer werden dazu eingesetzt Schutzgeld einzutreiben oder Kriege gegen andere Gangs zu führen. In Kolumbien sind sie auch den sozialen Säuberungen der Gangs und reaktionären Bewohner:innen ausgesetzt, die wahllos Geflüchtete, Prostituierte und Drogenabhängige ermorden.

In Peru müssen sie als Sündenbock herhalten. Ähnlich wie in Ecuador rutscht das Land momentan in Chaos ab. Raubüberfälle, Morde und Schutzgelderpressung breiten sich rasendschnell im Land aus. Grund dafür sind die Verarmung des Landes durch Corona und durch die korrupten und neoliberalen Regierungen, die sich nur in die eigene Tasche wirtschaften und dem Kapital wortwörtlich den Weg freischießen, statt ernsthaft eine soziale und wirtschaftliche Entwicklung in dem Land anzustoßen. Durch die Regierung, das Parlament und die große bürgerlichen Medien wird jedoch das Narrativ verbreitet, dass die Schuld alleine bei den Geflüchteten aus Venezuela liegt, die per se kriminell sein. Ähnlich wie wir das aus Deutschland mit der Hetze gegen Geflüchtete kennen, werden hier alle tatsächlichen Verbrechen von Venezulaner:innen aufgebauscht und dadurch ein Zerrbild erzeugt. Das mittellose Geflüchtete zum Teil tatsächlich in die Kriminalität abgedrängt werden, ist natürlich durch die Diskriminierung und die Verweigerung der Integration zu erklären. Die Schuld muss hier also ganz klar bei der Regierung gesucht werden. Die Idee, dass die Geflüchteten das Land ins Chaos stürzen, ist allerdings zu wirksam, um von den eigenen Verbrechen abzulenken und das Land unter einer reaktionären Idee zu einen, als das die Regierung mit dieser Politik brechen würde.

Kampf dem Imperialismus und Kapitalismus!

Die Geflüchtetenkrise Venezuelas zeigt deutlich, wie der US-Imperalismus, der gescheiterte Populismus und Nationalismus bzw. Chauvinismus den Kontinent in den Ruin treiben. Als Revolutionär:innen müssen wir deshalb gegen alle diese Übel gleichzeitig vorgehen. Wir müssen für ein sofortiges Ende der Blockade Venezuelas eintreten, die die Basis dieser Krise ist. Obwohl wir die Politik von Maduro ablehnen, sollten wir die Regierung trotzdem gegen die von der USA unterstützen Putschversuche verteidigen. Der Kampf für bürgerliche Rechte, wie freie Wahlen, mehr gewerkschaftliche Rechte oder Pressefreiheit, verdient natürlich vollste Unterstützung. Allerdings brauchen wir einen Umstürz von links, der mit dem korrupten Regime Maduros Schluss macht und es durch wahren Sozialismus unter einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung ersetzt und das Land nicht an die herrschende Klasse und die USA ausliefert.

In den anderen Ländern Südamerikas müssen wir gegen die chauvinistische Spaltung der Lohnabhängigen kämpfen. Wir müssen uns gemeinsam gegen die Bosse organisieren und dürfen uns nicht gegen unsere Klassengeschwister aus Venezuela ausspielen lassen. Unsere Feind:innen sind letztlich die gleichen. Die Grundlage dieser Politik muss natürlich die gewerkschaftliche Organisierung aller Lohnabhängigen in den gleichen Organisationen sein. Die Grenzen müssen offen sein und es muss jeder Person in allen Ländern die gleichen Rechte zugestanden werden. Nur das kann uns dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und für ein Leben in Freiheit näherbringen.




Argentiniens Präsidentschaftswahlen: Für das „kleinere Übel“ zu stimmen, bringt nichts

Tim Nailsea, Neue Internationale 278, November 2023

Die erste Runde der argentinischen Parlamentswahlen endete mit einem klaren Vorsprung für den peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa, der 37 Prozent der Stimmen erhielt. Der demagogische rechtsextreme neoliberale Kandidat Javier Milei kam mit 30 Prozent auf den zweiten Platz. Die konservative Patricia Bullrich lag mit 24 Prozent hinter ihnen. Sie hat nun Milei für die Stichwahl unterstützt, aber die Koalition, die sie unterstützte, hat sich gespalten, da zwei ihrer drei Parteien, die Bürgerliche Koalition und die Radikale Partei, sich weigern, ihr zu folgen. Nur wenn es Milei gelingt, die meisten Bullrich-Wähler für sich zu gewinnen, wird er genug haben, um Massa zu besiegen. Massa hofft jedoch, Stimmen von ihren konservativen Anhängern zu gewinnen, die über ihr Bündnis mit dem Demagogen Milei entsetzt sind.

Die einzige Stimme der Arbeiter:innenklasse, Myriam Bregman, Präsidentschaftskandidatin der FIT-U (Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) eines Wahlblocks aus vier Parteien, die verschiedenen trotzkistischen Traditionen angehören, erzielte knapp drei Prozent der Stimmen – etwa 850.000 Stimmen. Cristian Castillo von der PTS (Partido de los Trabajadores Socialistas, Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen), wurde für die Provinz Buenos Aires gewählt und fügte den vier bei den Zwischenwahlen gewählten FIT-U-Abgeordneten einen weiteren hinzu. Aber die unmittelbare Zukunft der ArbeiterInnen des Landes wird jetzt nicht durch einen Wahlblock entschieden, sondern durch eine vereinte Kampffront in den Betrieben und auf den Straßen.

Zweite Runde – keine Wahl für die Arbeiter:innen

Keiner der drei bürgerlichen Kandidaten hat die für einen Gesamtsieg erforderlichen 45 Prozent erreicht, so dass es nun am 19. November zu einer Stichwahl zwischen Massa und Milei kommen wird. Für die argentinische Arbeiterklasse bedeutet dies, dass sie überhaupt keine Wahl hat. Zwar fürchten viele eine rechtsradikale Präsidentschaft Mileis, doch haben sie aus erster Hand erfahren, wie es ist, unter etablierten peronistischen Regierungen zu leben, die zu einer Aushöhlung ihres Lebensstandards und Angriffen auf ihre Organisationen geführt haben. 

Die Armut hat sich seit 2018 vervierfacht, die Armutsquote liegt derzeit bei 40 Prozent. Die Inflation liegt bei über 100 Prozent und die Lebenshaltungskosten steigen rasant an. 

Der „Peronismus“, benannt nach Juan Peron, der von 1946-55 und erneut von 1973-4 Präsident war, hat eine lange Geschichte des Verrats an der Arbeiter:innenklasse. Peron, der für sich in Anspruch nahm, eine „dritte Position“ zwischen links und rechts einzunehmen, pflegte enge Beziehungen zur mächtigen argentinischen Gewerkschaftsbürokratie, während er und seine Justicialist Party (PJ) in den Boomjahren nach dem Krieg einige politische Maßnahmen zugunsten der Armen des Landes ergriffen und das Frauenwahlrecht einführten, später aber, insbesondere nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahr 1973, nach rechts rückten. 

Seit Perons Tod wird die peronistische Bewegung weitgehend von ihrem rechten Flügel dominiert, auch wenn sie weiterhin die sklavische Unterstützung des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes (CGT) genießt. Die peronistischen Regierungen, beginnend mit Carlos Menem in den 1990er Jahren und weiterführend mit den Kirchnern Nestor und Cristina sowie dem amtierenden Albertio Fenandez, waren dadurch gekennzeichnet, dass sie riesige Schulden bei ausländischen Banken auftürmten und dann vom IWF diktierte brutale Sparpakete durchsetzten. Trotz des rhetorischen argentinischen Nationalismus des Peronismus hat er sich immer den Forderungen des globalen Kapitalismus und des US-Imperialismus gebeugt. 

Massa steht ganz in dieser Tradition. Er ist eine Figur des Establishments und hat im letzten Jahr als Wirtschaftsminister versucht, einen Ausgleich zwischen den eher interventionistischen und den marktwirtschaftlich orientierten Fraktionen in der peronistischen Koalition zu schaffen. Unter ihm werden die argentinische Lebenshaltungskostenkrise und der Kotau der Regierung vor dem IWF weitergehen. Sein überraschend gutes Ergebnis ist auf die verständlichen Ängste vor der extremen Rechten zurückzuführen.

Faschismus oder extremer Neoliberalismus?

Die Freiheitsbewegung von Javier Milei ähnelt dem rechten MAGA-Flügel der Republikanischen Partei in den USA, mit einer ultra-neoliberalen „libertären“ Wirtschaftspolitik und einer heftig reaktionären Sozialpolitik. Das Ganze ist verpackt in die „Anti-Establishment“-Demagogie, die von Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien vorangetrieben wird. 

Milei ist ein rechtsgerichteter Wirtschaftswissenschaftler und Journalist. Zu seiner Politik gehören Angriffe auf die Rechte der Frauen, einschließlich des Zugangs zu Abtreibung und Sexualerziehung. Er plant, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, und während des Wahlkampfs sprach sich Milei für die Privatisierung der argentinischen Eisenbahnen aus. Seine schockierendste Politik ist das Versprechen, den argentinischen Peso abzuschaffen und die Wirtschaft zu dollarisieren. Tatsächlich gibt es in der Zentralbank nicht genügend Dollarreserven, um dies zu verwirklichen.

Im Gegensatz zu einigen der hysterischen Reaktionen auf seinen Aufstieg ist Mileis Bewegung nicht faschistisch. Der Faschismus kommt auf der Grundlage außerparlamentarischer paramilitärischer Gewalt an die Macht, die auf die Zerschlagung der Arbeiterbewegung abzielt, während seine Bewegung in erster Linie auf Wählerstimmen setzt. Zwar haben sich Mitglieder seiner Bewegung, darunter auch seine Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel, positiv über die argentinische Militärdiktatur von 1976-83 geäußert, aber wie bei Trump und Bolsonaro gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Militärhierarchie Milei bei der Errichtung einer Diktatur unterstützt, zumindest nicht unter den unmittelbaren Bedingungen. Es ist vielmehr der brutale neoliberale Abbau von Sozialleistungen, Frauenrechten, staatlicher Beschäftigung und den Überresten von Arbeits- und Umweltvorschriften, den die Arbeiter:innen zu fürchten haben.

Milei und sein Wahlbündnis enthalten zwar Elemente, die sich bei einer Verschärfung der Wirtschaftskrise in eine faschistische Richtung entwickeln könnten, sind aber eigentlich ein Beispiel für das, was in der kapitalistischen demokratischen Politik üblich geworden ist – ultrakonservative, extreme Neoliberale, die darauf abzielen, den Kapitalismus von den letzten Resten der Beschränkung zu befreien und ihn auf die Arbeiterklasse und die Armen loszulassen. 

Das geringere Übel?

Aufforderungen an die Linke und die Arbeiter:innenbewegung, sich hinter Massa und das Establishment zu stellen, müssen entschieden zurückgewiesen werden. Das System der Stichwahlen ist darauf ausgelegt, die Wähler zu disziplinieren, damit sie die etablierten Parteien unterstützen. Sie dürfen sich im ersten Wahlgang mit Stimmen für alternative Kandidaten vergnügen, aber danach wird von ihnen erwartet, dass sie „ernst machen“ und für eine der beiden verbleibenden Optionen stimmen. 

Dies gilt insbesondere angesichts eines möglichen Sieges der Rechten, wobei Politiker und Medienvertreter die Menschen auffordern, für das „kleinere Übel“ zu stimmen. Da es nur zwei Möglichkeiten gibt, warum nicht den Kandidaten wählen, der trotz seiner Schwächen zumindest kein fanatischer Reaktionär ist, der alles, was von den Rechten der Lohnabhängigen, der Frauen und der Homosexuellen übrig geblieben ist, abschaffen will?

Es ist die neoliberale Politik der peronistischen Koalition, die Argentinien in diese Sackgasse geführt hat. Wenn sie weiter regiert, wird sich die Krise nur vertiefen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rechte dies ausnutzen und an die Macht kommen kann.

Der einzige Weg, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein kämpferischer Kampf, bei dem die Gewerkschaften in den Betrieben, die Arbeitslosenorganisationen und die Frauenbewegung zu einer gemeinsamen Front des Widerstands gegen denjenigen, der Präsident wird, gewonnen werden. Nur eine unabhängige, vom Peronismus und allen kapitalistischen Parteien losgelöste Arbeiter:innenbewegung kann sich sowohl den Angriffen des Neoliberalismus als auch einer aufständischen extremen Rechten entgegenstellen.

