China: Vor dem Scheitern des nationalen Projektes 0-Covid?

Resa Ludivien, Infomail 1185, 20. April

Jahrelang erschien Chinas 0-Covidstrategie eine erfolgreiche und lebensrettende Alternative zur vorherrschenden Pandemiepolitik im Westen. Bis heute sind dort nur wenige Tausend Menschen an Corona verstorben, während in den USA mittlerweile fast eine Million an Covid-19 verstorben sind (Stand 19.4.22: 989.331). In den Vereinigten Staaten verstarben bisher 300 Menschen je 100.000 Einwohner:innen, in Deutschland 160,1, in China eine Person.

Paradoxerweise erscheint jedoch die Politik Chinas, folgen wir dem Tenor der westlichen Öffentlichkeit, als die gescheiterte, während wir hier endlich wieder auf Freiheit und das „Leben mit der Pandemie“, also der stillschweigenden Inkaufnahme weiterer Wellen und Toter zu leben gelernt hätten.

Gründe dafür gibt es mehrere. Aber klar ist, dass die chinesische Strategie samt ihre drakonischen Maßnahmen vor dem Hintergrund der Lage auf dem Weltmarkt, ökonomischer Probleme im Inneren, aber auch des autoritären Charakters der Pandemiepolitik der Bürokratie an ihre Grenzen stößt.

Dabei war die chinesische Politik zu Beginn der Pandemie über Monate, ja Jahre erfolgreich. Die Zahl der Toten und Infizierten konnte auf einem vergleichsweise geringen Niveau gehalten werden. Während sich Länder wie Deutschland von Lockdown zu Lockdown hievten und nun Impfpflicht oder Masken als unter „ferner liefen“ gelten, schien in China schnell wieder „alles beim Alten“. Hätte das Land eine den USA oder auch nur Deutschland vergleichbare Politik eingeschlagen, wären heute nicht Tausende, sondern Millionen Chines:innen der Pandemie zum Opfer gefallen.

Jetzt bestätigt sich wieder einmal, dass man globale Probleme wie eine Pandemie auch nur weltweit lösen kann. Chinas Abschottungspolitik sowie das Beharren auf einem eigenen Impfstoff haben den Ausbruch nur verschleppt, der auch durch mangelnde Maßnahmen und Mutationen in anderen Ländern provoziert wurde. Der derzeitige Ausbruch der Omikronvariante trifft auf eine nur in Teilen immunisierte Gesellschaft und zwingt die KP zum Handeln, damit sie an ihrem Narrativ der überlegeneren Strategie festhalten kann.

Grenzen der Strategie

Die chinesische Coronastrategie war auch im Rahmen des Systemkampfes wichtig. Überlegenheit wurde dem In- und Ausland suggeriert. Doch jetzt befinden sich Millionenstädte wie Shanghai, Beijing oder Shenzhen im Lockdown – ein Lockdown, der im Wesen seinesgleichen sucht. Der chinesische Alltag in diesen Städten bedeutet nun leere Straßen, abgeriegelte Viertel, sogar versiegelte Wohnungen, Ausgang nur zu den staatlich vorgeschriebenen Coronatests und eine steigende Überwachung, die sogar die bisherige übertrifft.

Die Versorgung der Menschen ist in Gefahr. In den betroffenen Gebieten beschweren sich die Anwohner:innen über eine schlechte staatliche Versorgung bis hin zu Lebensmittelknappheit. Selbst einzukaufen, ist so gut wie unmöglich. Daneben trifft die Omikronwelle auch in China auf ein belastetes und wahrscheinlich bald überlastetes Gesundheitssystem. Neben chinesischer traditioneller Medizin ist ein weiteres seiner Merkmale das Fehlen von Hausärzt:innen. Bist du krank, gehst du ins Krankenhaus. Viele Kollateralschäden sind hier zu erwarten: Menschen, die nicht hätten sterben müssen, wenn es genügend Ärzt:innen, Kapazitäten geben würde oder sie genügend Geld für eine Sonderbehandlung hätten. In westlichen Medien liest man nun von dramatischen Szenen, in denen Menschen abgewiesen oder infizierte Kleinkinder von ihren Eltern getrennt werden. Die soziale Sprengkraft der Situation ist greifbar. Auf Shanghais Straßen wird bereits das Militär eingesetzt, um der Lage und des Unmuts Herr zu werden.

Gerade scheint es, als könnte das Virus einen der schwersten Angriffe auf den chinesischen Imperialismus verkörpern, den dieser bisher gesehen hat. Derweil läuft die Propaganda weiter. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt wird nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Handels, der Rüstung und Militarisierung, sondern auch als Kulturkampf ausgetragen – sowohl innerhalb Chinas als auch darüber hinaus. Die Propagandamaschinerie für das Militär und vor allem gegen die USA soll auch gegen den Trend arbeiten, dass seit Jahren chinesische Familien eine starke Westbindung entwickelt haben und bspw. in die USA gehen, um ihre Kinder auf die Welt zu bringen, oder sich für die Ausbildung an westlichen Universitäten entscheiden. Beides sollte den Kindern später bessere Lebensbedingungen garantieren.

