Belarus: Hinrichtung der „Eisenbahnpartisanen“ droht!

Leo Drais, Infomail 1195, 9. August 2022

Im März und April stand die russische Armee vor der Toren Kiews, der Überfall Putins auf die Ukraine war jedoch ins Stocken geraten. Wenige Wochen danach musste sich Russland dann aus der Gegend um die Hauptstadt zurückziehen.

Belarussischer Widerstand

Aus militärischer und politischer Sicht war der Teilrückzug vor allem darauf zurückzuführen, dass die russische Armee gegen die von NATO-Staaten seit knapp acht Jahren hochgerüstete Ukraine viel schlechter dastand, als es sich Moskau erhofft hatte. Zudem war der Widerstand der Ukraine taktisch und moralisch sehr stark aufgestellt. Russland verlegte seine Truppen und konzentrierte sie auf die südöstliche Ukraine. So weit, so bekannt.

Von der deutschen Presse eher nur am Rand erwähnt wurde der Widerstand in Belarus. Eisenbahnarbeiter:innen und Partisan:innen hatten dort den Zugverkehr und somit Militärtransporte in Richtung Ukraine gestört und teilweise unterbrochen. Lokführer:innen verweigerten den Dienst; Stellwerke, Gleise und Schaltanlagen wurden sabotiert.

Jetzt droht drei von ihnen deshalb die Hinrichtung: Denis Dikun, Dmitrij Rawitsch und Oleg Moltschanow.

Ob es sich bei ihnen um Eisenbahnarbeiter:innen oder andere Kriegsgegner:innen handelt oder nicht, ist aus der dünnen Berichtslage nicht ganz eindeutig herauszufinden, aber auch zweitrangig. Der gerechte Widerstand wurde Hand in Hand von Eisenbahner:innen und anderen Militanten organisiert. Das Lukaschenka-Regime will ein Exempel statuieren, gegen die, die es wagten, sich dem russischen Imperialismus entgegenzu stellen, gegen die, die in den letzten Jahren Proteste und Aufstände gegen die Minsker Regierung organisiert haben. Nicht umsonst hat Staatspräsident Aljaksandr Lukaschenka im Mai die Anwendung der Todesstrafe auf „Vorbereitung und Versuch eines Terroraktes“ ausgeweitet – eine direkte Reaktion auf die Sabotageaktionen im Eisenbahnnetz.

Freiheit für die politischen Gefangenen!

Gegen die reaktionären Urteile und die drohende Hinrichtung von Denis Dikun, Dmitrij Rawitsch und Oleg Moltschanow ist unsere Solidarität gefordert. Linke und Internationalist:innen sollten Kundgebungen vor Botschaften oder Konsulaten abhalten und die sofortige Freilassung aller Gefangenen fordern, die gegen den Krieg Widerstand in Belarus und Russland (und anderswo) leisteten.

Genauso wichtig ist die Forderung, dass Deserteur:innen nicht verfolgt und Kriegsgefangene freigelassen werden.

Widerstand und Protest gegen den Krieg ist gerechtfertigt. Die belarussischen „Eisenbahnpartisan:innen“ sind Vorbilder, die trotz eines diktatorischen Regimes aktiv wurden und in ihrem Widerstand einen Kampf gegen ihre eigene Regierung ausdrückten und führten.

Wir wollen das besonders unterstreichen. Denn während die Presse in Deutschland jeden Protest gegen die russische Armee für richtig und gerecht erklärt, gilt der Protest gegen die NATO gleich als Putin freundlich. Oft kommt der unvermeidliche Vorwurf, wir würden die ukrainische Bevölkerung im Stich lassen.

Wir weisen das zurück. Die NATO-Staaten verfolgen ebenso wie Russland ihre eigenen imperialistischen, geostrategischen Ziele, wie die Sanktionspolitik, aber auch die massive Aufrüstung und Osterweiterung des Bündnisses zeigen.

So wie wir diese reaktionären Ziele bekämpfen, solidarisieren wir uns zugleich ohne Wenn und Aber mit dem Widerstand gegen den russischen Imperialismus, der unter sehr viel schwereren Bedingungen als wir zu kämpfen hat. Die Solidarisierung mit den Kriegsgegner:innen in Russland und Belarus ist eine internationalistische Pflicht der gesamten Linken, der Arbeiter:innenbewegung, der Gewerkschaften. Ohne diese bleibt jede Gegner:innenschaft zur NATO unglaubwürdig.

Der Kampf von Denis Dikun, Dmitrij Rawitsch und Oleg Moltschanow ist auch unser Kampf! Hoch die internationale Solidarität!




Belarus: Eisenbahnverbindungen zur Ukraine gekappt

Martin Suchanek, Neue Internationale 263, April 2022

Am 20. März schlossen Eisenbahner:innen aus Belarus die Bahnverbindungen in die Ukraine, um den Nachschub der russischen Invasionstruppen zu blockieren. Auch wenn die Informationsquellen zu diesen Aktionen bisher schwer überprüfbar sind, so scheinen sich die Nachrichten zu bestätigen, auch wenn sich die von Putin und Lukaschenko kontrollierten Medien dazu ausschweigen.

Die Bedeutung dieser Streiks und der Sabotage des Schienennetzes in die Ukraine, die neben Eisenbahner:innen auch von anderen Oppositionellen durchgeführt werden, ist schwer zu überschätzen. Erstens trifft es den Nachschub einer ohnedies ins Stocken geratenen russischen Militärmaschinerie direkt und schwächt somit weiter den reaktionären Angriff. Zweitens treffen die Aktionen direkt einen der wichtigsten Vasallen von Putins Regime und erschweren einen offenen Kriegseintritt von Belarus, der für die Arbeiter:innenklasse eine weitere Katastrophe darstellen würde. Drittens verdeutlicht die Aktion, dass die Lohnabhängigen den Kriegstreiber:innen und der Militärmaschinerie in den Arm fallen können. Dass diese Blockade in Belarus und nicht in Russland selbst stattfindet, ist sicher kein Zufall. Das Regime Lukaschenko verzeichnet in der Bevölkerung bestimmt weitaus weniger Verankerung als jenes von Putin. Die Lügen der staatlich kontrollierten belarussischen Medien glaubt allenfalls eine Minderheit. Zu lebendig sind noch die Erinnerungen an die Massenbewegung gegen das Regime.

Doch diese Aktionen sind auch eine Warnung an Putin selbst. Sie zeigen, von welcher Seite ihm wirklich Gefahr droht – von einer Arbeiter:innenklasse, die seine reaktionären Kriegslügen satt hat, von jungen Rekrut:innen, die als Kanonenfutter des russischen Imperialismus verheizt werden und nicht mehr für einen reaktionären Krieg sterben wollen. Die Lähmung der russischen Kriegsmaschinerie hilft dabei nicht nur den Menschen in der Ukraine – sie unterminiert auch Gefolgschaft, Gehorsam und Disziplin der einfachen Soldat:innen in der russischen Armee, auf dass sie ihre Gewehre umdrehen!




EU und Belarus: „Hybridkrieg“ auf Kosten der Geflüchteten

Urte March/Susanne Kühn, Infomail 1169, 11. November 2021

Tausende Geflüchtete hängen mittlerweile in der Grenze zwischen Belarus und den benachbarten EU-Staaten Polen, Lettland und Litauen bei Kälte, ohne ausreichende Lebensmittel und ohne Gesundheitsversorgung fest. Sie leben faktisch im Niemandsland. Verzweifelt versuchen immer wieder größere Gruppen, das angeblich humanitäre Ufer der EU zu erreichen – und werden dort von den polnischen oder anderen Sicherheitskräften brutal abgefangen und zurückgetrieben. Polen hat einen massiven Grenzzaun zum Schutz der Festung Europa hochgezogen und entlang der Grenze einen drei Kilometer langen De-facto-Sperrstreifen gebildet. Selbst jene Menschen, die es mit größter Anstrengung bis nach Deutschland schaffen, sollen an den Grenzen abgefangen werden.

