Frankreich: Neue Volksunion ein Fortschritt für die Arbeiter:innenklasse?

Marc Lassalle, Infomail 1191, 10. Juni 2022

„Französisches Volk, wenn du es willst, kannst du mit deinen Stimmen viele wichtige Forderungen erfüllen“. „Am 12. und 19. Juni, wenn Sie sich dafür entscheiden, indem Sie die Abgeordneten der NUPES wählen, wird an diesem Tag der Frühling des Volkes erblühen und den Frühling der Natur widerspiegeln.“

Die Botschaft der Neuen Populären, Ökologischen und Sozialen Union (NUPES = Nouvelle Union Populaire écologique et sociale) ist einfach und klar: Wählt bei den kommenden Parlamentswahlen diese neu gegründete Koalition linker Parteien, und die von dem selbsternannten Premierminister Jean-Luc Mélenchon geführte Regierung wird alle eure Probleme lösen, von Lohnerhöhungen über ökologische Planung bis hin zur Sechsten Republik.

Die von Mélenchon nach seinem beachtlichen Ergebnis (22 %) bei den Präsidentschaftswahlen im April ins Leben gerufene NUPES ist eine Wahlfront, die von La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich, LFI, Mélenchons Partei), den Grünen, der Kommunistischen Partei, der Sozialistischen Partei und anderen kleineren Organisationen gebildet wird. Auf der Wahlliste stehen für die LFI 357 Kandidat:innen, für die PS 70 und für die PCF 50.

Seit dem Start der NUPES hat sich der Vorsprung des Präsidenten in den Meinungsumfragen auf 26 – 27 % der Wahlpräferenzen im ersten Wahlgang verringert, gegenüber 25 % für die NUPES und 21 % für Marine Le Pens Rassemblement National (RN) (Ipsos, französisches Markt- und Sozialforschungsinstitut). Eine neuere Umfrage (französisches Meinungsforschungsinstitut Ifop-Fiducial, 31. Mai) deutet darauf hin, dass Macron die absolute Mehrheit verfehlen könnte, so dass seine Premierministerin Élisabeth Borne auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen wäre.

Mélenchon rühmt sich, dass die bloße Tatsache, all diese Kräfte zu vereinen, eine historische Errungenschaft sei, und vergleicht dies mit der Volksfrontregierung von 1936. Es stimmt, dass die beiden großen linken Parteien, die PS und die PCF, seit 1997 nicht mehr auf einer gemeinsamen Liste (Die Plurale Linke) zu den Wahlen angetreten sind. Der Erfolg des Unternehmens zeigt jedoch nicht die Stärke der Führung von Mélenchon, sondern unterstreicht vielmehr den erbärmlichen Zustand der französischen Linken.

Mit dem demütigenden Ergebnis von 1,7 % für die Kandidatin der Sozialistischen Partei, Anne Hidalgo, und nur 2,2 % für den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Fabien Roussel, befinden sich die beiden traditionellen Parteien der französischen Linken auf einem historischen Tiefstand, und es stellt sich die Frage nach ihrem Überleben. Während der Niedergang der PCF seit Jahrzehnten anhält, war die PS 2017 noch an der Macht, verfügte über eine Mehrheit im Parlament und regierte in wichtigen Regionen und Städten wie Paris und Lyon. Die Kandidatur von Emmanuel Macron im Jahr 2017 bedeutete eine große Abspaltung von der PS nach rechts, wobei viele führende Persönlichkeiten der Partei ihm folgten, um gewählt zu werden und Positionen in der Regierung zu erhalten. Die NUPES erscheint daher heute den jüngeren Kadern der PS als Rettungsboot, auch wenn sie unter der Führung der LFI die Rolle der Juniorpartnerin spielen muss.

CPF und PS

Trotz ihrer Schwächen sind PS und die PCF nach wie vor mit der französischen Arbeiter:innenklasse verbunden. Am deutlichsten ist dies bei der PCF mit ihrer starken Basis von Aktivist:innen, einem dichten Netz von Verbänden, die in den Arbeiter:innenbezirken tätig sind, und insbesondere durch ihre Verzahnung mit der CGT, der führenden Gewerkschaft. Die Verbindungen der PS zur Arbeiterklasse waren schon immer schwächer ausgeprägt. Der Vorläufer der PS, die SFIO, erlebte in den 1960er Jahren beinahe einen Tod, bis sie von François Mitterrand als Wahlkampfinstrument zur Erlangung der Macht wiederbelebt wurde. Dies führte zum gemeinsamen Programm von 1972, worin ein Übergang weg vom Kapitalismus versprochen wurde, und Mitterands Sieg 1981 mit einem Programm umfangreicher Verstaatlichungen, das er jedoch nach zwei Jahren wieder aufgab.

In Frankreich wurden die Beziehungen zu den „sozialistischen“ Parteien schon vor langer Zeit in der „Charta von Amiens“ der Gewerkschaften kodifiziert, die eine strikte Trennung zwischen ihnen und den politischen Parteien vorschreibt. Die Parteien kümmern sich um die Wahlen und die lokale und nationale Regierung, während die Gewerkschaften für den Arbeitskampf in der Wirtschaft zuständig sind, einschließlich der Organisierung in den Betrieben und der Verhandlungen mit Unternehmer:innen und Regierungen. Natürlich ist diese Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik eine reine Fiktion, deren einziger Zweck es ist, sowohl die Bürokratie der Gewerkschaften als auch die Führer:innen der linken Parteien aus der Verantwortung zu entlassen, wenn Fragen des Klassenkampfes ein gemeinsames Vorgehen erfordern.

Dies erklärt zum Teil, warum die Verbindungen zwischen der PS und den Gewerkschaften immer im Verborgenen geblieben sind. Dennoch stand die CFDT, eine der größten Gewerkschaften, der PS immer nahe, sowohl in Bezug auf ihre Führungskräfte und ihre Bürokratie als auch auf ihre Ideologie – und das tut sie auch heute noch. Außerdem orientiert sich ein großer Teil der französischen Arbeiter:innenklasse immer noch an der PS und betrachtet sie als Schutzschild gegen die schlimmsten Aspekte des Neoliberalismus. Der Sieg von François Hollande bei den Präsidentschaftswahlen 2012 war vor allem darauf zurückzuführen: Die Arbeiter:innenklasse hatte genug von den brutalen Angriffen unter den Präsidentschaften von Chirac und Sarkozy und nutzte die Wahl von Hollande, um dem einen Riegel vorzuschieben.

Die derzeitige Verwirrung in den Reihen der Linken rührt von dem wiederholten Verrat der reformistischen Führer:innen und der Tatsache her, dass sie in der Regierung eine neoliberale Politik betrieben haben, die der der Rechten ähnelt, was sie nicht von der britischen Labour Party oder der deutschen Sozialdemokratie unterscheidet. Die Tatsache, dass Macron ein wichtiger Minister Hollandes war und er als Präsident eine ähnliche Linie der Angriffe gegen die Arbeiter:innenklasse fortsetzt, hat die PS in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. Wer braucht die PS, wenn Macron und seine Gefolgsleute sich um die Regierungsseite kümmern und Mélenchon die Opposition hegemonisiert?

Die derzeitige „linke“ Hinwendung der PS zur NUPES, die über das kurzfristige Ziel der Rettung der Fraktion und des vom Staat bezahlten Parteiapparats hinausgeht, könnte zeigen, dass sich eine jüngere Generation von Parteikadern der Arbeiter:innenklasse zuwendet, um ihr reformistisches Bekenntnis zu erneuern und möglicherweise engere Verbindungen zu ihr herzustellen. In den kommenden Jahren wird die Ausrichtung der PS und der Gewerkschaftsverbände im Klassenkampf darüber entscheiden, ob dieser Versuch erfolgreich ist. Es ist auch möglich, dass die PS ihren gesamten Einfluss verliert, sich mit anderen Kräften zusammenschließt oder ganz verschwindet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl PCF als auch PS immer noch Parteien der Arbeiter:innenklasse sind, auch wenn sie ihre Versprechen wiederholt verraten haben und obwohl sich ihre Politik, sobald sie an der Macht waren, als kompatibel und oft als Instrument für die Erhaltung des bürgerlichen Staates erwiesen hat: Sie sind, wie Lenin sie nannte, bürgerliche Arbeiter:innenparteien, die sich auf die Stimmen des Proletariats stützen, aber der Kapitalist:innenklasse dienen.

Wesen

Trotz ihres radikalen Anspruchs ist das Wesen von La France Insoumise ein anderes. Mélenchon will eindeutig mit der Tradition der Arbeiter:innenbewegung brechen. Inspiriert vom „linken“ Populismus, vor allem von den Theorien der „radikalen Demokratie“ von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, will er das gesamte französische Volk vereinen. Besonders deutlich wurde dies, auch auf symbolischer Ebene, in seinem Wahlkampf 2017, als er die rote Flagge und das Singen der Internationale durch die Trikolore und die Marseillaise ersetzte.

Auch wenn diese populistisch-nationalistische Ideologie während Mélenchons Präsidentschaftswahlkampf 2022 nicht so unverhohlen betont wurde, bildet sie doch eindeutig noch immer die Grundlage von LFI und NUPES. Von der Arbeiter:innenklasse oder der Arbeiter:innenbewegung ist nach wie vor keine Rede, stattdessen ist es „der Frühling des Volkes“. Die Botschaft ist einfach: Wählt Mélenchon und sobald er an der Regierung ist, wird er 650 Reformen umsetzen. Punkt. Für autonome Aktionen der Arbeiter:innenklasse, Kämpfe, Bewegungen, geschweige denn einen Bruch mit dem Kapitalismus bleibt kein Raum, nicht einmal auf rhetorischer Ebene.

Für Mélenchon beschränkt sich die gesamte politische Szene auf die Nationalversammlung. Die letzten fünf Jahre legen Zeugnis davon ab. Die LFI war im Parlament recht aktiv, wenn auch auf symbolischer Ebene, da Macron eine große Mehrheit besaß. Auf der Straße oder in den Bewegungen war die LFI jedoch nicht sehr sichtbar oder gar nicht vertreten. Die LFI, deren Aktivist:innenbasis wahrscheinlich kleiner ist als die der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) und sicherlich vernachlässigbar im Vergleich zur PCF, ist als Struktur von oben nach unten aufgebaut, die auf Wahlen und wenig anderes ausgerichtet ist.

Trotz der vielen linken Reformen, die im Programm der NUPES enthalten sind, darunter die Anhebung des Mindestlohns, die Festsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre und massive Investitionen in den öffentlichen Sektor, wird nie erwähnt, was das Bündnis tun wird, wenn es keine parlamentarische Mehrheit erlangt. Von der Notwendigkeit des Widerstands und der Kämpfe in den Betrieben, einer sozialen Bewegung, ist nie die Rede. Richtigerweise fügt die PCF, aber nicht Mélenchon, diese Zeilen ihrer Unterstützungserklärung für die NUPES hinzu:

„Wir wissen natürlich, dass es nicht ausreicht, eine Wahl zu gewinnen, um die sozialen Siege zu erringen, die wir wollen. Um diese Veränderungen zu erreichen, bedarf es einer starken sozialen und populären Bewegung, die jetzt und überall in Frankreich aufgebaut werden muss. Unser Engagement in diesen Kämpfen ist daher entscheidend.“

Mélenchons Projekt ist sowohl falsch – da keine radikalen Veränderungen allein durch eine reformistische Regierung herbeigeführt werden können, geschweige denn durch eine Regierung, die mit Macron zusammenarbeitet – als auch gefährlich: Es zielt darauf ab, die Arbeiter:innenklasse in einem losen klassenübergreifenden Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum zu zerstreuen und sie ihrer wesentlichen Stärken zu berauben, was das Bewusstsein und die Organisation angeht. Das ist ein gewaltiger Schritt zurück, sogar gegenüber den Zeiten, in denen die SFIO und die PCF gegründet wurden. Es ist ein Rückzug aus der Klassenidentifikation und der Klassenunabhängigkeit, selbst in der trügerischen Form, wie sie von reformistischen Arbeiter:innenparteien aufrechterhalten wird.

NPA

Die NPA, ein Zusammenschluss von Tendenzen, die sich selbst als revolutionär betrachten und größtenteils der trotzkistischen Tradition entstammen, war in intensive Verhandlungen mit der NUPES verwickelt und stand kurz vor dem Eintritt in die Koalition. Die Hauptgründe für das letztendliche Scheitern lagen nicht in der politischen Charakterisierung der NUPES durch die NPA, sondern waren vor allem das Ergebnis eines Zusammenstoßes zwischen den opportunistischen Bestrebungen von LFI und NPA. Der LFI gelang es, die PS ins Boot zu holen, von der sie (richtigerweise) annahm, dass sie angesichts deren anhaltender Stärke sowohl im Parlament als auch in der Kommunalverwaltung mehr Unterstützung erhalten würde als durch die NPA. Daher boten sie den NPA-Kandidat:innen nur eine Handvoll weniger gewinnbarer Wahlkreise an. Die NPA verkündete prompt, dass sie die NUPES nicht unterstützen könne, da in ihr eine Partei vertreten sei, die keinen „Bruch“ mit dem Neoliberalismus vollzogen habe.

Trotz des Scheiterns dieser Vereinbarung ist die NPA in der Tat stark an der Unterstützung und dem Aufbau der NUPES-Kampagne im ganzen Land beteiligt, außer in den wenigen Gebieten, in denen sie ihre eigenen NPA-Kandidat:innen aufstellt. Der Opportunismus der NPA und das Fehlen einer ernsthaften Kritik an dem, was die NUPES wirklich repräsentiert, ist ein Zeichen für ihre beschämende politische Degeneration und könnte zu ihrem Zerfall führen.

Aus Sorge vor weiteren Angriffen der Macron-Regierung (insbesondere auf die Renten) werden viele Arbeiter:innen für die NUPES stimmen und sie als – wenn auch schwache und zweifelhafte – Waffe einsetzen, um Macron zu stoppen oder zumindest zu schwächen. Macron, der sicherlich von einer hohen Wahlenthaltung profitieren wird, da dies vor allem die Wähler:innen von RN (Le Pens Nationale Sammlung) und NUPES betreffen wird, spielt den Wahlkampf mit einem sehr langsamen Tempo und hält die Linie seiner Regierung bewusst im Unklaren. Die RN versucht lediglich, aus dem guten Abschneiden von Marine Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen Kapital zu schlagen, in der Hoffnung, dies auf eine große Gruppe von Abgeordneten in der Versammlung zu übertragen. Die aktivste Kraft im Wahlkampf ist daher die NUPES, die in den Arbeiter:innenvierteln systematisch Wahlwerbung betreibt. Kein Wunder also, dass die Umfragen für die NUPES etwa 30 % und eine beträchtliche Anzahl von Abgeordneten voraussagen, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sie eine Mehrheit im Parlament erringen wird.

In dieser sehr verworrenen politischen Situation ist es wichtig, ein fortschrittliches Element im Klasseninstinkt vieler Arbeiter:innen und Immigrant:innen zu erkennen, die für die NUPES stimmen werden. Ja, die Arbeiter:innenklasse muss sich neu formieren, um bei den Wahlen und im Klassenkampf mit ihren eigenen Organisationen zu bestehen. Ihr Wille, sich gegen Macron und Le Pen zu stellen, ist legitim. Aber natürlich ist die daraus gezogene Schlussfolgerung falsch, denn die Unterstützung für reformistische Führer:innen wie die von PS und PCF kann nur zu Verrat und Entmutigung führen. Sie ist doppelt falsch, wenn sie die NUPES als Block unter der irreführenden Leitung von Mélenchon unterstützt.

Wir kritisieren daher die falsche Methode im Programm der NUPES scharf. Nein, es reicht bei weitem nicht aus, für die NUPES zu stimmen, damit die Reformen umgesetzt werden können. Im Gegenteil, die Arbeiter:innenklasse muss sich auf einen Gegenschlag einstellen, egal ob Macron oder NUPES die Oberhand gewinnen. Sie muss sich auf eine ernsthafte Konfrontation mit der französischen Bourgeoisie vorbereiten, wenn sie diese Klassenfeindin für die wirtschaftliche und ökologische Krise, die das kapitalistische System verursacht hat, bezahlen lassen will. Dies gilt umso mehr, als sich ein neuer globaler imperialistischer Krieg abzeichnet.

Wir kritisieren nachdrücklich die Unzulänglichkeiten des NUPES-Programms, insbesondere im Kampf gegen Rassismus und gegen die Stigmatisierung von Muslim:innen. Werden die NUPES-Abgeordneten das Verbot des Kopftuchs an Schulen aufheben? Wird NUPES die Grenzen für Migran:tinnen öffnen? Kein Wort davon in den 650 Erklärungen dieses Programms! Stattdessen liest man dubiose Versprechen wie „die Schaffung legaler und gesicherter Migrationsrouten“ oder sogar das, „die Polizei neu zu gründen, um das Recht auf Sicherheit zu garantieren“ und „dem Kauf französischer Militärausrüstung für die Armee Vorrang zu geben“.

Bei den kommenden Wahlen plädieren wir im ersten Wahlgang dafür, die NPA-Kandidat:innen dort zu wählen, wo sie aufgestellt worden sind, und die PCF-Kandidat:innen oder LO-Kandidat:innen anderswo kritisch zu unterstützen, da sie die aktivsten und klassenbewusstesten Sektoren der französischen Arbeiter:innenklasse vertreten. Im zweiten Wahlgang, in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Arbeiter:innenklasse mobilisieren wird, um Macron zu besiegen, unterstützen wir kritisch die Kandidat:innen der PCF und der PS im NUPES-Block.

Wir plädieren jedoch nachdrücklich dafür, dass die Arbeiter:innen dem Beispiel der Streikenden von 1936 folgen. Anstatt auf eine Regierung zu warten, die die Reformen des sozialistischen Führers Leon Blum umsetzt, streikten die Arbeiter:innen und besetzten die Fabriken. Das war es, was seiner Regierung wichtige soziale Reformen abtrotzte. Es folgten Wahlsiege und günstige Gesetze, was zeigt, dass schon die Androhung einer Revolution die stärkste Lokomotive für Reformen darstellt.




Frankreich nach Macrons Sieg: Kein Grund zur Klassenkollaboration!

Dave Stockton, Infomail 1190, 31. Mai 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen ist Emmanuel Macron für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurückgekehrt. Er besiegte Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 % und damit mit einem größeren Vorsprung als von vielen erwartet. Dennoch erzielte Le Pen mit mehr als 13 Millionen Stimmen ein Rekordergebnis für die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung), die frühere Front National (FN; Nationale Front).

Macrons Sieg wurde von den Regierungen in der gesamten Europäischen Union und darüber hinaus mit Erleichterung aufgenommen. Bis zu ihrer Imagekampagne sprach sich Le Pen für den „Frexit“, den Austritt Frankreichs aus der EU, aus, versprach aber dennoch, im Namen der französischen Souveränität einen unerbittlichen Kampf gegen die Brüsseler Behörden zu führen. Bis kurz vor dem Wahlkampf war sie, wie der ungarische Präsident Viktor Orbán, eine Bewunderin von Wladimir Putin. Doch der Einmarsch ihres Freundes in der Ukraine führte dazu, dass sie ein Wahlkampfflugblatt einstampfen musste, das sie lächelnd neben ihm zeigte. Sie an der Spitze der zweitgrößten Volkswirtschaft und stärksten Militärmacht der EU zu haben, hätte die EU massiv destabilisiert, vor allem in einer Zeit des Krieges in Europa.

Der Sieg von Emmanuel Macron war jedoch kein großer Triumph, obwohl Doppelamtszeiten in Frankreich eine Seltenheit sind. Dies spiegelte nicht nur einfach die Tatsache wider, dass Macron sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken als arroganter „Präsident der Reichen“ weithin verhasst ist, sondern auch die, dass zum zweiten Mal in Folge kein/e Kandidat:in der reformistischen Linken oder der gaullistischen Rechten in der zweiten Runde antrat – der Sozialistischen Partei und der Republikaner, Parteien, die die französische Politik seit den 1970er Jahren dominierten.

Entfremdung und Macrons Sieg

Ein Ausdruck der weit verbreiteten Entfremdung war eine ganze Reihe von Demonstrationen, die nach der ersten Runde in ganz Frankreich ausbrachen. Schüler:innen, Student:innen sowie Bahnarbeiter:innen im Norden von Paris prangerten „eine Wahl zwischen Pest und Cholera“ an. Außerdem hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidaten ihre/seine Stimme gegeben, und die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 %, dem niedrigsten Wert in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel ungültig gemacht oder leer abgegeben.