Eine solche Bewegung ist kein Hirngespinst. In Jujay, der ärmsten Provinz Argentiniens mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von 80 %, haben Kampagnen gegen die Auswüchse der Lithiumkonzerne und reaktionäre Verfassungsänderungen die argentinische Politik in diesem Jahr erschüttert, wobei Lehrer:innen und indigene Arbeiter:innen den Kampf anführten. Eine solche Bewegung kann als Vorbild dienen und auf nationaler Ebene verallgemeinert werden. 

Eines der Hauptziele der Linken muss es sein, die argentinische Arbeiter:innenbewegung von ihrer historischen Unterstützung für den Peronismus zu lösen, und das kann nur geschehen, indem der Ruf nach einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei laut wird. Der bescheidene Erfolg des linksextremen Wahlbündnisses FIT-U zeigt, dass es Aktivist:innen gibt, die eine solche Partei aufbauen könnten. Doch dazu bedarf es einer Einheit, die über die von zersplitterten Wahlbündnissen hinausgeht. Es erfordert ein revolutionäres Aktionsprogramm, das bei den wichtigsten Forderungen und Taktiken ansetzt und notwendig ist, um den neuen Präsidenten anzugreifen und zu besiegen.




USA: Automobilarbeiter:innen gegen die 3 Autoriesen

Andy Yorke, Infomail 1234, 16. Oktober 2023

Am 14. September 2023 liefen die Vertragsverhandlungen zwischen der Gewerkschaft der Vereinigten Automobilarbeiter:innen (UAW) und den traditionellen großen drei amerikanischen Automobilherstellern (General Motors, Stellantis und Ford Motor Company) aus. Dreizehntausend Arbeiter:innen aus drei großen Fabriken, jeweils eine von den Großen Drei, legten die Arbeit nieder – das GM-Montagewerk in Wentzville, Missouri, das Ford-Montagewerk in Michigan außerhalb der alten „Motor City“ Detroit und der Montagekomplex von Stellantis in Toledo (Ohio) wurden bestreikt. Am 22. September schlossen sich weitere 5.600 Beschäftigte in 38 Vertriebszentren für Ersatzteile von Stellantis und General Motors in 20 Bundesstaaten an.

UAW-Präsident Shawn Fain, der sein Amt im März dieses Jahres antrat, schwor den Beschäftigten, dass „die UAW vor keinem Kampf zurückschreckt und wir bereit sind, alles zu tun, was nötig ist, um mit allen Mitteln für Gerechtigkeit zu sorgen“. Bei den auf Bundesebene angeordneten Direktwahlen kam eine von Fains Reformbewegung UAW Members United unterstützte Liste in den ersten demokratischen Wahlen seit Jahrzehnten an die Spitze und verdrängte den früheren Präsidenten Ray Curry und die alte korrupte Führung, die den Kampf der Automobilarbeiter:innen im Laufe der Jahrzehnte wiederholt verraten (oder unter Wert verkauft) hatte.

Die Kehrtwende in der Streikstrategie beweist, wie stark die Gewerkschaftsbürokratie den Kampf behindern und dass selbst eine begrenzte Demokratisierung dazu beitragen kann, den Gewerkschaften die Hände zu befreien. Um den Kampf aufrechtzuerhalten, müssen die Arbeiter:innen jedoch sicherstellen, dass diese Demokratisierung viel weiter und tiefer geht.

Lage in der US-Autoindustrie

Die Situation in der US-Automobilindustrie ist eine bekannte Geschichte. In den zehn Jahren von 2013 – 2022 haben sich die Gewinne der Großen Drei auf 250 Milliarden US-Dollar summiert, rund doppelt so viel wie in den 10 Jahren zuvor. Die Bosse sagen, dass sie es sich nicht leisten können, den Arbeiter:innen eine Lohnerhöhung von 40 % zu geben, weil sie massiv in den Übergang zu Elektrofahrzeugen investieren müssen. Aber das hat sie nicht davon abgehalten, fast ein Drittel ihres Gewinns als Dividenden für reiche Aktionär:innen, Aktienrückkäufe für Wall-Street-Investor:innen und millionenschwere Jahresgehälter für die Vorstandsvorsitzenden auszuschütten.

Die Gehälter der Vorstandsvorsitzenden der Großen Drei stiegen zwischen 2013 und 2022 um 40 %. Letztes Jahr verdiente GM-Chefin Mary Barra fast 29 Millionen US-Dollar, das 362-fache eines/r typischen GM-Arbeiter:in. Ford-Boss Jim Farley erhielt insgesamt 21 Millionen US-Dollar und Stellantis-Chef Carlos Tavares 24,8 Millionen US-Dollar, also das 281- bzw. 365-Fache des entsprechenden Durchschnittslohns eines/r Arbeiters/in. Diese Leute haben die Frechheit, den Arbeiter:innen zu sagen, dass sie für ihre Expansionspläne Opfer bringen sollen!

Die Lohnabhängigen haben den Preis für diese Gier der Unternehmen mit ihren Löhnen und Arbeitsbedingungen bezahlt, denn die Löhne der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe sind seit 2008 um fast 20 % gesunken. Laut Fain stiegen die Autopreise in den letzten vier Jahren um 34 %, während die Löhne der Beschäftigten nur um 6 % zulegten. Um die Verluste der Vergangenheit auszugleichen, fordert die UAW allgemeine Lohnerhöhungen von 40 % über einen Zeitraum von vier Jahren, die Wiederherstellung des Lebenshaltungskostenanstiegs, Rentenerhöhungen für Rentner:innen, die seit einem Jahrzehnt keine erhalten haben, eine/n bessere/n Gesundheitsversorgung und Urlaub sowie ein Gewinnbeteiligungssystem.

Die Gewerkschaft fordert auch das Recht, gegen Werksschließungen zu streiken, da Stellantis vor dem Streik angedroht hatte, bis zu 20 Werke zu schließen und Umstrukturierungen aufgrund der Produktion von Elektrofahrzeugen vorzunehmen. Daher ist es wichtig, dass es keine Zugeständnisse bei den Streikverbotsbestimmungen gibt.

Strategie

Die „Stand Up (Aufstehen)“-Streikstrategie der Fain-Führung hat jedoch bisher den Großteil der 146.000 UAW-Mitglieder in Bereitschaft gehalten und damit sowohl den Streik als auch das Ausmaß seines möglichen Erfolgs begrenzt. Als am 29. September nach einer Woche Verhandlungen die Zeit für eine erneute Eskalation gekommen war, kündigte Fain an, dass nur zwei weitere Werke bestreikt würden: das Ford-Montagewerk in Chicago und das GM-Montagewerk in Lansing (Michigan) Delta Township, womit die Zahl der Streikenden auf 25.000 anstieg, was einem/r von sechs Beschäftigten entspricht.

Am 6. Oktober wurde dann die Eskalation in zwei weiteren Werken, darunter das riesige und äußerst profitable GM-Werk in Arlington (Texas) in letzter Minute zurückgezogen, weil die Bosse sich bereiterklärten, die Elektrofahrzeug-Beschäftigten in Tarifverhandlungen einzubeziehen und einige Zugeständnisse bei Zeitarbeit und Lohntarifen zu machen. Fain behauptet, dies beweise, dass seine Strategie funktioniere – „Es geht nicht immer darum, die große Panzerfaust zu zücken“ –, aber in Wirklichkeit begräbt er die Lohnforderung, bei der es keine Bewegung gegeben hat.

Fain bezeichnet dies als eine „intelligente Streikstrategie“, bei der Streikmittel (die für drei Monate Dauer angespart wurden) geschont und die großen Automobilhersteller gegeneinander ausgespielt werden: Ausgewählte Gewerkschaftsgliederungen (Ortsgruppen) streiken in ausgewählten Werken, bis zum 6. Oktober sich ausweitend mit jeder Frist für Vertragsverhandlungen, die überschritten wird, und argumentieren gleichzeitig für ein Überstundenverbot: „8 Stunden und Skaten!“

„Ich sehe, dass die Leute sofort streiken wollen“, sagte Fain, „das ist immer noch eine Option … Wir könnten alle drei großen Unternehmen auf einmal bestreiken“. Aber ein solcher flächendeckender Streik scheint weiter entfernt denn je, da das Aufstehen zum Stillstand gekommen ist. Ein ernsthafter, eskalierender Streik braucht einen starken Impuls, sonst verfehlt er, wie in Großbritannien, sein Ziel.

Es gibt noch andere, weniger sichtbare, aber dennoch gefährliche Grenzen dieser Strategie. Sie zielt darauf ab, dass der Streik die Profite der Automonopole so wenig wie möglich schmälert, wobei diese als Grenzen für die bestmögliche Lösung akzeptiert werden. Fain ist auch darauf aus, die liberale Presse zumindest neutral zu halten und Präsident Biden im Countdown zu den Parlamentswahlen 2024 keinen Schaden zuzufügen. Obwohl die UAW Biden noch nicht unterstützt hat, traf Fain ihn am Flughafen und reiste mit ihm zu einer sorgfältig inszenierten Streikpostenkundgebung.

Fain behauptet: „Der Stand Up-Streik ist die Antwort unserer Generation auf die Bewegung, die unsere Gewerkschaft aufgebaut hat, die Sitzstreiks von 1937“. Aber in Wirklichkeit hat diese vorsichtige Strategie nichts mit dieser von linken Aktivist:innen von unten geführten Aktion gemein. Wie er zugibt, geht es darum, „unseren nationalen Verhandlungsführer:innen ein Maximum an Einfluss und Flexibilität zu geben, um einen Rekordvertrag zu erzielen“, anstatt die Bosse durch die Bedrohung ihres Reichtums zum Einlenken zu zwingen.

Streiken, um zu gewinnen

Die Streikstrategie sollten die Beschäftigten nicht nur den Gewerkschaftsführer:innen überlassen, sondern an den Streikposten, auf Massenversammlungen der Streikenden und in den Kantinen der meisten noch arbeitenden Betriebe diskutieren. Sie müssen rote Linien festlegen (z. B. die vollständige Abschaffung der Zweiklassenbelegschaft) und eine härtere Strategie organisieren, um den Streik schnell zu steigern bis hin zu einem Vollstreik, wenn die Unternehmen nicht einlenken, um alle ihre Forderungen durchzusetzen.

Diese Hinwendung sogar nur zu einem begrenzten Streik ist zwar zu begrüßen, aber die Rentabilität der Großen Drei und die Regierung Biden als notwendige Unterstützung für höhere Löhne zu akzeptieren, würde bedeuten, dass dem Streik reale Grenzen gesetzt und daher wahrscheinlich nicht alle Forderungen der Streikenden erreicht werden. Die Arbeiter:innen sollten sich auf ihre eigene Kraft verlassen. Ihre Forderungen zielen nur auf die Wiederherstellung dessen ab, was verlorengegangen ist, und alle sind absolut notwendig. Den UAW-Beschäftigten steht ein noch größerer Kampf bevor, um die andere, wachsende Hälfte ihrer Branche zu organisieren und sicherzustellen, dass der dringend benötigte Übergang zum emissionsfreien Verkehr von der Arbeiter:innenklasse und nicht von den Bossen inszeniert wird.

Die US-Branchenriesen stehen auf dem Markt für Elektroautos unter starkem Druck von wendigeren Unternehmen wie dem schnell expandierenden Tesla und ausländischen Wettbewerber:innen, insbesondere aus China. Während sie mit Fain sprechen, verlagern sie die Produktion weiter in den nicht gewerkschaftlich organisierten Süden, wo 51 % der Elektroautoinvestitionen seit 2020 getätigt wurden, während nur 31 % in den alten Produktionskern im Mittleren Westen flossen – und damit in den der UAW-Mitgliedschaft. Die Umstellung auf Elektrofahrzeuge birgt eine zweite, organische Bedrohung, da für die Montage eines Autos nur halb so viele Arbeiter:innen benötigt werden wie für die alten Verbrennungsfahrzeuge.

Daher können keine dauerhaften Erfolge erzielt werden, es sei denn, die Gewerkschaft kämpft um die Kontrolle über diese Elektroumstellung und organisiert die Beschäftigten in den südlichen Bundesstaaten mit „Recht auf Arbeit“ und in den nicht organisierten Werken ausländischer Autofirmen, indem sie die Anerkennung der Gewerkschaft durch Streiks, einschließlich fliegender Streikposten und Mitgliederwerbung, durchsetzt. Darüber hinaus sollten die Gewerkschaften das stark gewerkschaftsfeindliche, aber schnell expandierende Unternehmen Tesla in Kalifornien und Nevada ins Visier nehmen. Das wird einen viel härteren Kampf erfordern.

