Die französische Arbeiter:innenklasse muss sich gegen rassistische Gesetze wehren!

Marco Lassalle, Infomail 1240, 30. Dezember 2023

Am 19. Dezember hat das französische Parlament ein weiteres Einwanderungsgesetz verabschiedet – das 117. Gesetz zu diesem Thema seit 1945! Aber es ist viel schlimmer als alle vorherigen Gesetze. Es wurde von Innenminister Gérald Darmanin vorgeschlagen, von Präsident Emmanuel Macron unterstützt, von den rechten Senator:innen der Partei Les Républicains stark umgeschrieben und schließlich mit den Stimmen des von Marine Le Pen geführten Rassemblement National (RN) angenommen.

Es ist leicht zu verstehen, warum die rassistische und fremdenfeindliche RN für dieses Gesetz gestimmt und einen ideologischen Sieg errungen hat. Es enthält eine Reihe von Maßnahmen, die dazu führen, dass vielen Migrant:innen grundlegende Leistungen und Rechte vorenthalten werden. Es unterstützt das RN-Ziel der „nationalen Präferenz“ (wonach französische Staatsbürger:innen beim Zugang zu staatlichen Sozialleistungen Vorrang vor Ausländer:innen haben sollten) und wird weitgehend dazu beitragen, die reaktionären und falschen Ideen des RN zu verbreiten: dass Migrant:innen nur nach Frankreich kommen, um von Sozialmaßnahmen zu profitieren, sie für den Mangel an Wohnraum und Arbeitsplätzen verantwortlich, kriminell und gefährlich für die nationale Sicherheit sind. Kurz gesagt, es ist eine giftige Mischung aus Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, gespickt mit Lügen und Verleumdungen.

Maßnahmen

Hier einige der Maßnahmen, die das neue Gesetz vorsieht:

  • Staatliche Leistungen wie Wohnungs- oder Familienbeihilfen werden Migrant:innen erst nach einer Verzögerung (bis zu fünf Jahren) gewährt, je nachdem, ob sie arbeiten oder nicht (obwohl die meisten Migrant:innen bei ihrer Ankunft in Frankreich nicht arbeiten dürfen).

  • Das Gesetz sieht die Einführung von Quoten für Migration vor, und die Legalisierung von migrantischen Lohnabhängigen wird vom Wohlwollen des/der Präfekt:in (Vorsteher:in eines Amtsbezirks) abhängen.

  • Das Gesetz ist ein Schlag gegen den Grundsatz des „loi du sol“, das Recht der in Frankreich Geborenen, mit ihrer Volljährigkeit die französische Staatsbürger:innenschaft zu erlangen, und geht auf ein früheres zurück, das von dem erzreaktionären Charles Pasqua unterstützt wurde.

  • Ausländische Universitätsstudent:innen müssen eine „Kaution“ an den Staat zahlen, die erst bei der Ausreise am Ende des Studiums zurückerstattet wird.

  • Bürger:innen mit doppelter Staatsbürger:innenschaft verlieren die französische, wenn sie sich schwerer Straftaten schuldig machen.

Um die Unterstützung des rechten Flügels zu erhalten, musste die Regierung außerdem versprechen, dass Anfang 2024 AME, die staatliche medizinische Hilfe, mit der alle Einwander:innen dringende medizinische Versorgung erhalten können, „reformiert“, d. h. wahrscheinlich stark eingeschränkt oder abgeschafft wird.

Das Gesetz enthält Maßnahmen, die so schockierend reaktionär sind, dass sich die Regierung sogar an den Verfassungsrat wendet, um einige seiner Artikel außer Kraft zu setzen, da sie gegen die Präambel der Verfassung von 1946 verstoßen, die besagt, dass „niemand wegen seiner/ihrer Herkunft benachteiligt werden darf“.

Die Verabschiedung des Gesetzes war selbst in Macrons Lager ein großer Schock, da 59 Abgeordnete der Regierungspartei dagegen stimmten und ein Minister zurücktrat. Die Behauptung Macrons bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen, er sei ein Bollwerk gegen Marine Le Pen und ihre Ideen, hat sich als eine weitere Lüge erwiesen. Allerdings hat die Arbeiter:innenklasse von den „Linken“ innerhalb des Präsidentenlagers wenig zu erwarten, da sie viele andere Angriffe gegen die Arbeiter:innen akzeptiert oder sogar durchgeführt haben.

Der französische Kapitalismus und die Überausbeutung

Seit Jahrhunderten braucht der französische Kapitalismus billige überausgebeutete Arbeitskräfte. Zunächst in Form von Sklav:innen auf den karibischen Inseln, später als indigene Zwangsarbeiter:innen in seinem Kolonialreich und im letzten Jahrhundert als Migrant:innen, in den letzten Jahrzehnten vor allem aus dem Maghreb. Die demokratischen Rechte dieser Arbeiter:innen wurden systematisch negiert und diese Entrechtung erreichte während des algerischen Unabhängigkeitskrieges in den 1950er und 1960er Jahren ein hysterisches Niveau. Die rassistische Ideologie diente als Rechtfertigung für diese Diskriminierung, obwohl auf allen öffentlichen Gebäuden „Egalité“ (Gleichheit) steht. Ein rassistischer Polizei- und Staatsapparat, dessen Personal nach dem Zweiten Weltkrieg vom faschistischen Vichy-Regime übernommen wurde, war für Repressionen und Massaker an Arbeitsmigrant:innen verantwortlich. Die von Jean-Marie Le Pen gegründete Front National baute auf einer rassistischen Ideologie auf und wandte sich massiv an die Anhänger:innen der Front Algérie Française. Aber auch die traditionellen rechten Parteien haben rassistischem Gedankengut geschmeichelt, und das gilt selbst für die linken Parteien.

Die französische Bourgeoisie war schon immer mehr als bereit, migrantische Arbeitskräfte zu beschäftigen und auszubeuten, die meisten von ihnen aus den ehemaligen französischen Kolonien in Afrika, sowohl im Maghreb als auch in Westafrika. Die rassistische Unterdrückung ermöglicht es den Bossen, sie in schlecht bezahlten Jobs zu halten, wobei ihnen oft grundlegende Arbeits- und Gewerkschaftsrechte verweigert werden. Entgegen der Verleumdung, dass Migrant:innen auf der Suche nach staatlichen Beihilfen nach Frankreich strömen, arbeiten die meisten von ihnen lange Jahre im Verborgenen als Sans Papiers (Menschen ohne Ausweisdokumente), insbesondere im Bau- und Dienstleistungssektor. Sie sind weit davon entfernt, von der staatlichen Sozialhilfe zu profitieren, denn sie zahlen zwar die obligatorischen Sozialbeiträge, haben aber keinen Anspruch auf entsprechende Beihilfen. Trotz der rassistischen Hysterie nimmt der Anteil der Migrant:innen an der Bevölkerung des Landes kaum zu: 7,8 % im Jahr 2022, 6,5 % im Jahr 1975. Selbst der Vorsitzende des MEDEF, des wichtigsten Arbeit„geber“verbandes, schätzt den Bedarf der französischen Wirtschaft auf 3,9 Millionen zugewanderte Arbeitskräfte in den kommenden Jahrzehnten aufgrund der niedrigen Geburtenrate ein. Das französische Kapital will eine „kontrollierte“ Zuwanderung und zwingt die Migrant:innen weiterhin in extrem unsichere und übermäßig ausgebeutete Arbeitsverhältnisse.

Die extreme Rechte will noch weiter gehen. Bereits in den 1980er Jahren prägte Jean-Marie Le Pen den Slogan „eine Million Einwander:innen, eine Million Arbeitslose“ und suggerierte damit, dass die Ausweisung der Migrant:innen das Problem der Arbeitslosigkeit lösen würde. Marine Le Pen, die Tochter von Jean-Marie, propagiert das Konzept der „nationalen Präferenz“ und warnt vor der „Unterwanderung“ des französischen Volkes durch eine angebliche Migrationswelle. Ihre Ideen werden durch das neue Gesetz eindeutig legitimiert.

In dieser Hinsicht stellt das Gesetz einen Bruch mit früheren rassistischen Gesetzen dar. Während alle diese Angriffe gegen den Gleichheitsgrundsatz enthielten, stellt die schiere Menge an konzentrierten Schlägen gegen Migrant:innen dieses Gesetz eindeutig auf eine andere, viel gefährlichere Ebene. Es spiegelt die Verbreitung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der französischen Bevölkerung wider: Den Umfragen zufolge wird die Partei von Marine Le Pen bei den kommenden Europawahlen im Juni nächsten Jahres mit rund 28 % (und zusätzlich 6,5 % für ihre faschistische Nichte Marion Maréchal) die stimmenstärkste Partei in Frankreich sein, weit vor Macrons Partei „Renaissance“ mit 20 %.

Präsident Macron reklamiert mit dieser Zustimmung zum Gesetz, einen Sieg errungen zu haben, der zeigt, dass er keine „lahme Ente“ und in der Lage ist, Gesetze zu verabschieden, ohne die undemokratischen Tricks der französischen Verfassung der Fünften Republik anzuwenden. Auch Les Républicains beanspruchen einen Sieg für sich, da sie maßgeblich an der Verabschiedung des Gesetzes beteiligt waren und dessen Inhalt stark beeinflusst haben. Für beide wird sich dieser „Sieg“ bald als Pyrrhussieg erweisen. Rassistische Wähler:innen werden die konsequent rassistische Partei RN anderen Kräften vorziehen, die sie lediglich imitieren, und der ideologische Einfluss der RN-Ideen wird durch diese Maßnahme auf allen Ebenen nur vergrößert.

Arbeiter:innenklasse

Die französische Arbeiter:innenklasse befindet sich in einer schwierigen Situation. Sie ist durch den Sieg Macrons im Kampf um die Renten zu Beginn des Jahres bereits politisch geschwächt. Hinzu kommt, dass der Rassismus auch in der Klasse greift und eine mögliche Spaltung zwischen „französischen“ und migrantischen Arbeiter:innen droht sowie massiv verstärkte Repression gegenüber migrantischen Lohnabhängigen.

Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und La France insoumise lehnten das Gesetz allesamt ab. 32 von der Sozialistischen Partei geführte Departements erklärten, dass sie das Gesetz nicht anwenden werden, ebenso wie die Pariser Bürgermeisterin. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet erklärte: „Die CGT ruft zum zivilen Ungehorsam und zur Vervielfachung der Widerstandsaktionen gegen dieses Gesetz auf, das alle unsere republikanischen Prinzipien untergräbt und der extremen Rechten den Boden bereitet.“ Die CGT wird in den nächsten Wochen „massive Initiativen organisieren, damit diejenigen, die sich mit dem geleugneten Frankreich identifizieren, ihre Entschlossenheit zeigen können, damit die Werte der Solidarität respektiert werden“.

All dies ist richtig, aber man kann durchaus an der Wirksamkeit des Widerstands der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften zweifeln, da es ihnen nicht gelungen ist, die Rentenreform abzuwehren. Es besteht die reale Gefahr, dass die „massiven Initiativen“ der Reformist:innen zahnlose symbolische Aktionen bleiben werden. Die Lohnabhängigen sollten ihre Führungen auffordern, den wirksamsten Widerstand gegen das Gesetz vorzubereiten, und zwar nicht nur auf den bequemen Sitzen des Parlaments, sondern an den Arbeitsplätzen, in den Banlieues und auf den Straßen. Die Arbeiter:innen müssen bereit sein, diesen Widerstand mit den Waffen des Klassenkampfes durchzusetzen, ob die reformistischen Führungen damit einverstanden sind oder nicht. Der zivile Ungehorsam muss von Protesten und Massenstreiks zugunsten einer massiven Legalisierung von Sans Papiers sowie der Abschaffung aller rassistischen Gesetze der letzten Jahre begleitet werden. Migrant:innen, darunter auch Sans Papiers, sind in großem Umfang auf den Baustellen für die kommenden Olympischen Spiele 2024 beschäftigt und werden bei der Organisation dieses Ereignisses an vorderster Front stehen, im Transportwesen, bei der Sicherheit, in Hotels, Restaurants, bei der Reinigung usw. Die Arbeiter:innen müssen bereit sein, alle damit zusammenhängenden Aktivitäten zu blockieren, bis das Gesetz aufgehoben ist, und solche Aktionen müssen von allen Gewerkschaften, Parteien und Organisationen der Arbeiter:innenklasse unterstützt werden. Sie müssen durch organisierte Selbstverteidigung gegen mögliche Repressionen durch den Staat oder rechte bzw. sogar faschistische Kräfte verteidigt werden.

Die einzige Möglichkeit, die Ausbreitung rassistischer Ideen in den Reihen der Arbeiter:innenklasse zu stoppen, besteht darin, ein Aktionsprogramm vorzuschlagen, zu verbreiten und dafür zu kämpfen, das alle rassistischen Gesetze bekämpft und die wirklichen Ursachen für das Anwachsen der RN angeht: niedrige Löhne, Mangel an Arbeitsplätzen, Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. Der durch dieses Gesetz ausgelöste Schock sowie die Wut auf Macron und seine Regierung sollten in eine massive Streikwelle, einschließlich eines Generalstreiks, gegen die rassistische Diskriminierung und Unterdrückung sowie gegen die Regierung und das von ihr verteidigte System gebündelt werden.




Französische unterdrückte Jugendliche fordern Gerechtigkeit für Nahel!

Marc Lassalle, Paris, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

27. Juni, Nanterre (Banlieue von Paris): Zwei Polizisten halten ein Auto an, einer von ihnen richtet eine Pistole aus nächster Nähe auf den Fahrer und schreit: „Mach auf oder ich schieße dir eine Kugel in den Kopf!“. Ein Schuss und Sekunden später: Der 17-jährige Nahel Merzouk ist tot. Im offiziellen Bericht heißt es, die Polizei habe in Notwehr gehandelt. Ein Video zeigt, dass dies eine Lüge ist, beweist das Gegenteil und geht viral. Zehntausende von Jugendlichen gehen daraufhin in Nanterre auf die Straße.

In den folgenden Nächten strömen sie in ganz Frankreich auf die Straßen. In Paris, Lyon, Marseille, Strasbourg fordern sie Wahrheit und Gerechtigkeit, greifen die Polizei und öffentliche Gebäude an. Auch außerhalb Frankreichs, in Brüssel, aber auch in den französischen Kolonien bis hin nach La Réunion und Französisch-Guayana haben Jugenddemonstrationen stattgefunden.

Systematische rassistische Gewalt

Der Grund für die Wut ist, dass dieser Mord und die Lügen der Polizei darüber kein Einzelfall sind: Im Jahr 2022 wurden 12 Menschen von der Polizei unter ähnlichen Umständen getötet und in den meisten Fällen gab es keine ernsthaften Ermittlungen, geschweige denn Anklagen. Ein 2017 verabschiedetes Gesetz ermächtigte die Polizei, bei „Gehorsamsverweigerung“ zu schießen, was von dieser schnell als das Recht interpretiert wurde, ungestraft zu töten. In den meisten Fällen dienen die offiziellen Berichte, Ermittlungen und Disziplinarorgane nur dazu, die Wahrheit zu vertuschen.

