Ungarn: Erneuter Vorstoß gegen LGBTIQ-Personen

Heidi Specht, Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Gesetze, die massive Verschlechterungen für LGBTIQ-Personen bedeuten, sind unter der Regierung Viktor Orbáns keine Seltenheit. Mitte Juni ging ein neues Gesetz durch das ungarische Parlament. Ursprünglich drehte sich der Entwurf ausschließlich um sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige und enthielt bereits Maßnahmen wie die Erstellung eines Pädophilenregisters. Kurzfristig gab es jedoch Abänderungen von Fidesz-Abgeordneten, nach denen sich dieses Gesetz klar in die Reihe der LGBTIQ-feindlichen Maßnahmen einordnen lässt.

Das neueste Gesetz

Kurz gesagt geht es darum, LGBTIQ-Personen und ihre Existenz weiter aus dem öffentlichen Raum und dem Bewusstsein zu verdrängen. Nicht nur wird jede aktive Aufklärung von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren über Homosexualität, Transsexualität und Geschlechtsanpassung, zum Beispiel im Rahmen von Unterricht oder Vorträgen an Schulen, verboten. Unter-18-Jährige sollen darüber hinaus auch keinen Zugang mehr zu Inhalten erlangen, die diese als Teil der gesellschaftlichen Normalität darstellen. Das beinhaltet Bücher und Filme, kann aber noch wesentlich umfassender ausgelegt werden. Ist das Tragen einer Regenbogenfahne in Gegenwart Minderjähriger noch legal? Brauchen Bibliotheken zukünftig riesige Abteilungen, die Minderjährigen unzugänglich sind? Darf Harry Potter nur noch ab 18 gezeigt werden? Dürfen homosexuelle Paare ihre Kinder noch gemeinsam von der Schule abholen? Diese und andere Fragen werden derzeit heiß diskutiert – das Gesetz birgt massives Potential, die Unterdrückung weiter zu verschärfen.

Allgemein betrachtet bedeutet das, dass eine Generation herangezogen werden soll, in der Queerness nichts Normales ist, in der das hart erkämpfte und immer noch unzureichende Bewusstsein wieder aktiv zurückgebildet wird.

Konkret bedeutet es vor allem für LGBTIQ-Kinder und -Jugendliche eine massive Gefährdung. Ihnen wird die Aufklärung über Geschlechtsidentitäten und sexuelle Vorlieben, die über die „klassische Familie“ hinausgehen, verwehrt. Ihnen wird suggeriert, dass ihre Identität etwas Abnormales und Verbotenes sei. All das passiert in einer Lebensphase, die selbst für viele Cis-Heteromenschen keine einfache ist. Konkret bedeutet es die aktive Gefährdung der geistigen Gesundheit bis hin zu der des Lebens von Kindern und Jugendlichen.

Bisherige Gesetze

Dieses Gesetz reiht sich ein in stetige Angriffe seit inzwischen fast 10 Jahren:

  • 2012 wurde die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau festgelegt.
  • 2013 wurde der Begriff Familie im Grundgesetz neu definiert: „Grundlage der Familienbeziehung ist die Ehe sowie die Eltern-Kind-Beziehung.“
  • 2018 wurde das Studium Gender-Studies verboten.
  • 2020 wurde zuerst die juristische Geschlechtsänderung verboten, indem in allen amtlichen Dokumenten der Begriff „Geschlecht“ durch den Begriff „Geburtsgeschlecht“ ersetzt wurde. Später im selben Jahr wurden Homosexuelle vom Recht auf Adoption ausgeschlossen.

Internationaler Aufschrei

Das neue Gesetz ist ein heißes Thema in der EU – auch das nicht zum ersten Mal. Unterschiedliche Fraktionen und Länder ergreifen Position für oder gegen das Gesetz. Unter den BefürworterInnen ist das Argument stark, die EU habe sich nicht in die innerstaatlichen Gesetze Ungarns einzumischen. Der Hauptfokus der Kritik im In- und Ausland bezieht sich auf die Vermischung von Homosexualität mit Kindesmissbrauch, die durch das neue Gesetz vorgenommen wird. Doch vor Sanktionen scheut man sich immer noch. Bisher belässt man es bei kritischen Worten oder symbolischen Aktionen. Die österreichischen Grünen ließen es sich nicht nehmen, eine Protestaktion an der Grenze zu organisieren – jene Grünen, die in der Regierung mit der ÖVP nicht nur anfangs die EU-Resolution gegen das Gesetz nicht mitunterzeichneten, sondern auch im eigenen Land Regelungen wie das Blutspendeverbot für homosexuelle und bisexuelle Männer mittragen.