Netto null

Angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise liegt die Verringerung der Kohlendioxidemissionen im Interesse aller arbeitenden Menschen. Ein entscheidender Teil davon ist der Kampf für einen gerechten Übergang für die Arbeiter:innenschaft in den umweltverschmutzenden Industrien. Die Beschäftigten in der Automobilindustrie sollten eine kostenlose Umschulung in ähnlich qualifizierte Positionen erhalten, zusammen mit Garantien, dass keine Arbeitsplätze oder Anlagen abgebaut werden und die Wochenarbeitszeit, falls erforderlich, verkürzt wird. Dies muss mit der Abschaffung des Zweiklassensystems und der geforderten Lohnerhöhung von 40 % einhergehen.

Wenn die Bosse behaupten, dass sie sich das nicht leisten können, sollten die Arbeiter:innen verlangen, dass sie ihre Geschäftsunterlagen zur Überprüfung durch die Gewerkschaften öffnen. Wenn diese hochprofitablen Unternehmen versuchen, ihnen weiszumachen, sie seien zahlungsunfähig, müssen die Arbeiter:innen für eine Übernahme des gesamten Sektors unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und Verbraucher:innen kämpfen. Sie müssen sich allen Versuchen widersetzen, die Bosse zu retten, wie es 2009 geschehen ist.

Auch wenn Bidens Versprechen, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, angesichts des Ausmaßes der Krise völlig unzureichend ist, besteht in Wirklichkeit die einzige Möglichkeit, selbst dieses begrenzte Ziel zu erreichen, darin, den Flaschenhals des Profits zu beseitigen und die Industrie unter die Kontrolle der Arbeiter:innen und Konsument:innen zu stellen. Die Verstaatlichung der Automobilindustrie unter der Arbeiter:innenkontrolle  und ohne jegliche Entschädigung der Kapitalist:innen mit dem Ziel, die Klimakatastrophe zu verhindern, würde einen massiven Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und jede Menge Arbeit als Ersatz für die niedergehende Autoproduktion ermöglichen.

Für den Aufbau eines solchen politischen Kampfes ist mehr erforderlich als eine weitere reformorientierte Gewerkschaftsführung mit 160.000 US-Dollar im Jahr. Es braucht eine starke betriebliche Organisation mit regelmäßigen Massenversammlungen und gewählten Streikkomitees sowie eine Basisbewegung, die die Kämpfer :innen und Aktivist:innen unabhängig von der Bürokratie organisiert. In jedem Betrieb sollten Streikausschüsse eingerichtet werden.

Für die Streikenden sollten solche Ausschüsse organisiert werden, um Streikbruch zu verhindern und sie vor Angriffen und Einschüchterung zu schützen. Sie sollten die lokale Gewerkschaftsbewegung und Gemeinde auffordern, die notwendige Unterstützung und Solidarität zu leisten. Für diejenigen, die sich noch nicht im Streik befinden, können diese Ausschüsse Solidarität mit den Betrieben organisieren, die sich im Streik befinden, und Provokationen der Unternehmensleitungen mit Arbeitsniederlegungen oder Sitzstreiks entgegentreten.

Eine solche Bewegung sollte jede positive Initiative ihrer Führung unterstützen, aber auch bereit sein, die Initiative zu ergreifen, wenn sie wirksame Maßnahmen zurückhalten oder behindern – keine Aussetzung von Streiks mehr. Das bedeutet, jeden Fortschritt von Fain und der UAW-Bürokratie zu unterstützen und gleichzeitig die Basisorganisation aufzubauen, die notwendig ist, um sie zu zwingen, weiter zu gehen, als sie wollen. Sie sollte auch das Ziel erörtern, die überbezahlten und übermächtigen hauptamtlichen Funktionär:innen durch eine Führung zu ersetzen, die von den einfachen Mitgliedern gewählt und abwählbar ist.

Um erfolgreich zu sein, müssen Gewerkschaftsaktivist:innen eine klassenbasierte Analyse und ein sozialistisches politisches Ziel für die Gewerkschaften annehmen und dafür kämpfen, sie aus der Unterwerfung unter eine der beiden Parteien der Bosse zu lösen. Wenn diese Strategie erfolgreich ist, kann sie letztlich zu einer neuen, klassenkämpferischen Führung der Gewerkschaften führen, die auf Arbeiter:innendemokratie basiert. Das bedeutet, dass die weitsichtigsten politischen Aktivist:innen, die für diesen Streik mobilisiert haben, mit ihren kämpferischen Kolleginnen und Kollegen in den Teamsters, in den Eisenbahn- und Pflegegewerkschaften zusammenarbeiten müssen, um eine Bewegung für eine neue Arbeiter:innenpartei zu entwickeln, die sich entschieden von der Demokratischen Partei löst.




NATO-Erweiterung: Auferstehung des Militarismus

Robert Teller, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Noch Ende 2019 galt die NATO dem französischen Präsidenten Macron als hirntot. Trump drohte mit der Kürzung von US-Mitteln und sogar dem Austritt aus dem Kriegsbündnis. Der Krieg in der Ukraine lässt all das in Vergessenheit geraten und wird als Gelegenheit genutzt, neue Fakten zu schaffen. Binnen kurzer Zeit wurde, wenn auch nicht ohne Friktionen, der NATO-Beitritt von Schweden und Finnland in Angriff genommen.

Bestandsaufnahme der Expansion

Dieser wurde bereits auf dem NATO-Gipfel in Madrid am 29. Juni 2022 eingeleitet. Die Verabschiedung durch die beiden Beitritts- und sämtliche NATO-Mitgliedsländer wurde im Falle Finnlands bis April 2023 abgeschlossen. Im Falle Schwedens wird eine endgültige Einigung im Herbst diesen Jahres erwartet. Die Aufnahmen markieren eine Wende nach einer jahrzehntelangen Politik zumindest formeller Unabhängigkeit von geopolitischen Machtblöcken – der NATO, dem Warschauer Pakt und von Russland und dessen Bündnispartner:innen.

Nicht zuletzt sollte die jüngste Expansion der NATO auch die politische Botschaft aussenden, dass die Zeit des Manövrierens zwischen den imperialistischen Machtblöcken in Ost und West der Vergangenheit angehört, jedes Land sich entscheiden muss, auf welcher Seite es steht. Durchkreuzt wurde dieses Verdikt durch die Türkei, die eine strategische Ambivalenz gegenüber Russland als Druckmittel einsetzen konnte, um von Schweden und Finnland das Versprechen einer verschärften Repression gegenüber der PKK-Bewegung zu erhalten. Nach ihrer Drohung, die Beitritte zu blockieren, erhält die Türkei nun zugleich Rückendeckung für ihre militärischen Ziele in Rojava und im Nordirak.

Zwar fand unter dem Deckmantel ihrer Unabhängigkeit in den beiden skandinavischen Ländern schon lange – und verstärkt nach dem Zusammenbruch der UdSSR – eine Zusammenarbeit mit der NATO statt. Im Falle Schwedens beinhaltete dies auch die Teilnahme an NATO-Manövern und die Ausrichtung von Waffensystemen auf NATO-Standards. Die „Blockfreiheit“ beruhte immer auf der zentralen Prämisse, dass einer NATO-Mitgliedschaft faktisch nichts im Wege steht. Als Nicht-NATO-Mitglied sind Finnland – und Schweden als wichtigste Truppenstellerin – zudem schon seit 2008 Teil der „Nordic Battlegroup“ der EU.

Finnland praktizierte während des Kalten Kriegs eine Art „Schweizer Modell“, das eine Eingliederung in das westliche Militärbündnis vor allem dadurch vermied, dass eine eigenständige Verteidigung gegen eine mögliche Invasion auch ohne Beteiligung verbündeter Streitkräfte als glaubhaftes Abschreckungsszenario vorbereitet wurde, was ebenso ein vergleichsweise großes Heer an Reservist:innen erforderte wie das Primat der „Landesverteidigung“ auf allen Ebenen, also die Durchdringung aller Institutionen und ihre Vorbereitung auf ihre jeweiligen Aufgaben im Kriegsfall. Der wichtige Unterschied zur Schweiz ist jedoch, dass im Falle Finnlands nur die Sowjetunion als Kontrahentin in Frage kam.

Dennoch unterwarfen sich beide Länder bis 2022 nicht der NATO-Beistandspflicht und konnten daher nicht in NATO-Operationspläne, die im Fall einer militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion bzw. mit Russland aktiviert werden können, eingebunden werden. Aus Sicht der NATO soll der Beitritt genau dies ermöglichen – das Schließen der nördlichen Flanke gegenüber Russland durch Einbeziehung der finnischen und schwedischen Streitkräfte. Laut Berichten wurde diese Integration auf dem jüngsten NATO-Gipfel im Juli 2023 durch Verabschiedung eines detaillierten Verteidigungsplans für Nordeuropa vollzogen, der auch die Einrichtung eines regionalen Hauptquartiers in den USA vorsieht – wie auch die Verabschiedung regionaler Verteidigungspläne und Hauptquartiere für Mittel- und Südeuropa.

Ausdehnung in Osteuropa

Militärisch wird die Neuaufnahme von Schweden und Finnland die Dominanz der NATO über die Ostsee weiter festigen, die im Falle einer größeren Konfrontation mit Russland strategisch bedeutsam wäre. Zur Vorbereitung auf ein solches Szenario dient bereits seit 2004 die „gemeinsame Luftraumüberwachung“ im Baltikum, die durch ein Rotationssystem aller NATO-Mitgliedsstaaten ein jederzeit einsatzbereites Kontingent an Abfangjägern in den baltischen Staaten in Einsatzbereitschaft hält. Insbesondere Deutschland betrachtet die Kontrolle der Seewege vom Nordatlantik über die Nordsee bis zur Ostsee als eine Kernaufgabe und hat zunehmend seine Marinekapazitäten auf dieses Einsatzgebiet ausgerichtet.

Eingeleitet wurde die Osterweiterung der NATO im Grunde schon mit der deutschen Wiedervereinigung. Am 3. Oktober 1990 wurde nicht nur die Bundesrepublik um die ehemalige DDR erweitert, sondern auch das NATO-Gebiet. Zugleich versicherten jedoch damals die westlichen Führungsmächte gegenüber der Sowjetunion, dass eine weitere Ausdehnung der Allianz nicht vorgesehen sei. Von diesen Versprechen wurde, wie vorauszusehen, nichts gehalten. Allerdings dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis die NATO-Ausweitung 1999 mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns neuen Schwung erhielt. Dies fällt nicht zufällig mit der Rekonsolidierung des russischen Imperialismus als globalem Konkurrenten unter Putin zusammen und seiner klaren Bestimmung als strategischen Gegner der USA, während die europäischen führenden Mächte damals eine andere Strategie verfolgten.

Unter dem Schlagwort der „Open Door Policy“ wurde die Aufnahme weiterer Staaten ins Auge gefasst. Insgesamt wurden zwischen 1999 und 2020 14 Länder Osteuropas als Neumitglieder aufgenommen, darunter 9 ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts, vier Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien) sowie Albanien. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland hat im Juni 2023 zugesagt, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zur Zeit sind rund 40.000 NATO-Truppen in Osteuropa stationiert.

Aufrüstung im Pazifikraum

Auch wenn die aktuellen Diskussionen sich auf den Ukrainekrieg konzentrieren, ist der geopolitische Einfluss im „Indopazifik“ – kurz gesagt im Umkreis von China – ein strategisches Kernanliegen der USA und zentral im übergeordneten imperialistischen Hauptkonflikt zwischen den ihnen und China. Im NATO-Strategiedokument von 2022 schlägt sich dies auch in der Formulierung nieder, dass „Entwicklungen im Indopazifik die euro-atlantische Sicherheit direkt beeinflussen“ und daher die NATO ein Interesse an dieser Region habe.

