Britannien: Tod durch tausendfache Kürzungen im Gesundheitswesen

Rebecca Anderson, Infomail 1208, 27. Dezember 2022

Die Winterkrise im britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) ist so akut wie nie zuvor. Die Zahl der Betten, die von Patient:innen belegt sind, die seit mehr als drei Wochen im Krankenhaus liegen, ist die höchste in den letzten fünf Wintern. Neunzehn von zwanzig Betten auf den Stationen in England sind voll ausgelastet. Dies geht einher mit einer Krise des Notfallversorgungssystems. Fast drei von zehn Patient:innen, die mit dem Rettungswagen eingeliefert werden, müssen vor den Krankenhäusern Schlange stehen, die zu voll sind, um sie aufzunehmen – etwa doppelt so viele wie vor der Pandemie.

Plan zur Zerschlagung des NHS

7,2 Millionen Menschen stehen in England auf Wartelisten für Krankenhausbehandlungen – 60 % mehr als vor der Pandemie. In Schottland steht jede/r Siebte auf einer Warteliste, und die Zahl in Wales hat einen neuen Höchststand erreicht. Die Versicherungsfirma Confused.com wirbt derweil damit, eine private Krankenversicherung abzuschließen, um diese Wartelisten zu umgehen. All dies ist Teil eines langfristigen Plans zur Zerschlagung des NHS, zu dem auch gehört, ihm die Mittel zu entziehen, die in Behandlungsgeräte und Gehälter fließen, die eine ausreichende Zahl von Beschäftigten im Gesundheitswesen anziehen können.

Der NHS, um den die Patient:innen in den USA und vielen Teilen Europas einst beneidet wurden, gerät immer mehr ins Hintertreffen und droht zu einer Zweiklassenmedizin mit Privilegien für die Ober- und Mittelschicht und einer marginalen Versorgung für die Arbeiter:innenklasse und die Armen umgewandelt zu werden, ähnlich dem Medicaid-System in den USA.

Der britische Gesundheitsminister Stephen Paul („Steve“) Barclay beharrt darauf, dass lange Wartelisten und überfüllte Krankenhäuser nicht das Ergebnis von Unterfinanzierung seien. Allerdings betrugen die durchschnittlichen jährlichen Investitionsausgaben im Vereinigten Königreich zwischen 2010 und 2019 5,8 Mrd. Pfund, verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 38,8 Mrd. Pfund, was bedeutet, dass Großbritannien über weitaus ältere und weniger gut gewartete Einrichtungen verfügt, und zwar in geringerer Zahl.

Im Rahmen des Sparprogramms der Regierung nach der Rezession von 2007 wurde die Finanzierung des NHS zwischen 2008 und 2018 gekürzt. Jede der aufeinanderfolgenden Regierungen hat behauptet, die Mittel für den Gesundheitssektor zu erhöhen, aber damit das NHS-Budget wirklich gestiegen wäre, müsste es sowohl mit der Inflation als auch mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. Real sind die Mittel für den NHS heruntergefahren worden. Zwischen 1949/50 und 2016/17 stiegen die Gesundheitsausgaben im Durchschnitt um 3,3 % pro Jahr. Betrachtet man jedoch nur den Zeitraum zwischen 2009/10 und 2016/17, so sinkt dieser Durchschnitt deutlich auf 0,6 % und liegt damit weit unter der Inflationsrate.

Obwohl die Mittel für den NHS während der Pandemie aufgestockt wurden, konnten die Probleme, die bereits durch die chronische Unterfinanzierung entstanden waren, nicht gelöst werden. Der NHS war zu Beginn des Jahres 2020 bereits am Rande der Belastungsgrenze. Er verfügte über 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner:innen, verglichen mit 29,2 in Deutschland, 12,5 in Italien und 10,6 in Südkorea.

Personalmangel

Derzeit sind 133.400 Stellen unbesetzt, darunter 47.500 Stellen in der Krankenpflege. Der derzeitige Trend bewegt sich dahin, dass immer mehr Stellen frei werden – mehr Pflegepersonal verlässt den Beruf, als neu hinzukommt. Das Royal College of Nursing (Königliche Pflegepersonalausbildungsstätte, RCN) fordert eine über der Inflationsrate liegende Lohnerhöhung nicht nur für die bestehenden Arbeitskräfte, deren Löhne seit Jahren niedrig gehalten werden, sondern auch, um die Personalbeschaffung zu unterstützen.

Ein wichtiger Teil des Plans der Regierung zum Abbau des Covid-Rückstands ist eine verstärkte Werbekampagne im Ausland mit dem Ziel, bis 2021/22 10.000 internationale Arbeitskräfte einzustellen.

Die Behandlung internationalen Pflegepersonals durch den NHS wurde jedoch vom RCN kritisiert. Der Verband setzt sich für eine „ethische internationale Rekrutierung“ ein und verweist auf weit verbreitete Probleme mit hohen Gebühren für die vorzeitige Ausreise in Höhe von bis zu 14.000 Pfund, mit denen Arbeiter:innen unter Druck gesetzt werden, ihre Verträge einzuhalten oder die Gebühren unter Androhung der Abschiebung zurückzuzahlen. Das RCN ist auch besorgt darüber, dass die angeworbenen Arbeitskräfte darüber getäuscht werden, wie einfach es sei, Familienangehörige ins Vereinigte Königreich zu holen, und dass sie, wenn sie entdecken, wie schwierig es ist, sich im britischen Einwanderungssystem zurechtzufinden, bereits in einen Vertrag gebunden sind.

Der NHS hat auch Probleme, das vorhandene Personal zu halten: 16 % der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen wollen die Branche ganz verlassen, wobei sie Personalmangel, Bezahlung und Arbeitsbelastung als Gründe anführen. Es ist ein Teufelskreis, denn je weniger NHS-Mitarbeiter:innen vorhanden sind, desto größer wird der Druck auf diejenigen, die bleiben. Allein im August 2021 gab es zwei Millionen Fehltage wegen Krankheit, ein Viertel davon wegen psychischer Probleme.

Tod durch tausend Einschnitte

In den 1980er Jahren wollte Margaret Thatcher den NHS vollständig privatisieren, da sie ihn als einen weiteren Teil des „Sozialismus“ betrachtete, den sie unbedingt zerstören wollte. Eine Revolte im Kabinett hielt sie jedoch davon ab, so dass sie den Chef des Supermarktkonzerns Sainsbury, Roy Griffiths, mit der „Reform“ beauftragte. Den Ärzt:innen wurde die Führung in den Krankenhäusern entzogen und sie wurde einer Kaste von hochbezahlten Leuten aus der Privatwirtschaft übergeben, die den Dienst wie ein Unternehmen führen sollten. Ein neoliberaler US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Alain Enthoven, riet dazu, die Disziplin des Marktwettbewerbs einzuführen.

Die Verwaltungskosten verdoppelten sich über Nacht. Als die Labour-Partei unter Tony Blair 1997 einen erdrutschartigen Wahlsieg errang, wurde der Marktöffnungsprozess trotz der im Wahlprogramm gemachten Zusagen nicht rückgängig gemacht. Der Schatzkanzler Gordon Brown weitete die Private Finance Initiative (Privatfinanzinitiative, PFI) der Tories sogar noch aus und nutzte sie für den Bau von Krankenhäusern, die damit faktisch in den Besitz des privaten Sektors übergingen.

Als die Tories 2010 an die Regierung zurückkehrten, brachte der Hardliner-Gesundheitsminister Andrew Lansley 2011 das Gesundheits- und Sozialfürsorgegesetz ein, das den NHS in eine völlig neue Phase der Privatisierung führte. Das Gesetz von 2012 öffnete alle NHS-Dienste für Ausschreibungen, offen für konkurrierende private Unternehmen.

Trotz der Empörung unter der Ärzt:innenschaft und dem Pflegepersonal haben private Unternehmen wie Virgin und Circle ihre Warnungen einfach übertönt. Schlimmer noch: Unison, die größte Gewerkschaft des Gesundheitswesens, rief während der gesamten fünf Jahre der Regierung von David Cameron zu keinem einzigen Streik und keiner einzigen Demonstration auf, und die Gesundheitsminister Lansley und Jeremy Hunt setzten die Aufteilung des Dienstes in kleinere regionale Systeme mit der Befugnis zu entscheiden, welche Dienste verfügbar sein werden und wer sie erbringen würde, mühelos fort. Bis 2017 gingen 43 % des Gesamtwerts dieser Verträge an den privaten Sektor. Allein Virgin erhielt den Zuschlag für NHS-Aufträge im Wert von über einer Milliarde Pfund.

Die Kampagnengruppe Keep Our NHS Public (Unser Gesundheitsdienst muss öffentlich bleiben) zeigte auf, dass die aktuelle „Marktreform“, der Long Term Plan (Langfristiger Plan), die Kosten senkt, indem sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung einschränkt, die Qualität mindert und profitorientierte Unternehmen wie die US-Giganten McKinsey, UnitedHealth und Kaiser Permanente einbezieht.

Darüber hinaus wird das „Nationale“ aus dem NHS herausgenommen, indem er in lokale Integrierte Versorgungssysteme mit ihren eigenen, streng kontrollierten Budgets aufgeteilt wird, was bedeutet, dass Gebiete mit einem höheren Grad an schlechter Gesundheitsversorgung – Merseyside, Newcastle, Hackney – mit ihren eigenen Problemen fertigwerden müssen. Der NHS England hat bereits 83 Organisationen mit dieser Aufgabe betraut, von denen 76 private Unternehmen sind, 23 mit Sitz in den USA, darunter Centene, Cerner, Deloitte, GE Healthcare, IBM, McKinsey und Optum, der britische Zweig von UnitedHealth.

Der Plan wird dazu führen, dass die Gesundheitsversorgung zu einer weiteren Ware wird, die internationalen Handelsabkommen unterliegt: Der NHS wird zu einem Logo, das auf private Unternehmen aufgeklebt wird. Die Zukunft kann man in den USA besichtigen, wo die Gesundheit eine Ware ist und Menschen, die sich keine Versicherung leisten können, oft ohne Notfallbehandlung sterben und Arztrechnungen Menschen in den Bankrott treiben.

Wer zahlt?

Der NHS benötigt zweifelsohne eine massive Finanzspritze, sowohl um den Bedarf an höheren Gehältern und mehr Personal als auch den Investitionsbedarf für neue Krankenhäuser und Ausrüstung zu decken. Die Gebühren für Medizinstudent:innen- und Pflegeschüler:innen müssen abgeschafft und ein Stipendium in Höhe eines existenzsichernden Lohns wieder eingeführt werden, ebenso wie kostenlose, hochwertige Kinderbetreuung vor Ort, um den Bedürfnissen der Eltern gerecht zu werden. Die Gebühren für die vorzeitige Ausreise internationaler Krankenschwestern und -pfleger sollten abgeschafft werden, ebenso wie die Einwanderungsbestimmungen, die ihnen mit Abschiebung drohen und sie von ihren Familien trennen.

Unsere Antwort muss lauten, dass die Reichen und die Großkonzerne gezwungen werden müssen, für die Krise des NHS zu zahlen, genauso wie sie gezwungen werden müssen, für die Krise der Lebenshaltungskosten und die kommende Rezession zu zahlen.

Grundsätzlich muss das Gesundheitswesen wieder vollständig in öffentliches Eigentum überführt, ohne Entschädigungszahlungen an die Profiteur:innen, und unter der demokratischen Kontrolle von Beschäftigten und Patient:innen betrieben werden. Alle privaten Finanzierungsinitiativen (PFIs) gehören abgeschafft.

Wir müssen auch die Pharmakonzerne und all jene enteignen, die durch die Ausbeutung von Kranken riesige Profite erpressen, und zwar unter der Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und ohne einen Pfennig Entschädigung für die Bosse.

Für die Krise des NHS sind Regierungen der Bosse, einschließlich derjenigen von New Labour, maßgeblich verantwortlich. Die Gewerkschaften sollten als Preis für die Finanzierung der nächsten Wahlkampagne von Labour darauf bestehen, dass das Parteiprogramm oben skizzierte Maßnahmen enthält. Deshalb geht es beim aktuellen Streik um mehr als nur Löhne. Es geht um das Überleben des NHS – und der öffentlichen Dienste und der sozialen Sicherung im Allgemeinen.




Britanniens Winter der Unzufriedenheit

Dave Stockton, Infomail 1208, 23. Dezember 2022

Großbritannien steht ein „Winter der Unzufriedenheit“ in Form der größten Streikwelle seit vielen Jahren bevor. Und das, obwohl es ernsthafte rechtliche Hindernisse und restriktive Urabstimmungsregeln für Arbeitskampfmaßnahmen gibt und sogar ein neues Gesetz droht, das während eines Streiks ein Mindestdienstniveau vorschreibt.