Folgt man der polnischen, lettischen oder deutschen Regierung, der EU-Kommission oder dem US-Präsidenten, liegt die Sache klar. Belarus führe mit Putins Unterstützung einen „hybriden Angriff“ auf die EU. Die Geflüchteten würden, so der für sich genommen durchaus zutreffende Vorwurf, von Lukaschenko missbraucht. Dessen Zynismus will die EU offenkundig selbst nicht nachstehen. Dass die Geflüchteten als politische Manövriermasse benutzt werden, reicht ihr als Vorwand dafür, selbst tausende Geflüchtete zurückzuschicken, ihnen jede elementare Versorgung zu verweigern und selbst die Reste des Asylrechts vorzuenthalten, indem etwaige Anträge erst gar nicht angenommen werden.

An der Grenze zwischen Weißrussland und seinen EU-Nachbarn Polen, Lettland und Litauen herrscht auf jeden Fall ein Krieg – nämlich der gegen die Flüchtlinge. Die Menschen aus dem globalen Süden werden wieder einmal als Spielfiguren in einem brutalen zwischenstaatlichen Machtkampf benutzt.

Die sog. Welle

Seit dem Frühsommer berichten benachbarte EU-Länder und bürgerliche Medien von einer „Welle“ von Flüchtlingen, die versuchen, ihre Grenzen von Belarus aus zu überqueren, um Asyl zu beantragen. AugenzeugInnen und GrenzpolizistInnen bestätigen, dass belarussische Sicherheitskräfte den Transport zur Grenze organisieren und die Menschen mit dem Versprechen, sie nach Europa zu bringen, zur Überfahrt ermutigen.

Die MigrantInnen stammen aus dem Nahen Osten und Nordafrika, wobei eine größere Anzahl von KurdInnen, SyrerInnen und AfghanInnen gemeldet wurde. Obwohl die Zahl der Flüchtlinge keineswegs überwältigend ist (bis zu 10.000 in den drei Ländern), werden sie von einigen in diesen Staaten als eine große soziale Störung angesehen. Dies ist das Ergebnis eines starken Trends zum Ethnonationalismus, der irrationale Ängste über die Auswirkungen dieser MigrantInnen auf die „ethnisch homogenen“ Gesellschaften dieser Länder schürt.

Die Regierungen Polens, Lettlands und Litauens haben darauf mit einem unterschiedlichen Maß an Repression reagiert. Alle drei haben verschiedene Maßnahmen ergriffen, darunter den Bau von Zäunen und eine verstärkte Polizei- und Militärpräsenz, um die Grenzübertritte zu verhindern, und den Ausnahmezustand entlang der Grenze ausgerufen.

Polen ist auf diesem Weg am weitesten gegangen und hat Flüchtlinge, die die Grenze bereits überschritten haben, gewaltsam abgeschoben. Tausende MigrantInnen sitzen mittlerweile zwischen den Grenztruppen der beiden Länder fest, ohne Zugang zu Wasser, Nahrung oder Unterkunft. Dies verstößt eindeutig gegen geltendes Recht, nach internationalem Gesetz Asyl zu beantragen, und wurde von Amnesty International und anderen Menschenrechtsgruppen kritisiert.

Am 25. August wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen an, MigrantInnen und Flüchtlingen an den Grenzen humanitäre Hilfe zu leisten, und erneuerte die Anordnung am 27. September. Polen ist der Anordnung des Gerichtshofs bisher nicht nachgekommen, und Menschenrechtsgruppen haben mindestens sechs Todesfälle festgestellt. Probleme mit der EU und einzelnen EU-Staaten braucht es dafür nicht zu fürchten, im Grunde sind die EU-Kommission, Deutschland und andere froh darüber, dass Polen die rassistische Drecksarbeit für sie verrichtet.

In Litauen werden diejenigen, die das Land betreten, in provisorischen Räumlichkeiten untergebracht. Da die bestehenden Migrationszentren nicht für die Aufnahme der neuen Menschen geeignet waren, wurden die MigrantInnen zunächst in Waldlagern oder stillgelegten Schulen aufgenommen und später in umfunktionierten öffentlichen Gebäuden, darunter auch ehemaligen Gefängnissen, einquartiert. In vielen dieser Einrichtungen wurde über mangelnde Hygiene, fehlendes Wasser und nicht funktionierende Heizung berichtet.

Die Rechtsgrundlage für die unbefristete administrative Inhaftierung aller GrenzgängerInnen ist zwar unklar, aber das kümmert die westlichen Regierungen nicht. BeamtInnen bemühen sich auch auf diplomatischer Ebene, MigrantInnen daran zu hindern, ihre Heimatländer überhaupt zu verlassen. Im August flogen litauische VertreterInnen nach Bagdad und handelten eine Einstellung der kommerziellen Flüge vom Irak nach Minsk aus. Nun sollen Sanktionen gegen Fluglinien erfolgen, die Menschen nach Belarus fliegen, die Flüchtlinge sein könnten!

Imperialistisches Schachspiel

Obwohl die EU den Anschein erwecken will dass sie die Menschenrechte durchsetzt, erweist sich dies täglich als mörderische Lüge. Ihr Hauptinteresse besteht darin, Lukaschenko und seinen russischen UnterstützerInnen zu zeigen, dass seine Politik mit einer aggressiven Reaktion begegnet wird. Die Klärung von Einzelfällen, die an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergeleitet werden, wird Monate oder Jahre dauern. In der Zwischenzeit macht jeder Staat mit der Überwachung der Grenzen der Festung Europa weiter.

Obwohl in den internationalen Medien immer wieder von sozialer Unruhe die Rede ist, gab es auch vor Ort zahlreiche Solidaritätsbekundungen. In Litauen wurden eine Reihe von humanitären Hilfsorganisationen, darunter das Rote Kreuz, die Caritas und religiöse Gruppen, von Freiwilligen und Spenden überschwemmt. Außerdem fanden am 17. Oktober große Demonstrationen statt, bei denen eine humanere Politik gegenüber den Flüchtlingen gefordert wurde. In Warschau versammelten sich schätzungsweise 3.000 Menschen unter dem Motto „Stoppt die Folter an der Grenze“.

Auch im Ausland hat es Solidaritätsaktionen gegeben. Am Sonntag, den 17. Oktober, versammelten sich mehrere Hundert Menschen vor der polnischen Botschaft in London, um gegen die illegalen Rückschiebungen von MigrantInnen über die Grenze zu protestieren, die die Regierung vornimmt. Die Demonstration wurde von humanitären Organisationen wie Amnesty zusammen mit polnischen Gruppen wie Polish Migrants Organise organisiert.

Doch selbst bei denjenigen, die sich für humanitäre Hilfe engagieren, hält sich im öffentlichen Bewusstsein die Unterscheidung zwischen „legitimen“ Flüchtlingen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, und „illegalen“ WirtschaftsmigrantInnen. Es gab auch nur wenige Versuche, die Logik der Grenzen und das Recht der Staaten, sie zu überwachen, in Frage zu stellen. Dies zeigt, dass das Gift des Rassismus in die ArbeiterInnenklasse eingedrungen ist und weiter wirkt. Die rassistische Ideologie wird von der herrschenden Klasse als Instrument verbreitet, um die ArbeiterInnen zu spalten und zu beherrschen und sie daran zu hindern, zu erkennen, dass ihr wahrer Feind nicht die ArbeiterInnen anderer Länder sind, sondern das System des globalen Kapitalismus, das alle ArbeiterInnen unterdrückt.

Auch andere europäische Staaten bereiten sich darauf vor, eine neue Welle von Flüchtlingen aus Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban abzuwehren. Griechenland hat kürzlich einen Zaun und ein Überwachungssystem an seiner Grenze zur Türkei fertiggestellt. Der griechische Minister für Bürgerschutz, Michalis Chrisochoidis, sagte bei einem Besuch auf der Insel Evros: „Wir können nicht passiv auf die möglichen Auswirkungen warten. Unsere Grenzen werden unantastbar bleiben.“ Dies zeigt einmal mehr die Heuchelei der EU, die die Achtung der Menschenrechte von MigrantInnen fordert, während sie gleichzeitig ihre Grenzen verstärkt und zulässt, dass sich die Leichen von Geflüchteten an den Stränden des Mittelmeers stapeln.

Währenddessen sind es die MigrantInnen, die vor unvorstellbarer Armut und Krieg fliehen, die unter den Folgen dieses imperialistischen Schachspiels leiden. Die ArbeiterInnenbewegung, ob in Polen, Griechenland oder anderswo, muss an der Seite dieser MigrantInnen stehen und für eine Welt kämpfen, in der rassistische Grenzen auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden, zusammen mit dem globalen kapitalistischem System, auf dem sie beruhen.