Seit 2022 nehmen Japan, Australien und Südkorea mit ihren Delegationen an NATO-Gipfeln teil. Die USA haben Anfang 2023 die Zustimmung der philippinischen Regierung (auf Grundlage eines schon seit 2014 bestehenden Abkommens) zur Einrichtung von vier neuen Militärstützpunkten erreicht, die einen direkten Zugang zu dem Teil des Westpazifiks ermöglichen, der neben China (dort unter der Bezeichnung „South China Sea“) auch von Vietnam („Östliches Meer“), den Philippinen („West Philippine Sea“) und teils von Indonesien („North Natuna Sea“ nach dem zu Indonesien gehörenden Natuna-Archipel) beansprucht wird und letztlich im Zentrum der „Indopazifik“-Debatten steht. Auch Joe Bidens Staatsbesuch in Vietnam Mitte September 2023 unterstreicht das Interesse des US-Imperialismus, sich in der Region zu verankern.

Gemeinsame Manöver von US-Streitkräften mit Australien, Japan und den Philippinen fanden zuletzt im August 2023 im Westpazifik statt. Unabhängig davon laufen seit 2009 jährliche Übungen der US- und indonesischen Streitkräfte, an denen sich in den vergangenen beiden Jahren auch das Vereinigte Königreich, Frankreich, Japan, Singapur und Australien beteiligten. All das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch enge US-Verbündete wie Japan, Südkorea und Singapur enge wirtschaftliche Beziehungen zu China pflegen und nicht bereit sind, sich in eine einseitige Abhängigkeit zu begeben.

Geschichte der NATO

All dies verdeutlicht, wie sehr sich die NATO seit dem Kalten Krieg verändert hat. Allerdings gibt es keinen Grund, dabei ihre Vergangenheit zu verklären. Seit ihrer Gründung 1949 bildet sie eine Allianz der mächtigsten kapitalistischen Staaten der Welt, verpflichtet zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer Hegemonie.

Zur Zeit ihrer Gründung bedeutete dies die konterrevolutionäre Stabilisierung einer Nachkriegsordnung vor allem in Europa – also die Wiedererrichtung der bürgerlichen Nationalstaaten. Diese sollten sowohl über den kapitalistischen Weltmarkt als auch über politische und militärische Allianzen in einen globalen Einflussraum unter Führung der USA eingebunden werden.

Vor allem erforderte dies die Entwaffnung der Arbeiter:innenklasse, die den wichtigsten Beitrag zum Sieg über den Faschismus geleistet hatte. Diese angestrebte Nachkriegsordnung wurde ideologisch verklärt zum Reich der selbstbestimmten demokratischen Nationen. Dies war jedoch immer ein Hohn, wie schon ein Blick auf die Gründungsmitglieder zeigt, zu denen auch solch demokratische Musterschüler wie der „Estado Novo“ – das Portugal unter der Diktatur von António de Oliveira Salazar – oder Kolonialreiche wie Frankreich gehörten. Die Botschaft an den Rest der Welt war, dass ein Land, sofern es sich für die „richtige“ Seite entschieden hatte, auf die wirtschaftliche und militärische Unterstützung der USA hoffen konnte.

Auch wenn die Sowjetunion der Hauptgegner des imperialistischen Projekts werden musste, konnte die konterrevolutionäre Stabilisierung nicht ohne Mithilfe der stalinistischen Bürokratie erzielt werden. Die Aufteilung Osteuropas – wie unter den Siegermächten vereinbart – setzte voraus, dass die mit der UdSSR verbündeten stalinistischen Parteien ihre Aktivitäten und Programmatik so anpassten, dass sie mit den außenpolitischen Zielen der Kreml-Bürokratie verträglich waren, also der Kampf für proletarische Revolution und gegen die imperialistische Militärmaschinerie in der westlichen Sphäre „nicht länger auf der Tagesordnung“ stand. Die NATO indes machte durch die Aufnahme der BRD, ihre Wiederbewaffnung und die Stationierung von US-Atomwaffen auf ihrem Territorium den Krieg gegen die Sowjetunion in Mitteleuropa zu dem realistischen Bedrohungsszenario, das sie zur „Eindämmung des Kommunismus“ für geboten hielt.

Veränderte Doktrin nach Kaltem Krieg

Das Selbstverständnis der NATO als „Verteidigungsbündnis“ war schon immer eine Lüge, die über ihren eigentlichen Zweck – die Durchsetzung und Absicherung imperialistischer Hegemonie – hinwegtäuscht. Der Wegfall des Hautgegners durch den Zusammenbruch der Sowjetunion war daher zwar Anlass für allerlei chauvinistischen, bürgerlich-demokratischen Siegestaumel, nicht aber für eine Auflösung der NATO. Sie wurde vielmehr neu ausgerichtet für eine Welt, in der kein kohärenter Machtblock mehr der Durchsetzung ihrer Ziele im Weg steht. Vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege und der Bürger:innenkriege in der ehemaligen sowjetischen Peripherie rückte nun die Fähigkeit zu schnellen globalen, auch präventiven Militärinterventionen in den Fokus. Der NATO-Gipfel in Madrid 1997 erklärte solche Einsätze auch ohne UNO-Mandat für legitim und dehnte den möglichen Einsatz von Atomwaffen weit über die Abschreckungsdoktrin des Kalten Kriegs aus. Von der Eindämmung Russlands ist die NATO hingegen nie abgekommen – sie wurde lediglich verkauft als Verwirklichung neu erlangter Souveränität der neu aufgenommenen Staaten.

Vor dem Hintergrund der neuen Doktrin folgte der Angriff auf Afghanistan (2001) und den Irak (2003). Die 2000er Jahre zeigten auch die Spaltungstendenzen innerhalb der Allianz durch Bestrebungen Deutschlands und Frankreichs, die sich am deutlichsten in einer (wenn auch inkonsequenten) deutschen Opposition zur Irakinvasion ausdrückten, eine eigenständigere europäische Bündnisformation zu etablieren. Kernfrage dieser Spaltungslinie war, ob der deutsche und französische Imperialismus als eigenständiger Block einen gleichberechtigten Platz neben den USA beanspruchen kann.

Eng damit verbunden war die Idee, Russland einen Platz in der zweiten Reihe der imperialistischen Mächte zuzugestehen, es in eine „europäische Sicherheitsarchitektur“ einzubinden (also sein militärisches Drohpotenzial zu neutralisieren) und zugleich dem deutschen Imperialismus einen verlässlichen Konkurrenzvorteil durch stetig verfügbare fossile Energie zu Preisen unter Weltmarktniveau zu verschaffen. In dieser Frage war auch die deutsche Bourgeoisie bis zuletzt gespalten. Erst die russische Invasion der Ukraine vermochte es, in hier Klarheit zu schaffen und zugleich Schröder und Merkel – unbestritten verdiente Veteran:innen der deutschen Sache – als „bei Lichte betrachtet“ geblendete Naivlinge, weil Putinversteher:innen, zu entlarven. Erwähnt sei noch, dass eines der wichtigsten „Friedensargumente“ der reformistischen Linken – die Kritik, NATO bzw. Regierung seien nicht „ernsthaft“ genug auf die russischen Sicherheitsanliegen eingegangen – im Wesentlichen eine Verteidigung des deutschen Imperialismus von gestern gegen den von heute liefert.

NATO-Doktrin 2022

Die 2022 neu gefasste NATO-Doktrin beschreibt Russland als militärische Hauptbedrohung, die den Aufbau eines neuen, „glaubhaften“ Abschreckungspotentials erfordert. China wird vor allem durch seine Wirtschaftsmacht und seinen Griff nach strategischen Rohstoffvorkommen als Hauptfeind für NATO-Interessen ausgemacht. Dem Land werden aber auch explizit „böswillige“ und „undurchsichtige“ Absichten unterstellt, die die „regelbasierte internationale Ordnung“ untergraben würden. Erklärtes Ziel der NATO-Doktrin ist die Vorbereitung auf einen „High Intensity“-Krieg gegen „nuklear bewaffnete Konkurrent:innen“, also Russland und China.

Schon in den 2000er Jahren hatte die NATO gemäß ihrer globalen Strategie eine sog. „schnelle Eingreiftruppe“ (NRF) geschaffen. Diese umfasste zu Beginn des Ukraine-Krieges rund 40.000 Soldat:innen, die innerhalb kurzer Zeit einsetzbar sein sollten. Dies entsprach der Doktrin, die Interessen der NATO-Mitglieder auch außerhalb des Bündnisgebietes rasch umsetzen zu können, vorzugsweise als Ordungsmacht in halb-kolonialen Ländern.

Mit der zunehmenden Konfrontation mit Russland und seit dem Ukraine-Kriegs veränderte sich die Lage. So schlug NATO-Generalsekretär Stoltenberg im Sommer 2022 auf dem Gipfel von Madrid vor, die NRF massiv auszubauen. Sie soll auf mindestens 300.000 vergrößert werden, also fast verzehnfacht. Außerdem geht es bei den meisten dieser Truppen nicht um den Einsatz irgendwo auf der Welt, sondern vor allem gegen den altem und neuen Hauptfeind Russland. So sollen z. B. Teile der deutschen Kontingente der Eingreiftruppe gemäß dem sog. New Force Modell in Deutschland stationiert bleiben, aber ständig bestimmten Ländern oder Territorien als Einsatzgebiet zugeordnet sein.

Mit der Umstellung geht auch eine massive Ausweitung der Verteidigungsbudgets auf allen Ebenen einher. Die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr sind hier sicher nur ein erster Teil, die Armee, Verteidigungspolitiker:innen und Expert:innen trommeln längst für mehr.

Ausweitung und Planung

Schließlich umfassten die Ausweitung und das Testfeld Ukraine nicht nur einen massiven Export, sondern auch eine Erneuerung der Waffenbestände der NATO-Armeen weltweit. In Europa werden neue Systeme angeschafft. Die Armeen werden – anders als noch vor einigen Jahren, wo sie auf einen Kernbestand an rasch einsatzfähigen, kleinen Interventionstruppen konzentriert werden sollten – wieder zu großen Streitkräften, die gegen eine imperialistische Macht im Landkrieg siegen können. Daher auch wieder neue Kampfpanzer, schweres Gerät, moderne Luftwaffen usw.

Schließlich bedeutet das auch, dass die Bundeswehr und andere NATO-Armeen nicht nur andere, sondern auch mehr Soldat:innen brauchen. Der Beruf soll daher attraktiver, die Werbung an Schulen verbessert werden. Hilft das alles nichts (was durchaus sein kann), steht früher oder später die Wiedereinführung der Wehrpflicht, der „Schule der Nation“ ins Haus.

Wie bekämpfen?

Eine Haltung zur imperialistischen Kriegsmaschinerie einzunehmen, bedeutet in erster Linie, sich zu deren Zielen, zu den Interessen des eigenen Imperialismus überhaupt zu positionieren, also eine Klassenposition zum imperialistischen Staat einzunehmen. Als Revolutionär:innen lehnen wir nicht nur die gewaltsamen Mittel ab, mit denen imperialistische Staaten ihre Einflussräume erobern und verteidigen – sondern bereits ihren Anspruch, die Welt in Sphären ökonomischer, politischer und militärischer Kontrolle unter sich aufzuteilen, selbst wenn dies am Verhandlungstisch geschieht.

Andererseits erkennen wir das Recht halbkolonialer Länder an, sich gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen. Das entscheidende Moment bilden dabei der Klassencharakter der kämpfenden Kriegsparteien und die Klasseninteressen, die sie wirklich verfolgen. Die entscheidende Aufgabe einer Antikriegsbewegung liegt darin, eine Bewegung aufzubauen und eine soziale Basis zu gewinnen, die die militärischen Pläne der Imperialist:innen tatsächlich durchkreuzen können, statt sie nur moralisch zu kritisieren. Und das heißt vor allem, eine Bewegung der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, die auch in den Betrieben gegen die Kriegstreiber:innen vorgehen kann. Das bedeutet auch antimilitaristische Arbeit in der Armee und unter einfachen Soldat:innen.

Der revolutionäre Antimilitarismus unterscheidet sich dabei grundsätzlich vom kleinbürgerlichen Pazifismus der „alten“ Friedensbewegung, die unbestritten auf eine lange Geschichte des Protests gegen Aufrüstung und Kriegseinsätze zurückblickt. Der Krieg, der sich nun vor unseren Augen abspielt, lässt sie jedoch ratlos zurück. Als Beispiel hierfür kann ein Redebeitrag von Gerhard Trabert zum Antikriegstag in Stuttgart genannt werden, der von DIE LINKE anschließend veröffentlich wurde. Er gesteht gleich zu Beginn zu, dass mehr Militärausgaben „eventuell notwendig“ seien, um „sich gegenüber Diktatoren und Despoten wehren zu können und Demokratien zu verteidigen“. Ob dies eine Zustimmung zum 100-Milliarden-Programm und zur Aufrüstung der NATO-Ostflanke ist, bleibt bewusst im Unklaren, denn der Rest des Beitrags ist eine Predigt für die christliche „Feindesliebe“.