Le Pen konnte ihren Zuwachs im  Vergleich zu 2017 darauf zurückführen, dass sie sich auf soziale Themen konzentrierte, insbesondere auf die steigenden Lebenshaltungskosten für Erwerbstätige, und dass sie Themen mit sinkender Popularität wie Abtreibungsgegner:innenschaft, „Homo-Ehe“ und einen „Frexit“ aus der EU aufgab. Sie hat sogar ihre heftige Islamophobie etwas abgeschwächt, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen tatsächlich Franzosen und Französinnen sein können, aber an ihrer Forderung nach einem Verbot des Tragens des Hidschabs (Verschleierung) in der Öffentlichkeit und einem Referendum über härtere Einwanderungskontrollen festhielt.

Obwohl Le Pen und die RN nach keiner ernsthaften Definition des Begriffs Faschist:innen sind, wäre ein rassistische Populistin an der Spitze der ohnehin schon rassistischen französischen Polizei in der Tat eine Bedrohung für die 6,5 Millionen Einwander:innen oder Bürger:innen mit Migrationshintergrund in Frankreich (9,7 % der 67 Millionen Einwohner:innen) gewesen.

Der größte Erfolg Macrons besteht darin, dass er die traditionellen Parteien, sowohl die linken als auch die rechten, an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So erreichte Anne Hidalgo von der Sozialistischen Partei (PS) in der ersten Runde lächerliche 1,7 %, weniger als Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei (PCF) mit 2,28 %, während selbst die Vertreterin der gaullistischen Les Républicains (Die Republikaner:innen), Valerie Pécresse, nur 4,7 % erzielen konnte.

Dennoch hat sich Macrons eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Marsch), kaum eine solide Basis in der Bevölkerung geschaffen. Vielmehr handelt es sich um eine wurzellose Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen, die sowohl von rechten als auch von linken Parteien angezogen werden, um eine Präsidentschaft der Fünften Republik zu unterstützen, die unter Macron noch bonapartistischer wurde. Und da dies seine letzte Amtszeit ist, ist es fraglich, ob die Partei ihn überleben wird. Die französische Wahlpolitik ist, offen gesagt, von Grund auf instabil. Im Moment ist die Wirtschaft relativ solide verglichen mit vielen anderen in der EU, aber ein ernsthafter Absturz in die Rezession, ausgelöst durch Stagflation und Krieg, könnte, wie es in Frankreich immer möglich ist, zu großen Protesten führen, wie wir es bei den Nuit debout – Protesten gegen die „Reform“ des Arbeitsrechts im Jahr 2016 und den Gilets jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018 – 2019 gesehen haben.

Mélenchon und die Parlamentswahl

Der einzige verbliebene Verfechter der Linken in der Mainstream-Politik ist nun Jean-Luc Mélenchon, der mit 21,95 % der Stimmen im ersten Wahlgang nur um 420.000 Stimmen von Le Pen (mit 23 %) geschlagen wurde. Er hat sofort eine Kampagne für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni gestartet, mit dem Ziel, die Partei des Präsidenten zu überflügeln und Macron zu einer Cohabitation (Zusammengehen) mit ihm als Premierminister zu zwingen.

Viele derjenigen, die sich im zweiten Wahlgang der Stimme enthalten haben, schließen sich nun bei den Parlamentswahlen dem Block von Mélenchon an.

Dessen „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (NUPES) hat sich Anfang Mai nach dreiwöchigen Verhandlungen gegründet. Sie behauptet, die gesamte „Linke“ zu vereinen, zum ersten Mal seit der Wahl der „Gauche Plurielle“ (plurale Linke)-Regierung von Lionel Jospin (1997 – 2002). Ihr gehören nun die Grünen, die PCF und die SP an. Sogar die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) wurde eingeladen, ihr beizutreten, hat dies aber letztendlich abgelehnt.

Mélenchon versprach in seiner einstündigen Rede auf der Gründungsveranstaltung der NUPES einen „Bruch“ mit dem neoliberalen System, das „seit 40 Jahren den Planeten beherrscht, die Gesellschaften plündert, die Natur ausbeutet und die Menschen vernichtet“ – was er „Finanzkapitalismus“ nennt.  Aber natürlich geht es bei diesem „Bruch“ nicht um den Kapitalismus selbst, auch wenn er von einer Sechsten Republik spricht. Einige Linke haben behauptet, eine Regierung Mélenchons könne Reformen bringen, wie sie unter Léon Blum 1936 – 1938 durchgeführt wurden. Das ist jedoch nicht zu erwarten. Denn erstens handelt es sich bei den heute beteiligten Parteien um langjährige reformistische Arbeiterparteien (PCF, SP) oder kleinbürgerlich-populistische Formationen wie LFI (Unbeugsames Frankreich) oder EELV (Europäische Ökologie – die Grünen) und zweitens waren Blums Reformen vor allem aus der Angst vor einer Welle von Fabrikbesetzungen und Streiks heraus durchgeführt worden.

NPA

Die Einladung an die NPA, der NUPES beizutreten, war auf den ersten Blick ungewöhnlich, und ihre Führung nahm die Einladung Mélenchons zu Gesprächen gerne an. Der Gewinn von Sitzen in der Nationalversammlung war für eine Partei, die nur 0,77 % der Stimmen erhielt, verlockend. Doch der Einstieg in die NUPES erwies sich als zu großer Sprung. Die NPA hat sich zurückgezogen, weil sie die Anwesenheit der PS als Hauptproblem ansieht, die in ihrer Regierungszeit eine neoliberale Politik verfolgt hat. Ein Grund dafür ist, dass die LFI es versäumt hat, der NPA eine beträchtliche Anzahl von Sitzen anzubieten, auch für ihren Präsidentschaftskandidaten Philippe Poutou, obwohl er bereits bei den Wahlen in Bordeaux auf einer gemeinsamen Plattform mit der LFI kandidierte. Der entscheidende Grund war jedoch wahrscheinlich, dass fast die Hälfte des NPA-Nationalrats eine Kandidatur auf der NUPES-Liste strikt ablehnte. Der Beitritt zur NUPES hätte die NPA spalten können, die sich bereits in einer prekären Lage befindet, nachdem sie die großen Hoffnungen von vor etwa zehn Jahren, die antikapitalistischen Straßenbewegungen des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts zu repräsentieren, verschwendet hat.

Ob eine/r der Kandidat:innen der NUPES-Parteien ein kritisches Votum der Arbeiter:innenschaft verdient, wird sich bald zeigen. Mélenchon, der schon immer ein politisches Chamäleon war, wenn es um Parteien und Programme ging, könnte sich nach links wenden, um die Stimmen der Gewerkschaften zu gewinnen, wie er es bereits mit den Umweltschützer:innen und Feministinnen getan hat.

Aber die Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, die CFDT und die CGT, die selbst dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, einschließlich natürlich seiner „Reformen“, verheißt nichts Gutes für den Klassenkampf.

Sollte Mélenchon eine Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnen und sich Macron „aufdrängen“ können, würde die Kohabitation eine Art Koalition darstellen, gegen die Le Pen und andere rechte Kräfte dann die Rolle der eigentlichen Opposition spielen könnten. Macron würde mit dem Argument „nach mir die Sintflut“ bald die Oberhand gewinnen.

In der Tat steht die französische Arbeiter:innenklasse vor der Qual der Wahl: Klassenkampf oder Klassenkollaboration unter „republikanischem“ und „linkspopulistischem“ Deckmantel. Die Bürokratien der wichtigsten Gewerkschaftsverbände (CFDT und CGT) haben derweil ihre Entscheidung  getroffen. Sie haben bereits zugestimmt, mit dem „Präsidenten der Reichen“ politisch zu verhandeln. Zweifellos sehen sie es als großen Fortschritt an, dass ein vermeintlich „gedemütigter“ Macron im Gegensatz zu 2017 nun mit ihnen über seine neoliberalen Reformen verhandeln muss. So billig sind diese Damen und  Herren zu kaufen!

Die einzige Möglichkeit, die Wahl zwischen Le Pens Pest oder Macrons Cholera zu bekämpfen, besteht darin, den Weg der Massenmobilisierung auf den Straßen, der Massenstreiks in den Betrieben und der Besetzungen in den Bildungseinrichtungen, des Widerstands gegen die Polizei in den Vororten zu eröffnen. Schließlich ist Frankreich eines der wenigen Länder in Europa, in dem soziale Bewegungen keine Seltenheit darstellen.

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten RN aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antikriegerischen und antirassistischen Kämpfer:innen gestellt haben. Sie haben die Nationale Front und die faschistischen Schläger:innen in der Vergangenheit abgewehrt und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über Le Pens Wahlversagen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung aus dem Kleinbürger:innentum, das durch die verschärfende Wirtschaftskrise ruiniert ist, hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken von den ersten Tagen der neuen Präsidentschaft an an die Spitze des Widerstands gegen Macrons Reformen stellen, unabhängig davon, ob Jean-Luc Mélenchon sein Premierminister wird oder nicht.




Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Frankreich

Dave Stockton, Neue Internationale 264, Mai 2024

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen am 24. April kehrte Emmanuel Macron, ein arroganter neoliberaler „Reformer“, für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurück. Er schlug die altgediente rassistische Populistin Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 %, ein größerer Vorsprung, als viele erwartet hatten.

Allerdings hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidat:innen seine/ihre Stimme gegeben. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 % und war damit die niedrigste in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel leer abgegeben oder sonst wie ungültig gemacht.

Ergebnis von Le Pen

Dennoch hat Le Pen mehr als 13 Millionen Stimmen erhalten, ein Rekord für die Rassemblement National (Nationale Sammlung, RN), die frühere Front National (Nationale Front, FN). Die RN ist sicherlich eine üble reaktionäre Kraft, die Maßnahmen zur Diskriminierung der französischen Bürger:innen kolonialer Herkunft und zum Schikanieren der Jugend in den Banlieue-Vorstädten ergreifen würde, aber sie ist keine faschistische Bewegung.

Le Pens Stimmenzuwachs ist zum Teil auf ihre „Entdämonisierung“ zurückzuführen, die sie erreicht hat, indem sie soziale Fragen wie die steigenden Lebenshaltungskosten für die einfachen Leute in den Vordergrund gestellt und Themen wie Abtreibungsverbot und „Frexit“ aus der EU aufgegeben hat. Sie milderte auch ihre heftige Islamophobie etwas ab, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen Französ:innen sein können, aber ihre Forderung nach einem Verbot des Tragens der Hidschab-Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit und Referendum über strengere Einwanderungskontrollen  aufrechterhielt.

Massenenthaltung

Ein Grund für die rekordverdächtige Enthaltung ist die Tatsache, dass Macron sowohl die traditionellen Parteien der Linken als auch der Rechten an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So sind die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei in der ersten Runde auf einstellige Zahlen geschrumpft, und auf der rechten Seite sind auch die Gaullist:innen nicht mehr vertreten. Seine eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Vormarsch), ist eine in den Massen wenig verankerte Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen von rechts und links, die gut geeignet ist, die Basis für eine bonapartistische Präsidentschaft zu bilden.

Der Champion der Linken ist nun Jean-Luc Mélenchon, der in der ersten Runde nur knapp von Le Pen geschlagen wurde. Er stellt sich nun so dar, als hätte er eine reale Chance, die Partei des Präsidenten bei den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni zu besiegen und sogar Premierminister zu werden und Macron in ein „Zusammengehen“ zu zwingen.

Die hohe Zahl der Stimmenthaltungen und ungültigen Stimmen spiegelt nicht nur die Tatsache wider, dass Macron weithin verabscheut wird, sondern auch, dass es keine/n Kandidat:in der reformistischen Linken gab, für die/den man stimmen konnte, und Mélenchon sich weigerte, zur Wahl Macrons aufzurufen, um Le Pen zu stoppen. Die weit verbreitete Entfremdung verdeutlichte sich nach der ersten Runde in einer Reihe von Demonstrationen, die in ganz Frankreich ausbrachen und bei denen Universitätsstudent:innen, Oberschüler:innen sowie Eisenbahner:innen die Wahl zwischen „Pest und Cholera“ anprangerten.

Linke

Die französischen Linken, die früher für die PS oder die kommunistische PCF gestimmt haben, unterstützen nun Mélenchons linkspopulistische Union Populaire und gaben ihm im ersten Wahlgang 22 Prozent, was etwa 7,7 Millionen Stimmen entspricht. Mélenchon forderte seine Wähler:innen auf, auf keinen Fall für Le Pen zu stimmen, lehnte es aber auch ab, sich für Macron zu erklären.

Diejenigen, die dafür plädierten, ungültig zu wählen, hatten Recht. Keine/r der beiden bürgerlichen Kandidat:innen hat auch nur eine einzige Stimme von der Arbeiter:innenklasse, der Jugend an den weiterführenden Schulen und in den Banlieues verdient. In der Tat werden Letztere derzeit weit mehr von Macrons Polizei schikaniert als von der extremen Rechten. Die Vorstellung, dass Macron dem Aufstieg des Faschismus im Wege steht, war der übliche zynische Trick, um die Wähler:innen in Panik zu versetzen, ihn als das kleinere Übel zu wählen.

Die Tatsache, dass die Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue Antikapistalistische Partei, NPA) darauf hereingefallen ist, zeigt, wie weit sie sich von einer unabhängigen Klassenpolitik entfernt hat. Auch die Tatsache, dass sie nun bei den Parlamentswahlen um einen Platz in Mélenchons Union Populaire buhlt – auf einer Plattform mit einem Potpourri aus volksfrontistischem „Republikanismus“ – könnte ihren Tod bedeuten, wo sie doch vor etwa zehn Jahren noch als Durchbruch für die extreme Linke galt.

In der Tat sind die Wirtschaftspolitik und die soziale Zerstörung, die Macron betrieben hat und die durch seine zweite Amtszeit drohen, ein wesentlicher Teil dessen, was den Aufstieg der rassistischen Rechten, Zemmour und auch Le Pen, angeheizt hat und weiterhin anheizen wird. Dabei ist Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, CFDT und CGT, nachdem sie dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, was natürlich auch seine „Reformen“ einschließt.

Widerstand

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten extremen Rechten aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend an den Unis, den Gymnasien und in den Banlieues, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antimilitaristischen und antirassistischen Kämpfer:innen ausmachten und in der Vergangenheit die FN-Schläger:innen abwehren konnten. Und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über die Misserfolge von Le Pen und Zemmour bei den Wahlen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung des Lumpenproletariats unter den Bedingungen einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken vom ersten Tag der neuen Präsidentschaft an an die Spitze dieses Widerstands stellen und sich nicht auf das Hirngespinst von Jena Luc-Mélenchon als Macrons Premierminister konzentrieren.




Frankreichs Präsidentschaftswahlen: Nein zum Rassismus! Nein zum Imperialismus! Bereitet den Kampf vor!

Marc Lassalle, Neue Internationale 263, April 2022

Der Sieger der Präsidentschaftswahlen in Frankreich steht faktisch fest. Auch wenn Macron nach dem ersten Wahlgang am 10. April in die Stichwahl am 24. April gehen wird müssen, so wäre alles andere als eine Sieg des Amtsinhabers ein politisches Wunder.

Das sah nicht immer während der fünf Jahre der Präsidentschaft von Emmanuel Macron so aus, die selbst in zwei unterschiedliche Phasen zerfällt: zwei Jahre neoliberaler Angriffe (Kürzungen bei Renten, Arbeitslosenunterstützung, an Universitäten, in der Sekundarbildung usw.), gefolgt von zwei Jahren, die von der COVID-Pandemie geprägt wurden. In den letzten zwei Jahren hat die Politik des „Whatever it takes“ die Wirtschaft von den großen Unternehmen bis hin zu den kleinen Betrieben gestützt: Infolgedessen ist die Staatsverschuldung auf 115 % des BIP gestiegen (2019 waren es 97 %), aber das System wurde über Wasser gehalten.

Im Vergleich zu früheren Präsidentschaften ging keine größere soziale Bewegung auf die Straße, mit Ausnahme der „Gelbwesten“ im Jahr 2018 und in geringerem Maße des Protests gegen den Gesundheitspass und der Impfgegner:innen. In beiden Bewegungen hat das Kleinbürger:innentum die Führung über die Arbeiter:innenklasse übernommen, teilweise und vor allem bei der No-Vax-Bewegung mit einer ausgesprochen reaktionären Schlagseite.

Die entscheidende Frage für die Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften und die Linke wird daher lauten: Wie können wir den Angriffen in der zweiten Präsidentschaftsperiode Macrons wirksam entgegentreten, die darauf zielen, der Arbeiter:innenklasse die Kosten der Schulden, der Krise und des (Wirtschafts-)Krieges aufzuzwingen? Wie können wir eine soziale und politische Bewegung aufbauen? Wie können wir verhindern, dass der Unmut in der Bevölkerung nicht noch mehr von rechtspopulistischen, rassistischen und gar faschistischen Kräften zu einer kleinbürgerlich-reaktionären Pseudoopposition formiert wird? Wie kann der weitere Niedergang der Arbeiter:innenbewegung gestoppt und umgekehrt werden angesichts der zunehmenden Dominanz kleinbürgerlicher Kräfte bei sozialen und politischen Protesten? Und wie kann angesichts des Ukrainekrieges und der verschärften Blockkonfrontation der Kampf gegen den französischen Imperialismus und seine Verbündeten aufgenommen werden?

Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, müssen wir die Frage beantworten, warum sich Macron eigentlich behaupten konnte? Warum die französische Bourgeoisie und fast das gesamte politische Establishment in der aktuellen Situation auf ihn und seine Präsidialpartei als den zuverlässigsten Sachwalter ihrer Klasseninteressen setzen? Sicherlich spielt ihm unmittelbar der Krieg um die Ukraine dabei hin die Hände. Angesichts der Kriegsgefahr und der patriotischen Mobilisierung, der Beschwörung „westlicher“ und nationaler Einheit wird fast automatisch der Ruf nach einem „starken“ Präsidenten laut.

Krise des traditionellen Parteiensystems

Dass die anderen Kandidat:innen dafür nicht geeignet erscheinen, deren Parteien in schweren Krisen stecken oder nur eine Fraktion der herrschenden Klasse, des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten repräsentieren, wird durch den Krieg nur noch sichtbarer. Die Ursachen dafür liegen jedoch schon Jahre zurück.

Macrons Wahlsieg vor fünf Jahren und die Bildung seiner Wahlpartei „La République en Marche!“ markierten auch das Ende der über Jahrzehnte von den bürgerlichen Rechten und der Sozialdemokratie geprägten Lagerbildung. Natürlich hatte dieses System auch schon davor durch den Aufstieg des FN oder Brüche in den Lagern (z. B. die Dauerkrise der Sozialistischen Partei) schwere Risse erhalten. Doch Macron brachte es faktisch zum Einsturz.

Kein Wunder also, dass die Kandidatinnen der Sozialistischen Partei, Anne Hidalgo, und Les Républicains (Die Republikaner; LR), der Partei des traditionellen bürgerlichen Lagers, Valérie Pécresse, im Wahlkampf nur eine Nebenrolle spielen.

Der Grund dafür ist einfach: Macron zieht weiterhin viele ehemalige Wähler:innen der Sozialistischen Partei und von Les Républicains an und erscheint als der „glaubwürdigste“ Kandidat, um das System aufrechtzuerhalten. Und zweifellos ist er das aus Sicht der Bourgeoisie auch. Während der Pandemie und jetzt im russisch-ukrainischen Krieg erscheint er als der beste Steuermann, um die Interessen des französischen Imperialismus zu schützen. Seine Regierung, die sich aus Ex-PS- und Ex-LR-Führungspersönlichkeiten zusammensetzt, ist repräsentativ für diese weit verbreitete Meinung und integriert faktisch große Teile der ehemaligen Gefolgschaft der Konservativen und der Sozialistischen Partei. Für viele sozialistische Sympathisant:innen ist er im Vergleich zur radikalen Rechten das geringere Übel. Das geht so weit, dass Anne Hidalgo, die Präsidentschaftskandidatin der PS, mit 3 % in den Umfragen hinter dem Kandidaten der Kommunistischen Partei (4 %) liegt. Am ehesten erscheint noch der linke Populist Jean-Luc Mélenchon, der mit einer Mischung aus sozialen Versprechen und Sozialchauvinismus auf Stimmenfang geht, als Alternative zu Macron. Auch der gemäßigtere Teil der Rechten unterstützt Macron, während ein Teil sich zur extremen Rechten hingezogen fühlt. Dies erklärt, warum Valérie Pécresse in den Umfragen sowohl hinter Macron als auch hinter der extremen Rechten steht.