Lukaschenkos Kampf gegen die Opposition und der neue Kalte Krieg

Martin Suchanek, Neue Internationale 256, Juni 2021

Die erzwungene Landung einer Boeing 737 am 23. Mai stellt einen weiteren, rücksichtslosen Schlag des belarussischen Präsidenten Lukaschenko dar. Wegen einer angeblichen Bombendrohung wurde die Maschine von einem MiG-29-Abfangjäger zur Umkehr und Notlandung in Minsk gezwungen – ein dreister und auch nur notdürftig verhüllter Akt staatlich organisierter Luftpiraterie. Anfänglich versuchte das Regime, die angebliche Bombendrohung der Hamas in die Schuhe zu schieben. Diese dementierte rasch und der verabscheuenswürdige Versuch Lukaschenkos, antiislamische westliche Ressentiments für seine Zwecke zu befeuern, ging ins Leere. Zu offensichtlich war die Lüge.

Zerschlagung der Opposition

Der eigentliche Zweck des Manövers trat in kürzester Zeit offen zutage: Die Festnahme des Oppositionellen Roman Protassewitsch. Dieser lebt seit Jahren im Exil in Athen und betreibt von dort die Video- und Telegram-Plattformen Nexta und Nexta-Live. Bei den Massendemonstrationen gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen fungierten sie als wichtige, vom Regime unabhängige Informationsquellen und Instrumente zur Vernetzung. Deshalb wird ihnen vom belarussischen Geheimdienst KGB „Terrorismus“ und Anstiftung zum Aufruhr vorgeworfen.

Mit der Festnahme, erzwungenen Geständnissen, wie sie das Staatsfernsehen veröffentlichte, einem möglichen öffentlichen Schauprozess und einer drohenden langjährigen Haftstrafe sollen zwei wesentliche Botschaften vermittelt werden.

Erstens zeigt das Regime, dass ihm alle Mittel recht sind, die Opposition zu zerschlagen und mundtot zu machen. Erzwungene Geständnisse und Reue sollen andere demoralisieren, von der Hoffnungslosigkeit weiterer regimekritischer Tätigkeit überzeugen und so zur Aufgabe bewegen. Vor allem sollen sie signalisieren, dass niemand vor dem Regime sicher ist – selbst im Ausland und selbst ein junger 26-Jähriger, der keine bekannte Führungsfigur der Opposition war.

Zweitens soll mit der Festnahme auch den verbliebenen oppositionellen Nachrichtennetzwerken ein weiterer Schlag versetzt werden. Wenige Tage vor der erzwungenen Landung der Boing 737 wurden in Belarus das letzte, der Opposition zuzurechnende Nachrichtenportal TUT.by von Polizeieinheiten erstürmt und mehrere JournalistInnen festgenommen. Schließlich zielen die Festnahme und Verhöre von Protassewitsch auch darauf, KorrespondentInnennetzwerke und Verbindungsstrukturen in Belarus selbst auszuheben, um so das Land vorm Einfluss oppositioneller Medien und Strukturen abzuschotten.

Zur Zeit fühlt sich Lukaschenko offenkundig in einer Position der Stärke. So hatte die  Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja noch vor kurzem in Wien den Wunsch nach Verhandlungen mit dem Regime geäußert. Dafür sieht Lukaschenko keinen Anlass. Nachdem die Massenbewegung selbst abgeflaut ist, versucht er, die Opposition endgültig zu zerschlagen, und stützt sich dabei auf einen überdimensionierten, schlagkräftigen und loyalen Staats- und Repressionsapparat. Eine Konfrontation mit den westlichen, imperialistischen Ländern – mit EU, Deutschland oder den USA – und Sanktionen nimmt er dafür in Kauf und setzt auf die Unterstützung durch Russland. Dieses wiederum versucht, die Situation zu nutzen, um Belarus als Halbkolonie noch enger an sich zu binden – freilich auch mit enormen finanziellen Kosten.

Charakter des Regimes

Propagandistisch versucht das belarussische Regime zudem, die Aktionen Lukaschenkos als Akt der Selbstverteidigung gegen wachsende westeuropäische oder US-amerikanische Einflussnahme hinzustellen. Die Opposition wird dabei auch zusätzlich dämonisiert, bis hin zur Unterstellung, dass Menschen wie Protassewitsch eigentlich „ExtremistInnen“ wären. So wird ihm vorgeworfen, im Alter von 16 Jahren Mitglied einer nationalistischen Organisation gewesen zu sein und mit 17 gegen als rechter Freiwilliger gegen die Republik Donbass auf Seiten der Ukraine gekämpft zu haben.

Diese Anschuldigungen gehen jedoch am Wesen der Sache vorbei. Erstens wird Protassewitsch, der selbst sicherlich kein Linker ist, seine Vergangenheit vorgeworfen, weil so von der eigentlichen Anschuldigung des Regimes, vom legitimen und fortschrittlichen, von den Massen getragenen Charakter der Bewegung gegen Lukaschenko abgelenkt werden soll. Dabei wird eine Parallele zwischen dem reaktionären Maidan und der Bewegung in Belarus konstruiert werden, die es nicht gibt.

Beim Regime Lukaschenko handelt es sich um ein reaktionäres, bonapartistisches System, das vor allem am eigenen Machterhalt interessiert ist. Die Oppositionsbewegung wiederum unterscheidet sich grundlegend vom Maidan und den faschistischen Milizen, die als dessen Sturmtruppen fungierten. Wir haben es in Belarus vielmehr mit einer demokratischen Massenbewegung gegen ein autoritäres Regime zu tun, das von der Masse der Bevölkerung, also auch der der Lohnabhängigen getragen wird.

Das Regime selbst fürchtet jede Form der Opposition, vor allem aber, dass die ArbeiterInnenklasse zu deren führender Kraft werden könnte. Daher wurden im März 2021 nicht nur Onlineportale wie Nexta zu „extremistischen“ und „terroristischen“ Organisationen erklärt. Zugleich wurden auch die Rechte der ArbeiterInnen weiter eingeschränkt. So dürfen Beschäftigte, die zu politischen Streiks oder Arbeitsniederlegungen aufrufen, fristlos entlassen werden. Im März 2021 wurden zudem AktivistInnen von Streikkomitees im Kalibergbau in Soligorsk oder beim Düngemittelwerk Grodno Asot festgenommen.

Die aktuellen Angriffe auf die Opposition, der Rückgang der Massenbewegung und deren fehlende Verankerung in der ArbeiterInnenklasse begünstigen freilich Lukaschenkos Absicht, diese zu brechen. Daher ist es umso wichtiger, dass sich die ArbeiterInnenklasse in allen Ländern mit den Lohnabhängigen, den StudentInnen und Intellektuellen in Belarus in ihrem Kampf gegen das Regime solidarisiert.

Niemand sollte sich davon beirren lassen, dass der Diktator Lukaschenko demagogisch versucht, die Tatsache zu nutzen, dass etliche OppositionsführerInnen, die in den Westen flohen, die Nähe zur EU oder zu den USA suchen und politisch eine liberale oder konservative Ausrichtung verfolgen. So wie das belarussische Regime in seiner Krise mehr und mehr auf die Unterstützung Russlands und Putins angewiesen ist, besteht natürlich die reale Gefahr, dass liberale und konservative OppositionsführerInnen im Exil zum Spielball des westlichen Imperialismus werden. Doch dieser können wir nur wirksam begegnen, wenn wir uns mit den Opfern der Repression und mit den über 1.000 politischen Gefangenen solidarisieren, deren sofortige und bedingungslose Freilassung fordern und den Aufbau einer eigenständigen politischen Partei der ArbeiterInnenklasse unterstützen.

Verlogene Kritik und Sanktionen

Die Regierungen der Nachbarländer von Belarus, aber auch Deutschland, die EU und die USA präsentieren sich seit Tagen als selbstlose UnterstützerInnen der Opposition und haben Sanktionen gegen das Regime verschärft. Diese tragen zwar wie schon in der Vergangenheit vor allem einen symbolischen Charakter, beginnen aber in einigen Bereichen – Einstellung von Flügen nach Belarus, drohendes Importverbot für Kali, sein wichtigstes Exportgut –, darüber hinauszugehen.