Seit der Öffnungspolitik nach Maos Tod und spätestens nach der Machtübernahme Xi Jinpings inszenierte sich China als ein Land im Aufschwung. Tatsächlich gewann der Staat an Macht im internationalen Gefüge und auch die chinesische Wirtschaft holte massiv auf. Für die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, also die Masse der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen galt das weitestgehend nicht. Außerhalb der schicken Innenstadtviertel von Großstädten zeigt sich ein ganz anderes Bild. Auch in Städten wie Beijing werden ärmere Menschen diskriminiert. Vor allem der Hukou (ein innerchinesischer Wohnsitzausweis), der besagt, wer sich wo aufhalten und ansiedeln darf, sorgt noch für ein weiteres Kontrollelement.

Illegale Arbeit im Untergrund stellt hier die einzige Möglichkeit dar. Nun steht die Wirtschaft vielerorts still und auch Pendler:innen von außerhalb kommen nicht in die Städte zur Arbeit. Das Essen wird rationiert und in die isolierten Viertel gebracht. Nur wie sollen Menschen überleben, die es eigentlich gar nicht geben darf? Auch ins Krankenhaus zu gehen, wird dadurch erschwert. Am meisten leiden arme Menschen, denn kein Ausgang bedeutet keine Arbeit, keine Arbeit bedeutet kein Gehalt und kein Gehalt bedeutet kein Essen.

Hinzu kommt, dass aufgrund der raschen Verbreitung von Omikron nicht nur die Zahl der Infizierten, sondern auch der Städte und Regionen und somit der Menschen, die von Lockdowns betroffen sind, weitaus höher ist als bei vorhergehenden Wellen. Greift die Regierung hier nicht ein, drohen nicht nur weitere Unruhen, sondern auch eine selbst verursachte Hungerkrise, sofern die Zahlen weiter steigen und die einzige noch vorhandene Maßnahme Lockdowns sind.

Wie China gegen Proteste und Abweichler:innen vorgeht, hat die Regierung in den letzten Jahren deutlich gemacht. Das Militär wurde gestärkt und die Überwachung ausgebaut. Deren Relevanz für einen vermeintlichen sozialen Frieden hat sich vor allem in Hongkong und Xinjiang gezeigt, wobei die Politik der Bürokratie auch an eine Ausrottungsmaßnahme grenzt, ob gewollt oder ungewollt. Überall wo Protest entsteht, verschwinden Menschen und landen in „Gefängnissen“, die eher an Folterlager erinnern. Dennoch gab es in den letzten Jahren immer wieder Einzelne und Gruppen, die das in Kauf genommen haben, bspw. im Rahmen der #MeToo-Proteste, und auch jetzt gibt es immer mehr Videos in den sog. sozialen Netzwerken, die Proteste zeigen. Auf diese folgen oft Verhaftung und Verurteilung. Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Sowohl in China als auch hierzulande haben die letzten Monate und Jahre sehr deutlich gezeigt, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise und imperialistisches Machtstreben keinen gesellschaftlichen Frieden bringen, keinen Wohlstand für alle und globale Konflikte nicht lösen können. Im Gegenteil: Das Versagen im Kampf gegen die Coronapandemie hat einmal vor Augen geführt, dass die Unterordnung der Gesundheit der Bevölkerung unter kurzfristige Profitinteressen Millionen das Leben kostet.

Krise und Widerstand

Doch in Zeiten der Krise und wachsender ökonomischer Schwierigkeiten stößt die Coronapolitik der chinesischen Regierung selbst an Grenzen – und damit auch auf den Unmut von Millionen. Sie betrachten wahrscheinlich schon heute die Politik der KP aus einem anderen Blickwindel. Aus dieser Erkenntnis kann Handeln, einschließlich spontaner Protestaktionen verzweifelter Menschen, folgen. Zugleich ist mit massiver Repression zu rechnen.

Damit Unmut und etwaige Proteste jedoch nicht einfach Episoden bleiben oder brutal zerschlagen werden, brauchen sie erstens klare soziale und politische Forderungen. Diese müssen eine Sicherung der Versorgung aller – also auch der Menschen ohne gültige Papiere, der Armen und Wohnungslosen – beinhalten, also Nahrungsmittel, Zugang zu Gesundheitsvorsorge. Wo Knappheit an Ressourcen herrscht, müssen diese gemäß den Bedürfnissen, nicht den Privilegien in der Gesellschaft verteilt werden. Um überhaupt eine rationale Versorgung zu sichern, muss die Offenlegung aller bestehenden Ressourcen wie auch des wirklichen Stands der Pandemie eingefordert werden. Plattformen wie Weibo (ein chinesischer Mikrobloggingdienst ähnlich Facebook und Twitter) sollten dazu genutzt werden.