Rechte Gefahr

Kein Wunder also, dass die Kandidatin des Rassemblement National (RN), Marine Le Pen, in den Umfragen als aussichtsreichste Herausforderin von Macron wirkt. Die Erbin des Front National, der völlig reaktionären Schöpfung von Jean-Marie Le Pen, versucht sich ein „weicheres“ Image zu geben als in früheren Kampagnen. Während ihr Vater, ein ehemaliger Armeeoffizier während des Algerienkriegs, von Zeit zu Zeit antisemitische Provokationen von sich gab, hat sich seine Tochter strikt auf Rassismus und Islamophobie konzentriert. Sie versucht, „gemäßigtere“ bürgerliche oder auch rückständige proletarische Wähler:innen anzusprechen, indem sie die Töne abmildert (z. B. in Bezug auf Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe), dabei aber denselben rassistischen Inhalt beibehält. Selbst in wirtschaftlichen Fragen ist das Versprechen, aus der Eurozone auszutreten, verschwunden.

Éric Zemmour, seit langem Journalist bei Le Figaro (konservative, wirtschaftsliberale Zeitung) und ein beliebter Gast in Talkshows, ist der Überraschungskandidat dieser Wahl, auch wenn in letzter Zeit seine Umfragewerte sinken. Stark unterstützt von Vincent Bolloré, einem Medienmagnaten, dem mehrere Fernsehsender gehören, hat Zemmour eine sehr aggressive Kampagne gestartet, die auf dem obsessiven Anpreisen einer nationalistischen und fremdenfeindlichen Ideologie beruht. Sein wichtigstes Wahlkampfthema ist die drohende Gefahr des „großen Austauschs“, dem zufolge die echten Französ:innen durch Migrant:innen, hauptsächlich islamischer Religion, ersetzt werden, die fremde Werte ins Land bringen. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Terrorismus, wirtschaftlicher und politischer Niedergang Frankreichs werden ihnen in die Schuhe geschoben. Während diese völkische „Theorie“ bis vor kurzem das Markenzeichen einer winzigen faschistischen Minderheit war, hat sie sich schnell zu einem weit verbreiteten politischen Konzept entwickelt, das sogar die traditionelle Rechtspartei LR beeinflusst. Obwohl der ideologische Abstand zwischen Le Pen und Zemmour gering ist, verfolgen sie unterschiedliche Strategien. Marine Le Pen versucht, rückständige Schichten der Arbeiter:innenklasse anzusprechen. So versprach sie am Beginn des Wahlkampfs, die Rentenansprüche mit 60 Jahren wiederherzustellen. Sie verspricht eine Lohnerhöhung, eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie und einen umfassenden Plan für das Krankenhaus. Der Kern ihres Programms hat sich jedoch nicht verändert: „Stopp der unkontrollierten Einwanderung“, „Ausrottung der islamischen Ideologie“, „Sicherheit überall und für alle“ sind die ersten und wichtigsten Maßnahmen darin.

Zemmour appelliert hingegen an andere reaktionäre Schichten. Er wird stark vom fundamentalistischen Katholizismus (einschließlich Opus Dei und der Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe), offen faschistischen und identitätspolitischen Gruppen unterstützt. Er hält Verbindungen zum eher rechtsgerichteten Sektor von LR und wird von mehreren führenden Persönlichkeiten des RN unterstützt. Er hofft, diese Kräfte in einer neuen Partei zu bündeln, falls Marine Le Pen nicht gewählt wird.

Sowohl Le Pen als auch Zemmour leiden im Moment unter dem Krieg in der Ukraine. Beide bewundern Putin als starken Führer, Autokraten und für seine Verteidigung der westlichen Zivilisation. Marine Le Pen hat bei einer früheren Wahl von russischen Geldern profitiert. In den letzten Tagen musste sie 1,2 Millionen Flugblätter mit einem Bild von ihr beim Händeschütteln mit Putin verwerfen. Zemmour versicherte ein paar Tage vor der Invasion in die Ukraine, dass Russland niemals einmarschieren werde. Auch wenn das Macron in die Hände spielt und seine Wiederwahl erleichtert, so werden seine Präsidentschaft und die kommenden Angriffe jedoch weiter einen fruchtbaren Boden für rechte Demagogie, Hetze und deren Erstarken als angeblich Systemopposition bieten.

Die „Linke“ und die Arbeiter:innenklasse

Dass der Sieg Macrons feststeht und er sich wohl auch bei den Parlamentswahlen im Juni einer satten parlamentarischen Mehrheit erfreuen wird können – sei es durch die Deputierten seine Partei, sei es durch die Einbindung der bürgerlichen „Mitte“ von Konservativen, Sozialdemokratie und Grünen – und die Rechte als einzige „Opposition“ zu erscheinen vermag, liegt jedoch nicht an der inneren Stärke Macrons und seiner Bewegung, sondern vor allem auch an der historischen politischen Schwäche der Arbeiter:innenklasse.

Natürlich fanden auch den letzten Jahren wichtige Kämpfe statt, so vor allem unter den Krankenhausbeschäftigten und den Lehrer:innen wegen der chaotischen, widersprüchlichen und mangelhaften Gesundheitsmaßnahmen, eine starke, aber kurzlebige Serie von antirassistischen Demonstrationen zur Zeit der Black Lives Matter und in jüngster Zeit eine Reihe von Arbeitskämpfen um Löhne. Letztere dauern in einer beeindruckenden Anzahl von Unternehmen noch an: RATP (Pariser Busse und Straßenbahnen), Lustucru (Lebensmittel), Alstom (Züge), Dassault (Kampfflugzeuge), BioMérieux (Pharmazeutika).

Die steigenden Lebenshaltungskosten vor dem Hintergrund einer zunehmenden Inflation und die Tatsache, dass die Löhne seit Jahrzehnten auf einem niedrigen Niveau festgeschrieben sind, erklären leicht die Welle der Kämpfe, während gleichzeitig die Gewinne der großen französischen Unternehmen Rekordhöhen erreichen. Einige Streiks sind erfolgreich und in anderen Sektoren sind die Bosse zu Lohnerhöhungen bereit, aber die wichtigsten Gewerkschaften waren bisher nicht in der Lage oder nicht willens, eine landesweite Kampagne zu dieser Frage zu starten. Während Lohnerhöhungen und die Umwelt an erster Stelle der Themen von allgemeinem Interesse stehen, wird die politische Szene seit Monaten von den rechtsextremen Parteien und ihrer rassistischen Propaganda gegen die Einwanderung beherrscht.

Das liegt vor allem daran, dass die Arbeiter:innenbewegung selbst nicht als politischer Faktor, als führende Kraft auf nationaler Ebene in Erscheinung tritt. Die PS befindet sich in einer wohlverdienten Todeskrise. Die KP dümpelt seit Jahren vor sich hin und ordnete sich faktisch Mélenchon unter. Dessen immer offenere Wende weg von einer reformistischen bürgerlichen Arbeiter:innenpolitik zum Linkspopulismus führte zwar zum Bruch mit der KP (PCF), deren Politik wurde freilich dadurch nicht besser.

Der Spitzenkandidat der Linken ist Jean-Luc Mélenchon mit einer neuen Bewegung namens Union Populaire. Trotz des Namens vereint die „Union“ nur ihn und seine Freund:innen. Das bisherige Wahlbündnis Front de Gauche mit PCF und anderen Kräften ist unrühmlich untergegangen.

Sein Programm ist ein sozialchauvinistisches, proimperialistisches Manifest. Nebeneinander stehen fortschrittliche Reformen und eine starke Restauration des französischen Imperialismus, der angeblich durch EU und NATO behindert werde. Auf der einen Seite: Erhöhung des Mindestlohns, Senkung des Rentenalters, Besteuerung der Reichen, ökologische Planung. Auf der anderen Seite kann man in seinem Programm lesen: „Lasst uns eine große Nation sein“, „Industrielle und gesundheitliche Souveränität“, „Für ein unabhängiges Frankreich“, „Frankreich ist eine Seemacht, die sich selbst ignoriert“ – eine Anspielung auf seine Überseegebiete, in Wirklichkeit Kolonialbesitz. Und weiter: „Seine Wirtschaft, seine militärische Souveränität, seine Geographie und vor allem seine wissenschaftliche und kulturelle Ausstrahlung machen Frankreich zu einer Weltmacht“. „Wir müssen den Wettlauf mit den Weltraumwaffen bekämpfen und gleichzeitig die Souveränität Frankreichs sicherstellen.“

Verschwunden sind zugleich alle Verweise auf die Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen, eine Transformation des Systems. Mélenchon verspricht, ein neuer linker Bonaparte zu sein, der über eine unbestimmte Masse von „Menschen“ regiert.

Auch wenn er in den Umfragen der weitaus bestplatzierte „linke“ Kandidat ist, so ist er keiner, der sich auf die organisierte Arbeiter:innenbewegung stützt. Seine Mutation zum Populismus, zu einer angeblich klassenübergreifenden „Volks“-Politik und sein immer offenerer Nationalismus und Sozialchauvinismus verdeutlichen die politische und ideologische Krise der Arbeiter:innenklasse und der Linken, wie sie in den Wahlumfragen zum Ausdruck kommt.

Radikale Linke

Nach 5 Jahren Macron hat sich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zuungunsten der Arbeiter:innenklasse, rassistisch Unterdrückten, der sozialen Bewegungen und der Linken verschoben. Das betrifft auch die  „radikale“ Linke.

Drei verschiedene Strömungen versuchten, mit einer/m Kandidat:in bei den Wahlen anzutreten. Zwei schafften es: Natalie Arthaud von Lutte Ouvrière und Philippe Poutou von der NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste). Anasse Kazib von Révolution Permanente scheiterte klar an der undemokratischen Hürde für die Teilnahme an den Wahlen, die darin besteht, mindestens 500 Unterstützungsunterschriften von Bürgermeister:innen zu erlangen.

Es ist leicht abzusehen, dass der nächste Präsident die Arbeiter:innenklasse angreifen wird. Frankreich verliert auf wirtschaftlicher und vor allem industrieller Ebene gegenüber Deutschland, aber auch Italien an Boden. Seine Staatsverschuldung ist hoch, seine Handelsbilanz stark im Minus. Die einzige Möglichkeit, seinen Status als mittelgroße imperialistische Macht zu behalten, besteht darin, die Schuldenlast auf die Schultern der Lohnabhängigen abzuwälzen, mit Angriffen auf Renten, Schulen, Krankenhäuser, Löhne usw. Die kommenden wirtschaftlichen Turbulenzen und der Anstieg der Energiekosten werden noch schärfere Angriffe erfordern.

Im Grunde erkennen das Arthaud wie auch Poutou (und Kabiz) an. So heißt es bei Nathalie Arthaud: „Ich trete nicht an, um Wahlversprechen zu machen, sondern um einen Kampfplan vorzulegen und die entscheidenden Forderungen für den Kampf von morgen zu popularisieren.“

Leider gibt es im Programm von Lutte Ouvrière, ganz ähnlich wie bei den früheren LO-Kampagnen, nichts, was einem Kampfplan ähnelt. Vielmehr handelt es sich um eine hölzerne Auflistung grundlegender marxistischer Lehren, die an sich absolut richtig sind, aber nicht ausreichen, um die Massen zu mobilisieren und einen Weg für ihre Kämpfe aufzuzeigen. Stattdessen verschiebt LO dies in die Zukunft: „Ja, die Zukunft hängt von der nächsten Revolution der Arbeiter:innen ab, ihrer Fähigkeit, den Kapitalismus zu stürzen, ihn zu enteignen und die Macht zu übernehmen.“ In der Zwischenzeit kann man nichts anderes tun, als LO zu wählen und sich in ihre Reihen einzureihen.

Doch auch das Programm von Poutou geht nur sehr bedingt darüber hinaus. Es erhebt eine Reihe durchaus richtiger sozialer und politischer Forderungen, um die die Klasse mobilisiert werden soll – aber ihre Verbindung zur aktuellen Lage, zur gegenwärtigen Situation fehlt. Das Programm liest sich so, als hätte es auch vor fünf oder zehn Jahren vorgelegt werden können.

Das Programm von Kazib formuliert zwar viele Punkte in einer deutlicheren Sprache, es leidet aber ebenso wie jenes von Poutou und Arthaud an einer entscheidenden Schwäche: Es umschifft die Frage, wie die Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften überhaupt aus der aktuellen Defensive herauskommen können – sprich der Einheitsfront gegen die Angriffe. Forderungen an die aktuellen gewerkschaftlichen Führungen der Klasse fehlen fast vollständig.

Dies hängt mit einem zweiten Problem der „radikalen Linken“ zusammen. Die Verschlechterung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, das sich auch darin ausdrückt, dass sämtliche Kandidat:innen, die sich auch nur im weiteren Sinn auf die Arbeiter:innenklasse stützen (also auch jene von KP und PS) sowie die radikale Linke zusammen unter 10 % liegen, wird nicht angesprochen, ja eigentlich beschönigt. Das zeigt sich einerseits darin, dass eine Analyse des Klassencharakters der Gelbwesten fehlt. Diese Bewegung wird vielmehr als reiner Hoffnungsschimmer präsentiert. Dabei spiegeln der Populismus wie auch die elektorale Stärke der Rechten bei deren Anhänger:innen den kleinbürgerlichen Charakter dieser Bewegung wider. Noch deutlicher wird dieser bei der direkt reaktionären Bewegung der Impfgegner:innen.

Während über Jahre die Gewerkschaften viele soziale Bewegungen in Frankreich prägten, so ist dies heute nicht mehr der Fall. Die Arbeiter:innenklasse hat als soziale Kraft dem Kleinbürger:innentum und damit zahlreichen reaktionären, klassenübergreifenden politischen Konzepten das Feld überlassen.

Daher ist ein klarer Bruch mit dieser Anpassung an den Populismus notwendig – nicht nur hinsichtlich Mélenchons, sondern auch hinsichtlich des Bewegungspopulismus. Ansonsten steht der Kampf gegen die rechte Gefahr und deren Einfluss auf tönernen Füßen.

Schließlich hat auch der Einmarsch Russlands in die Ukraine in Frankreich eine gewaltige Welle imperialistischer Propaganda ausgelöst, auch weil das Land und Macron eine besondere Rolle innerhalb der EU (es ist die einzige Atommacht in der EU) und in den diplomatischen Beziehungen zu Putin spielen.

Lutte Ouvrière verurteilt richtigerweise die Rolle der NATO in der Region wie auch jene Frankreichs. Sie lehnt jedes Bündnis mit Macron ab. Weit weniger klar ist die NPA. Auch wenn sie NATO und Imperialismus ablehnt, so betrachtet sie den Kampf um die Ukraine nicht in erster Linie als einen um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten.

Die NPA folgt hier der Erklärung der Vierten Internationale (ehemaliges Vereinigtes Sekretariat) und verliert kein Wort über die Rolle der extremen Rechten in der Ukraine, über die Rolle, die Selenskyj und seine Regierung im Dienste der NATO spielen, über die großen Oligarchen, die hinter ihm stehen, oder über die reaktionäre Politik gegen den Donbass und die Russophonen. Die NPA geht sogar so weit, die Sanktionen zu unterstützen. „Die gegen Putin verhängten Sanktionen werden wahrscheinlich wenig Wirkung zeigen. Aber wir haben keinen Grund, uns dagegen zu wehren, solange sie nicht zu einer Waffe gegen das russische Volk werden.“

Diese Position ist gleich in mehrfacher Hinsicht falsch und gefährlich. Erstens müssen die  Sanktionen, die nicht auch zur Waffe gegen russische Volk werden, noch erfunden werden. Zweitens treffen die verhängten Sanktionen natürlich die russische Wirtschaft und drittens spitzen sie die Blockkonfrontation dramatisch zu. Diese Schwäche der NPA, gegen den eigenen Imperialismus offen Position zu beziehen, muss von ihrem linken Flügel und von all jenen, die Hoffnungen in die durchaus lebendige und, für die Größe der NPA, mobilisierende Kampagne von Poutou hegen, offen kritisiert werden.

Im Vorwahl- und Wahlkampf war die NPA bzw. ihr Kandidat in der Lage, nicht nur in Großstädten, sondern landesweit recht große Versammlungen abzuhalten und in mittelgroßen Städten auch regelmäßig hunderte Menschen zu mobilisieren. Natürlich wird das am Ergebnis insgesamt wenig ändern, aber anders als Arthaud repräsentiert Poutou Teile der sozialen Bewegungen und Kämpfe der letzten Jahre. Daher rufen wir zu seiner Wahl auf, ohne die Kritik an seinem Programm, das zwischen revolutionären und reformistischen Positionen schwankt, zu verheimlichen.

Die entscheidende Frage ist allerdings, wozu Poutou (und auch Arthaud) ihre Wähler:innen über die Wahlen hinaus mobilisieren. Die Versammlungen und Agitation müssen zum Aufbau einer Bewegung gegen die zukünftige Macron-Regierung, den französischen Imperialismus, die laufenden und kommenden sozialen Angriffe, den staatlichen Rassismus und die rechten Bewegungen genutzt werden. Dazu brauchen die NPA und die gesamte radikale Linke nicht nur ein konkretes, zugespitztes Aktionsprogramm. Sie sollten zugleich jetzt die Initiative ergreifen, auf lokaler Ebene, in den Betrieben, an Schulen und Unis Versammlungen zur Organisierung von Aktionsausschüssen gegen die drohenden Angriffe, den Krieg, rassistische Attacken aufzurufen, und dies von den Gewerkschaften und allen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung einfordern.

Zweitens verdeutlichen die Wahlen auch, dass es für die getrennte Kandidatur von Poutou und Arthaud (und auch für den Antritt von Kabiz) auf unterschiedlichen zentristischen Programmen eigentlich keine politische Rechtfertigung gibt. Sie mögen in einzelnen Punkten radikaler oder angepasster sein. Im Grunde fehlt jedoch allen ein Verständnis des aktuellen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und eine korrekte Anwendung einer Einheitsfrontpolitik gegenüber den Gewerkschaften und Massenbewegungen.

Daher müsste die NPA ihren Wahlkampf auch nutzen, um alle Kräfte zusammenzuführen, die die Notwendigkeit einer revolutionären politischen Alternative zum Linkspopulismus und Reformismus der PS und KP proklamieren, um offen über die Grundlagen einer größeren, revolutionären Partei und einen Plan zum Aufbau eine Bewegung gegen die Regierung zu diskutieren.




Frankreich: LehrerInnenstreik gegen die desorganisierende Schulpolitik der Regierung

Marc Lassalle, Infomail 1176, 18. Januar 2022

Weniger als hundert Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 10. April haben die französischen LehrerInnen massiv, entschlossen und sehr kämpferisch gestreikt. Am 13. Januar fanden mit Unterstützung von zehn Gewerkschaften mehr als 136 Demonstrationen statt, bei denen etwa 80 000 Lehrkräfte auf die Straße gingen und die meisten Schulen geschlossen blieben.

Auch die Zahlen der Streikbeteiligung sind historisch: rund 75 Prozent des Lehrpersonals an den Grundschulen und 62 Prozent an den weiterführenden Schulen – so viel wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die LehrerInnen haben gestreikt und sind auf die Straße gegangen, um ihre tiefe Wut über die absurden Maßnahmen der Regierung zum Ausdruck zu bringen. Angesichts der in den letzten Tagen sprunghaft angestiegenen Zahlen der Epidemie – etwa 300.000 neue Fälle pro Tag – hat die Regierung beschlossen, die Schulen so weit wie möglich offen zu halten. Ironischer Weise verfolgen die LehrerInnen, die Gewerkschaften und die Elternorganisationen das gleiche Ziel wie die Regierung: Sie wollen die Schulen ebenfalls offen halten, aber nicht auf die gleiche Weise und nicht zu den gleichen Bedingungen!

Bürokratische, chaotisch, gefährlich

Innerhalb von weniger als einer Woche änderte die  Regierung ihre angekündigten Gesundheitsvorschriften dreimal (seit dem Start von Covid insgesamt 19 Mal), wobei die erste Änderung genau am Vorabend der Wiedereröffnung der Schulen nach den Weihnachtsferien veröffentlicht wurde. Zunächst wurden die Eltern verpflichtet, ihre Kinder dreimal zu testen, wenn sie mit einer infizierten Person in Kontakt gekommen waren. Der Unterricht wurde ohne Vorwarnung geschlossen, die Testergebnisse mussten überprüft, die Eltern kontaktiert werden. Viele LehrerInnen waren selbst krank. Eltern und Kinder standen bei kaltem Wetter stundenlang Schlange, um die Tests in Apotheken durchführen zu lassen: Das Gefühl eines absurd kafkaesken Systems, das von einer unfähigen Bürokratie (des)organisiert wurde, verbreitete sich noch schneller als das Virus und löste den Streik auf der Ebene der Beschäftigten aus.