Die Haltung der Polizei gegenüber jungen Menschen nordafrikanischer Abstammung wie Nahel ist unverhohlen rassistisch. Im gemeinsamen Kommuniqué der Polizeiverbände heißt es: „Angesichts dieser wilden Horden reicht es nicht mehr aus, um Ruhe zu bitten, wir müssen sie erzwingen […] Es ist nicht Zeit für gewerkschaftliche Aktionen, sondern für den Kampf gegen dieses Ungeziefer.“

Obwohl Präsident Emmanuel Macron den Mord zunächst als „unentschuldbar“ bezeichnete, wandte er sich schnell gegen die „Randalier:innen“. In der Tat sind er und seine Vorgänger als Präsident, François Hollande, Nicolas Sarkozy und Jacques Chirac, maßgeblich für diese Vorfälle verantwortlich. Sie alle griffen auf eine immer stärker bewaffnete Polizei zurück, als „Lösung“ für die drängenden sozialen Probleme der Banlieues – Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse, Drogen – und wiesen die Polizei an, eine rassistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Während ein weiteres Einwanderungsgesetz in Vorbereitung ist – eine weitere Gelegenheit, Migrant:innen zu stigmatisieren –, übt der Minister für Inneres und die Überseegebiete, Gérald Darmanin, auf der Insel Mayotte, einem „französischen Überseegebiet“ vor dem südlichen Afrika, eine massive rassistische Repression aus, bei der Blechhütten zerstört werden und Tausende ohne Dach dastehen oder von Abschiebung bedroht sind.

In den Banlieues führt die Polizei regelmäßig Kontrollen und Durchsuchungen durch und geht auch gegen junge Menschen vor, insbesondere gegen Angehörige „rassischer“ Minderheiten, und Morde wie der an Nahel haben schon früher zu Massenaufständen geführt. Im Jahr 2005 starben auf tragische Weise Ziad und Bouna, zwei Jugendliche, die auf der Flucht vor der Polizei durch Stromschlag getötet wurden. Dies löste Unruhen aus, die mehrere Wochen andauerten. In jüngster Zeit fand die BLM-Bewegung ein starkes Echo in Frankreich: Die Situation dort ähnelt den Ghettos in den US-amerikanischen Städten.

Extreme Armut

Extreme Armut konzentriert sich in heruntergekommenen Wohnsiedlungen mit hoher Arbeitslosigkeit oder schlecht bezahlten, unsicheren Jobs. Nahel war kein Krimineller, sondern ein Fast-Food-Kurier und versuchte gleichzeitig, eine Ausbildung als Elektriker zu absolvieren. In diesen Wohnvierteln mangelt es an grundlegenden Dienstleistungen, einschließlich öffentlicher Verkehrsmittel. Und obwohl „Égalité“ (Gleichheit) in leuchtenden Buchstaben auf allen öffentlichen Gebäuden steht, ist das ein schlechter Scherz.

Die republikanische Gleichheit wird in der Regel zitiert, wenn es darum geht, „positive Maßnahmen“ abzulehnen oder gar das Ausmaß der Ungleichheit zu beklagen, unter der die Kinder und Enkelkinder derjenigen leiden, die ursprünglich aus dem französischen Kolonialreich stammen. Man fragt sich, warum auch Schulen Ziel der Unruhen sind. Das liegt daran, dass auch sie oft als Teil des rassistischen Systems angesehen werden: Die jüngsten Kampagnen in den Schulen, die von der Regierung initiiert, aber von einigen Lehrer:innen unterstützt werden, setzen die Stigmatisierung und Unterdrückung religiöser Minderheiten, vor allem der Muslim:innen, aufgrund ihrer Kleidung fort und berufen sich dabei auf den „republikanischen Laizismus“.

Reaktion der rassistischen Polizei

Macron reagierte darauf mit der Mobilisierung von immer mehr Polizist:innen: mehr als 40.000 jede Nacht, darunter auch Spezialeinheiten mit gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern. Doch die ultrareaktionären Polizeigewerkschaften fordern noch mehr Waffen, noch mehr Sondergesetze. Sie behaupten, dass sie sich im Krieg mit „wilden Horden“ befinden würden. Sollten sie keine weiteren mörderischen Mittel erhalten, drohen sie als nächsten Schritt unverhohlen mit „Widerstand“, d. h. rassistischer Meuterei.

Sie schließen sich den Positionen der reaktionäreren Kräfte wie der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen an und fordern Ausgangssperren und die Verhängung des Ausnahmezustands. Laut RN sind die Unruhen das Ergebnis von „vierzig Jahren verrückter Einwanderungspolitik“ – und das, obwohl die meisten der Jugendlichen auf der Straße sowie ihre Eltern französische Staatsbürger:innen sind. Der erzreaktionäre, rassistische Journalist Éric Zemmour, ein Präsidentschaftskandidat für 2022, bezeichnet die Unruhen als Beginn eines Bürgerkriegs, der von einem ethnischen und rassistischen Krieg begleitet wird, und fordert eine „brutale Repression“ durch den Staat.

Linke

Auf der populistischen Linken fordert Jean-Luc Mélenchon, Anführer von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) , „eine tiefgreifende Reform der nationalen Polizei, die eine besser ausgebildete republikanische Polizei ohne Rassismus sein muss“. Dies ist natürlich eine Utopie ebenso wie sein gesamtes Projekt eines starken republikanischen Staates, der soziale Reformen durchführen soll. Nie wird der Klassencharakter des bürgerlichen, ja imperialistischen Staates deutlicher, als wenn seine Repressionskräfte Recht und Ordnung gegen alle verteidigen, die sich ihm widersetzen, seien es streikende Arbeiter:innen, die Gilets Jaunes (Gelbwestenbewegung), Umweltaktivist:innen oder die Jugend der Banlieues.

Die linke Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) hingegen verteidigte in ihrem Communiqué vom 27. Juni die Demonstrant:innen grundsätzlich und zeigte ein korrektes Verständnis der Rolle der Polizei.

„Die Polizei ist nicht dazu da, uns zu schützen. Diese Institution, die nur dazu dient, die Macht der Reichen und der Bosse zu erhalten, ist von Natur aus feindlich gegenüber unserer Klasse und wird niemals unseren Interessen dienen. Diese Polizei ist rassistisch, sie verfolgt eine gegenüber Migrant:innen feindliche Politik und wendet regelmäßig Gewalt gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund an! Diese Institution, die in Arbeiter:innenvierteln mordet und den staatlichen Rassismus anführt, ist dieselbe, die Demonstrant:innen unterdrückt, die sich gegen die Politik der Regierung stellen.

Diese Polizei existiert nur, um die Ordnung für Darmanin, Macron und die Unternehmer:innen, die sie sponsern, aufrechtzuerhalten. Es ist dringend notwendig, sie zu entwaffnen und die Wahrheit über ihre Verbrechen einzufordern, aber mehr noch, es ist höchste Zeit, diese Institution und diese kapitalistische Gesellschaft abzuschaffen, die nichts als Gewalt und Elend für die große Mehrheit der Bevölkerung bringt.“

Es ist höchste Zeit, dass die Arbeiter:innenbewegung, von der Basis bis zu den Gewerkschaftsverbänden und linken Parteien, sich mit den Jugendlichen solidarisiert und sie gegen die Massenverhaftungen und Brutalitäten verteidigt. Sie sollte die Polizeigewalt anprangern und ein sofortiges Ende der allgemeinen Repression, die Freilassung der weit über Tausend Verhafteten und die Aufhebung aller repressiven und rassistischen Gesetze fordern. Auch wenn Macron vorerst seine Rentenreform durchsetzen konnte, sind der Präsident und seine Regierung immer noch Gegenstand eines berechtigten Zorns. Wenn wir uns mit der Jugend zusammenschließen, können wir auch die schändlichen Lügen der extremen Rechten und ihre rassistische Propaganda anprangern.

  • Gerechtigkeit für Nahel! Organisierte Selbstverteidigung in den Banlieues gegen Polizeiübergriffe!

  • Schluss mit allen rassistischen und diskriminierenden Gesetzen – an den Schulen, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben!

  • Arbeiter:innen und Jugendliche sollten Hand in Hand marschieren, um die rassistische Repression zu stoppen, sich den Ausgangssperren zu widersetzen und der Straflosigkeit der Polizei ein Ende zu setzen.



Frankreich: Peitscht Macron seine Reform durch?

Martin Suchanek, Neue Internationale 273, Mai 2023

Ohne Rücksicht auf Verluste peitscht Präsident Macron die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre durch – gegen eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, den Widerstand der Lohnabhängigen, der Gewerkschaften und der Jugend.

Seit dem 19. Januar gingen an 12 Aktionstagen Millionen auf die Straße, beteiligten sich an Streiks und legten zeitweilig das Land lahm. Anders als in vielen Klassenkämpfen der letzten Jahre gelang es Regierung und Unternehmen nicht, die Einheit der Gewerkschaften zu spalten. Nicht nur die radikaleren Verbände wie die CGT und SUD, sondern auch die notorisch kompromisslerischen wie die CFDT ließen sich bislang auf keinen Kuhhandel mit Macron ein und blieben beim „Non“ zur Rentenreform.

Dabei konnten und können sie sich auf eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stützen. Rund zwei Drittel lehnen Macrons Politik als Affront ab – und zwar in einem Maße, dass der Präsident und seine Regierung im Parlament keine Mehrheit für die Reform finden konnten.

Klassenkrieg

Doch all das vermochte die Reform nicht zu stoppen. Denn im Gegensatz zu seinen Gegner:innen mangelt es Macron an einem nicht: am Willen, einen zentralen Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und alle Unterdrückten im Interesse des französischen Kapitals konsequent durchzuziehen. Dazu ist er auch bereit, die tradierten Spielregeln der Auseinandersetzung zu verlassen und selbst jene der heiligen bürgerlichen Demokratie über Bord zu werfen.

Macron führt einen Klassenkrieg. Er ist nicht nur entschlossen, sich selbst ein politisches Denkmal zu setzen – ganz so wie Margaret Thatcher im Bergarbeiter:innenstreik oder Gerhard Schröder mit der Agenda 2010. Schließlich verbanden diese Politiker:innen ihren Namen nicht einfach mit historischen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse. Entscheidend ist vielmehr, dass sie dazu bereit waren, ein höheres Risiko im Klassenkampf einzugehen, eine Konfrontation mit der Arbeiter:innenklasse zu suchen, die ihnen selbst Kopf und Kragen hätte kosten können, wenn die Gegenseite ebenso entschlossen gehandelt hätte. Doch die TUC-Gewerkschaften und Labour weigerten sich, dem Bergarbeiter:innen mit einem Generalstreik zu Hilfe zu kommen. Schröder war nicht nur bereit, den Rückhalt der SPD in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse für Jahrzehnte zu opfern, die DGB-Gewerkschaften bauten ihm letztlich auch die politische Mauer, indem sie die Agenda 2010 allenfalls symbolisch angriffen, ansonsten aber „kritisch“ begleiteten und die Montagsdemos bekämpften.

Macron verhält sich ähnlich. Er nutzt die bestehenden bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung, der Republik, um das Gesamtinteresse des Kapitals in einer Krise durchzusetzen. Dabei bildet die sog. Rentenreform ein Herzstück seines Vorhabens, den französischen Imperialismus auch ökonomisch konkurrenzfähiger zu machen. Und dafür geht er weiter als frühere Regierungen und Präsidenten.

Angriff auf die Demokratie

Nachdem sich abzeichnete, dass er für die Gesetzesvorhaben im Parlament keine Mehrheit finden würde, umging er es einfach, indem er sich auf Artikel 49.3 der Verfassung berief. Dieser erlaubt ihm, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass er sich auf eine Mehrheit unter den Abgeordneten stützt, geschweige denn auf ein Mandat des Volkes.

Bewusst nahm er dafür nicht nur die Diskreditierung seiner eigenen Partei bei Millionen Wähler:innen in Kauf, sondern auch die Ausweitung der Proteste. Er erhöhte den Einsatz im Klassenkampf, indem er die Angriffe auf die Rente mit einem auf die bürgerliche Demokratie und ihre Gepflogenheiten verband.

Am 16. März brachte Macron seine Reform unter Berufung auf Artikel 49.3 durch. Das darauf folgende Misstrauensvotum scheiterte am 20. März äußert knapp. 278 Parlamentarier:innen entzogen der Regierung das Vertrauen. 287 stimmten gegen den Misstrauensantrag. Neben Macrons „Ensemble pour la majorité présidentielle“, die über 245 Sitze verfügt, votierte die Mehrheit der Abgeordneten der konservativen, neoliberal-gaullistischen Les Républicains dabei für den Präsidenten.

Auch die folgende Prüfung durch den Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) passierte das Gesetz. Das neunköpfige Gremium, von dem je drei Vertreter:innen vom Präsidenten, von der Nationalversammlung und vom Senat ernannt werden, gilt als Hüter der Verfassung. Faktisch hütet es aber den französischen Kapitalismus. Es setzt sich aus „respektablen“ Vertreter:innen der herrschenden Klasse zusammen wie den beiden ehemaligen Premierministern Laurent Fabius, einem rechten Sozialisten, und dem Konservativen Alain Juppé.

Wenig überraschend erklärte der Verfassungsrat die Reform für rechtens, monierte aber die Streichung von 6 Punkten – und zwar von solchen, die es zugunsten der Lohnabhängigen abgemildert hatten. Darüber hinaus verwarf er eine von der linkspopulistischen NUPES angestrengte Volksabstimmung.

Das soll nicht verwundern. Es war von Beginn an klar, dass Macron den antidemokratischen Paragraph 49.3 ziehen könnte, die Reformen durch parlamentarische Manöver – z. B. versuchte Obstruktionspolitik von Abgeordneten von La France Insoumise – nicht zu verhindern sein würden.

Seit den ersten Anläufen zur Reform in Jahr 2020 und spätestens Ende 2022 ließ Macron keinen Zweifel daran, dass er sein politisches Schicksal an die Maßnahmen knüpfte, sodass sie nur auf der Straße und in den Betrieben gestoppt werden könnten.

Höhepunkt der Mobilisierung

Die Umgehung des Parlamentes am 16. März läutete aber auch den Höhepunkt der Streiks und Protestwelle ein. Vom 19. Januar bis Mitte März beteiligten sich ein bis eineinhalb Millionen Menschen an den jeweiligen Aktionstagen. Hunderttausende legten zeitweilig die Arbeit nieder.

Mit dem Artikel 49.3 griffen Macron und die Regierung Borne auf die antidemokratischen, bonapartistischen Elemente der französischen Verfassung zurück und machten damit den Kampf um die Renten auch zu einem um die Demokratie. Dies verbreitete und intensivierte die Auseinandersetzung enorm.

Am 23. März beteiligten sich 3,5 Millionen Menschen an den Demonstrationen im ganzen Land. Auch kleinere und mittelgroße Städte wurden in die Bewegung gezogen. In den Zentren des Landes fluteten Demonstrant:innen geradezu die Straßen. Rund eine Woche lang kam es zu täglichen Auseinandersetzungen vor allem von jugendlichen Demonstrant:innen mit der Polizei.