Friede, Freude, Regenbogen im Kapitalismus

Nicht nur die österreichischen Grünen üben sich in Scheinheiligkeit. Genau wie Frauenunterdrückung liegt auch die von queeren Menschen im ureigensten Interesse des Kapitalismus. Die bürgerliche Kleinfamilie dient der Reproduktion der menschlichen Gesellschaft im kleinen Rahmen und der Arbeitskraft – und diese wird gefährdet durch jene Menschen, die sich nicht so einfach darin eingliedern lassen. Während in manchen Ländern Zugeständnisse erkämpft wurden, ist die Unterdrückung in anderen Teilen der Welt noch sehr viel ausgeprägter. Doch die Ereignisse in Ungarn führen uns schmerzhaft vor Augen, dass uns jeder erkämpfte Erfolg wieder genommen werden kann. Konservative Kräfte werden immer gegen jene kämpfen, die ihrer Moral nicht entsprechen und das System gefährden. Echte sexuelle Freiheit kann es in dieser Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Unterdrückung aufgebaut ist, niemals geben. Die Regenbogenfahne bringt erst dann echte Befreiung, wenn sie während der Revolution getragen wird, die dieses System endgültig zu Fall bringt.




Ungarn: Orbán nutzt Pandemie, um Rechte von Transpersonen anzugreifen

Rebecca Anderson, Infomail 1102, 6. Mai 2020

Am 30. März verlieh das ungarische Parlament Viktor Orbán auf unbestimmte Zeit die Regierungsgewalt per Dekret. Der Vorwand für diese Machtübertragung war die Coronavirus-Pandemie, aber die von der regierenden Fidesz-Partei (Fidesz-MPSZ; Ungarischer BürgerInnenbund), die im Parlament über eine komfortable Zweidrittelmehrheit verfügt, eingebrachte Gesetzgebung beinhaltet eine ganze Reihe von Maßnahmen im Zusammenhang mit der reaktionären Gesellschaftspolitik der Regierung in Bezug auf Frauen und LGBTIAQ-Menschen.

Eine der Maßnahmen ist der Vorschlag, „Geschlecht“ auf allen Rechtsdokumenten durch „Geburtsgeschlecht“ zu ersetzen – und damit das Recht von Transmenschen, ihr Geschlecht auf offiziellen Dokumenten zu ändern, zu beseitigen. Transpersonen, die bereits den komplizierten und bürokratischen Prozess der rechtlichen Geschlechtsänderung durchlaufen haben, werden gezwungen, sich bei der Erneuerung offizieller Dokumente unter ihrem Geburtsgeschlecht registrieren zu lassen. In dem Memorandum zur Erläuterung des Gesetzentwurfs heißt es: „Eine vollständige Änderung des biologischen Geschlechts ist unmöglich“, und der Gesetzentwurf selbst besagt, dass Geschlecht als „biologisches Geschlecht auf der Grundlage primärer Geschlechtsmerkmale und Chromosomen“ definiert werden sollte.

Transunterdrückung

Der Gesetzesentwurf reduziert Geschlecht auf die Biologie, indem er leugnet, dass das Geschlecht einer Person im Widerspruch zu ihrem individuellen Bewusstsein ihres Geschlechts, d. h. ihrer Geschlechtsidentität, stehen kann. Gleichzeitig macht die Gesetzesvorlage die Öffentlichkeit auf die „Gefahren“ aufmerksam, die es mit sich bringt, Transpersonen zu gestatten, ein freies Leben in ihrem gewählten Geschlecht zu führen. Es ist kein Zufall, dass diese reaktionäre Haltung von einer Regierung vertreten wird, deren nationalistischer Konservatismus und arbeiterInnenfeindliche Kreuzzüge ein internationales Beispiel für die extreme Rechte gesetzt haben.