Die Streikwelle begann mit einer Welle eintägiger Aktionen der Eisenbahner:innen im Sommer und nahm im Herbst zu. Das nationale Statistikamt berichtet, dass im Oktober 417.000 Arbeitstage durch Streiks verloren gingen, der höchste Monatswert seit November 2011. Zwischen Juni und Oktober fielen mehr als 1,1 Millionen Arbeitstage aus, der Höchststand  innerhalb eines Fünfmonatszeitraums seit Anfang 1990.

Das Spektrum der Streikenden reichte von Eisenbahner:Innen über Lehrer:innen und Dozent:innen, Postbedienstete bis hin zu Beamt:innen, Grenzschutzbediensteten und Rechtsanwält:innen, Busfahrer:innen und Hafenarbeiter:innen. Kein Wunder, denn die Inflation erreichte im Oktober mit 11,1 % einen 41-Jahres-Höchststand, und die meisten dieser Beschäftigten mussten sich seit Jahren mit Lohnabschlüssen unterhalb der Inflationsrate begnügen. Hohe Lohnforderungen lagen auf der Hand. Aber sie stoßen auf den hartnäckigen Widerstand einer Regierung, die sich verpflichtet hatte, die zur Bekämpfung des Covidvirus aufgewendeten Summen von den Massen zurückzufordern.

Die Eisenbahner:innen machen den Anfang

Die Eisenbahner:innen übernahmen im Juni die Führung der Streikbewegung, als sie ihre Kampagne unter dem Slogan „Bust the Transport Workers‘ Pay Freeze“ (Sprengt das Einfrieren der Löhne für die Transportarbeiter:innen!) mit einer Reihe von eintägigen Streiks von 40.000 Bahnbeschäftigten starteten. Erste Kundgebungen, auf denen Generalsekretär Mick Lynch erklärte, die Gewerkschaft befinde sich in einem Klassenkampf, und andere Beschäftigte und Gewerkschaften aufforderte, sich ihr anzuschließen, begannen sich zu einer Bewegung zu entwickeln.

Danach kam es zu einer Art Pause, als die Gewerkschaft in Verhandlungen eintrat, obwohl die von ihr angestrebte Einigung von etwa 8 % immer noch eine Kürzung der Reallöhne bedeutet hätte. Aber das Unternehmen Network Rail und Transport for London (Netzwerk Schiene und Verkehr für London) blieb hartnäckig. Nachdem die RMT-(Gewerkschaft für Eisenbahn, Gewässer und Transport)-Mitglieder die letzten Lohnangebote abgelehnt hatten, schwor die Gewerkschaft, weiter zu kämpfen. Häufigere Arbeitsniederlegungen werden das britische Schienennetz in der Vorweihnachtszeit zum Stillstand bringen, was zu Protesten der Einzelhändler:innen führt, die befürchten, dass ihr gewohntes Geschäft gestört werden könnte.

Die separierte Lokführer:innengewerkschaft ASLEF ruft zu einem Streik auf, um die Einführung neuer Dienstpläne bei Avanti West Coast zu verhindern, einem Unternehmen, das dafür bekannt ist, dass es die vertraglich vorgeschriebenen Leistungen nicht erbringen kann, weil es nicht genügend Lokführer:innen beschäftigt.

Postangestellte nehmen den Fehdehandschuh auf

Die Beschäftigten der Royal Mail (Post) streikten am 13. Dezember zum 14. Mal, nachdem sie in der Woche zuvor eine Kundgebung und einen Marsch mit 20.000 Teilnehmer:innen im Zentrum Londons organisiert hatten. Die CWU-(Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter:innen)Mitglieder sehen darin einen Kampf um ihre Arbeitsplätze gegen den Vorstandsvorsitzenden Simon Thompson, der entschlossen ist, die Belegschaft zu dezimieren, zu prekarisieren und auf einen Paketdienst zu reduzieren. Die Unternehmensleitung hat zunächst Streikbrecher:innen eingesetzt und 100 Gewerkschaftsangehörige und -vertreter:innen während des Streiks suspendiert.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der CWU-Führung und den Bossen von Royal Mail wird es im Dezember und im neuen Jahr zu einer neuen Reihe von Streiks kommen. Der Grund für das Scheitern ist, dass die Chef:innen entschlossen sind, Royal Mail in eine Gelegenheitsbelegschaft umzuwandeln und damit die gewerkschaftliche Vertretung auf betrieblicher Ebene zu brechen. Die Gewerkschaftsführer Dave Ward und Andy Furey boten fälschlicherweise an, für die Gespräche auf Streiks zu verzichten, und erklärten sich bereit, im Gegenzug für den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen und die Beibehaltung der morgendlichen Zustellung ein Lohnangebot von 9 Prozent über 18 Monate zu akzeptieren – eine reale Lohnkürzung. Die Geschäftsführung hat sie vor die Tür gesetzt.

Die CWU steht nun vor einem Kampf auf Leben und Tod, den nur ein Flächenstreik zusammen mit den zahlreichen anderen Beschäftigten, die Aktionen durchführen oder planen, gewinnen und somit das Überleben dieser öffentlichen Dienste und der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder sichern kann.

Pflegepersonal startet historische Aktion

Am 15. Dezember traten die Krankenschwestern und -pfleger des britischen National Health Service (Nationaler Gesundheitsdienst), Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN) (Krankenpflegeschule), zum ersten Mal in ihrer 106-jährigen Geschichte in einen landesweiten Streik. Das RCN organisierte eine weitere Arbeitsniederlegung für den 20. Dezember und plant Folgeaktionen im neuen Jahr. Schätzungsweise 100.000 Krankenschwestern und -pfleger streikten in 76 Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Am 21. Dezember legten mehr als 10.000 Mitarbeiter des Rettungsdienstes die Arbeit nieder.

Die Gewerkschaft fordert 19 Prozent und weist darauf hin, dass erfahrene Krankenschwestern und -pfleger trotz der diesjährigen Gehaltserhöhung von 1.400 Pfund real um 20 Prozent schlechter gestellt sind, weil die Gehaltsanstiege seit 2010 wiederholt unter der Inflationsrate lagen. Die niedrige Bezahlung hat zu einem zunehmenden Personalmangel und einer unsicheren Versorgung der Patient:innen geführt.

Die Regierung hat ihnen 4,5 Prozent angeboten, was einen Rückgang der Reallöhne um 6 Prozent im kommenden Jahr bedeuten würde. Sie behauptet, der NHS-Haushalt könne sich eine solche Erhöhung nicht leisten, doch die Weigerung, einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, der ausreicht, um Ärzt:innen und Pflegepersonal anzuziehen und zu halten, bedeutet, dass riesige Summen für Leiharbeiter:innen ausgegeben werden. Krankenhäuser in England haben Ärzt:innen bis zu 5.200 Pfund pro Schicht gezahlt. Dies ist bestenfalls Misswirtschaft, aber in Wirklichkeit ist es Teil der heimlichen Übergabe des gesamten Gesundheitswesens an private Unternehmen und Agenturen.

Trotz der Tatsache, dass die Gewerkschaft eine umfassende Notfallversorgung eingerichtet und die Intensivstation sowie andere Abteilungen wie Chemotherapie und Dialyse ausgenommen hat, hat der Tory-Gesundheitsminister Steve Barclay den Streik als ernsthafte Gefahr für die Patient:innen bezeichnet. Die RCN-Führer:innen boten sogar an, die Streiks über Weihnachten und Neujahr auszusetzen, wenn die Regierung verhandeln würde – eine törichte Zurschaustellung von Schwäche, die die Regierung jedoch ablehnte.

Bisher hat sie sich hartnäckig geweigert, über die Gehälter zu sprechen, mit der Begründung, dass die „Belohnung“ (1.400 Pfund) von einem unabhängigen Gremium stammt, dessen Mitglieder von der Regierung handverlesen werden und nur zufällig das vorlegen, was sich das Gesundheitsministerium nach eigenen Angaben leisten kann. In der Zwischenzeit hat die Regionalregierung in Schottland einen Streik der Krankenschwestern und -pfleger gerade dadurch vermieden, dass sie Gespräche über die Gehälter geführt hat, obwohl die Gewerkschaft GMB, die das Hilfspersonal organisiert, ihr Angebot von 7,5 Prozent abgelehnt hat.

Umfragen im Vorfeld des Streiks ergaben, dass 52 Prozent der Öffentlichkeit die Aktion „stark“ unterstützen. Die Regierung wird natürlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um dies zu ändern, aber sie hat keinen guten Start erwischt, wie die rechtsgerichtete Daily Express mit der Schlagzeile „Gebt den Krankenpfleger:innen einen Vertrag und beendet diesen Wahnsinn“ zeigt. Die stets zuverlässig regierungstreue Daily Mail hingegen titelt: „Streikwoche hält Großbritannien in Geiselhaft!“

Und andere … folgen dem Beispiel

Unite-Mitglieder, die auf 59 Buslinien für das Busunternehmen Abellio im Süden und Westen Londons arbeiten, streiken im Dezember. In der Zwischenzeit haben mehr als 2.000 Busfahrer:innen der Metrolinie in London den Arbeitskampf abgebrochen, nachdem sie eine 11-prozentige Lohnerhöhung und eine 10-prozentige Lohnnachzahlung akzeptiert hatten. Ursprünglich war ihnen am 8. Dezember 2022 eine Erhöhung um 4 Prozent angeboten worden.

Tausende von Universitätsbeschäftigten, die der Gewerkschaft UCU angehören, streikten am 24., 25. und 30. November. Sie taten dies gemeinsam mit 4.000 Gewerkschaftsmitgliedern der National Education Union (Bildungsgewerkschaft NEU) an Oberstufenzentren. Am letztgenannten Tag nahmen sie gemeinsam mit Studierenden und anderen Gewerkschafter:innen an einer militanten Massenkundgebung vor dem Bahnhof King’s Cross teil, bevor sie sich auf einen Marsch ins Zentrum von London begaben. Es war der dritte Tag der Streiks von 70.000 Mitgliedern der Gewerkschaft UCU an Universitäten in ganz Großbritannien im Kampf um Renten, Löhne und Gehälter, Minderung von Arbeitsbelastung und Gleichberechtigung und gegen Prekarisierung.

Koordinieren und eskalieren

Eine ganze Reihe von Gewerkschaften, darunter auch Teile von Unison und Unite, den beiden größten Gewerkschaften des Landes, rufen für das neue Jahr zu Urabstimmungen auf. In dem Maße, in dem sich die Streikpostenketten vervielfacht und andere Gewerkschaftsmitglieder, Student:innen und Aktivist:innen sich ihnen angeschlossen haben, in dem Maße, in dem die Demonstrationen und Kundgebungen größer geworden sind, wächst die Möglichkeit, dass alle getrennten Lohnkämpfe zusammengeführt werden. Obwohl die Gewerkschaftsführer:innen auf ihren Rednerbühnen die Parole „koordinieren und eskalieren“ ausgeben, haben sie wenig getan, um dies zu gewährleisten.

Die Kampagne „Enough is Enough“ (Genug ist Genug) und die Volksversammlung (People’s Assembly) schienen dies tun zu können. Aber ihre unerklärliche Rivalität und unnötige Doppelarbeit scheinen dieses frühe Versprechen zunichtegemacht zu haben, obwohl die Volksversammlung im Januar eine Konferenz abhalten wird. Die Gefahr besteht darin, dass die rivalisierenden Gewerkschaftsführungen und politischen Gruppierungen befürchten, die Kontrolle an demokratische Versammlungen von Delegierten aus lokalen und Basisorganisationen zu verlieren, die über alternative Vorgehensweisen entscheiden könnten. Kämpfer:innen aus den verschiedenen Konflikten, die sich an den Streikpostenketten treffen, können und müssen solide Verbindungen zueinander knüpfen. Sie müssen lokale Koordinierungsgremien an der Basis aufbauen.

Eine weitere dunkle Wolke zeichnet sich am Horizont ab: Premierminister Rishi Sunaks Drohung, ein weiteres gewerkschaftsfeindliches Gesetz durch das Parlament zu bringen, das das Streikrecht von Pflegepersonal, Postangestellten und Bahnbeschäftigten gleichermaßen aushebeln würde. Sobald dieses Gesetz vorgelegt wird, müssen wir eine massive Kampagne zur Verteidigung unserer Gewerkschaften starten. Diese muss darauf abzielen, direkte Aktionen, d. h. Streiks, zu mobilisieren, um den Gesetzentwurf zu Fall zu bringen, wie es unsere Großeltern in den 1970er Jahren getan haben. Ihr Ziel sollte es sein, nicht nur zu verhindern, dass uns diese neuen Ketten angelegt werden, sondern alle anderen, die bis in die Zeit von Thatcher, der ehemaligen Premierministerin, zurückreichen, zu durchbrechen.