In der Rivalität verschiedener imperialistischer Mächte oder Blöcke ergreifen wir keine Seite. Dieser revolutionäre Defätismus entbindet uns jedoch nicht von der Pflicht, die von imperialistischen Mächten angegriffenen Nationen zu verteidigen. Während wir im gegenwärtigen Krieg das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen gegen den russischen imperialistischen Überfall anerkennen (und somit auch ihr Recht, sich die Mittel zur Verteidigung zu beschaffen), lehnen wir jede Unterstützung der Politik und der Kriegsziele Deutschlands und der NATO kategorisch ab.

Letztere Position wiederum hindert uns nicht daran, innerhalb der Ukraine die Politik der Selenskyj-Regierung zu bekämpfen, die bereit ist, die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine den Kriegszielen der westlichen „Partner:innen“ unterzuordnen. Es hindert uns auch nicht daran, die nationalen und demokratischen Rechte der russischsprachigen Bevölkerung, einschließlich etwa des Rechts auf Lostrennung für die Krim, auf die Tagesordnung zu setzen. Deren Verwirklichung stehen jedoch vor allem die Interventionen beider imperialistischen Machtblöcke im Weg.

Wir bekämpfen jede Aufrüstung von Bundeswehr und NATO, wie wir auch grundsätzlich jedes Militärbudget dieser Staaten und ihrer Bündnisformationen ablehnen. Angesichts der engen Verknüpfung der NATO-Expansions- und Aufrüstungspläne mit der militärischen Unterstützung der Ukraine (etwa in Form von „Ringtausch“-Programmen) lehnen wir auch die Forderung nach Waffenlieferungen des NATO-Lagers an die Ukraine und jede Zustimmung zu diesen in den Parlamenten ab. Aus dem gleichen Grund lehnen wir auch alle Formen von Wirtschafts- und Handelssanktionen der imperialistischen Staaten ab. Jede Unterstützung ihrer „Verteidigungs-“ und iMilitärausgaben würde letztlich einer politischen Unterstützung des deutschen Imperialismus gleichkommen. Denn im Kampf um die Neuaufteilung der Welt stellt dieser für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland den Hauptfeind dar.




DSA: unabhängige Arbeiter:innenorganisation oder Schoßhund der Demokratischen Partei?

Stephie Murcatto, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Die Entwicklung der US-Arbeiter:innenbewegung und vor allem der Democratic Socialists of America (DSA) hat international viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Besonders groß war die Unterstützung, die Bernie Sanders’ Kampagne als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei erfuhr. Er bezeichnete sich offen als Sozialist und erhielt dennoch Zuspruch von Millionen. Auch wenn Sanders nie mit der Demokratischen Partei, einer der beiden zentralen politischen Stützen des US-Kapitals, brechen wollte, so offenbarte seine Kampagne, dass „Sozialismus“ keineswegs alle Wähler:innen abschreckt.

Katalysator

Seine Kandidatur beunruhigte nicht nur das Establishment der Demokratischen Partei um Clinton (2016) und Biden (2020), sondern fungierte als Katalysator für den massiven Zulauf und eine Linksentwicklung der Democratic Socialists of Amerika (DSA), einer Organisation, die auf eine, wenn auch nicht gerade glorreiche, Geschichte zurückblickt. Sie war über Jahrzehnte eine sozialdemokratische Minipartei. Sie trug als Mitglied der Sozialistischen Internationale deren proimperialistische Politik voll mit und fungierte als pseudolinkes Anhängsel der Demokratischen Partei und unterstützte fast jede Schweinerei der US-Außenpolitik, so auch den Vietnamkrieg.

2015 zählte die DSA 6.200 Mitglieder. Danach wuchs sie rapide an auf bis zu ungefähr 83.000 im Jahre 2022, wobei die Zahl im Jahre 2023 wieder leicht auf 78.000 gesunken ist. Dies ging zugleich mit einer Linksentwicklung der Organisation einher. 2017 trat die DSA aus der II. Internationale wegen deren neoliberaler Politik aus.

Trotz Stagnation und Rückgangs im letzten Jahr umfasst die DSA eine beträchtliche Anzahl an Mitgliedern, die relativ neu politisch organisiert sind und ein Interesse an sozialistischer Politik aufweisen. Dieser Aufschwung hat die Organisation deutlich nach links gerückt, sodass auch offen davon geredet wurde, nicht weiter der linke Flügel der Demokratischen Partei zu bleiben, sondern auch eine eigene Arbeiter:innenpartei zu gründen.

Das Verhältnis zur Demokratischen Partei bildet daher seit fast einem Jahrzehnte eine, wenn nicht die, Schlüsselfrage für die weitere Entwicklung der DSA. Dies zeigt sich nicht nur bei den Conventions (Kongressen) der Partei, sondern auch daran, dass die 6 DSA-Mitglieder über die Liste der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus, einer der beiden Kammern des US-Kongresses, vertreten sind. Das wahrscheinlich bekannteste Mitglied ist Alexandria Ocasio-Cortez, kurz AOC. Auch wenn diese 6 auf dem linken Flügel der Demokratischen Partei stehen, so ist von einem Bruch nichts zu spüren. Im Gegenteil: Mit der Zeit hat sich die alte Politik wieder starkgemacht. So stimmten in der aktuellen Legislaturperiode 4 ihrer Kongressmitglieder, allen voran AOC, für die Illegalisierung eines potenziellen Streikes von 100.000 Eisenbahnarbeiter:innen.

Wie ist die DSA eigentlich aufgebaut?

Es gibt verschiedene Basisorganisationen, bekannt als Chapters, die abhängig von ihrer Größe Delegierte zu der DSA-Convention (Parteitag) wählen. Die Tagung findet alle 2 Jahre statt, die letzte vom 4. bis 6. August 2023. Die Convention wählt die nationale Leitung, das National Political Committee (NPC). Dieses besteht aus 16 Menschen, die unter sich noch einen fünfköpfigen Ausschuss wählen, das Steering Committee (SC). Die nationale Leitung bestimmt die politischen Linien der Organisationen z. B. in ihren verschiedenen Publikationen und soll die Entscheidungen der Convention umsetzen. Dazu verfügt die DSA über einen größeren Apparat von festangestellten Organizer:innen, Buchhalter:innen und anderen Beschäftigten in New York. Das NPC kann auch verschiedene Arbeitsgruppen und Komitees ins Leben rufen, um an verschiedenen Fragen zu arbeiten und Politik zu bestimmten Themen anzuleiten.

Außerhalb der NPC gibt es verschiedene Caucuses, die effektiv die verschiedenen politischen Fraktionen innerhalb der DSA verkörpern. In diesen können sich unabhängig von Wahlen alle DSA-Mitglieder organisieren und für verschiedene politische Programme kämpfen. Dabei sind verschiedene Caucuses relevanter als andere. So gibt es z. B. den Bread and Roses Caucus, der rund um die Zeitschrift Jacobin organisiert ist und eine Linie des „schmutzigen Bruches“ mit der Demokratischen Partei vertritt. Darunter wird ein kompromisslerischer „Mittelweg“ zwischen einem klaren Austritt aus der Demokratischen Partei und einer Strategie von deren Reform verstanden. Der Reform and Revolution Caucus repräsentiert einen eher linken Flügel der DSA. Schließlich gibt es noch den Socialist Majority Caucus, der die historische Führung und die traditionellen Strategien der DSA repräsentiert. Dieser bildet auch eine der stärkeren Fraktionen.

Die Fragen, wie man zur Demokratischen Partei steht, ob und wie man eine unabhängige Arbeiter:innenpartei aufbauen soll, stand dabei auch im Zentrum der letzten Parteitage.

Vorlauf zur Convention 2023

2021 fand die Convention noch online statt. Diese stellte letzten Endes eine Niederlage für die linkeren Teile der DSA dar, da sich die Ausrichtung auf die Demokratische Partei und auf reine Wahlpolitik verfestigte. Eine weitere Frage, die im Sinne der Rechten beantwortet wurde, war die der Wahlunterstützung für demokratische Kandidat:innen. Außerdem gibt es seither keine Rechenschaftspflicht mehr für die Mitglieder der DSA, die in verschiedenen Parlamenten oder gar exekutiven Funktionen sitzen.

Dass diese Wende nach rechts fortgesetzt werden soll, zeigte sich auch im Vorlauf für die diesjährige Convention. Der Vorsitzende des NPC, Hernandez, erklärte in einem interview zur zukünftigen Strategie der DSA: „Dort, wo wir jetzt sind, müssen wir verankert bleiben und den Umständen Rechnung tragen, mit denen wir uns auseinandersetzen.” Im Klartext: Wir müssen fortfahren mit der jetzigen Strategie bezüglich der Demokratischen Partei. Er empört sich in demselben Interview auch über die linken Teile der DSA und behauptet, dass es sich gezeigt habe, dass die Demokratische Partei keine „Sackgasse“ für die DSA und sozialistische Politik sei.

Entscheidungen

Die Convention selbst war effektiv ein großer Schlag ins Gesicht der linken Teile der DSA. Die erste Kontroverse entzündete sich schon um den Vorschlag der Leitung zu ihrem Ablauf selbst. Dieser sah vor, dass über die Anträge für eine Opposition zur imperialistischen Politik in Bezug auf den Ukrainekrieg nicht diskutiert wird. Dies wurde damit begründet, dass es keine Zeit für die Diskussion rund um den Antrag gäbe. Gleichzeitig war aber mehr als genug Zeit dafür eingeplant, darüber zu debattieren, ob eine Rose, die ein „Vote“-Schild hält, das offizielle Maskottchen der DSA werden solle. Dieser Vorschlag wurde zwar mit einer knappen Mehrheit abgelehnt, dafür fielen aber die Resolutionen über die israelische Okkupation von Palästina sowie die zum Ukrainekrieg durch.

Dafür markierten die Beschlüsse zu den Wahlen jedoch einen weiteren Schritt nach rechts zur Anpassung an die Demokratische Partei. So sprachen sich 704 Delegierte bei 184 Gegenstimmen gegen Schritte zur Bildung einer unabhängigen Partei mit eigenen Kandidat:innen aus. So heißt es: „Es ist in der jetzigen Situation für uns nicht empfehlenswert, eine politische Partei mit eigenen Wahllisten zu gründen.“

Mit diesem Beschluss der Convention wird der Fokus der DSA über die nächsten zwei Jahre nicht einfach auf die Wahlen gelegt, die tatsächlich mehr und mehr ins Zentrum der US-Politik rücken werden, sondern vor allem auf die Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei. Die DSA will auch mehr ihrer Mitglieder dabei unterstützen, sich selbst auf der Liste der Demokrat:innen aufstellen zu lassen und sich so faktisch politisch unterzuordnen.

Aber auch zur Frage der Rechenschaft hat der rechte Flügel die Mehrheit behalten können – und das, obwohl die Rechenschaftspflicht der verschiedenen DSA-Abgeordneten eine riesige Frage ist. So verrieten AOC und andere den möglichen Eisenbahner:innenstreik, so stimmte der DSA-Kongressabgeordnete Jamaal Bowman für die Bewaffnung des israelischen Militärs.

Trotzdem stimmten 60 % der Delegierten sogar gegen eine Rechenschaftspflicht in nur vage formulierter Form: „Die DSA, erwartet, dass sich Sozialist:innen in gewählten Ämtern in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der sozialistischen Bewegung verhalten.“

Man kann also zusammenfassen, dass der rechte Flügel, der Socialist Majority Caucus, gestärkt aus dem Parteitag hervorging. Starker Fokus auf die Demokratische Partei, keine Rechenschaft der Abgeordneten und eine Unterbindung der wichtigen inhaltlichen Diskussionen durch das NPC sind seine Früchte.

Aufgabe von Revolutionär:innen

Trotz der Niederlage des linken Flügels der DSA ist die Organisation eine, die viele linke Kräfte an sich zieht und immer noch in sich eine Dynamik trägt. Trotz der erheblichen Hürden wäre die DSA auch in der Lage, eine Partei zu gründen. Diese Partei wäre auch eine, die die USA schon sehr lange nötig haben, denn die Wahl zwischen Republikaner:innen und Demokrat:innen ist eine zwischen zwei Übeln, die das Interesse der arbeitenden Menschen gar nicht im Sinne haben. Beide sind die historischen Parteien des US-Kapitals, des US-Imperialismus. Sie stellen letztlich nur zwei seiner konkurrierenden Flügel dar.