Transunterdrückung hängt unmittelbar mit der bürgerlichen Familie und ihrer Rolle in der kapitalistischen Produktionsweise zusammen. Innerhalb der ArbeiterInnenfamilie arbeiten die Frauen unbezahlt, um die nächste Generation von ArbeiterInnen zu reproduzieren, während die bürgerliche Familie für die patrilineare Weitergabe von Eigentum sorgt. Um die Aufrechterhaltung der Kernfamilie als soziale Institution zu garantieren, stützt sich der Kapitalismus auf stereotype heteronormative Geschlechterrollen und Geschlechtsidentitäten, die durch jede bedeutende gesellschaftliche Institution verstärkt werden.

Die Gesetzgebungsagenda der ungarischen Regierung zeigt, dass Transphobie und Frauenfeindlichkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Viktor Orbán hat zahlreiche finanzielle Maßnahmen angekündigt, um Frauen zu ermutigen, mehrere Kinder zu bekommen, wodurch die Kernfamilie in der ungarischen Gesellschaft gestärkt würde. Im vergangenen Jahr weigerte sich die Regierung Viktor Orbán, eine EU-Resolution zur Gewalt gegen Frauen zu ratifizieren, weil diese Geschlecht als soziales Konstrukt definierte. Im Jahr 2018 verbot seine Regierung das Studium der Geschlechterforschung, weil es „eine Ideologie und keine Wissenschaft“ sei.

Die ungarische Regierung zog sich auch aus dem Eurovision Song Contest zurück, während eine regierungsfreundliche Medienkampagne den Wettbewerb als „zu schwul“ und als eine „Homosexuellen-Flottille“ angriff, die die psychische Gesundheit der Nation beeinträchtigen würde. Viktor Orbán hat die ungarische LGBTIAQ-Gemeinde auch davor gewarnt, sich „provokativ“ zu verhalten oder das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe zu fordern. Im Jahr 2017 war Viktor Orbán Gastgeber und Redner auf einer Konferenz der berüchtigten Anti-LGBTIAQ-Gruppe „International Organisation of the Family“.

„Self-ID“: Anerkennung der selbst gewählten Geschlechtsidentität

Das Recht auf Anerkennung der Geschlechtsidentität („Self-ID“) steht im Kampf für die Transbefreiung an vorderster Stelle, wobei nur wenige Länder – Irland, Portugal – die ungehinderte freie Wahl des Geschlechts auf allen Rechtsdokumenten zulassen. Ungarn war das vorletzte Land in der EU, das eine gesetzliche Grundlage für die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit kodifiziert hat, wobei die Anforderungen erst 2017 geklärt wurden. Wie in Großbritannien setzt die Anerkennung der Geschlechtsidentität auch hier eine psychiatrische Diagnose voraus.

In Großbritannien können einige Dokumente auf Anfrage geändert werden, aber dies ändert nicht das juristische Geschlecht der Person, das an ihre Geburtsurkunde gebunden ist. Die Änderung einer Geburtsurkunde setzt voraus, dass sich die Person einem zermürbenden zweijährigen Prozess unterziehen muss, um ein medizinisches Gremium zu überzeugen. In diesem Prozess wird die Transidentität medizinisch behandelt, was die Diagnose einer „Geschlechtsdysphorie“ erfordert, bevor ein Zertifikat zur Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit erteilt wird. Dieses Vorgehen zwingt Transpersonen auch dazu, sich sexistischen und reaktionären Verhaltens- und Kleidungsstereotypen anzupassen, um zu „beweisen“, dass sie als das Geschlecht leben, zu dem sie sich zugehörig fühlen.

Transpersonen sind eine der am stärksten unterdrückten Gruppen in der Gesellschaft. Bei der Job- und Wohnungssuche sind sie mit erheblichen Hürden konfrontiert und leiden unter Belästigung und Gewalt in ihren Familien, am Arbeitsplatz und auf der Straße.