Ein Lehrer erzählt: „In meiner Klasse wurden in einer Woche elf von 25 Kindern positiv getestet. Trotzdem bleibt die Klasse offen. Ich muss mit den Abwesenheiten der SchülerInnen, ihrer schrittweisen Rückkehr, mit MEINEN Masken, MEINEM Laptop, MEINEM Internetanschluss und meinem erschreckend niedrigen Lohn jonglieren.“

Ein anderer berichtet: „Nach zwei Jahren der Epidemie haben wir gerade erst durchsichtige Masken erhalten, die das Lippenlesen für die ersten Klassen ermöglichen, was wir vor mehr als einem Jahr beantragt haben. Wir haben hier keine/n SchulpsychologIn oder Schularzt/ärztin mehr, wir haben keine chirurgischen Masken. In meiner Schule können wir Masken nur dank der Spenden der Eltern kaufen!“

Diese Situation ist natürlich nicht auf die Schulen beschränkt, auch wenn die Spannungen dort am größten sind. Seit Beginn der Epidemie hat die Regierung alle Entscheidungen im Rahmen von „Verteidigungsräten“ mit einer Handvoll hochrangiger MinisterInnen von oben nach unten getroffen. Einmal hat sich Präsident Macron über die Ratschläge der medizinischen ExpertInnen einfach hinweggesetzt und eigenmächtig entschieden, umgeben von einem kleinen Kreis von Ja-SagerInnen, die ihn als „ersten Epidemiologen Frankreichs“ rühmten.

Die Situation ist sicherlich schwierig, denn es stellt sich die Frage, ob eine Klasse beim ersten Covid-Fall geschlossen werden sollte und welche Art von Tests für die Wiederaufnahme einer/s SchülerIn erforderlich sind. Die Gewerkschaften, die Lehrerinnen und die Eltern vertreten nicht unbedingt dieselben Positionen. Sie teilen jedoch zwei grundlegende Forderungen, und das gab dem Streik seine Stärke.

Forderungen

Erstens: Die Regierung darf nicht einfach von oben herab Gesundheitsvorschriften erlassen, ohne die praktischen Bedingungen vor Ort und die Meinungen der Betroffenen zu berücksichtigen. Zweitens darf sich die Debatte nicht auf die Frage „Testen oder Schließen der Klasse“ beschränken. Die Regierung kann keine Regeln aufstellen, ohne den Beschäftigten im Bildungswesen und den Eltern die Mittel an die Hand zu geben, um die Schulen unter guten und sicheren Bedingungen offen zu halten. Die Streikenden fordern FFP2-Hochfiltermasken, die Messung des CO2-Gehalts in den Schulen und Belüftungssysteme zur Luftauffrischung. Außerdem wollen sie die Einstellung von Vertretungen als Ersatz für die krankheitsbedingt ausfallenden LehrerInnen sowie von anderen Hilfskräften in den Schulen erreichen.

Die Regierung war sich der großen politischen Bedeutung dieses Streiks und der enormen öffentlichen Unterstützung hierfür bewusst und versprach noch am selben Tag 5 Millionen FFP2-Masken und die Einstellung von 3 300 zusätzlichen Lehrkräften. Wie die außergewöhnlichen Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft in den letzten zwei Jahren gezeigt haben, können plötzlich Milliarden von Euro gefunden werden, wenn es nötig ist, und es gibt keinen Grund, warum die LehrerInnen, Kinder und Jugendlichen nicht unter grundlegend gesunden Bedingungen lernen können sollten.

Angriffe auf öffentliches Schulsystem

Die Wut der Lehrerinnen und Lehrer wurde jedoch nicht nur dadurch geschürt. Sie streikten auch gegen den Minister für nationale Bildung, Jean-Michel Blanquer. Er ist für verschiedene Angriffe auf das öffentliche Schulsystem verantwortlich, darunter eine Gegenreform der Sekundarstufe, die den Sektor tiefgreifend desorganisiert und geschwächt hat.

Blanquer hat die LehrerInnen verächtlich behandelt und erklärte in den letzten Tagen, dass „der Streik das Schulsystem noch mehr stören wird“ oder, noch zynischer, dass „man nicht gegen ein Virus streiken kann“. Darüber hinaus hat er eine rechtsgerichtete Kampagne gegen Universitäten und AntirassistInnen im Namen der „Laicité“ (des Laizismus) gestartet, die immer mehr zum Deckmantel für Islamophobie wird, indem er den „Linksislamismus“ an den Universitäten anprangert und die „faschistischen“ Fehler der UNEF, der StudentInnenvereinigung, ankreidet, weil sie Möglichkeiten und Räume für getrennte Versammlungen nur für die rassisch Unterdrückten organisiert hatte, und erklärt, dass „die Kleidung des Hidschab in unserer Gesellschaft nicht willkommen ist“.

Auch jenseits von Blanquer und dem Bildungssektor herrschen in der französischen Gesellschaft die gleichen Befehle von oben nach unten und die gleiche Geringschätzung der ArbeiterInnen Seit zwei Jahren stehen die Krankenhäuser im Kampf gegen  Covid an vorderster Front, ohne dass die Regierung viel getan hätte. Die Mittel für die Krankenhäuser und die Löhne des Pflegepersonals wurden nicht wesentlich aufgestockt, was dazu geführt hat, dass 20 Prozent der Krankenhausbetten wegen Personalmangels geschlossen sind. In der Zwischenzeit hat die Regierung sogar ihre Politik des Abbaus des öffentlichen Gesundheitssektors und der Schließung von Krankenhäusern fortgesetzt. Das gleiche Fehlen elementarer Schutzmaßnahmen gilt auch für andere Sektoren wie Verkehr, Reinigung, Geschäfte, Restaurants, öffentlich zugängliche Büros usw.

Die ArbeiterInnen haben also viele gute Gründe zu streiken, um ihre Kontrolle über die Hygienevorschriften auf allen Ebenen durchzusetzen, vom Arbeitsplatz bis zu den Schulen und Stadtvierteln. Der LehrerInnenstreik verkörpert die erste große progressive Aktion in Frankreich zum Thema Covid. Er kann und sollte über die Schulen hinaus ausgedehnt und verallgemeinert werden. Er könnte zu einer wichtigen Kraft bei den kommenden Präsidentschaftswahlen werden und die widerliche rassistische und chauvinistische Propaganda hinwegfegen. Dies könnte zu einem Sammelpunkt für alle ArbeiterInnen werden, die von den Lügen der PolitikerInnen angewidert sind, aber durch die Passivität der Gewerkschaften und die Zersplitterung und Kapitulation der offiziellen linken Parteien desorganisiert wurden.




Anti-Gesundheitspass-Demonstrationen in Frankreich – kein Pass oder keine Impfung?

Marc Lassalle, Infomail 1166, 11. Oktober 2021

Von Mitte Juli bis Ende August protestierten in Frankreich jeden Samstag rund 200.000 Menschen gegen die Einführung eines Gesundheitspasses. Auch jetzt sind noch jede Woche etwa 100.000 auf der Straße. Warum gibt es diese Bewegung, und worum geht es ihr wirklich?

Gründe

Im Juli kündigte Präsident Macron angesichts der vierten Covid-Welle an, dass für den Zutritt zu Kinos, Theatern und anderen Großveranstaltungen ein Gesundheitspass erforderlich ist, der entweder eine Impfung oder einen kürzlich durchgeführten negativen PCR-Test nachweist. Später wurde die Liste um Bars, Restaurants, Fernzüge und Einkaufszentren erweitert. Ab dem 30. August benötigen auch Beschäftigte in diesen Sektoren den Ausweis, und ab September ist die Impfung für alle Angestellten im Gesundheitswesen obligatorisch. MitarbeiterInnen, die die Impfung verweigern, können ohne Bezahlung suspendiert werden. Obwohl es für die Allgemeinheit keine solche Verpflichtung gibt, führt die Zahl der Orte, an denen dieser Ausweis erforderlich ist, de facto zu einer Impfpflicht.

Normalerweise kommt das politische Leben in Frankreich während der Sommerpause zum Erliegen, so dass nicht nur die Zahl, sondern auch die Tatsache, dass die Demos stattfanden, sehr überraschend ist. Hinzu kommt, dass sie in kleineren Städten stattfanden und nicht nur in Paris und anderen Großstädten. Insgesamt gab es jede Woche mehr als 200 Demonstrationen. In Toulon, einer Hochburg des Protests, blockierten 22.000 Menschen stundenlang die Autobahn und die Hauptstraßen.

Auf den Plakaten stand: „Wahlfreiheit“, „Leben ohne Pass“, „Mein Körper, meine Wahl, meine Freiheit“, „Nein zur Gesundheitsdiktatur“. Zu den DemonstrantInnen gehören Teile der ArbeiterInnenklasse (Beschäftigte im Gesundheitswesen, LehrerInnen), der Mittelschicht und des KleinbürgerInnentums und auch kleine KapitaleigentümerInnen, viele demonstrieren zum ersten Mal in ihrem Leben. Das, was von der Gelbwestenbewegung übrig geblieben ist, ist sehr präsent und aktiv. Neben der französischen Trikolore und dem Gesang der Marseillaise waren auch regionale Fahnen (Bretagne, Normandie) und sogar monarchistische Fahnen zu sehen: ein sehr vielfältiges, klassenübergreifendes Gemisch.

Die vorherrschende Vorstellung ist, dass die „Freiheit“ von der Regierung angegriffen wird und die Entscheidung, sich impfen zu lassen oder nicht, eine persönliche Entscheidung ist, eine grundlegende bürgerliche Freiheit, in die sich die Regierung nicht einmischen sollte. Dieses bürgerlich-individualistische Konzept der Freiheit ist in Frankreich stark ausgeprägt („Liberté“ ist das erste Motto auf allen Rathäusern) und ein wichtiger Teil des nationalen Mythos, der sogar in den Gewerkschaften und den linken Parteien und Organisationen, einschließlich der zentristischen Gruppen, weithin akzeptiert wird.

Ein zweites Element ist das weit verbreitete und tiefe Misstrauen gegenüber der Regierung, das sie sich weitgehend selbst zuzuschreiben hat. Im März 2020 erklärte der Gesundheitsminister, dass Gesichtsmasken nicht notwendig seien, aber es wurde bald klar, dass dies nur dazu diente, den Mangel an Masken im Land zu vertuschen, selbst für das Gesundheitspersonal. Die Haltung der Regierung zu Impfstoffen hat das Problem noch verschärft. Erst hieß es, der russische Sputnik V und die chinesischen Impfstoffe seien unwirksam, dann war AstraZeneca an der Reihe, dessen Impfstoff seit Juli für Spenden an andere Länder reserviert sind – eine sehr merkwürdige Auslegung der internationalen Solidarität.

Die sehr seltenen Fälle von Nebenwirkungen der Impfung werden in den Medien so übertrieben dargestellt, dass eine regelrechte Psychose entsteht. Ob die Haltung der Regierung mit wirtschaftlichen Interessen (der französische Pharmamulti Sanofi oder das Institut Pasteur könnten irgendwann einen Impfstoff entwickeln) oder mit nationalen Sicherheitsüberlegungen zusammenhängt, ist nicht klar. Die ganze Atmosphäre der Geheimniskrämerei in Bezug auf den EU-Vertrag für Impfstoffe und die Nutzung von Patentrechten zur Steigerung der Profite für einige von ihnen trägt jedoch zum Misstrauen bei.

Dies baut auf einer bereits diffusen Feindseligkeit gegenüber allen Impfstoffen auf. Laut Umfrage auf einer der Demos erklärten 66 Prozent, dass sie nicht geimpft werden wollen, und das Meinungsforschungsinstitut kam zu dem Schluss, dass „hinter der Verweigerung des Gesundheitspasses, die im Namen der Grundfreiheiten erfolgt, eine gemeinsame Anti-Impfkultur steht“. In der Tat wurden im Juli nach den ersten Protestaktionen zwei Impfzentren durch Feuer beschädigt, und auch ApothekerInnen wurden angegriffen.

Wie in anderen Ländern wird dies von einer starken Strömung rechtsgerichteter VerschwörungstheoretikerInnen beeinflusst. Seit Beginn der Covid-Pandemie hat dieses rechte Milieu mit dem Arzt Didier Raoult, Leiter einer Universitätsklinik in Marseille, eine neue Ikone geschaffen. Er behauptete (und tut dies immer noch), dass Chloroquin gegen Covid wirksam sei und überzeugte damit viele französische ÄrztInnen. Heute setzt er diesen Kreuzzug gegen Impfstoffe fort und erscheint vielen als wahrer Vertreter des „Volkes gegen die Elite“. Frankreich ist auch das Land, in dem der gefälschte Dokumentarfilm „Hold Up“ gedreht wurde: ein Stück Fake News, das auf der Idee einer großen Verschwörung aufbaut und Covid mit Bill Gates und dem Davoser Forum in Verbindung bringt, um einen autoritären Staat durchzusetzen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Proteste gegen den Gesundheitspass von rechtsgerichteten reaktionären Parteien, einschließlich offen faschistischer Organisationen, unterstützt, organisiert und oft auch dominiert wurden. In Paris wurden große Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern von Florian Philippot organisiert, der früher dem Rassemblement National von Marine Le Pen angehörte und heute Vorsitzender einer kleinen rechtsextremen Partei, den Patrioten, ist. Andere faschistische oder reaktionäre Gruppen sind ebenfalls aktiv, darunter Action Française, Bordeaux Nationaliste, Les Zouaves, La Ligue Du Midi und Civitas (katholische FundamentalistInnen). Im August waren auf mehreren Demonstrationen antisemitische Plakate zu sehen, auf denen Juden und Jüdinnen in Frankreich und anderswo für die Pandemie verantwortlich gemacht wurden und die den jüngsten Aufruf eines Armeegenerals zu einem Staatsstreich zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung unterstützten.

Die französische Linke

Die Position der meisten französischen linken Parteien und Gewerkschaften ist bestenfalls zweideutig. Alle sind gegen die Zwangsimpfung, und eine gemeinsame Position ist in einer Petition zusammengefasst, die von Jean-Luc Mélenchon und anderen Abgeordneten der Parteien France Insoumise und PCF, aber auch aus Gewerkschaften CGT, SUD sowie der Partei NPA unterzeichnet wurden. Das kurze Dokument prangert die Maßnahmen gegen ArbeiterInnen (wie die Aussetzung des Arbeitsvertrags), die Tatsache, dass PatientInnen ohne den Pass nur in Notfällen in Krankenhäuser eingelassen werden, und die allgemeine Kontrolle, die der Pass einführt, an. Außerdem wird eine generelle Impfung mit massiven Mitteln und Einstellungen für das Gesundheitssystem sowie die Abschaffung von Patenten auf Impfstoffe gefordert.

Diese Forderungen sind zwar richtig, umgehen aber mehrere entscheidende Fragen. Sollen die ArbeiterInnen und AktivistInnen an den Samstagsdemos teilnehmen? Wie soll die Covid-Pandemie bekämpft werden? Gibt es eine absolute Freiheit, den Impfstoff zu wählen oder nicht? Vor allem aber weichen sie der Frage aus: Was ist der Charakter der Bewegung: ist sie fortschrittlich oder reaktionär?

Die Frage, ob man die Demos unterstützen soll, hängt eindeutig von dieser Charakterisierung ab. Die Neue Antikapitalistische Partei, NPA, versuchte, alle zu versöhnen, indem sie im Juli schrieb: „Im Gegensatz zu dem, was sie uns glauben machen wollen, sind die Zehntausenden von Menschen, die sich mobilisiert haben, kein Haufen von schrecklichen Antivax-ReaktionärInnen. Auch wenn es unter ihnen einige Randgruppen der extremen Rechten und VerschwörungstheoretikerInnen gibt, die niemals unsere Verbündeten sein werden, kann die soziale und politische Linke nicht passiv bleiben.“ Ja, aber was sollte dann getan werden? Leider weicht das NPA-Flugblatt dieser Frage aus, indem es erklärt, dass „sie sich den Mobilisierungsinitiativen anschließen würden, wo immer es möglich ist, ihre Politik zu vertreten“.

Während sich in einigen Städten CGT- und SUD-Ortsverbände den Demonstrationen angeschlossen haben, ruft der SUD-Gesundheitssektor dazu auf, sich nur an solchen Mobilisierungen zu beteiligen, die „nichts mit den von Rechtsextremen und VerschwörungstheoretikerInnen initiierten Protesten zu tun haben, die wir bekämpfen“.

Die einzige Gruppe, die von Anfang an auf die „Bewegung“ aufgesprungen ist, ist Révolution Permanente, RP, die Sektion der Fracción Trotskista, die sich kürzlich von der NPA abgespalten hat. RP hat jahrelang die Gefahr der extremen Rechten in Frankreich unterschätzt. Sie hat die Bewegung der Gelbwesten unkritisch unterstützt und das Gleiche mit den Anti-Pass-Demonstrationen getan.

RP räumt ein, dass die teilnehmenden Personen stark gegen Impfungen sind: „Die Bewegung beschränkt sich weiterhin darauf, den Gesundheitspass mit einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Impfstoff anzuprangern“, und weiter: „Auch wenn die Mobilisierung mit ihrer Opposition gegen den Autoritarismus im Gesundheitsbereich eine fortschrittliche Perspektive zum Ausdruck bringt, können wir nicht verbergen, dass die Mehrheit der mobilisierten Personen mehr oder weniger entschieden gegen den Impfstoff ist, oft aufgrund von Zögern, mangelnder Information und totaler Ablehnung der Politik Macrons.“ (rp 17 Juli)

RP weist darauf hin, dass dadurch eine diffuse Idee entsteht, um vor allem die Einheit zu betonen: „Ob man geimpft ist oder nicht, es ist wichtig, gegen den Gesundheitspass zu kämpfen“. Indem sie jedoch darauf bestehen, dass RevolutionärInnen teilnehmen sollten, offenbaren sie einen groben Opportunismus. So loben sie beispielsweise Jérôme Rodriguez, einen der Anführer der Gelbwesten, für seine Slogans „Geimpft oder nicht geimpft, wir sterben vor Hunger“, „Geimpft oder nicht geimpft, wir werden alle wegen der Ökologie sterben“, „Geimpft oder nicht geimpft, um unsere Freiheit wiederzuerlangen, sollten wir Macron und seine gesamte Regierung stürzen, um wieder zu leben.“ (Ebenda). Diese Slogans sind schlichtweg falsch. Sie tragen zur Verwirrung bei, spielen bestenfalls die Hauptfrage der 100-prozentigen Impfung für alle herunter und sind weit davon entfernt, einen progressiven Weg vorzuschlagen.

RP prangert auch die Komplizenschaft und die engen Kontakte zwischen der organisierten ArbeiterInnenbewegung und den FaschistInnen an: „Wir haben zum Beispiel gesehen, wie gewerkschaftlich organisierte Feuerwehrleute der SUD in der Nähe von fundamentalistischen Priestern der Civitas marschiert sind oder wie ein Funktionär der CGT-Ortsgruppe ein Mitglied der RN, das ins Mikrofon spricht, mit seinem Schirm geschützt hat. Wir haben auch gesehen, wie Verschwörungstheoretiker wie Richard Boutry von streikenden Beschäftigten des Gesundheitswesens das Mikrofon angeboten bekamen.“

Die RP besteht jedoch darauf, dass die großen Gewerkschaften in die Bewegung eingreifen sollten, um zu verhindern, dass die FaschistInnen Einfluss auf die ArbeiterInnen ausüben: „Es ist unabdingbar, dass die ArbeiterInnenbewegung eine hegemoniale Politik gegenüber der Mobilisierung des 17. Juli (der ersten Anti-Pass-Demo) entwickelt, an der sich Teile der ArbeiterInnenschaft beteiligen.“ (Ebenda)

Eine ausgewogenere und kritischere Einschätzung wird von der Fraktion L’Etincelle (Der Funken; einer Fraktion innerhalb der NPA) geäußert. Während L’Etincelle die Bewegung der Gelbwesten kritiklos unterstützt hat, ist er in diesem Fall aufgrund seines Workerismus zurückhaltender. In einer aktuellen Bilanz (Convergences Révolutionnaires, cr 8. September) der Proteste im ganzen Land kommen sie zu dem Schluss: „Zwar haben ArbeiterInnen und Angestellte an diesen Demonstrationen teilgenommen, aber sie taten dies als Einzelpersonen, und es hat sich kein wichtiges ArbeiterInnenkontingent gebildet, ob unter einem gewerkschaftlichen Banner oder nicht.“

Zur Frage des Antisemitismus: „Die Leute, die diese [antisemitischen] Plakate tragen, konnten problemlos unter den anderen DemonstrantInnen marschieren. Abgesehen von Ausnahmefällen wurden sie nicht zur Rede gestellt. Das bedeutet nicht, dass die Masse der Menschen antisemitisch ist, sondern dass diese verwerflichen Positionen für sie nicht schockierend waren.“

Und, um zum Schluss zu kommen: „Eine Tatsache ist sicher: keine Protestaktion hat in diesen zwei Monaten eine stark soziale Ausrichtung gehabt.“ „Es ist vor allem ein gesellschafts- und klassenbezogener Herbst, auf den wir zählen sollten, um gegen die Angriffe der Regierung diese beunruhigende Flut von Obskurantismus, die der extremen Rechten hilft, in den Hintergrund zu drängen oder zu marginalisieren.“

Der Charakter der Bewegung

In Anbetracht all dieser Elemente stellt sich die einfache Frage: Welches ist der Charakter der Bewegung selbst? Auch wenn sie einige berechtigte Forderungen stellt (gegen die Entlassung von nicht geimpften Lohnabhängigen), ist es ziemlich offensichtlich, dass es sich um eine Massenbewegung gegen die Impfung handelt. Sie verharmlost die sehr reale Gefahr der Pandemie und lehnt alle Sicherheitsmaßnahmen des Staates ab. Wie die bevorstehende nächste Welle in Frankreich und weltweit zeigt, ist die Gefahr der Pandemie real. In Wirklichkeit wird sie von den bürgerlichen Regierungen heruntergespielt. Alle ihre Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, lediglich die Auswirkungen auf die Unternehmen im Industrie- und Finanzsektor zu begrenzen.