Deswegen ist es die Aufgabe von allen Revolutionär:innen, sich in erster Linie für den Aufbau einer Partei einzusetzen, die auch das Interesse der Arbeiter:innen als Klasse vertritt. Die Strategie des Socialist Majority Caucus, den linken Flügel der Demokratischen Partei zu bilden, ist nicht nur perspektivlos, sie stellt vor allem eine direkte Kampfansage an alle Versuche dar, die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften aus ihre Bindung an die Demokratische Partei zu lösen. Der Parteitag zeigt, dass eine Arbeiter:innenpartei nur aus dem politischen Kampf gegen diese Fraktion und im Bruch mit ihr entstehen kann.

Auch die Strategie des schmutzigen Bruches des Bread und Roses Caucus ist auf dem Parteitag gescheitert. Im Grunde hat sie dem rechtsreformistischen Mehrheitsflügel zugearbeitet, indem sie anstelle eines klaren Bruchs im Hier und Jetzt ihn auf eine ferne Zukunft vertagt, derweil jedoch eine „Realpolitik“ betreibt, die auf eine Unterstützung der Demokratischen Partei hinausläuft.

Es braucht innerhalb der DSA eine Fraktion, die für die Führung der Organisation kämpft, mit dem Ziel, die Zehntausende von Arbeiter:innen und Jugendlichen, die in die DSA eingetreten sind, für einen Bruch mit der Demokratischen Partei zu gewinnen. Auf dieser Basis müssten die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen zu einem Bruch mit den Demokrat:innen und zum Aufbau eine Arbeiter:innenpartei aufgefordert werden. Doch eine solche Kraft müsste eigenständig in die Kämpfe eingreifen und die Wahlen nutzen, um eigene Kandidat:innen aufzustellen. Dieser Prozess müsste einhergehen mit der Diskussion und Ausarbeitung des Programms einer solchen Partei, wobei Revolutionär:innen von Beginn an für ein revolutionäres Aktionsprogramm eintreten müssten.




50. Jahrestag des Pinochet-Putsches: Vom Traum zum Trauma

Anlässlich des 50. Jahrestages der blutigen Zerschlagung der chilenischen Revolution veröffentlichen wir im Folgenden erneut eine Analyse aus dem Jahr 2003. Die darin dargelegten Schlussfolgerungen sind leider weiterhin gültig. Der Putsch des Generals Pinochet kostete Zehntausenden den Tod. Der demokratische Imperialismus der USA und ihrer Verbündeten zeigte einmal mehr sein wahres Gesicht. Die Zerschlagung der Revolution offenbarte aber auch die politische Sackgasse der chilenischen Volksfront unter Allende. Wenn wir heute die Revolutionär:innen, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen und Bäuer:innen ehren, die sich heldenhaften der Konterrevolution entgegenstellten, so müssen wir auch die politischen Lehren aus der Niederlage ziehen, auf dass sie sich nie wiederholen möge.

Hannes Hohn, Infomail 1231, 11. September 2023

Am 11. September 1973 ging in Santiago de Chile der Präsidentenpalast, die Moneda, in Flammen auf. Das Militär unter General Pinochet putschte gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende und errichtete eine blutige Militärdiktatur.

Der Putsch beendete die Hoffnung von Millionen Chilen:innen auf die Umgestaltung des Landes und auf die Einführung des Sozialismus. Stattdessen herrschte in Chile nun Friedhofsruhe. Fast alle demokratischen Rechte wurden von der Pinochet-Junta außer Kraft gesetzt und Gewerkschaften und Streiks verboten. Die Löhne wurden halbiert, während sich die Arbeitszeit gleichzeitig erhöhte. Diese Folgen des Putsches verdeutlichen, in wessen Sinn und Auftrag der Mörder Pinochet handelte: in dem der Kapitalist:innen.

Die Unidad Popular

Im Dezember 1969 verabschiedete die Unidad Popular (UP) ein Programm, das verschiedene Reformen und die Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche vorsah. Letztere betraf auch die US-amerikanischen Anteile von fast 50% am Hauptwirtschaftszweig Chiles, dem Kupferbergbau.

Doch anders, als es viele noch heute glauben, war das Programm der UP kein revolutionär-sozialistisches. Ein solches hätte beinhalten müssen, den bürgerlichen Staat (darunter auch den Gewaltapparat) zu zerschlagen und ihn durch Arbeiter:innenräte und -milizen zu ersetzen. Ein solches Programm hätte auch nicht bei der Verstaatlichung einiger Wirtschaftsbereiche stehen bleiben dürfen; es hätte auf die Enteignung der Bourgeoisie als Ganzes und die Einführung einer demokratischen, auf Räte basierenden Planwirtschaft gerichtet sein müssen.

Das Programm der UP Allendes war, trotz seiner sozialistischen Phraseologie, ein bürgerlich-demokratisches Programm.

Die UP war ein (Wahl)Bündnis aus verschiedenen Parteien und Bewegungen, deren wichtigste Kräfte die Sozialistische Partei (SP) und die stalinistische KP waren. Sie stützte sich sozial v. a. auf die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und die ländliche Armut.

Die Unidad Popular war keine zeitweilige, begrenzte Einheitsfront, sondern ein strategisches (Regierungs)Bündnis zwischen Parteien des Proletariats und offen bürgerlichen Kräften – auch wenn diese wie die „Radikale Partei“ zahlenmäßig relativ bedeutungslos geworden waren.

Damit diese – von Marxist:innen „Volksfront“ genannte – Allianz überhaupt zustande kommen konnte, war ein Programm nötig, das strategische Zugeständnisse an die herrschende Klasse machte: den Erhalt des Privateigentums, soweit es nicht zum ausländischen Großkapital gehörte, und des bürgerlichen Staatsapparats.

Nicht der revolutionäre Sturz des Kapitalismus, sondern der Versuch einer Aussöhnung der unvereinbaren Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie lag der Unidad Popular zugrunde.

Triumph mit Schatten

Im September 1970 wurde sie mit 36,3 % stärkste Kraft im Parlament und Salvador Allende (SP) zum Präsidenten gewählt. Der Sieg der Unidad Popular beruhte jedoch weniger auf der Originalität ihres Volksfrontprogramms, sondern v. a. darauf, dass ihre sozialistischen Versprechungen den Erwartungen der Massen entsprachen.

Seit Ende der 1960er war Chile in Unruhe. Die Wirtschaftskrise und die Verschlechterung der Lebenslage der Massen hatten Folgen: Proteste, Streiks und spontane Landbesetzungen nahmen zu. Die Arbeiter:innenklasse, die städtische und ländliche Armut waren in Bewegung geraten. Nicht verwunderlich also, dass die Massen ihre Hoffnungen auf eine grundsätzliche Wende in „ihre“ vorhandenen Arbeiter:innenparteien, die SP und die KP, projizierten. Als diese sich dann zur UP zusammenschlossen, schienen sie stark genug zu sein, „alles zu wagen“.

Doch die siegreiche Unidad Popular hatte zwei Gesichter. Das eine stand für Reformen. Die Neuerungen fingen bei einem täglichen Liter Milch für Chiles Kinder an und reichten bis zur Enteignung von US-Unternehmen.

Doch die Kehrseite der Politik der UP und ihres Präsidenten Allende sollte bald alle Verbesserungen der ersten Periode der Volksfront in Gefahr bringen. Der alte bürgerliche Staatsapparat nämlich blieb bestehen, v. a. die Machtpositionen der Armee und der Sicherheitskräfte blieben unangetastet – im Gegenzug für ihre „Loyalität“. Trotz aller Verstaatlichungen funktionierte die Wirtschaft immer noch auf kapitalistische Art und große Bereiche der Wirtschaft – v. a. der in Chile große Sektor der Klein- und Mittelbetriebe – blieben, wie sie waren.

Um überhaupt auf parlamentarischem Weg zum Präsidenten gewählt zu werden, war Allende auf die Stimmen nicht nur der Volksfront (einschließlich ihrer bürgerlichen Komponenten) angewiesen, sondern auch auf jene der Christdemokrat:innen, der klassischen Partei der chilenischen „nationalen“ Bourgeoisie. Diese lies sich ihre Zustimmung mit grundlegenden Garantien der bürgerlichen Legalität erkaufen – Unantastbarkeit der bestehenden staatlichen Institutionen (Justiz, Polizei, Armee), Verzicht auf die Bildung von Volksmilizen, Respekt vor den Rechten der bürgerlichen Opposition (Privateigentum an den Medien; Freiheit ihrer Organisationen einschließlich der faschistischen Patria y Libertad).

Der von der Volksfront angestrebte Klassenkompromiss und die Zusicherungen an die chilenische Klein- und Mittelbourgeoisie schienen Allende und seinen UP- Partner:innen ein Garant dafür zu sein, dass Wirtschaft, Staatsapparat und Armee sich verfassungskonform verhalten würden. Anfangs, als die Vertreter der alten Ordnung in der Defensive waren, schien das auch der Fall zu sein. Doch es sollte sich bald ändern.

Volksfront in der Krise

Die Anfangserfolge der UP zogen die Massen ebenso stark an, wie sie die Bourgeoisie abschreckten. Die bürgerlichen Kräfte formierten sich. Die faschistische Bewegung Patria y Libertad (PyL = Vaterland und Freiheit) wurde zum Attraktionspol für alle, die dem Volksfrontprojekt überhaupt den Garaus und alle Reformen und sozialen Errungenschaften rückgängig machen wollten. Die PyL griff mit offenem Terror Arbeiter:innen und Bäuer:innen, Gewerkschafter:innen und Linke an.

Aufgeschreckt durch die Enteignung des US-Kapitals übten die USA Druck auf den Kupferweltmarktpreis aus. Daraufhin verfiel dieser, wodurch Chile enorme Einnahmen entgingen. Zugleich wurden auf Druck der USA zugesagte Kredite zurückgezogen. Auch die chilenischen Kapitalist:innen zogen ihr Kapital aus Chile ab.

Die Folge davon waren leere Staatskassen. Dem versuchte die Regierung durch das Anwerfen der Geldpresse zu begegnen, was verstärkte Inflation zur Folge hatte. Die wirtschaftliche Flaute bewirkte, dass sich immer größere Teile der Mittelschichten und des Kleinbürger:innentums von der UP ab- und der bürgerlichen Opposition zuwandten. Zugleich übten sie auf den Staatsapparat und die Armee immer größeren Druck aus, Allende zu stürzen – ein Militärputsch wurde immer wahrscheinlicher.

Zunächst jedoch gingen nicht Soldaten, sondern (klein)bürgerliche Frauen auf die Straße und protestierten auf demagogische Weise mit leeren Töpfen gegen den Mangel, den sie selbst allerdings weniger verspürten als die Lohnabhängigen und die Armut auf dem Land. Dann – ab Oktober 1972 – streikten die Kleinkapitalist:innen, besonders die Fuhrunternehmer:innen und legten das ganze Land lahm.

Begleitet wurden diese dramatischen Ereignisse durch Komplotte und Intrigen hinter den Kulissen. Eine reaktionäre Allianz von CIA, US State Departement, PyL, Generälen und hohen Staatsbeamten plante Mordanschläge gegen Allende, boykottierte die UP-Politik, terrorisierte Arbeiter:innen und Bäuer:innen, ermordete linke Aktivist:innen und selbst regierungstreue Generäle.

Im Juni 1973 schließlich verhinderten zehntausende Proletarier:innen einen von der Reaktion geplanten Marsch auf Santiago. Diese Monate der Unruhe vor dem Sturm deuteten unübersehbar auf die nahe Entscheidungsschlacht hin. Allende und die UP jedoch hielten weiter an ihren Illusionen von Klassenkompromiss und Verfassungstreue fest.

Die Volksfront hatte ihr Reform-Pulver bald verschossen und geriet immer stärker unter Druck. Auch die Massen wurden nun mit Allendes Reformen zunehmend unzufriedener, ohne jedoch mit der UP politisch zu brechen.

Die Landreform wurde nicht konsequent umgesetzt, wodurch viele Landlose oder Landarme nicht genügend Fläche bekamen, um davon existieren bzw. mit größeren Betrieben konkurrieren zu können. Die Landbevölkerung griff deshalb zu spontanen Besetzungen und bildete gegen die reaktionär-faschistischen Terrorbanden der Reichen Selbstschutzorgane.