Die skandalöse, erzwungene Landung der Boing 737 und die Festnahme von PassagierInnen werden zwar zu Recht kritisiert. Geflissentlich wird aber verschwiegen, dass die Praxis von Kidnapping vermeintlicher GegnerInnen eine lange Tradition aller imperialistischen Mächte und etlicher reaktionärer halbkolonialer Regime verkörpert. Allen voran haben die USA seit Beginn des „Krieges gegen den Terror“ sog. „extraordinary renditions“ (außerordentliche Auslieferungen) in großem Umfang betrieben und die Ausgelieferten beispielsweise nach Guantánamo überstellt.

Auch Flugzeugentführungen oder erzwungene Routenänderungen sind nicht beispiellos. So wurde 2013 das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Morales zur Landung in Wien gezwungen, weil angeblich der von den US-Geheimdiensten gesuchte Whistleblower Edward Snowden an Bord gewesen sein soll.

Für Merkel, von der Leyen, Macron oder Biden geht es letztlich nie um Menschenrechte oder Demokratie. Diese müssen nur als Mittel zum Zweck herhalten in der größeren Konfrontation vor allem mit Russland. Die Sanktionen gegen Belarus und die westliche Politik gegenüber der Opposition verfolgen dabei mehrere Ziele. Das Land – eine der letzten, von Moskau beherrschten Halbkolonien in Europa – soll längerfristig dessen Einfluss entrissen werden. Bis dahin soll der Preis möglichst hochgetrieben werden, denn schließlich kostet Russland die Rettung des Regimes Lukaschenko auch Milliarden, um die Wirtschaft des Landes zu stützen und eine weitere ökonomische und soziale Destabilisierung zu verhindern. Die 500 Millionen Euro Soforthilfe, die Putin diesem Ende Mai in Sotschi zusagte, sind nur ein kleiner Teil der Unterstützungsgelder, die längerfristig notwendig werden.

Zugleich verschärft der Westen auch auf andere Weise den Druck. So mehren sich in der EU die Stimmen, die eine Aufrüstung der Ukraine fordern. Das jüngste Beispiel dafür ist der Vorsitzende der deutschen Grünen, Robert Habeck, der die rasche Lieferung von Defensivwaffen für Kiew forderte und damit die Bundesregierung rechts überholte.

Perspektiven

Die Heuchelei und verlogene Kritik an Lukaschenko durch die westlichen imperialistischen Staaten darf uns keineswegs hindern, die ArbeiterInnenklasse, die StudentInnen und Intellektuellen in Belarus weiter zu unterstützen. Wir müssen aber dabei auch die heuchlerische Unterstützung der Opposition durch die westlichen Mächte als das entlarven und zurückweisen, was sie ist – ein Mittel, eigene geostrategische und ökonomische Interessen in der Konkurrenz mit Russland durchzusetzen.

Die ArbeiterInnenklasse und die Linke müssen daher die Solidarität mit der Bewegung in Belarus und die Unterstützung von ArbeiterInnenorganisationen, die vom Regime unabhängig sind, mit einer Ablehnung jeder imperialistischen Einmischung – ob vom Westen oder von Russland – verbinden.

Zur Zeit mag sich Lukaschenko relativ sicher wähnen. Längerfristig ist seine Herrschaft jedoch brüchig, auf Sand gebaut. Sozial stützt sich seine Regierung fast ausschließlich auf den Staat- und Sicherheitsapparat und die Unterstützung durch den russischen Imperialismus. Auf Dauer kann eine solche soziale Basis nicht ausreichen, um das Land zu stabilisieren. Im Gegenteil: Selbst die massive Repression, abenteuerliche Entführungs- und Einschüchterungsaktionen schüchtern die Menschen nicht nur ein. Sie enthüllen unfreiwillig auch die Schwäche eines Regimes, das einen 26-jährigen Blogger anscheinend so sehr fürchtet, dass ein Flugzeug entführt wird, um seiner habhaft zu werden.

Die kleine, aber aktive belarussische Linke und die ArbeiterInnenklasse müssen zwar davon ausgehen, dass ein neuer Ausbruch der Massenbewegung im Land nicht unmittelbar bevorsteht. Früher oder später ist dieser aber angesichts der ungebrochenen Legitimitätskrise des Regimes und der sozialen und ökonomischen Verwerfungen zu erwarten, ja geradezu unvermeidlich. Darauf müssen sich die Linke und die ArbeiterInnenklasse und ihre internationalen UnterstützerInnen vorbereiten, indem sie heute, unter Bedingungen der Halblegalität und Illegalität, oppositionelle betriebliche und gewerkschaftliche Strukturen, Jugend- und StudentInnenorganisationen und vor allem eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei aufbauen.




Belarus: Offene Revolte nach der Wahlfälschung

Urte March, Neue Internationale 249, September 2020

Am Sonntag, dem 23.8.2020, erlebte Minsk einen neuen Höhepunkt der Protestwelle. Zehntausende versammelten sich zu einer nicht genehmigten Kundgebung auf dem Unabhängigkeitsplatz. Die weiß-rot-weiße Fahne des bürgerlichen Weißrusslands, das zentrale Symbol der heutigen Opposition gegen den seit 26 Jahren regierenden Präsidenten, dominierte dabei. Dieser verunglimpfte die „illegalen Demonstrationen“ als „von außen gesteuert“ und hielt sich derweil in Grodno nahe der polnischen Grenze auf, weil NATO-Truppen in Polen und Litauen entlang der Grenze ernsthaft in Bewegung seien.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow sieht Anzeichen für eine „Normalisierung“ und bezeichnete den Konflikt als innere Angelegenheit der Republik Belarus. Ein gesellschaftlicher Dialog über eine belarusische Verfassungsreform sei ein „vielversprechender Vorschlag“, um ein blutiges „ukrainisches Szenario“ zu verhindern. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der die EU-Staaten neben Belarus und Russland vertreten sind, bot sich erneut als Vermittlerin an.

Der Aufstand in Belarus ist an einem entscheidenden Punkt angelangt: Anders als 2006, 2010 und 2015 verfügt diesmal Alexander Lukaschenko (Weißrussisch: Aljaksandr Lukaschenka) wahrscheinlich wirklich über keine Mehrheit und ist auch die ArbeiterInnenklasse gegen ihn auf den Plan getreten.

Die Scheinwahl war der Funke, der ein Pulverfass sozialer Unzufriedenheit in Belarus entzündete, dessen Regierung durch immer härtere arbeiterInnenfeindliche Maßnahmen in den letzten Jahren eine krisengeschüttelte Wirtschaft gestützt hat, und wo der Staat sich geweigert hat, irgendeine Verantwortung für den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie zu übernehmen, die Lukaschenko als „Psychose“ abtat.

Ursprünge

Die Ursprünge der gegenwärtigen Krise lassen sich auf den Zerfall der UdSSR und die Unabhängigkeit im Jahr 1991 zurückführen. Als einziger Staat unter denen der ehemaligen UdSSR und des Ostblocks hat sich Belarus bisher der neo-liberalen Schocktherapie entzogen, die die bürokratischen Planwirtschaften zerstörte und zig Millionen Menschen in bittere Armut stürzte.

Stattdessen hat sich die Kaste der ehemaligen sowjetischen BürokratInnen in nationale VerwalterInnen staatlicher kapitalistischer Unternehmen verwandelt und erfolgreich die Macht an der Spitze einer immer zu einem großen Teil staatseigenen Wirtschaft konsolidiert. Die Strategie der herrschenden Elite zur Aufrechterhaltung von Macht und sozialer Stabilität bestand darin, einen vorsichtigen Balanceakt zwischen den expansionistischen Ambitionen des westlichen und des russischen Imperialismus zu vollziehen, die Vorteile ausländischer Kredite und Subventionen zu nutzen und gleichzeitig ihrem Volk grundlegende demokratische Freiheiten zu verweigern, um die interne Opposition zu unterdrücken.