All diese Themen – Bekämpfung der Inflation mit Lohnerhöhungen, die Punkt für Punkt mit ihrem Anstieg übereinstimmen; die „Arbeitgeber:innen“ dazu zu bringen, sie aus ihren gigantischen Gewinnen zu bezahlen; die Verteidigung und Wiederherstellung des staatlichen Gesundheitsdienstes; die Wiederverstaatlichung der Bahn und anderer Dienstleistungen und Versorgungsbetriebe sowie die Befreiung unserer Gewerkschaften von vierzig Jahren gewerkschaftsfeindlicher Gesetze – werden politische Massenstreiks erfordern. Um dies in die Wege zu leiten, nützt es nichts, auf die linken oder rechten Gewerkschaftsführer:innen zu warten. Wir müssen Aktionsräte mit Delegierten aus den Betrieben, den Gemeinden und der Jugend bilden. Wenn wir dies tun, können wir sowohl Sunak wie die mit ihm verfeindeten Tories ein für alle Mal von der Macht vertreiben.




Britannien: Gezielte Streiks im öffentlichen Dienst sind nicht genug

PCS-Gewerkschafter, Workers Power, Infomail 1207, 20. Dezember 2022

Die Public and Commercial Services Union (PCS), die größte Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, führt im Dezember selektive Arbeitskampfmaßnahmen durch und fordert eine Lohnerhöhung von 10 %, eine Senkung der Rentenbeiträge und wehrt sich gegen Arbeitsplatzabbau und Entlassungsbedingungen.

Nach monatelangen Flugblattaktionen, Mitgliederversammlungen, Telefonanrufen und Direktnachrichten haben Gewerkschaftsaktivist:innen in 124 Dienststellen und anderen öffentlichen Einrichtungen die von den gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen vorgeschriebene Mindestbeteiligung von 50 % überschritten und verfügen nun über ein gesetzliches Mandat für Arbeitskampfmaßnahmen. Über 100.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben mit „Ja“ gestimmt.

Reaktionäres Streikrecht

Die PCS hat in über 80 Magistratsgerichten Rechtsberater:innen und Gerichtsmitarbeiter:innen ohne Rechtsberater:innenstatus gesondert an die Wahlurnen gerufen, um gegen das gescheiterte System der „gemeinsamen Plattform“ zu protestieren. Die Mitglieder werden den größten Teil des Dezembers bestreiken, und für den 24. Dezember bis 4. Januar wurden neue Termine angekündigt. Bei der letzten Urabstimmung in diesem Konflikt stimmten 97 % der Mitglieder für einen Streik und übertrafen damit die 50 %-Hürde.

Obwohl die Gesamtbeteiligung der Abstimmenden über dem Schwellenwert lag, wurde die Abstimmung getrennt durchgeführt, d. h. jede Abteilung wurde als separate Einheit befragt. Dadurch wurde verhindert, dass eine Gesamtbeteiligung von weniger als 50 % irgendjemanden am Streik hindert, aber andererseits bedeutet dies auch, dass die Abteilungen, die die Schwelle nicht erreicht haben, rechtlich nicht streiktätig werden können.

Von denjenigen, die das Ziel verfehlt haben, ist das HMRC (Finanzamt und Zoll), eine der beiden größten Dienststellen, am stärksten betroffen. Das HMRC hat 47 % erreicht und wird zusammen mit fünf anderen Dienststellen, die das Wahlquorum knapp verpasst haben, erneut zur Wahl gerufen. Die meisten dieser Abstimmungen, auch die des HMRC, enden am 27. Februar.

Der Nationale Exekutivausschuss (NEC) trat am 18. November nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses zusammen, um zu entscheiden, welche Maßnahmen er ergreifen will. Er einigte sich auf ein erstes Programm für gezielte Aktionen, lehnte jedoch Anträge ab, die zu Streiks aller Mitglieder im Dezember aufriefen. Generalsekretär Mark Serwotka wandte sich in einem Schreiben an die Gewerkschaftsangehörigen:

„Der NEC wird Mitte Dezember erneut zusammentreten, um die nächste Streikwelle zu erörtern … Dazu könnten gemeinsame Streiks aller Mitglieder in den Gebieten gehören, die die 50 %-Beteiligungsschwelle überschritten haben, möglicherweise in Abstimmung mit anderen Gewerkschaften.“

Grenzen der Taktik

Damit würde der erste mögliche Termin für einen Flächenvollstreik bestenfalls auf Januar verschoben, zwei Monate, nachdem die Mitglieder für Maßnahmen gestimmt haben. Wenn die Führung wartet, bis die HRMC-Abstimmung vorliegt, könnte es Mitte März werden – eine unglaubliche Verzögerung in den Wintermonaten einer akuten Lebenskostenkrise.

Zweck der gezielten Maßnahmen ist es, die Auswirkungen des Streiks zu maximieren, indem diejenigen Beschäftigten, deren Abwesenheit die größten Störungen verursachen wird, in den Ausstand treten. Die Dienststellen, die selektive Maßnahmen ergreifen, sind die Rural Payments Agency (Behörde für Finanzierung im Bereich Umwelt, Ernährung und ländlichem Raum; 13. – 23. Dezember und 3. – 13. Januar), die Driver and Vehicle Standards Agency (Verkehrsregelungsbehörde), wo die Agentur in vier geografische Bereiche aufgeteilt wird, die zwischen dem 13. Dezember und dem 10. Januar an verschiedenen Tagen streiken werden. Auch die Beschäftigten der National Highways (Straßenmeistereien) werden an Tagen zwischen dem 16. Dezember und dem 7. Januar in geografischen Gruppen streiken.

Darüber hinaus werden vier Jobcenter zwischen dem 19. und 31. Dezember bestreikt. Die Beschäftigten der Border Force (Grenzkontrollorgane), die an den Flughäfen London Heathrow, London Gatwick und Manchester, Birmingham, Cardiff und Glasgow Passkontrollen durchführen, werden zwischen dem 23. und 31. Dezember ebenso streiken wie die Beschäftigten im Hafen von Newhaven.

Mit anderen Worten: Im Dezember, wenn die Beschäftigten der Bahn, Post und Krankenhäuser in den Arbeitskampf treten, werden nur kleine Gruppen von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes an ihrer Seite stehen. Bislang wurden noch keine Streiks aller Mitglieder angekündigt, was in der Gewerkschaft die Sorge aufkommen lässt, dass der während der Urabstimmung aufgebaute Schwung verlorengehen könnte, wenn die Mehrheit der Mitglieder monatelang auf einen Streikaufruf wartet.

Einige Mitglieder des Jugendnetzwerks der PCS  brachten einen Antrag ein, in dem der NEC aufgefordert wurde, alle 124 Abteilungen zum Streik aufzurufen, doch wurde dieser Antrag auf ein Diskussionspapier verwiesen und dann abgelehnt. Zahlreiche Zweigstellen verabschiedeten einen Musterantrag mit denselben Forderungen und argumentierten, dass nicht nur der Schwung verlorenginge, sondern von denjenigen, die gezielte Aktionen durchführen, nicht erwartet werden könne, dass sie den gesamten Streik trügen.

In dem Antrag wird der NEC aufgefordert, bis spätestens Mitte Januar eine umfassende Aktion anzukündigen. Sicherlich sollte der NEC nicht bis zum 27. Februar warten, um zu sehen, ob HMRC das Quorum erreicht.

Andere Gewerkschaften ergreifen jetzt Maßnahmen, und weitere, darunter Lehrkräfte und Feuerwehrleute, sind dabei, ihre Stimme abzugeben. Aber unabhängig davon, ob andere Gewerkschaften für Januar zu Aktionen aufrufen oder nicht, muss die PCS dies tun. Koordinierung ist wirkungsvoller als ein Alleingang. Die Zeitung der Bosse, Financial Times, schätzte, dass allein ein zweitägiger Streik aller Gewerkschaften mit einem Mandat im Dezember das jährliche Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens um 0,3 % senken würde.

Aber in der Vergangenheit hat sich die Gewerkschaft dafür entschieden, nichts zu tun, anstatt allein zu streiken, eine Vorgehensweise, die garantiert … nichts bringt. Die Mitglieder, die sich an der gezielten Aktion beteiligen, sollten natürlich ihre Büros schließen und lautstarke Streikposten aufstellen. Sie sollten Delegationen zu den Streikposten anderer Abteilungen schicken und damit beginnen, Verbindungen zwischen der Gewerkschaftsbasis herzustellen.

Sie sollten aber auch die Gelegenheit eines ausgedehnten Streiks nutzen, um die Strategie ihrer Führung ernsthaft in Frage zu stellen: Wann werden die Streiks zu einem unbefristeten Flächenstreik ausgeweitet, mit dem die Forderungen der Gewerkschaft durchgesetzt werden können?




Britannien: Nach Truss – jetzt weg mit dem Rest!

Workers Power, Britannien, Infomail 1202, 24. Oktober 2022

Der Brexit hat die vierte Premierminister:in in sechs Jahren gefordert. Liz Truss versprach „Wachstum, Wachstum, Wachstum“ – und die Märkte antworteten „nein, nein, nein“. Ihr Versuch, „den Brexit zu Ende zu bringen“, wurde innerhalb von nur 44 Tagen zunichte gemacht. Sie hinterlässt ein bitteres Erbe: steigende Preise, Rechnungen und Zinsen.

Auf den spektakulären Zusammenbruch der Regierung sollte eigentlich eine Neuwahl folgen. Doch nach der kurzen Erfahrung, Truss freie Hand zu gewähren, droht der Konservativen Partei selbst der elektorale Absturz. Deshalb wählt sie zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres den/die Premierminister:in selbst.

Das Vereinigte Königreich könnte schon am Montag eine/n Premierminister:in haben, der/die von ein paar hundert Abgeordneten gewählt wird. Am Freitag werden wir wissen, wer das zweifelhafte Privileg erhalten hat. Auf jeden Fall wird das Programm so ablaufen, wie es zuvor von Schatzkanzler Jeremy Hunt angekündigt wurde.

Der Zusammenbruch des Truss-Experiments hat ein neues Zeitalter der Austerität eingeläutet. Sowohl die Labour Partei als auch die Konservativen sind sich einig in der Forderung nach einer „verantwortungsvollen Regierung“, die „schwierige Entscheidungen“ treffen kann, um das „Vertrauen“ der Märkte wiederherzustellen. Wir wissen, was das bedeutet: Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und Lohnzurückhaltung, um die Profite der Banken, der Monopole und der Spekulant:innen zu schützen.

Hunt wird am 31. Oktober das Budget der Bänker:innen verkünden. Die neue Regierung wird eine Waffe des Klassenkampfes in den Händen der Banken und Finanziers gegen die Arbeiter:innenklasse sein. Einzelgewerkschaften, Dachverband TUC und die gesamte Arbeiter:innenbewegung müssen am Tag der Haushaltsverabschiedung zu Protesten und Arbeitsniederlegungen mobilisieren, um sich der Offensive der Bosse zu widersetzen, unter dem Slogan: „Wir werden nicht für ihre Krise bezahlen – Tories raus!“

Diese Regierung wird völlig illegitim sein. Aber um ihr arbeiter:innenfeindliches Programm zu besiegen und sie aus dem Amt zu drängen, bedarf es des Massenwiderstands. Wir dürfen den Konservativen keine weitere Atempause gewähren, um sich zu reorganisieren. Mit der Taktik von ein- oder zweitägigen befristeten Streiks während des Sommers haben sie bereits zu viel davon bekommen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Forderung nach Wahlen als Vorwand für die Demobilisierung der Aktion benutzt wird. Jetzt ist es an der Zeit, unseren Vorteil auszuspielen. Die Gewerkschaften müssen an allen Fronten des Kampfes den Vormarsch ankündigen. Unbefristete Streiks für alle Forderungen können die Regierung lähmen und Neuwahlen erzwingen.

Millionen von Lohnabhängigen würden verständlicherweise Labour wählen, um die Tories zu vertreiben. Aber das wäre nur der Anfang. Was die Märkte der Regierung von Liz Truss angetan haben, werden sie im Handumdrehen mit einer Labour-Regierung veranstalten, die aus der Reihe tanzt. Deshalb hat deren Vorsitzender Keir Starmer die Arbeiter:innen bereits wissen lassen, dass er sich dafür einsetzt, dass Labour „die Partei des gesunden Geldes“ ist – nicht des Geldes in den Taschen der Werktätigen.