Wirtschaftskrise, Inflation und die von den (Transport)Kapitalisten erzeugte Versorgungskrise rief auch die Arbeiter:innenklasse auf den Plan. Sie verlangte nicht nur energische Maßnahmen gegen die Unternehmerboykotte von der Regierung. Sie organisierte sich auch selbst in betrieblichen und Wohngebietskomitees, sie bildete Milizen (die tw. bewaffnet waren), sie besetzte Betriebe und übte die Kontrolle aus – zum Schluss über fast 1.000 Unternehmen!

Wie reagierte Allendes „Regierung des Volkes“ auf diese Ansätze von Selbstorganisation und -bewaffnung der Massen?

Sie verurteilte die „linksradikalen“ Aktionen und rief zur „Mäßigung“ auf, um die Bürgerlichen nicht aufzuschrecken und zu noch größerem Widerstand zu ermuntern. Dabei tat sich die „kommunistische“ Partei besonders negativ hervor. Die PyL wurde nicht energisch bekämpft. Polizei und Armee wurden gegen Arbeiter:innen und Bäuer:innen eingesetzt, die „verfassungswidrig“ Unternehmen oder Land besetzt oder sich bewaffnet hatten.

Trotz aller rhetorischen Aufforderungen Allendes an die Massen, die Unidad Popular zu verteidigen, behinderte er real alles, was gegen die Reaktion nötig gewesen wäre. Gegen die Mobilisierungen der Reaktion und deren Putsch-Vorbereitungen gab es nur ein Mittel: Mobilisierung der Arbeiter:innen und der Landarmut.

Die besetzten Betriebe und Ländereien hätten zu Organisationszentren von betrieblichen und lokalen Räten und Milizen werden und diese regional und landesweit zentralisiert werden müssen. Anders als in der russischen oder auch in der deutschen Revolution gab es jedoch in Chile nie eine zentralisierte Rätestruktur, die als Gegenmachtzentrum zur Staatsmacht hätte fungieren können.

Diese hätte den Widerstand gegen die Konterrevolution landesweit organisieren, die Arbeiter:innen und Bäuer:innen bewaffnen und mittels ihrer bewaffneten Macht den bürgerlichen Staat – v.a. die Armee – zerschlagen oder zumindest eine reale Gegenmacht  organisieren können und müssen. Gegen den Wirtschaftsboykott gab es nur einen Weg: Enteignung der gesamten Bourgeoisie und Einführung einer demokratisch geplanten Wirtschaft.

Politik der Linken

Obwohl einige linke Organisationen, besonders die MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) Elemente dieser Strategie verfolgten, fehlte es an einer politischen Partei, die bereits vor 1973 ein revolutionäres Programm in die Vorhut der Arbeiter:innenklasse hätte tragen können und deshalb im entscheidenden Moment stark genug gewesen wäre, die Führung in der Revolution zu übernehmen. Die MIR, zu denen auch die „Trotzkist:innen“ des Vereinigten Sekretariats (VS) gehörten, pendelte aber zwischen opportunistischer Anpassung an die UP und revolutionärer Politik.

So charakterisierte die MIR die Volksfront in den ersten Monaten als „revolutionäre Volksregierung“. Das war die UP aber trotz unbestreitbarer materieller Verbesserungen für die Massen nie. Die UP war keine „Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung“, die sich gegen den Kapitalismus wandte und sich auf Machtorgane der Klasse stützte, sondern eine, wenn auch durchaus linke bürgerliche Regierung, die selbst ein Bollwerk gegen die Revolution der Massen bildete.

Die Politik der MIR in den ersten Monaten der Volksfront führte aber dazu, dass die Illusionen der Massen in die Regierung Allende bestärkt und nicht bekämpft wurden. Wenn selbst die „revolutionäre Linke“ die Volksfront als „revolutionäre Regierung“ betrachtete – wozu brauchten die Massen dann Räte und eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung? Erst als sich die Volksfront direkt gegen die Arbeiter:innen wandte, ändert die MIR ihre Politik – aber auch das nur inkonsequent.

Zudem hinderte sie ihre strategische Ausrichtung am Guevarismus daran, die Arbeiter:innenklasse als historisches Subjekt der Revolution zu begreifen und systematisch in diesem Milieu zu arbeiten. Die MIR war im wesentlichen eine Organisation, die unter Student:innen und unter der Bäuer:innenschaft verankert war, kaum jedoch im chilenischen Proletariat, das von SP und KP dominiert wurde.

Das Ende

Schon im Sommer 1973 war die UP-Regierung fast handlungsunfähig. Es gab eine Doppelmachtsituation. Hier die Massen mit wenigen Machtmitteln, ohne landesweite Gegenmachtorgane und ohne konsequente revolutionäre Führung hinter der Regierung Allende; dort die Reaktion, die den Staatsapparat und die Armee beherrschte und zu allem entschlossen war. Die UP unter Allende war keine Speerspitze der Massen gegen den drohenden Putsch, sie wollte noch vermitteln, als es die Entscheidung zu erzwingen galt!

Es ging nur noch um Wochen oder Tage. Doch Allende schürte weiter die Illusion der Verfassungstreue, er mobilisiert die Massen nicht und lullte sie mit seinen demokratischen Beschwörungen im Angesicht der Gefahr ein.

Als dann am 11. September die Moneda bombardiert wurde, blieb Allende mutig auf seinem Posten und rief das Volk noch einmal zur „Verteidigung der Revolution auf“. Doch trotz des verzweifelten Widerstands vieler Arbeiter:innen, gelang es dem Militär Dank seiner Überlegenheit und des rigorosen Terrors bald, das Land vollständig zu kontrollieren. Die Massen waren von der Volksfront zu lange demobilisiert und demoralisiert worden, als dass sie den Schlägen des Militärs hätten standhalten können. Zudem fehlte eine einheitliche politische und militärische Führung in Form einer revolutionären Partei.

Das chilenische Proletariat bezahlte einen hohen Blutzoll für die Illusionen ihrer Volksfront-Führer:innen. Nicht nur Präsident Allende kam um. Zehntausende – Linke, Gewerkschafter:innen, Arbeiter:innen, Bäuer:innen – wurden von der Soldateska getötet, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Auf Allendes „halbe Revolution“ folgte eine ganze Konterrevolution.

Allendes Versuch, die gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie wie Feuer und Wasser miteinander zu versöhnen endete damit, dass die Volksfront selbst verdampfte.

Die bittere chilenische Erfahrung ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1930er war die Volksfrontstrategie die vorherrschende Strategie aller stalinistischen Parteien. Ihr lag die Idee zugrunde, dass die Revolution auf zwei separate Phasen „verteilt“ sei. In der Praxis hieß das, den Übergang von der bürgerlich-demokratischen Phase zur sozialistischen bewusst zu blockieren, der Bourgeoisie grundsätzliche Zugeständnisse zu machen und die Massen zurückzuhalten – zugunsten der Illusion, dass der Klassengegner sich loyal verhalten würde. Doch dieser politische Königsweg des Stalinismus als „Alternative“ zur Konzeption der Permanenten Revolution, erwies sich ohne Ausnahme immer nur als Sackgasse, als Weg in eine blutige Niederlage.




Argentinien: Rechtsruck bei den Vorwahlen

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Der Sieg des rechten, ultraliberalen Javier Milei bei den Vorwahlen am 13. August kommt einem politischen Erdbeben gleich. Überraschend ließ der Kandidat der rechten La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) die Vertreter:innen der großen bürgerlichen Parteiblöcke – der rechtsliberalen Allianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel) und der peronistischen Unión por la Patria (Union für das Vaterland) hinter sich.

Umfragen prognostizierten Milei, dessen Partei erst 2021 gegründet worden war, zwar einen beachtlichen Zulauf von bis zu 20 % der Stimmen und damit den dritten Rang unter den Präsidentschaftskandidat:innen. Dass er gewinnen würde, hatte jedoch niemand auf dem Schirm.

Ergebnis der Vorwahlen

Die Vorwahlen dienen in Argentinien zwei Zwecken. Erstens dürfen nur Parteien oder Allianzen, die die 1,5 %-Hürde knacken, zu den Präsidentschaftswahlen, zur Wahl von 130 der 257 Parlamentssitze sowie von 24 der 72 Senator:innen antreten. Zweitens können für eine Partei zwei Kandidat:innenlisten zur Vorwahl antreten und das Ergebnis legt fest, wer die Liste anführt. Darüber hinaus fanden am 13. August auch noch Vorwahlen zu den Gouverneur:innenwahlen und der Legislative mehrerer Provinzen, darunter auch Stadt und Region Buenos Aires statt.

Bei den Vorwahlen zur Präsidentschaft erhielten Milei und die als Vizepräsidentkandidatin antretende Victoria Villarruel 30 % der Stimmen. Anders als bei den meisten anderen Listen gab es hier keine parteiinterne Konkurrenz Auf dem zweiten Platz folgte Juntos por el Cambio mit 28,3 %, wobei sich dort Patricia Bullrich, die Vorsitzende der Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015 – 2019) und einstige Sicherheitsministerin, mit 17 % durchsetzen konnte.

Die zur Zeit noch regierende peronistische Unión por la Patria errang nur 27,27 % – und verlor damit gegenüber den Vorwahlen 2019 rund 20 %! Der derzeitige Wirtschafts- und Finanzminister Massa, also der Kandidat vom rechten Parteiflügel, setzte sich mit 21,4 % klar durch. Der linkspopulistische Gegenkandidat Grabois errang gerade 5,89 %, obwohl er vom Papst und der ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner unterstützt wurde.

Nur zwei weitere Listen schafften es zu den Präsidentschaftswahlen, alle andere blieben unter 1,5 %. So treten neben den oben genannten drei großen Lagern noch die aus dem Peronismus kommenden Schiaretti und Randazzo an, die bei den Vorwahlen 3,8 % erhielten. Die Kandidat:innen der Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad (FIT-U = Front der Linken und Arbeiter:innen – Vereinigte Front) vereinten 2,7 % auf sich. Insgesamt erhielt die FIT-U 630.000 Stimmen – ein deutlicher Rückgang gegenüber den letzten Vorwahlen 2021 (zur anderen Hälfte der Parlamentssitze), als sie fast eine Million Stimmen erhielt, aber auch gegenüber den Wahlen von 2019. In der FIT-U setzte sich die Liste der PTS/IS (Bregman und del Caño) mit 1,86 % gegenüber jener von PO/MST (Solano und Ripoll) durch, die 0,79 % erhielt. Andere linke Kandidaturen aus dem trotzkistischen Spektrum verfehlten mit 0,4 % (Nuevo MAS) und 0,3 % (Politica Obrera) die 1,5 %-Hürde.

Sieg der Rechten und Krise

Betrachten wir nur die Stimmen zu den Präsidentschaftswahlen, so erzielten Kandidat:innen rechts von den regierenden Peronist:innen rund 60 %! Hinzu kommt, dass La Libertad Avanza auch in vielen Provinzen stark abschnitt, also nicht nur Milei als ernstzunehmender Kandidat, sondern auch seine Partei sich etablieren konnten. Die Stimmen für die regierenden Peronist:innen dürfen darüber hinaus auch keineswegs als „links“ gewertet werden. Vielmehr stellt der Peronismus den linken Flügel des bürgerlichen Spektrums dar, eine populistische politische Strömung, die letztlich die Interessen des Kapitals vertritt, auch wenn sie die Gewerkschaften und deren Führung über Jahrzehnte inkorporiert, gewissermaßen eine Volksfront in Parteiform darstellt.

In jedem Fall haben die beiden Hauptparteien des politischen Systems an Positionen verloren. Über Jahrzehnte stellten sie – und nur sie – Präsidentschaft und Regierung, wechselten sich gewissermaßen ab, wenn darum ging, die Staatsgeschäfte zu erledigen und die damit verbundenen Pfründe untereinander aufzuteilen. Dieses System war schon immer untrennbar mit Korruption, Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch und mehr oder weniger offener Plünderung staatlicher Gelder für eigene Zwecke oder im Interesse des inländischen und ausländischen Kapitals verbunden.

Doch Argentinien befindet sich seit Jahren in einer extremen ökonomischen und sozialen Krise, die eng mit der halbkolonialen Abhängigkeit des Landes verbunden ist. Schon um die Jahrhundertwende stand das Land infolge von Verschuldung, Bankcrash und Zusammenbruch der Währung vor dem Ruin. Nachdem diese vorübergehend überwunden werden konnte, dreht sich wieder die Schuldenspirale. Seit spätestens 2014 schrammt das Land nah an der Insolvenz vorbei.