Noch immer ist der staatliche Sektor für etwas mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich. Belarus unterscheidet sich stark vom oligarchischen Kapitalismus der Ukraine oder Russlands, ist aber weit entfernt von einer Planwirtschaft: Seine staatliche Industrie ist in Holdings organisiert, die auf den Weltmärkten operieren, in deren Zentrum die 3 großen Staatsbanken stehen. Da die Kredite weit über das reale Wachstum stiegen und es an inländischen Kapitalquellen mangelte, ist die Auslandsverschuldung unweigerlich angestiegen und lag schon vor der Corona-Krise bei 80 Prozent des BIP. Seit mehr als einem Jahrzehnt befindet sich Belarus in einem Teufelskreis aus Schuldenrefinanzierung, Stagnation, Währungskrise und Preisstabilitätsproblemen. Es ist daher in Bezug auf Subventionen, insbesondere in Form von billigem Öl, und Exportmärkte immer mehr von Russland abhängig.

Um das Öl am Fließen zu halten, hat Lukaschenko den aufeinander folgenden russischen Versuchen einer stärkeren Integration zwischen den beiden Staaten schrittweise nachgegeben, aber alle entscheidenden Privatisierungsschritte, die die Enteignung der einheimischen Eliten zugunsten der russischen OligarchInnen riskieren würden, verzögert oder sich ihnen widersetzt. Ebenso würden, wenn er seine Flirts mit der EU durchzöge, Darlehen und private Investitionen zweifellos von einer „Reform“, d. h. einer vollständigen Öffnung für die Marktkräfte, abhängig gemacht.

Stagnation

Trotz schleichender wirtschaftlicher Stagnation war Lukaschenko jahrzehntelang in der Lage, die Gewinne aus dem Verkauf russischen Öls umzuverteilen, um der Bevölkerung des Landes einen zumindest angemessenen Lebensstandard zu sichern, einschließlich einer universellen Gesundheitsversorgung, kostenloser Bildung, subventionierter Mieten, hoher staatlicher Renten und anderer staatlicher Wohlfahrtsprogramme. Infolgedessen war seine Regierung in der Lage, trotz ihres eisernen Griffs um die weißrussische Zivilgesellschaft ein gewisses Maß an Legitimität unter den ArbeiterInnen auf dem Land und in den Städten aufrechtzuerhalten.

Doch Lukaschenkos hartnäckige Weigerung, seine designierte Rolle als Putins Handlanger zu akzeptieren, hat zu wachsenden Spannungen zwischen den beiden Ländern geführt, was Kürzungen der russischen Ölsubventionen und Vertragsstreitigkeiten zur Folge hatte, durch die die Öllieferungen häufig unterbrochen wurden. Die immer dringendere Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Diversifizierung und der Wunsch, sich in der Ukraine-Krise nicht mit Russland zu verbünden, haben Lukaschenko dazu veranlasst, der Europäischen Union Angebote zu unterbreiten und einen „Dialog“ über die wirtschaftliche Liberalisierung im Gegenzug für mehr europäische Hilfe aufzunehmen. Der Prozess verlief langsam, doch ein vollwertiges Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wurde durch den Widerstand Litauens blockiert und wird letztlich durch die Notwendigkeit des Regimes eingeschränkt, seine Interessen zwischen Ost und West zu sichern, um seine eigene Position zu wahren.

In den letzten Jahren ist dieser Balanceakt an seine Grenzen gestoßen. Während der tiefen Rezession von 2015 bis 2017 konnte der hoch verschuldete Staat nicht antizyklisch agieren, und die Realeinkommen sanken infolge von Währungsabwertung und Preissteigerungen um 13 Prozent. Angesichts des rückläufigen Wachstums und der zunehmenden Unfähigkeit oder des Unwillens, auf Moskaus Schirmherrschaft zurückzugreifen, hat sich Lukaschenko einem Angriff auf seine eigene ArbeiterInnenklasse zugewandt, um Verluste wieder hereinzuholen und eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden.

2015 wurde das so genannte „Parasitengesetz“ eingeführt, das jede/n, der/die keine staatlich anerkannte Beschäftigung hat, zwingt, eine Sondersteuer zu zahlen oder zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt zu werden. Der Erlass wurde 2018 zurückgezogen, aber stattdessen werden Arbeitslose gezwungen, für alle staatlichen Dienstleistungen zu zahlen. Durch eine Reihe von Änderungen des Arbeitsgesetzes im Jahr 2017 wurden 90 Prozent der Beschäftigten einseitig von unbefristeten auf befristete Verträge umgestellt.

Im Gesundheits- und Bildungswesen wurden weit reichende Kürzungen vorgenommen und das Renteneintrittsalter wurde erhöht. All dies hat in Verbindung mit dem stetig fallenden Wert des belarusischen Rubels zu einer ernsthaften Verschlechterung des Lebensstandards der belarusischen ArbeiterInnenschaft geführt. Mit der Corona-Krise, den wirtschaftlichen Problemen seines wichtigsten Handelspartners (Russland) und der Höhe der aufgelaufenen Schulden steht Belarus nun am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Angesichts des bisherigen „Krisenmanagements“ von Lukaschenko während der Pandemie haben die ArbeiterInnenklasse und Teile der herrschenden Klasse das Vertrauen in die Fähigkeit des bestehenden Regimes verloren, die herannahende Katastrophe zu verhindern. Gleichzeitig veranlasst die anhaltende Abschaltung der Weltwirtschaft sowohl Russland als auch die EU, ihre Haushaltsprioritäten neu zu bewerten.

Protest

So hat sich die wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit in eine Massenbewegung des Volkes verwandelt, die riesige Teile der ArbeiterInnenklasse anzieht und durch Arbeitskampfmaßnahmen in allen Sektoren und in allen Teilen des Landes unterstützt wird. Das Ausmaß und die Breite der Aktionen offenbaren die Tiefe der politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes und den authentischen Charakter des Aufstands; eine von den USA orchestrierte „farbige Revolution“ ist dies nicht.

In den ersten Tagen der Proteste beschränkten sich die offiziellen Forderungen der Bewegung auf Aufrufe zu Neuwahlen, die von internationalen BeobachterInnen überwacht werden sollen, und auf die Freilassung inhaftierter AktivistInnen, doch am 9.8. forderten Massenproteste den sofortigen Rücktritt Lukaschenkos.

Wenn die Proteste anhalten und, was entscheidend ist, wenn die Streikbewegung wächst, um größere Teile der Wirtschaft zu lähmen, steht Lukaschenko vor der Wahl zwischen einem blutigen Durchgreifen und dem Verzicht auf die Macht. Vorerst kontrolliert das Regime immer noch Polizei und Militär, obwohl es Berichte gibt, dass sich einige Angehörige von Polizei und Armee an Demonstrationen beteiligen und DemonstrantInnen gefilmt wurden, die an SoldatInnen appellieren, sich dem Aufstand anzuschließen.

Die Demokratiebewegung ist entschlossen und genießt die Unterstützung der Massen. Ihre Unterdrückung würde wahrscheinlich anhaltende Gewalt mit sich bringen und ein Überlaufen aus dem Militär riskieren. Putin hat Lukaschenko gemäß dem Militärpakt der beiden Länder militärische Unterstützung versprochen, hat es aber bis jetzt nicht wahrgemacht, jenen zu unterstützen, den er als einen völlig unzuverlässigen Verbündeten betrachtet. Auf jeden Fall wäre die russische Hilfeleistung mit einem hohen Preis verbunden. Lukaschenko wäre sicherlich gezwungen, seine Politik der konstruktiven Zweideutigkeit gegenüber Russland aufzugeben und eine Zukunft als Treuhänder eines russischen Protektorats zu akzeptieren.

Eine Art „gelenkter Übergang“ könnte eine bevorzugte Alternative für Teile der Bürokratie werden, die hoffen, die Demokratiebewegung zu besänftigen, aber Teile des Regierungsapparates zu erhalten und die Profite aus den bevorstehenden Privatisierungen von Staatsbetrieben zu ernten.

Die Demokratiebewegung verfügt bisher nur über eine wenig organisierte politische Führung, die die Form eines spontanen Aufflammens der Unzufriedenheit der Bevölkerung annimmt. Viele FührerInnen der liberalen Opposition, die für die wirtschaftliche Liberalisierung und die volle Integration in die Weltmärkte eintreten, befinden sich im Gefängnis oder im Ausland.