Das Argument der Viktor Orbán-Regierung, dass die Geschlechtsidentität nicht „real“ sei und dass nur die Biologie darüber entscheidet, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist, basiert auf der Idee, dass Geschlechterstereotypen natürlich sind. Es gibt auf der linken Seite diejenigen, die ebenfalls die Rechte von Transpersonen verneinen, indem sie zustimmen, dass die Biologie der einzige Bestimmungsfaktor für Männlichkeit oder Weiblichkeit ist, aber argumentieren, dass das soziale Geschlecht einfach eine Reihe von Stereotypen ist, die ein falsches Bewusstsein schaffen, das das Individuum und die Gesellschaft ablehnen müssen. Es stimmt zwar, dass das soziale Geschlecht ein Konstrukt ist, aber zu leugnen, dass dieses eine mächtige Kraft ist, die von klein auf eine geschlechtliche Identität und Sexualität prägt, die mit dem biologischen Geschlecht des Individuums übereinstimmen kann oder auch nicht, bedeutet, die Realität abzulehnen. Die Argumente dieser Linken gegen die Existenz einer geschlechtlichen Identität stimmen mit denen überein, die gegen die Existenz von Homosexualität sprechen, und bezeichnen sie sehr oft als willkürliche Wahl oder psychische Störung. Diejenigen SozialistInnen, die gegen das Recht auf Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität sind, sollten die Entwicklungen in Ungarn aufmerksam verfolgen, wo eine ideologische Opposition gegen Transrechte angefacht und von einer rechtspopulistischen Regierung benutzt wird, um ihre Agenda voranzubringen.

In Großbritannien wurde seinerzeit erwartet, dass die Reform des Gender Recognition Act das Recht auf Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität einführen würde. Nach großem Widerstand von Konservativen und einigen Feministinnen der zweiten Welle wurden die Reformen jedoch verschoben. Jetzt, mit einer populistischeren und sozialkonservativeren Regierung, scheint die Tory-Partei einen Gang hochzuschalten, um eine Überprüfung des Gesetzes dazu zu nutzen, Transrechte zurückzunehmen, anstatt sie auszuweiten. Die Ministerin für Gleichberechtigung, Liz Truss, sprach sich kürzlich gegen Pubertätsblocker und die Einbeziehung von Transfrauen in Frauenräume aus und bestand ebenfalls darauf, dass „Kontrollen und Gegengewichtige“ bezüglich Transrechten in Kraft bleiben müssten. Die Regierung hat angekündigt, dass sie ihren Plan für den Gender Recognition Act im Sommer auf den Weg bringen wird.

Jegliche Rechte für Transpersonen, die vor dem Recht auf Selbstbestimmung des Geschlechts haltmachen –  des Individuums, sein eigenes Geschlecht auf allen offiziellen Dokumenten anzugeben und als dieses Geschlecht zu leben –, implizieren, dass der Staat und nicht das Individuum die Macht haben soll, das Geschlecht einer Person festzulegen. Wenn auch aus keinem anderen Grund, sollten SozialistInnen die Self-ID auf der Grundlage unterstützen, dass der kapitalistische Staat kein unparteiischer Schiedsrichter für LGBTIAQ-Rechte ist und nie war.

Schlussfolgerung

Die LGBTIAQ- und die Frauenbewegung bedrohen nicht nur konservative Werte, sondern auch – in dem Maße, wie sie in das heteronormative Familienideal eingreifen – die wesentliche soziale Infrastruktur der kapitalistischen Gesellschaft. In wohlhabenderen Ländern hat ein langwieriger Kampf Zugeständnisse errungen, aber der Aufstieg der populistischen Rechten erinnert uns daran, dass Reformen immer rückgängig gemacht werden können, solange das soziale System, in dem die Unterdrückung verwurzelt ist, bestehen bleibt. Deshalb ist für SozialistInnen die Verteidigung sozial unterdrückter Gruppen wesentlich für den Kampf zum Sturz des Systems, das eine repressive Sexualmoral, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und ihre Basis, die bürgerliche Familie, erzwingt.

Frauenbewegungen und die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung in allen Ländern sollten sich gegen die staatliche Einmischung in das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung seines Geschlechts auf allen Rechtsdokumenten wenden. In Ungarn ist die Bedrohung für Frauen und LGBTIAQ-Menschen bereits kritisch, und die Konzentration autokratischer Macht in den Händen von Viktor Orbán bedeutet umfassendere Angriffe auf die demokratischen, Arbeits- und Menschenrechte.