Die Krise der Lebenshaltungskosten wird in keinem Wahlkampf aufgeschoben werden – und der Kampf um Löhne, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sollte es auch nicht. Wir dürfen im Kampf gegen die Profiteur:innen, die sich die Taschen vollstopfen, während die Arbeiter:innen leer ausgehen, keinen Zentimeter nachgeben.

Das bedeutet, die Basis in den Gewerkschaften zu organisieren, um die Kontrolle über ihre Auseinandersetzungen zu übernehmen, die Unorganisierten gewerkschaftlich zu organisieren und Aktionsräte in jeder Stadt zu bilden, um die Lohnkonflikte mit einer Kampagne für Maßnahmen zugunsten der Arbeiter:innenklasse zu verbinden: Kontrolle der Mieten und Preise, öffentliches Eigentum an den Versorgungsbetrieben und dem Verkehrswesen, ein Mindestlohn von 15 Pfund pro Stunde, eine Vier-Tage-Woche ohne Lohneinbußen und die Beschlagnahmung des Vermögens der Milliardär:innen, um öffentliche Dienste unter Kontrolle der Arbeiter:innen als Teil eines demokratischen Produktionsplans zu finanzieren.

Auf diese Weise können wir unsere Klassenmacht mobilisieren, um die bürgerlichen Tories aus dem Amt zu jagen und uns in die stärkste Position zu bringen, um eine künftige Labour-Regierung zum Bruch mit den Bossen zu zwingen.

Politisches Komitee von Workers Power, 21. Oktober 2022




Britannien: Demokratische lokale Versammlungen sind notwendig, um die Kampagnen gegen die Lebenshaltungskosten zu vereinen

R. Banks / Alex Rutherford, Workers Power Britannien, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Die wachsende Krise der Lebenshaltungskosten und die zunehmende Beunruhigung der Öffentlichkeit darüber, was sie bedeuten wird, machen eine Einheitsfront aller von der Inflation Betroffenen dringend erforderlich.

Man muss Gewerkschaftsmitglieder und diejenigen, die einer kämpfenden Gewerkschaft beitreten wollen, Arbeitslose und Unterbeschäftigte, Rentner:innen, Student:innen und Sozialhilfeempfänger:innen zusammenbringen. Die Inflation schmälert unser aller Einkommen. Wir alle müssen uns gemeinsam dagegen wehren.

Doch während es an der Basis einen starken Drang nach dieser Einheit gibt, wie man an der großen Zahl von Solidaritätsbekundungen bei Streikpostenbesuchen und den von „Enough Is Enough“ organisierten Kundgebungen mit Tausenden von Teilnehmer:innen sehen kann, gibt es in einigen Gewerkschaftsspitzen weniger Anzeichen für Einigkeit. In der Tat scheint es so, als ob die schlechte alte Gewohnheit, getrennte Kampagnen verschiedener Parteien und Gewerkschaften unter eigenem Namen einzurichten, immer noch in Kraft ist.

„Enough Is Enough“ und „Don’t Pay“ sind die neuen Kampagnen, die für Schlagzeilen gesorgt haben. Darüber hinaus plant Unite die Gründung von „Unite For A Workers‘ Economy“, und es wurden kleinere Kampagnen wie „Cost Of Living Action“ gestartet. Die älteren „Fronten“, die „People’s Assembly“ und „People Before Profit“, konkurrieren ebenfalls auf einem überfüllten Markt. In diesem Fall halten wir Zusammenschlüsse und Rationalisierung für angebracht, aber die Initiative wird wahrscheinlich von unten kommen müssen.

„Enough Is Enough“

Die Gewerkschaft CWU hat die Initiative „Enough Is Enough“ mit Unterstützung von Persönlichkeiten der Labour-Linken und der Zeitschrift Tribune ins Leben gerufen, die ihr den politischen Ballast liefert. Die „Renters Union“, „Acorn“ und „Right To Food“ haben sich der Initiative angeschlossen. Mick Lynch von der RMT, die Abgeordnete Zarah Sultana und Andy Burnham, der Bürgermeister von Greater Manchester, haben auf den Plattformen der Kampagne gesprochen. Ihre Stärke liegt darin, dass sie den gewerkschaftlichen Kampf mit kommunalen Aktionen verbinden will. Diese Initiative ist sicherlich zu begrüßen.

In weniger als einem Monat hat die Kampagne mehr als 500.000 Unterschriften gesammelt und landauf, landab große Kundgebungen abgehalten, deren militante Reden von Tausenden von Teilnehmer:innen begeistert aufgenommen wurden.

Die Folgemaßnahmen sind jedoch bisher nur langsam in Gang gekommen. Und obwohl Enough Is Enough erklärt, dass sie lokale Organisationen wolle, blieben E-Mails, in denen sie um Hilfe bei der Gründung solcher Organisationen gebeten wurde, unbeantwortet.

Die Gruppen müssen auf der Grundlage von Großstadtbezirken, Städten und Gemeinden organisiert werden, die tief in den Betrieben und Stadtvierteln verwurzelt sind. In der Tat gründen Aktivist:innen bereits lokale Streiksolidaritätsgruppen. Wir sollten sie ermutigen, sich Enough Is Enough anzuschließen oder deren lokale Zweigstellen zu werden.

Die fünf Forderungen der Kampagne lauten: eine echte Lohnerhöhung; Senkung der Energiekosten; Beendigung der Lebensmittelarmut; menschenwürdige Wohnungen für alle; Besteuerung der Reichen. Was diese Forderungen in der Praxis bedeuten und wie wir für sie kämpfen werden, muss auf lokaler Ebene diskutiert werden. Sollten sie ergänzt werden – zum Beispiel durch die Verstaatlichung der Energieunternehmen? Welche Maßnahmen könnten wir ergreifen – Demos, Flashmob-Besetzungen, inoffizielle Arbeitsniederlegungen?

Aktivistennetzwerke, Gewerkschaftsräte, Mietervereinigungen, linke Labour-Parteien und Kampagnengruppen könnten zusammen mit Gewerkschaftsortsvereinen die Basiseinheiten von EIE bilden, die sich dann in die Siedlungen und Betriebe ausbreiten können. Sobald sie etabliert sind, könnte eine nationale Konferenz dieser Gruppen eine Strategie zur Verteidigung der gesamten Arbeiter:innenklasse gegen diese Krise ausarbeiten.

„Don’t Pay“

„Don’t Pay“ ist ein Versuch, die Anti-Poll-Tax-Kampagne nachzuahmen, als die Tory-Regierung durch massenhafte Nichtzahlung gezwungen wurde, die Steuer zurückzuziehen. Ähnliche Kampagnen, vor allem in Irland, haben gezeigt, dass sich diese Taktik auch auf Verbraucherrechnungen übertragen lässt.

Die Forderungen von „Don’t Pay“ sind jedoch minimal: Das Einfrieren der Energieobergrenze auf ihrem derzeitigen erpresserischen Niveau von 1.971 Pfund ist nicht besser als Keir Starmers unzureichende Politik. Die Obergrenze sollte auf das Vorkrisenniveau zurückgeführt werden. Das bildet auch eine sehr schmale Basis für eine Kampagne, wenn die Kosten für Lebensmittel, Transport und Mieten in die Höhe schnellen.

Darüber hinaus überlegen Truss und Kwarteng, wie sie die Wut entschärfen können, indem sie ein dreijähriges Paket zum Einfrieren der Energiepreise oder gezielte Leistungen für Rentner:innen oder Bezieher:innen von Sozialleistungen einführen. Dies könnte der Aufhebung der Obergrenze im Oktober den Stachel ziehen, aber die Preise für den Rest des Jahrzehnts oberhalb des Marktpreises halten an: kein „Almosen“, sondern ein Darlehen.

Wie bei EIE gibt es auch für „Don’t Pay“ kaum eine lokale Organisation – abgesehen von WhatsApp-Gruppen. In dieser Phase der Rebellion gegen die Kopfsteuer (Poll Tax) gab es bereits große lokale Gruppen, Demos in jeder Stadt und zwei nationale Konferenzen.

Etwa 150.000 Menschen haben sich verpflichtet, nicht zu zahlen, aber die Kampagne wird nur dann aktiv, wenn sie bis zum 1. Oktober 1.000.000 Unterschriften erhält. Die Zahlen passen nicht zusammen. Aber wenn die Führung nichts unternimmt, um diese 150.000 willigen Aktivist:innen zu mobilisieren, wäre das eine sträfliche Verschwendung von Potenzial.

Einheit

Im Moment haben beide Kampagnen eine zu begrenzte Perspektive, was ihre Forderungen und Lösungen angeht. Wir brauchen eine Erhöhung der Löhne und Sozialleistungen in Höhe des Verbraucherpreisindexes, zusätzlich zur Senkung der Energiekosten. Wir müssen dafür kämpfen, den Energiesektor zu verstaatlichen und ihn unter die Kontrolle der Arbeiter:innenklasse zu stellen. Wenn sich ein Unternehmen auf gewerkschaftsfeindliche Gesetze beruft oder Truss dem Parlament neue vorlegt, dann brauchen wir politische Massenstreiks.

Keiner der Mängel der erwähnten Kampagnen sollte Sozialist:innen davon abhalten, sie aufzubauen. Die Tatsache, dass die Gewerkschaftsführer:innen und Labour-Abgeordneten es vermeiden, „Don’t Pay“ zu unterstützen, ist ein reformistisches Vorurteil gegen alles, was auch nur im Entferntesten „illegal“ oder „unverantwortlich“ klingt. Aber eine Form des massenhaften zivilen Ungehorsams, wie die massenhafte Nichtzahlung, kann dazu beitragen, die Regierung zu zwingen, unseren Forderungen nachzugeben.

Unsere Aufgabe ist es, demokratische Koordinierungsausschüsse zu schaffen, die industrielle und politische Kampagnen in einer gemeinsamen Aktion vereinen können. Die lokalen Solidaritätsgruppen, die in allen Londoner Stadtbezirken entstanden sind, könnten sich als der nützlichste Weg erweisen, die verschiedenen Kampagnen und Taktiken miteinander zu verbinden.

Im Zusammenhang mit einem echten Massenaufschwung an Streiks und direkten Aktionen sollte es unser Ziel sein, sie zu Aktionsräten auszubauen, die Delegierte aus Gewerkschaftszweigen und der Gemeinde einbeziehen, die Solidarität für alle ausweiten und mutige Maßnahmen ergreifen, um die Profiteur:innen und Behörden zu entlarven und ihr gesamtes Profitsystem in Frage zu stellen.

„Enough Is Enough“ hat für den 1. Oktober zu einem landesweiten Aktionstag aufgerufen. Lasst uns diesen Tag zum Mittelpunkt machen, um die Bewegung zu vereinen und den Kampf zu beginnen!




Britannien: die Trauer und der Mythos

Peter Main, Infomail 1198, 14. September 2022

Stundenlange unterwürfige Kommentare, ständige Informationen über die Fortbewegung des Sarges in Richtung London, eine ununterbrochene Prozession von ehemaligen und Möchtegern-Prominent:innen, die ihre eigene Wichtigkeit durch die Erinnerung an vergangene königliche Begegnungen steigern – es gibt keine Möglichkeit, die penetrante Nachrichtenflug vom Ableben von Elizabeth II. zu vermeiden.

Noch wichtiger ist, dass die Aussetzung der Streiks durch die Eisenbahn-, See- und Transportgewerkschaft RMT und die Kommunikationsarbeiter:innengewerkschaft CWU, die allgemein als die kämpferischsten der Gewerkschaften gelten, und – weniger überraschend – die Vertagung des Gewerkschaftskongresses den anhaltenden Einfluss der britischen Monarchie unterstreichen.

Das ständige Trommelfeuer royaler Propaganda führt dazu, dass es notwendig erscheint, das normale Leben, selbst den Kampf um ein angemessenes Einkommen, aus „Respekt“ vor der toten Monarchin auszusetzen. Dasselbe gilt für die Menschenmassen, die Blumen niederlegen, um ihren zweifellos aufrichtigen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, dass sie jemanden verloren haben, die ihnen wichtig war oder sogar nahestand. All dies ist das Ergebnis eines sorgfältig aufgebauten und gepflegten Mythos: dass die Monarchin unter mit ihr die Monarchie über der Politik und über den Klassen stehen und das gemeinsame Interesse aller vertreten würde.

Monarchie, Kapital, Staat

In Wirklichkeit ist die königliche Familie eine äußerst wohlhabende Vertreterin des Landadels. Ihr feudales Erbe an Grund und Boden verwandelte sie in Kapital und damit verband sie auch auf diese Ebene ein gemeinsames Interesse mit der aufstrebenden kapitalistischen Klasse des 17. und 18. Jahrhunderts.