Swetlana Tichanowskaja (Weißrussisch: Swjatlana Zichanouskaja), die Kandidatin der Opposition bei den Wahlen in der vergangenen Woche, hat erklärt, dass sie bereit sei, die Präsidentschaft zu übernehmen, und die Schaffung eines nationalen „Koordinierungsrates“ aus ihrem selbstgewählten Exil in Litauen angekündigt.

Viele fordern nun die internationale Anerkennung von Tichanowskajas Anspruch auf die Präsidentschaft und die EU auf, Verhandlungen zwischen den FührerInnen der Zivilgesellschaft im Exil und der amtierenden Regierung zu vermitteln. Aber es wäre ein katastrophaler Fehler, wenn die Bewegung ihr Vertrauen in die durch und durch kapitalistischen selbsternannten FührerInnen der Opposition oder ihre „FreundInnen“ in der EU setzte. Ebenso wenig sollte sie einen „Koordinierungsrat“ selbst  mit bürokratischen GewerkschaftsvertreterInnen anerkennen. Es sind die Massenkräfte der ArbeiterInnenklasse, die die Bewegung so weit gebracht haben, und sie sollten nicht zulassen, dass die VertreterInnen des liberalen BürgerInnentums die Früchte ihrer Aktionen ernten.

Auch „freie Wahlen“ allein werden das durch die Widersprüche der weißrussischen Wirtschaft verursachte Leid nicht lindern. Wenn es der Massenbewegung nicht gelingt, sich um ein alternatives politisches Programm zu organisieren und sich darauf vorzubereiten, den Übergang selbst zu verwalten, wird Lukaschenkos Weggang höchstwahrscheinlich ein neoliberales Privatisierungsprogramm einläuten, das die Wirtschaft weiter destabilisieren und Belarus in eine von der EU und Deutschland abhängige Halbkolonie verwandeln wird.

Jede/r ArbeiterIn sollte wissen: Eine neue „Schocktherapie“ unter den Bedingungen der angehäuften Schulden und unter den Umständen der globalen Pandemie wäre eine soziale Katastrophe in Belarus. Um ein solches „Experiment“ der liberalen Opposition und ihrer „WirtschaftsexpertInnen“ zu vermeiden, muss die ArbeiterInnenklasse über ihre eigene Organisation und ihr eigenes Programm verfügen, um diese Krise zu überleben.

Programm

Die erste Aufgabe besteht darin, eine Führung der ArbeiterInnenklasse zu schaffen, die in der Lage ist, den Streik auszuweiten und die Kontrolle über die Revolution von den liberalen ExilantInnen und ihren UnterstützerInnen des Großkapitals an sich zu reißen. Um wirklich demokratisch zu sein und auf die Bedürfnisse der Bewegung einzugehen, sollte sich diese Führung aus gewählten und abrufbaren DelegiertInnen in ArbeiterInnenräten zusammensetzen, die auf den großen Fabriken, Kolchosen und Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse fußen und regional und national vernetzt sind. Um diese Führung zu verteidigen, ist es von entscheidender Bedeutung, die einfachen SoldatInnen zu gewinnen und die Polizei zu entwaffnen und sie durch eine ArbeiterInnenmiliz zu ersetzen, die auf den Fabriken und großen landwirtschaftlichen Betrieben basiert.

Die WeißrussInnen brauchen freie Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung, die unter der Aufsicht der ArbeiterInnenräte durchgeführt wird. Alle Institutionen der herrschenden Klasse und des bürokratischen Staates sollten aufgelöst und durch gewählte Organe ersetzt werden, und diese sollten die Grundlage einer ArbeiterInnenregierung bilden.

Diese Regierung sollte die Tatsache, dass die Wirtschaft immer noch stark konzentriert ist, nutzen, um sie zu übernehmen, indem sie die ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion in den Großunternehmen einführt, die Schulden streicht und die Kontrolle der staatlichen Banken durch einen demokratischen Notfallplan ersetzt.

Ebenso müssen alle sozialen Dienste gegen Privatisierung oder die Einführung von Marktkräften verteidigt und von den ArbeiterInnen, die sie betreiben, umgestaltet werden. Kurz gesagt, die Antwort liegt weder in dem neoliberalen Alptraum der EU noch in Putins oligarchischen KapitalistInnen, sondern in einem Programm des Übergangs zum Sozialismus.

Natürlich kann der Sozialismus nicht isoliert aufgebaut werden, vor allem nicht in einem kleinen Land wie Belarus, aber das Beispiel der weißrussischen ArbeiterInnen und Jugendlichen würde die ArbeiterInnen Osteuropas, in den baltischen Staaten, Polen, Russland und der Ukraine, inspirieren, insbesondere da die Welt in eine weitere riesige kapitalistische Rezession stürzt.

Diese ganze Strategie, von der heutigen brennenden Aufgabe, Lukaschenko zu stürzen, bis zur Verhinderung der Unterordnung und Ausbeutung des Landes durch westliche oder russische ImperialistInnen, erfordert eine Partei der ArbeiterInnenklasse, die in der Lage ist, der Massenbewegung eine Führung zu geben.

Die SozialistInnen auf der ganzen Welt müssen sich aktiv solidarisch mit der Revolution in Belarus zeigen und sich einer Intervention Russlands oder der EU und der USA widersetzen.




Belarus: Von der Wahlfälschung zur Revolte

Urte March, Infomail 1114, 19. August 2020

Der Aufstand in Belarus ist an einem entscheidenden Punkt angelangt, wie Präsident Alexander Lukaschenko (Weißrussisch: Aljaksandr Lukaschenka) gegenüber ArbeiterInnen, die seinen Rücktritt und demokratische Wahlen forderten, erklärte: „Solange ihr mich nicht umbringt, wird es keine weiteren Wahlen geben“.

Eine Welle von Protesten und Streiks der Bevölkerung hat das Land erfasst, seit Lukaschenko am 9. August in einer dreist manipulierten Wahl einen erdrutschartigen Sieg für sich reklamiert hat. Friedliche Proteste, die zu freien und fairen Wahlen aufriefen, trafen zunächst auf brutale Unterdrückung durch die Polizei, wobei Tausende verhaftet und mindestens zwei Menschen getötet wurden. Berichte über Schläge und Folter in staatlichen Gefängnissen sind weit verbreitet. Fotos von erlittenen Verletzungen verbreiteten sich und entflammten noch mehr Menschen zu aktivem Widerstand.

Dazu gehörten ArbeiterInnen, die das staatliche Minsker Automobilwerk (MAZ), das Minsker Traktorenwerk (MTZ; auch: MTW) sowie das riesige BElaz-Automobilwerk in Zhodino in der Nähe der Hauptstadt verließen. In den folgenden Tagen organisierten die Beschäftigten in fast allen großen Industriezweigen Streiks aus Solidarität mit den DemonstrantInnen und forderten Neuwahlen und Freiheit für alle inhaftierten Protestierenden und Oppositionellen. Am Sonntag beteiligten sich über einhunderttausend Menschen an der bisher größten Demonstration in der Geschichte des Landes.

Die Scheinwahl war der Funke, der ein Pulverfass sozialer Unzufriedenheit in Belarus entzündete, dessen Regierung durch immer härtere arbeiterInnenfeindliche Maßnahmen in den letzten Jahren eine krisengeschüttelte Wirtschaft gestützt hat, und wo der Staat sich geweigert hat, irgendeine Verantwortung für den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie zu übernehmen, die Lukaschenko im Gefolge anderer „starker Männer“ wie Trump und Bolsonaro als „Psychose“ abtat.

Ursprünge

Die Ursprünge der gegenwärtigen Krise lassen sich auf den Zerfall der UdSSR und die Unabhängigkeit im Jahr 1991 zurückführen. Als einziger Staat unter denen der ehemaligen UdSSR und des Ostblocks hat sich Belarus bisher der neo-liberalen Schocktherapie entzogen, die die bürokratischen Planwirtschaften zerstörte und zig Millionen Menschen in bittere Armut stürzte.