Natürlich haben diese halbherzigen Maßnahmen verständlicherweise Teile der KapitalistInnenklasse verärgert, deren Unternehmen nicht geschützt wurden, wie Restaurants, Kinos, Tourismusbetriebe usw. Vor dem Hintergrund einer Wirtschafts- und Gesundheitskrise, von der die ArbeiterInnenklasse und die Armen am stärksten betroffen sind, spricht die Bewegung zwar berechtigte Ängste und Wut an, aber sie lenkt sie auf ein reaktionäres Ziel.

Die Bewegung selbst trägt keinen zweideutigen Charakter, wie ihn die Gelbwestenbewegung mancherorts aufwies. Sie ist eine reaktionäre kleinbürgerliche Massenbewegung. Selbst wenn sie reale Themen aufgreift oder berechtigte Forderungen erhebt, ändert dies nichts an ihrem grundlegenden Charakter. In der Tat haben die meisten reaktionären populistischen Bewegungen einige reale Missstände für die Massen angesprochen, denn das müssen sie, wenn sie verarmte Teile des KleinbürgerInnentums und sogar Teile der ArbeiterInnenklasse für ihre reaktionären Ziele mobilisieren wollen.

Das „Anti-Vax“-Element der Bewegung ist also kein untergeordneter Aspekt, sondern ihr Kern. Die weite Verbreitung von Verschwörungstheorien und Irrationalismus ist kein Ausreißer in einer ansonsten unterstützenswerten Anti-Regierungs-Bewegung, sondern entspricht ihrem Wesen. Der No-Vax-Aufruf und die damit verbundene Ablehnung oder zumindest Verharmlosung der Gesundheitsgefahr stehen im Zentrum der Bewegung.

Deshalb sollten die Gewerkschaften und die organisierte Linke die Anti-Vax-Protestaktionen nicht unterstützen. Es ist sinnlos, verwirrend und gefährlich zu glauben, dass eine Mobilisierung, die sich zentral auf die reaktionäre Anti-vax-Ideologie stützt, zu einer fortschrittlichen ArbeiterInnenbewegung umorientiert werden kann.

Was ist zu tun?

Stattdessen sollte sich die französische ArbeiterInnenbewegung auf drei Hauptpunkte konzentrieren:

  1. Die Grundlage jedes fortschrittlichen Protests gegen die Regierung sollte die Forderung nach 100 Prozent kostenlosen Impfungen für alle sein. Heute ist dies nicht der Fall, und die Klassenungleichheiten spiegeln sich direkt in den Statistiken wider. Vor dem Sommer hatten sich 72 Prozent der ÄrztInnen, aber nur 59 Prozent des Krankenhauspflegepersonals und 50 Prozent der PflegehelferInnen stechen lassen. Ähnliche Zahlen gelten für ArbeiterInnen und Angestellte. Covid hat die ärmsten Gebiete, die ungelernten und die eingewanderten ArbeiterInnen stark getroffen. Auch in ländlichen Gebieten sind große Teile der Bevölkerung aufgrund von Vorurteilen und fehlenden medizinischen Einrichtungen nicht geimpft. Dies gilt insbesondere für ältere Menschen und all jene, die von der IT-Lücke zurückgelassen wurden. Die Gewerkschaften sollten fordern, dass die Regierung anstelle einer repressiven Kampagne mobile Impfzentren in diesen Gebieten eröffnet und Pflegepersonal und ÄrztInnen einstellt, um alle diese Bevölkerungsschichten zu erreichen.
  2. Die Gewerkschaften sollten die ArbeiterInnen in separaten Demonstrationen organisieren und sich nicht denen von FaschistInnen und VerschwörungstheoretikerInnen anschließen. Dies könnte z. B. mit einem Streik im medizinischen Bereich beginnen, aber unter der Woche und nicht am Wochenende, und sich auf die ArbeiterInnenorganisationen stützen. Offensichtlich sollten wir versuchen, die ArbeiterInnen, die von den Samstagsdemonstrationen angezogen wurden, zurückzugewinnen, indem wir sie in eine separate ArbeiterInnenmobilisierung einbinden.
  3. Die Vorstellung, dass die Impfung eine rein individuelle Entscheidung ist, ist abzulehnen und zu bekämpfen. Dies ist eine reaktionäre „libertäre“ Position, die nichts mit den kollektiven Werten und der Solidarität der ArbeiterInnenklasse zu tun hat. In mehreren Sektoren sind die ArbeiterInnen bereits verpflichtet, sich impfen zu lassen, z. B. gegen Hepatitis. Kinder müssen geimpft werden, um in Kindergärten und Schulen aufgenommen zu werden. Durch solche Maßnahmen konnten Krankheiten, die früher tödlich waren, wirksam ausgerottet werden. In Zeiten einer Pandemie kommt die „Freiheit“, sich nicht impfen zu lassen, der Freiheit gleich, das Virus auf andere Menschen zu übertragen und sie damit in Gefahr zu bringen. Jede Entscheidung, die auf einer rein individuellen Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses beruht, ist nichts anderes als ein bürgerlicher „liberaler“ Ansatz im Gesundheitsbereich. Wir lehnen zwar das repressive Arsenal von Macron und seiner Regierung ab, stellen uns aber nicht auf die Seite der ReaktionärInnen, nur weil sie ebenfalls gegen ihn sind.

Covid hat grundlegende Schwächen der französischen Linken enthüllt und ihre tiefe Führungskrise offengelegt. Der Versuch, gegensätzliche Ansätze durch vage und zweideutige Formulierungen in Einklang zu bringen, wie es die NPA getan hat, verwirrt die Probleme nur noch mehr. Der AbenteurerInnentum der RP ist sogar noch gefährlicher. Nur eine klare, klassenbezogene Analyse der grundlegenden Probleme und klassenkämpferische Lösungen dafür können den französischen ArbeiterInnen, aber auch denen in anderen Ländern, im Kampf gegen die bürgerlichen Regierungen, ihre Sparmaßnahmen und ihre regressiven Sozialreformen helfen. Das ist auch der einzige Weg, um der Gefahr faschistischer reaktionärer Ideen und Kräfte zu begegnen, die andernfalls eine breitere Öffentlichkeit und mehr Einfluss gewinnen könnten.




Die Dauerkrise der NPA

Martin Suchanek, Infomail 1153, 18. Juni 2021

In den letzten Jahren war es um die NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste; Neue Antikapitalistische Partei) still geworden. Zum Zeitpunkt ihre Gründung im Jahr 2009 galt sie bei europäischen Linken als Hoffnungsträgerin und Modell antikapitalistischer Einheit. Heute macht sie vor allem durch innere Krisen, Konflikte, angedrohte und wirkliche Abspaltungen von sich reden.

Schon im August 2020 veröffentlichte Le Monde einen Artikel, der von einer bevorstehenden Spaltung und Auflösung der NPA berichtete. Demzufolge strebe die traditionelle Führung um Besancenot und Poutou eine „einvernehmliche Scheidung“ auf einem Kongress an.

Dieser fand, sicher auch aufgrund der Pandemie, nie statt. Doch auch der Plan selbst scheint bis auf Weiteres in den Schubladen verschwunden zu sein. Dafür spitzte sich in den letzten Wochen der innere Konflikt mit einer der größten, wenn nicht der größten Minderheitsfraktionen, der CCR (Courant Communiste Révolutionnaire; Revolutionäre Kommunistische Strömung) zu, die auf internationaler Ebene mit der Fracción Trotskista (FT) verbunden ist.

Der angebliche Ausschluss der CCR

Am 10. Juni veröffentlichte die CCR ein Schreiben, in dem sie die Mehrheit der NPA beschuldigt, sie aus der Organisation ausgeschlossen zu haben: „Wenige Tage vor der nationalen Konferenz, die die Ausrichtung und den/die Kandidaten/Kandidatin der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) für die nächsten Präsident:innenschaftswahlen festlegen soll, sind wir gezwungen, unseren faktischen Ausschluss aus dieser Organisation anzunehmen.“ (https://www.klassegegenklasse.org/frankreich-fast-300-von-der-npa-ausgeschlossene-aktivistinnen-rufen-zum-aufbau-einer-neuen-revolutionaeren-organisation-auf/)

Es bliebe der CCR, so die Versammlung von fast 300 ihrer AnhängerInnen, keine andere Wahl, als den Kampf für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2022 außerhalb der NPA zu führen: „Deshalb beginnen wir heute, nachdem wir aus der NPA ausgeschlossen wurden, sofort mit dem Prozess der Gründung einer neuen Organisation, mit der Perspektive, eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innen aufzubauen, sowie mit der Suche nach den 500 notwendigen Unterschriften, damit Anasse als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2022 antreten kann.“ (Ebenda)

Die CCR stellt die Zuspitzung so dar, als hätten sich alle anderen Strömungen und Fraktionen gemeinsam gegen sie verschworen und würden sie gezielt aus der Organisation drängen. Der rechte Flügel um Poutou und Besancenot gebe dabei den Ton an und alle (!) anderen linkeren Fraktionen würde das stillschweigend akzeptieren.

Die Vehemenz, mit der die CCR die Anschuldigung erhebt, erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, dass sie wegen ihrer Positionen und ihres unermüdlichen Kampfes gegen die rechte Führung der NPA ausgeschlossen worden sei. Doch schon eine nähere Betrachtung des Textes wirft die Frage auf, wann, wo und von wem sie ausgeschlossen worden wäre. Eine weitere Recherche, die Durchsicht der Protokolle und Berichte von NPA-Sitzungen ergeben freilich: diesen Beschluss gab es nicht. Es fand kein Ausschluss statt.

Im Gegenteil. Betrachten wir die Belege, die die CCR für ihren „de facto“ Ausschluss anführt, wird die Suppe immer dünner. Die Webseite der Gruppe verweist darauf, dass der faktische Ausschluss ein Resultat der Beschlüsse der NPA-Leitung vom 22. und 23. Mai gewesen wäre. Doch diese, nachzulesen in deren Vorkonferenzbulletin (https://nouveaupartianticapitaliste.org/sites/default/files/bicnmai2021.pdf), enthalten nichts von einem solchen Ausschluss. Die Leitung der NPA nahm vielmehr eine Resolution an, die Antragsfristen, Modalitäten der Delegiertenwahl usw. festlegt – und zwar mit 54 Pro-Stimmen bei 10 Enthaltungen und ohne eine einzige Gegenstimme. Die VertreterInnen der CCR enthielten sich bei einer Resolution der Stimme, die angeblich ihrem faktischen Ausschluss gleichkam! Diese Inkonsistenz hätte die CCR zumindest erklären müssen.

So bleibt nur der Fakt, dass es keinen Ausschluss gab. Die Frage bleibt aber: Warum behauptet sie diesen so hartnäckig?

Die Entwicklung der NPA

Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir aber die Entwicklung der NPA in den letzten Jahren kurz Revue passieren lassen. In diesen gelang es der CCR, ihre Stellung deutlich zu stärken. Das lag vor allem am Austritt tausender Mitglieder sowie der Passivität der tradierten Mehrheit und auch der anderen linken Strömungen. Die CCR bildete zumeist den dynamischsten Flügel in der NPA, der aktiv in die sozialen Bewegungen und Kämpfe der ArbeiterInnenklasse intervenierte und dort sichtbarer war als die anderen (was nicht notwendigerweise bedeutet, dass er mehr Verankerung in diesen Kämpfen aufwies oder eine größere Rolle als andere spielte).

Von den rund 9000 Mitgliedern zur Gründung der NPA 2009 sind heute nur noch 1000 bis 1500 verblieben. Der größere Einfluss der CCR geht also sowohl auf ihr Wachstum in absoluten Zahlen, vor allem aber auf den extremen Niedergang der NPA selbst zurück.

2020 spitzte sich die Lage weiter zu, insbesondere als die NPA-Führung bei den Regionalwahlen prinzipienlose Blöcke mit der linkspopulistischen La France Insoumise (Widerspenstiges Frankreich; FI) und anderen, weniger bedeutenden reformistischen oder kleinbürgerlichen Gruppierungen einging. Die, vom Standpunkt der NPA erfolgreichste Kandidatur stellte dabei „Bordeaux en lutte“ (Bordeaux im Kampf) dar. Diese von Poutou angeführte Liste erhielt über 12 % der Stimmen und war, weil sie stark von der NPA geprägt war, vergleichsweise links. Andere Listenverbindungen dominierte der Linkspopulismus offen, die NPA wurde zu deren regionalen Wasserträgerin.

Einige linke Fraktionen in der NPA (z. B. L’Etincelle; Der Funke) lehnten diese Verbindung von Beginn an ab. Die CCR stimmte dem Projekt ursprünglich zu, kritisierte es jedoch später vehement. Um diesen Schwenk zu rechtfertigen, stellte sie das ursprüngliche Konzept von „Bordeaux en lutte“ als grundsätzlich verschieden von den anderen Wahlbündnissen mit dem Linkspopulismus dar.

Zugleich wurde an diesen Fragen ein grundlegendes, bis heute ungelöstes Problem deutlich: Wie charakterisiert die NPA FI? Welche Taktik verwendet sie ihr gegenüber? Und noch grundlegender: Wie verhält sich die NPA zu nicht-revolutionären Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen?

Fast alle Strömungen in der NPA charakterisieren FI als reformistische, nicht als linkspopulistische Kraft. Der politische Bruch, den Mélenchon mit der Wende von der Parti de Gauche (Partei der Linken; PdG) zur FI vollzog, wird damit jedoch nicht ausreichend begriffen. Gegenüber dem Linkspopulismus wird im Grunde dieselbe Taktik verfolgt wie gegenüber reformistischen Parteien.

Das zweite Problem bestand darin, dass bei allen diesen Wahlblöcken die NPA auf ihr eigenes Programm zugunsten eines „Einheitsfrontprogramms“ verzichtete, das einmal „linker“, einmal direkt populistisch war.

Zweifellos stellt die Anpassung an den Linkspopulismus eine nach rechts dar. Damit sollte wahrscheinlich auch die Möglichkeit weiterer Bündniskandidaturen bis hin zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sondiert werden. Wie so oft bei opportunistischen Manövern rücken mittlerweile sogar viele der ehemaligen BefürworterInnen, also der langjährigen Mehrheit, von weiteren Bündnissen mit FI ab, da diese die NPA offenkundig in den meisten Listen über den Tisch gezogen hat.

Bei „Bordeaux en lutte“ und den anderen Kandidaturen wird darüber hinaus ein weiteres Problem deutlich, das die NPA von Beginn an prägt: ihr mangelndes Verständnis des Reformismus und der Taktiken ihm gegenüber.

Exkurs zu einem Gründungsproblem der NPA

Bei Gründung der NPA ging die damalige Parteiführung davon aus, dass der Reformismus in Frankreich und auch international abgewirtschaftet hätte und tot wäre. Die große Rezession und die historische Krise der Weltwirtschaft würden keinen Spielraum für reformistische Politik der graduellen Reformen mehr erlauben und damit auch keinen für die Entstehung neuer reformistischer Parteien oder die Wiederbelebung alter. Diese impressionistische und oberflächliche Sicht der Dinge schien im Jahr 2009 jedoch zumindest in Frankreich eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Die Parti Socialiste schien im freien Fall. Sie verlor 2009 bei den Europawahlen 12,4 % der Stimmen und erhielt desaströse 16,5 % (über die sie sich heute freuen würde). Die KP war als elektorale Kraft überaus geschwächt, auch wenn sie damals und heute noch immer Zehntausende Mitglieder hat und ein Vielfaches an gewerkschaftlicher Verankerung der gesamten radikalen Linken.

Vor allem aber hatte die NPA nicht mit einer linksreformistischen Neugründung und Konkurrenz, der PdG, von Melénchon gerechnet, die 2016 durch FI abgelöst wurde. Seither ist die NPA von einem stetigen Streit um die Haltung zum Linksreformismus (und auch zum Linkspopulismus) geprägt, in der zwei grundlegend falsche Positionen einander gegenüberstehen. Entweder wird eine Politik der Anpassung verfolgt bis hin zum Übertritt zahlreicher Mitglieder und ganzer Strömungen. Der Opportunismus nimmt verschiedene krasse Formen bis hin zur programmatischen Unterordnung an. Fast immer geht er mit einem Verzicht auf Kritik an zeitweiligen Verbündeten einher.

Der Anpassung wird in der NPA aber andererseits allzu oft eine sterile und letztlich sektiererische Haltung der scheinbar unversöhnlichen Abgrenzung, des faktischen Verzichts auf die Politik der Einheitsfront gegenüber reformistischer Basis und Führung gegenübergestellt und dies zur „Unabhängigkeit“ hochstilisiert.

In der gesamten Geschichte der NPA bildet die Frage des Verhältnisses zu reformistischen (oder linkspopulistischen) Parteien einen immer wieder kehrenden Punkt von inneren Auseinandersetzungen, politischer Konfusion und des Schwankens. Dies trifft letztlich auf alle Strömungen der NPA zu.

Bei den Regionalwahlen und in der Listenverbindung mit FI ging die Führung der NPA weit nach rechts. Die Kritik an diesen prinzipienlosen Verbindungen durch die CCR und andere linke Strömungen in der NPA trifft also zweifellos einen wichtigen und richtigen Punkt. Nicht minder richtig ist die Feststellung, dass gegen diese Anpassung ein politischer Kampf geführt werden muss. Damit die NPA diesen Geburtsfehler überwindet, reicht die Kritik an den opportunistischen Seiten ihrer Methode jedoch nicht aus. Die Organisation und ihre Mitglieder müssen vielmehr die Ursachen für diese Anpassung, aber auch das immer wiederkehrende Schwanken zwischen Opportunismus und Sektierertum in der Frage der Einheitsfront begreifen, um diese Fehler bewusst zu überwinden.

Das Manöver der CCR

Angesichts veränderter Mehrheitsverhältnisse in der Leitung der NPA und des Rechtsschwenks bei den Wahlblöcken mit den LinkspopulistInnen schien die Situation günstig für die linken Plattformen und Strömungen. Rein zahlenmäßig hätten sie die Führung der Organisation übernehmen können. Aber sie taten dies nicht – und konnten das auch nicht tun, weil sie selbst über kein gemeinsames Konzept zum weiteren Aufbau verfügten. Ihre Gemeinsamkeit beschränkte sich in der Regel auf ein Nein zur langjährigen Führung.

Die CCR entschied sich in dieser Lage zu einem gewagten Manöver. Zuerst startete sie eine Kampagne zur „Einheit der revolutionären Kräfte“ in der NPA gegen alle jene, die einen Wahlblock mit der FI anstrebten. Nachdem sich dieser Block jedoch nicht zu ihrer Zufriedenheit entwickelte, versuchte die CCR Fakten gegenüber allen andere Strömungen, linken wie rechten, zu schaffen.

Ohne jede Diskussion in der NPA präsentierte sie einen Genossen aus den eigenen Reihen, den jungen Eisenbahner und lokalen Streikführer Anasse Kazib, öffentlich als Vorkandidaten der Partei zur Präsidentschaftswahl 2022. Mit diesem Manöver sollte den anderen Strömungen ein Kandidat ohne vorhergehende Diskussion aufgezwungen werden. Auch wenn die CCR diese Aktion als uneigennützigen Vorschlag und Angebot vor allem gegenüber den anderen linken Strömungen präsentierte, so durchschauten diese natürlich das durchsichtige und abenteuerliche Manöver.

Es scheiterte verdientermaßen. Keine Tendenz, keine Plattform innerhalb der NPA war bereit, diesen Schritt zu gehen und sich dem Druck zu beugen. Vielmehr wiesen alle den undemokratischen Affront zurück, der NPA ohne innere Diskussion, ohne Debatte unter den Mitgliedern und in deren Gremien einen Kandidaten aufzudrücken. Nachdem sich die anderen Strömungen der NPA, also die deutliche Mehrheit der Partei, nicht öffentlich unter Druck setzen ließen und das Manöver gescheitert war, war freilich auch jede Aussicht dahin, eine Mehrheit für Anasse als Präsidentschaftskandidaten zu gewinnen.