Das Herzstück des königlichen Reichtums bildet der Liegenschaftsbesitz der Krone, dessen Wert auf 15,6 Milliarden Pfund geschätzt wird und der nicht nur aus Land und Immobilien, sondern auch aus 12 Meilen Meeresboden entlang der gesamten Küste besteht – ein netter kleiner Verdienst mit all den Windparks, die Miete zahlen. Dieses Portfolio wird von einem „Haushalt“, d. h. 400 Mitarbeiter:innen, verwaltet. Nach Abzug aller Kosten übergibt die Domäne einen „Überschuss“ an die Staatskasse, die dann 25 Prozent dieser Summe als „Zuweisung für den/die Herrscher“ an den/die Monarch:in auszahlt.

Das ist jedoch bei weitem nicht alles. Die Königin hat auch das Herzogtum Lancaster geerbt, über 18.000 Hektar Land und Immobilien mit einem Nettowert von 653 Millionen Pfund. Die Gewinne aus diesem Besitz, 24 Millionen Pfund im letzten Jahr, gehen direkt, d. h. unversteuert, auf das Konto des Königshauses. Das hat nun der neue König geerbt – ohne Erbschaftssteuer zu zahlen. Für alle anderen hätte diese 40 Prozent von allem betragen, was über 325.000 Pfund liegt.

Auf der anderen Seite musste Charles das Herzogtum Cornwall an seinen Sohn, den neuen Prinzen von Wales, weitergeben. Das Herzogtum besteht aus 130.000 Morgen Land mit 260 Bauernhöfen und einem Vermögen von 92 Millionen Pfund an Finanzanlagen. Insgesamt ist es 1,05 Milliarden Pfund wert und hat im letzten Jahr einen Gewinn von 23 Millionen Pfund erzielt. Das Herzogtum ist nicht erbschafts-, körperschafts- oder kapitalertragsteuerpflichtig.

Die Vorstellung, dass jemand, der/die über solche Besitztümer verfügt, „über der Politik“ steht oder „die Nation“ repräsentiert, ist natürlich vollkommen lächerlich. Nichtsdestotrotz bildet dieser riesige Reichtum die materielle Grundlage für die angebliche „Neutralität“, die „politische Unparteilichkeit“ der britischen Krone. Das Staatsoberhaupt, so wird uns von Kindesbeinen an erzählt, dürfe die jeweilige Regierung nur „beraten und beeinflussen“. Da sich die aktuelle Regierung jedoch der Verteidigung der Interessen des Großkapitals verschrieben hat, warum sollte eines der größten aller Kapitale mehr als das brauchen?

Der/die Regent/in hat außerdem gegenüber jeder Regierung den Vorteil, dass alle offiziellen Papiere und Berichte durch sein/ihr Büro gegangen sind. Im Gegensatz zu Regierungen, die keinen Zugang zu den Papieren ihrer Vorgänger:innen haben, kennt der/die Monarch/in oder, was wahrscheinlicher ist, seine/ihre Beamt:innen die Vorgeschichte der politischen Maßnahmen und Vorschläge, ganz zu schweigen von der Macht, jede Person und Behörde von Bedeutung im Vereinigten Königreich zu „beraten und beeinflussen“.

Wir sollten nicht vergessen, dass hinter all dem dummen Gerede und den lächerlichen Kostümen ein sehr effektiver Staatsapparat steckt. Nicht nur die Regierung und der/die „Erste Minister:in des/der König:in“, sondern auch die Streitkräfte und die Justiz sind nicht der „Nation“ oder „dem Volk“ verpflichtet, sondern der Krone. Das ist die „verfassungsmäßige“ Grundlage für die Monarchie, die das parlamentarische System, das trotz seiner eigenen Kontrollmechanismen für eine gewisse Beeinflussung durch das Volk offen ist, auf die lange Bank schiebt. Sollte dies die Interessen der herrschenden Klasse bedrohen, kann diese sich auf die Monarchie verlassen, sich über alle demokratischen Feinheiten hinweg- und ihr eigenes Recht und ihre eigene Ordnung durchzusetzen.

Dem Druck standhalten!

Ob die Gewerkschaftsvorsitzenden Mick Lynch von der RMT und Dave Ward von der CWU wirklich der Meinung waren, dass sie die Aktionen aus Respekt vor dem Verlust der Nation aussetzen sollten, oder ob sie damit rechneten, dass der Medienansturm auf sie und ihre Mitglieder die Zukunft der Lohnkampagne ernsthaft gefährden würde, werden wir wohl nie erfahren. Was wir wissen, ist, dass die Kampagne demobilisiert, die Ideologie der nationalen Einheit gestärkt und der neuen Regierung von Liz Truss ein paar Wochen Zeit gegeben wurde, um ihre wackelige Administration zu stabilisieren.

Eine Lehre, die wir aus all dem ziehen, ist, dass wir Gewerkschaften und eine politische Partei brauchen, die einem solchen Druck standhalten können. Noch wichtiger: Um sicherzustellen, dass der gesamte Reichtum des Landes im Interesse der gesamten Gesellschaft, ja der gesamten Menschheit verwendet wird, da so viel davon aus der ganzen Welt gestohlen wurde, müssen wir den gesamten Apparat der Ungleichheit, der uneingeschränkten Privilegien und der kriecherischen Beamt:innen, die ihn derzeit kontrollieren, loswerden.




Die Streikhitzewelle in Britannien

Dave Stockton, Workers Power Britannien, Neue Internationale 267, September 2022

Großbritannien erlebt einen rekordverdächtig heißen Sommer – nicht nur im Hinblick auf die Temperaturen von 30 bis 40 Grad, die normalerweise grüne Wiesen und Weiden in braunes Gestrüpp verwandelt haben, sondern auch im Hinblick auf einen „heißen Sommer“ mit Streiks, bei denen die Arbeiter:innen gegen plötzliche Preissteigerungen rebellieren, die zusätzlich auf eine lange Zeit stagnierender Reallöhne folgen. Während die jährlichen Lohnerhöhungen in der Privatwirtschaft durchschnittlich 5,9 Prozent betragen, liegt das Lohnwachstum im öffentlichen Sektor bei erschreckenden 1,8 Prozent.

Inflation

Ansporn für die Arbeiter:innen ist die galoppierende Inflation im Vereinigten Königreich, die die höchste jährliche Rate seit 40 Jahren aufweist. Der Verbraucherpreisindex (CPI) stieg im Jahr bis Juli 2022 um 10,1 Prozent, gegenüber 9,4 Prozent im Juni. Das Nationale Statistikamt zeigt, dass der Anstieg der Lebensmittelpreise, die einen größeren Anteil an den Gesamtausgaben von Arbeiter:innenfamilien ausmachen, 12,7 Prozent erreicht hat. Die Bank von England geht davon aus, dass sie noch in diesem Jahr die 13-Prozent-Marke überschreiten wird.

Derzeit zahlt der Durchschnittshaushalt im Vereinigten Königreich knapp 2.000 Pfund pro Jahr für Strom und Gas, doch nach Aufhebung der derzeitigen Obergrenze für Preiserhöhungen wird dieser Betrag am 1. Oktober auf 4.266 Pfund steigen, und am 1. Januar könnte es eine weitere Erhöhung geben.

Dies hat eine Reaktion ausgelöst, die an die Anti-Poll-Tax-Bewegung (Bewegung gegen die Kopfsteuer) der frühen 1990er Jahre erinnert. Eine Kampagnengruppe – Don’t Pay UK – hat zu massenhaften direkten Aktionen aufgerufen, um die Senkung der Gas- und Stromkosten zu erzwingen. Dazu gehört auch der Aufruf an die Menschen, ihre Lastschriftzahlungen an die Energieunternehmen ab dem 1. Oktober einzustellen, wenn die Regulierungsbehörde Ofgem die Preisobergrenze aufhebt.

Streiks und Arbeitskämpfe

Große Gewerkschaften wie Unite mit 1,4 Millionen Mitgliedern und GMB (Allgemeine und Städtische Bedienstete) mit 460.000 Mitgliedern erreichen durch Arbeitskampfmaßnahmen oder deren Androhung erhebliche Lohnabschlüsse auf Unternehmens- und Betriebsebene. Vor kurzem haben 1.800 Arriva-Busfahrer:innen im Nordwesten Englands einen Lohnabschluss von 11,1 Prozent erzielt.

Nach Angaben des Liverpool Echo rief die Menge der Streikposten bei der Bekanntgabe des Abschlusses „Hoch die Arbeiter:innen!“ Auch andere Beschäftigte des privaten Sektors, darunter Müllmänner- und -frauen, haben sich an Aktionen beteiligt und schnell Lohnerhöhungen durchgesetzt. Auch beim Logistikgiganten Amazon, im Baugewerbe und in einer Ölraffinerie sind die Belegschaften kürzlich in einen wilden Streik getreten.

Mehr als 1.900 Hafenarbeiter:innen in Felixstowe, dem größten Containerhafen des Landes, werden ab Sonntag, dem 21. August, acht Tage lang streiken. Die Gewerkschaft Unite the Union berichtet, dass die Arbeit„geber“in, die Felixstowe Dock and Railway Company, ihr Angebot einer Lohnerhöhung von 7 Prozent nicht verbessert hat, was eine Reallohnkürzung bedeuten würde.

Im öffentlichen Sektor ist die Lage schwieriger, weil die Zentralregierung Druck ausübt, die Lohnerhöhungen auf 2 Prozent zu begrenzen, und die Haushalte der Kommunen seit Jahren eingefroren oder gekürzt wurden. Aber die Gewerkschaftskonferenzen haben sich zumindest für indikative Urabstimmungen ausgesprochen. Im Herbst stehen entscheidende an und werden von immenser Bedeutung sein. Dies gilt auch für das nationale Gesundheitswesen (NHS), wo die Wut über Lohnangebote, die die enorme Arbeitsbelastung und die persönlichen Opfer, die die Beschäftigten während der Pandemie gebracht haben, nicht widerspiegeln, weit verbreitet ist.

Der wahre Kampf im öffentlichen Dienst besteht darin, die strengen Anforderungen der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze der konservativen Tory-Regierung zu erfüllen. Diese sehen vor, dass Streiks nur dann rechtmäßig sind, wenn sich in einer Briefwahl, an der mehr als 50 Prozent aller Wahlberechtigten teilgenommen haben, eine Mehrheit für Aktionen findet. Anfechtungen der Richtigkeit der Mitgliederzahlen einer Gewerkschaft können eine Urabstimmung ungültig machen oder ihre Durchführung verzögern. Vor allem für landesweite Streiks großer Gewerkschaften gibt es einen regelrechten Hindernisparcours.

Es überrascht nicht, dass die traditionell kämpferischeren Eisenbahner:innen mit ein- und zweitägigen Streiks bisher den größten Sektor ausmachen. Durch die Ausstände bei Network Rail und 14 Eisenbahnverkehrsunternehmen wurden mindestens 80 Prozent des Zugverkehrs eingestellt. Am 20. August streikten 40.000 Eisenbahner:innen im nationalen Netz und 10.000 bei der Londoner U- und S-Bahn, wodurch praktisch der gesamte Zugverkehr zum Erliegen kam.

RMT an der Spitze

An vorderster Front standen die Aktivist:innen der National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) (Gewerkschaft für Eisenbahner:innen, Seeleute und Transportarbeiter:innen), einer branchenübergreifenden Gewerkschaft für alle Berufe mit 83.000 Mitgliedern. Daneben gab es aber auch die Lokführer:innengewerkschaft Associated Society of Locomotive Engineers and Firemen (ASLEF) mit 22.000 und die Gewerkschaft für das Büropersonal (TSSA) mit 18.000 gewerkschaftlich organisierten Arbeitskräften.

Das alte Staatsunternehmen British Rail (Britische Eisenbahn) wurde in den 1990er Jahren von den Konservativen privatisiert, doch mussten sie die Netzbetreibergesellschaft Rail Track wieder verstaatlichen, weil die privatisierten Unternehmen ein völliges Chaos angerichtet hatten. Jetzt versuchen die Tories erneut, das System zu „reformieren“, indem sie das Zugpersonal abbauen und damit die Sicherheit von Fahrgästen und Beschäftigten zunehmend gefährden.