Ungarn: Generalstreik gegen SklavInnengesetz nötig

Jeremy Dewar, Infomail 1038, 16. Januar 2019

Am 5. Januar strömten Zehntausende von ArbeiterInnen und
StudentInnen auf den Budapester Heldenplatz, um zu fordern, dass die
Fidesz-Partei (Ungarischer Bürgerbund) von Präsident Viktor Orbán „von der
Macht entfernt“ wird.

Wenn Orbán glaubte, dass der Wintereinbruch die
Anti-Regierungsbewegung vernichten würde, zerstörte diese nachdrückliche
Antwort stattdessen jede Hoffnung darauf. Drohende diktatorische Gesetze haben
Oppositionsparteien, Gewerkschaften, StudentInnen und Intellektuelle in eine
Massenbewegung auf den Straßen hineingezogen, vor allem in der Hauptstadt
Budapest, aber auch zum ersten Mal im ganzen Land.

Nun hat der Ungarische Gewerkschaftsbund MASZSZ mit 150.000
Mitgliedern einen Generalstreik am 19. Januar angedroht. „Die Regierung hat uns
in Stichgelassen “, erklärte László Kordás, Vorsitzender des Ungarischen
Gewerkschaftsdachverbands MASZDZ: „Das Land muss am selben Tag zur gleichen
Zeit zum Stillstand kommen.“

Ein anderer Gewerkschaftsfunktionär gab gegenüber dem
deutschen „Handelsblatt“ zu, dass dies auf Druck der Basis zurückzuführen sei:
„Einige unserer Mitglieder haben uns aufgefordert, das Land lahmzulegen“.

Die Bewegung begann im November letzten Jahres, als Fidesz,
das nach dem erdrutschartigen Wahlsieg im April über eine Zweidrittelmehrheit
im Parlament verfügt und so jedes beliebige Gesetz verabschieden kann, die
Mitteleuropäische Universität stilllegte, die von Orbáns Reizfigur, dem in den
USA lebenden Milliardär George Soros, gegründet und teilweise finanziert wurde.

Sklavengesetz

Am 12. Dezember schlossen sich dann Auto- und
ChemiearbeiterInnen, FleischpackerInnen und LehrerInnen den SchülerInnen und
WissenschaftlerInnen auf der Straße an, als das Parlament das sogenannte
„Sklavengesetz“ verabschiedete.

Dieses Gesetz erlaubt es UnternehmerInnen, ihre
Belegschaften für 400 zusätzliche Überstunden pro Jahr zu verpflichten, diese
zusätzliche Arbeitszeit zum normalen Tarif zu bezahlen und das Entgelt für bis
zu drei Jahre zurückzuhalten. Die ArbeiterInnen befürchten zu Recht, dass sie
entlassen würden, wenn sie sich weigern, die „Überstunden“ zu leisten, was
diese praktisch zur Dienstpflicht macht.

Vierhundert Stunden entsprechen fast zwei ganzen Mehrarbeitsstunden
pro Tag oder einem zusätzlichen Arbeitstag pro Woche.

Die aktuelle Entwicklung entbehrt nicht einer gewissen
Ironie. Fidesz wurde auf einer Plattform gewählt, die sich fast ausschließlich
auf die Beseitigung der Einwanderung konzentrierte, auf Rassismus und
Rechtspopulismus pur.

Diese Politik hat jedoch zu einem akuten Arbeitskräftemangel
in Ungarn geführt, insbesondere in der überaus wichtigen Automobilindustrie,
die von multinationalen Unternehmen wie BMW, Audi und General Motors dominiert
wird, wo die Beschäftigten im Durchschnitt 900 Euro pro Monat erhalten, einen
Bruchteil des IndustriearbeiterInnenlohns in Deutschland oder generell in
Westeuropa. Schätzungsweise eine Million, hauptsächlich junge ArbeiterInnen
haben das Land seit 2006, als Orbán an die Macht kam, verlassen und wurden
nicht ersetzt. Die neuen, von ArbeiterInnen treffend als  „BMW-Gesetz“ bezeichnete  Regelung soll Abhilfe schaffen.