Nachdem die CCR ihren Kandidaten nicht durchsetzen konnte, nahm sie selbst offenkundig den Kurs auf einen Bruch mit der NPA. Sie trat die Flucht nach vorne an und erklärte ihrerseits alle, die ihre Manöver nicht mitmachen wollten, zu Kräften, die ihren Ausschluss vorbereiteten oder hinnehmen wollten. Teile der NPA haben in dieser Situation zwar auch mit einem Ausschluss der CCR gedroht oder darauf gedrängt. Fakt ist jedoch, dass kein Gremium der NPA den Ausschluss dieser Plattform oder auch nur eines einzigen ihrer Mitglieder beschlossen hat. Der angebliche Ausschluss fand nicht statt. Dennoch wird die CCR nicht müde, von einem „de facto“ Ausschluss zu sprechen oder von einer politischen Entwicklung, die einem solchen gleichkomme. Sie könne in der NPA nicht mehr arbeiten usw.

Ob eine weitere Arbeit in der NPA für sie Sinn macht oder nicht, muss natürlich die CCR, so wie jede andere Strömung und jedes Mitglied, für sich selbst entscheiden. Ein Ausschluss ist das jedoch nicht, und diese Fragen bewusst zu verwischen, bedeutet nur, politische Nebelkerzen zu werfen, die einzig der eigenen Legendenbildung dienen.

Die Rhetorik erfüllt die Funktion, den Bruch mit der NPA einem angeblichen undemokratischen und bürokratischen Manöver ihrer Führung (und aller anderen Strömungen) zuzuschieben. Wahrscheinlich hatte die CCR selbst auf einen richtigen Ausschluss spekuliert, um so ihrem Narrativ Glaubwürdigkeit zu verleihen. Nachdem dieser jedoch nicht stattfand, berichten CCR und ihre Schwesterorganisationen dennoch so, als ob einer stattgefunden hätte.

Diese Legendenbildung läuft auf eine bewusste Manipulation der Mitglieder der NPA, aber auch der eigenen Strömung und der internationalen Linken hinaus. Solche Manöver, die für kleinliche fraktionelle Interessen durchgezogen werden, tragen nicht nur zur längerfristigen Diskreditierung einer Strömung bei, sondern sind auch Wasser auf die Mühlen reformistischer, populistischer und anarchistischer GegnerInnen des Aufbaus einer revolutionären Organisation.

TrotzkistInnen haben ihre Spaltungen leider traurige Berühmtheit erlangt, und eine weitere wird zweifellos Ironie und Hohn von professionellen ZynikerInnen und BesserwisserInnen in aller Welt hervorrufen. Diese setzen dem die angeblich „große Breite“ der sozialdemokratischen Parteien oder des demokratischen Sozialismus entgegen. In diesen können miteinander unvereinbare Strömungen koexistieren, weil die eigentliche Politik der Partei von einer Elite parlamentarischer KarrieristInnen und BürokratInnen bestimmt wird.

Zu ihrer Zeit wurden auch die russische Sozialdemokratie und der Bolschewismus für ihre Spaltungen verspottet. Ernsthafte KämpferInnen werden daher nicht alle Spaltungen als schlecht und alle Fusionen als gut in einen Topf werfen. Jede Spaltung wirft jedoch für beide Seiten die Frage auf: Hat sie wichtige Fragen der Strategie und Taktik geklärt, die nach der Debatte dringend in der Klasse angewendet werden mussten und deshalb einen organisatorischen Bruch erforderten? Eine Spaltung, die keine solche Grundlage hat, ist prinzipienlos; erst recht, wenn es um eine Präsidentschaftswahl geht, bei der es höchst fraglich ist, ob eine der beiden Seiten überhaupt kandidieren kann.

Darüber hinaus haben beide Seiten, oder besser gesagt, alle Seiten, über zehn Jahre lang eine prinzipienlose Einheit aufrechterhalten, ohne entweder ernsthaft zu versuchen, die programmatischen Fragen zu lösen oder diszipliniert zusammenzuarbeiten. Hätten sie das getan, hätten sie eine kleine, aber effektive Kampfpartei aufbauen können, die an den entscheidenden Wendepunkten des Klassenkampfes eine echte Alternative zu den reformistischen Parteien und Gewerkschaften hätte bieten können. Selbst zu dieser späten Stunde könnten die zerstörerischen Auswirkungen des drohenden Zusammenbruchs der Partei rückgängig gemacht werden, wenn die Tendenzen in und um die NPA sich endlich der Frage zuwenden würden, ein Programm (nicht nur eine Wahlplattform) und einen konkreten Aktionsplan für den Kampf gegen Macron und Le Pen auf der Straße und in den Betrieben in den kommenden Jahren auszuarbeiten.

Der kommende Kongress und die Plattformen in der NPA

Die Abspaltung der CCR ist nach ihren eigenen Erklärungen ein Fakt. Die NPA verliert damit weitere 20–25 % ihrer AktivistInnen. Wahrscheinlich hat das gerade auch wegen des prinzipienlosen und manipulativen Schachzugs eine demoralisierende Auswirkung auf etliche Militante. Im Grunde bezweckt die CCR auch diesen Effekt, weil es dem Narrativ dienlich ist, dass sie den kleineren, aber dynamischeren Teil der Aktiven organisiere und die Demoralisierung weitere AktivistInnen anderer Strömung als Zeichen für die Richtigkeit des eigenen Manövers dargestellt wird.

Eine solche Darstellung mag zeitweilig der Festigung der eigenen Reihen dienen. Schließlich stellt der Gewinn von hunderten AnhängerInnen und dutzender betrieblicher KämpferInnen in den letzten Jahren für die CCR wie für jede Propagandaorganisation einen beachtlichen Erfolg dar. Betrachten wir jedoch das Kräfteverhältnis der Klassen in ihrer Gesamtheit, so bleibt er jedoch eine Marginalie, letztlich nebensächlich, verglichen mit dem Niedergang der „radikalen“ Linken im letzten Jahrzehnt und der tiefen Krise der NPA. Dass sich die CCR selbst in dieser Phase stärken konnte, ändert an der Gesamtdiagnose nichts. Es macht aber den leichtfertigen Optimismus ihre Erklärung fragwürdig, jetzt ohne den NPA-Ballast richtig durchstarten zu können.

Dies umso mehr, als nicht nur die Legendenbildung verlogen ist, sondern auch die politische Substanz der Spaltung fragwürdig. Die CCR behauptet, dass es in der NPA grundlegende, nicht weiter tragbare Differenzen über die politische Ausrichtung gab und gibt, die eine weitere Zusammenarbeit unmöglich machen würden. Nun wird niemand grundlegende Differenzen in Abrede stellen wollen. Betrachten wir freilich das Diskussionsbulletin, das die Entwürfe aller Plattformen in der NPA zur Konferenz Ende Juni enthält, so ergeben diese ein anderes Bild. 5 von 6 Entwürfen sprechen sich für eine eigenständige Präsidentschaftskandidatur aus, nur eine kleine Plattform (Plattform 4) nicht.

Die CCR titelt ihren Vorschlag „Rompre avec la politique d’alliances avec la gauche institutionnelle, pour une candidature 100 % révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Mit der Politik von Allianzen mit der institutionellen Linken brechen! Für eine 100 %ig revolutionäre Kandidatur der NPA zu den Präsidialwahlen!). Die Plattform 5, die von den beiden großen linken Strömungen – L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution – gemeinsam vorgelegt wird, lautet: „Pour une candidature ouvrière, anticapitaliste et révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Für eine antikapitalistische und revolutionäre ArbeiterInnenkandidatur der NPA zu den Präsidentschaftswahlen!). Und der Vorschlag von Plattform 2, der größten Strömung um Poutou und Besancenot, trägt die Überschrift: „Face à la crise, il faut une candidature du NPA à la présidentielle: ouverte, anticapitaliste  et révolutionnaire!“ (Angesichts der Krise braucht es eine offene, antikapitalistische und revolutionäre Präsidentschaftskandidatur der NPA!).

Nicht nur die Namen, auch die Inhalte – ihre Stärken und Schwächen – sind verblüffend ähnlich. 5 von Plattform sprechen sich nicht nur für eine eigene, revolutionäre und antikapitalistische Kandidatur aus. Alle lehnen jede Anpassung an die bürgerliche Mitte (Macron) als kleineres Übel gegenüber Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen ab. Alle unterziehen auch die „institutionelle Linke“ – ein Sammelbegriff für FI, KP und Grüne – einer scharfen Kritik und betonen die Notwendigkeit eines eigenständigen Profils und einer eigenen Kandidatur und Plattform bei den Wahlen.

Sicherlich repräsentiert diese Einheit nur eine Momentaufnahme. Doch ändert das nichts daran, dass die Plattform 2 anscheinend einen Schwenk nach links vollzogen hat. Nachdem sie einen oder mehrere Schritte nach links ging, unterscheidet sich ihre Plattform nicht grundlegend vom Vorschlag der CCR oder von L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution. Letztere (Plattform 5) ist eigentlich der inhaltlich abgerundetste und klarer und präziser als jener der CCR.

Praktisch alle Plattformen inkludieren Losungen zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse (Mindestlohn, Verbot von Entlassungen, Umwandlung prekärer Arbeitsverhältnisse in gesicherte), die Forderung nach Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle (insbes. im Gesundheitssektor und bei grundlegenden Industrien), gleiche StaatsbürgerInnenrechte für alle, die Legalisierung von Menschen ohne Papiere, eine Ablehnung imperialistischer Interventionen. Alle betonen die Notwendigkeit von Massenstreiks und einer Massenbewegung gegen die Krise sowie, dass nur eine ArbeiterInnenregierung einen Ausweg bieten kann.

Selbst die Schwächen teilen die Dokumente weitgehend. Zu vielen Punkten (Ökologie, Europa, EU, Internationalismus) sind sie sehr allgemein gehalten. So betonen alle durchaus richtig, dass der Kapitalismus die Umweltfrage nicht lösen kann. Es finden sich aber kaum unmittelbare oder Übergangsforderungen zur drohenden ökologischen Katastrophe in den Texten.

Während alle bezüglich der Notwendigkeit einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen Regierung, Kapital und die erstarkte Rechte und auch bezüglich der Notwendigkeit einer Revolution und einer ArbeiterInnenregierung übereinstimmen, so findet sich eigentlich nur die Betonung der Selbstorganisation, der Kämpfe „von unten“ als Mittel zu diesem Ziel in den Papieren. Die Frage, wie eine solche Bewegung zustande kommen kann, wie angesichts der Dominanz von kleinbürgerlich-populistischen Kräften, z. B. bei den Gelbwesten, die ArbeiterInnenklasse eine Führungsrolle übernehmen kann, fehlt im Grunde. Bei allen Plattformen suchen wir eine Taktik und eine Politik gegenüber den bestehenden reformistischen Organisationen und vor allem gegenüber den Gewerkschaften vergeblich.

So verbleibt als Hauptdifferenz, dass die verschiedenen Plattformen verschiedene Kandidaten zur Präsidentschaftswahl vorschlagen: Poutou (Plattform 2), Besancenot (Plattformen 1 und 5) und Anasse (Plattform 6).

Auch wenn die Vorschläge zur den Präsidentschaftswahlen nur eine Momentaufnahme der Politik der einzelnen Strömungen darstellen, so sind die vorgeschlagenen Plattformen keineswegs so unterschiedlich, dass sie einen politischen Bruch in der Wahlfage rechtfertigen würden. Die meisten stellen – im Gegensatz zur Behauptung der CCR – eigentlich einen Schritt nach links dar.

Diese Momentaufnahme schließt logischerweise zukünftige opportunistische Schwankungen nicht aus. Aber diese verdeutlichen auch, dass wir es bei der NPA, einschließlich der größten Strömung um Besancenot und Poutou mit keiner reformistischen Kraft, sondern mit einer zentristischen zu tun haben, deren Politik von Schwankungen zwischen opportunistischen, revolutionären und sektiererischen Positionen gekennzeichnet ist.

In dieser Lage müssten RevolutionärInnen versuchen, diese zeitweilige Entwicklung weiterzutreiben und eine gemeinsame Kandidatur auf einem gemeinsamen Aktionsprogramm mit einer systematischen Diskussion der Ursachen der Krise der NPA zu verbinden. Der Name der/s KandidatIn spielt dabei eine zweitrangige Rolle, solange er/sie einigermaßen das Vertrauen der gesamten Organisation genießt, was neben seiner Bekanntheit in der Öffentlichkeit für Besancenot sprechen würde.

In jedem Fall ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl nicht mit einer Lösung der Krise der NPA verwechselt wird. Schließlich ist es zur Zeit relativ einfach, eine revolutionäre, antikapitalistische Kandidatur zu proklamieren. Mélenchon hat viel an seiner Attraktivität eingebüßt, so dass seine Aussichten, die zweite Runde der Wahl zu erreichen, geringer ausfallen als 2017 und daher eine taktische Stimmabgabe und eine Unterordnung unter seinen Wahlkampf nicht sonderlich viel Sinn ergibt. Zum andern kann eine Kandidatur nicht nur eine radikale Plattform präsentieren, sie kann unter dem Nimbus der Einheit dazu führen, dass politische Probleme und Schwächen weiter aufgeschoben werden, die zum Niedergang der NPA geführt haben und weiter führen werden.

Die Lage in Frankreich und die Probleme der NPA

Dazu gehört unglücklicherweise auch die Einschätzung der politischen Lage und der Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in Frankreich selbst – ein Problem, das mehr oder minder ausgeprägt bei allen Plattformen auftaucht.

Frankreich machte in den letzten Jahren beachtliche Klassenkämpfe durch, die auch manche Angriffe bremsen konnten, und die Lohnabhängigen sind ungleich streik- und kampfbereiter als in Deutschland, Britannien und den meisten anderen imperialistischen Ländern in Europa. Nichtsdestotrotz profitierte vor allem die Rechte von den Krisen, die die Regierung Macron durchlebte. Die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung) und Marine Le Pen gelten heute als die größten HerausforderInnen Macrons. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie es in die Stichwahlen bei der Präsidentschaftswahl schafft und dort könnte sie 40 % der Stimmen abräumen. Bei Regionalwahlen gehen rechtskonservative Parteien mittlerweile mit der RN einen Block ein. Drei Viertel aller FranzösInnen schließen nicht grundsätzlich aus, ihre Stimme für die RN abzugeben.

Zugleich setzen sich die Agonie der Sozialdemokratie und die öffentliche Marginalisierung der KP fort. Melénchon vollzog 2017 einen Rechtsschwenk vom Reformismus zum Linkspopulismus, hat aber seit 2017 deutlich an Anziehungskraft verloren.

Trotz sozialer Bewegungen und massiver Kämpfe konnte die „radikale“ Linke von dieser Lage nicht profitieren, sondern erlebte selbst einen dramatischen Niedergang, der vor allem einer der NPA ist. Von den ehemals 9000 Mitgliedern sind ca. 80 % verlorengegangen – entweder indem sie sich reformistischen oder populistischen Kräften zuwandten oder überhaupt aus der organisierten Politik ausschieden.

Dieses Kräfteverhältnis wird von der NPA jedoch nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Ein zentraler Grund dafür ist die falsche Einschätzung der Gilets Jaunes (Gelbwesten). Bei allen Plattformen treten diese als fortschrittliche Massenbewegung gegen die Regierung auf. Ihr kleinbürgerlicher Klassencharakter, ihre populistische Ausrichtung spielen in den Erwägungen keine Rolle. Daher werden auch unangenehmen Tatsachen ausgeblendet wie die überdurchschnittliche Unterstützung der RN von AnhängerInnen der Gelbwesten bei Wahlen. Umfragen zufolge stimmten 44 % der AnhängerInnen der Gelbwesten bei den Europawahlen für RN.

Statt dessen hoffen mehr oder weniger alle Flügel der NPA – die „linken“ zum Teil mehr als die „rechten“ – darauf, dass die Gelbwesten die Basis für eine radikale Bewegung gegen die Regierung und eine Erneuerung der ArbeiterInnenklasse abgeben. Diese impressionistische Methode erlaubt zwar eine „optimistische“, genauer eine beschönigende Einschätzung der politischen Lage. Sie macht aber blind dafür, dass mit den Gelbwesten das KleinbürgerInnentum als prägende Kraft in der politischen Konfrontation hervortrat und die ArbeiterInnenklasse in dieser Bewegung eine untergeordnete Kraft darstellte. Überhaupt fehlt den NPA-Strömungen ein Verständnis des Populismus und seines Unterschieds zum Reformismus, so dass der Rechtsschwenk von Mélenchon im Jahr 2017 überhaupt nicht in seiner Bedeutung zur Kenntnis genommen wird.

Die Stärkung des kleinbürgerlichen Populismus wurde glücklicherweise durch die großen Streiks und Kämpfe gegen die sog. Rentenreform Ende 2019/Anfang 2020 ein Stück weit gebrochen. Hier zeigte sich die Bedeutung und Rolle der ArbeiterInnenklasse. Aber der Streik konnte seine Ziele nicht erreichen und fragmentierte am Ende. Zugleich wurde in dieser Bewegung die zentrale Rolle der Gewerkschaften nicht nur bei Arbeitskämpfen, sondern auch bei politischen Klassenkämpfen mit der Regierung deutlich. Das trifft vor allem auf die CGT zu, die in dieser  Konfrontation faktisch wie eine politische Führung der Klasse agierte.

Während die Dokumente der NPA-Konferenz kein Wort der Kritik, der Problematisierung oder zur Einschätzung des Klassencharakters der Gilets Jaunes verlieren, tauchen die Gewerkschaften und ihre Führungen nur als BremserInnen und VerräterInnen auf. Zweifellos sind das auch viele BürokratInnen. Aber erstens spielen z. B. CGT und SUD/Solidaires in praktisch allen Konfrontationen eine linkere und kämpferischere Rolle als CFDT oder auch FO. Zweitens fehlen in allen Dokumenten Forderungen an die Gewerkschaften. Wie aber sollen in Frankreich politische Massenstreiks, große Klassenkämpfe auf betrieblicher Ebene zustande kommen ohne die Gewerkschaften? Auch wenn diese verglichen mit Deutschland oder Britannien relativ wenige Mitglieder haben, so sind sie viel stärker Vereinigungen aktiver gewerkschaftlicher ArbeiterInnen, also der aktiven KollegInnen in vielen Betrieben und Verwaltungen.

Gerade angesichts der aktuellen Defensive, laufender und drohender Angriffe und des Aufstiegs der Rechten kommt der Bildung einer ArbeiterInneneinheitsfront eine grundlegende Bedeutung zur Organisierung von Abwehrkämpfen zu, um von der Defensive in die Offensive zu kommen. Dies bedeutet aber auch, gerade gegenüber den Gewerkschaften (aber auch gegenüber reformistischen Parteien und selbst gegenüber den AnhängerInnen der FI) eine aktive Politik der Einheitsfront einzuschlagen. Es reicht nicht, diesen den Unwillen zur Mobilisierung vorzuwerfen. Die NPA müsste vielmehr versuchen, diese wo immer möglich in die Aktion, Einheitsfront zu zwingen.

Diese Methode, die natürlich auch auf den Kampf gegen Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung anwendbar ist, fehlt jedoch in den Dokumenten fast vollständig. Der Ruf nach Aktionskomitees, nach Mobilisierungen und Kontrolle der Kämpfe von unten stellt zwar einen wichtigen Aspekt jeder Einheitsfrontpolitik dar, aber er kann und darf eine systematische Politik gegenüber bestehenden Massenorganisationen nicht ersetzen.

Das Problem der Einheitsfront und des Verhältnisses von Aktionskomitees und Kampforganen der Klasse zu den politischen und gewerkschaftlichen Massenorganisationen taucht aktuell in der NPA nicht auf. Es handelt sich daher auch um keine revolutionäre Antwort auf vorhergehende Anpassung z. B. bei den Regionalwahlen, sondern nur das Ersetzen eines Fehlers durch sein nicht minder problematisches Gegenteil.

Ein falsches Verständnis der Einheitsfrontpolitik, von Reformismus und Populismus sind nur einige der Fehler, die die NPA seit ihrer Gründung begleiten. 2009 proklamierte sie noch richtigerweise, dass es ihre Aufgabe der NPA darin läge, ein Programm zu erarbeiten und zu konkretisieren. Dieser richtige Ansatz, der allein dazu in der Lage gewesen wäre, die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen zu überwinden, wurde jedoch nicht verfolgt. Vielmehr operierte die NPA als Organisation, in der an allen wichtigen Wendepunkten große und hitzige Differenzen auftauchten, die zu Mitgliederverlusten führten, ohne dass die Streitfragen geklärt wurden.