Der Generalsekretär der RMT, Mick Lynch, hat mit seinen direkten Widerlegungen der Versuche von Journalist:innen, die Streikenden als Feind:innen der Reisenden darzustellen, große öffentliche Unterstützung gewonnen. Er erläuterte die Situation wie folgt: „Es gibt eine Welle der Reaktion unter den Werktätigen auf die Art und Weise, wie sie behandelt werden. Die Menschen werden jeden Tag in der Woche ärmer. Die Leute können ihre Rechnungen nicht bezahlen. Sie werden am Arbeitsplatz verachtenswert behandelt. Ich denke, es wird zu allgemeinen und synchronisierten Aktionen kommen.“

Tory-Angriffe

Die Aktion der Eisenbahner:innen hat eine scharfe Reaktion der Tory-Regierung hervorgerufen, insbesondere zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Partei eine/n neue/n Vorsitzende/n und Premierminister:in wählt, die/der den in Ungnade gefallenen Boris Johnson ablösen soll. Der Tory-Verkehrsminister Grant Shapps erklärte gegenüber der rechtsgerichteten Daily Mail, dass „die Tage der Gewerkschaftsmacht gezählt sind“ und er „im Stillen an einem mehrgleisigen Plan gearbeitet hat, um die hartgesottenen linken Gewerkschaftsbaron:innen endgültig zu zermalmen“.

Er schlägt vor, noch höhere Schwellenwerte für die Beteiligung an Streikabstimmungen festzulegen und die Zeit, die die Gewerkschaften den Arbeit„geber“:innen für die Ankündigung von Streiks zur Verfügung stellen müssen, zu verdoppeln. Außerdem will er die Zahl der Streikenden, die sich an einer Streikpostenkette beteiligen dürfen, weiter einschränken. Gegen die Eisenbahner:innen und ihre Gewerkschaften droht Shapps außerdem mit rechtlichen Verwarnungen gemäß Abschnitt 188 des Gesetzes über Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen (1992), um „Reformen“ zur Abschaffung von Zugbegleiter:innen und zum Abbau von über 1.900 Arbeitsplätzen durchzusetzen.

Er hat auch behauptet, dass Gesetze zur Durchsetzung von Mindestdienstanforderungen, d. h. Streikverbote für Teile der Belegschaft, die diese dazu zwingen, ihre eigenen Streiks zu brechen, „geschrieben und einsatzbereit“ sind, wenn am 5. September ein/e neue/r Premierminister:in von den 160.000 Mitgliedern der Konservativen Partei gewählt wird.

Als nächstes sind 115.000 Postangestellte an der Reihe. Sie werden streiken, nachdem die Geschäftsführung der Royal Mail (britische Post) eine „Lohnerhöhung“ von 2 Prozent durchgesetzt hat, die angesichts der Inflationsrate einer zweistelligen Lohnkürzung gleichkommt. Die Vorschläge der Royal Mail für eine „Umstrukturierung“ sind außerdem ein Vorwand für einen weiteren Angriff auf die ausgehandelten Arbeitszeiten, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Sonntagsvergütung. Außerdem droht die Ausgliederung des profitablen Paketgeschäfts aus der Briefzustellung, was das Ende der Verpflichtung für eine umfassende Dienstleistung im Postwesen bedeuten würde.

Zu den Postler:innen werden sich am 31. August 40.000 Beschäftigte von British Telecom und Openreach (Telekommunikation und Netzwerke) gesellen. Wenn die drei Eisenbahner:innengewerkschaften zur gleichen Zeit in den Ausstand treten, könnte dies bedeuten, dass mehr als 250.000 Beschäftigte streiken. Dies bietet eine gute Gelegenheit für gemeinsame Kundgebungen und Demonstrationen, die sich mit den Busbeschäftigten, den Müllwerker:innen und den Beschäftigten im Gesundheitswesen, die sich an der Urabstimmung beteiligen, zusammenschließen könnten. Sogar Barristers – die Anwält:innen, die Klient:innen vor den höheren Gerichten vertreten können – könnten sich an den Aktionen beteiligen.

Die RMT und die CWU (Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter:innen) haben die Führung übernommen und eine groß angelegte Kampagne mit dem Titel „genug ist genug“ gestartet, in der sie „echte Lohnerhöhungen, Verstaatlichung zur Bekämpfung steigender Energierechnungen, ein Ende der Notwendigkeit von Lebensmitteltafeln und explodierenden Mieten sowie eine Politik der Besteuerung der Reichen“ fordern. Der Vorsitzende der Postangestellten, Dave Ward, gab bekannt, dass sich bereits 400.000 Menschen für die Kampagne angemeldet haben, die in den kommenden Wochen landesweit 70 Kundgebungen abhalten wird. Es ist geplant, regionale Organisationen, darunter vier in London, zu gründen, um die öffentliche Solidarität mit den Streiks zu mobilisieren und die Koordinierung zwischen den Sektoren, die die Arbeit niederlegen oder zu Streikmaßnahmen aufrufen, zu organisieren.

Rund 1.250 Menschen nahmen am 17. August an einer Auftaktkundgebung in Clapham Junction, einem großen Eisenbahnknotenpunkt im Süden Londons, teil. Obwohl die Veranstaltung erst einige Tage zuvor angekündigt worden war, mussten Hunderte von Teilnehmern:innen, die sich in die Warteschlange eingereiht hatten, abgewiesen werden, weil der Veranstaltungsort überfüllt war. Unter dem Motto „Es ist an der Zeit, die Wut in Taten umzuwandeln“ hörte ein größtenteils junges und begeistertes Publikum Mick Lynch, Dave Ward und Jo Grady von der Universitäts- und Hochschulgewerkschaft UCU, wie sie die zunehmende Brenn- und Treibstoffarmut anprangerten, die Zahl derer, die auf Essenstafeln angewiesen sind, und Lohnerhöhungen in Höhe der Inflationsrate oder darüber forderten, eine Obergrenze für Energierechnungen, die Verstaatlichung der Versorgungsbetriebe und die Besteuerung der Reichen.

Die Tatsache, dass die Gewerkschaften ihre eigene politische Kampagne organisieren müssen, verdeutlicht die Abwesenheit der Partei, für deren Unterstützung sie Millionen zahlen – Labour. Stattdessen entließ ihr Vorsitzender Keir Starmer einen Minister des Labour-Schattenkabinetts, der auf einer Streikpostenkette der RMT aufgetreten war. Kein Wunder, als Dave Ward sagte: „Die Leute fragen, wo ist Labour? Es liegt an der Labour-Partei – diese Kampagne geht mit oder ohne sie weiter“, wurde er mit Beifallsstürmen bedacht. Dies ist jedoch eine zu passive Haltung. Starmer muss beim Namen genannt und für seine Feindseligkeit gegenüber Streiks vor lokalen Labour-Gliederungen, die sich der Bewegung anschließen, beschämt werden.

Rückkehr des Klassenkampfs

Mick Lynch sagte auch: „Die Gewerkschaften müssen vorangehen, wir können nicht auf die Politiker:innen warten. Wir müssen in die Gemeinden und an die ehemalige rote Wand gehen, um sie bei ihrer Kampagne zu unterstützen. Wir müssen ihnen zeigen, wie sie sich organisieren können. Unsere Aufgabe als Aktivist:innen und Gewerkschafter:innen ist es, ihnen Mut zu machen, ihnen Hoffnung zu geben und sie auf die Straße zu bringen.“

Er fügte hinzu: „Tretet einer Gewerkschaft bei und beteiligt euch an einer Kampagne! Bringt die ArbeiterInnen dazu, Kampagnen zu führen und diese in eine Welle von Solidarität und Arbeitskampfmaßnahmen in ganz Großbritannien umzuwandeln!“

Das sind gute Worte, aber es liegt an den Aktivist:innen in den Gewerkschaften und den sozialistischen Kräften, sie in die Tat umzusetzen, indem sie Demonstrationen organisieren, um andere Arbeiter:innen und die breite Öffentlichkeit um Unterstützung zu bitten. Um dies in kleinen und großen Städten zu tun, bilden die Aktivist:innen bereits Solidaritätskomitees. Wenn sich eine Massenstreikwelle entwickelt, insbesondere wenn die Regierung oder die Arbeit„geber“:innen sich auf die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze berufen, können diese die Grundlage für Aktionsräte mit Delegierten aus den Gewerkschaften und Gemeinschaftskampagnen bilden, die in der Lage sind, eine Regierung zu stürzen, die versucht, „die Gewerkschaften zu brechen“.

Die hohe Beteiligung zeigt, dass die Stimmung für einen radikalen Wandel wächst, um der wachsenden Armut und den sinkenden Löhnen ein Ende zu setzen. In der Tat: „genug ist genug“! Es ist an der Zeit zu beweisen, dass, wie einige Journalist:innen sagten, „der Klassenkampf zurückgekehrt ist“.




„Wir werden sie zermürben“

Interview mit einem streikenden Rechtsanwalt, Alex Rutherford, Workers Power (Britannien), Infomail 1196, 20. August 2022

Während die industrielle Militanz in Großbritannien zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ansteigt, haben sich die Strafrechtsanwält:innen der Streikwelle angeschlossen. Workers Power sprach mit Saul Brody, einem streikenden Anwalt aus Manchester, über die Bedeutung des Streiks, die Probleme im Strafrechtssystem und die Auswirkungen dieser Probleme auf die Betroffenen. Eine ausführliche Analyse des Streiks wird zu einem späteren Zeitpunkt folgen.

WP: Könntest du etwas zum Hintergrund des Streiks sagen und wie er bisher verlaufen ist?

SB: Der Streik ist das Ergebnis eines Streits über die Höhe der Gebühren für die Arbeit in der Strafrechtshilfe. Wir haben am 27. Juni mit den Streikmaßnahmen begonnen. Wir beteiligen uns an dem Streik als Einzelmitglieder der Criminal Bar Association (CBA).

In der ersten Woche haben wir am Montag nicht gearbeitet, dann haben wir den Streik um einen Tag pro Woche ausgeweitet. Als er fünf Tage erreicht hatte, begannen wir, jede zweite Woche eine ganze Woche lang zu streiken. Außerdem nehmen wir derzeit keine Rücksendungen an [1].

Einige Anhörungen werden noch durchgeführt, insbesondere solche, bei denen es um eine schutzbedürftige Person geht und es ungerecht wäre, sie nicht durchzuführen. Alle, sowohl die älteren als auch die jüngeren Anwält:innen, nehmen die Belastung gemeinsam auf sich. Wir werden so lange fünf Tage arbeiten, dann fünf aussetzen, bis unsere Forderungen erfüllt sind. Wir halten zusammen, um die Zukunft der Strafrechtsanwält:innen zu sichern.

WP: Welche Probleme haben zum Streik der Anwält:innen geführt?

SB: Der Streik ist eine Folge der chronischen Unterfinanzierung – die Mittel für das Strafrechtssystem wurden in den letzten 10 Jahren um 28 % gekürzt. Junioranwält:innen leiden am meisten darunter. In den ersten fünf Jahren liegt das Durchschnittsgehalt eines/r Anwält:in in Strafsachen bei nur 12.000 Pfund und damit unter dem Mindestlohn.

Die Anwaltskammer für Strafrecht hat im letzten Jahr 300 – 400 Juniorratgeber:innen verloren. Es gibt keine neuen Bewerber:innen – es gibt zwar viele, aber es sind nicht unbedingt die besten Leute. Viele der besten Anwält:innen gehen aufgrund der stark gestiegenen Honorare in den Wirtschaftsbereich. Einige Leute können immer noch im Strafrecht arbeiten, aber sie müssen entweder sehr engagiert oder sehr wohlhabend sein.

Einige Mainstreamzeitungen haben über diese Themen berichtet. Aber niemand berichtet über die ungerechtfertigten Verzögerungen für Opfer, Zeug:innen und Richter:innen – sie sind unzumutbar lang. Die Situation führt zu einem Chaos in den Gerichten. Prozesse, die 2018 begannen, sind noch immer nicht abgeschlossen. Es wird nicht besser, es wird schlimmer.

Dies ist nicht auf das COVID zurückzuführen, sondern auf den chronischen Mangel an Gerichten, Richter:innen und Verteidiger:innen. Das Justizministerium hält es nicht für vorrangig, die Gerichtsgebäude in Ordnung zu bringen, was das gesamte System weiter belastet.

Das gesamte Budget für Strafrechtshilfe ist winzig – weniger als 1 Milliarde Pfund pro Jahr. Vergleicht das mit den 17 Mrd., die durch Betrug verlorengehen. Diese werden in den offiziellen Statistiken nicht berücksichtigt, so dass die Öffentlichkeit über die Effizienz des Strafrechtssystems belogen wird.

Viele Zeug:innen und Opfer werden mehrfach vor Gericht geladen und sagen: „Ich komme nicht wieder, ich war schon dreimal hier, habe mir Urlaub genommen und komme nicht wieder“. Der Regierung gefällt das, denn es führt dazu, dass die Strafverfolgung eingestellt wird, was den Druck auf das System verringert, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt.

Dies gilt vor allem für Vergewaltigungsfälle, bei denen die Opfer regelmäßig wegen Problemen mit dem System aussteigen.