Weitere autoritäre Gesetze, die Ende 2018 verabschiedet
wurden, sind die Einrichtung neuer „Verwaltungsgerichte“ für Korruptionsfälle
und dergleichen. Diese Gerichte werden unter der direkten Kontrolle der
Regierungspartei stehen und damit die Unabhängigkeit der Justiz beenden, was
sehr geschickt ist, da die Regierung Fidesz’ zunehmend in einen Finanzskandal
verwickelt ist. Ein anderes bezieht die Mainstream-Medien, die sich bereits
weitgehend in der Tasche von Fidesz befinden, in ein einheitliches Konsortium
ein. Viele befürchten, dass dies das endgültige Ende des unabhängigen
Journalismus bedeuten würde.

Unterdrückung und Widerstand

Die erste Reaktion der Regierung bestand darin, die Bewegung
gewaltsam zu unterdrücken, am 12. Dezember Tränengas auf die DemonstrantInnen
abzufeuern, über 50 von ihnen zu verhaften und viele weitere zu verletzen.
Seitdem hat sie ihre Hunde zurückgerufen, verblüfft durch Meinungsumfragen, die
regelmäßig vermuten lassen, dass 80 Prozent der Bevölkerung das Sklavengesetz
missbilligen, und die Regierung die Art der Straßenbewegung befürchten lassen,
die Orbán selbst 2006 auf einem Ticket für Demokratie an die Macht brachte.

Jetzt haben sich die Oppositionsparteien dem Kampf
angeschlossen, wobei Abgeordnete teilweise das staatliche Fernsehzentrum
besetzen, um das Recht zu fordern, eine Erklärung zur Unterstützung der
Proteste vorzulesen. Bis jetzt wurde nur die Regierungslinie zu den
DemonstrantInnen ausgestrahlt, im Wesentlichen, dass es sich um eine von Soros ausgetüftelte
Verschwörung handelt. Diese Verbreiterung der Bewegung bringt aber auch ihre
Gefahren mit sich.

Erstens, den etablierten Parteien, einschließlich der
Sozialistischen Partei MSZP kann man nicht trauen. Sie haben sich in der
Vergangenheit als keine FreundInnen der ArbeiterInnenklasse erwiesen und sind
angesichts der zunehmenden Flut von Rassismus, insbesondere Antisemitismus,
ruhig geblieben. Ihr Hauptziel ist es, bei den wichtigen Europawahlen im Mai
gleiche Wettbewerbsbedingungen für sich zu schaffen.

Schlimmer noch, die faschistische Jobbik-Partei (Bewegung
für ein besseres Ungarn), die derzeit mit 8 Prozent Stimmenunterstützung
rechnen kann, hat sich opportunistisch als Verteidigerin für ArbeiterInnenrechte
positioniert. Gelbe Westen begannen sogar bei einigen der jüngsten
Demonstrationen aufzutauchen. Als Verfechterin der Nulleinwanderung, gewalttätig
antisemitisch und Förderin der autoritären Diktatur ist die Präsenz von Jobbik
eine klare Bedrohung für ArbeiterInnen, MigrantInnen und Frauen. Innerhalb der
Bewegung sollten SozialistInnen die ArbeiterInnenrechte mit der Frauenbewegung
und Kampagnen in Solidarität mit MigrantInnen und gegen Rassismus verbinden.
Die Aufnahme von antirassistischen und frauenfreundlichen Parolen neben
Selbstverteidigungsausschüssen ist der erste Schritt, um die extreme Rechte zu
isolieren und aus der Bewegung zu vertreiben.

Die ArbeiterInnen mussten den Aufruf zu einem Generalstreik
am 19. Januar ihren Gewerkschaftsführern aufzwingen. Aber die Gewerkschaften
sind schwach, der Organisationsgrad beträgt weniger als 10 Prozent. Um diese
Einschränkung zu überwinden, müssen die ArbeiterInnen in jedem Bezirk von
Budapest und in allen Städten und Gemeinden Aktionsräte bilden, die alle
Arbeitsplätze, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, StudentInnen und
LandarbeiterInnen einbeziehen. Der Ablauf des Generalstreiks und die Richtung
der Bewegung müssen in die Hände dieser Aktionskomitees gelegt werden.