Hinzu kommt, dass ohne eine Überwindung ihrer programmatischen Differenzen die einzelne Strömungen von Beginn an wie getrennte Organisationen agierten, die Beschlüsse, die ihnen zuwiderliefen, einfach ignorierten. Die Handlungsfähigkeit der NPA wurde dadurch fortschreitend geringer.

Wenn die NPA ihre Krise überwinden will, wenn der aktuelle Kongress und die nächsten Monate nachträglich mehr sein sollen als ein weiteres Kapitel einer langgezogenen Agonie, dann muss sie diese Fragen angehen. Sie muss die Intervention in die Präsidentschaftswahl nutzen zur Kampagne für eine Massenbewegung gegen die Krise, zur Erarbeitung und Verbreitung eines Aktionsprogramms und zur systematischen Diskussion um die Überwindung der Differenzen zwischen den Strömungen. Nur auf diesem Weg kann aus der zentristischen Organisation eine revolutionäre werden.




Frankreich: Macrons Krieg gegen den „Separatismus“

Kady Tait/Dave Stockton, Infomail 1136, 25. Januar 2021

Am 9. Dezember hielt Frankreichs Premierminister Jean Castex eine Pressekonferenz ab, um die Veröffentlichung eines „Gesetzentwurfs zur Stärkung der republikanischen Werte“ anzukündigen, der angeblich darauf abzielt, den Laizismus (Trennung von Religion und Staat) und die Meinungsfreiheit zu verteidigen, die angeblich von der „ruchlosen Ideologie des radikalen Islamismus“ angegriffen werden.

In der Vorwoche hatte Innenminister Gérald Darmanin ein hartes Durchgreifen gegen 76 Moscheen angekündigt, die beschuldigt werden, „islamistischen Separatismus“ zu fördern. Die Moscheen werden von der Polizei untersucht und diejenigen, die als „Brutstätten des Terrorismus“ gelten, werden unter dem neuen Gesetz, das ursprünglich den Titel „gegen Separatismus“ trug, geschlossen. Darmanin hat sogar gefordert, Halal (nach islamischer Lehre erlaubte)-Lebensmittel aus den Supermärkten zu entfernen, weil sie angeblich antifranzösisch seien.

Frankreich, das mit 5,7 Millionen, das sind 8,8 Prozent der Bevölkerung, die größte muslimische Gemeinschaft Europas beherbergt, war auch Schauplatz einer Reihe blutiger Terroranschläge, die entweder von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen verübt wurden, die von dschihadistischen Terrorgruppen wie ISIS oder al-Qaida und ihren AblegerInnen inspiriert wurden oder mit ihnen in Verbindung standen.

Die Serie begann mit den Morden an 16 Menschen bei der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015. Es folgten die Massenmorde an 130 Menschen und 350 Verletzten in der Konzerthalle Bataclan, im Stade de France und in Bars und Restaurants im Zentrum von Paris am 13. November 2015. Dann kam das Massengemetzel an unschuldigen Menschen, die den Bastille-Tag in Nizza am 14. Juli 2016 feierten, mit 86 Toten.

Das neue Gesetz wurde bereits im Sommer vorbereitet, aber die schreckliche Enthauptung eines Lehrers, Samuel Paty, am 16. Oktober, dicht gefolgt von der Ermordung von drei Menschen in der Kirche Notre Dame in Nizza am 29. Oktober, entfachte nicht nur in der Bevölkerung Gefühle des berechtigten Entsetzens und der Empörung gegen die TäterInnen, sondern heizte auch die Kampagne der Regierung gegen den „Separatismus“ an. Dies wiederum hat die Debatte darüber neu entfacht, was der erste Artikel der französischen Verfassung bedeutet, wenn er die Republik als „unteilbar, laizistisch, demokratisch und sozial“ deklariert.

Schiefe Begründung

Natürlich haben sich die revolutionären SozialistInnen immer gegen jede Form der Ein-Personen-Herrschaft gewandt, sei es eines/r MonarchIn oder eines/r PräsidentIn, und sie haben in ihrem Programm die Forderung nach der Trennung zwischen Staat und Kirche oder jeder anderen religiösen Körperschaft erhoben. Wenn Macron jedoch versucht, sein neues Gesetz mit dem Verweis auf das von 1905 zu rechtfertigen, das die Laïcité, den Laizismus, in der Dritten Republik verankerte, vergleicht er nicht Gleiches mit Gleichem.

Dieses Gesetz hat die zentrale Bastion der Reaktion, die katholische Kirche, ihres Einflusses in Schulen, öffentlichen Ämtern und in der Armee beraubt. Da MuslimInnen in Frankreich über wenig oder gar keine institutionelle Macht verfügen, anders als die katholische Kirche, die immer noch 15 % der Grundschulen und 20 % der weiterführenden Schulen betreibt, stellen sie keine Bedrohung für Demokratie und Freiheit dar. Die Bedrohung für sie geht von einer Regierung und politischen Parteien aus, die Gemeinschaften angreifen, die sich nicht in eine nationale, bürgerliche politische Kultur integrieren wollen oder denen diese Integration faktisch verweigert wird.

Unsere Verteidigung der Rede- und Pressefreiheit bedeutet keine Duldung von Aufstachelung zu Hass oder Gewalt gegen Minderheiten und Einzelpersonen. Es sind keine neuen Gesetze erforderlich, um solches Verhalten zu unterbinden. Was „radikale“ PredigerInnen oder politisch-islamistische Gruppen betrifft, so ist die sicherste Grundlage für die Kontrolle solcher Elemente die Einbeziehung einer Gemeinschaft, deren Mitglieder das volle Recht genießen, ihre Religion auszuüben, und deren Gefühle in einer Gesellschaft respektiert werden, die ihnen und ihren Kindern die gleichen Möglichkeiten wie allen anderen BürgerInnen bietet.

In Wirklichkeit haben das neue Gesetz und sein Inspirator, Präsident Emmanuel Macron, ganz andere Ziele im Sinn: einen „Aufklärungsislam“ mit französischen, säkularen, republikanischen Werten zu schaffen. Dahinter verbirgt sich jedoch ein noch niederer Wunsch: rassistische Stimmen von Marine Le Pen und dem Rassemblement National (ehemals FN) abzuziehen. Schlimmer noch, die von den Medien verbreiteten Reden von Macron und seinen MinisterInnen in den letzten Wochen und Monaten haben zweifellos zu den Angriffen auf Frauen, die den Hidschab (Kopftuch, -schleier) oder Nikab (Gesichtsschleier) tragen, in Paris beigetragen, sowie zu den Schändungen von Moscheen in Montélimar, Bordeaux, Béziers und anderen Städten.

Die Regierung hat auch das Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF) aufgelöst, indem sie Verbindungen zu „radikalen“ Netzwerken behauptete und es als „Feind der Republik“ bezeichnete. Tatsächlich wurde das CCIF gegründet, um MuslimInnen zu verteidigen, die Angriffen ausgesetzt sind, und wird von linken Kampagnen wie S.O.S Racisme unterstützt. Das Verbot ist lediglich ein Versuch, Kritik am islamophoben Rassismus zu verhindern.

Ein „französischer“ Islam?

Macron verspricht eine „Rückkehr der Republik“ in Gebiete in Frankreichs Städten, aus denen sie, wie er behauptet, ausgeschlossen wurde. Er verspricht Mittel für das Bildungs- und Justizministerium, um „eine republikanische Präsenz in jeder Straße, in jedem Gebäude“ zu gewährleisten.

Das neue Gesetz stellt Moscheen nicht nur unter verstärkte Überwachung und Aufsicht, sondern verlangt auch, dass ihre Imame in Frankreich ausgebildet und zertifiziert werden. Indem es den Fluss ausländischer (hauptsächlich türkischer und saudischer) Finanzierung und Ausbildung drastisch behindert, hat das neue Gesetz sein Ziel erklärt, einen staatlich sanktionierten Islam zu schaffen. Islamische Organisationen, die Gelder vom französischen Staat erhalten, müssen eine „säkulare Charta“ unterzeichnen. Die Gesetzgebung umfasst mehr Mittel für die Hochschulbildung und die Lehre der islamischen Kultur, Zivilisation und Geschichte … aus französischer Sicht.

In einer Rede, die dem neuen Gesetz folgte, nahm Macron am 2. Oktober wiederholt Bezug auf das, was er „Separatismus“ nannte, ein Konzept, das er definierte als, „ein … politisch-religiöses Projekt, das sich durch wiederholte Diskrepanzen mit den Werten der Republik materialisiert, was oft dazu führt, dass … sportliche, kulturelle und kommunale Praktiken entwickelt werden, die als Vorwand für die Lehre von Prinzipien dienen, die nicht mit den Gesetzen der Republik übereinstimmen“.

In letzter Zeit hat dieser Begriff den „Kommunitarismus“ abgelöst, den der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy verwendet hat. Er machte sich berüchtigt, als er als Innenminister zur Zeit der Unruhen 2005 in den Wohnsiedlungen der Außenbezirke sagte, er würde die Polizei als Hochdruckreiniger einsetzen (kärcherisieren), um den „Abschaum“ aus den Banlieues zu entfernen. Sarkozy, der sich auf eine Kandidatur für die Präsidentschaft vorbereitete, spielte die antiimmigrantische Karte aus, um der Herausforderung durch Jean-Marie Le Pens FN den Wind aus den Segeln zu nehmen. Macron, der sich im April 2022 zur Wiederwahl stellt und dessen Umfragewerte ihn bei 26 % gegen Marine Le Pens 25 % sehen, hofft, diesen demagogischen Trick wieder anwenden zu können.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat eine ganze Reihe islamfeindlicher Gesetze und kommunaler Verordnungen, die sich als Verteidigung des Säkularismus tarnen, die Politik vergiftet. Einem Gesetz von 2004, das den Hidschab an staatlichen Schulen verbot, folgte 2010 eines, das das Tragen der vollen Gesichtsverhüllung auf der Straße bannte. Der Senat verbot sogar verschleierten Müttern, mit ihren Kindern auf Klassenfahrten zu gehen.

Ein Maß für die antimuslimische Hysterie, die das Land erfasst hat, zeigte sich, als einige lokale Behörden versuchten, Alternativen ohne Schweinefleisch in Schulkantinen zu verbieten. Im Jahr 2013 richtete der Präsident der Sozialistischen Partei, François Hollande, eine Laizität-Beobachtungsstelle ein, um das Gesetz von 1905 anzuwenden und weiterzuentwickeln. 2016 versuchte die Polizei, Frauen in sogenannten Burkinis an einem Strand in Südfrankreich zu zwingen, diese auszuziehen. Nichts könnte besser kalkuliert sein, um dafür zu sorgen, dass französische MuslimInnen auf radikale PredigerInnen hören, wenn sie behaupten, die französische Gesellschaft sei von Natur aus antimuslimisch.

In einer Gesellschaft, die mit dieser Art von reaktionären Vorurteilen gesättigt ist, überrascht es nicht, dass Macron eine Reihe von pseudoakademischen Rechtfertigungen aufgreift, um den muslimischen Gemeinschaften diese demütigenden Einschränkungen aufzuerlegen, weil sie sich nicht an die Werte der säkularen Republik anpassen.

Macrons Rede entlehnte ihr Hauptthema aus den Werken einer Reihe von Intellektuellen. Ein Paradebeispiel dafür bildet der Historiker und Philosoph Georges Bensoussan. Er schrieb 2002 das Buch „Die verlorenen Territorien der Republik“ und 2017 „Ein unterwürfiges Frankreich: die Stimmen der Ablehnung“ (Une France soumise: Les voix du refus).

In einem Vorwort zu Bensoussans Buch schrieb die prominente Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter, dass „eine zweite Gesellschaft versucht, sich heimtückisch innerhalb unserer Republik durchzusetzen, ihr den Rücken zu kehren, und explizit auf Separatismus und sogar Sezession abzielt“.

Es ist nicht das erste Mal, dass Feministinnen, ob liberal oder „sozialistisch“, ein gefährliches Spiel mit dem Säkularismus und den muslimischen Gemeinschaften treiben. Viele französische Feministinnen unterstützten das staatliche Verbot des Hidschab, weil sie daraus den Schluss zogen, dies sei Teil des Kampfes gegen patriarchale und sexistische islamische Praktiken. Noch einmal Badinter: „Wenn wir Frauen das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Schulen erlauben, dann haben die Republik und die französische Demokratie ihre religiöse Toleranz deutlich gemacht, aber sie haben jede Gleichberechtigung der Geschlechter in unserem Land aufgegeben.“

Natürlich muss die Linke die Frauen in den muslimischen Gemeinschaften im Westen unterstützen, die gegen die Unterdrückung der Geschlechter in ihren Gemeinschaften und ihren Familien kämpfen. Ebenso müssen wir die heldenhaften Kämpfe von Feministinnen und Sozialistinnen, die in muslimischen Ländern wie Afghanistan, Iran, Ägypten, der Türkei, Pakistan oder Saudi-Arabien für die Rechte der Frauen kämpfen, bekannt machen und unterstützen. Wir müssen die Behauptungen von „AntiimperialistInnen“, DrittweltlerInnen und PostmodernistInnen zurückweisen, dass wir damit westliche, rassistische Werte aufzwingen würden. Die Unterstützung der militärischen Interventionen eines imperialistischen Staates und seiner rassistischen Maßnahmen im eigenen Land ist jedoch ein verlogener und reaktionärer Feminismus.

Ganz im Gegenteil zur Befreiung verleiht sie reaktionären PredigerInnen ein falsches MärtyrerInnentum und schürt rassistische Islamophobie in der Mehrheitsbevölkerung. Sie ignoriert auch die Tatsache, dass es muslimische Frauen sind, die oft in vorderster Front Opfer islamfeindlicher Angriffe werden. In jedem Fall können sie nicht gegen ihren Willen von patriarchalen Strukturen „befreit“ werden.

Hier sollten wir uns an die Worte des irischen Marxisten James Connolly aus dem Jahr 1915 über den Kampf der Frauen erinnern: „Niemand ist so geeignet, die Ketten zu sprengen, wie die, die sie tragen, niemand ist so gut ausgestattet, um zu entscheiden, was eine Fessel ist.“

Imperialismus

Frankreich ist nicht nur das Vorbild und der Archetyp der bürgerlichen Revolution. Neben Großbritannien war es von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die erfolgreichste kolonisierende und imperialistische Macht. Es war auch diejenige, die den längsten und wildesten Widerstand gegen den Verlust dieses Imperiums leistete, nicht zuletzt, weil sie ihre ehemaligen SiedlerInnenkolonien, vor allem Algerien, als französisch betrachtete.

Indochina und Algerien hinterließen tiefe Narben im französischen Nationalbewusstsein und, in Form von De Gaulles Fünfter Republik, auch in den staatlichen Institutionen. Diese Geschichte zog, wie die des britischen Empires, ein demographisches Erbe nach sich: Millionen von Menschen, deren familiäres Erbe in diesen Kolonien liegt. Was das Erbe von „afrikanischem Frankreich“ und „französischem Algerien“ anbelangt, so erstreckt sich dieses Erbe auf die dominierende Religion und die Sprachen dieser Gemeinschaften.

Ein weiteres Erbe ist die unverschämte Forderung französischer PolitikerInnen, sowohl der sogenannten Linken als auch der Rechten, dass diese Menschen ihre Kultur nicht ausüben oder bewahren oder ihre Religion öffentlich zum Ausdruck bringen sollen. Wenn sie es doch tun, werden sie des Kommunitarismus oder Separatismus bezichtigt. Aus diesem Grund haben sich französische AkademikerInnen und Präsidenten oft in Anklagen über den „angelsächsischen Multikulturalismus“ ergangen. Kurz gesagt, der französische bürgerliche Säkularismus ist untrennbar mit dem französischen Imperialismus verbunden, der auch keine tote Geschichte verkörpert, sondern eine lebendige, brutale Realität in einem großen Teil Afrikas.

Nicht nur Le Pen spielt auf dieses Thema an, sondern auch die Präsidenten Sarkozy und Macron. Selbst der „sozialistische“ Präsident François Hollande, der zwar bestreitet, dass der Republikanismus eine rivalisierende Religion ist, konnte 2016 sagen: „Was wir brauchen, um gemeinsam erfolgreich zu sein, ist die Schaffung eines Islams von Frankreich“. Ob es nun brutal oder höflich ausgedrückt wird, dies ist eine Forderung nach Zwangsassimilation. Sie wird den gegenteiligen Effekt haben, wie immer, die „natürliche“ Vermischung der Kulturen der Bevölkerungen zur Bereicherung aller zu verlangsamen oder umzukehren.

So beschritt Macron einen ausgetretenen Pfad, als er das Thema eines „Rückzugs der Republik“ in den 1.500 öffentlichen Wohnsiedlungen der inneren Vororte von Paris und anderen französischen Städten mit ihrer Jugend nordafrikanischer und subsaharischer muslimischer Herkunft aufgriff. Er behauptete: „Wir haben unseren eigenen Separatismus in einigen unserer Viertel geschaffen, wo die Versprechen der Republik nicht mehr eingehalten werden. Wir haben Bevölkerungsgruppen mit derselben Herkunft und derselben Religion konzentriert.“

Er beschrieb die dort vorherrschende Kultur als „eine systematische Art und Weise, die Dinge zu organisieren, um gegen die Gesetze der Republik zu verstoßen und eine parallele Ordnung zu schaffen, andere Werte zu etablieren, eine andere Art und Weise zu entwickeln, die Gesellschaft zu organisieren, die zunächst separatistisch ist, aber deren ultimatives Ziel es ist, sie vollständig zu übernehmen.“

Angesichts der französischen Bilanz von Massenmorden und Folter während des algerischen Unabhängigkeitskrieges (1954–62) ist es kaum verwunderlich, dass selbst die Jugendlichen, deren Familien sich vor 50 Jahren in Frankreich niederließen, die Trikolore nicht als Flagge der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ sehen, sondern als eine der Armut, des Kolonialismus und der Grausamkeit. Auch war die Brutalität nicht auf Algerien beschränkt. Als AlgerierInnen am 17. Oktober 1961 trotz einer Ausgangssperre in Paris friedlich gegen die französische Unterdrückung demonstrierten, eröffnete die Polizei das Feuer, tötete 300 Menschen und warf ihre Leichen in die Seine. Der berüchtigte Präfekt der Pariser Polizei, der Nazi-Kollaborateur Maurice Papon, wurde nie vor Gericht gestellt, und eine lange Karriere, die auch die Hinrichtung von WiderstandskämpferInnen unter dem Vichy-Regime umfasste, endete 1981 im „ehrenvollen“ Ruhestand.

Auch die Frage des französischen Imperialismus in Afrika gehört nicht der Vergangenheit an. Indem er den islamistischen Radikalismus stigmatisierte, brachte Macron diesen direkt mit den Interessensphären des französischen Staates im Nahen Osten und in Afrika in Verbindung:

„Also überall gibt es eine Krise des Islam, der von diesen radikalen Erscheinungsformen, diesen radikalen Impulsen und dem Wunsch nach einem neu erfundenen Dschihad, der die Zerstörung des Anderen bedeutet, infiziert wird: Das Projekt für ein territoriales Kalifat, das wir in der Levante bekämpft haben, das wir in der Sahelzone bekämpfen, und überall die radikalsten, mehr oder weniger heimtückischen Formen davon.“

Offensichtlich geht es ihm um die Sphären der militärischen Aktivitäten Frankreichs in den ehemaligen französischen Kolonien in Afrika südlich der Sahara. Etwa 4.500 Militärangehörige koordinieren den Einsatz gegen dschihadistische Gruppen in Mali, Mauretanien, Niger, Burkina Faso und Tschad. Diese ehemaligen französischen Kolonien haben in der Tat nie aufgehört, unter französischer Vormundschaft zu stehen.

Die Linke und der Laizismus

Die französische Linke neigt dazu, sich in den Kulturkampf um Republikanismus und Laizismus zu verstricken, obwohl sie Macrons drakonische Angriffe auf die Bürgerrechte und seinen offensichtlichen Rassismus verurteilt.

Es gibt keine glaubwürdige Bedrohung des Laizismus durch Frankreichs muslimische Bevölkerung, weder durch Hidschab oder Nikab tragende Frauen in Schulen, auf den Straßen oder an den Stränden, noch durch Halal-Essensangebote in Restaurants. Die reale Bedrohung liegt vielmehr im repressiven und intoleranten Vorgehen des Staates und seiner Verbreitung einer staatlichen Zwangsideologie als in einer angstinduzierten Selbstzensur.

Was von Macrons Gesetz und seinem Wettbewerb mit Marine Le Pen um die rassistischen Stimmen angegriffen wird, sind demokratische Rechte, und dazu gehören die religiöser Minderheiten, nicht mutwillig von Antiklerikalen provoziert zu werden.

Die genuin marxistische Position ist, dass Religion eine private Angelegenheit sein sollte, soweit es den Staat betrifft. Dazu gehört sicherlich die Verteidigung der Freiheit der Kritik und der Widerstand gegen staatliche oder kommerzielle Medienzensur, aber sie vermeidet Aktionen gegen oder für eine bestimmte Religion. In diesem Zusammenhang ist es falsch, LehrerInnen zu FrontkämpferInnen in einem Kulturkrieg gegen eine Religion zu machen, selbst unter edlen Losungen wie der Redefreiheit.

Auf jeden Fall ist eine solche Freiheit nie als „absolutes Recht“ verstanden worden (in einem Kino „Feuer!“ zu rufen, rassistische Beleidigungen zu schreien, um eine Menschenmenge gegen MigrantInnen aufzuhetzen). Absolute Redefreiheit würde bedeuten, die Rechte anderer Menschen zu verletzen. Die Aufstachelung zu rassistischen Konflikten ist keineswegs dasselbe wie die Freiheit, eine Religion zu kritisieren (oder den Atheismus oder den Säkularismus, was das betrifft).

Die französische Linke muss eine unabhängige Rolle spielen. Die Aufgabe besteht darin, die muslimischen Jugendlichen und ArbeiterInnen in die französische ArbeiterInnenbewegung einzubinden, und das geht nicht, indem wir uns in die Fahne und Ideologie der Bourgeoisie hüllen. Wenn wir das täten, würden wir uns gegenüber dem Kulturkrieg, der gegen die französischen MuslimInnen geführt wird, auf die falsche Seite der Barrikaden stellen. Echte Toleranz muss auf Verständnis und gemeinsamem Kampf beruhen, anstatt eine Religion zu verspotten und zu verhöhnen, als ob dies sie verbannen würde.

Macrons Strategie besteht darin, einen Teil der muslimischen Bevölkerung zu „republikanisieren“, indem er sie entlang von Klassenlinien spaltet. Wenn der Angriff auf den religiösen Obskurantismus und die Argumente für den Säkularismus nicht von links kommen, auf einer Klassenbasis, werden sie den gegenteiligen Effekt zeitigen.

Die französische Linke muss lernen, dass sie einen aussichtslosen Kampf führen wird, wenn sie sich nicht gegen die Attacken des französischen Staates auf Minderheiten stellt. Diese Angriffe treiben die Menschen der Mehrheitsgesellschaft in die Arme der kleinbürgerlichen und nationalistischen Organisationen, ob diese nun die rassistischen PopulistInnen der RN/FN oder die ausgesprochenen FaschistInnen sind. Unter der muslimischen Minderheit werden sie den „Radikalismus“ und sogar den Dschihad-Terrorismus fördern.

Das Echo auf die Parolen und Forderungen des bürgerlichen Säkularismus ignoriert die reaktionären Zwecke, für die sie benutzt werden. Redefreiheit, Versammlungsfreiheit und Säkularismus werden leere Abstraktionen bleiben, wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn sie nicht durch Werte der ArbeiterInnenklasse wie Solidarität und kollektives Handeln zur Verteidigung der Unterdrückten untermauert werden. Der eine Weg führt zu Islamophobie, der andere zu einem militanten Klassenkampf gegen das System, das auf rassischer, nationaler und sexuell-geschlechtlicher Unterordnung und der darauf basierenden Förderung aller Arten von Ungleichheit beruht.




Frankreich: Nieder mit den „Sicherheits“-Gesetzen und der Straffreiheit der Polizei!

Marc Lassalle, Infomail 1128, 1. Dezember 2020

Die zweite Welle der Pandemie, verbunden mit einem zweiten monatelangen Shutdown, stellt sicherlich bei weitem nicht die beste Voraussetzung dar, um einen Abwehrkampf gegen das drakonische neue Sicherheitsgesetz von Staatspräsident Emmanuel Macron zu organisieren. Doch seine Regierung sieht sich plötzlich mit großem Widerstand konfrontiert: Mehr als hunderttausend marschierten am 28. November in Dutzenden von Demonstrationen im ganzen Land. Allein in Paris war die Demonstration massiv, und selbst das Innenministerium, das dafür berüchtigt ist, solche Zahlen herunterzuspielen, sprach von 46.000 daran teilnehmenden Menschen. Nach Angaben der OrganisatorInnen beteiligten sich 200.000!

Die Menschen auf den Straßen haben absolut Recht, das neue ultrarepressive Sicherheitsgesetz abzulehnen. Sollte es angenommen werden, würde es jede/n bestrafen, der/die Bilder von PolizistInnen mit dem Ziel verbreitet, „ihre physische oder psychische Integrität zu gefährden“. Natürlich sind die Bestimmungen absichtlich vage gehalten, aber wenn es angenommen würde, würde es die Rechte von JournalistInnen ernsthaft einschränken, ebenso wie die Freiheit von allen Menschen, missbräuchliche oder gewalttätige Handlungen der Polizei als Beweismittel für eine Anzeige zu filmen.

„Auf dem Weg zu einem Polizeistaat?“ lautet der Titel einer Analyse dieses Gesetzes, die vom Syndicat de la Magistrature, der Gewerkschaft der RichterInnen, erstellt wurde und in der behauptet wird, dass das Gesetz jede demokratische Kontrolle der Polizei noch weiter schwächen würde. Gérald Darmanin, Innenminister und Hauptbefürworter dieses Gesetzes, hatte den VertreterInnen der Polizei bereits vor der Abstimmung über das Gesetz in der Assemblée Nationale (dem französischen Parlament) versichert: „Seien Sie versichert, dass wir zusammen mit dem Präsidenten und dem Premierminister immer da sein werden, um Sie zu schützen.“

Laut der NGO-ReporterInnen von Sans Frontières (Ohne Grenzen) „könnten die PolizeibeamtInnen, wenn sie mit einem/r JournalistIn konfrontiert werden, der/die sie filmt, davon ausgehen, dass diese Bilder in großem Umfang mit dem Ziel reproduziert werden, sie zu kompromittieren, und könnten daher die betreffenden Personen festnehmen, um sie wegen eines offensichtlichen Vergehens zu verfolgen“. In der Tat hat Darmanin bereits klargestellt, dass JournalistInnen, die über Demonstrationen berichten wollen, sich bei den Polizeibehörden akkreditieren sollten, was eine weitere offensichtliche Verletzung der Rechte der Presse darstellt.

Tagtägliche Polizeigewalt und Rassismus

Zwei aktuelle Beispiel von Polizeimethoden machen deutlich, warum jede/r die bestehenden Rechte verteidigen sollte. Die erste ereignete sich am 24. November, als die Polizei etwa hundert MigrantInnen, die auf dem Place de la République (Platz der Republik) im Zentrum von Paris Zelte aufgeschlagen hatten, gewaltsam vertrieb. Einige MigrantInnen wurden brutal zu Boden geworfen, andere wie Müll aus ihren Zelten gezerrt, mit Schlagstöcken geschlagen und mit Tränengas besprüht. Selbst Darmanin fühlte sich genötigt, diese Bilder als „schockierend“ zu bezeichnen. Natürlich stellt das keinen „Einzelfall“ dar, sondern war und ist seit Monaten alltägliche Praxis im Umgang mit MigrantInnen und Roma, die zu Tausenden aus maroden Lagern rund um Paris und anderswo vertrieben wurden.

Der gewalttätige Überfall von vier PolizistInnen auf den (schwarzen) Musikproduzenten Michel Zecler, nur weil er keine Gesichtsmaske trug, begleitet von rassistischen Beleidigungen, erinnert uns ein weiteres Mal daran, dass Polizeibrutalität kein Einzelfall ist. Ohne diese Bilder wären diese Übergriffe unbekannt oder unbewiesen geblieben, und die Polizei würde von völliger Straffreiheit profitieren. Als Reaktion auf den Protest von „Black Lives Matter“ in den USA marschierten im Juni zwanzigtausend Menschen in Paris, um diese systematische Anwendung staatlicher Gewalt anzuprangern, wie z. B. den Erstickungstod von Adama Traoré im Jahr 2016 im Polizeigewahrsam, oder die Vergewaltigung eines jungen Mannes, Théo, mit einem Schlagstock, der so schwer verletzt wurde, dass er operiert werden musste usw. Beides geschah in Aulnay-sous-Bois im Norden von Paris.

Das neue Sicherheitsgesetz ist nur das letzte in einer langen Liste repressiver Maßnahmen, die oft im Gefolge von Terroranschlägen überstürzt eingeführt wurden: 30 solcher Gesetze in den letzten 20 Jahren. Vor einem Monat schockierte der brutale Mord an Samuel Paty, einem Lehrer, bei einem Terroranschlag das ganze Land. Diesen Schock versuchte die Regierung für repressive Gesetze zu missbrauchen – unter dem Vorwand, die „Meinungsfreiheit“ zu verteidigen – ein makaberer Witz, wenn man bedenkt, was sie selbst tut: das Arsenal der Sicherheitsgesetze zu verstärken und eine brutale Unterdrückung jeglicher Proteste vorzubereiten.

Dasselbe geschah unter allen früheren Präsidenten: Jacques Chirac, dann Nicolas Sarkozy und François Hollande. Abgesehen von der Stärkung eines Polizeistaates haben diese Maßnahmen auch ein kurzfristigeres Ziel: Sie zielen darauf ab, die rechten WählerInnen und sogar die AnhängerInnen des reaktionären Rassemblement National (des ehemaligen Front National; FN) davon zu überzeugen, dass Macron eine energische rechte Politik verfolgt und sie deshalb bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 für ihn stimmen sollten. Es ist kein Zufall, dass alle wichtigen MinisterInnen der gegenwärtigen Regierung Macrons früher Persönlichkeiten der rechtsgaullistischen Partei UMP (Union pour un mouvement populaire; Union für eine Volksbewegung) waren, insbesondere Jean Castex (Premierminister), Gérald Darmanin (Innenministerium) und Bruno Le Maire (Wirtschaft).

Ein weiteres kürzlich von der Regierung vorgeschlagenes Gesetz gegen „Separatismus“ (gegen „antirepublikanisches Gedankengut“) stellt in Wirklichkeit ein weiteres islamfeindliches Gesetz dar, das nahelegen soll, dass der Islam unweigerlich hinter Unsicherheit und Terrorismus steht. Hinzu kommen eine weit verbreitete, von der Regierung geförderte Hexenjagd in den Medien, die Halal-Regale (mit Lebensmitteln gemäß islamischem Kodex) in Supermärkten als Zeichen von „Separatismus“ anprangert, Angriffe auf die „Islamo-Linke“ als gefährlichen Wundbrand an Universitäten oder die Schließung des Kollektivs gegen Islamophobie (CCIF), einer Organisation zur Verteidigung der Opfer antimuslimischer Angriffe.

Während die Regierung nun kleinere symbolische Gesetzesänderungen anbietet, fordern die Gewerkschaften zu Recht Einstellung und Aufgabe des gesamten Projekts. Die Solidarität zwischen allen Opfern des Rassismus und der organisierten ArbeiterInnenklasse ist unerlässlich für diesen Kampf. Angesichts einer neuen Welle von Massenentlassungen in wichtigen Unternehmen wie Renault, das die Schließung seines Werks in Flins, seines wichtigsten französischen Standorts, mit einem Verlust von 2.574 Arbeitsplätzen plant, wird das neue Sicherheitsgesetz morgen gegen ArbeiterInnen und Jugendliche in Streikposten, bei Betriebsbesetzungen oder auf der Straße eingesetzt werden, die ihre Arbeitsplätze und ihre demokratischen Rechte verteidigen.

Die Demonstrationen vom letzten Wochenende können zum Fanal für den Aufbau einer gemeinsamen Massenbewegung werden – gegen die sog. Sicherheitsgesetze, gegen Rassismus und zum Kampf gegen Schließungen und Massenentlassungen!




Frankreich: Nieder mit der Krankheit des Kapitalismus!

Marc Lassalle, Infomail 1097, 31. März 2020

„Wir befinden
uns im Krieg. Die gesamte Aktion der Regierung und des Parlaments sollte nun
auf die Bekämpfung der Epidemie ausgerichtet werden.(…) Wir befinden uns im
Krieg. Die Nation wird ihre Söhne und Töchter unterstützen, die als
medizinische Fachleute in den Städten und in den Krankenhäusern an der Front
sind. Wir sind ihnen die Mittel und den Schutz schuldig“.

Mit martialischen Tönen, die sich vage an den reaktionären Premierminister Clemenceau während des Ersten Weltkriegs anlehnten, appellierte Präsident Macron in den letzten zehn Tagen mehrmals an die französische Nation und kündigte die besonderen Bewegungsbeschränkungen an, um die Epidemie zu stoppen. Doch trotz ihrer Schwere können seine Worte kaum eine Realität verbergen, die sich von seiner Erzählung ganz erheblich unterscheidet.

Regierung

Erstens ist die Kriegsmetapher natürlich eine reine Propagandafiktion. Nein, es ist kein Krieg. Es ist die Pandemie, vor der die WHO und andere SpezialistInnen die Regierungen der Welt seit Jahrzehnten gewarnt haben. Was haben sie getan, um sich darauf vorzubereiten? Schlimmer als nichts.

Monatelang hat
die Regierung die Schwere der Krankheit geleugnet. Bis Ende Februar glaubten
die meisten Menschen den Medien und dachten, es handele sich um kaum mehr als
eine Art Grippe. Als ob sie das noch einmal betonen wollte, bestand die
Regierung darauf, den ersten Wahlgang der Kommunalwahlen am 15. März zu
organisieren. Dies war trotz der sich häufenden Beweise und Empfehlungen völlig
verrückt, da es die Verbreitung des Virus dramatisch steigern würde.

Ein weiterer
Beweis ist das schiere Fehlen von Schutzmasken in Frankreich. Im Jahr 2011 gab
es noch etwa eine Milliarde Masken auf Lager. Dann entschied die Regierung,
dass es zu teuer sei, diesen Bestand zu halten, und gab die Verantwortung
angeblich an lokale Organisationen ab. In der Folge verschwand der Bestand, und
heute müssen sogar ÄrztInnen schutzlos an die „Front“ gehen, ganz zu schweigen
von den ArbeiterInnen in den Geschäften, im Transportsektor usw. All dies wurde
durch eine Nebelwand der Propaganda verdeckt, die behauptete, dass Masken nicht
wirklich so nützlich seien und dass es ausreiche, sich nur die Hände zu waschen.
Heute versucht die französische Regierung jedoch krampfhaft, etwa 100 Millionen
Masken aus China zu kaufen, was kaum für einen Monat ausreichen wird.

Dasselbe gilt
für die Virentests. Während die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, zu
testen, zu testen und abermals zu testen, ist das französische System völlig
überfordert und kann nur etwa 2.000 Tests pro Tag durchführen, während
Deutschland ein Mehrfaches davon absolvieren kann und Südkorea bereits einen
guten Bruchteil der Bevölkerung getestet hat.

Natürlich sind
die ÄrztInnen und das Pflegepersonal empört, denn dies ist nur ein weiteres
Zeichen für die schrecklichen Folgen der neoliberalen Politik, die seit
Jahrzehnten von rechten und linken Regierungen auf diesem Sektor betrieben
wird.

Die Zahl der
Krankenhausbetten, die jetzt so kostbar erscheinen, ging zwischen 1982 und 2013
von 612.898 auf 428.987 zurück, ein Rückgang um 30 Prozent als Folge einer
Reihe von Reformen, die den gesamten Sektor umstrukturierten und nur durch den
Willen zur Reduzierung des Staatshaushalts diktiert wurden. In Paris und in
allen Regionen wurden Krankenhäuser geschlossen, weil sie als „nicht rentabel“
eingestuft wurden. Wo sie doch offen blieben, war dies oft nur das Ergebnis
langer Kämpfe der ArbeiterInnen und der lokalen Bevölkerung.

Seit mehr als
einem Jahr streikt das Personal der Notaufnahmen und fordert die Einstellung
von mehr Krankenpflegekräften und ÄrztInnen sowie Lohnerhöhungen. Tatsächlich
sind die Krankenhäuser bei jeder Grippeepidemie überfordert. Infolgedessen
sieht sich das französische System nun mit der Pandemie konfrontiert, die den
Osten des Landes und die Pariser Region besonders schwer getroffen hat, ohne
die notwendige Schutzausrüstung, entwaffnet und geschwächt durch die Regierung
selbst.

Der öffentliche medizinische Forschungssektor hat den Mangel an Finanzmitteln für die Untersuchung dieser speziellen Art von Virus angeprangert. Der Privatsektor hat sie nie als attraktive Option betrachtet, wahrscheinlich weil solche Krankheiten lange Zeit die  halbkoloniale Welt trafen, die für die Damen und Herren der Pharmakonzerne kaum der Mühe wert waren. Um das Jahr 2000, insbesondere mit dem Aufkommen von SARS, wurde im öffentlichen Sektor eine gewisse Forschung über Behandlungen und Impfungen begonnen. Nach dem Abklingen der Epidemie wurde all dies jedoch aufgrund mangelnder Mittel und des dürftigen Interesses der medizinischen Behörden eingestellt. Da SARS dem Coronavirus ähnlich ist, gingen wertvolle Jahre verloren, um sich auf diese neue Epidemie vorzubereiten.

ArbeiterInnenklasse

Natürlich soll
die Kriegsrhetorik der Regierung in Wirklichkeit nur dazu dienen, abweichende
Stimmen zum Schweigen zu bringen. Oder wie Macron es ausdrückt: „Wenn man sich
auf einen Krieg einlässt, muss man sich ganz und gar engagieren, man muss sich
in Einheit mobilisieren“. Unheilvoller Weise war eine der ersten Aktionen
dieses „Krieges“ eine Flut von 25 Dekreten zur Deregulierung der
ArbeiterInnenrechte: Der Arbeitstag wurde auf 12 Stunden (von 10) erhöht, die
Arbeitswoche kann bis zu 60 Stunden (von 48) betragen, die Ruhezeit wird auf 9
Stunden (gegenüber 11 heute) reduziert, und all dies bis Dezember 2020. Die
klare Absicht besteht darin, die ArbeiterInnen am Ende der „Sperrzeit“
überauszubeuten, damit die Bosse einen Teil ihrer Gewinne zurückerhalten
können. In der Tat werden die massiven Refinanzierungspakete, die die Regierung
den Bossen versprochen hat, und das Programm der Verstaatlichungen enorme
Kosten für die ArbeiterInnenklasse verursachen. Wie 2008 sollen sie die
Hauptlast einer massiven Erhöhung der Staatsverschuldung und der Kürzungen des
Sozialsystems und Einschränkungen der Arbeitsrechte tragen.

Auf Initiative der radikalen Linken (NPA, Nouveau Parti anticapitaliste, SUD, Solidaires Unitaires Démocratiques) analysiert ein interessanter Appell aktiver GewerkschafterInnen und AktivistInnen der sozialen Bewegungen die Situation und kritisiert die Regierung. Er enthält eine Reihe von Forderungen, die wir voll und ganz unterstützen können:

  • die sofortige Einstellung aller Unternehmen, die für das Funktionieren der Gesellschaft nicht unerlässlich sind;
  • eine massive und sofortige Finanzspritze für das Gesundheitssystem;
  • Verstaatlichung der pharmazeutischen Industrie;
  • sofortige und groß angelegte Öffnung von Unterkünften für Obdachlose und die sogenannten Sans-Papiers, die keine offiziellen Dokumente besitzen;
  • Schließung von Zentren für amtlich Internierte;
  • die Befreiung eines Maximums von Gefangenen aus den überfüllten Gefängnissen.

Dieser Appell
schließt jedoch mit einer utopischen Note. „Teilung des Reichtums angesichts
von Covid-19. Die Zeit von Covid sollte nicht eine Zeit der Angst, der
Ausgrenzung und des repressiven Staates sein. Sie sollte im Gegenteil eine Zeit
der Solidarität sein, eine Zeit der Organisation der Gesellschaft selbst, um
unsere eigene Solidarität durchzusetzen und zu verwirklichen. Wir sollten
TrägerInnen von Forderungen, Initiativen zur Kontrolle und Neuorganisation der
Gesellschaft, zur sanitären und sozialen Dringlichkeit sein“.

Gegen all dies
haben der Kapitalismus und sein Staat den Krieg erklärt, und sie werden zum
bösartigsten Widerstand fähig sein. Die ArbeiterInnenklasse sollte nicht von
einem friedlichen Prozess träumen, sondern ihre Waffen des Klassenkampfes
vorbereiten und zu den ernsthaftesten Maßnahmen bereit sein, einschließlich des
Generalstreiks, der Revolte und der Machtergreifung, um ihre Eroberungen zu
verteidigen und ihre eigene Neuordnung der Gesellschaft durchzusetzen.