Die Unterfinanzierung stellt auch eine Gefahr für die Vielfalt dar. Dies wirkt sich auf unterdrückte Minderheiten aus, die nicht die Möglichkeit haben, das Wagnis einzugehen, sich als Anwalt/Anwältin für Strafrecht zu bewerben. Dies führt unweigerlich zu einem Beruf voller weißer, männlicher Mittelschichtangehöriger.

Wir werden regelmäßig aufgefordert, auf Vielfalt zu achten, um Menschen zu gewinnen, die repräsentativ für die Gemeinschaft in diesem Land sind. Strafrecht kann nicht nur ein Hobby reicher Männer sein – wir brauchen Strafverteidiger:innen mit unterschiedlichem Hintergrund.

WP: Was sind die Forderungen des Streiks?

SB: Wir fordern eine Erhöhung der Gebühren für die Strafverteidigung um 25 %. Die Regierung bietet 15 % an, hat aber gesagt, dass dies nicht für den Rückstau an bestehenden Fällen gilt. Das würde bedeuten, dass niemand mehr alte Fälle anfassen will – die Gehaltserhöhung muss für alle Fälle von jetzt an gelten.

Strafverteidiger:innen opfern regelmäßig ihre Zeit, um das System zum Funktionieren zu bringen. Für vieles, was wir tun, werden wir nicht bezahlt. Die Vergütungssätze sind einfach so schlecht. Auf meiner Ebene gibt es einige gut bezahlte Fälle, die einen Ausgleich schaffen, aber die jüngeren Rechtsanwält:innen bekommen das nicht. Mir persönlich geht es gut, aber hier geht es um die Zukunft der Anwaltschaft.

Es ist eine furchtbare Situation, weil ich Mandant:innen habe, über die nicht verhandelt wird. Wir alle wollen arbeiten. Die CBA hat versucht, Justizminister Dominic Raab zum Zuhören zu bewegen, aber natürlich kann er jetzt einfach die Schuld für den Rückstand auf uns schieben, weil wir streiken.

WP: Wie kann der Streik eurer Meinung nach erfolgreich sein?

SB: Wir werden sie zermürben; wir werden nicht aufgeben. Die Lebenshaltungskostenkrise hat die Menschen an den Abgrund gebracht – viele müssen sich auf ihre Ersparnisse verlassen oder sich verschulden, um über die Runden zu kommen.

Die Wahrheit ist, dass es in der Strafgerichtsbarkeit nicht viele fett verdienende Anwält:innen gibt. Wir wenden uns an die breite Masse, nicht an die wenigen Spitzenleute.

Es hat einige Demonstrationen gegeben – ich habe bisher an zweien teilgenommen. Es gab einige Erwähnungen in der Presse und Unterstützung von einigen Abgeordneten. Wir befinden uns derzeit in einer sehr schwierigen Situation, weil keine/r der Politiker:innen in der Tory- (Konservative) oder sogar in der Labour-Partei sagen will, dass sie die Strafverteidiger:innen unterstützen. Die Wahl der Tory-Führung wird uns einen Haufen Idiot:innen bescheren, die nicht wissen, wie man das Land regiert. Wir werden schon etwas erreichen. Wir stecken derzeit in der Frage fest, ob das Gehaltsangebot für rückständige Fälle gelten wird. Wir brauchen auch ein indexiertes Gehaltssystem, das von einem unabhängigen Gremium kontrolliert wird, da unsere Gehaltserhöhungen im Moment vollständig von der Regierung kontrolliert werden. Die Lohnkürzungen sind zu weit gegangen.




Britannien: Johnson als Parteivorsitzender zurückgetreten – aber die Konservativen regieren weiter

Dave Stockton, Infomail 1193, 14. Juli 2022

Boris Johnson ist als Vorsitzender der Konservativen Partei zurückgetreten, aber noch nicht als Premierminister. Der raffinierte Drückeberger hat es geschafft, bis zum 5. September in der Downing Street Nr. 10 zu bleiben und sein Jahresgehalt von 164.080 Pfund zu beziehen. Die mehr als 50 Abgeordneten, die ihr Amt niedergelegt haben, haben ebenfalls Anspruch auf drei Monatsgehälter, was die Steuerzahler:innen rund 423.000 Pfund kostet, auch wenn einige von ihnen ihr Amt nur wenige Tage oder Wochen innehatten.

Der Daily Express und die Daily Mail sind außer sich vor Trauer und Wut über Boris, den Helden des Brexit. „Danke, Boris. Du hast Großbritannien seine Freiheit zurückgegeben“, jammert das eine; „Was zum Teufel haben sie getan?“, schreit das andere Zeitungsblatt.

Abgesehen von der Schadenfreude darüber, dass der/die dritte Tory-Chef:in Folge vor dem Amtssitz ans Rednerpult tritt, um den Rücktritt zu verkünden, gibt es für die Arbeiter:innenbewegung wenig zu feiern. Nach dem unbeholfenen Ed Miliband, nach Jeremy Corbyn – der von der Labour-Parlamentsfraktion sabotiert wurde – und nun mit dem langweiligen Keir Starmer besteht wenig Hoffnung auf eine sofortige Ersetzung Johnsons oder seines Nachfolgers „von uns“ – zumindest bei normalem Verlauf der Ereignisse.

Sicher, es war amüsant zu beobachten, was ein Abgeordneter der Konservativen Partei als eine Szene aus Shakespeares Julius Cäsar beschrieb, als über 50 Tory-Minister:innen ihre Dolche in Johnsons Rücken stießen. Er seinerseits, selbstgerecht wie immer, bestand nicht nur darauf, dass er nicht zurücktreten werde, sondern dass er plane, bis in die 2030er Jahre im Amt zu bleiben! Selbst als er seinen Rücktritt ankündigte, beschuldigte er die Westminster-„Herde“, ihn in den Abgrund getrieben zu haben – so wie sie ihn über den politischen Leichnam seiner Vorgängerin Theresa May an die Macht gebracht hatte.

Natürlich gibt es ernsthafte Probleme jenseits der „Partygate“-Skandale und seiner Lügen, dass Johnson nichts von dem Ruf seines stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführer Chris Pincher als Sexualstraftäter wusste. Er war und ist ein dreister Lügner, der glaubt, dass Regeln und Vorschriften, ja sogar das Gesetz des Landes, für ihn nicht wirklich gelten.

Die Konservative Partei kannte seinen Ruf, als sie ihn zum Vorsitzenden wählte. Wie Trump in Amerika gezeigt hat, sind seine Fähigkeiten genau die, die ein moderner Demagoge braucht. Seine komödiantischen Fähigkeiten appellierten an die Vorurteile der reaktionären unteren Mittelschicht und der Tory-Wähler:innen aus der Arbeiter:innenklasse, die schon lange vor dem Einsturz roter Bastionen zur Wähler:innenbasis der Partei gehörten. Sie bewunderten seine Unverfrorenheit und seine offene Verachtung für die steifen und spießigen Konventionen des britischen politischen Lebens.

Brexit-Betrug

Johnsons Charakter als totaler Scharlatan war eine Empfehlung, als es darum ging, „den Brexit zu vollziehen“, ohne in irgendeiner Weise zu verraten, was das eigentlich bedeuten würde. Jetzt, wo sich dessen Auswirkungen zeigen, ist es angebracht, dass er abtritt und anderen überlässt, den Schlamassel zu beseitigen. In der Zwischenzeit ist der Brexit, was die Stabilisierung der Wirtschaftsbeziehungen mit der EU oder die Unterzeichnung von „goldenen“ Handelsabkommen mit den USA und China angeht, noch lange nicht „erledigt“ – er könnte sogar noch rückgängig gemacht werden.

Das Einzige, was „getan“ wurde, ist, dass das Vereinigte Königreich den zollfreien europäischen Binnenmarkt verlassen hat. Es wurde kein Handelsabkommen mit Brüssel oder einem anderen wichtigen Land oder einer anderen Wirtschaft geschlossen. Es besteht ein akuter Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Mit seinem Versuch, das von ihm selbst ausgehandelte Nordirland-Protokoll zu zerreißen, hat Johnson die Handelsvereinbarungen mit der US-Regierung Bidens zum Scheitern gebracht.

Jetzt, da die Inflation fast doppelt so hoch ist wie in den Nachbarländern, versprechen alle Tory-Kandidat:innen, die Steuern zu senken und gleichzeitig die Rüstungsausgaben zu erhöhen. Damit werden die Versprechen, in die heruntergekommenen Städte des Nordens zu investieren oder den staatlichen Gesundheitsdienst zu retten, ad absurdum geführt. Und „Anhebung des Niveaus“? Das hat sich wie alle anderen Versprechen erledigt. Natürlich steckt diese Regierung in einer Krise.

Die Konkurrent:innen um die Tory-Führung, die sich vor den betagten und reaktionären Parteimitgliedern aufführen, die am Ende zwischen zwei von ihnen wählen werden, sind sich einig, dass sie den Arbeiter:innen, die sie vor kurzem noch als Held:innen von Covid bejubelt haben, erhebliche Lohnkürzungen (z. B. Lohnabschlüsse unterhalb der Inflationsrate) aufzwingen wollen. Deshalb sollte jede Gewerkschaft eine Lohnforderung vorlegen, die die steigenden Lebenshaltungskosten vollständig ausgleicht und einen echten Anstieg der Kaufkraft nach 12 Jahren sinkender Einkommen und Tory-Kürzungen beim „Soziallohn“, im Gesundheits- und Bildungswesen, bei der Sozialhilfe, im öffentlichen Verkehr usw. vorsieht.

Die Zukunft unter den Tories

In der Zwischenzeit bieten die Tory-Kandidat:innen verschiedene Nuancen von Johnsons Politik an, die keine/r von ihnen wirklich ablehnte. Dazu gehören:

  • Provozieren eines Handelskriegs mit der EU wegen der irischen Grenze und Kriecherei vor den erzreaktionären Demokratischen Unionisten im Norden Irlands;
  • Steuersenkungen für die Reichen und die obere Mittelschicht, die eine Rückkehr zu brutaler Sparsamkeit erforderlich machen, um die Schulden zu begleichen, die durch Finanzminister Sunaks Großzügigkeit gegenüber den „Arbeitgeber:innen“ während der Covid-Pandemie entstanden sind;
  • Kriegstrommeln gegen Russland zu schlagen und Truppen und Flugzeuge an seine Grenzen zu schicken, was einen Weltkrieg provozieren könnte, während gleichzeitig Milliarden in Rüstungsausgaben fließen, die für Gesundheit, Bildung und die Bekämpfung der Klimakatastrophe verwendet werden könnten;
  • fortgesetzte Auslagerung, Privatisierung und generelle Unterminierung des staatlichen Gesundheitswesens und dessen, was von einem öffentlichen Bildungssystem übrig geblieben ist;
  • Asylbewerber:innen auf grausame Weise nach Ruanda zu schicken – und wahrscheinlich an noch weniger aufnahmebereite Orte;
  • die Inflation nutzen, um die Löhne zu kürzen, auch für die „Held:innen“, die sie während der Pandemie bejubelt haben.

Wenn der/die neue Tory-Vorsitzende fleißiger und effizienter ist als der faule, selbstdarstellerische Johnson, wird es für uns umso schlimmer kommen … wenn wir sie nicht aufhalten.

Die Labour-Bewegung – Gewerkschafter:innen und Sozialist:innen – muss Johnson und seinem/r Nachfolger/in sofort einen Schlag versetzen:

  • hohe Lohnforderungen, die den durch die Inflation angerichteten Schaden ausgleichen. Dem Beispiel der Gewerkschaft für Eisenbahn, See, Transport (RMT) folgen, deren Streik im Juni die öffentliche Unterstützung weckte und Forderungen anderer Gewerkschaften ermutigte.
  • Mobilisierung der Mehrheit für die Forderung nach einer entschädigungslosen Renationalisierung der öffentlichen Versorgungsbetriebe – Gas, Wasser und Strom –, damit wir ihre Preise senken und die Senkung der CO2-Emissionen beschleunigen können.
  • Austritt aus der NATO und Schließung britischer Stützpunkte in Europa und der ganzen Welt.
  • Umschichtung des gesamten Verteidigungshaushalts auf Gesundheit, Bildung und soziale Dienste.
  • Einleitung einer echten grünen industriellen Revolution auf der Grundlage von erneuerbarer Energie, öffentlichem Verkehr und Planung.
  • Abschaffung der Mehrwertsteuer und aller indirekten Steuern auf lebenswichtige Verbrauchsgüter und deren Ersetzung durch eine stark progressive Besteuerung von Einkommen und persönlichem Vermögen.