Stattdessen hat sich die Kaste der ehemaligen sowjetischen BürokratInnen – Lukaschenko selbst ist ehemaliger Leiter einer Kolchose – in nationale VerwalterInnen staatlicher kapitalistischer Unternehmen verwandelt und erfolgreich die Macht an der Spitze einer immer zu einem großen Teil staatseigenen Wirtschaft konsolidiert. Die Strategie der herrschenden Elite zur Aufrechterhaltung von Macht und sozialer Stabilität bestand darin, einen vorsichtigen Balanceakt zwischen den expansionistischen Ambitionen des westlichen und des russischen Imperialismus zu vollziehen, die Vorteile ausländischer Kredite und Subventionen zu nutzen und gleichzeitig ihrem Volk grundlegende demokratische Freiheiten zu verweigern, um die interne Opposition zu unterdrücken.

Die staatseigene und bürokratisch geführte Wirtschaft, die innerhalb der Grenzen eines internationalen kapitalistischen Marktes existiert, war nicht in der Lage, genügend ausländische Investitionen anzuziehen oder die Produktivität seiner Schwerindustrie zu entwickeln. Außerdem ist sie extrem stark von russischen Ölsubventionen und Exportmärkten abhängig.

Noch immer ist der staatliche Sektor für etwas mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich. Belarus unterscheidet sich stark vom oligarchischen Kapitalismus der Ukraine oder Russlands, ist aber weit entfernt von einer Planwirtschaft: Seine staatliche Industrie ist in Holdings organisiert, die auf den Weltmärkten operieren, in deren Zentrum die 3 großen Staatsbanken stehen. Da die Kredite weit über das realen Wachstum stiegen und es an inländischen Kapitalquellen mangelte, ist die Auslandsverschuldung unweigerlich angestiegen und lag schon vor der Corona-Krise bei 80 Prozent des BIP. Seit mehr als einem Jahrzehnt befindet sich Belarus in einem Teufelskreis aus Schuldenrefinanzierung, Stagnation, Währungskrise und Preisstabilitätsproblemen. Es ist daher in Bezug auf Subventionen, insbesondere in Form von billigem Öl, und Exportmärkte immer mehr von Russland abhängig.

Um das Öl am Fließen zu halten, hat Lukaschenko den aufeinander folgenden russischen Versuchen einer stärkeren Integration zwischen den beiden Staaten schrittweise nachgegeben, aber alle entscheidenden Privatisierungsschritte, die die Enteignung der einheimischen Eliten zugunsten der russischen OligarchInnen gefährden würden, verzögert oder sich ihnen widersetzt. Ebenso würden, wenn er seine Flirts mit der EU durchzöge, Darlehen und private Investitionen zweifellos von einer „Reform“, d. h. einer vollständigen Öffnung für die Marktkräfte, abhängig gemacht.

Trotz schleichender wirtschaftlicher Stagnation war Lukaschenko jahrzehntelang in der Lage, die Gewinne aus dem Verkauf russischen Öls umzuverteilen, um der Bevölkerung des Landes einen zumindest angemessenen Lebensstandard zu sichern, einschließlich einer universellen Gesundheitsversorgung, kostenloser Bildung, subventionierter Mieten, hoher staatlicher Renten und anderer staatlicher Wohlfahrtsprogramme. Infolgedessen war seine Regierung in der Lage, trotz ihres eisernen Griffs um die weißrussische Zivilgesellschaft ein gewisses Maß an Legitimität unter den ArbeiterInnen auf dem Land und in den Städten aufrechtzuerhalten. Regelmäßige Äußerungen pro-demokratischer Gefühle haben keine breitere Unterstützung gefunden und wurden leicht unterdrückt.

Stagnation

Doch Lukaschenkos hartnäckige Weigerung, seine designierte Rolle als Putins Handlanger zu akzeptieren, hat zu wachsenden Spannungen zwischen den beiden Ländern geführt, was Kürzungen der russischen Ölsubventionen und Vertragsstreitigkeiten zur Folge hatte, durch die die Öllieferungen häufig unterbrochen wurden. Die immer dringendere Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Diversifizierung und der Wunsch, sich in der Ukraine-Krise nicht mit Russland zu verbünden, haben Lukaschenko dazu veranlasst, der Europäischen Union Angebote zu unterbreiten und einen „Dialog“ über die wirtschaftliche Liberalisierung im Gegenzug für mehr europäische Hilfe aufzunehmen. Der Prozess verlief langsam, doch ein vollwertiges Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wurde durch den Widerstand Litauens blockiert und wird letztlich durch die Notwendigkeit des Regimes eingeschränkt, seine Interessen zwischen Ost und West zu sichern, um seine eigene Position zu wahren.

In den letzten Jahren ist dieser Balanceakt an seine Grenzen gestoßen. Während der tiefen Rezession von 2015 bis 2017 konnte der hoch verschuldete Staat nicht antizyklisch agieren, und die Realeinkommen sanken infolge von Währungsabwertung und Preissteigerungen um 13 Prozent. Angesichts des rückläufigen Wachstums und der zunehmenden Unfähigkeit oder des Unwillens, auf Moskaus Schirmherrschaft zurückzugreifen, hat sich Lukaschenko einem Angriff auf seine eigene ArbeiterInnenklasse zugewandt, um Verluste wieder hereinzuholen und eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden.

2015 wurde das so genannte „Parasitengesetz“ eingeführt, das jede/n, der/die keine staatlich anerkannte Beschäftigung hat, zwingt, eine Sondersteuer zu zahlen oder zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt zu werden. Der Erlass wurde 2018 zurückgezogen, aber stattdessen werden Arbeitslose gezwungen, für alle staatlichen Dienstleistungen zu zahlen. Durch eine Reihe von Änderungen des Arbeitsgesetzes im Jahr 2017 wurden 90 Prozent der Beschäftigten einseitig von unbefristeten auf befristete Verträge umgestellt.

Im Gesundheits- und Bildungswesen wurden weit reichende Kürzungen vorgenommen und das Renteneintrittsalter wurde erhöht. All dies hat in Verbindung mit dem stetig fallenden Wert des belarussischen Rubels zu einer ernsthaften Verschlechterung des Lebensstandards der belarussischen ArbeiterInnenschaft geführt. Mit der Corona-Krise, den wirtschaftlichen Problemen seines wichtigsten Handelspartners (Russland) und der Höhe der aufgelaufenen Schulden steht Belarus nun am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Angesichts des bisherigen „Krisenmanagements“ von Lukaschenko während der Pandemie haben die ArbeiterInnenklasse und Teile der herrschenden Klasse das Vertrauen in die Fähigkeit des bestehenden Regimes verloren, die herannahende Katastrophe zu verhindern. Gleichzeitig veranlasst die anhaltende Abschaltung der Weltwirtschaft sowohl Russland als auch die EU, ihre Haushaltsprioritäten neu zu bewerten.

Protest

So hat sich die wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit in eine Massenbewegung des Volkes verwandelt, die riesige Teile der ArbeiterInnenklasse anzieht und durch Arbeitskampfmaßnahmen in allen Sektoren und in allen Teilen des Landes unterstützt wird. Das Ausmaß und die Breite der Aktionen offenbaren die Tiefe der politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes und den authentischen Charakter des Aufstands; eine von den USA orchestrierte „farbige Revolution“ ist dies nicht.

In den ersten Tagen der Proteste beschränkten sich die offiziellen Forderungen der Bewegung auf Aufrufe zu Neuwahlen, die von internationalen BeobachterInnen überwacht werden sollen, und auf die Freilassung inhaftierter AktivistInnen, doch am Sonntag forderten Massenproteste den sofortigen Rücktritt Lukaschenkos. Die Bewegung hat eine Eigendynamik entwickelt, die die Legitimität des Regimes rasch untergräbt.

Wenn die Proteste anhalten und, was entscheidend ist, wenn die Streikbewegung wächst, um größere Teile der Wirtschaft zu lähmen, steht Lukaschenko vor der Wahl zwischen einem blutigen Durchgreifen und dem Verzicht auf die Macht. Vorerst kontrolliert das Regime immer noch Polizei und Militär, obwohl es Berichte gibt, dass sich einige Angehörige von Polizei und Armee an Demonstrationen beteiligen und DemonstrantInnen gefilmt wurden, die an SoldatInnen appellieren, sich dem Aufstand anzuschließen.