Zugleich breitete sich auch die Streikwelle aus – bei der Bahn, in Häfen und an Flughäfen, in den Raffinerien und in der Energiewirtschaft, an Schulen und Universitäten oder bei der städtischen Müllabfuhr. Allerdings erfassten die Streiks im wesentlichen nur Sektoren der Avantgarde, der bewussteren und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, nicht jedoch die Masse, vor allem nicht jene der Unorganisierten. Dazu hätte es eines einheitlichen Aufrufs von außen, von den Führungen der Intersyndicale bedurft, der jedoch während der ganzen Zeit ausblieb.

Generalstreik lag in der Luft

Schon im Januar und Februar war die Losung des Generalstreiks unter den Aktivist:innen der Bewegung populär. Nach dem 23. März lag er in der Luft.

Mit seinen antidemokratischen Maßnahmen hatte Macron selbst die Auseinandersetzung weiter politisiert, mit der Frage seines Regimes direkt verknüpft. Er stellte die Machtfrage.

Doch die parlamentarische Linke NUPES entpuppte sich als vollkommen unfähig, diesen Fehdehandschuh aufzugreifen. Nachdem das Parlament umgangen war, versuchte sie es beim Verfassungsrat mit der Einleitung eines monatelangen Volksbegehrens, während Millionen nicht nur wütend, sondern auch kampfbereit waren.

So kam die politische Schlüsselrolle der Führung der Gewerkschaften, der Intersyndicale, eines Zusammenschlusses aller größeren Verbände, zu – und hier besonders der linkeren, klassenkämpferischen wie der CGT und der SUD.

Nach zahlreichen Aktionstagen und angesichts des massiven Anwachsens der Aktionen in der Woche um den 23. März war die Stunde der Entscheidung  gekommen. Entweder würde die Bewegung massiv ausgeweitet werden und die Gewerkschaften und die Arbeiter:innenklasse würden ihrerseits die Machtfrage stellen – oder Macron droht, sämtliche weitere Proteste auszusitzen, indem er auf die Ermüdung und finanzielle Ausdünnung von Streikenden setzt und gegen die militanteren Demonstrant:innen mit immer brutaleren Polizeieinsätzen vorgeht. An seiner Entschlossenheit konnte niemand mehr ernsthaft zweifeln.

Rolle der Apparate

Macron spekulierte außerdem auf die Gewerkschaftsführungen. Ihm war bewusst, dass sie keine politische Generalkonfrontation wollten, sie auf seine Zuspitzung des Kampfes mit keiner eigenen antworten wollten, die die Machtfrage aufwarf. Der Generalstreik lag Ende März in der Luft, aber die Spitzen der Intersyndicale wollten davon nichts wissen – und zwar weil ihnen bewusst war, dass ein Generalstreik gegen die Rente unwillkürlich auch einer zum Sturz von Präsident und Regierung gewesen wäre; weil ihnen bewusst war, dass er die Frage aufgeworfen hätte, wer anstelle von Macron und Borne regieren würde.

Die kompromisslerischen Held:innen vom rechten Flügel der Gewerkschaften wie Laurent Berger, der Vorsitzende der CFDT, standen im Grunde immer schon für Verhandlungen mit der Regierung bereit, wenn diese denn nur mit dem nötigen „Respekt“ verbunden wären, also in den Tretmühlen der Sozialpartner:innenschaft stattfänden. Doch mit diesen Gepflogenheiten hat Macron gebrochen, weil er den Angriff ohne weitere Zugeständnisse durchziehen will.

Die Spitze der radikaleren Gewerkschaften wie jene der CGT setzen darauf, dass, ähnlich wie Anfang der 1990er Jahre, eine Reihe von massenhaften Streik- und Aktionstagen die Regierung oder das Parlament zum Einlenken zwingen würde. Sie gingen im Grunde davon aus, dass der Kampf eine, für das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen entscheidende Frage, im Rahmen der Austragungsform gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen bleiben würde. Auch wenn sie nicht alles verhindern würden, so hofften sie doch darauf, dass sie auch vorzeigbare Zugeständnisse erreichen könnten. Auch ihnen hat Macron einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Intersyndicale hatte insgesamt keine Antwort auf die Verschärfung des Klassenkampfes durch den Präsidenten. Sie war auf diese Zuspitzung nicht vorbereitet – und sie vermochte es daher auch nicht, ihrerseits Macron mit voller Wucht entgegenzutreten.

Was nötig gewesen wäre

Dazu wäre es nötig gewesen, nach dem antidemokratischen Verfassungscoup offen den Generalstreik auszurufen – einen Generalstreik, der auch im Bewusstsein der gesamten Bevölkerung unmittelbar einen politischen Charakter gehabt hätte.

Das hätte aber erfordert, dass sich die Spitzen von CGT und anderen Verbänden bewusst ihrer Führungsaufgabe hätten stellen müssen, aufhören hätten müssen, als bloße Gewerkschaften, also ökonomische Interessenvertretungen zu handeln. Sie hätten als politische Führung der Arbeiter:innenklasse fungieren müssen.

Angesichts von 3,5 Millionen Demonstrierenden, Hunderttausenden Streikenden und einer Massenempörung im ganzen Land hätte ein Generalstreik auch die unorganisierten Beschäftigten, die Erwerbslosen, die Jugend und Rentner:innen erfassen, mit der Bildung von Streik- und Aktionskomitees eine gigantische Bewegung schaffen können. Diese hätte nicht nur die Rentenreform kassieren, sondern auch die Regierung stürzen können und die Machtfrage aufgeworfen – und zwar nicht in einem bloß parlamentarischen Sinne, sondern im Sinne einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Organe des Generalstreiks und Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter:innenklasse stützt. Kurzum, ein solcher Kampf hätte eine revolutionäre Dynamik entwickeln können.

Doch die Gewerkschaftsführungen – rechte wie linke – zogen es vor, der Zuspitzung des Kampfes auszuweichen. Ende März, in den Tagen, ja in der Woche nach der Umgehung des Parlamentes wäre es möglich gewesen, die Bewegung auf eine neue Stufe zu heben, Schichten der Lohnabhängigen, aber auch des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten in den Kampf zu ziehen, die normalerweise nicht unter Führung der Gewerkschaften und der bewussteren Teile der Arbeiter:innenklasse mobilisierbar sind.

Ein solcher Schritte hätte auch sicherstellen können, dass die Bewegung breiter und stärker wird und siegen kann. Sie hätte auch den Rechten um Le Pen, die demagogisch versuchen, von der aktuellen politischen Krise zu profitieren, und in den Umfragen vorne liegen, das Wasser abgraben können.

Doch diese Chance wurde vertan. Am bislang letzten Aktionstag am 13. April beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben rund 1,5 Millionen Menschen. Das stellt natürlich noch immer ein enorm hohes Niveau an Aktivität dar. Aber zugleich ging auch die Streikbewegung massiv zurück. Der Kampf gegen die Rentenreform hat seinen vorläufigen Höhepunkt überschritten.

Der nächste Aktionstag wird erst am 1. Mai stattfinden – also mehr als zwei Wochen nach dem 13. April. Das wäre der größte Abstand zwischen Aktionstagen seit Beginn der Bewegung. Da der Erste Mai ein traditioneller Kampftag ist, wird die Beteiligung enorm sein – aber zugleich wird es an dem Feiertag kaum Streiks geben.

Die Gewerkschaftsführungen geben sich natürlich kämpferisch, ja geradezu unnachgiebig. Selbst Laurent Berger will von Gesprächen mit einer Regierung, die ihm keinen Respekt zollt, nichts wissen. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet weist Macrons Einladung an die Gewerkschaften zu Gesprächen, bei denen nichts besprochen wird, als lächerlich zurück.

Aber all das darf uns nicht davor die Augen verschließen lassen, dass die Gewerkschaftsführungen über keine effektive Kampfstrategie verfügen, nachdem der institutionelle Weg abgeschlossen und die Rentenreform beschlossen ist.

Angesichts dieser strategischen Krise kommt das linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, bestehend aus Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, aus PS, Grünen und KPF, mit einem neuen Vorschlag um die Ecke. Ein neuer Anlauf zu einer Volksabstimmung soll genommen und beim Verfassungsrat eingebracht werden, der über dessen Zulassung Anfang Mai entscheiden würde. Sollte er dies für rechtens erklären, müssten innerhalb von knapp neun Monaten 5 Millionen Unterschriften gesammelt werden. Das Parlament könnte dann das Vorhaben ein halbes Jahr lang prüfen und würde dann darüber abstimmen – ein Verfahren, das allein angesichts der Stimmenmehrheit, die Macrons Ensemble pour la majorité présidentielle und Les Républicains auf sich vereinen, faktisch zum Scheitern verurteilt ist.

In Wirklichkeit ist das Referendum eine Ablenkung von der Frage, wie der Kampf gegen die Rentenreform und die anderen Angriffe der Regierung noch zum Erfolg geführt werden kann und welche Lehren aus der bisherigen Bewegung zu ziehen sind.

Ganz sicher sind es nicht jene, die Fabien Roussel, der nationale Sekretär der KPF, zieht. So erklärte er: „Durch ein solches Referendum könnte das Land mit demokratischen Mitteln aus der gegenwärtigen Krise erhobenen Hauptes hervorgehen.“ Das Zitat illustriert, wie tief diese sog. Kommunist:innen gesunken sind, wie wenig ihre ganze Politik über den demokratischen Tellerrand „ihres“ Landes hinauszureichen vermag.

Der aktuelle Niedergang der Bewegung bedeutet nicht, dass der Kampf gegen die Rentenreform schon verloren ist. Wohl aber ändern sich die Bedingungen, unter denen ein neuer Aufschwung, eine neue Situation entstehen kann, wo der Generalstreik wieder auf die Tagesordnung rückt.

Wir dürfen schließlich nicht vergessen, dass die gesamte Politik Macrons vor dem Hintergrund einer anhaltend hohen Inflation und geopolitischen Konfrontation, einer tiefgehenden sozialen, politischen und ökologischen Krise stattfindet. Daher kann seine Rentenreform wie die gesamte Regierungspolitik rasch durch andere Einschnitte der Lebensbedingungen der Massen erschüttert werden. Auch wenn Macron seine Rentenreform durch die Institutionen gebracht hat, so hat er längst nicht den französischen Kapitalismus wieder in fit gemacht. Die Beschädigung der bürgerlichen Demokratie, die Desillusionierung von Millionen und Abermillionen, die er billigend als Preis sozialer Verschlechterungen in Kauf nimmt, könnten sich dann als politischer Bumerang erweisen.

Daher gilt es nicht nur, die Bewegung aufrechtzuerhalten, sondern sie vor allem auf die unvermeidlichen nächsten Konfrontationen vorzubereiten.

Dies bedeutet erstens, klar zu erkenne und auszusprechen, dass weder die parlamentarische Linke noch die Führungen der Gewerkschaften eine politische und strategische Antwort auf die großen Angriffe der Regierung des Kapitals formulieren.

In den Gewerkschaften bedarf es jedoch nicht nur des Kampfes um Basisversammlungen und demokratische Aktionskomitees – es bedarf auch einer organisierten, gewerkschaftsübergreifenden klassenkämpferischen Opposition gegen die Bürokratie.

Doch eine betriebliche und gewerkschaftliche Alternative reicht nicht. Eine klassenkämpferische Opposition muss auch eine enge Verbindung mit den sozialen Bewegungen gegen Krieg, Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung herstellen. Dazu bedarf es einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei, die sich auf ein Aktionsprogramm stützt, das den Kampf gegen die Angriffe auf demokratische Rechte, auf die Arbeiter:innenklasse mit dem für den Sturz des Kapitalismus verbindet.

Anhang: Warum ist die Rentenfrage so bedeutsam?

Die sog. Rentenreform stellt ein Kernstück der Angriffe des Kapitals nicht erst seit der Präsidentschaft Macrons dar. Schon 1995 versuchte die damalige konservative Regierung Juppé, das Rad der Zeit zurückzudrehen und das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre zu erhöhen. Doch sie scheiterte am massiven Widerstand der Arbeiter:innenklasse und der Jugend und musste nach wochenlangen Protesten ihre Gesetzesreform zurückziehen.

Seither probierten sich faktisch alle Präsidenten und Regierungen, ob Sozialist:innen oder Konservative, an einer grundlegenden neoliberalen „Reform“ der Arbeitsbeziehungen und/oder der Sozialversicherung, der Sécurité Sociale, zu der neben der Rentenversichung öffentliche Krankenkassen, Unfallversicherung und die Kasse für Familienzulagen gehören.

Die Sécurité Sociale bildet somit ein zentrales Element der Klassenbeziehungen in Frankreich. Über sie wird ein großer Teil des „Soziallohns“ reguliert, also ein zentraler Teil des Gesamtlohns der Arbeiter:innenklasse.

Schon am Beginn seiner ersten Amtszeit peitschte Macron im Jahr 2017 eine Änderung des Arbeitsgesetzes, des Code du Travail durch – damals noch gestützt auf eine massive Mehrheit im Parlament und ohne großen Widerstand. Darauf sollte die Rentenreform folgen. Doch die Streiks der Eisenbahner:innen im Jahre 2018 gegen wichtige Schritte zu Privatisierung und Verschlechterungen der Arbeitsbeziehungen, die Bewegung der Gilets Jaunes und schließlich die Pandemie zwangen Macron zur Verschiebung seiner von Beginn an angekündigten Rentenreform.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre enthält dabei zwei Aspekte. Zum einen stellt sie einen grundlegenden Angriff auf errungene Rechte der Arbeiter:innenklasse dar. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit stellt wie alle ähnlich gelagerten Verschlechterungen zugleich auch eine massive Rentenkürzung dar für alle, die aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Arbeitslosigkeit nicht bis zum Renteneintrittsalter Vollzeit arbeiten können. Darüber hinaus sieht die „Reform“ auch Abschläge für alle vor, die bis 64 nicht genügend volle Erwerbsjahre auf dem Buckel haben.

Zum anderen stellt sie nicht nur eine wichtige Errungenschaft der Lohnabhängigen dar, sondern spiegelt auch ein Kräfteverhältnis wider, eine klassenpolitische Stellung der Arbeiter:innenklasse. Wird die Rente geschleift, fällt auch diese Stellung, verschiebt sich auch das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals.




Frankreich: Solidarität mit den Opfern des „Wasserkriegs im Département Deux-Sèvres“!

Redaktion, Infomail 1218, 31. März 2023

Am 25. März demonstrierten 30.000 Gewerkschafter:innen, Linke, Grüne und Umweltaktivist:innen gegen den Bau eines weiteren „Megabassins“ zur Bewässerung landwirtschaftlicher Großbetriebe in Sainte-Soline im westfranzösischen Département Deux-Sèvres.

Der Bau von sog. Megabassins, also riesigen Wasserspeichern, die aus den natürlichen Wasserreservoirs der verschiedenen Regionen gespeist werden, stellt seit rund 15 Jahren die von Behörden, Agrobusiness und Agrarindustrie bevorzugte Antwort auf zunehmende Dürren und ausbleibende Niederschläge dar. So soll die bestehende Produktion im Interesse der Konzerne sichergestellt werden – jedoch auf Kosten des Zugangs zu Trink- und Nutzwasser für die Bevölkerung der Region.

Des ökologisch desaströse Vorhaben bedient kurzfristige Profitinteressen auf Kosten weiterer Umweltzerstörung (siehe Dossier in Labournet: https://www.labournet.de/internationales/frankreich/lebensbedingungen-frankreich/der-wasserkrieg-der-deux-sevres-in-frankreich-kommt-es-bei-protesten-gegen-ein-oeffentlich-finanziertes-bewaesserungsprojekt-zu-dutzenden-verletzten/).

Die Massenproteste verdeutlichen, dass die Regierung Macron an allen Fronten ihre Agenda im Interesse des Kapitals durchsetzt. Wie im Kampf um die Rentenreform lässt sie dafür die Polizei ohne Rücksicht auf Leben und Gesundheit der Protestierenden von der Leine. Mit Wasserwerfern, CS-Gas, Einkreisungsgranaten und Prügelbullen gingen rund 1.500 Cops brutal vor, verletzten 200 Personen, davon 40 schwer. Eine, Genosse S., befindet sich im Koma. Er kämpft um sein Leben. Im Folgenden veröffentlichen wir das Kommuniqué von Genoss:innen des Aktivisten. Wir hoffen auf seine Genesung. Wir solidarisieren uns mit allen, die im Kampf gegen das Megabassin und die Rentenreform gegen die organisierte Staatsgewalt angehen – und den Kampf weiterführen gegen ein barbarisches, menschenverachtendes kapitalistisches System.

Kommuniqué bezüglich S., unserem Genossen, der in Folge der Demonstration in Sainte-Soline in akuter Lebensgefahr schwebt.

Unser Genosse S. wurde an diesem Samstag, den 25. März, im Zuge der Demonstration gegen die »Megabassins« in Sainte-Soline von einer Granate am Kopf getroffen. Die Präfektur verhinderte zunächst wissentlich das Eingreifen von Rettungskräften und den späteren Weitertransport in eine Spezialklinik – trotz seines kritischen Zustands.

Aktuell befindet sich S. auf der neurochirurgischen Intensivstation und schwebt weiterhin in akuter Lebensgefahr.

Der massive Ausbruch der Gewalt seitens der Polizeikräfte gegenüber den Demonstrierenden führte – wie unterschiedlichen Berichten zu entnehmen ist – zu hunderten Verletzten, darunter viele Schwerverletzte.

Die 30.000 Demonstrierenden in Sainte-Soline hatten sich versammelt, um das Bauprojekt der »Megabassins« zu blockieren. Hierbei handelt es sich um ein Projekt des Wasserraubs durch eine Minderheit im Interesse der mörderischen Logik des Profits. In der ausufernden Gewalt durch die bewaffneten Diener:innen des Staates tritt diese Logik deutlich hervor.

Die Polizei verstümmelt und versucht zu morden, um im Angesicht der Mobilisierung gegen die Rentenreform den Aufstand zu verhindern und die Bourgeoisie und ihre Welt zu verteidigen. Nichts davon kann unseren Willen aufhalten, ihre Herrschaft zu beenden. Geht am Dienstag, den 28. März, und an den Folgetagen auf die Straße, unterstützt Streiks und Blockaden.

Für S. und für alle Verletzten und Eingesperrten unserer Bewegungen.

Vive la révolution!

Die Genoss*innen von S.




Frankreich: Generalstreik gegen die „Rentenreform“! Nieder mit Macron und der antidemokratischen Fünften Republik!

Marc Lassalle, Infomail 1217, 24. März 2023

Seit zwei Monaten wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen den Versuch, das Rentenalter zu erhöhen, erschüttert. Doch nun ist die Krise in eine neue Phase eingetreten.

Nach monatelangen Verhandlungen, in denen versucht wurde, die Stimmen der Abgeordneten des rechten Flügels der Republikaner:innen zu kaufen, konnte die Regierung immer noch keine Mehrheit erlangen – ein Zeichen für den Druck, den die Massen auf alle Abgeordneten ausübten.

Präsident Emmanuel Macron berief sich daraufhin auf Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihm erlaubt, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass es eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, geschweige denn ein Mandat des Volkes.

Dieser ungeheuerliche Eingriff in die Demokratie löste mehr als eine Woche lang eine neue Serie nächtlicher Proteste aus. In diesen Kämpfen mit den Sicherheitskräften stehen immer mehr junge Menschen an vorderster Front: Sie lassen sich nicht ihrer demokratischen Rechte berauben!

An den Arbeitsplätzen fällt das Tempo des Kampfes uneinheitlich aus. Einige Sektoren wie die Eisenbahnen, die Energiewirtschaft, die Docks und die Müllabfuhr werden seit Wochen bestreikt. Auf den Straßen von Paris türmen sich 10.000 Tonnen Müll. Die Häfen von Marseille und Rouen sind blockiert, ebenso wie mehrere Raffinerien. Die Benzinknappheit ist im Süden des Landes sehr groß und weitet sich unaufhaltsam auf das ganze Land aus.

Der Aktionstag am 23. März brachte 3,5 Millionen Arbeit„nehmer“:innen mit hunderten Demonstrationen auf die Straße. Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt jedoch, dass selbst eine Mobilisierung dieses Ausmaßes nicht ausreicht, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen, geschweige denn, um sie vollständig abzusetzen, was die notwendige Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes und eine angemessene Bestrafung für ihre Missachtung der Demokratie wäre.

Alle Gewerkschaftsverbände erklärten, sie würden das Land im März zum Stillstand bringen. Die Realität sieht jedoch bislang anders aus. Einige gut organisierte Sektoren führen zwar erneuerbare Streiks durch (die jeden Morgen in Betriebsversammlungen abgestimmt werden), aber es gibt keine generelle Arbeitsniederlegung. An den Aktionstagen (neun seit Januar) werden Millionen auf die Straße gebracht, aber die Zahl der Streikenden außerhalb dieser Tage ist eher gering.

Was ist hier los? Die Gewerkschaftsführer:innen haben ihre Glaubwürdigkeit in diesem Kampf aufs Spiel gesetzt – sie können heute nicht einfach nachgeben oder sich zurückziehen. Aber sie wollen auch nicht über die aktuelle Strategie hinausgehen. Da die Rentenreform nach allgemeiner und richtiger Auffassung den Lohnabhängigen zwei Jahre ihres Ruhestands vorenthält, würde eine Niederlage bedeuten, dass sie zugeben müssten, dass sie nicht in der Lage sind, die bestehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen zu verteidigen, geschweige denn für Verbesserungen zu kämpfen.

Doch trotz des hohen Einsatzes weigern sich die Gewerkschaften, zu einem Generalstreik aufzurufen. Sie bestehen auf Blockaden, auf Verallgemeinerungen, aber sie haben nicht dazu aufgerufen, dass alle organisiert und gemeinsam das Land in einem unbefristeten politischen Streik lahmlegen. Der Grund dafür ist einfach. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich ist gering, weniger als 10 Prozent. Die Führungen ziehen es daher vor, gut kontrollierte Streiks in einigen strategischen Sektoren mit „Aktionstagen“ für alle anderen zu kombinieren. Sie ziehen diese konkreten Aktionen einem unbefristeten Generalstreik vor, der zwangsläufig die Organisation alternativer lokaler, regionaler und nationaler Führungen zur Koordinierung erfordern würde. Angesichts eines politischen Kampfes, der eine politische Aktion in gleichem Umfang erfordert, sind die Gewerkschaftsspitzen unschlüssig und verhalten sich zu dieser Aufgabe passiv. Doch dies ist eine Strategie der Niederlage.

Viele Arbeiter:innen betrachten die Gewerkschaftsführer:innen immer noch als die legitime Führung, auch weil die Gewerkschaftsfront (die Intersyndicale) bislang geschlossen bleibt und die Reden der Führer:innen einen radikalen Ton anschlagen. Doch bevor Macron ein Misstrauensvotum knapp überstand, war die Zahl der Streikenden rückläufig. Das hat sich nach dem 16. März zwar wieder geändert. Aber ohne einen ernsthaften Tempo- und Richtungswechsel wird sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Problem stellen.

Deshalb müssen wir den Schwung des aktuellen Kampfes nutzen. Dieser ist noch nicht vorbei, er ist vielmehr in eine entscheidende Phase getreten. Die nächsten Tage und Wochen werden von größter Bedeutung sein. Die Entschlossenheit der Streikenden, kombiniert mit der noch zu entfesselnden Kampfbereitschaft der Massen, ist unermesslich stärker als die Regierung und ihre Polizei. Die Jugend nimmt den Kampf auf: Universitäten in Paris und Toulouse sind besetzt. Überall versuchen Aktivist:innen, die Betriebe zu vernetzen, Streikkomitees zu bilden und für einen Generalstreik zu werben.

Das jüngste Interview von Macron, das von einer ungezügelten Verachtung für die Lohnabhängigen geprägt war, hat die Situation noch zugespitzt. Die Gewalt der Polizei und die Forderungen der Minister:innen nach einem harten Durchgreifen gegen die Demonstrant:innen verstärken den Hass der Bevölkerung auf die Regierung nur noch. Millionen von Menschen fühlen, dass Demokratie und Gerechtigkeit auf ihrer Seite sind.

Der Generalstreik ist der einzig mögliche Schritt. In jedem Betrieb sollten die Aktivist:innen die Führung übernehmen und ihre Kolleg:innen davon überzeugen, die Streiks auszuweiten, die Profitmaschine zu stoppen und die öffentlichen Dienste zu schließen. Generalversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben sollten die Führung übernehmen und Aktionsräte bilden, die regional und national vernetzt sind, um die Verallgemeinerung von Streiks zu organisieren.

Dieser Kampf geht über die Renten hinaus. Auf Macrons Umgehung des Parlaments kann es nur eine Antwort geben: einen Generalstreik, um die Rentenreform zu stoppen, um Macron zu stürzen und vor allem, um die 5. Republik und ihre bonapartistische Verfassung zu Fall zu bringen.

Macron wird nicht der erste Tyrann sein, der von den französischen Arbeiter:innen auf der Straße besiegt wird. Aber er könnte der letzte sein, wenn die französische Arbeiter:innenklasse sich auf eine Endabrechnung mit dem Kapitalismus vorbereitet.




Frankreich: Schlüsselposition der Gewerkschaften im Kampf gegen Erhöhung des Renteneintrittsalters

Marc Lassalle, Infomail 1216, 9. März 2023

Nach sechs Tagen Streiks und Demonstrationen in Frankreich erreicht die Konfrontation zwischen den Arbeiter:innen und der Regierung in der Frage der „Rentenreform“ einen entscheidenden Moment. Am 7. März beteiligten sich rund 3,5 Millionen Menschen an den Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen – ein neuer Höhepunkt der Mobilisierung. Faktisch findet in vielen wichtigen Sektoren ein mehrtägiger Streik statt.

Den Gewerkschaften ist es seit Beginn des Jahres gelungen, sehr große Demonstrationen zu organisieren, nicht nur in Großstädten, sondern in Städten im ganzen Land, und, was noch bemerkenswerter ist, dies einen ganzen Monat lang mit einer Großdemonstration pro Woche fortzusetzen. Die Ablehnung der so genannten Reform der Regierung ist in der gesamten Bevölkerung und vor allem unter der Arbeiter:innenschaft massiv.

Strategischer Angriff

Die Regierung verteidigt weiterhin ihr Vorhaben, das Rentenalter auf 64 Jahre anzuheben, um jeden Preis. Es handelt sich nicht einfach um eine technische Maßnahme oder eine Episode innerhalb eines Gesamtplans. Für Präsident Macron ist dies die „Reform“ schlechthin. Da er während seiner letzten Amtszeit durch die Pandemie blockiert wurde, besteht er auf dieser Reform als Symbol seiner Präsidentschaft und seines Vermächtnisses. Für ihn müssen die Lohnabhängigen mehr arbeiten, um die Subventionen zu bezahlen, die der Staat den Unternehmer:innen während der Pandemie und danach großzügig gewährt hat (Energiekosten usw.).

Wie der neoliberale Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sagt, sollten die Bosse diese Reform „mit Begeisterung und Entschlossenheit“ unterstützen. Es geht um 8 bis 9 Milliarden Euro für die Wirtschaft! Je mehr die Minister:innen versuchen, die Reform zu erklären, desto kruder erscheint ihre Realität in den Augen der Lohnabhängigen. Trotz aller Behauptungen der Regierung, die Änderung sei „frauenfreundlich“, hat sich herausgestellt, dass sie vor allem für Frauen nachteilig ist, da sie länger arbeiten müssen. Die Reform wird auch Beschäftigte im unteren Lohnsegment besonders hart treffen, insbesondere diejenigen, die ihre Arbeit vor dem 20. Lebensjahr aufgenommen haben.

Angesichts der Zielsetzung von Macron und der Entschlossenheit der Bosse ist die derzeitige Strategie der Gewerkschaften jedoch völlig unzureichend. Sie haben in den letzten zwanzig Jahren in vielen Konflikten eine Reihe von eintägigen Streiks durchgeführt und das Ergebnis war unweigerlich dasselbe: eine Niederlage. Nach einem anfänglichen Erfolg erschöpft sich Dynamik eintägiger Demonstrationen ab einem gewissen Zeitpunkt. Dann macht sie  Ermüdung und Unzufriedenheit Platz, was wie in einem Teufelskreis wachsende Demoralisierung und Unklarheit der Arbeiter:innen über die weitere Strategie provoziert. Die Zahl der Streikenden schrumpft, bis die Gewerkschaften den Streik einfach beenden oder, wie sie es manchmal ausdrücken, „den Kampf mit anderen Mitteln fortsetzen“.

Unterschied

Dieses Mal ist die Situation in zweierlei Hinsicht anders. Erstens sind die Zahl der Streikenden und die Stärke der Demonstrationen so hoch wie seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr. Zweitens lehnen alle Gewerkschaften, einschließlich der sehr gemäßigten CFDT, die Reform ab, und es gibt bisher keine Anzeichen für eine Schwächung der „Intersyndicale“ (der Front von acht Gewerkschaften und Verbänden, die gegen die Reform sind). Dies stellt natürlich ein Zeichen für die Entschlossenheit und den Kampfgeist der Arbeiter:innenklasse dar.

Nach einer zweiwöchigen Pause – wegen der Schulferien – erklärten alle Gewerkschaften, dass eine entschlossenere Haltung erforderlich sei. „Die Intersyndicale bekräftigt ihre Entschlossenheit, Frankreich am 7. März lahmzulegen. Der 7. März sollte ein ,toter Tag’ (journée morte) in den Betrieben, Verwaltungen, Diensten, Schulen, Verkehrsmitteln sein … “ (Presseerklärung, 21/02).

Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez erklärte: „Wenn die Regierung trotz der Mobilisierungen weiterhin stur bleibt, dann müssen wir mit größeren Aktionen, längeren, härteren, zahlreicheren, massiveren und erneuerbaren Streiks vorankommen“. Dies ist eine raffinierte Art, einen Generalstreik zu beschreiben, ohne ihn zu benennen. Ein erneuerbarer Streik (grève reconductible) ist in der Tat die französische Art, einen unbefristeten Streik einzuleiten. In den Betrieben wird die Kampfmaßnahme dann Tag für Tag von den betrieblichen Generalversammlungen (AGs) beschlossen, und zwar jeden Morgen.

Das hört sich zwar sehr demokratisch an, ist aber dennoch eine ziemlich fragile Kampfmethode, da sie von der kontinuierlichen und starken Beteiligung aller an den Versammlungen abhängt. Jeden Tag könnte der Kampf enden, so dass trotz der großen Opfer der Streikenden die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen eher begrenzt sind. Die Regierung weiß, dass sie ein Ende erzwingen kann, indem sie einfach geringfügige Zugeständnisse mit den gemäßigteren Gewerkschaften aushandelt, wodurch die Moral der Streikenden geschwächt und die Einheit des Kampfes gebrochen wird.

Warum vermeidet Philippe Martinez es, einen unbefristeten Generalstreik auch nur zu erwähnen? In der Vergangenheit, vor allem 1968, haben die französischen Arbeiter:innen einen Generalstreik initiiert, und die Situation entglitt dann völlig der Kontrolle der obersten Gewerkschaftsführung. Seitdem zieht sie es vor, jeden Schritt eines Kampfes sorgfältig zu kontrollieren. Wenn man sie unter Druck setzt, würden sie sogar eine Niederlage vorziehen, anstatt sich von der Aktion der Basis ins Abseits stellen zu lassen.

Trotz dieser Feigheit der Gewerkschaftsbürokratie ist der Ausgang des Kampfes noch lange nicht entschieden. Sicher ist, dass der 7. März einen weiteren großer Tag der Streiks und Demonstrationen markierte, an dem rund 3,5 Millionen Menschen auf die Straße gingen. Was kommt dann? Der 8. März war ein weiterer Tag der Demonstration für die Rechte der Frauen. Student:innenorganisationen riefen zu einem weiteren großen Protesttag am 9. März auf. Diese Verkettung von Terminen legt nahe, dass die Arbeiter:innen am 7. März in den Streik treten und dann draußen bleiben sollten! Mehrere wichtige kämpferische Gewerkschaften riefen für den 7. März und die folgenden Tage zu einem täglich zu erneuernden Streik auf. Dazu gehören die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP), der Eisenbahnen, der Erdölraffinerien, der Häfen und Docks sowie die Beschäftigten der Kraftwerke. Die Frage ist: Wird dieser Funke stark genug sein, um einen Generalstreik zu entfachen?

Der Ausgang hängt von vielen Faktoren ab, aber einer der wichtigsten ist das aktive Eingreifen der politischen Parteien der Linken. Von der Front der Linksparteien, NUPES, ist nichts zu erwarten, ebenso wenig wie von ihrer führenden Kraft, der Partei von Jean-Luc Mélenchon, France Insoumise (FI). FI unterstützt formell die Aktionen der Gewerkschaften, konzentriert sich aber in Wirklichkeit auf das Parlament und die nächsten Wahlen. Im Parlament haben sie die Diskussion des Rentenreformgesetzes mit tausenden von Änderungsanträgen in einer ersten Sitzung zwar erfolgreich behindert. Der Entwurf wurde nun an den Senat weitergeleitet, wo die Rechten die Mehrheit haben, und wird wieder ins Parlament zurückkehren.

Die Taktik der Obstruktion reicht jedoch bei weitem nicht aus, um den Prozess zu stoppen. Die Regierung könnte versuchen, die Rechtskonservativen – Les Républicains – davon zu überzeugen, das Gesetz zu unterstützen, oder es einfach mit einer antidemokratischen Maßnahme zu verabschieden, die von der bonapartistischen Verfassung der 5. Republik ermöglicht wird. Zu Beginn des Streits versuchte die FI sogar, unabhängig von den Gewerkschaften eine Demonstration zu organisieren, was jedoch ein großer Flop war. Das soll nicht heißen, dass die Aktivist:innen von NUPES und FI nicht an den Demonstrationen und dem Kampf teilnehmen werden. Die meisten von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert und ein fester Bestandteil der Mobilisierung. Aber auf politischer Ebene agieren alle diese Kräfte, FI, die Kommunistische Partei (PCF), die Sozialistische Partei (PS) und die Grünen ausschließlich auf parlamentarischer Ebene und überlassen die Durchführung von Streiks den Gewerkschaften.

Die radikale Linke

Alle Kräfte der radikalen Linken leiten den nächsten Schritt für den Kampf ein, aber sie sind sowohl gespalten als auch verwirrt.

Die Nouveau Parti Anticapitalistei (NPA = Neue Antikapitalistische Partei) ist durch die Abspaltung ihrer alten Führung geschwächt, die die Hälfte der Mitglieder mitgenommen hat. Dies führt zu der grotesken Situation, dass es zwei NPAs von ähnlicher Größe gibt, die auf den Demonstrationen präsent sind, Veranstaltungen organisieren und den gleichen Namen und das gleiche Logo verwenden. Die NPA-Plattform B (PFB), obgleich die Minderheit am letzten Kongress, hat die Kontrolle über den Apparat, die Presse, die Website, die Hauptamtlichen usw. behalten. Sie ist sichtbarer, da ihre Anführer:innen die Sprecher und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot und Philippe Poutou waren. Das Timing könnte jedoch nicht unglücklicher sein. Nachdem die NPA-PFB die Weltlage in den dunkelsten Farben analysiert hat (die Arbeiter:innenklasse in der Defensive, der Aufstieg der extremen Rechten usw.), betont sie die Notwendigkeit der Einheit:

„Die NPA schlägt vor, eine politische Alternative zu Macron aufzubauen, die aus der Mobilisierung hervorgeht, mit all jenen, die der prokapitalistischen Politik ein Ende setzen wollen, hin zu einer Gesellschaft, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung ist.“

Dies mag zwar radikal klingen, aber ähnliche Aussagen waren in den 1970er Jahren bei der PCF und sogar bei der PS durchaus üblich. Sie schlägt in vagen Worten eine breite linke Regierung vor, mit NUPES, und sogar ein Minimum-Maximum-Programm. Zuerst setzen wir der prokapitalistischen Politik der Regerierung ein Ende, und dazu verbünden wir uns mit Reformist:innen, dann gehen wir zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung über. In gewissem Sinne ist dies ein erster Schritt zur Lösung der Zweideutigkeit, auf der die NPA gegründet wurde, allerdings zugunsten einer reformistischen Politik heute und des Sozialismus in ferner Zukunft. Es ist klar, dass die NPA-PFB einen Weg eingeschlagen hat, der dazu führen wird, dass sie sich in eine reformistische Partei auflöst oder einfach irrelevant wird.

Die andere NPA, die NPA-Plattform C (PFC), ist nach wie vor ein heterogener Block, der sich aus zwei Tendenzen der vor der Spaltung bestehenden Partei zusammensetzt, nämlich L’Étincelle (Funke) und Anticapitalisme et Révolution, die nun versuchen, eine einheitliche Partei zu organisieren. Sie sind politisch sehr aktiv unter den Jugendlichen und an den Arbeitsplätzen. Sie verteidigen zu Recht die Perspektive eines Generalstreiks.

„Ja, wir müssen einen Generalstreik anstreben, um die Dinge wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Ohne Arbeiter:innen wird nichts produziert. Wenn wir streiken, wird nichts produziert und Profite und Dividenden sind dann Makulatur.“

Tatsächlich stehen ihre Aktivist:innen an vorderster Front, wenn es darum geht, die Selbstorganisation der Streikenden unter dem Motto „den Streik unter die Kontrolle der Streikenden stellen“ zu entwickeln. Oder, wie es Gael Quirante, Vorsitzender von A&R, auf ihrer nationalen Kundgebung im Februar ausdrückte: „Auch wenn der Beginn eines Generalstreiks nicht so einfach ist, wie auf einen Knopf zu drücken, müssen wir diesen Knopf auf jede Weise suchen, mit Generalversammlungen, mit Koordinierungen usw.“

Was jedoch in der Politik der NPA-PFC völlig fehlt, ist der Gedanke, dass alle Streikenden maximalen Druck auf die Gewerkschaften, also auch ihrer Führungen, ausüben sollten, um den Generalstreik auszurufen und diesen aktiv in den Betrieben, in allen lokalen, regionalen und anderen Strukturen der Gewerkschaften vorzubereiten und dafür offen und ausdrücklich zu werben. Eine der Widersprüchlichkeiten der derzeitigen Mobilisierungen ist in der Tat die geringe Beteiligung an den Betriebsversammlungen, trotz der zahlreichen Demonstrationen. Und ein weiteres Paradoxon ist die Tatsache, dass die Masse der Arbeiter:innen trotz aller früheren Niederlagen der landesweiten Führung der Gewerkschaften vertraut. Dies gilt umso mehr, als die meisten der mobilisierten Arbeiter:innen nicht zur Avantgarde gehören: Viele von ihnen streiken und demonstrieren zum ersten Mal in ihrem Leben. Das wird sich nicht von selbst ändern. Es bedarf der Initiative – der Führung – durch politisch bewusste und erfahrene Aktivist:innen.

Die Aufforderung an die Gewerkschaftsführungen, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen, könnte dabei sehr wirksam sein. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses, den „Druckknopf“ für den Generalstreik zu finden. Selbst in der gemäßigteren Gewerkschaft CFDT ist die derzeitige Position ihrer Spitze darauf zurückzuführen, dass auf ihrer letzten Generalkonferenz eine Mehrheit für die Ablehnung von Macrons Reform gestimmt hat. In den meisten Gewerkschaften sind die lokalen und mittleren Führungsebenen, die unter direktem Druck von unten stehen, tatsächlich von der Notwendigkeit radikalerer Aktionen überzeugt. Während Revolutionär:innen also versuchen müssen, Organe der Selbstorganisation zu schaffen, müssen sie gleichzeitig einen ernsthaften, entschlossenen Kampf Innerhalb der Gewerkschaften führen. Leider würde die NPA-PFC dies als Ketzerei ablehnen. Für sie, wie auch für Lutte Ouvrière und sogar Révolution Permanente (RP; Fracción Trotskista, FT), sollte die Einheitsfront im Grunde nur auf der Ebene der Basis und nicht auf der der Forderungen an die nationale Führung geführt werden. Damit geben sie und die ihnen folgenden Arbeiter:innen eine entscheidende Waffe gegen den Reformismus aus der Hand.

Diese Linie unterscheidet sich wenig von Lutte Ouvrière. Sie schreibt:

„Einige Gewerkschaften rufen zu einem erneuten Streik ab dem 7. März auf. In der Tat müssen wir uns in diese Richtung bewegen. Aber was die Regierung und die Bosse wirklich erschrecken könnte, wäre, dass die Streiks von unten beschlossen werden, dass sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten und dass sie über die von der Gewerkschaftsführung gesetzten Grenzen hinausgehen.

Generalversammlungen mit einer großen Anzahl von Arbeiter:innen müssen über die Weiterführung der Bewegung und der Streiks diskutieren. Sie müssen über alles diskutieren, natürlich über die Forderungen, aber auch über die Art und Weise, wie die Bewegung geführt werden soll.

Sich überall zu treffen, um über die Mittel zur Weiterführung und Ausbreitung der Bewegung zu diskutieren, das ist der Weg, um in der Arbeiter:innenklasse eine Kraft zu erneuern, die unbesiegbar werden kann.“ (LO, 15.2.2023)

Das Überstimmung ist keine Überraschung, denn L’Étincelle, die größte Gruppierung der NPA-PFC, ist eine Fraktion, die aus LO ausgeschlossen wurde, und innerhalb der NPA wurde die gleiche Linie fortgesetzt, mit wenig oder gar keiner politischen Ausarbeitung darüber, was bei LO falsch gelaufen ist.

Die RP bewegt sich auf ähnlichem Kurs: „Angesichts des Zögerns der Intersyndicale gilt es, keine Minute zu verlieren. Die Möglichkeit eines wiederholten Streiks hängt in hohem Maße von den Bemühungen der Streikenden ab. Die Organisation der Basis in jedem Betrieb, der gewerkschaftlich organisierten und nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, muss sich im Dienste dieser Perspektive entwickeln.“ (RP, 22. Februar)

Auch wenn wir zustimmen, dass Initiativen von unten, die spontane Militanz der Arbeiter:Innen an der Basis von entscheidender Bedeutung sind, ist es auch von größter Wichtigkeit zu betonen, dass die Befreiung der Gewerkschaften von der reformistischen Bürokratie erfordert, auf dem Höhepunkt des Kampfes den Widerspruch zwischen Basis und Führung aktiv voranzutreiben. Die Losung eines von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks (anstatt dies einfach der Basis zu überlassen) würde dazu beitragen, die Arbeiter:innen bei jedem Ausverkauf durch ihre Führung von diesen zu brechen und so die Grundlage für demokratische Massengewerkschaften zu legen, die in den Betrieben verwurzelt sind. Es ist sehr wichtig zu erkennen, dass die Massen sich auf die Bürokrat:innen als die Führung des Kampfes beziehen. Sie nur zu denunzieren oder, schlimmer noch, sie zu ignorieren, wird nicht reichen, um diese Situation zu ändern. Um diese Führung zu ersetzen, müssen wir Forderungen an die Gewerkschaftsführer:innen mit der Selbstorganisation des Streiks, Generalversammlungen, die Streikkomitees wählen, usw. und Koordinierungen zwischen verschiedenen Sektoren der Arbeiter:Innen kombinieren.

Offener Ausgang

Trotz dieser Schwäche der radikalen Linken ist der Ausgang des aktuellen Kampfes keineswegs von vornherein entschieden. Die Breite und die Stärke der Massenbasis ergeben sich aus dem Bewusstsein, dass es um viel mehr geht als um Renten. Alle haben die Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten auf harte Art und Weise zu spüren bekommen. Die Jugend, sowohl in den weiterführenden Schulen als auch an der Universität, schließt sich der Bewegung gegen Macron und seine Politik an. Viele haben erkannt, dass vom Kapitalismus, seiner Wirtschaft, seinen Kriegen und seiner Zerstörung des Planeten nichts Positives für sie zu erwarten ist. All diese Kräfte können sich vereinen, um die Regierung zu besiegen, wie sie es 2006 getan haben.

Die Breite der mobilisierten Kräfte erfordert eine Ausweitung des Streiks. Der Weg zum Generalstreik erfordert ein Hinausgehen der Forderungen nach einem Stopp der aktuellen Reform. Forderungen nach Lohnerhöhungen, nach massiven Mitteln für die öffentlichen Dienste (Krankenhäuser, Schulen, Universitäten), nach offenen Grenzen, nach Steuern für die Reichen und auf Profite sollten von den Streikenden offen diskutiert werden und Teil eines Aktionsprogramms für Arbeiter:innen, einschließlich der stark ausgebeuteten Migrant:innen und der Jugend werden.

Doch trotz des historischen Niveaus der Kampfbereitschaft kann ein strategischer Sieg nur durch ein klares Bewusstsein für das Ziel des Kampfes gesichert werden. Zu diesem Zweck muss sich die großartig kämpferische Arbeiter:innenklasse in Frankreich mit einer revolutionären Partei und einem politischen Programm wappnen.




Frankreich: 2 Millionen auf den Straßen – was ist der nächste Schritt?

Marc Lassalle, Neue Internationale 271, Februar 2023

Die Zahlen sprechen für sich. Mehr als zwei Millionen Arbeiter:innen demonstrierten am 19. Januar gegen den jüngsten Versuch von Präsident Emmanuel Macron, das Rentensystem zu reformieren. Ein Zeichen für den weit verbreiteten Widerstand unter den Lohnabhängigen war eine seltene Einheitsfront, bei der alle großen Gewerkschaftsverbände streikten und so den Verkehr, die Energieversorgung und die Schulen zum Stillstand brachten.

Heftiger Angriff

Die Reform ist ein schwerer Angriff auf die Arbeiter:innenklasse. Die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre wird sich unverhältnismäßig stark auf Industriearbeiter:innen und weniger qualifizierte Arbeitskräfte auswirken, die bereits eine kürzere Lebenserwartung und weniger Rentenjahre haben.

Nachdem er einen früheren Versuch im Jahr 2019 wegen der Covid-Pandemie aufgegeben hatte, hat Macron beim aktuellen Projekt nicht um den heißen Brei herumgeredet: Die Beschäftigten müssen mehr arbeiten, um die verschiedenen Maßnahmen der Regierung zur Stützung der Wirtschaft zu bezahlen, sowohl während der Pandemie als auch in letzter Zeit wegen der steigenden Energiekosten.

Die Regierung argumentiert, dass die Reform notwendig ist, um ein prognostiziertes Defizit von 14 Milliarden Euro bis zum Ende des Jahrzehnts zu schließen. Aber während der Pandemie hat der „Präsident der Reichen“ nicht zehn, sondern hunderte von Milliarden Euro in die Stützung der kapitalistischen Wirtschaft gesteckt, und niemand hat das vergessen.

Während Macron mit einer Schwächung der Kampfbereitschaft der Arbeiter:innenklasse rechnete, hat der Aktionstag vom 19. Januar ihn und seine bürgerlichen Expert:innen eines Besseren belehrt. Selbst die gemäßigte Gewerkschaft CFDT, die die Reformen der ersten Regierung Macron zum Arbeitsschutz (Code du Travail) unterstützt hatte, verurteilte sie als „eine der brutalsten Rentenreformen seit 30 Jahren“. Philippe Martinez, Vorsitzender der linkeren Gewerkschaft CGT, sagte, der Plan bündele „die Unzufriedenheit aller“ mit der Regierung. Umfragen zufolge sind etwa 9 von 10 Arbeiter:innen gegen die Vorschläge.

Macron begründete seine beiden Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen, das zu tun, was früheren Regierungen in den letzten 30 Jahren nicht gelungen ist: den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Rentenreform zu brechen. Der Präsident, dessen Partei der bürgerlichen Mitte La République en Marche (Die Republik im Vorwärtsgang) bei den letztjährigen Parlamentswahlen ihre Mehrheit im französischen Parlament verloren hat, ist auf die Stimmen der rechten Republikanischen Partei  angewiesen. Die Überreste des Gaullismus werden sich jedoch nicht so leicht dazu überreden lassen, die politischen Kosten für Macrons Reformvorhaben zu übernehmen.

Gelingt es ihm nicht, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzuschustern, könnte der Präsident auf Notstandsgesetze zurückgreifen, die es ihm erlauben, das Parlament zu überstimmen, auch auf die Gefahr hin, Neuwahlen zu erzwingen. Macron hat die Zukunft seiner Regierung von der Verabschiedung dieser Reform abhängig gemacht. Der letzte Versuch im Jahr 2019 löste die längste Streikperiode seit dem Generalstreik von 1968 aus. Alle Seiten spielen um die höchsten Einsätze.

Entscheidender Kampf

Millionen von Arbeiter:innen bereiten sich jetzt auf einen entscheidenden Kampf mit der Regierung vor. Trotz des großen Erfolgs des ersten Tages muss die Arbeiter:innenklasse ernsthafte Schwächen in ihrem eigenen Lager überwinden. Während die Parole eines Generalstreiks auf den Demonstrationen weithin aufgegriffen wurde, steht sie nicht auf der Tagesordnung der Gewerkschaftsführungen – im Gegenteil. Sie drohen lediglich mit einer langen Kampagne und haben für den 31. Januar einen weiteren Aktionstag mit Streiks und Demonstrationen angekündigt.

Die Gewerkschaftsspitzen verfolgen ihre übliche, gefährliche und in der Regel tödliche Taktik gelegentlicher „Aktionstage“ mit Pausen dazwischen, die der Regierung nur zum Vorteil gereichen, die sie nutzen wird, um einen Deal mit der CFDT zu schließen, das Bündnis der Gewerkschaftsverbände zu schwächen und schließlich zu brechen.

Die beiden großen linken Parteien sind gegen die Reform, aber für die Arbeiter:innenschaft unzuverlässige Verbündete. Die Überbleibsel der Sozialistischen Partei haben die letzte Rentenreform 2014 eingeführt. Jean-Luc Mélenchon, Parteivorsitzender von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), fordert eine Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre, ist aber mehr auf die parlamentarische Bühne konzentrierte, als einen ernsthaften sozialen Widerstand in den Betrieben und auf den Straßen aufzubauen. Die Schwäche der „Revolutionär:innen“ lässt sich an der prekären Lage der NPA (Neue Antikapitalistische Partei) ablesen. Nach einer Spaltung im vergangenen Dezember gibt es derzeit zwei NPAs mit demselben Namen, wenn auch sehr unterschiedlichen politischen Einschätzungen und Ausrichtungen. Keine von ihnen ruft zu einem Generalstreik auf.

Welche Strategie, welche Kampfmethoden?

Die Frage, die sich allen Lohnabhängigen und Jugendlichen stellt, ist, welche Organisation und Strategie erforderlich ist, um diesen Angriff abzuwehren. Diese Aufgaben müssen in den betrieblichen Vollversammlungen und in Arbeiter:innenausschüssen behandelt werden. Macrons Regierung steht und fällt mit der Frage, ob er diese Reform verabschiedet – aber unsere Bewegung muss die Lohnabhängigen für eine umfassende Antwort auf die Krise mobilisieren: nicht nur die Abschaffung der Rentenreform, sondern den Kampf für Lohn- und Rentenerhöhungen, einen massiven Plan für Investitionen in den öffentlichen Sektor, insbesondere in Schulen und Krankenhäuser, mehr hochwertigen bezahlbaren Wohnraum, einen speziellen Plan für junge Menschen und die Aufhebung der rassistischen Anti-Migrationsgesetze.

Die Beschäftigten der Ölraffinerien planen bereits, ihre Streiks Ende des Monats auszuweiten. Diesem Beispiel sollten wir folgen, aber angesichts der Tatsache, dass sich die Gewerkschaftsführer:innen der Verantwortung entziehen, indem sie die Entscheidung den verschiedenen Sektoren überlassen, müssen wir eine alternative Strategie und Führung im Hier und Jetzt vorbereiten.

Der 31. Januar muss zum Ausgangspunkt für eine Reihe eskalierender Streiks werden für die Bildung von Aktionsräten der Arbeiter:innenklasse zur Koordinierung und Kontrolle der sozialen Bewegung, die in einem Generalstreik gipfeln, um Macron und den Arbeit„geber“:innen eine umfassende Niederlage zuzufügen und den Weg für eine Arbeiter:innenregierung zu ebnen, die mit dem kapitalistischen System in seiner Gesamtheit abrechnen kann.

Eine schwere Niederlage Macrons würde den Weg weisen, den viele andere europäische Länder einschlagen sollten.




Frankreich: Wird sich die wirkliche NPA durchsetzen?

Marc Lassalle, Infomail 1207, 19. Dezember 2022ranke

Der lange Todeskampf der französischen Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei NPA) hat sein Endstadium erreicht, nachdem die ehemalige Führung den jüngsten Parteitag verlassen hat. Diejenigen, die übrig geblieben sind, müssen die Bilanz des Experiments der pluralen Partei ziehen.

Was ist geschehen?

Was auf der fünften nationalen Konferenz der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA), die am 11. Dezember in Paris stattfand, geschah, mag für diejenigen, die die französische extreme Linke nicht so genau verfolgen, ein Schock sein. Für ihre Aktivist:innen ist die Spaltung in zwei Gruppen, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, die Fortführung der NPA zu verkörpern, jedoch keine Überraschung.

Die NPA wurde 2009 mit einem Aufruf an die radikale Linke gegründet, sich der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR; französische Sektion der Vierten Internationale) anzuschließen und eine neue revolutionäre Organisation zu bilden.

Unter Führung von Olivier Besancenot, einem jungen Postangestellten, der als Kandidat der LCR bei den Präsidentschaftswahlen 2007 1,5 Millionen Stimmen erhalten hatte, zog die NPA schnell fast 10.000 Mitglieder an. Auf ihrem Gründungskongress verpflichtete sie sich zur Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms. Doch abgesehen von einigen politischen Kommissionen kam dies nie zustande. Stattdessen setzte sich die alte LCR-Gewohnheit der Spaltung in sich ständig bekriegende Fraktionen wieder durch und wurde endemisch.

In der Zwischenzeit wurde die Hoffnung der NPA, viele von der rechten sozialistischen Regierung von François Hollande entfremdete Linke zu gewinnen, durch die Intervention des ehemaligen Abgeordneten der Sozialistischen Partei, Jean-Luc Mélenchon, zunichtegemacht. Der ehemalige SP-Politiker gründete 2009 die Parti de Gauche (Linkspartei), die nach verschiedenen Umwandlungen den Kern von La France Insoumise (FI; Unbeugsames Frankreich) und NUPES (Neue Ökologische und Soziale Volksunion) bildete. Da die Aussichten auf einen Durchbruch bei den Wahlen durch das Aufkommen einer linkspopulistischen Partei durchkreuzt wurden, verbrachte die NPA den größten Teil eines Jahrzehnts in einem langen Todeskampf, der von Spaltungen zur linken und rechten Seite geprägt war.

Plattformen

Angesichts dieser endgültigen Krise kämpften auf der Konferenz 2022 zwei Hauptströmungen um die Kontrolle über die zukünftige Ausrichtung der Organisation.

Die Plattform B (mit 48,5 % der Delegierten) wird von Besancenot und Philippe Poutou angeführt. Diese Strömung hat die NPA seit ihrer Gründung geleitet und stellt die Kontinuität mit der LCR und der Vierten Internationale (USFI) dar. Heute schlägt sie eine große Wende für die NPA vor: von einer unabhängigen Organisation, die sich dem Aufbau einer antikapitalistischen Partei verschrieben hat, die die reformistischen Parteien herausfordert, hin zu einer „einheitlichen“ Ausrichtung auf die FI und das breitere linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, das heute die Reste der Sozialistischen Partei, die Grünen, die Kommunistische Partei Frankreichs und andere kleinere Fische umfasst. Da es nicht gelungen ist, deren politischen Platz einzunehmen, besteht die Schlussfolgerung darin, sich ihnen anzuschließen.

Diese Wende ist nicht neu: Bei den Kommunalwahlen in Bordeaux 2021 warb Poutou (Besancenots Nachfolger als Präsidentschaftskandidat) für ein Bündnis mit der FI. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 unterstützte die NPA zum ersten Mal die Kandidat:innen der NUPES in den meisten Teilen des Landes.

Die Plattform B begründete die Wende auf der Grundlage einer Analyse des Kräfteverhältnisses auf nationaler und internationaler Ebene mit dem Argument, dass „die Arbeiter:innenklasse heute aus dem Gleichgewicht geraten ist, das Proletariat sich inmitten einer gesellschaftlichen Umstrukturierung befindet“ und „das Kräfteverhältnis ungünstig ist, da die herrschende Klasse in der Offensive ist“, weshalb „wir unsere einheitliche Ausrichtung behaupten und weiterverfolgen müssen. Wo immer es dynamische, kämpferische und offene Strukturen gibt, schließen wir uns ihnen an, um unsere Politik des einheitlichen Kampfes zu führen und zur Belebung unserer revolutionären Perspektiven beizutragen“.

Obwohl betont wird, dass dies nicht bedeutet, dass man sich der LFI tatsächlich anschließt, impliziert es doch eine strategische Ausrichtung auf die FI und den Block der sie umgebenden reformistischen Parteien, auch durch politische Allianzen. In der Tat war die Führung der NPA kurz davor, eine Vereinbarung mit der FI zu treffen, um der NUPES beizutreten und bei den letzten Parlamentswahlen Kandidat:innen der NPA unter deren Banner aufzustellen. Sie ist stolz darauf, dass der Slogan „Mélenchon auf den Stimmzetteln, Poutou auf der Straße“ sehr populär ist, was der NPA angeblich eine wichtigere Rolle als das reine Wahlergebnis verleiht.

Die Plattform C (mit 45 % der Delegierten) ist selbst ein Bündnis aus drei heterogenen Gruppen: L’Étincelle (Funke), eine ehemalige Tendenz der Lutte Ouvrière (LO; Arbeiter:innenkampf), ist die führende Kraft. Die nächstgrößere Gruppe ist Anticapitalisme & Révolution, eine Tendenz, die mit der linken Opposition in dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale verbunden ist. Schließlich gibt es noch die Democratie Révolutionnaire, die ihre Wurzeln in der Voix des Travailleurs (Arbeiter:innenstimme) hat, die aus der LO hervorging, bevor sie 1997 der LCR beitrat.

Die Plattform C behauptet, eine Mehrheit innerhalb der NPA zu vertreten, die in großen Städten wie Paris, Lyon, Marseille, Lille und Rouen und vor allem in der Jugendorganisation stark ist. Sie lehnt jedes politische Bündnis mit FI und NUPES ab und fordert eine offen revolutionäre NPA. Sie befürwortet „die Aktualität und Dringlichkeit der Revolution“, die durch eine starke Intervention in der Arbeiter:innenklasse vorbereitet werden soll: Sie organisiert tatsächlich kämpferische Arbeiter:innen in wichtigen Sektoren wie Transport, Automobil und Krankenhäusern.

Einvernehmliche Trennung?

Seit 2020 warnte die Besancenot-Poutou-Führung, dass eine Spaltung unvermeidlich sei, und schlug sogar eine „einvernehmliche“ Trennung als einzigen Ausweg vor. Der Austritt einer anderen Oppositionsfraktion, der CCR (Revolutionäre Kommunistische Strömung; die international mit der Trotzkistischen Fraktion verbunden ist), im Jahr 2021 stoppte diese Entwicklung für einen Moment, da die verschiedenen Strömungen der NPA in der Kampagne von Philippe Poutou für die Präsidentschaftswahlen 2022 eine vorübergehende Einheit fanden.

Die zugrundeliegenden Differenzen wurden jedoch nicht ausgeräumt. Das Funktionieren der NPA als Partei wird von ihren einzelnen politischen Gruppierungen mit ihren eigenen Zeitungen, Webseiten usw. völlig überschattet. Seit mehr als einem Jahrzehnt werden die meisten NPA-Lokalgruppen von der einen oder anderen Tendenz dominiert. Die verschiedenen Gruppen halten getrennte Regionalversammlungen ab, führen getrennte Bildungsprogramme durch und zahlen getrennte Mitgliedsbeiträge. In einigen Betrieben gibt es sogar rivalisierende NPA-Bulletins. Während des jüngsten Eisenbahner:innenstreiks gab es sogar getrennte NPA-Basisausschüsse. Eine solche Verhöhnung der Parteieinheit muss ernsthaften Arbeiter:innenmilitanten und jungen Aktivist:innen skandalös erscheinen.

Trotz dieser gravierenden Probleme ist die von Plattform B vorgeschlagene „einvernehmliche Trennung“ eine absolute Travestie, ein zynisches bürokratisches Manöver, um die Opposition loszuwerden und die Kontrolle über den Apparat zu behalten. Warum also jetzt? Ganz einfach, weil sie denkt, dass es einen größeren Fisch zu fangen gibt!

Der Aufstieg von LFI/NUPES scheint eine neue Perspektive zu eröffnen – nämlich die Möglichkeit, über ihre Listen Sitze im Parlament und in regionalen und kommunalen Versammlungen zu erhalten. Präsident Emmanuel Macron verfügt nur über eine relative Mehrheit im Parlament, was die Regierung zwingt, mühsam entweder die Unterstützung der PS oder von Les Républicains (den rechten Gaullist:innen) zu suchen. Eine vorzeitige Auflösung des Parlaments und Neuwahlen bilden eine mögliche Lösung für Macron, in der Hoffnung, eine klare Mehrheit zu erhalten. Diese zu erwartende Entwicklung stellt für die Plattform B eine verlockende Möglichkeit dar, da sie davon träumt, „mit der FI zusammenzuarbeiten“, wie Poutou es kürzlich in einem Interview unverblümt ausdrückte.

Dies ist jedoch nicht der einzige Grund. Eine Reihe von Abspaltungen nach rechts seit der Gründung der NPA hat die Strömung geschwächt, die heute von der Plattform B repräsentiert wird. Alle diese Abspaltungen, einschließlich führender Kader und wichtiger Teile des Apparats, wurden schnell von Mélenchons sich ständig verändernden Bewegungen und ihrer „Dynamik“ angezogen. Doch alle diese Gruppierungen wurden nach ihrem Austritt aus der NPA schnell politisch irrelevant. Die Folge war, dass die Plattform B nach und nach ihre Mehrheit und die Kontrolle über die NPA verlor, und diese Tendenz hat sich beschleunigt, wie das Wachstum der Jugendsektion zeigt, die mindestens ein Viertel der Mitglieder ausmacht und zu keinem Zeitpunkt unter der Kontrolle der Führungstendenz stand.

Auf der nationalen Konferenz wurde eine von der Plattform C eingebrachte Resolution, die die Weiterführung der NPA forderte, wahrscheinlich von einer Mehrheit der Delegierten angenommen. In der Tat waren selbst langjährige Anhänger:innen der Plattform B schockiert von der Idee, eine Organisation, die sie seit mehr als einem Jahrzehnt loyal und geduldig aufgebaut haben, tatsächlich zu verlassen und aufzulösen. Einige von ihnen zögerten oder gingen vor der Konferenz zur Plattform C über, und dieser Trend hätte sich während der Debatten auf der Konferenz fortsetzen können. Daher beschloss die Plattform B, die Konferenz zu verlassen, bevor eine Abstimmung stattfand. Damit verletzte sie ihre Verpflichtung gegenüber denjenigen, die für sie gestimmt haben, sich an der Konferenz zu beteiligen und für ihre Politik zu kämpfen. Sie trägt auch eine schwere Verantwortung für die extreme Schwächung der NPA, die sich trotz ihrer Fehler und Schwächen gegen die rassistische extreme Rechte und den französischen Imperialismus gestellt, die Arbeiter:innenkämpfe und Selbstorganisation aufgebaut und sich für Elemente einer revolutionären Perspektive eingesetzt hat.

Die Behauptung, dass die Plattform B durch ihren Austritt die „wahre“ NPA sei, ist ein Witz. Ehrliche NPA-Aktivist:innen, selbst für diejenigen, die sie früher unterstützt haben, erinnert er an die niederträchtigen Manöver der zynischsten stalinistischen Gewerkschaftsbürokrat:innen. Erst spaltet man sich ab, dann gründet man eine „zweite“ Gewerkschaft, und schließlich denunziert man die anderen als illegitim, weil sie einem nicht folgen. Wir verurteilen diese Art von Manövern aufs Schärfste, die nur dazu dienen, Revolutionär:innen zu diskreditieren und ihre Stimme zu schwächen.

Die Tatsache, dass die NPA all diese Tendenzen von Anfang an enthielt und Plattform B lange Zeit die Idee ständiger Fraktionen lobte, zeigt, dass sie die Aussicht, ihre Mehrheit und die Kontrolle über den Parteiapparat und die Ressourcen zu verlieren, wirklich „unerträglich“ fand.

Wohin jetzt?

Dieser entsetzliche Schlamassel ist jedoch nicht einfach das Ergebnis der mangelnden politischen Integrität der einen oder anderen Strömung. Er ist vielmehr die faule Frucht der zentristischen Tradition der LCR und des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale und ihrer Verachtung und ihres Missverständnisses des demokratischen Zentralismus. Die NPA wurde auf der Grundlage einer schwachen Grundsatzerklärung gegründet, mit dem Versprechen, eine ernsthafte programmatische Diskussion anzustoßen. Diese Diskussion fand jedoch nie statt, und die mehr oder weniger getrennte Existenz verschiedener Fraktionen innerhalb der NPA wurde auf der Grundlage „diplomatischer Vereinbarungen“ akzeptiert. Es war ein auf Sand gebautes Haus, das den Stürmen und Erschütterungen des politischen Alltags nicht standhalten konnte, geschweige denn dem sich verschärfenden Klassenkampf.

Das bedeutet, dass das Potenzial der NPA, das der extremen Linken, wenn auch nur zaghaft, die Aussicht bot, das Stadium einer kleinen Propagandagruppe zu überwinden, verschleudert wurde. In der Tat war es der Klassenkampf – die Frage des antimuslimischen Rassismus, die Frage der Taktik in den Gewerkschaften und die Herausforderung einer wieder auftauchenden reformistischen Linkspartei –, der die Notwendigkeit einer programmatischen, d. h. strategischen und taktischen Vereinheitlichung mit sich brachte.

Diese Notwendigkeit wurde verpasst, weil die LCR, wie auch LO, das Programm nie als eine Frage der kreativen Anwendung revolutionärer Prinzipien auf neue Perioden und Aufgaben des Klassenkampfes betrachtete. Die wiederholten Krisen seit 2009 haben dafür viele Gelegenheiten geboten. Ebenso hat sich die NPA nie wirklich als revolutionäre Strategin für den Klassenkampf verstanden, die auch kritisch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens mit Reformist:innen und allen Arten von fortschrittlichen Bewegungen sieht.

Kurz gesagt, die NPA hat es nicht geschafft, ein lebendiges Programm zu entwickeln oder auch nur die Debatte darüber zu organisieren, wozu sie sich verpflichtet hatte. Infolgedessen blieb sie einerseits von Wahlen besessen, andererseits blieb sie den linken Kräften in den Gewerkschaften auf den Fersen, wenn es um Bewegungen gegen die verschiedenen neoliberalen Reformen ging. Und je mehr sie sich der Aufgabe der politischen Klärung und Homogenisierung entzog, desto mehr kristallisierte sie sich in einander feindlich gesinnten Fraktionen und Plattformen heraus.

Die derzeitige Krise ist das Ergebnis dieses Versagens. Hinzu kommt, dass sich die politische Situation seit der Gründung der NPA dramatisch verändert hat. Der Populist Mélenchon ist ein ernsthafter Anwärter auf die Führung der Arbeiter:innenbewegung; reaktionäre und rassistische Ideen und Parteien sind mit der Rassemblement National (Nationale Sammlung) auf dem Vormarsch. Es liegt auf der Hand, dass eine starke und kohärente Partei benötigt wird, um sowohl die Rechte als auch den Neoreformismus zu bekämpfen.

In dieser Hinsicht wird die Spaltung an sich nichts klären. L’Etincelle, A&R und DR trennen durchaus grundlegende politische Differenzen und sie haben unterschiedliche Organisationen mit unterschiedlichen Methoden aufgebaut. Wir können ihr Bestreben, die NPA fortzuführen, unterstützen und werden uns daran beteiligen, auch wenn wir ernsthafte programmatische und politische Differenzen mit ihnen haben. Aber sie müssen zu den Versprechen von 2009 zurückkehren und sich um programmatische Einheit und ein Ende der ständigen Fraktionen bemühen. Das Recht, Fraktionen und Strömungen zu bilden, ist natürlich ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen – im Gegensatz zum bürokratischen – Zentralismus. Aber Zentralismus bedeutet, dass man sich auf eine Strategie und Taktik für die bevorstehenden Klassenkämpfe einigt und sich die Ortsverbände und Fraktionen in den Gewerkschaften zusammenschließen, um gemeinsam dafür zu kämpfen. Ohne dies wird die Einheit nur eine Fassade sein, die auseinanderbricht, sobald sie vor einer ernsthaften Herausforderung steht.

Eine glaubwürdige Neugründung der NPA muss notwendigerweise mit einer gründlichen Bilanz des Klassenkampfes in Frankreich und der Entwicklung einer neuen Periode der zwischenimperialistischen Rivalität auf internationaler Ebene beginnen, wobei die Schlussfolgerungen in einem Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse für die kommende Periode zusammengefasst werden.

Dies sind dringende Aufgaben, denen man nicht ausweichen oder sie einfach aufschieben kann. Die Arbeiter:innenklasse und die Jugend Frankreichs haben ihre Kampfbereitschaft gegen die neoliberalen Angriffe unter Beweis gestellt. Sie brauchen die Militanten der NPA, damit sie eine kohärente Kampfpartei wird, nicht ein loses Bündnis konkurrierender Fraktionen. Die Liga für die Fünfte Internationale ist gerne bereit, sich an dieser Diskussion zu beteiligen und sich in den kommenden Jahren aktiv mit den Kämpfen der französischen Arbeiter:innen zu solidarisieren.




Frankreich: Arbeiter:innen in der Offensive

Marc Lassalle, Infomail 1202, 22. Oktober 2022

Seit fast einem Jahr haben die französischen Arbeiter:innen zu einer Reihe von Streiks im ganzen Land mobilisiert, die nach dem Sommer an Schwung gewannen. Die Raffineriearbeiter:innen erzielten die größten Auswirkungen, indem sie praktisch die gesamte Produktion und Verteilung von Benzin für mehrere Wochen blockierten. Sie fordern eine Lohnerhöhung von 10 %, um die höheren Preise für alle notwendigen Produkte auszugleichen. Verglichen mit dem Gewinn des Total-Konzerns, der im letzten Jahr 16 Milliarden Euro betrug, der Dividende von 2,6 Milliarden Euro, die an die Aktionär:innen ausgeschüttet wurde, oder dem irrsinnigen Jahresgehalt von 6 Millionen Euro des Vorstandsvorsitzenden sind die Forderungen der Arbeiter:innen völlig gerechtfertigt. So sehr, dass mehrere andere Sektoren ihrem Beispiel folgen: Arbeiter:innen in den Atomkraftwerken, in den Automobilfabriken (PSA-Stellantis), Zug- und U-Bahn-Beschäftigte, usw.

Beteiligung

Am 18. Oktober demonstrierten 300.000 Arbeiter:innen an einem Aktionstag, zu dem die größten Gewerkschaften, darunter CGT, FO, Solidaires und die Student:innengewerkschaften, aufgerufen hatten. Ein ähnlicher Aktionstag mit vergleichbaren Zahlen fand am 29. September statt. Am 16. Oktober organisierte NUPES, ein Bündnis linker Parteien, zu dem Jean-Luc Mélenchons France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), die Kommunistische Partei, PCF, die Sozialistische Partei, PS, die Grünen und andere kleinere Kräfte gehören, eine Demonstration gegen die hohen Lebenshaltungskosten, an der mehr als 100.000 Menschen in Paris teilnahmen. Diese Zahlen sind die höchsten seit 2019 und ein deutliches Zeichen für eine allgemeine Kampfbereitschaft.

Die Regierung von Präsident Macron, die von der aktiven Arbeiter:innenklasse herausgefordert wird, ist schwächer denn je. Im Parlament fehlt ihm eine Mehrheit von 44 Abgeordneten und er musste auf ein antidemokratisches Verfahren zurückgreifen, um das Haushaltsgesetz ohne Debatte zu verabschieden. Nachdem er sich wochenlang geweigert hatte, ein Problem mit dem Benzin anzuerkennen, griff er zur „Requisition“, einer Verwaltungsmaßnahme, die die Raffineriearbeiter:innen zur Wiederaufnahme der Arbeit zwingt. In der Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist die Unzufriedenheit weit verbreitet: steigende Preise im Vergleich zu den seit Jahren blockierten Gehältern, schlechte Arbeitsbedingungen, der fortgesetzte Abbau des öffentlichen Dienstes, die Gefahr einer weiteren Rentenreform.

Die Streikenden hatten viele Gründe, um aktiv zu werden. Es ist nicht verwunderlich, dass die Mobilisierung praktisch alle Sektoren umfasste, darunter bezeichnenderweise auch viele Beschäftigte des Privatsektors. Am Vorabend des 18. Oktober befürchtete die Regierung sogar einen Generalstreik, der jedoch nicht eintrat. Trotz Hunderter von Generalversammlungen in den Betrieben, der Besetzung von Hunderten von Oberschulen und allgemeiner Diskussionen über die Notwendigkeit eines Generalstreiks in der gesamten Arbeiter:innenbewegung entschied sich kein einziger Sektor, den „verlängerbaren Streik“ fortzusetzen (es ist eine französische Tradition, den Streikbeschluss jeden Tag zu erneuern). Trotz einer Situation, in der ein Generalstreik notwendig ist, und Bedingungen, die dafür reif sind, fand der erneute Streik nicht statt.

Schwächen

Der Grund für das derzeitige Scheitern liegt in der Spaltung des proletarischen Lagers und seinen politischen Schwächen.

Die Gewerkschaften, einschließlich der CGT, der radikalsten der großen Gewerkschaften, wollen keinen Generalstreik. Das ist nach zwei Jahrzehnten breiter Bewegungen gegen neoliberale Reformen in Frankreich klar: Jedes Mal versuchte die nationale CGT-Führung, sich mit vereinzelten Aktionstagen Luft zu verschaffen. Heute wendet sie eine ähnliche Taktik an.

Der Wahlerfolg der NUPES bei den Parlamentswahlen im Juni erfolgte vor dem Hintergrund des Aufstiegs der rechtsextremen Rassemblement National und ihrer rassistischen Ideologie und nach Jahren neoliberaler Reformen und Teilniederlagen. NUPES selbst leidet unter tiefen internen Spaltungen. PCF und PS haben sich Mélenchon nur angeschlossen, um ihre Abgeordneten zu retten. Bis vor fünf Jahren war die PS sogar an der Regierung und führte ähnliche neoliberale Angriffe durch wie Macron heute, mit Macron als Minister.

France Insoumise stellt ein weiteres Vehikel für Mélenchon dar, um im Rahmen des bürgerlichen Staates an die Macht zu kommen. Immer wieder behauptet er: „Wir bauen eine neue Volksfront auf“. Die Volksfront von 1936 profitierte von einer positiven, aber weitgehend unverdienten Aura, die von der PCF geschaffen wurde. Die Arbeiter:innen streikten damals, um eine eigene Regierung zu bekommen, um ihre Lebensbedingungen durch Reformen zu verbessern, um Faschismus und Krieg zu stoppen. Am Ende haben sie so gut wie nichts erreicht: Diese Regierung brach nach ein paar Jahren zusammen und das Vichy-Regime übernahm die Macht. Das ganze Land, ja die ganze Welt, stürzte bald in den Alptraum des imperialistischen Krieges, Nazismus und Faschismus drückten der europäischen Arbeiter:innenklasse ihre eiserne Ferse auf.

Das Programm von Mélenchon ist daher bestenfalls hoffnungslos utopisch. Sein Populismus entwaffnet die Arbeiter:innenklasse, verschmilzt sie mit dem „Volk“, lobt die „Gelbwesten“, lenkt die Energien auf parlamentarische Aktionen statt auf den Klassenkampf und Streiks in den Betrieben.

Kleinere politische Kräfte wie die NPA und die Révolution Permanente (FT) rufen zwar zum Generalstreik auf und geben zu Recht die Parole einer allgemeinen Lohnerhöhung aus, haben aber beide aus entgegengesetzten Gründen einen einseitigen und falschen Ansatz für die Einheitsfront. Die NPA passt sich der NUPES an (sie rief zum Marsch des 16. Oktobers auf und ihr Spitzenpolitiker Poutou sprach auf derselben Plattform wie Mélenchon) und begrüßt sie als positive Neuzusammensetzung der Arbeiter:innenklasse ohne viel Kritik. Die RP lehnt die Volksfront von Mélenchon ab, versteht aber nicht die Notwendigkeit, sich auf die Millionen von Arbeiter:innen zu beziehen, die für Mélenchon gestimmt haben und heute mobilisiert sind. Ein richtiges Verständnis der Einheitsfront ist für die französischen Revolutionär:innen unerlässlich, um in der gegenwärtigen Situation etwas bewirken zu können.

Trotz der verpassten Gelegenheit für einen Generalstreik bleibt die Situation explosiv. Wie ein Minister erklärte, „könnte ein Streichholz ausreichen“, um sie zu entfachen. Die Wut der Arbeiter:innenklasse, die Kampfbereitschaft und die Schwäche der Regierung werden in den kommenden Monaten anhalten. Für die französischen Revolutionär:innen ist es von entscheidender Bedeutung, die Situation richtig zu analysieren, ein Aktionsprogramm mit mobilisierenden Forderungen aufzustellen und die Notwendigkeit eines Generalstreiks innerhalb der Gewerkschaften, unter den nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen und in den Reihen der NUPES zu verallgemeinern.




Frankreich: Macron geschwächt, RN erstarkt, zunehmende Klassenkämpfe

Marc Lassalle, Infomail 1193, 20. Juli 2022

Frankreich hat eine lange Wahlsaison hinter sich. Sie begann im letzten Herbst mit dem Präsidentschaftswahlkampf, einschließlich der Vorwahlen in den großen Parteien, der ein fremden- und migrant:innenfeindliches Klima erzeugte. Während die Wiederwahl Macrons keine Überraschung war, bestätigten die anschließenden Parlamentswahlen mehrere wichtige Entwicklungen, die das politische Leben in Zukunft prägen werden. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wird die Partei des neu gewählten Präsidenten nicht über eine Mehrheit im Parlament verfügen. In vielen Ländern mag dies normal sein, aber in Frankreich wurde es als brisant empfunden.

Präsidialverfassung

Die 1958 von Charles de Gaulle gegründete Fünfte Republik hat eine Verfassung, die die Exekutivgewalt in den Händen des/r Präsident:in und nicht des Parlaments konzentriert. Der sozialistische Präsident François Mitterrand schrieb sogar ein Pamphlet, in dem er die Verfassung als „permanenten Staatsstreich“ anprangerte. Nachdem er selbst zum Präsidenten gewählt worden war, empfand er diese quasi-monarchische Macht natürlich als ganz praktisch. Da die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen manchmal Jahre auseinander lagen, sah sich der Präsident manchmal mit einem Parlament konfrontiert, das mehrheitlich aus Oppositionsparteien bestand, was zu der berühmten „Kohabitation“ zwischen einem linken Präsidenten und einem rechten Premierminister oder umgekehrt führte.

Im Jahr 2002 führte Staatspräsident Jacques Chirac eine Wahlreform durch, mit der die Wahlperioden von Parlament und Präsidentschaft synchronisiert wurden. Dies sollte einem/r neu gewählten Präsident:in eine komfortable Mehrheit sichern. In der ersten Amtszeit von Emmanuel Macron war dies tatsächlich der Fall, und das Parlament spielte nur eine untergeordnete Rolle bei der Genehmigung der vom Präsidenten beschlossenen Maßnahmen.

Diesmal hat sich die Mehrheit der Wähler:innen, vor allem die der Arbeiter:innenklasse, jedoch anders entschieden. Macrons Bündnis fehlen 44 Abgeordnete zu einer funktionierenden Mehrheit. Die Arbeiter:innen hatten eindeutig die Nase voll von seinen zynischen Lügen. Im Jahr 2017 hatte er sich als Kandidat der Linken ausgegeben, und viele glaubten ihm. Sobald er jedoch an der Macht war, wurde sein wahrer Charakter als „Präsident der Reichen“ enthüllt. Er schaffte die Vermögenssteuer ab, setzte reaktionäre Reformen der weiterführenden Schulen und Universitäten durch und griff das Rentensystem, die Arbeitslosenunterstützung und den öffentlichen Sektor im Allgemeinen an. Diesmal beschlossen viele Wähler:innen, ihn zu stoppen, und zwar mit allen Mitteln.

NUPES

Dieser starke Druck von unten stand als Hauptkraft hinter dem Bündnis linker Parteien in der Nouvelle Union Populaire et Sociale (Neue ökologische und soziale Volksunion, NUPES). Die NUPES wurde von Jean-Luc Mélenchon und seiner Bewegung La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) angeführt, umfasste aber auch die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei, die Grünen und andere kleinere Gruppen. Nach wochenlangen Verhandlungen einigten sie sich auf ein linksreformistisches Programm mit 600 Maßnahmen unter dem Hauptslogan „Mélenchon als Premierminister“.

In den meisten Städten und vor allem in den Arbeiter:innenvierteln fiel die Stimmabgabe für die NUPES sehr hoch aus. Im Großraum Paris beispielsweise wurden fast zu gleichen Teilen Abgeordnete der NUPES und des Macron-Lagers gewählt. Le Pens Rassemblement National (Nationale Sammlungsbewegung) (RN) erhielt keine Sitze, und für den traditionellen rechten (gaullistischen) Flügel blieb fast kein Platz. In Seine St. Denis, einer von Migrant:innen bewohnten und verarmten Präfektur nördlich von Paris, wählten alle Stimmbezirke Kandidat:innen der NUPES. Wichtige Persönlichkeiten aus der sozialen Bewegung, wie Rachel Keke, Anführerin eines erfolgreichen Streiks der Reinigungskräfte der Hotelkette Ibis, wurden auf der Liste der NUPES gewählt. Die daraus resultierenden 131 gewählten Abgeordneten sind jedoch weit von einer Mehrheit im Parlament entfernt, was Mélenchons Ziel war.

Rassemblement National

In beiden Wahlgängen konzentrierten Macron und seine Partei ihre Angriffe auf die NUPES und nicht auf die RN. Dieses zynische Manöver, das darauf abzielte, die Zahl der NUPES-Abgeordneten zu minimieren, beendete die historische Politik der „republikanischen Front“, für jede/n „Republikaner:in“ zu stimmen, um RN und Le Pen zu stoppen. Infolgedessen hat die RN-Kampagne einen Durchbruch erzielt, von nur 8 Abgeordneten im Jahr 2017 auf jetzt 89.

Dieser Erfolg ist nicht nur das Ergebnis von Macrons zynischem Opportunismus, sondern spiegelt auch die zunehmende Verbreitung offen rassistischer Propaganda im Lande wider. Während des Präsidentschaftswahlkampfes war Éric Zemmour, ein weiterer rassistischer Kandidat, maßgeblich daran beteiligt. Die Theorie des „großen Austauschs“, d. h. die groteske Lüge, dass die französische Bevölkerung durch Migrant:innen ersetzt wird, ist heute in den Medien und sogar unter den etablierten Politiker:innen weit verbreitet.

Im Vergleich zu ihm erscheint Marine Le Pen verantwortungsbewusst und sogar seriös. Ein ernsthafter Blick auf ihr Programm zeigt jedoch, dass sie die gleiche Ideologie und die gleichen Ziele wie Zemmour verfolgt. Dass viele Arbeiter:innen für Le Pen gestimmt haben, um ihre Wut gegen Macron auszudrücken, ist das Ergebnis des Scheiterns des Reformismus sowohl im Amt als auch in der Opposition. Die Verbreitung rassistischer, fremdenfeindlicher und absolut reaktionärer Ideen in einer Zeit der Wirtschaftskrise und Instabilität stellt eine drohende Gefahr für die französische Arbeiter:innenklasse in den kommenden Jahren dar.

Nach den Wahlen

Wird Macron in der Lage sein, eine ganze Amtszeit zu regieren? Nach den Wahlen bestätigte er die Regierung von Élisabeth Borne, einer Technokratin und ehemaligen Unternehmerin, mit mehreren Minister:innen aus dem rechten Lager. In seinem Interview zum Bastille-Tag machte der Präsident deutlich, dass er sein neoliberales Reformprogramm fortsetzen wird: Verschiebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 65 Jahre, Kürzung der Leistungen für Arbeitslose, kurzum: mehr Arbeit, weniger Steuern. Nachdem er die Bildung einer Regierung der „nationalen Einheit“ oder einer Koalition abgelehnt hat, rechnet er damit, im Parlament Unterstützung zu erhalten, sicherlich von Les Républicains (der gaullistischen Rechtspartei) und möglicherweise von einem Teil der Sozialistischen Partei.

Angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs und der Inflation, der hohen Staatsverschuldung, des Krieges in der Ukraine und möglicher neuer Pandemiewellen könnte ihm dies bei seiner bonapartistischen Rolle, sich über die Parteien zu erheben, sogar helfen. Sollte sich das Parlament als Hindernis erweisen, hat er als Präsident die Macht, es aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Das letztgenannte Szenario ist jedoch auf kurze Sicht recht wahrscheinlich.

Die Linke

Trotz des Erfolgs der NUPES befindet sich die französische Linke in einer sehr schwachen Position. Mélenchon behauptet zwar, die NUPES stehe für einen „Bruch mit dem Kapitalismus“, doch sein Programm enthält keinen solchen Bruch und ist nur ein Katalog zahnloser Reformen, die selbst weit rechts von Mitterrands „gemeinsamem Programm der Linken“ aus den 1980er Jahren liegen. Sein Vorschlag für die kommenden Monate steht ganz im Zeichen seiner populistischen Zielsetzung. Er schlägt „Volkskarawanen zur Unterstützung der Bürger:innen bei der Wahrnehmung ihrer politischen und sozialen Rechte“ und einen „großen Marsch gegen die hohen Lebenshaltungskosten“ vor. Er erwähnt die „Familien des Volkes“, die Arbeitslosen, die Armen, die Vergessenen, aber nie die Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe.

Sein Ziel besteht darin, die Arbeiter:innenklasse in einen „Volksblock“ nach dem Vorbild von Podemos aufzulösen. Märsche, Karawanen und andere Mobilisierungen dienen eindeutig nur seinem Ziel, an der Spitze dieses neuen Volksblocks mit parlamentarischen Mitteln an die Macht zu kommen. Von diesem langjährigen Mitglied und Senator der Sozialistischen Partei, der 1997 in der neoliberalen Regierung von Lionel Jospin eine Nebenrolle spielte und ein großer Bewunderer von François Mitterrand ist, ist nichts anderes zu erwarten.

Welche Art von politischer Verwirrung hat also die Führung der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) zu folgender Analyse veranlasst?

„Heterogen und dem Druck der parlamentarischen Verhandlungen und dem Selbsterhaltungstrieb jedes ihrer Bestandteile ausgesetzt, ist die NUPES nicht stabil, aber sie könnte einen Schritt im Prozess der Neuzusammensetzung der Linken tun. Wir möchten eine aktive Rolle bei der Schaffung eines einheitlichen Rahmens für die Kämpfe und eines Programms zum Bruch mit der neoliberalen Ordnung spielen, wobei wir unsere politische und organisatorische Unabhängigkeit bewahren wollen.

Überall, wo es möglich ist, müssen wir vorschlagen, weiterhin einen Rahmen von vereinten Kämpfen für die Forderungen der Arbeiter:innen, der Volksschichten, für ökologische Ziele, zur Verteidigung der öffentlichen Dienste, gegen die extreme Rechte zu schaffen und eine Alternative zum Kapitalismus zu diskutieren.“ (Anticapitaliste 07/07/2022).

Die Verzweiflung über die eigene Zukunft der NPA und der tief liegende Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit einer revolutionären Lösung hat die Mehrheit dazu gebracht, einen gemeinsamen Block mit Mélenchon als einzige Perspektive zu akzeptieren und ihn „Neuzusammensetzung der Linken“ zu taufen. In den letzten Jahren haben mehrere Abspaltungen der NPA nach rechts diese Linie bereits in die Praxis umgesetzt und sind nun in der NUPES-Koalition vertreten.

Während die NPA zu Recht darauf besteht, dass „Kämpfe entscheidend sind“, kritisiert sie nie Mélenchons gefährlichen Populismus. Sie erwähnt nie, dass Mélenchon nie einen außerparlamentarischen Kampf initiiert oder angeführt, sondern nur mitgemacht und ihn dann für seine parlamentarischen Ambitionen ausgenutzt hat. Man beachte auch, dass die NPA, die als antikapitalistische Kraft geboren wurde, jetzt nur noch von einem „Bruch mit der neoliberalen Ordnung“ spricht und die Alternative zum Kapitalismus nur noch als Diskussionsgegenstand darstellt.

Klar ist, dass die NPA selbst sowohl heterogen ist (fast die Hälfte ihrer Mitglieder lehnt den Führungskurs ab) als auch immer wieder ihrem unbedachten Selbsterhaltungstrieb um jeden Preis nachgibt. Weitere Krisen und Spaltungen sind in den kommenden Monaten wahrscheinlich.

Trotz der Schwäche ihrer Führung antwortet die Arbeiter:innenklasse auf die Angriffe mit neuen Kämpfen. In den letzten Monaten sind zahlreiche Streiks ausgebrochen, vor allem im privaten Sektor: Eisenbahn-, Flughafen- und -linienpersonal, große Privatunternehmen wie Total (Erdöl) und Thales (Rüstungsindustrie), aber auch Versicherungsgesellschaften, Flugzeuge, Agrarindustrie usw. Die meisten dieser Kämpfe, die durch Inflation und niedrige Löhne ausgelöst wurden, haben die Bosse zu erheblichen Zugeständnissen bei den Löhnen gezwungen.

Die Verschärfung der Wirtschaftskrise und der Inflation könnte weitere Kämpfe auslösen und die Bedingungen für eine landesweite Protestwelle schaffen, die den privaten und den öffentlichen Sektor im Kampf gegen die Bosse und die Angriffe der Regierung vereint. Es ist dringend notwendig, dass die radikale Linke ein Kampfprogramm vorschlägt, das nicht durch die politischen Ziele der NUPES und der Gewerkschaftsbürokratie eingeschränkt ist und die Arbeiter:innenklasse gegen die rassistische Ideologie vereint, die sie spalten und schwächen soll.