Orbán fürchtet die Opposition nicht, geschweige denn die
GewerkschaftsführerInnen. Was er fürchtet, ist, dass sich die Bewegung ihrer
Kontrolle entziehen und zu einer entwickeln könnte, die, wie bereits spontan
geschehen, seine Herrschaft bedroht. Wenn er politisch überlebt, mit ein oder
zwei kleinen Zugeständnissen, wird er einfach zurückkommen und ArbeiterInnen
und StudentInnen Zug um Zug abgreifen.

Um dies zu verhindern, müssen die ArbeiterInnen die
Aufhebung aller diktatorischen Gesetze Orbáns auf ihre Banner schreiben. Um die
wachsende Diktatur der Fidesz-Partei Orbáns zu beenden und zu verhindern, dass
Jobbik in ihre Fußstapfen tritt, ist eine neue Partei der ArbeiterInnenklasse
erforderlich, eine revolutionäre Partei, die die Krise lösen kann, die Ungarn
erfasst – im Interesse aller ArbeiterInnen, seien es UngarInnen, Roma oder
EinwanderInnen, ChristInnen, Juden/Jüdinnen oder MuslimInnen.




Wahlen in Ungarn: Orbán verfestigt seine Macht, aber Zehntausende demonstrieren

Michael Märzen, Infomail 999, 19. April 2018

Seit acht Jahren regiert Viktor Orbán mit seinem „Ungarischen Bürgerbund“ (Fidesz-MPSZ). Die ungarische Regierung war und ist eine der Vorreiterinnen der rechten Regierungen in Europa. Mit offenem Rassismus gegenüber MuslimInnen und Flüchtlingen sowie vermehrt auch Antisemitismus stellt die Fidesz-Regierung das Vorbild für viele rechtskonservative und rechtspopulistische Parteien in Europa dar. Mit der jüngsten Wahl am 8. April konnte sie nicht nur erneut den ersten Platz behaupten (49,27 %), sondern sogleich die verloren gegangene Zweidrittelmehrheit im Parlament zurückholen. Damit kann Orbán seine Macht weiter verfestigen.

Autoritäre Umstrukturierung

In den Jahren seit 2010 machte Ungarn eine starke autoritäre Wende durch. Fidesz nutzte ihre bei den Wahlen mit nur 52,7 % der Stimmen erreichte 2/3-Mehrheit an Mandaten im Parlament um den Staatsapparat in ihrem Sinne umzugestalten. Orbán schritt – offenbar auch gegen die Empfehlung vieler ParteikollegInnen – schnell zur Tat. Es wurde eine restriktive Mediengesetzgebung erlassen, die es der Regierung erlaubt, hohe Strafen gegen unliebsame Beiträge zu verhängen und die staatlichen Medien wurden unter die Fuchtel von Fidesz-AnhängerInnen gebracht. 2011 wurde mit der 2/3-Mehrheit der Fidesz auch eine neue Verfassung beschlossen, die (vor allem mit der Schwächung des Verfassungsgerichts) die Macht der regierenden Partei noch weiter zementierte. Über die Jahre kamen weitere autoritäre Entwicklungen hinzu: Änderungen bei den Wahlgesetzen, Einschränkungen für NGOs (insbesondere solche im Flüchtlingsbereich) und schließlich auch noch die Betonung Orbáns, dass er eine „illiberale Demokratie“ anstrebe.

Außenpolitisch beansprucht Orbán die Stellung der EU-kritischsten Regierung für sich. Bei zentralen Vorhaben der EU zeigte er sich ablehnend und blockierend (in vielen wichtigen Fragen müssen EU-Beschlüsse einstimmig getroffen werden). Das ist sicher nicht die Ursache der Krise der EU, verschärft diese aber, umso mehr als 2015 in Polen mit der PiS eine Fidesz ähnliche Partei an die Macht kam. Zusätzlich dazu pflegt Orbán auch ein gutes Verhältnis zu Putin, der ein sogar noch autoritäreres System betreibt.

Rassismus und Korruption

Durch kaum etwas aber sticht Orbáns Fidesz so hervor wie durch ihren Rassismus. Durch ihren Erfolg ist sie darin auch Vorbild für viele rechte Parteien und PolitikerInnen. Der gesamte Wahlkampf war von der Feindlichkeit gegenüber Flüchtlingen geprägt. Orbán phantasiert von einer drohenden Massenzuwanderung, gesteuert von mächtigen FeindInnen im Ausland, um die ungarische Nation zu zerstören. Damit lenkt er gekonnt von den sozialen Missständen im Land ab wie etwa von der Armut, den niedrigen Löhnen, dem schlechten Gesundheits- und dem veralteten Bildungssystem.

In der sogenannten Flüchtlingskrise baute Ungarn einen 4 Meter hohen Zaun an der serbischen Grenze und legte sich bei der EU-weiten Verteilung von Geflüchteten quer. Seit einigen Jahren ist neben der Hetze gegen Roma und Sinti auch der offene anti-muslimische Rassismus ein wichtiger Bestandteil der Politik von Fidesz, die mit ihrer Kampagne gegen den in Ungarn geborenen US-Multimilliardär George Soros aber auch vor dem Schüren von Antisemitismus nicht zurückschreckt.

Mit ihrer demagogischen und reaktionären Rhetorik gegen die EU und das „amerikanisch-jüdische“ Finanzkapital schafft es die Fidesz erfolgreich, ein populäres Image zu bewahren, obwohl Korruption und Vetternwirtschaft für Orbán und Co. auf der Tagesordnung stehen. So haben fünf enge Bekannte von Orbán alleine 5 % der EU- und Regierungsgelder für ihre diversen Unternehmen erhalten.

Fragen der Opposition

Die zweitstärkste Partei nach der Fidesz ist mit 19,06 % die faschistische Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn). Sie hat sich in diesem Wahlkampf etwas moderater präsentiert, da sie politisch kaum Zugewinne rechts der Fidesz erwarten konnte. Jobbik konnte ihr Ergebnis relativ stabil halten und verlor 1,16 Prozent gegenüber 2014. Dies verdeutlicht, dass sich im Windschatten der regierenden Fidesz eine faschistische Partei mit relativ stabiler Massenbasis etabliert hat.

Die Sozialistische Partei MSZP hingegen – bislang größte oppositionelle Kraft im Parlament – erlebt wie schon 2010 eine starke politische Krise. Sie hat mehr als die Hälfte der Stimmen (13,66 Prozent) verloren und sackte auf 11,91 Prozent ab. Die offen bürgerlichen liberalen Kräfte erreichten zwischen 3 und 7 Prozent und können sich politisch kaum behaupten.

Nach der Wahl wurde von Oppositionsparteien der Verdacht auf Wahlbetrug geäußert, Stimmen könnten vernichtet worden sein. Sie haben die Forderung nach einer Neuauszählung der Stimmen erhoben. In weiterer Folge gingen mehrere zehntausend Menschen in Budapest gegen die Regierung auf die Straße. Der Protest griff die Forderung der Opposition auf, forderte zugleich aber auch ein neues Wahlrecht und Neuwahlen. Bei dem Protest waren einige EU-Fahnen zu sehen und unterschiedliche VertreterInnen politischer Parteien nahmen daran teil, sogar die Jobbik.

Der politische Charakter der Proteste, aber auch die Schwäche der Opposition gegenüber Fidesz wirft wichtige politische Fragen prinzipieller Natur auf. Das wird auch dadurch verdeutlicht, dass in ausländischen kritischen Medien immer wieder die Meinung verbreitet wurde, die ungarische Opposition müsse an einem Strang ziehen und die einflussreichsten OppositionskandidatInnen in den Direktmandatswahlkreisen unterstützen. In der gegenwärtigen Lage hätte das vor allem die Jobbik begünstigt, was für die ArbeiterInnenklasse kein bisschen besser gewesen wäre, im Gegenteil. Aber auch wenn es nicht die Jobbik wäre, bedeutete das für fortschrittliche Kräfte die Unterordnung unter bürgerliche Parteien. Dabei ist es die allererste Aufgabe in Ungarn, eine wahrnehmbare, unabhängige proletarische Kraft zu schaffen und die Interessen der ArbeiterInnenklasse eigenständig zu artikulieren. Denn Klasseninteressen der ArbeiterInnen sind denen der Fidesz entgegengesetzt und nur über ein eigenständiges Sprachrohr wird die arbeitende Klasse kollektiv in Aktion treten, um das autoritäre Orbán-Regime zu stürzen.