Die Demokratiebewegung ist entschlossen und genießt die Unterstützung der Massen. Ihre Unterdrückung würde wahrscheinlich anhaltende Gewalt mit sich bringen und ein Überlaufen aus dem Militär riskieren. Putin hat Lukaschenko gemäß dem Militärpakt der beiden Länder militärische Unterstützung versprochen, hat es aber bis jetzt nicht wahrgemacht, jenen zu unterstützen, den er als einen völlig unzuverlässigen Verbündeten betrachtet. Auf jeden Fall wäre die russische Hilfeleistung mit einem hohen Preis verbunden. Lukaschenko wäre sicherlich gezwungen, seine Politik der konstruktiven Zweideutigkeit gegenüber Russland aufzugeben und eine Zukunft als Treuhänder eines russischen Protektorats zu akzeptieren.

Eine Art „gelenkter Übergang“ könnte eine bevorzugte Alternative für Teile der Bürokratie werden, die hoffen, die Demokratiebewegung zu besänftigen, aber Teile des Regierungsapparates zu erhalten und die Profite aus den bevorstehenden Privatisierungen von Staatsbetrieben zu ernten. Die Demokratiebewegung verfügt bisher nur über eine wenig organisierte politische Führung, die die Form eines spontanen Aufflammens der Unzufriedenheit der Bevölkerung annimmt. Viele FührerInnen der liberalen Opposition, die für die wirtschaftliche Liberalisierung und die volle Integration in die Weltmärkte eintreten, befinden sich im Gefängnis oder im Ausland. Die Bewegung steht an einer kritischen Schwelle. Was als Nächstes kommt, wird davon abhängen, welche Art von politischer Führung sich herausbildet, um die Unzufriedenheit zu kanalisieren.

Swetlana Tichanowskaja (Weißrussisch: Swjatlana Zichanouskaja), die Kandidatin der Opposition bei den Wahlen in der vergangenen Woche, hat erklärt, dass sie bereit sei, die Präsidentschaft zu übernehmen, und die Schaffung eines nationalen „Koordinierungsrates“ aus ihrem selbstgewählten Exil in Litauen angekündigt. Sie erklärte:

„Ich bitte Sie, sich im Koordinationsrat zu vereinen. Wir brauchen dringend Ihre Hilfe und Erfahrung. Wir brauchen Ihre Verbindungen, Kontakte, Ihren fachlichen Rat und Ihre Unterstützung. Diesem Koordinierungsrat sollten alle beitreten, die an Dialog und friedlicher Machtübergabe interessiert sind – Arbeitsgruppen, Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen der Zivilgesellschaft.“

Viele fordern nun die internationale Anerkennung von Tichanowskajas Anspruch auf die Präsidentschaft und die EU auf, Verhandlungen zwischen den FührerInnen der Zivilgesellschaft im Exil und der amtierenden Regierung zu vermitteln. Aber es wäre ein katastrophaler Fehler, wenn die Bewegung ihr Vertrauen in die durch und durch kapitalistischen selbsternannten FührerInnen der Opposition oder ihre „FreundInnen“ in der EU setzte. Ebenso wenig sollte sie einen „Koordinierungsrat“ selbst  mit bürokratischen GewerkschaftsvertreterInnen anerkennen. Es sind die Massenkräfte der ArbeiterInnenklasse, die die Bewegung so weit gebracht haben, und sie sollten nicht zulassen, dass die VertreterInnen des liberalen BürgerInnentums die Früchte ihrer Aktionen ernten.

Auch „freie Wahlen“ allein werden das durch die Widersprüche der weißrussischen Wirtschaft verursachte Leid nicht lindern. Wenn es der Massenbewegung nicht gelingt, sich um ein alternatives politisches Programm zu organisieren und sich darauf vorzubereiten, den Übergang selbst zu verwalten, wird Lukaschenkos Weggang höchstwahrscheinlich ein neoliberales Privatisierungsprogramm einläuten, das die Wirtschaft weiter destabilisieren und Belarus in eine von der EU und Deutschland abhängige Halbkolonie verwandeln wird.

Die Erfahrungen Polens und der baltischen Staaten in den 1990er Jahren zeigen, dass dies zu noch größeren Angriffen auf die ArbeiterInnen, zu Arbeitslosigkeit, Sparmaßnahmen und Inflation führen wird, die den verbleibenden Schutz der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen rasch untergraben werden. Jede/r ArbeiterIn sollte es wissen: Eine neue „Schocktherapie“ unter den Bedingungen der angehäuften Schulden und unter den Umständen der globalen Pandemie wäre eine soziale Katastrophe in Belarus. Um ein solches „Experiment“ der liberalen Opposition und ihrer „WirtschaftsexpertInnen“ zu vermeiden, muss die ArbeiterInnenklasse über ihre eigene Organisation und ihr eigenes Programm verfügen, um diese Krise zu überleben.

Programm

Dies bedeutet für die Bewegung jedoch keinesfalls, ihre Risiken abzustecken und auf einen „weniger riskanten“ Moment zu warten, um ihre Forderungen gegenüber der Regierung durchzusetzen. Vielmehr  muss sie, müssen insbesondere die ArbeiterInnen in den Fabriken, die  absolut unerlässliche Perspektive eines umfassenden Generalstreik entfalten, um den Tyrannen auszuschalten. Nur wenn Lukaschenko zweifelsfrei erkennt, dass seine SoldatInnen seine Diktatur nicht wiederherstellen werden, wenn er verhaftet wird oder aus dem Land flieht, wird die Revolution sicher sein.

Die erste Aufgabe besteht darin, eine Führung der ArbeiterInnenklasse zu schaffen, die in der Lage ist, den Streik auszuweiten und die Kontrolle über die Revolution von den liberalen ExilantInnen und ihren UnterstützerInnen des Großkapitals an sich zu reißen. Um wirklich demokratisch zu sein und auf die Bedürfnisse der Bewegung einzugehen, sollte sich diese Führung aus gewählten und abrufbaren DelegiertInnen in ArbeiterInnenräten zusammensetzen, die auf den großen Fabriken, Kolchosen und Wohnvierteln der ArbeiterInnenklasse fußen und regional und national vernetzt sind. Um diese Führung zu verteidigen, ist es von entscheidender Bedeutung, die einfachen SoldatInnen zu gewinnen und die Polizei zu entwaffnen und sie durch eine ArbeiterInnenmiliz zu ersetzen, die auf den Fabriken und großen landwirtschaftlichen Betrieben basiert.

Die WeißrussInnen brauchen freie Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung, die unter der Aufsicht der ArbeiterInnenräte durchgeführt wird. Alle Institutionen der herrschenden Klasse und des bürokratischen Staates sollten aufgelöst und durch gewählte Organe ersetzt werden, und diese sollten die Grundlage einer ArbeiterInnenregierung bilden.

Diese Regierung sollte die Tatsache, dass die Wirtschaft immer noch stark konzentriert ist, nutzen, um sie zu übernehmen, indem sie die ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion in den Großunternehmen einführt, die Schulden streicht und die Kontrolle der staatlichen Banken durch einen demokratischen Notfallplan ersetzt.

Ebenso müssen alle sozialen Dienste gegen Privatisierung oder die Einführung von Marktkräften verteidigt und von den ArbeiterInnen, die sie betreiben, umgestaltet werden. Kurz gesagt, die Antwort liegt weder in dem neoliberalen Alptraum der EU noch in Putins oligarchischen KapitalistInnen, sondern in einem Programm des Übergangs zum Sozialismus.

Natürlich kann der Sozialismus nicht isoliert aufgebaut werden, vor allem nicht in einem kleinen Land wie Belarus, aber das Beispiel der weißrussischen ArbeiterInnen und Jugendlichen würde die ArbeiterInnen Osteuropas, in den baltischen Staaten, Polen, Russland und der Ukraine, inspirieren, insbesondere da die Welt in eine weitere riesige kapitalistische Rezession stürzt.

Diese ganze Strategie, von der heutigen brennenden Aufgabe, Lukaschenko zu stürzen, bis zur Verhinderung der Unterordnung und Ausbeutung des Landes durch westliche oder russische ImperialistInnen, erfordert eine Partei der ArbeiterInnenklasse, die in der Lage ist, der Massenbewegung eine Führung zu geben.

Die SozialistInnen auf der ganzen Welt müssen sich aktiv solidarisch mit der Revolution in Belarus zeigen und sich einer Intervention Russlands oder der EU und der USA widersetzen.