Seit Jahren verhandelt Argentinien eine Umschuldung nach der anderen mit dem IWF, da es sonst kaum noch neue Kredite erhält. Im März 2023 betrugen die Schulden rund 276 Milliarden US-Dollar. Davon entfielen 148 Milliarden auf den Nationalstaat, der beim IWF mit rund 45 Milliarden in der Kreide steht. Gleichzeitig sanken die Devisenreserven der Zentralbank auf 36,5 Milliarden US-Dollar, den niedrigsten Stand seit 2016.

Die Inflation ist von Juni 2022 bis Juni 2023 von 64 % auf 115 % gestiegen, was auch dazu führt, dass viele versuchen, ihre Reserven in US-Dollar anzulegen. Extreme Dürren, begleitet von massiven Ernteeinbrüchen – Schätzungen gehen von 30 – 40 % für verschiedene Agrarprodukte aus –, haben die Situation weiter zugespitzt. Verschärfend kommen Energie- und Treibstoffknappheit hinzu. Für 2023 prognostiziert der IWF ein Schrumpfen der Wirtschaft um 2,5 % und eine Inflationsrate von 120 %.

Dabei leben schon heute rund 40 % der Bevölkerung in völliger Armut – und zwar mit massiver Steigerung. In den letzten Jahren sind Schätzungen zufolge rund 4,5 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht, auch aus den Mittelschichten – nicht zuletzt infolge der Kürzungen, die für IWF-Kredite ausgehandelt wurden. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 7,5 %, die Jugendarbeitslosigkeit bei 18,3 %. Nur 43 % der Beschäftigten haben einen „regulären“ Arbeitsvertrag, die Mehrheit der Lohnabhängigen arbeitet ohne soziale Absicherung über Vertragsarbeit oder als Scheinselbstständige. Das führt auch dazu, dass die Gewerkschaften an potentiellem Einfluss verloren, weil mittlerweile die Mehrheit aller Arbeitsverhältnisse nicht über gewerkschaftliche Abkommen reguliert wird (was umgekehrt die Gewerkschaftsspitzen nicht hindert, sich weiter den Peronist:innen unterzuordnen).

Widerstand

All dies findet keineswegs ohne Widerstand und Protest statt. Im Sommer 2022 gab es bedeutende Demonstrationen gegen Preissteigerungen und umfangreiche Kürzungen an Sozialprogrammen durch die peronistische Fernández-Regierung. Mehrere landesweite Protesttage 2023 mobilisierten Hunderttausende – 160.000 am 7. Februar,

rund 350.000 Menschen am 18. Mai 2023 nach einem Sternmarsch nach Buenos Aires gegen Hunger und IWF-Sparpolitik. Maßgeblich organisiert wurden sie von einer  Koordination für die soziale Veränderung, einem Bündnis der Erwerbslosenorganisationen namens Unidad Piquetera.

Am 4. Juli 2023 fanden in mindestens 87 Orten Argentiniens Proteste statt, vielerorts wurden auch Straßen und Kreuzungen blockiert. Unter dem Banner „Unidad Piquetera“ (Vereinte Blockade) demonstrierten verschiedene soziale Bewegungen gemeinsam gegen die wachsende Ungleichheit im Land.

Die vier Forderungen der Unidad Piquetera: „20 Millionen Arme, und das Essen geht in den Wahlkampf. [1] Ganzheitliche Versorgung der Suppenküchen. 2) Lieferung der Hilfsmittel für selbstverwaltete Arbeit. 3) Teuerungsausgleichszulage. 4) Erhöhung der Sozialprogramme = Inflation.“

Ein anderes Beispiel für Proteste ereignete sich im Juni 2023 in der Nordwestprovinz Jujuy, wo der Gouverneur eine Verfassungsreform durchdrücken will. Die neue Verfassung verbietet es, Straßen zu blockieren oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die in den letzten Wochen in der Provinz bei Demonstrationen gegen die Reform und für eine bessere Bezahlung der Lehrer:innen eingesetzt wurden.

„Die CGT von Jujuy hat einen 48-stündigen Streik ausgerufen. Alle zum Streik und zur Mobilisierung. Er muss andauern, bis die Reform fällt und sie auf alle Forderungen reagieren. Ein nationaler Streik der CGT und der CTA zur Unterstützung der Bevölkerung von Jujuy ist unerlässlich. Nach Tagen des Kampfes und der Repression in Purmamarca sind die Worte des Präsidenten und der Vizepräsidentin der Nation angekommen. Ihre Partei hat die Reform von Morales unterstützt und heute waren sie noch im Plenarsaal und haben geschworen, dass es eine schlechte Reform ist, während sie das Volk unterdrücken. Nieder mit der Reform. Hoch mit den Löhnen und Rechten. Freiheit für alle Verhafteten und Inhaftierten. Generalstreik, bis die Verfassungsreform von Morales und der PJ fallen gelassen wird“. (Aus einem Bericht des linken Wahlbündnisses FIT-U) (Gerardo Morales=Gouverneur von Jujuy)

Allerdings gingen die Proteste trotz beachtlicher Größe bislang nicht über Großdemonstrationen oder lokale, befristete Besetzungen und Streiks hinaus. Zweitens tragen viele auch einen defensiven, eher appellativen Charakter.

Warum siegte die Rechte?

So wichtig, diese Mobilisierungen daher sind, so schlägt in Argentinien das politische Pendel inmitten der kombinierten sozialen, wirtschaftlichen Krise massiv nach rechts aus. Zweifellos sind die Wahlbewegungen instabil und Momentaufnahmen. Sicherlich wählten viele Milei auch, um den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen, nicht weil sie von seiner Politik so überzeugt wären. Aber die Bilanz der Vorwahlen ist eindeutig (und wird sich bis zu den Wahlen auch nicht extrem verändern, selbst wenn Juntos por el Cambio oder Unión por la Patria besser abschneiden sollten. Der Rechtsruck ist deutlich – und wir müssen uns fragen, warum ein Kandidat wie Milei, der 2019 noch gar nicht zur Wahl stand, 30 % erreichen konnte.

Ähnlich wie Trump inszeniert sich der Wirtschaftswissenschafter und selbsternannte „Anarchokapitalist“ als Kandidat gegen das „korrupte“ Establishment. Er verspricht, mit der Korruption, mit dem „alten System“, zu dem auch die Gewerkschaften, Linke, Errungenschaften der Frauenbewegung und Unterdrückten gehören, aufzuräumen.

Den Peso will er abschaffen und durch den US-Dollar ersetzen, die Zentralbank würde dann nicht mehr gebraucht und folgerichtig geschlossen. Die Bindung an den US-Imperialismus würde verstärkt.

Milei hat Verbindungen zu bekannten rechten Organisationen wie z. B. der „Fundación LIBRE“ und findet lobende Worte für die ehemalige Militärdiktatur. Auch spricht er sich gegen Abtreibung aus. Seine wirtschaftliche Agenda ist eine besonders radikale Form des Neoliberalismus. Er will alle Sozialprogramme abschaffen und Unternehmen nicht mehr besteuern. Bildung und die öffentliche Gesundheitsversorgung sollen restlos privatisiert werden.

Kein Wunder also, dass er Unterstützung bei den reichsten Menschen sowie bei bedeutenden Teilen des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten findet. Aber er erhielt paradoxerweise auch bei den ärmsten Menschen massiv Zuspruch.

Dies verdeutlicht nicht nur deren massive Entfremdung vom argentinischen politischen System und insbesondere auch vom Peronismus, der diese lange integriert hatte. Die Wahl der Rechten als „Protest“ verweist auch auf die Verzweiflung und teilweise Demoralisierung dieser Schichten. Gelingt es den Gewerkschaften und der Linken nicht, die Massen gegen die Krise zu mobilisieren und für diese einen Pol der Hoffnung darzustellen, so droht, sich diese Schicht zu einer rechten populistischen Bewegung zu verfestigen und im Falle zukünftiger Kämpfe sogar weiter zu radikalisieren.

Die Mischung aus heterogenen Klassenkräften – von verarmten, deklassierten Schichten über das Kleinbürger:innentum bis hin zu Teilen des herrschenden Klasse – kann nur zusammengehalten werden, indem der anarchokapitalistische Führer sein Programm, das sich unmittelbar gegen die Masse seiner Wähler:innen richtet, mit rassistischer, reaktionärer, demagogischer und irrationaler Hetze gegen eine/n gemeinsame/n Feind:in verbindet. Sollte Milei in der Opposition bleiben, wird er in jedem Fall diese Strategie verfolgen. Aber auch, wenn er einen bedeutenden Einfluss auf die nächste Regierung erlangen oder gar, was unwahrscheinlich ist, die Präsidentschaft gewinnen sollte, wird er auf eine solche reaktionäre Mobilisierung weiter zurückgreifen müssen, will er seine Anhänger:innen bei der Stange halten.

Die radikale Linke

Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse der „radikalen Linken“ analysiert und deren Aufgaben bestimmt werden.

Die FIT-U hat mit 2,7 % (=620.000 Wähler:innen) ein Ergebnis erzielt, das in jedem anderen Land überaus beachtlich wäre. Die Wahlallianz FIT-U aus vier trotzkistischen Organisationen besteht aber bereits seit 2011 und die Ergebnisse pendeln seither um diesen Prozentsatz. Die FIT-U ist zwar etwas gewachsen, aber ihr gesellschaftlicher Einfluss stagniert seit Jahren.
Das liegt an mehreren Faktoren. Erstens bildet sie im Wesentlichen nur eine Wahlallianz. Außerhalb der Wahlen treten die vier Gruppierungen vor allem als verschiedene Organisationen auf.

Auch wenn alle gern betonen, dass die FIT-U mehr werden müsse als eine Wahlallianz – so hat auch niemand den Schritt, über diese hinauszugehen, ernsthaft versucht.

Dies würde nämlich bedeuten, offen und öffentlich über eine programmatische Vereinheitlichung und die programmatischen Differenzen zu debattieren. Es würde auch bedeuten, die FIT-U für Arbeiter:innen und Jugendliche zu öffnen, die deren Wahlprogramm unterstützen.

Das ist aber nicht möglich. Die Mitglieder der FIT-U sind vier Organisationen – Partido Obrero (PO), Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS), Izquierda Socialista (IS) und Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST). Wer mitbestimmen will, muss einer der vier betreten.

Hinzu kommt, dass das Programm der FIT-U aus dem Jahr 2011 (!) stammt und seither nicht aktualisiert wurde. Dabei wäre das dringend nötig. Erstens, weil das Programm nicht auf die aktuellen Aufgaben fokussiert ist, zweitens, weil es wichtige Schwächen aufweist, die es zu einem zentristischen, nicht-revolutionären Programm machen. So enthält es keine klare Orientierung auf eine Einheitsfrontpolitik gegenüber den bestehenden, vom Peronismus politisch dominierten Gewerkschaften. Das Programm spricht zwar die Forderung nach einer Arbeiter:innenregierung an, aber es lässt offen, auf welche Organe sich eine solche stützen müsste, wie überhaupt Räte und bewaffnete Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innen und Unterdrückten (Milizen) nicht vorkommen.

Teile der FIT, z. B. Izquierda Socialista, halten dieses ungenügende Programm für ausreichend. Faktisch agieren die Kandidat:innen der FIT-U darüber hinaus mit ihren jeweils eigenen Wahlplattformen. Nicht nur zum Wahlprogramm gibt es massive Differenzen, auch zu anderen, für den Klassenkampf wichtigen Fragen (Charakterisierung von Russland und China, Krieg in der Ukraine, Verhältnis zu Kuba und Venezuela, Haltung zu den Piquetero-Organisationen und zum Peronismus).

Die Wahlen dürfen daher auch von der FIT-U nicht als Aufruf zu einem „Weiter so!“ verstanden werden. Vielmehr müssen zwei, miteinander verbundene strategische Aufgaben angegangen werden:

a) Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriff des Kapitals mit dem Ziel, auch die Gewerkschaften in den Kampf zu zwingen.

b) Ausarbeitung eines Aktionsprogramms, das im Kampf für eine Arbeiter:innenregierung gipfelt, die sich auf Räte und Milizen stützt, das Großkapital unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet und einen Notplan gegen die Krise umsetzt.

Dies würde aber erfordern, dass die FIT-U selbst eine Kurskorrektur vornimmt, eine Diskussion um diese Fragen organisiert, um eine vereinte revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen.