Die nächste Welle des Rassismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein neues „Paket“, ein neuer „Vorschlag“ ins Spiel gebracht werden, um das „Flüchtlingsproblem“ zu lösen. Eine neue Welle des Rassismus schwappt über Europa. Die rechtsextremen und rassistischen Parteien betätigen sich als nimmermüde Einpeitscherinnen, die bürgerlichen Parteien und Regierungen überbieten sich an stetig neuen Vorschlägen zur Abschottung der Grenzen der EU. Indem sie den Rechten entgegenkommen und deren Forderungen aufnehmen, wollen sie diesen das Wasser bei den Wahlen abgraben.

So wird die Errichtung von „Asylzentren“ an den EU-Außengrenzen von den Innenminister:innen der EU auf den Weg gebracht. Der Grenzschutz Frontex soll weiter verstärkt werden. Sogenannte Migrationsvereinbarungen mit Ländern wie Tunesien, denen seinerseits der rassistische Deal mit der Türkei als Vorlage dient, sollen mit weiteren Anrainerstaaten folgen. Faktisch stellen diese einen weiteren Vorposten zur Abschottung der EU gegen unerwünschte Geflüchtete dar, die aufgrund von Krieg, Klimakatastrophen, Unterdrückung und Elend zur Flucht getrieben wurden und den lebensgefährlichen Weg nach Europa auf sich nehmen.

Zehntausende sind auch schon in den letzten Jahren dem Grenzregime zum Opfer gefallen. Doch diese Art barbarisch-demokratischer Abschreckung reicht den europäischen Demokratien offenkundig nicht. Sie drängen auf mehr. Unter dem ebenso abgedroschenen wie verlogenen Vorwand des Kampfes gegen jenes Schlepperunwesen, das nebenbei das EU-Grenzregime selbst mit befördert und so gewinnträchtig macht, werden die Restbestände des Asylrechts geopfert. Die neue EU-Asylverordnung sieht nicht nur eine dramatische Verschärfung des Grenzregimes vor, sie inkludiert auch gleich Sonderbestimmungen, die selbst das außer Kraft setzen können.

Bleibt noch die leidige Frage der Aufteilung derer, die es doch nach Europa schaffen. Diese sind – allen – zu viele. Alle fühlen sich bei der Aufteilung des Elends, das die kapitalistische Ausbeutung im Interesse europäischer Konzerne schafft und die militärischen und geostrategischen Interventionen der EU-Staaten verschärfen, benachteiligt. Selbst Länder, die kaum noch einen Geflüchteten aufnehmen, kaum noch einem Menschen Asyl gewähren wollen, pochen auf eine nationale Souveränität, deren wahrer Kern sich vor allem im Abtöten jedes menschlichen, „falschen“ Mitgefühls erweist. Die Regierungen Ungarns oder Dänemarks sind im „parteiübergreifenden Konsens“ stolz darauf, dass sie für Flüchtlinge längst als abschreckend gelten, als Länder, wo niemand hin will. Und letztlich sanktioniert die EU diesen rassistischen Unterbietungswettlauf, der immer neue Nachahmerstaaten findet.

Der Rechten, den verschiedenen rechtspopulistischen, rechtsextremen oder gar faschistischen Parteien in Europa ist auch das nicht genug. Rassistische und faschistische Mobs greifen Geflüchtete an, die zuvor schon von der EU zum Vegetieren in Lagern verurteilt wurden. Die italienische Regierung würde am liebsten die Menschen vor Lampedusa zurückschicken oder absaufen lassen.

In ganz Europa trommeln die rechten Einpeitscher:innen gegen Geflüchtete und Migrant:innen. Sie präsentieren sich so den mittelständischen Unternehmen, dem Kleinbürger:innentum, den Mittelschichten und rückständigen Teilen der Arbeiter:innenklasse als reaktionäre, nationalistische, ja völkische Scheinantwort auf Krise, Inflation, Kriegskosten. Demagogisch, aber wirkungsvoll wird die reale Not um die eigene Existenz der angeblich kosmopolitischen Politik der Regierungen, den Geflüchteten und Migrant:innen in die Schuhe geschoben und im Extremfall mit der Mär vom „großen Austausch“ und ähnlichen irrationalen Verschwörungstheorien verknüpft. Der Irrationalismus stellt jedoch keine exklusive Besonderheit der Rechten dar, er spiegelt und verkehrt nur reale, irrationale bürgerliche Verhältnisse selbst.

Die Antwort der breiten bürgerlichen „Mitte“, die von Konservativen und Liberalen bis zu Grünen und Sozialdemokrat:innen reicht, bestätigt den Wahn noch zusätzlich, indem sie den Rechten auf halbem Weg mit einer Politik der Konzessionen entgegenkommt. Eine Politik der stetigen Verschärfung rassistischer Gesetze und stückweisen Anpassung an die angeblich berechtigten „Sorgen“ all jener, die AfD und RN auf den Leim gehen. Wie verdammt nahe diese Mitte dabei den Rechten schon gekommen ist, demonstriert die EU-Kommission im Schulterschluss mit der italienischen Regierung Meloni. Vor allem aber stellt diese rassistische Politik eine regelmäßige Bestätigung der rechten Verschwörungstheorien dar.

Während sich die Vorschläge der EU immer weiter nach rechts gegen die Flüchtlinge verschieben, will die viel gepriesene EU-Asylverordnung bislang nicht so recht gelingen. Ungarn, Polen und den Niederlanden geht der von Innenministerin Faeser so viel gepriesene Vorschlag der EU-Kommission, der „Kompromiss“, der faktisch das Asylrecht aushebelt, nicht weit genug. Die deutschen Grünen legen sich bislang noch quer, so dass die deutsche Enthaltung im EU-Rat bisher das Vorhaben blockiert hat. Ende September forderte Scholz im Kabinett die Aufgabe der grünen Linie und setzte sich damit jedenfalls vorerst durch. Offen bleibt freilich, ob es die EU-Verordnung durch das EU-Parlament schafft.

Widersprüche

Das Hin und Her der EU demonstriert dabei Zweierlei. Erstens stört es praktisch niemanden unter den Regierungsvertreter:innen, dass der gesamte Schacher auf dem Rücken von Hunderttausenden, ja Millionen Geflüchteten ausgetragen wird. Zweitens offenbart es die tiefen inneren Gegensätze zwischen den Nationalstaaten und unter verschiedenen Kapitalfraktionen.

Natürlich sind – von Teilen der extremen Rechten abgesehen – alle für die Aufnahme einer Flüchtlings„quote“, um damit die eigene, wenn auch zahlenmäßig fest begrenzte Humanität unter Beweis zu stellen. Außerdem sind alle für „geregelte“ Migration. Gerade in Zentren des europäischen Kapitalismus – so z. B. in Deutschland – herrscht in wichtigen Sektoren Arbeitskräftemangel. Diese Lücken zu füllen, gelten die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen jedoch als ungeeignet, müssten sie doch erst ausgebildet und angelernt werden.

Gleichzeitig sucht das Kapital migrantische Arbeitskräfte in Millionenmengen, deren Bildungskosten schon jemand anderes getragen hat – sei es als Fachkräfte im IT-Bereich, sei es als Pflegepersonal. Für diese – aber eben auch nur diese – sollte es nach Ansicht von Wirtschaftsvertreter:innen neuerdings sogar eine „Willkommenskultur“ geben. Die Beschaffung dieser Arbeitskräfte soll jedoch einerseits aus dem Reservoir billiger Arbeitskräfte aus den halbkolonialen Ländern Europas, vorzugsweise aus Osteuropa, erfolgen oder aus Ländern wie der Türkei, wo es lange etablierte Regelungen im Interesse des deutschen Kapitals gibt. Für Länder wie Deutschland bildet mittlerweile die Migration einen wichtigen, unersetzbaren Teil der Gesamtarbeitskraft. Für die Masse dieser Arbeiter:innen entpuppt sich die sog. „Willkommenskultur“ seit Jahren als zynische Phrase, deren realen Gehalt die streikenden LKW-Fahrer in Gräfenhausen, die Spargelstecher:innen aus Osteuropa oder Hunderttausende am eigenen Leib täglich verspüren. In Wirklichkeit reduziert sich das verlogene Gerede darauf, einem bestimmten Segment höher bis hoch qualifizierter Arbeitskraft Deutschland schmackhaft zu machen.

Zweitens und damit zusammenhängend will das Kapital den offenen Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften in der EU weiter gewährleistet sehen. Daher auch die Kritik von Unternehmerverbänden an den von AfD, CDU/CSU seit Monaten geforderten und nunmehr auch von der Ampel-Koalition zugesagten innereuropäischen Grenzkontrollen. Solche führen einige Länder schon jetzt durch. Deutschland will nun die Grenzen zu Polen und zu Tschechien verstärkt kontrollieren. Auch darin manifestieren sich die inneren Widersprüche des Europas des Kapitals.

Kampf gegen Rassismus ist Klassenpolitik!

Vor dem Hintergrund der globalen Krise und der inneren Widersprüche der EU forcieren nicht nur die Rechte und die bürgerliche Mitte den Rassismus durch den Staat oder auf der Straße. Auch in der Arbeiter:innenklasse und in der Arbeiter:innenbewegung setzen reformistische und vor allem (links)populistische Kräfte auf eine restriktive, rassistische Flüchtlings- und Migrationspolitik – und bereiten damit den Rechten den Boden auf. Die dänische Sozialdemokratie stellt ein besonders unrühmliches Beispiel auf diesem Weg dar, doch auch die SPD beschreitet ihn, wenn auch zögerlicher. Populist:innen wie Wagenknecht wiederum übernehmen in weiten Teilen das rechte Narrativ und setzen, wie auch eine Minderheitsfraktion im Unternehmer:innenlager, kleinbürgerliche Schichten und rückständige Arbeiter:innen auf nationale Abschottung als Alternative zum angeblichen Kosmopolitismus der EU.

Natürlich ist es für sie ein Leichtes, den Zynismus und die Verlogenheit der EU-Politik zu kritisieren und vorzuführen. Ihre Kritik ist jedoch dem Wesen nach reaktionär, rückwärtsgewandt. Sie will das Rad der Geschichte zurückdrehen und verklärt einen seligen sozialstaatlichen Kapitalismus, den es so ohnedies nie gab.

Ein fortschrittliche Antwort besteht letztlich im genauen Gegenteil: im Kampf gegen die Spaltung der Arbeiter:innenklasse, gegen die Selektion von Flüchtlingen und Migrant:innen in Ausgestoßene und Deportierte einerseits und entrechtete Lohnabhängige zweiter Klasse andererseits. Die sog. „geregelte“ Migration entrechtet immer einen Teil der Lohnabhängigen, erschwert ihre Kampfbedingungen und vertieft die ohnedies schon vorhandene Spaltung der Arbeiter:innen durch Rassismus und Nationalismus.

Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer, Grenzkontrollen in der EU und einer insgesamt menschenverachtenden rassistischen Politik braucht es eine menschenwürdige Alternative. Wir brauchen eine Massenbewegung von antirassistischen, Migrant:innenorganisationen, allen Arbeiter:innenorganisationen und vor allem von den Gewerkschaften!

• Nein zur Festung Europa! Nein zur europäischen Asylverordnung, nein zu allen Grenzkontrollen!

• Volles Asylrecht für alle Geflüchtete! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland und in der EU leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Organisierte Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant:innen, unterstützt von der gesamten Arbeiter:innenbewegung! Öffnung der Gewerkschaften für alle Geflüchteten und Migrant:innen!

• Statt des Europas der Imperialist:innen ein Europa des Widerstands, der Unterdrückten und Ausgebeuteten! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




Nein zur EU-Asylrechtsreform! Offene Grenzen für alle!

Paul Dreher, Infomail 1226, 26. Juni 2023

Am 8. Juni verständigten sich die EU-Innenminister:innen auf eine „Reform“ des Gemeinsamen Europäischen Asylrechts (GEAS). Faktisch stellt sie eine Abschaffung des ohnedies schon massiv eingeschränkten Asylrechts für Hunderttausende Geflüchtete dar. Ohnehin ist der Status einer geflüchteten Person längst äußerst prekär. So sind Geflüchtete der Hetze bürgerlicher Medien sowie rechter Gewalt ausgesetzt und haben in der Regel weder das Recht zu arbeiten noch, ihren Wohnort zu wählen.

Und auch das nur, wenn sie den tödlichsten Fluchtweg der Welt, das Mittelmeer mit seiner Festung Europa, überleben. Keine Woche nach dem Beschluss nahm die rassistische Außenpolitik der EU 500 – 600 weitere Tote in Kauf, als ein überfülltes Fischerboot vor der Küste Griechenlands kenterte. Laut Aussagen von Geflüchteten aufgrund der griechischen Küstenwache, welche im Rahmen eines Pushbacks das Boot aus dem Gleichgewicht brachte.

Der Beschluss der Innenminister:innen stellt einen weiteren massiven rassistischen Angriff dar. Bevor er in Kraft tritt, muss er noch durch die gesetzgebenden Institutionen – EU-Kommission, -Rat und -Parlament. Eine Verteidigung des Asylrechts ist von diesen nicht zu erwarten, zumal die Regierungen der EU-Staaten wie auch alle größeren Fraktionen des EU-Parlaments in den Beschluss der Innenministerkonferenz eingebunden waren.

Aber die Verhandlungen und Beratungen der EU-Organe können und müssen noch genutzt werden, um eine Bewegung zur Verhinderung der „Reform“ und zum Kampf für ein uneingeschränktes Asylrecht auzubauen.

Was haben die Innenminister:innen beschlossen?

Die Reform, welche von der Bundesregierung als „politischer Durchbruch” gesehen wird, bedeutet eine quasi Abschaffung des geltenden Asylrechts. Sie sieht unter anderem die Nutzung von großen Asylzentren an den EU-Außengrenzen mit Einschränkung der Bewegungsfreiheit – praktisch Gefängnisse für Antragssteller:innen auf Asyl – vor. In diesen sollen Geflüchtete, worunter ebenfalls Familien mit Kindern zählen, bis zu drei Monate lang eingesperrt, jedoch möglichst schnell wieder abgeschoben werden.

Insbesondere,  wenn es sich um Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten” handelt oder aus Staaten, aus denen Antragssteller:innen in der Vergangenheit mit einer ziemlich geringen Wahrscheinlichkeit Erfolg auf Asyl hatten (darunter fallen z. B. die Türkei, Indien oder Tunesien). Sollte eine Abschiebung in das Herkunftsland nicht möglich sein (zum Beispiel, weil dort Krieg herrscht), so ist jetzt auch eine in ein „sicheres Drittland” möglich, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise (wie entfernte Verwandtschaft) mit der geflüchteten Person assoziiert wird.

An den Außengrenzen inhaftierte Geflüchtete werden registriert und möglichst gründlich identifiziert. Die entsprechenden Daten, darunter neben biometrischen Fingerabdrücken auch Gesichtsfotos, sollen in einer EU-Datenbank gesichert und von Asyl- und Strafverfolgungsbehörden aller EU-Staaten abgerufen werden können, damit sogenannte „Sekundärmigration”, d. h. die Chance auf Asyl in einem anderen Land der EU (mit möglicherweise menschengerechteren Lebensgrundlagen), verhindert wird. Ein Recht auf Asylberatung oder rechtlichen Beistand wird den Menschen dabei nicht gewährt.

Widerstand in Basis von SPD und Grünen?

Während die SPD-Bundestagsfraktion 2020 noch Horst Seehofer kritisierte und die EU-Asylrechtsreform mitsamt „Massenlager[n] an der EU-Außengrenze” und einem „abgeschwächten Asylverfahren” ablehnte, sieht es heute ganz anders aus, von den Grünen ganz zu schweigen. Wieder einmal beweisen beide Parteien mit ihrer Zustimmung, dass ihnen die imperialistischen Interessen der EU, insbesondere Deutschlands, wichtiger sind als Menschenleben. Zwar sprachen sich 24 Abgeordnete der SPD und der Grünen aus dem Bundestag sowie eine Handvoll aus Landtagen gegen die aktuelle Fassung der Asylreform aus, tragen die Politik aber faktisch mit. Überhaupt fällt die parteiinterne Kritik sehr schwach aus, auch wenn die Berichterstattung mancher bürgerlichen Medien das anders sieht. Von grünen Kritiker:innen der Parteispitze fallen Aussagen wie, dass die Verhandlungssituation „sicherlich schwierig” sei und man sich sicher sei, dass doch trotzdem irgendwie für die richtige Politik gekämpft werde. Erik Marquardt, ein Mitglied der Grünen, welcher dafür bekannt ist, sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen zu wollen, spricht trotzdem von „Vertrauen in die Bundesregierung”, und dass eben alle Menschen Fehler machen. Dass es sich hier jedoch nicht um einen alltäglichen menschlichen Fehler handelt, sondern um die systematische Vertretung der Politik des Kapitals, wird von den parteiinternen Kritiker:innen verkannt.

Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform grundlegend als Angriff auf die Menschenrechte ab. Während SPD, FPD und auch die Grünen die faktische Aushebelung des Asylrechts als „geringeres Übel“ (für wen???) verteidigten, bezeichnen CDU und CSU die Verschärfungen als „guten Schritt“, dem weitere folgen müssten. Damit will sich die AfD erst gar nicht aufhalten. Für sie stellt selbst dieser rassistische Hammer eine „bloße Alibiveranstaltung“ dar, denn noch immer könnten Geflüchtete aus einzelnen Ländern wie Afghanistan und Syrien Asyl erhalten. Auch wenn die AfD-Forderungen im EU-Parlament keine große Rolle spielen werden, so verweisen sie darauf, dass längst nicht das Ende der rassistischen Fahnenstange erreicht ist, selbst wenn die „Reform“ angenommen wird.

Widerstand ist nötig!

Auch wenn von den EU-Institutionen nichts zu erwarten ist, so können und müssen die Beratungen und Verhandlungen der kommenden Monate genutzt werden, um eine Bewegung zur Verhinderung der „Reform“ und zum Kampf für ein uneingeschränktes Asylrecht aufzubauen.

Der Protest gegen den rassistischen Angriff darf nicht weiter auf Petitionen und Kundgebungen von Menschenrechtsorganisationen, von NGOs und antirassistischen Initiativen beschränkt sein wie beim bundesweiten Protesttag am 15. Juni.

Wir brauchen eine Massenbewegungen, von antirassistischen,  Migrant:innenorganisationen, Gewerkschaften, der Linkspartei. Die Abgeordneten, die sich im Parlament gegen die rassistischen Maßnahmen ausgesprochen haben, müssen eine solche Mobilisierung unterstützen – und zwar nicht nur EU-weit!

Was braucht es stattdessen?

Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer und einer insgesamt menschenverachtenden EU-Außenpolitik braucht es eine menschenwürdige Alternative in der Hand von Arbeiter:innen, Geflüchteten und anderen unterdrückten Menschengruppen und deshalb fordern wir:

• Volles Asylrecht für alle Geflüchtete! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die in Deutschland leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Statt des Europas der Imperialist:innen ein Europa des Widerstands, der Unterdrückten und Ausgebeuteten! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




EU-Migrationsregime: Vorsicht Falle!

Jürgen Roth, Neue Internationale 274, Juni 2023

Wie zynisch kann Geschichte doch sein! Fast auf den Tag genau 30 Jahre sind vergangen seit der Asylrechtsänderung durch den Deutschen Bundestag (26. Mai 1993). Drei Tage später verübten 4 Neonazis einen verheerenden Brandanschlag auf das Haus einer türkischstämmigen Familie in Solingen, bei dem 5 Menschen ums Leben kamen und 14 zum Teil schwer verletzt wurden. So viel zur Wirksamkeit der Asylrechtsänderung, die mit entsprechendem Mediengetrommel als Eindämmung des rechten Straßenmobs verkauft wurde, um ihm die Basis zu entziehen, die angeblich in „Überfremdung“ bestehe. Überfremdung wurde zum Unwort des Jahres 1993 gewählt.

Blutspur

Schon vorher hatte der rassistische Pöbel in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln gewütet – ebenfalls mit Toten und Verletzten. Doch weit entfernt davon, seine Untaten in die Schranken zu weisen, wirkte die legale Verschärfung des Asylrechts – gegen Geflüchtete, nicht den rechten Mob! Erinnert sei nur an die Attentate des NSU und den Amoklauf in Hanau, die sich wie eine Blutspur durch die jüngere Geschichte der BRD ziehen, begleitet von anschwellenden Massenbewegungen wie Pegida. In diesem Szenario muss man die demokratischen Abgeordneten, die für das neue Asylrecht gestimmt haben, als Kompliz:innen, nicht Gegner:innen der offen physischen Gewalt gegen Migrant:innen bezeichnen.

Am 26. Mai 1993 beschloss der Bonner Bundestag mit Zweidrittelmehrheit eine Grundgesetzänderung. Ohne die Zustimmung durch die meisten SPD-Parlamentarier:innen wäre sie nicht zustande gekommen. Dieser „Asylkompromiss“ Artikel 16 a des Grundgesetzes sah vor, dass der alte Artikel „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ erheblich eingeschränkt wurde. 16 a führte den „sicheren Drittstaat“ ein. Demnach erhält ein/e Schutzsuchende/r kein Recht auf Asyl in Deutschland, wenn sie/er über ein EU-Mitglied oder einen anderen Staat eingereist ist, in dem die Möglichkeit existiert, einen Asylantrag einzureichen. Deutschland ist von solchen vollständig umringt. Heute werden weniger als 1 % aller Asylanträge positiv beschieden. Weitere verschärfte Klauseln wurden im Grundsatz im Mai 1993 angelegt: das Asylbewerberleistungsgesetz, das die soziale Versorgung auf ein Niveau deutlich unterhalb der regulären Sozialhilfe senkt; das sogenannte Flughafenverfahren, mittels dessen auf dem Luftweg eingereiste Schutzsuchende seither 3 Wochen im Transitbereich eines Airports festgehalten werden können, das als „exterritoriales Gebiet“ eingestuft wurde.

Als die Grünen damals für den Tag der Abstimmung die Aufhebung der Bannmeile um den Bundestag forderten wurde dies mit den Worten abgelehnt, man beuge sich nicht dem Druck der Straße. Man beugte sich genauer nicht diesem, fortschrittlichen Druck, sehr wohl aber dem reaktionären: 521 Abgeordnete stimmten für die gravierenden Verschlechterungen. Kanzler Kohl weigerte sich, an den Trauerfeiern in Mölln und Solingen teilzunehmen. Sein Terminkalender gestatte keinen „Beileidstourismus“ – ganz in diesem selektiven Sinn.

EU der Menschenrechte?

Erhalten nicht trotzdem 35 % der Asylsuchenden in der BRD einen Schutzstatus? Dies gilt aber nur, weil Genfer Flüchtlingskonvention und Europäische Menschenrechtskonvention gewisse Abschiebungen verbieten. Doch jetzt droht hier schlimmeres Ungemach als vor 30 Jahren in Deutschland, wo ja Schutzsuchende auf andere EU-Staaten verwiesen wurden. Am 8. Juni 2023 wollen die Innenminister:innen eine Vorentscheidung fällen.

Im Klartext: Schutzsuchende werden im geplanten neuen Grenzverfahren behandelt, als seien sie niemals eingereist. Das deutsche Flughafenverfahren steht hier deutlich Pate. Sie werden an den Außengrenzen in Lagern festgesetzt und überwacht. Gleichzeitig will man die Anforderungen an „sichere Drittstaaten“ senken. Folglich sollen sie in solche Staaten verfrachtet werden können, in denen sie niemals waren und in die sie auch nicht gelangen wollten. Erforderlich ist nur, dass Teilgebiete als sicher gelten. Die Genfer Flüchtlingskonvention muss also nicht verbrieftes Recht darstellen, um im Eilverfahren abgeschoben werden zu können. Eine individuelle Prüfung der Fluchtgründe ist ebenso wenig vorgeschrieben, obwohl im Koalitionsvertrag der Ampel steht: „Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“

Scholz und Faeser opfern also elementare Bestandteile des EU-Asylrechts, um einerseits mit rechtspopulistischen Regierungen einen Deal zu schließen, der das Auseinanderfallen dieses Blocks verhindern soll. In geringerem Maß spielen auch die bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern eine Rolle bei dieser „Kehrtwende“. Entschuldigen können sie sie nicht. Ukrainekrieg, Verfolgungsdruck in Afghanistan, Syrien und der Türkei stehen fürs genaue Gegenteil.

Diskursschwenk

Wie vor 30 Jahren bereiten die Damen und Herren im Parlament zum rechten Diskurs. Innenministerin Nancy Faeser sprach direkt nach den Vorfällen der Berliner Silvesternacht von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“, Jens Spahn (CDU) strickte flugs eine Verbindung mit „ungeregelter Migration“ her, in der Bundesregierung ist „irreguläre“ Einwanderung zum geflügelten Wort mutiert, Robert Habeck hat nichts mehr gegen Haftlager einzuwenden und eine FDP-Bundestagsabgeordnete nahm wieder das Unwort des Jahres 1993 in den Mund. Die Täter:innen in Nadelstreifen handeln wieder nach dem Motto: „Wir schlagen Schaum, wir seifen ein, wir waschen unsere Hände wieder rein!“

Abschiebepraxis: Malta, Libyen …

Weitgehend unbeachtet hatte die EU-Kommission bereits im Dezember 2021 Änderungen des Schengener Grenzregimes angestoßen, die der EU-Rat dann im Juni übernahm. Das Straßburger Parlament hatte sie nur geringfügig abgeschwächt. Die Vorgänge an der polnischen Grenze zu Belarus (Weißrussland) vom Winter 2021 wurden zum Anlass genommen, Kontrollen an den Binnengrenzen erst nach zweieinhalb Jahren gegenüber der Kommission rechtfertigen zu müssen. An den Außengrenzen wird alles ignoriert, was passiert. Griechenland darf ungestraft Migrant:innen zurückdrängen. Frontex leistet aktive Beihilfe. So jüngst bei der Rückführung eines ehemaligen Fischerboots mit 500 Geflüchteten aus Maltas Seezone durch eine libysche Miliz nach Bengasi: Frontex, maltesische Behörden und ein Schiff der Bundesmarine, welches regelmäßig im Mittelmeer patrouilliert – warum wohl? –, schritten nicht ein, geschweige denn leisteten sie Seenotrettungshilfe.

… Niger

Der Niger gilt seit 2015 als weiterer Grenzwächter Europas. Im Juli 2022 erneuerte die EU ihre „Antischmuggelpartnerschaft“, lagert ihre Grenzen nicht nur an der Mittelmeerküste, sondern bis in die Mitte Nigers aus. 2010 hat die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) hier angefangen, von den EU-Staaten bezahlte „Transitzentren“ zu bauen. Von hier sollen aus Algerien oder Libyen Abgeschobene in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. 2015 erließ Niger das Gesetz 036, das Migration und ihre Unterstützung (Transport, Unterbringung) illegalisiert und mit Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren und Geldbußen bis zu 3.000 Euro ahndet. In der Folge wichen Flüchtende auf gefährlichere und teurere Fluchtrouten durch die Sahara aus. Bleibt ein Auto liegen, gibt es kaum Hilfe, zumal allein die Benutzung eines Satellitentelefons als Straftat gilt. Seit 2014 registrierte die UNO 2.000 Todesfälle in der Wüste – Tendenz steigend. Expert:innen rechnen mit weit höheren Zahlen.

… Polen

Polen gilt als Opfer der Destabilisierungsversuche der EU durch den belarusischen Diktator Lukaschenko. Kein Wunder also, dass jetzt auch seine Binnengrenzen verstärkt überwacht werden. Die Bundesinnenministerin traf sich diesbezüglich jüngst mit dem polnischen Vizeressortchef Grodecki. Deutsche und polnische Behörden werden demnach ihre Kontrollen entlang der gemeinsamen Grenze ausweiten. Brandenburgs Innenminister Stübgen (CDU) hatte seine Bundeskollegin aufgefordert, dem schon lang praktizierten Beispiel Bayerns und Österreichs folgend, auch stationäre Grenzkontrollen zu errichten. Dies wurde zwar einstweilen zurückgewiesen, doch wird die Bundespolizei (früher: Bundesgrenzschutz) Einsätze in der polnischen Grenzregion weiter intensivieren.

… Österreichs

Zuvor hatte Faeser bereits mit dem österreichischen Innenminister Gerhard Karner über die Beibehaltung Beibehaltung der gemeinsamen Grenzkontrollen gesprochen, die eigentlich schon lange gegen das Schengener Abkommen verstoßen. Beide waren sich gerade in Hinblick auf den derzeit verhandelten „Asyl- und Migrationspakt“ (GEAS) einig, dass Binnengrenzkontrollen innerhalb des Schengengebiets erst aufgehoben gehören, wenn der Außengrenzschutz funktioniert. Dass das ähnlich wie im Mittelmeer und Nordafrika nur mit illegalen Rückführungen (Pushbacks) vor sich gehen muss, ist eine Binsenweisheit.

Pushback für GEAS!

Der Aufschrei unter einschlägigen humanitären und Seenotrettungs-NGOs wie Pro Asyl, Sea-Watch etc. ist zwar riesig, doch im Gegensatz zu 2015 bleiben die Straßen, so am 26. Mai 2023 in Berlin, beschämend leer. Die Politik dieser Organisationen besteht zum großen Teil aus Petitionen, also einer Form von Betteln an „unsere“ Politiker:innen, darunter ausgerechnet Hauptkriegstreiberin Baerbock. Natürlich sollten wir alle Mobilisierungen, seien sie auch noch so zahm geraten, unterstützen. Die Arbeiter:innenklasse muss gemäß ihren ureigensten historischen Interessen jedoch auch das Feld der Einwanderungspolitik zu ihrem gestalten. Sie muss beginnen mit dem Eintreten für konsequente demokratische Reformen, die in der Forderung nach offenen Grenzen und vollen staatsbürgerlichen Rechten, nicht nur Bleiberecht und Duldung, gipfeln. Darüber hinaus muss sie die legalen Voraussetzungen für ihre Klasseneinheit ergänzen durch soziale Forderungen wie Verteilung der Arbeit auf alle hier Lebenden, Mindestlohn, Anspruch auf volle Sozialhilfe, Reisefreiheit, gegen Arbeitsverbote und Residenzpflicht, für normales Wohnrecht statt Unterbringung in Lagern, Anerkennung der Berufsabschlüsse, kostenlosen Sprachunterricht usw. Doch um ihren Anspruch, die führende Klasse in der zukünftigen Weltgesellschaft zu werden zu untermauern, bedarf es des Aufbaus einer revolutionären kommunistischen Arbeiter:innenpartei und -internationale, die sich für die Abschaffung des kapitalistischen Systems in die Bresche wirft, das in seiner imperialistischen Epoche durch das Wirken des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt auch die Ungleichheiten zwischen den Nationen und Ungleichmäßigkeit ihrer Entwicklung zugunsten der Großmächte und auf Kosten einer immer mehr zunehmenden Masse der Weltbevölkerung verstärkt…




Weitere Verschärfung der EU-Flüchtlingspolitik droht

Susanne Kühn, Neue Internationale 273, Mai 2023

Der EVP-Chef und CSU-Vize Manfred Weber mimt den Einpeitscher: „Die EU schlafwandelt in eine neue Migrationskrise, obwohl der rasant steigende Migrationsdruck offensichtlich ist“, lässt er Mitte April verlauten.

Damit will er unter anderem der italienischen Regierung Meloni beispringen, als deren Fürsprecher sich Weber seit einiger Zeit hervortut. Anfang Mai hat Italien den Notstand ausgerufen. Eine „Flüchtlingswelle“ soll gestoppt werden.

Weber, Meloni und andere Rechte bzw. Konservative fordern, dass die Außengrenzen der EU noch weiter abgeriegelt werden.

Abschottung und Tote an den Außengrenzen

Dabei erreichten gerade 31.000 Flüchtlinge in den ersten drei Monaten die Küsten Maltas und Italiens. Das stellt zwar eine deutliche Steigerung gegenüber 2022 dar. Aber die Ursache dafür bildet keine „Flüchtlingswelle“, sondern eine Veränderung der Fluchtrouten. Nur wenige Menschen kommen noch über die Türkei, die Balkanroute oder Marokko nach Europa. Mehr als die Hälfte der nach Italien Geflüchteten nimmt die gefährliche Reise über den Seeweg auf sich – trotz der barbarischen Zustände in Tunesien selbst und trotz der lebensgefährlichen Route. Allein 2023 (Stand 12. April) fanden 600 Flüchtende im Mittelmeer den Tod, seit dem Jahr 2014 sind es insgesamt 26.358 Menschen.

Nun wollen Weber und Co. ein weiteres Abkommen mit der tunesischen Regierung, die für die EU die rassistische Drecksarbeit erledigen soll, ähnlich wie die Türkei in ihrem  Abkommen mit der EU.

Diese Forderung steht für eine weitere brutale Barbarisierung des EU-Grenzregimes. Die Hetzkampagne soll den Boden für eine weitere rassistische Abschottung, verschärfte Einsätze von Frontex, Auffanglager an den EU-Außengrenzen, Kriminalisierung von ehrenamtlichen Fluchthelfer:innen sowie verschärftes Vorgehen gegen Flüchtlinge und Asylbewerber:innen in Deutschland und anderen EU-Staaten bereiten.

Dabei plant die EU längst, was Weber vorschlägt. Beim Gipfel im Februar 2023 wurden ein weiteres Mal eine Verstärkung der Grenzkontrollen und die Beschleunigung von Abschiebungen beschlossen. Außerdem müssen zukünftig Ablehnungen von Asylanträgen in einem Land auch in allen anderen anerkannt werden.

Strittig war und ist nur, wie der rassistische Spuk finanziert werden soll: über Haushalte der Staaten, über jenen der EU oder im Rahmen des „Solidaritätsmechanismus“ zwischen den Ländern.

Rassismuskrise

Zu Recht bezeichnet Pro Asyl die sog. „Flüchtlingskrise“ als Rassismuskrise. „Die EU – ein Bund aus 28 Staaten, mit insgesamt 510 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von rund 15 Billionen Euro – ist 2015 nicht wegen einer Million Schutzsuchender in die so genannte Flüchtlingskrise geraten – sondern aufgrund der Fliehkräfte immer weiter um sich greifender nationalistischer und rassistischer Tendenzen. Rassismus und Populismus sind verantwortlich für die aktuelle ‚Flüchtlingskrise’ der EU. Nicht die Flüchtlinge.“

Nur ein kleiner Teil der über 100 Millionen Geflüchteten weltweit schafft es bekanntlich in die EU, deren imperialistische Mitgliedsstaaten jedoch kräftig mitwirken an jenen Verhältnissen, die die Menschen zur Flucht zwingen.

In Deutschland haben 2022 193.000 Menschen einen Asylantrag gestellt. Die oft beschworene Steigerung ergibt sich statistisch einfach daraus, dass während der Pandemie auch die Zahlen der Geflüchteten und Asylbewerber:innen deutlich zurückgingen. Gestiegen ist im letzten Jahr die Anerkennungsquote (auf 72 % bei Erstanträgen) – und das trotz einer extrem rigiden Überprüfung. So erhielten laut Pro Asyl „im Jahr 2022 fast 40.000 zunächst vom BAMF abgelehnte Asylsuchende doch noch einen Schutzstatus, in den meisten Fällen durch eine Gerichtsentscheidung, aber auch, weil das BAMF die ursprüngliche Ablehnung korrigierte. In über der Hälfte dieser Fälle erhielten Menschen aus Afghanistan nachträglich Schutz, weil sie mit ihrer Klage bei Gericht oder einem Folgeasylantrag erfolgreich waren oder das BAMF mit einem Abhilfebescheid den ursprünglichen, falschen Bescheid aufhob.“

So erhalten zur Zeit zwar die meisten Geflüchteten aus Afghanistan und Syrien eine zumindest vorübergehende Anerkennung, Anträge von Menschen aus dem Iran werden hingegen in den meisten Fällen abgelehnt. So viel zum Menschenrechtsland Deutschland.

Allein diese wenigen Zahlen machen deutlich, dass die sog. „Flüchtlingswelle“ eine Erfindung ist, dass es vor allem um die Hetze gegen Geflüchtete und Migrant:innen geht – und darum, den Boden für weitere Gesetzesverschärfungen und eine noch rigidere Abschottungs- und Abschiebepraxis vorzubereiten.

Dieser Entwicklung muss entschieden entgegengetreten werden.

  • Nein zu allen Abschiebungen! Bleiberecht und volle Staatsbürger:innenrechte für alle Geflüchteten und Migrant:innen!

  • Für offene Grenzen! Schluss mit Frontex und allen anderen rassistischen Grenzkontrollen!

  • Schluss mit dem Lagersystem! Aufhebung der Residenzpflicht! Recht auf freie Wahl des Wohnortes und auf Arbeit!



European Gas Conference

REVOLUTION Austria, Infomail 1220, 14. April 2023

5.000 Menschen, darunter Genoss:innen des Arbeiter*innenstandpunkt und von REVOLUTION Austria, demonstrierten am 28. März in der Wiener Innenstadt gegen die European Gas Conference. Aufgerufen hatte ein breites Spektrum von Organisationen der Umweltbewegung, antirassistischen Kräften, linken Gruppierungen und Parteien links von SPÖ und Grünen.

Die Demonstration war begleitet von einer Gegenkonferenz, kleineren Blockaden und Aktionen um den Kongress des „fossilen“ Kapitals. Arbeiter*innenstandpunkt und REVOLUTION organisierten außerdem am 31. März eine Podiumsdiskussion zur weiteren Strategie der Bewegung. Im Folgenden spiegeln wir einen Artikel von REVOLUTION Austria, der vor der Konferenz veröffentlicht wurde und auf ihre Bedeutung verweist.

European Gas  Conference

Seit Jahren sind Klimaaktivist*innen in den Medien und lenken die öffentliche Aufmerksamkeit auf das wichtigste Thema unserer Zeit: die Klimakrise. Auch am 28. März wird es wieder eine Großdemonstration gegen den fossilen Energiesektor geben. Es versammeln sich nämlich die relevantesten Energiekonzerne in Wien, um unter anderem die Perspektive von Gas zu diskutieren. Eine Eintrittskarte kostet 3.000 Euro und es werden hier Entscheidungen angekündigt und getroffen, die das Untergehen unserer Zukunft zementieren werden.

Die fossile Industrie und ihr Kongress

Für die European Gas Conference verschlägt es vom 27. bis zum 29. März Vertreter:innen aller wichtigen Energiekonzerne nach Wien, darunter Total Energy, Shell, BP, RWE und Eni sowie die OMV. Gesponsort wird der Gipfel von Finanzunternehmen wie BlackRock und der Raiffeisenbank.

Mit hundert privaten Meetings mit Konzernvertreter:innen und Politiker:innen sowie den Vorträgen von sogenannten Expert:innen, die allesamt leitende Personen innerhalb der Energiekonzerne sind, verspricht die Konferenz das wichtigste Lobbytreffen des Jahres dieser Industrie zu werden.

Die Botschaft der einzelnen Vorträge und des Gipfels als Ganzem ist dabei klar: Erdgas ist ein Rohstoff der Zukunft, der eine grünere Alternative zu Öl und Kohle aufgrund seiner saubereren Verbrennung mit einem niedrigeren Ausstoß an Treibhausemissionen darstellt. Es sei von der Politik also sicherzustellen, dass es auch in den kommenden Jahrzehnten einen fixen Platz im Energiemix einnimmt. Schon jetzt zeigen die Bemühungen der Industrie erste Erfolge, denn von der EU wurde Erdgas kürzlich bereits als umweltverträglicher Rohstoff eingestuft.

Außerdem seien neue Investitionen in die entsprechende Infrastruktur notwendig, um Europa für die nächsten Jahrzehnte politisch und wirtschaftlich abzusichern, nicht zuletzt wegen des Ukrainekrieges, aufgrund dessen kein Erdgas mehr von Russland gekauft werden kann. In diesem Sinne werden auf der Konferenz neben der Trans Adriatic Pipeline vor allem Projekte in Afrika und Asien beworben.

In den Broschüren der verschiedenen Zusammenschlüsse der Industrie wird damit geprahlt, dass gerade in verarmten Gebieten der Anschluss an das Gasnetz sehr positive Auswirkungen auf die Luftqualität und Gesundheit der lokalen Bevölkerung hat. Eine Investition in diesem Bereich sei also nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern ein regelrecht selbstloses Sozialprojekt.

Unverzichtbar sei der Rohstoff auch in der Produktion von Dünger und Wasserstoff.

Grünes Erdgas?

Die tatsächlichen ökologischen Konsequenzen der Erdgasindustrie werden während der ganzen Konferenz nicht behandelt. Die Förderung und Verwendung von Erdgas erzeugt rund 25 % der weltweiten Treibhausgase. Speziell die absichtliche wie unabsichtliche Freisetzung von Methan in die Atmosphäre bei Produktion und Transport wird von den Konzernen seit Jahrzehnten de facto ignoriert.

Jede neue Investition in Infrastruktur für die Unternehmen wie Total Energy oder BP, die heute getätigt wird, sorgt dafür, dass die weltweiten Emissionen der Industrie für die nächsten 50 Jahre nicht nur auf dem derzeitigen hohen Stand bleiben, sondern auch noch weiter anwachsen. Der Ausbau festigt weiter unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und der Ausbau bindet außerdem Ressourcen, die für eine schnelle Energiewende dringend gebraucht werden.

Was die Konferenz versteckt, ist, dass sämtliche vertretende Unternehmen nicht nur Produzenten von Erdgas sind, sondern auch von Kohle und Erdöl. Sie sind nicht nur die wichtigsten Verursacher des Klimawandels, sondern profitieren auch am meisten von der weltweiten Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Ihr objektives Interesse am Erhalt der derzeitigen Energieversorgung drückt sich unter anderem dadurch aus, dass die Energiekonzerne ihre enorme politische Macht dafür nutzen, staatliche Programme zur Umstellung von fossilen Energieträgern, für z. B. Heizen und Kochen, auf erneuerbare zu verhindern.

Aber warum wird das getan? Ist Erdgas wirklich die einzige Lösung in der Energie- und Umweltkrise? Was sind unsere Alternativen? Wir müssen die Frage von der anderen Seite beantworten: Wir können uns nicht mehr leisten, immer wieder auf umweltschädliche fossile Energien zurückzugreifen. Was können wir also tun? Dafür ist wichtig zu betonen: Wer trifft denn momentan die Entscheidung, wie viel Energie wofür zur Verfügung steht? Der mit Abstand höchste Energieverbrauch findet in Produktion und Verkehr statt, und zwar in faktisch jedem Land. Verkehr ist hierbei auch stark verknüpft mit Logistik. Die Entscheidung, wie diese stattfindet, liegt bei den Unternehmen und ist damit nicht demokratisch legitimiert. Ähnlich wie bei der Gaskonferenz kommen hier Leute zusammen, die kein Entscheidungsrecht haben, entscheiden für uns, wie, was und warum produziert wird, und behaupten dann, dass es leider nur mit fossilen Brennstoffen geht, damit „unsere“ Bedürfnisse nach Energie gedeckt werden.

Wir wollen stattdessen gemeinsam entscheiden, wo und warum Energie genutzt wird. Die umweltfeindlichsten Bereiche, die, wo es möglich ist, sowieso abgeschafft werden müssen, sind auch die, die häufig den höchsten Energieverbrauch haben. Statt riesigen Leuchtreklamen und Just-in-time-Autotransporten könnten wir uns demokratisch für einen Ausbau des Schienennetzes und erneuerbarer Energie einsetzen, wenn wir die demokratische Macht dazu hätten, dies zu entscheiden.

Deshalb kämpfen wir für eine bedingungslose Enteignung und politische Kontrolle über Entscheidungen des Energiesektors.

Fossile Energie und der europäische Imperialismus

Für Jahrzehnte war Russland für Europa ein wichtiger Lieferant für fossile Energieträger. Nach der erneuten Eskalation des Krieges in der Ukraine kam es zu einer verstärkten Blockbildung zwischen Russland auf der einen Seite und der EU sowie den USA auf der anderen, die zu einer Einstellung des Handels mit Erdgas führte. Der europäische Imperialismus ist daher auf der Suche nach einer anderen Bezugsquelle für Erdgas und Erdöl, die am besten möglichst kontrollierbar und billig ist.

Ein Beispiel für jene Entwicklung ist die bereits 2020 fertiggestellte Transadriatische Pipeline, die Erdgas aus Aserbaidschan, einem engen westlichen Verbündeten, über die Türkei nach Griechenland und Italien liefert. Ebenfalls in Planung ist die Transsahara Gaspipeline, die Erdgas aus Nigeria durch Niger bis an die algerische Mittelmeerküste bringen wird. Ob der Bau, wie von den drei beteiligten Ländern vorgesehen, wirklich ohne Beteiligung ausländischer Unternehmen erfolgen wird, bleibt abzuwarten.

Die Bemühungen der Energiekonzerne um die Erschließung neuer Quellen für fossile Brennstoffe beschränken sich nicht nur auf Erdgas, sondern inkludieren auch Erdöl. So wird derzeit eine neue Pipeline für Rohöl in Ostafrika vom französischen Unternehmen Total Energy gebaut, das ebenfalls auf der Konferenz in Wien vertreten ist. Sie soll die Ölfelder in Uganda mit dem Hafen von Tanga in Tansania verbinden. Das Projekt führte bereits zu mehreren rücksichtslosen Umsiedelungen von Gemeinschaften, durch deren landwirtschaftliche Flächen die Pipeline führen wird, und bedroht die wirtschaftliche Lebensgrundlage und Wasserversorgung der Bevölkerung. Es wird davon ausgegangen, dass das Victoriaseebecken besonders stark durch Wasserverschmutzung und Erosion geschädigt werden wird.

Die Gewinne aus der Anlage gehen größtenteils an den Konzern Total Energy und zu einem kleineren Anteil an staatliche Ölkonzerne von Tansania und Uganda. Man kann nicht erwarten, dass die geschädigte Bevölkerung vor Ort jemals etwas von den Milliarden an Gewinnen aus der Unternehmung sehen wird.

Wir müssen international kämpfen, weil wir in den imperialistischen Ländern Druck aufbauen müssen, damit die ökonomische Abhängigkeit in halbkolonialen Ländern geschwächt wird. Die Menschen dort, die am stärksten unter der Klimakrise leiden, können dadurch effektiver dafür kämpfen, dass sie selbst in der Lage sind, Energieprojekte in einer nachhaltigen Art und Weise zu managen.

Wir kämpfen deshalb unter anderem für die Streichung aller Schulden, die halbkoloniale Länder an imperialistische Länder zu zahlen hätten.

Gewinner der Energiekrise auf unsere Kosten

Die Konzerne im Öl- und Erdgassektor haben nicht nur ihre klimaschädlichen Geschäfte und politische Einflussnahme zu verantworten. Die Firmen konnten in der derzeitigen Gaskrise ihre Profite enorm steigern, vor allem auf Kosten von Lohnabhängigen, die sich die gestiegenen Heizkosten kaum noch leisten können. Keine einzige europäische Regierung ist gewillt, dem Wucher durch Preisobergrenzen oder Vergesellschaftungen ernsthaft Einhalt zu gebieten, denn man möchte ja nicht die Profitraten einer so wichtigen Klientel wie der Erdölindustrie einschränken. So beschränken sich staatliche Hilfen für die Arbeiter:innenklasse auf kleine Einmalzahlungen, die keine wahre Entlastung schaffen. Die jetzige Inflation, die von den Energiepreisen getrieben wird, trifft vor allem die Haushalte, die nicht in der Lage sind zu sparen und die Kosten, die jetzt auf sie zukommen, nicht wirklich abfangen können.

Auch die Menschen, die in nicht nachhaltigen Bereichen arbeiten, haben in diesen Branchen keine Zukunft. Wir brauchen ihre Expertise und ihr Können für eine nachhaltige Umstellung der Wirtschaft. Sie sind diejenigen, die ein tatsächliches Interesse daran haben, ihre Unternehmen und Konzerne umzugestalten und zu nutzen, was zu nutzen ist und aufzugeben und zu verhindern, was die Klimakrise weiter anheizt.

Wieder einmal sehen wir alle nur zu gut, warum sich Arbeiter:innen und Jugendliche nur auf sich selbst verlassen können. Hoffnungen auf Preisobergrenzen und finanzielle Hilfen werden vergebens sein, wenn sie nicht durch Streiks und Besetzungen erzwungen werden. Keine Profite mit Heizen und Miete! Vergesellschaftung der Energiekonzerne unter Arbeiter:innenkontrolle ohne Entschädigungen!

Eine neue Klimabewegung

Im deutschsprachigen Raum haben die Proteste gegen die Räumung von Lützerath in Deutschland sowie die Besetzung der Baustellen für die Stadtautobahn in Wien zu einer klaren Radikalisierung der Klimabewegung geführt. Gerade die Erfahrungen mit Polizeigewalt und die absolute Unwilligkeit der Grünen in beiden Ländern, bei ihren Versprechen für mehr Klimaschutz zu bleiben, hat viele junge Aktivist:innen zum Umdenken bewegt. Doch dieses beschränkt sich oft nur auf eine höhere Stufe an „Radikalität“ bei den eigenen Aktionen wie den Unibesetzungen von End Fossil: Occupy! oder dem Festkleben an Straßen durch die Gruppe Letzte Generation. Nicht geändert hat sich aber, an wen diese Forderungen gerichtet werden und wer die Klimakrise lösen soll: bürgerliche Regierungen und deren Staatsapparat.

REVOLUTION sieht sich als Teil der Klimabewegung und wir stehen solidarisch zu allen Gruppen, die sich an diesem entscheidenden Kampf beteiligen. Jedoch sehen wir, dass das Unterfangen, die Klimakrise durch Appelle an ein Parlament oder besonders radikale Einzelaktionen zu bekämpfen, nicht zu verwirklichen ist. Daher schlagen wir einen neuen, klassenkämpferische und internationalistischen Weg vor.

Klasseninteressen in Zeiten der Klimakrise

In der Klimakrise sitzen nicht alle im gleichen Boot. Wie auch die Erzeugnisse des kapitalistischen Wirtschaftssystems national und international sehr ungleich verteilt werden, so werden auch die Lasten des Kapitalismus von manchen Menschen stärker getragen als von anderen. Besonders betroffen sind Jugendliche und Arbeiter:innen sowie Menschen außerhalb der imperialistischen Zentren. Sie profitieren kaum von der erhöhten Produktivität durch die rücksichtslose Ausbeutung der Umwelt und haben meist nicht die Möglichkeit, vor den schlimmsten Folgen des Klimawandels wie Überflutungen, Luftverschmutzung und Dürre zu fliehen. So ist es Menschen mit großen finanziellen Mitteln möglich, ihre Häuser zu klimatisieren oder einfach in weniger stark betroffene Gebiete umzusiedeln.

Für Kapitalist:innen, also Menschen, die Kontrolle über Produktionsmittel wie z. B. Fabriken ausüben, verspricht jedoch jedes Jahr ohne Klimaschutz höhere Gewinne. Auch verfügen sie über die notwendigen Ressourcen, um gegebenenfalls den Folgen ihres eigenen zerstörerischen Handelns aus dem Weg gehen zu können.

Sogar wenn sich einzelne Unternehmer:innen gegen ihr eigenes objektives Interesse für härtere Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Betrieb entscheiden, würden sie aufgrund der dadurch stärkeren Konkurrenz schnell an Bedeutung verlieren.

Das Kapital als Klasse stellt sich also nicht aufgrund von Unwissenheit gegen stärkeren Umweltschutz, sondern aufgrund des eigenen materiellen Interesses und des ökonomischen Zwangs, auf dem Weltmarkt profitabel und wettbewerbsfähig zu bleiben. Da die Kapitalist:innenklasse als Ganze die meisten Mittel für Lobbying und Propaganda zur Verfügung hat, werden die Interessen des Kapitals auch in Fragen des Klimaschutzes von den bürgerlichen Regierungen jeder Art rücksichtslos durchgesetzt. Daran ändert auch eine Regierungsbeteiligung der Grünen nichts.

Der Kampf gegen den Klimawandel ist immer einer gegen das Kapital. In der Klimakrise teilen sich die Interessen von Menschen also nicht nach Bildungsgrad oder dem persönlichen Wissen über den Klimawandel, sondern nach der Klassenzugehörigkeit. Als Klimabewegung ist es unsere Aufgabe, stets den Kontakt zu den Massen an Jugendlichen und Arbeiter:innen zu suchen, die das größte objektive Interesse (weil es um ihr Überleben geht) an einer konsequenten Klimapolitik hegen. Diese Gruppen müssen wir für den gemeinsamen Kampf für unsere Zukunft mobilisieren. Genauso wie wir es nicht schaffen, die Klimakrise durch unser persönliches Konsumverhalten abzuwenden, reicht es auch nicht aus, mit isolierten Aktionen und Aktivismus einer kleinen Szene Aufmerksamkeit zu generieren. Wir wollen eine Bewegung werden und dafür müssen wir den Kampf für einen Systemwechsel in die Schulen und Unternehmen tragen.

Als Aktivist:innen innerhalb des imperialistischen Kerns sollten wir die Kämpfe von Arbeiter:innen und Jugendlichen gegen Ausbeutung und Klimawandel in den Halbkolonien als unsere eigenen sehen. Nur eine breite, internationale, antikapitalistische Bewegung wird in der Lage sein, die Produktionsverhältnisse weltweit ökologisch und sozial zu gestalten. Diese Aufgabe ist weder den eigenen Parlamenten noch irgendeiner parlamentarischen Partei anzuvertrauen, da jene Institutionen in der Vergangenheit schon zu oft gezeigt haben, dass sie sich stets dem Willen der Kapitalist:innen beugen werden.

Unsere Forderungen sollen nicht den Anschein erwecken, dass kapitalistische Staaten diese tatsächlich eines Tages umsetzen könnten. Aber sie geben uns einen klaren Weg vor, um erfolgreich zu sein, und zeigen auf, welche Schritte notwendig sind, um die jetzige Krise zu überwinden. Forderungen sollten aber auch immer versuchen, eine Brücke zwischen dem derzeitigen Bewusstsein der Menschen und diesen notwendigen Maßnahmen zu spannen.

Daher sagen wir: Nein zu neuer Infrastruktur von Erdgas! Nein zur Ausbeutung von Rohstoffen in den Halbkolonien durch imperialistische Staaten! Nein zu Treffen zwischen Industrie und Politik, die immer nur der Maximierung des eigenen Profits dienen! Ausstieg aus allen fossilen Energieträgern, auch Erdgas! Keine Profite mit Heizen und Miete, die Lasten der Wirtschaftskrise sollen nicht von Arbeiter:innen und Jugendlichen getragen werden. Enteignung der Energiekonzerne unter Arbeiter:Innenkontrolle!

Klimaschutz heißt Klassenkampf: Vernetzung von Klimabewegung und Gewerkschaften! Es gibt keinen grünen Kapitalismus, Klimaschutz muss antikapitalistisch und internationalistisch sein! Kein Vertrauen in bürgerliche Staaten und Parteien!




Kriegstreiberin NATO

Frederik Haber, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Ziemlich plötzlich wichen die Bilder und Berichte von der polnisch-belarussischen Grenze solchen von russischem Kriegsgerät: Es drohen nicht nur Flüchtlinge, sondern auch russische Panzer.

Beides wurde dann auch als Grund dafür angegeben, warum sich die AußenministerInnen der NATO in Lettland treffen und beraten müssen. Anfang Dezember also trafen sie sich in Riga, zum ersten Mal so nahe an der russischen Grenze, und die NATO hielt auch gleich eines von fünf dort geplanten Manövern ab.

Die Fakten also belegen eine geplante Machtdemonstration des atlantischen Bündnisses, das natürlich seine Rechtfertigung braucht: „Es soll Truppenkonzentrationen an der russischen Grenze geben“, lautete der Tenor der Medien und PolitikerInnen. Belegt wurde nichts, die Bilder der russischen Militärausrüstung stammten aus Archiven.

Motive

Die Aggressorin ist eindeutig die NATO unter Führung des US-Imperialismus. Es gibt für diesen verschiedene Motive. Das Entscheidende ist die Zuspitzung der Widersprüche zwischen den führenden imperialistischen Mächten: China fordert die Hegemonie der USA heraus, ist wirtschaftlich teilweise auf Augenhöhe und rüstet schnell auf, wenn auch das Land militärisch noch meilenweit von der Stärke der USA entfernt ist. Russland kann wirtschaftlich überhaupt nicht mithalten, verfügt aber nach wie vor über eine militärische Stärke, die die neue russische Bourgeoisie aus der Sowjetunion geerbt hat. Diese erlaubt Russland, den USA nicht nur in seinem engeren Umfeld wie Ukraine und Armenien in die Parade zu fahren, sondern auch in Zentralasien oder Syrien.

Die USA unter Biden setzen wieder stärker darauf, die direkten KonkurrentInnen zu schwächen, und verfolgen so mit anderen Hebeln das gleiche Ziel, „America great again“ zu machen. Im Gegensatz zu Trump nutzt Biden dazu mehr die NATO und andere internationale Strukturen. Das bringt dem US-Imperialismus zwei Vorteile: Die Kosten können umgelegt und die „Verbündeten“ in Konflikte mit Russland und China getrieben werden, die sie möglicherweise gar nicht wollen.

Insbesondere der deutsche Imperialismus steht dabei im Fokus der USA. Seine Stärke liegt im Export. Er braucht wirtschaftliche Beziehungen mit Russland zur Energieversorgung und zum Export von Autos, Maschinen und Anlagen sowie China für Handel mit allem und jedem. Andere Teile der EU gehen in eine ähnliche Richtung. Für die USA verfolgen die Konflikte mit Russland und China immer auch den Zweck, den deutschen und EU-Imperialismus zu schwächen, wirtschaftlich wie politisch.

Kriegspropaganda entlarven

Als SozialistInnen ist es unsere Aufgabe, der Kriegspropaganda der eigenen herrschenden Klasse entgegenzutreten und ihre Lügen zu entlarven. Wenn es sich dabei um eine imperialistische Macht handel wie die BRD, erst recht. Wir wissen auch, dass gerade, wenn es um die innere und äußere Sicherheit, um die Absicherung der Diktatur der Bourgeoisie und ihrer Position in der globalen Konkurrenz geht, die Bereitschaft zur Lüge sehr hoch ist. Gerade weil die Kriegstreiberei der NATO die Kriegsgefahr erhöht, ist Wachsamkeit vonnöten: Die harmlosen Gesichter eines Maas oder bald einer Baerbock dürfen uns nicht täuschen.

Aber die Lügen unserer ImperialistInnen machen die der anderen nicht besser. Auch die Außenpolitik des russischen Imperialismus geht über Leichen. Hunderttausende fanden den Tod in Syrien und ihre Hoffnungen wurden begraben, als sich die russische Hilfe als der entscheidende Faktor erwies, den Schlächter Assad an der Macht zu halten.

In Osteuropa, genauer in der Ukraine, hat der russische Imperialismus quasi „die richtige Seite“ unterstützt. Gegen den Putsch der rechten NationalistInnen und FaschistInnen, der 2014 von den USA mit über 5 Milliarden US-Dollar finanziert worden war, unterstützte Russland diejenigen, die sich dagegen zur Wehr setzten und eine Volksbewegung im Ostteil des Landes bildeten. Es nutzte dies, um sich die Krim einzuverleiben, nachdem die dortige Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit einen Anschluss gefordert hatte. Putin versorgt die Republiken im Osten so weit, dass sie überleben können. Ein Ende dieser Unterstützung würde Pogrome zur Folge haben, weit schlimmer noch als das Massaker an den VerteidigerInnen des Odessaer Gewerkschaftshauses. Zugleich hat der russische Einfluss alle linken und emanzipatorischen Projekte im Donbass beendet. Es muss heute davon ausgegangen werden, dass der Tod von mindestens 3 linkspopulistischen Führern auf russisches Betreiben geschah.

RevolutionärInnen dürfen nicht den Fehler vieler Linker (meist stalinistischer Herkunft) begehen, zwischen guten und schlechten ImperialistInnen zu unterscheiden oder gar zu leugnen, dass Russland (oder China) imperialistische Länder sind. Es gilt, die Konflikte zu nutzen, um sie jeweils vor ihrer eigenen Bevölkerung entlarven.

Gerade weil wir die Verlogenheit der „demokratischen“ ImperialistInnen bekämpfen, können wir am besten die GewerkschafterInnen und DemokratInnen in Belarus oder der Russischen Föderation in ihrem Kampf gegen Putin oder Lukaschenko unterstützen und sie vor den Illusionen in die „westliche“ Propaganda bewahren.

Antikriegsbewegung!

Das Treffen der NATO in Riga verkörpert einen Schuss gegen Russland und eine weitere Eskalation in einem neuen Kalten Krieg. Die USA und ihre engeren Verbündeten in der NATO drängen auf massive Aufrüstung, verstärkte Grenztruppen. US-Verteidigungsminister Lloyd J. Austin III. erklärt sich öffentlich für einen NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens. Auch wenn das noch dauern mag, so wird die Ukraine schon jetzt aufgerüstet – mit fleißiger Unterstützung der alten wie der neuen Bundesregierung. Ebenso drohen USA und NATO mit weiteren, härteren Wirtschaftssanktionen gegenüber Moskau.

Dieser Kriegstreiberei der NATO und der Aufrüstung in der BRD müssen wir entschlossen entgegentreten. Nein zu allen Sanktionen, die selbst nur ein „ziviles“ Mittel im Kampf um die Neuaufteilung der Welt darstellen! Nein zu allen Auslandseinsätzen! Sofortiger Abzug aller Truppen im Ausland! Nein zur NATO-Mitgliedschaft, nein zur Aufrüstung der Bundeswehr! Keinen Cent, keine Person für diese Armee!




EU und Britannien: Stoppt die Tragödie im Ärmelkanal – lasst die Flüchtlinge herein!

Dave Stockton, Infomail 1170, 26. November 2021

Bei der jüngsten Tragödie im Ärmelkanal sind mindestens 27 Flüchtlinge, darunter fünf Frauen und ein junges Mädchen, ertrunken, als ihr Schlauchboot in den eisigen Gewässern kenterte. Französische und britische MinisterInnen haben die Gelegenheit genutzt, um sich gegenseitig die Verantwortung für diese Barbarei zuzuschieben. Das Einzige, worauf sie sich einigen können, ist, die Schuld bösen MenschenschmugglerInnen anzulasten, die Verzweiflung und Elend ausnutzen. Das ist schamloser Zynismus, der dem Rassismus Vorschub leistet, wenn er von denjenigen kommt, die die Verzweiflung, die so viele zur Flucht zwingt, maßgeblich mit verursacht haben.

Zynismus

„Warum hat Frankreich sie von seiner Küste weggelassen?“, fragen Boris Johnson und Priti Patel, die britische Innenministerin. „Warum haben die BritInnen keine Büros eröffnet, in denen sie legal ihre Aufnahme beantragen können?“, fragt Emmanuel Macron.

In der Zwischenzeit sucht Patel nach einer rechtlichen Handhabe für den Befehl an die britische Marine, die Beiboote in französische Hoheitsgewässer zurückzudrängen, was einen Verstoß gegen das Seerecht darstellt, das eine absolute Pflicht zu ihrer Rettung vorsieht. Die britischen Rechtsaußenzeitungen titeln derweil schreiende Schlagzeilen, in denen sie aufgefordert wird, „sich zusammenzureißen“ und „Großbritannien vor einer Invasion zu schützen“.

Es ist sicherlich richtig, dass in diesem Jahr viel mehr Flüchtlinge den Ärmelkanal überquert haben. Im Juli überstieg die Zahl das Niveau des gesamten Jahres 2020, und im November überschritt eine tägliche Überfahrt zum ersten Mal die Zahl von 1.000. Die Ursache für die steigende Zahl der Überfahrten ist die Blockade aller anderen Reisemöglichkeiten. Die britische Regierung kalkulierte zynisch, dass die Gefahren der Überfahrt viele von der Reise abhalten würden, insbesondere im Winter.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan, Jemen, Äthiopien und Sudan, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid in Afrika. Viele Flüchtlinge kommen aus überfüllten Lagern im Iran und in der Türkei, die Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak aufgenommen haben.

Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten tragen einen großen Teil der Schuld für die Bombardierung, die Invasion und die Verhängung harter Wirtschaftssanktionen gegen eine Reihe von Ländern in der Region. Jetzt haben die westlichen Mächte alle Hilfe und Finanzmittel aus Afghanistan abgezogen und die Gold- und Währungsreserven des Landes an die Zentralbanken in Frankfurt, London, Paris und New York überwiesen, um sie als Lösegeld zu behalten.

Sie setzen den Hunger als Waffe gegen die Taliban ein, und diese wiederum treiben die Menschen dazu, vor ihrem repressiven Regime zu fliehen. Sprachliche Faktoren (die Verbreitung des Englischen als weltweite Verkehrssprache) und Familienangehörige in Großbritannien machen es zu einem natürlichen Ziel für diejenigen, die Sicherheit oder Arbeit suchen, was ihnen ermöglichen würde, Geld an ihre Familien in der Heimat zu überweisen.

Großbritannien und Frankreich ignorieren die unbestreitbare Tatsache, dass die „Illegalität“ dieser unglücklichen Menschen gerade in ihrer eigenen schamlosen Weigerung liegt, den vor Krieg und Hunger Fliehenden die Einreise zu gewähren, wozu sie nach internationalem Recht verpflichtet sind. Die BritInnen eröffnen keine Büros, in denen Flüchtlinge Asylanträge stellen können, bevor sie den Ärmelkanal erreichen. In Frankreich erhalten sie nicht einmal eine angemessene vorübergehende Unterkunft oder dürfen dort kampieren. Stattdessen werden sie in erbärmlichen Behelfsunterkünften am Straßenrand oder in Wäldern untergebracht. Die einzige Hilfe kommt von freiwilligen HelferInnen mit einem Sinn für menschliche Solidarität.

Wenn sie Großbritannien erreichen, werden sie in Auffanglagern festgehalten. Priti Patel wollte sie sogar in ausgemusterten Kreuzfahrtschiffen vor der Südküste festhalten, bis ein Aufschrei sie davon abhielt.

Auf der anderen Seite Europas werden Flüchtlinge als Schachfiguren in den Kämpfen zwischen der EU, Polen und Weißrussland behandelt, in eklatanter Missachtung all ihrer feierlichen Erklärungen zu den Menschenrechten und der gemeinsamen Pflicht, Asyl zu gewähren. Großbritannien hat sogar Truppen an die östlichen Grenzen der Nato geschickt, um deren Abwehr zu stärken.

Öffnet die Grenzen!

KommunistInnen, SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Großbritannien, Frankreich und der gesamten EU müssen diesem grausamen Spiel ein Ende setzen. Die Grenzen Europas und Großbritanniens zu Lande, zu Wasser und in der Luft sollten für alle geöffnet werden, die vor Krieg, Unterdrückung und wirtschaftlicher Not Asyl suchen. Diejenigen „Illegalen“, die bereits hier sind, müssen den Flüchtlingsstatus und Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten, Bildung und Wohnraum erhalten. ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften sollten sie willkommen heißen.

Die Mediengewerkschaften sollten die Druckmaschinen stoppen und den Zeitungen und Sendern, die Angst und Hass gegen diese leidenden Menschen schüren, so wie es Zeitungen wie die Daily Mail in den 1930er Jahren den vor der NS-Verfolgung fliehenden Juden und Jüdinnen angetan haben, den Stecker ziehen. Die meisten dieser Menschen wollten ihre Heimat, ihre Arbeit und ihre Familien nicht unter schrecklichen Gefahren verlassen.

Die westlichen Mächte, die die Reserven Afghanistans halten, müssen diese freigeben. Westliche Nichtregierungsorganisationen müssen die Möglichkeit erhalten, die medizinische und Nahrungsmittelhilfe wieder aufzunehmen. Die unermesslich reichen imperialistischen Mächte müssen den Ländern, die unter Covid und dem Klimawandel leiden, Hilfe zukommen lassen. Dies wäre nur die minimalste Wiedergutmachung, die diese Länder nach Jahrhunderten der Ausbeutung durch den europäischen und nordamerikanischen Kolonialismus und Imperialismus verdienen.




EU und Belarus: „Hybridkrieg“ auf Kosten der Geflüchteten

Urte March/Susanne Kühn, Infomail 1169, 11. November 2021

Tausende Geflüchtete hängen mittlerweile in der Grenze zwischen Belarus und den benachbarten EU-Staaten Polen, Lettland und Litauen bei Kälte, ohne ausreichende Lebensmittel und ohne Gesundheitsversorgung fest. Sie leben faktisch im Niemandsland. Verzweifelt versuchen immer wieder größere Gruppen, das angeblich humanitäre Ufer der EU zu erreichen – und werden dort von den polnischen oder anderen Sicherheitskräften brutal abgefangen und zurückgetrieben. Polen hat einen massiven Grenzzaun zum Schutz der Festung Europa hochgezogen und entlang der Grenze einen drei Kilometer langen De-facto-Sperrstreifen gebildet. Selbst jene Menschen, die es mit größter Anstrengung bis nach Deutschland schaffen, sollen an den Grenzen abgefangen werden.

Folgt man der polnischen, lettischen oder deutschen Regierung, der EU-Kommission oder dem US-Präsidenten, liegt die Sache klar. Belarus führe mit Putins Unterstützung einen „hybriden Angriff“ auf die EU. Die Geflüchteten würden, so der für sich genommen durchaus zutreffende Vorwurf, von Lukaschenko missbraucht. Dessen Zynismus will die EU offenkundig selbst nicht nachstehen. Dass die Geflüchteten als politische Manövriermasse benutzt werden, reicht ihr als Vorwand dafür, selbst tausende Geflüchtete zurückzuschicken, ihnen jede elementare Versorgung zu verweigern und selbst die Reste des Asylrechts vorzuenthalten, indem etwaige Anträge erst gar nicht angenommen werden.

An der Grenze zwischen Weißrussland und seinen EU-Nachbarn Polen, Lettland und Litauen herrscht auf jeden Fall ein Krieg – nämlich der gegen die Flüchtlinge. Die Menschen aus dem globalen Süden werden wieder einmal als Spielfiguren in einem brutalen zwischenstaatlichen Machtkampf benutzt.

Die sog. Welle

Seit dem Frühsommer berichten benachbarte EU-Länder und bürgerliche Medien von einer „Welle“ von Flüchtlingen, die versuchen, ihre Grenzen von Belarus aus zu überqueren, um Asyl zu beantragen. AugenzeugInnen und GrenzpolizistInnen bestätigen, dass belarussische Sicherheitskräfte den Transport zur Grenze organisieren und die Menschen mit dem Versprechen, sie nach Europa zu bringen, zur Überfahrt ermutigen.

Die MigrantInnen stammen aus dem Nahen Osten und Nordafrika, wobei eine größere Anzahl von KurdInnen, SyrerInnen und AfghanInnen gemeldet wurde. Obwohl die Zahl der Flüchtlinge keineswegs überwältigend ist (bis zu 10.000 in den drei Ländern), werden sie von einigen in diesen Staaten als eine große soziale Störung angesehen. Dies ist das Ergebnis eines starken Trends zum Ethnonationalismus, der irrationale Ängste über die Auswirkungen dieser MigrantInnen auf die „ethnisch homogenen“ Gesellschaften dieser Länder schürt.

Die Regierungen Polens, Lettlands und Litauens haben darauf mit einem unterschiedlichen Maß an Repression reagiert. Alle drei haben verschiedene Maßnahmen ergriffen, darunter den Bau von Zäunen und eine verstärkte Polizei- und Militärpräsenz, um die Grenzübertritte zu verhindern, und den Ausnahmezustand entlang der Grenze ausgerufen.

Polen ist auf diesem Weg am weitesten gegangen und hat Flüchtlinge, die die Grenze bereits überschritten haben, gewaltsam abgeschoben. Tausende MigrantInnen sitzen mittlerweile zwischen den Grenztruppen der beiden Länder fest, ohne Zugang zu Wasser, Nahrung oder Unterkunft. Dies verstößt eindeutig gegen geltendes Recht, nach internationalem Gesetz Asyl zu beantragen, und wurde von Amnesty International und anderen Menschenrechtsgruppen kritisiert.

Am 25. August wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen an, MigrantInnen und Flüchtlingen an den Grenzen humanitäre Hilfe zu leisten, und erneuerte die Anordnung am 27. September. Polen ist der Anordnung des Gerichtshofs bisher nicht nachgekommen, und Menschenrechtsgruppen haben mindestens sechs Todesfälle festgestellt. Probleme mit der EU und einzelnen EU-Staaten braucht es dafür nicht zu fürchten, im Grunde sind die EU-Kommission, Deutschland und andere froh darüber, dass Polen die rassistische Drecksarbeit für sie verrichtet.

In Litauen werden diejenigen, die das Land betreten, in provisorischen Räumlichkeiten untergebracht. Da die bestehenden Migrationszentren nicht für die Aufnahme der neuen Menschen geeignet waren, wurden die MigrantInnen zunächst in Waldlagern oder stillgelegten Schulen aufgenommen und später in umfunktionierten öffentlichen Gebäuden, darunter auch ehemaligen Gefängnissen, einquartiert. In vielen dieser Einrichtungen wurde über mangelnde Hygiene, fehlendes Wasser und nicht funktionierende Heizung berichtet.

Die Rechtsgrundlage für die unbefristete administrative Inhaftierung aller GrenzgängerInnen ist zwar unklar, aber das kümmert die westlichen Regierungen nicht. BeamtInnen bemühen sich auch auf diplomatischer Ebene, MigrantInnen daran zu hindern, ihre Heimatländer überhaupt zu verlassen. Im August flogen litauische VertreterInnen nach Bagdad und handelten eine Einstellung der kommerziellen Flüge vom Irak nach Minsk aus. Nun sollen Sanktionen gegen Fluglinien erfolgen, die Menschen nach Belarus fliegen, die Flüchtlinge sein könnten!

Imperialistisches Schachspiel

Obwohl die EU den Anschein erwecken will dass sie die Menschenrechte durchsetzt, erweist sich dies täglich als mörderische Lüge. Ihr Hauptinteresse besteht darin, Lukaschenko und seinen russischen UnterstützerInnen zu zeigen, dass seine Politik mit einer aggressiven Reaktion begegnet wird. Die Klärung von Einzelfällen, die an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergeleitet werden, wird Monate oder Jahre dauern. In der Zwischenzeit macht jeder Staat mit der Überwachung der Grenzen der Festung Europa weiter.

Obwohl in den internationalen Medien immer wieder von sozialer Unruhe die Rede ist, gab es auch vor Ort zahlreiche Solidaritätsbekundungen. In Litauen wurden eine Reihe von humanitären Hilfsorganisationen, darunter das Rote Kreuz, die Caritas und religiöse Gruppen, von Freiwilligen und Spenden überschwemmt. Außerdem fanden am 17. Oktober große Demonstrationen statt, bei denen eine humanere Politik gegenüber den Flüchtlingen gefordert wurde. In Warschau versammelten sich schätzungsweise 3.000 Menschen unter dem Motto „Stoppt die Folter an der Grenze“.

Auch im Ausland hat es Solidaritätsaktionen gegeben. Am Sonntag, den 17. Oktober, versammelten sich mehrere Hundert Menschen vor der polnischen Botschaft in London, um gegen die illegalen Rückschiebungen von MigrantInnen über die Grenze zu protestieren, die die Regierung vornimmt. Die Demonstration wurde von humanitären Organisationen wie Amnesty zusammen mit polnischen Gruppen wie Polish Migrants Organise organisiert.

Doch selbst bei denjenigen, die sich für humanitäre Hilfe engagieren, hält sich im öffentlichen Bewusstsein die Unterscheidung zwischen „legitimen“ Flüchtlingen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, und „illegalen“ WirtschaftsmigrantInnen. Es gab auch nur wenige Versuche, die Logik der Grenzen und das Recht der Staaten, sie zu überwachen, in Frage zu stellen. Dies zeigt, dass das Gift des Rassismus in die ArbeiterInnenklasse eingedrungen ist und weiter wirkt. Die rassistische Ideologie wird von der herrschenden Klasse als Instrument verbreitet, um die ArbeiterInnen zu spalten und zu beherrschen und sie daran zu hindern, zu erkennen, dass ihr wahrer Feind nicht die ArbeiterInnen anderer Länder sind, sondern das System des globalen Kapitalismus, das alle ArbeiterInnen unterdrückt.

Auch andere europäische Staaten bereiten sich darauf vor, eine neue Welle von Flüchtlingen aus Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban abzuwehren. Griechenland hat kürzlich einen Zaun und ein Überwachungssystem an seiner Grenze zur Türkei fertiggestellt. Der griechische Minister für Bürgerschutz, Michalis Chrisochoidis, sagte bei einem Besuch auf der Insel Evros: „Wir können nicht passiv auf die möglichen Auswirkungen warten. Unsere Grenzen werden unantastbar bleiben.“ Dies zeigt einmal mehr die Heuchelei der EU, die die Achtung der Menschenrechte von MigrantInnen fordert, während sie gleichzeitig ihre Grenzen verstärkt und zulässt, dass sich die Leichen von Geflüchteten an den Stränden des Mittelmeers stapeln.

Währenddessen sind es die MigrantInnen, die vor unvorstellbarer Armut und Krieg fliehen, die unter den Folgen dieses imperialistischen Schachspiels leiden. Die ArbeiterInnenbewegung, ob in Polen, Griechenland oder anderswo, muss an der Seite dieser MigrantInnen stehen und für eine Welt kämpfen, in der rassistische Grenzen auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden, zusammen mit dem globalen kapitalistischem System, auf dem sie beruhen.




EU-Grenzen: Nein zur rassistischen Mobilmachung!

Robert Teller, Neue Internationale 260, November 2021

Die rassistische EU-Grenzpolitik geht über Leichen. An der belarussisch-polnischen Grenze hat dies zuletzt am 21. Oktober ein Todesopfer gefordert. Der 19-jährige Syrer ist das achte Opfer entlang dieser Grenze im laufenden Jahr.

Dutzende Menschen sind derzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen entlang des Grenzverlaufs gefangen, weil ihnen sowohl von polnischen als auch belarussischen Sicherheitskräften verwehrt wird, sich im jeweiligen Staatsgebiet zu bewegen. Die polnische Seite verhindert die Versorgung dieser Menschen mit lebensnotwendigen Gütern, vom belarussischen Militär werden sie laut Berichten bestenfalls notdürftig versorgt. Auf polnischer Seite gilt seit dem 2. September im Grenzgebiet der Ausnahmezustand. Das Militär wurde entsandt, der Einsatz soll von 2500 auf 10000 SoldatInnen aufgestockt werden. Hilfsorganisationen und JournalistInnen haben keinen legalen Zutritt. Die Auswirkungen der menschenverachtenden Abschottung sollen so vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Gleichzeitig bauen Polen, Lettland und Litauen an einer Grenzbefestigung entlang der belarussischen Grenze mit kräftiger Unterstützung durch die EU, darunter auch Deutschland.

EU und Polen einmal einig

Amnesty International berichtete am 20. Oktober, dass eine Gruppe von 17 AfghanInnen seit etwa zwei Monaten an der Grenze gestrandet ist, nachdem sie im August von polnischem Territorium aus zur Grenze deportiert wurden. Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ordnete bereits am 25. August an, dieser und einer weiteren Gruppe irakischer Flüchtlinge Lebensmittel und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, doch die Entscheidung wird von der Regierung missachtet. Die angeordneten und systematisch praktizierten Rücktransporte (Pushbacks) sind ohnehin nach internationalem und europäischem Recht illegal, auch wenn sie mit einer im Oktober durch das Parlament erfolgten Gesetzesänderung nun legitimiert werden sollen. Doch diese offenkundigen Rechtsbrüche spielen keine Rolle in dem Konflikt mit den EU-Institutionen, die der polnischen Regierung vorwerfen, mit ihrer Justizreform „europäische Werte“ zu missachten.

Obwohl die EU von tiefen Konflikten durchzogen ist, herrscht vielmehr Einigkeit in der rassistischen Abschottungspolitik gegenüber allen Menschen, die hierher wollen, aber nicht dürfen. Dass gegen die „Bedrohung“ durch ein paar tausend flüchtende Menschen jedes Mittel recht ist, darüber besteht unter den europäischen PartnerInnen kaum ein Zweifel. Eine gemeinsame Mission ist in jedem Fall die „Sicherung der Außengrenzen“, die „Abwehr“ flüchtender Menschen an den Grenzen durch Einsatz menschenverachtender und tödlicher Gewalt. Florian Hahn, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärt dazu: „Die Grenze zu Belarus muss so schnell wie möglich befestigt, sicher und undurchlässig gemacht werden. Vor allem dürfen wir Warschau mit diesem Problem jetzt nicht allein lassen.“ In einer gemeinsamen Erklärung fordern 12 Regierungen (osteuropäische EU-Mitglieder, Österreich und Dänemark) den Bau einer von der EU finanzierten Grenzbarriere.

Grenzkontrollen und Rechte

Wer es doch in die EU schaffen sollte, ist längst nicht sicher. Auch an der deutsch-polnischen Grenze sind mittlerweile Einheiten der Bundespolizei im Einsatz, um all jene zurückzuschicken, die es soweit geschafft haben. Im bürgerlichen Mainstream angekommen ist auch die völkische Metapher der „Flüchtlingsinvasion“, wenn etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) von „hybrider Kriegsführung“ spricht. Diese Rhetorik ist eine Einladung für FaschistInnen wie den „Dritten Weg“, die die Sache gerne selbst in die Hand nehmen.

Zugleich liefert die Kriegsrhetorik einen Vorwand für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegenüber Russland und für weitere Sanktionen gegen das belarussische Regime. Dass sich letzteres nicht bedingungslos der Forderung der EU fügt, im Sinne einer vorgelagerten EU-Flüchtlingsabwehr Menschen gar nicht erst ins eigene Land zu lassen, gilt bereits als Kriegsakt. Als vorbildliches Gegenbeispiel sei etwa das Partnerland Libyen genannt, mit seinem effektiven Flüchtlingsabschreckungspotential wie Folterlagern oder einer schießwütigen Küstenwache, die auf Frontex-Befehle hört.

Natürlich handelt auch das belarussische Regime aus einem rassistischen Kalkül heraus. Die Hauptschuldigen sind aber die Regierungen der EU. Dass nun vermehrt Menschen über Belarus den Weg in die EU suchen, ist überhaupt erst das Resultat einer brutalen Abschreckungspolitik, die die Fluchtrouten über die Balkanländer und über das Mittelmeer gefährlich und für viele Flüchtende unpassierbar gemacht hat.

Offene Grenzen!

Die Offensive des staatlichen Rassismus in Europa erfordert Widerstand. Ebenso müssen wir rechten und faschistischen Banden entgegentreten, die als “Grenzschutz” ihr Unwesen treiben. Dies wird umso dringender, wenn sich eine neue Ampelregierung daran machen wird, den deutschen Führungsanspruch in der Festung Europa zu erneuern.

Die ArbeiterInnenbewegung, alle linke und antirassistischen Kräfte müssen organisiert gegen diese Politik auftreten. Das erfordert einerseits gegen die faschistischen und rechte Gruppierungen vorzugehen, noch dringender und wichtig ist es jedoch, dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.

Notwendig ist eine europaweite Bewegung, die für volle Bewegungsfreiheit nach und in Europa kämpft, für offene Grenzen und gleiche Rechte unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit – und die dies verbindet mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften der europäischen ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital, um den Kampf gegen Rassismus über die organisierte Linke hinaus zu verankern.




Streit mit Polen: neue Zerreißprobe für die EU?

Aventina Holzer, Neue Internationale 260. November 2021

Der Konflikt zwischen der EU und Polen eskaliert. Das Parlament und die Regierung in Warschau weigern sich weiterhin, den übergeordneten Charakter des EU-Rechts gegenüber dem nationalen anzuerkennen. Das rechte, nationalistische PiS-geführte Kabinett wehrt sich gegen eine „schleichende Kompetenzerweiterung“ der EU. Ministerpräsident Morawiecki bezichtigt sie der Erpressung.

Das eigentliche Ziel der polnischen Regierung besteht vor allem darin, eigene rechte und reaktionäre Verfassungsreformen und Angriffe auf Frauenrechte gegen etwaige Einsprüche der europäischen Gerichtsbarkeit zu sichern. Das Ziel von Morawiecki und Co. ist also durchweg reaktionär.

Gleichwohl geht es natürlich auch der EU nicht um abstrakte, rechtsstaatliche Prinzipien, sondern vielmehr darum, die Vereinigung eines imperialistischen Blocks unter deutscher und französischer Vorherrschaft voranzutreiben. Und dazu gehört auch, dass nationales Recht dem der EU untergeordnet ist, um so auch über diesen Hebel die Dominanz der stärksten Staaten gegenüber ökonomisch und politisch untergeordneten zu sichern.

Nachdem die polnische Regierung nicht freiwillig nachgeben will, packt die EU die Keule aus. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verurteilte Polen zu einem Zwangsgeld von einer Million Euro für jeden Tag, an dem die vom obersten europäischen Gericht gefällten Urteile nicht umgesetzt werden.

Diese Sanktionen sind finanziell noch leicht zu verkraften. Dramatisch würde es für Polen, wenn die EU die Auszahlung der Gelder aus dem Corona-Hilfsfonds, ingesamt 36 Milliarden Euro, ganz oder teilweise zurückhalten würde.

Was ist passiert?

Seit Jahren spitzt sich der Konflikt zwischen der EU und Polen immer mehr zu. Ursprung der Debatte ist eine 2017 verabschiedete Justizreform die im Widerspruch zum geltenden EU-Recht steht. Ihr Hauptpunkt befasst sich mit einer engeren Verzahnung von Legislative (Politik) und Judikative (Justiz), zum Beispiel die Möglichkeit für den/die JustizministerIn, Gerichtsvorsitzende inklusive StellvertreterInnen abzuberufen.

Der ursprüngliche Konfliktauslöser waren Wahlen von fünf neuen VerfassungsrichterInnen in Polen. Diese gerieten zum Anlass für sechs Gesetze zur Novellierung des Verfassungsgerichts, die fast alle die Möglichkeiten der Nachbesetzung oder Sanktionierung der RichterInnen durch die Politik betrafen. 2018 wurde eine Disziplinarkammer im Verfassungsgerichtshof eingerichtet, die jede/n RichterIn oder Staatsanwalt und Staatsanwältin entlassen kann.

Dies wurde explizit gegen Einwände der EU-Kommission beschlossen, die jetzt beim EuGH versucht, die Gesetzesänderungen in Polen durch Klagen rückgängig zu machen. Eine weitere Eskalation als Reaktion darauf inszenierte der polnische Verfassungsgerichtshof im Oktober 2021. Dieser entschied, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien, die ihrerseits über dem EU-Recht stehen würde.

Hintergründe

Solche Konflikte sind innerhalb der EU nicht neu. Im Grunde tauchen sie immer wieder auf, wenn die Integration des Staatenbundes vertieft, nationale Gesetze vereinheitlicht werden sollen – und Widerstand gegen EU-Recht, das mit dem eigenen im Widerspruch steht oder eigene nationale Ansprüche beschränkt, erfolgte in der Geschichte der EU keineswegs nur seitens Leuten wie Orbán oder Morawiecki. Denken wir nur an die sog. Flüchtlingskrise, bei der die GegnerInnen einer zeitweiligen Öffnung der EU-Grenzen ihrerseits Grenzkontrollen errichteten oder die Rettung von Menschen im Mittelmeer verhinderten. Diese Gewaltorgien, an denen sich etliche der heute schärfsten KritikerInnen Polens an vorderster Front beteiligten, verdeutlichen, dass es beim aktuellen Konflikt weder von Seiten Polens noch der EU um Demokratie und BürgerInnenrechte geht.

Letztlich ist dieser Zwist nur ein Vorwand. Die EU-Kommission und die sie tragende Parlamentsmehrheit, hinter der der Mainstream der politischen Kräfte steht, nehmen die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, deren sich Polen oder auch Ungarn schuldig gemacht haben, zum Anlass, in der Staatengemeinschaft für klarere Verhältnisse zu sorgen.

Ziel ist dabei sicher nicht, Polen aus der EU zu treiben. Ebenso wenig will das eigentlich die Regierung in Warschau, denn nicht nur für die EU, sondern vor allem für das Land selbst wäre ein Austritt aus der Union eine politische und vor allem ökonomische Katastrophe.

Polen spielt wie ganz Osteuropa eine wichtige Rolle im Rahmen der Wertschöpfungsketten und Gesamtproduktion des deutschen Kapitals. Es ist integraler Bestandteil des halbkolonialen Hinterlandes des deutschen Imperialismus.

Wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern haben die neoliberalen Reformen und die Zerstörung ganzer Strukturen nach der Restauration des Kapitalismus auch dazu geführt, dass große Teile des KleinbürgerInnentums, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch die städtischen Mittelschichten und vor allem die ArbeiterInnenklasse diese „Reformen“ mit Arbeitslosigkeit, prekären Arbeitsbedingungen und sozialer Unsicherheit bezahlen mussten. Auf politischer Ebene drückte sich das darin aus, dass nach Jahren der wirtschaftsliberalen Regierungen und dem Abwirtschaften der aus den ehemaligen stalinistischen Parteien hervorgegangenen Sozialdemokratie der Rechtspopulismus als nationale und soziale Alternative erschien.

Auf ökonomischer Ebene erweist sich dieser als durchaus willfährig und rollt ausländischen InvestorInnen besonders aus Deutschland geradezu den roten Teppich aus, wenn es um Arbeitsrecht, Umweltschutz usw. geht. Umso schriller und aggressiver versuchen sich Nationalismus und Populismus, bei anderen Fragen in Szene zu setzen – z. B. den Angriffen auf Frauenrechte wie das auf Abtreibung, auf die Pressefreiheit oder in Verfassungsfragen. Garniert wird das Ganze mit demagogischen Angriffen auf die EU-Institutionen, die für alle Probleme des Landes verantwortlich gemacht werden, insbesondere auch die Zerstörung „polnischer“ oder „christlicher“ Werte.

Schließlich kommt hinzu, dass Polen in der EU seinen eigenen Spielraum zu erweitern trachtet, indem es sich als enger Verbündeter der USA und vor allem ihrer aggressiven Politik gegenüber Russland präsentiert. Schließlich arbeiten die maßgeblichen Parteienbünde und deren Stiftungen in der EU auch daran, in Ländern wie Polen und Ungarn bei zukünftigen Wahlen ihre engeren Verbündeten an die Macht zu bringen.

Reaktion der EU

Angesichts dieser Lage wird sich der Konflikt zweifellos verschärfen. Auch wenn die Staats- und RegierungschefInnen Deutschlands und Frankreichs, Merkel und Macron, die Lage nicht zu sehr eskalieren wollen, so gibt es letztlich wenig Kompromissspielraum.

Die EU, die bereits einige Sanktionen gegen Polen verhängt hat, wird auch weitere Methoden nutzen, um es unter Druck zu setzen. Unter anderem ist ein Vertragsverletzungsverfahren möglich, wobei schon eines im Juli wegen Verletzung von Grundrechten von LGBTQIA+-Personen eingeleitet wurde. Auch ein „Artikel 7“-Verfahren wäre denkbar. Dies kommt einer Suspendierung gleich und würde Polen das Stimmrecht kosten. Unmittelbar ist aber damit zu rechnen, dass Druck über die EU-Gelder (in diesem Fall zum Beispiel Covid-19-Hilfezahlungen, die um die 36 Milliarden Euro ausmachen) ausgeübt wird, bis bestimmte Gesetze (wie die Justizreform) zurückgenommen werden.

Alle diese Faktoren spitzen den Konflikt natürlich weiter zu. Wegen der langen oppositionellen Haltung zur EU wird auch schon länger spekuliert, ob Polen nicht auch mit dem Ausstieg aus der Föderation liebäugelt. Einige führende PolitikerInnen der PiS drohten schon konkret mit dem Austritt. Eine Person verglich die Rolle der EU mit der Besatzung durch „die Nazis und die Sowjets“. Das sind jedoch vereinzelte Stimmen und die Opposition versucht momentan stark, die PiS in eine Rolle der EU-skeptischen Partei zu drängen. Die polnische Bevölkerung ist überwiegend für einen Verbleib in der EU (über 80 %). Das wurde auch nochmal durch Donald Tusks Demonstrationen gezeigt, die sich für einen Verbleib von Polen in der EU stark machten. Morawiecki weiß, dass ein Polexit extrem unpopulär wäre. Daher erklärte er wiederholt, dass Polen mit Sicherheit nicht die Absicht hätte, die EU zu verlassen.

Die ökonomische Situation verdeutlicht auch, wie selbstmörderisch dieses Unternehmen wäre. Die EU muss hierbei als ökonomischer Block und nicht als „Wahrerin der Rechtsstaatlichkeit“ oder als „Friedensprojekt“ verstanden werden. Dann werden die Abhängigkeitsverhältnisse augenscheinlicher. Polen ist der größte Empfänger von EU-Geldern und stark abhängig vom Zugang zum Binnenmarkt. Als Zulieferer, speziell für Deutschland, bildet es ein wichtiges Glied in den Wertschöpfungsketten Europas.

Wie geht es weiter?

Der Austritt Polens bleibt also unwahrscheinlich, genauso aber die Rücknahme der Justizreform durch die gegenwärtige Regierung.

Vielmehr setzt die EU, ähnlich wie in Ungarn, auf ein breites, klassenübergreifendes Oppositionsbündnis, das die PiS-geführte Regierung bei den nächsten Wahlen ablösen kann. Betrachten wir den Charakter der Bewegungen für das Recht auf Abtreibung und gegen die Einschränkungen demokratischer Rechte in Polen, so ist eine solche Entwicklung nicht von der Hand zu weisen. Im letzten Herbst demonstrierten Hunderttausende gegen die Regierung. Die politische Führung der Opposition lag und liegt freilich bei der „Bürgerkoalition“ Koalicja Obywatelska (KO), die von Liberalkonservativen wie Donald Tusk, dem ehemaligen Minister- und EU-Ratspräsidenten, geführt wird.

Die ArbeiterInnenklasse, Gewerkschaften und linke Parteien wie die SLD (Bund der Demokratischen Linken) und Lewica Razem (Linke Gemeinsam) ordnen sich in diesen Bewegungen dieser faktisch politisch unter. In Polen erscheint der politische Konflikt als einer zwischen nationalkonservativem Populismus und EU-konformem Liberalismus. Genau darin aber besteht das zentrale politische Problem.

Die Lösung der politischen Krise kann und wird nicht darin bestehen, dass die EU Sanktionen gegen das Land verhängt. Im Gegenteil. Dies wird es der PiS erleichtern, den Unmut in der Bevölkerung zu kanalisieren und von ihrer reaktionären Politik abzulenken, indem sie z. B. die EU für fehlende Corona-Hilfen verantwortlich machen kann. Daher müssen Linke und die ArbeiterInnenklasse in der EU diese Politik der EU-Kommission zurückweisen.

Notwendig ist vielmehr, dass die linken Parteien und die Gewerkschaften sich selbst zu einer eigenständigen und führenden Kraft in der Bewegung gegen die PiS erheben, indem sie den Kampf gegen nationale Abschottung, die reaktionäre Flüchtlingspolitik, Angriffe auf die Rechte der Frauen mit dem gegen Armut, Entlassungen, Billigjobs und andere grundlegende Forderungen der ArbeiterInnenklasse verbinden.