Wir müssen eine Massenbewegung aufbauen, die in jedem Ort verwurzelt ist und sich mit jeder kämpfenden Gruppe von Arbeiter:innen solidarisiert. Wir brauchen lokale Aktionsräte, um diese Kämpfe zu koordinieren und auf Massenstreiks gegen jede reaktionäre Maßnahme und Politik (Lohnstopp, Sparmaßnahmen, gewerkschaftsfeindliche Gesetze) der „Arbeitgeber:innen“ und ihrer Tory-Regierung hinzuarbeiten.

Gleichzeitig sollten die Mitgliedsgewerkschaften angesichts der bevorstehenden Labour-Konferenz mit ihrer passiven Missbilligung brechen und offen ein Ende von Starmers Hexenjagd und Außerkraftsetzung politischer Beschlüsse fordern, die von der Konferenz zwischen 2016 und 2021 demokratisch gefällt wurden. Wir sollten diesen politischen Kurs als Sprungbrett für die weitere Entwicklung einer echten Alternative zu Johnsons reaktionärem/r Nachfolger:in nutzen: nicht nur als Politik für eine künftige Labour-Regierung, sondern als Aktionsprogramm, das den Abgang der Tories durch eine massive soziale Revolte beschleunigen kann.




Britannien: Eisenbahnarbeiter:innen – Kampfdruck erhöhen bis zum Sieg!

KD Tait, Workers Power, Infomail 1191, 27. Juni 2022

Das britische Eisenbahnnetz wurde am 21. und 23. Juni zweimal zum Stillstand gebracht, als 40.000 Eisenbahner:innen im ersten landesweiten Streik seit 30 Jahren die Arbeit niederlegten. Die Gewerkschaft RMT (Eisenbahn, See und Transport) wehrt sich gegen ein Lohnangebot von 3 % und gegen die Bedrohung von Arbeitsplätzen, Renten, Arbeitsbedingungen und der Sicherheit bei der Bahn. In London schlossen sich ihnen 10.000 U-Bahn-Beschäftigte an, die gegen geplante Arbeitsplatz- und Rentenkürzungen streikten.

Der Streik, an dem Network Rail und 13 der 15 englischen Eisenbahnunternehmen beteiligt waren, war massiv. An beiden Tagen fielen 80 Prozent der Züge aus, und die Bahnstrecken wurden ab 18.30 Uhr praktisch geschlossen. Ein dritter Streiktag ist für Samstag, den 25. Juni, geplant.

Bislang versteckt sich die Regierung hinter Network Rail und den privaten Betreibergesellschaften. Verkehrsminister Grant Shapps hat jede Verantwortung abgelehnt, obwohl sein Ministerium das jährliche Budget für die Eisenbahnunternehmen festlegt. Der Chef von Network Rail, Andrew Haines (Jahresgehalt: 589.999 Pfund), hat sich gegen „staatliche Eingriffe“ ausgesprochen und behauptet, diese würden die Gewerkschaften dazu ermutigen, „Streitigkeiten zu politisieren“.

Es handelt sich jedoch um eine politische Auseinandersetzung, die Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft zeitigt. Der Streik ist die erste ernsthafte Bewährungsprobe für die Politik der Lohnzurückhaltung der Regierung im öffentlichen Sektor. Hochrangige Regierungsquellen haben gewarnt, dass ein Nachgeben der Regierung gegenüber den Bahngewerkschaften einen Präzedenzfall für den gesamten öffentlichen Sektor schaffen würde. Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor werden ähnliche Forderungen im privaten nach sich ziehen.

Der Präzedenzfall, den die Konservative Partei – und hinter ihnen die „Arbeitgeber:innen“ – schaffen wollen, besteht darin, dass mit Streiks keine echten Lohnerhöhungen erreicht werden können. Da die Gewerkschaften der Post, des Bildungswesens und des öffentlichen Dienstes über Löhne und Gehälter abstimmen, hoffen die Tories, dass eine Niederlage der RMT die Gewerkschaftsbewegung demoralisieren und eine Obergrenze für Lohnforderungen festlegen wird.

Das Boulevardblatt Sun hat zu Recht „Klassenkampf“ auf ihre Titelseite geschrieben. Die „Arbeitgeber:innen“ wollen die Löhne niedrig halten, um ihre Gewinne zu sichern. Der Plan der Regierung, die Beschäftigten des öffentlichen Sektors auf schmale Rationen zu setzen, ist ein zentraler Bestandteil dieser Strategie. Deshalb ist dieser Konflikt von entscheidender Bedeutung für die gesamte Arbeiter:innenklasse.

Wofür kämpft die Gewerkschaft RMT?

Die RMT-Forderung nach einer Erhöhung um 7-8 % basiert auf der Inflationsrate bei der Eröffnung der jährlichen Lohnverhandlungen im Dezember. Die neuesten Zahlen, die am Mittwoch veröffentlicht wurden, zeigen jedoch eine Inflation nach dem Einzelhandelspreisindex von 11,7 % – den höchsten Stand seit 40 Jahren. Zusammen mit dem dreijährigen Einfrieren der Löhne und Gehälter haben die Eisenbahner:innen damit bis zu 20 % ihres Reallohns verloren. Eine Forderung von 7 % entspricht einer Lohnkürzung von 4 %. Da die Inflation bis zum Herbst voraussichtlich 14 % erreichen wird, wird sich dies noch verstärken. Die Arbeiter:innen müssen ihre Rechnungen bezahlen und Lebensmittel zu den heutigen Preisen kaufen – nicht zu denen vom Dezember.

Aber es gibt noch einen zweiten Grund, für einen inflationsgeschützten Abschluss zu kämpfen. Die Regierung nutzt diesen Konflikt, um den Maßstab für Lohnforderungen für die gesamte Arbeiter:innenklasse zu setzen. Die Eisenbahner:innen sind eine der am besten organisierten Gruppen unserer Bewegung. Wenn sie zu Lohnkürzungen gezwungen werden können, werden die „Arbeitgeber:innen“ dies als Freibrief nutzen, um allen anderen das Gleiche – oder Schlimmeres – aufzuerlegen.

Deshalb müssen die Eisenbahner:innen gewinnen. Aber eine Erhöhung unterhalb der Inflation auszuhandeln, bedeutet keinen Sieg. Die Gewerkschaft sollte für einen inflationsgeschützten Lohnabschluss kämpfen: aktuelle Inflation plus 1 % für jeden 1 %-igen Anstieg der Inflation. Wenn die Inflation sinkt, werden die Beschäftigten beginnen, die durch das Einfrieren der Löhne verursachten Verluste wieder auszugleichen.

Das Gleiche gilt für die Arbeitsplätze. RMT-Generalsekretär Mick Lynch hat erklärt, seine Priorität sei eine Einigung ohne betriebsbedingte Kündigungen. Aber der Verlust von fast 2.000 Arbeitsplätzen bedeutet mehr Arbeit und mehr Überstunden für diejenigen, die bleiben. Das bedeutet gefährlichere Eisenbahnen für Arbeit:innen und Fahrgäste. Es bedeutet weniger qualifizierte Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze für junge Menschen.

Die Eisenbahner:innen sollten den Verlust von qualifizierten und erfahrenen Berufen nicht hinnehmen. Jedem/r Beschäftigten, dessen/deren Stelle gestrichen wird, sollte eine Umgruppierung und Umschulung in der gleichen oder einer besseren Besoldungsgruppe angeboten werden. Entfallende Stellen sollten eins zu eins durch neue Posten ersetzt werden. Falls erforderlich, sollte die Arbeit ohne Lohneinbußen aufgeteilt werden.

Das Argument, die Pandemie habe die Nutzung der Pendler:innenzüge drastisch reduziert, ist übertrieben. Aber die Bekämpfung des Klimawandels, die Verringerung der Umweltverschmutzung und die Verbesserung der Infrastruktur für Arbeit und Freizeit erfordern in jedem Fall eine drastische Ausweitung des Schienen- und öffentlichen Verkehrs, nicht eine Verringerung.

Die Regierungspartei will den Gewerkschaften die Schuld an den Problemen der Bahn in die Schuhe schieben. Aber die Regierung und die Bosse sind nicht an einer Modernisierung interessiert, wenn diese ihren Profiten schadet. Die Tories haben mehr Eisenbahnen gestrichen, als sie gebaut haben. Die Eisenbahn wird nicht als öffentlicher Dienst betrieben – sie operiert im Interesse des privaten Profits. Der Kampf um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen muss Hand in Hand gehen mit dem Kampf, die Profiteur:innen zu vertreiben und die Bahn wieder in öffentliches Eigentum zu überführen, das unter der Kontrolle der Arbeiter:innen und Fahrgäste steht und durch die Besteuerung der Reichen finanziert wird.

Weitet die Aktion aus!

Lynch hat erklärt, die RMT sei auf einen „Zermürbungskrieg“ vorbereitet. Die Streikposten vom Dienstag bildeten eine eindrucksvolle Demonstration der Entschlossenheit der Eisenbahner:innen. Aber eine Reihe von 24-stündigen Arbeitsniederlegungen, die sich über viele Wochen oder sogar Monate hinziehen, birgt das Risiko von Ermüdung und finanzieller Härte.

Der schnellste Weg, den Konflikt zu einem raschen – und erfolgreichen – Abschluss zu bringen, ist die Ausweitung und Eskalation der Aktionen. Die Fahrer:innengewerkschaft ASLEF und die Gewerkschaft der Angestellten TSSA führen derzeit eine Urabstimmung durch. Die RMT-Streiks werden deren Mitglieder ermutigen, sich dem Konflikt anzuschließen und ihn zu verstärken. Aktivist:innen aus allen drei Gewerkschaften sollten eine Kampagne mit koordinierten, eskalierenden Aktionen organisieren, bei denen keine Einzelforderung zurückgestellt wird, bevor nicht alle beglichen sind.

Der Erfolg des Streiks hängt von der Organisierung der Gewerkschaftsmitglieder ab, um die Beteiligung und demokratische Kontrolle zu maximieren. Betriebsversammlungen und Streikpostenversammlungen können für den Streik mobilisieren und gemeinsame Streikausschüsse wählen, um Streikposten und Delegationen zu anderen Betrieben zu organisieren, die Durchführung des Streiks und der Verhandlungen zu erörtern – und jedes Abkommen abzulehnen, das nicht zu einer inflationsgeschützten Lohnerhöhung führt.

Solidarität

Die RMT-Beschäftigten haben den Weg nach vorn gewiesen. Für einen Sieg muss jedoch eine starke Solidaritätskampagne mobilisiert werden. In jeder Stadt und jedem Bezirk sollten lokale Solidaritätsausschüsse von Delegierten aus Gewerkschaftsortsgruppen und Betrieben gebildet werden. Diese können damit beginnen, bei ihren Mitgliedern und Kolleg:innen für die Ziele des Streiks zu werben, Geld für den Streikfonds zu sammeln und Delegationen zu den Streikposten zu organisieren.

Diese Ausschüsse können nicht nur den Streik unterstützen, sondern auch die Grundlage für die Organisierung von einfachen Gewerkschaftsmitgliedern in der gesamten Bewegung bilden, um Rekrutierung, Wahlbeteiligung und Stimmen für Aktionen in ihren eigenen Abstimmungen zu maximieren.

Wir sitzen alle im selben Boot. Jede:r erkennt die Notwendigkeit eines geeinten, koordinierten Widerstands an. Der Gewerkschaftsdachverband TUC sollte die Einzelgewerkschaften zusammenbringen und Abstimmungen sowie Kampagnen koordinieren. Aber wir können nicht auf ihn warten. Wir müssen bereit sein, mit den Gewerkschaftsführer:innen zu handeln, wenn sie kämpfen – aber ohne sie, wenn sie es unterlassen. Das bedeutet, dass wir uns innerhalb der Einzelgewerkschaften und gewerkschaftsübergreifend organisieren müssen.

Wir alle wissen, was auf dem Spiel steht. Deshalb ist die Weigerung der Führung der Labour-Partei, den Streik unmissverständlich zu unterstützen, so beschämend. Mit einer Handvoll ehrenwerter Ausnahmen haben die Labour-Abgeordneten Streikposten gemieden wie die Pest. Sie dürfen nicht aus der Verantwortung gelassen werden. Wir müssen jeden Auftritt in den Medien nutzen, um Keir Starmer und das Schattenkabinett aufzufordern, die Streiks zu unterstützen.

Mit Solidarität, Organisierung der Basis und kämpferischen Aktionen können wir die Lohnzurückhaltung der Tories brechen, eine echte Lohnerhöhung für Millionen von Menschen erreichen – und die Bosse für ihre eigene Krise bezahlen lassen. Sieg für die RMT!