Solche Forderungen stellen faktisch die Kontrolle der Bürokratie in Frage. Um die Zuteilung von Gütern zu sichern, sollen in den Betrieben, Gesundheitseinrichtungen, in den Wohnblöcken und Stadtvierteln von der Bevölkerung Ausschüsse zur Organisation und Kontrolle dieser Arbeiten gewählt werden. Von entscheidender Bedeutung wird es dabei sein, dass diese Strukturen in den Betrieben verankert sind und ihre Forderungen mit Aktionen Nachdruck verleihen können. Regionen wie Shanghai bilden heute nicht nur Zentren der chinesischen, sondern der Weltwirtschaft. Angesichts der Pandemie wäre es auch essentiell, solche Strukturen nicht nur in den Regionen unter Lockdown aufzubauen, sondern auch die Arbeiter:innen in den anderen Landesteilen zur Unterstützung aufzufordern. Die Pandemie wird schließlich vor niemandem/r Halt machen und die Alternative zum bürokratisch-autoritären Lockdown lautet nicht Öffnung fürs Kapital, sondern Lockdown unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innen.

Eine Politik der Arbeiter:innenklasse wird sicherlich auf den Widerstand der chinesischen KP-Spitzen und erst recht der Kapitalist:innen im Land treffen. Daher muss nicht nur mit Repression gerechnet werden. Ihre politisch bewusstesten Teile müssen die Lage auch nutzen, um den politischen Bruch mit der KP voranzubringen, die das Wort kommunistisch im Namen nicht verdient hat und eher einer Politkaste gleicht, die die imperialistischen Interessen des chinesischen Kapitals vorantreibt. Daher braucht es in China eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei, die unter den Bedingungen der Diktatur und Unterdrückung aufgebaut werden kann. Die aktuelle Krise der Coronapolitik, die ökonomischen Probleme Chinas und mögliche Massenproteste und Aktionen können die Bedingungen für deren Entstehung extrem begünstigen.

Für uns in Europa oder den USA muss die internationale Solidarität im Vordergrund stehen, die Unterstützung jeden Schrittes zur Bildung einer von der Bürokratie unabhängigen Arbeiter:innenbewegung einerseits sowie des Kampfs gegen die imperialistische Propaganda auf allen Seiten andererseits. Das bedeutet für uns auch, sich von der chauvinistischen und rassistischen Rhetorik über Chines:innen zu lösen wie auch von dem westlich-imperialistischen Narrativ, dass China in der Pandemie auf eine Politik der Öffnung und Durchseuchung hätte setzen sollen, damit seine Produktion für den Weltmarkt nicht ins Stocken gerät. Das Problem der chinesischen Coronapolitik besteht nicht darin, dass das Land „zu viel“ getan hat, sondern dass sie bürokratisch und repressiv erfolgt ist und die Pandemie nicht international koordiniert bekämpft wurde.




„Neue starke Männer“ zum Kampf für Chinas Vormachtstellung in der Welt?

Resa Ludivien (Sympathisantin von REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Schaut man chinesische Serien, so finden sich immer mehr starke Frauenfiguren auf dem Bildschirm. Noch verwunderlicher ist es, dass, im Vergleich zum westlichen Pendant ganz normale Dinge einen Platz in 45 Minuten bekommen. Wann hatte in einer deutschen Serie das letzte Mal eine Frau ihre Tage, was nicht nur erwähnt wurde, um ihre schlechte Stimmung zu erklären?

Fernab von Fiktion ist die Entwicklung in Festland-China allerdings seit Jahren eine andere und sie spitzt sich zu. Militarisierung, Stärkung tradierter Männlichkeitsideale und ein neuer Rechtfertigungszwang für diversere Frauenbilder bestimmen den Alltag. Im folgenden Artikel soll diese Entwicklung beschrieben und analysiert sowie ein Überblick des Frauenbildes in China geliefert werden.

Geschlechterverhältnisse in China: Long Story Short

Im konfuzianischen Weltbild gibt es nur eine Beziehung, die als gleich dargestellt wird: nämlich zwischen Freund_Innen, wobei hier in erster Linie Männer gemeint sind. Der Ideologie zufolge sind alle dem Staat untergeordnet, Kinder den Eltern und Frauen den Männern. Dieses Weltbild war jahrhundertelang prägend. Doch es hatte eine materielle Grundlage. Die ökonomischen Verhältnisse in China unterschieden sich von der vorkapitalistischen Wirtschaft in Europa. Marx fasste diese unter asiatische Produktionsweise (auch wenn sie auch in anderen Teilen der Welt vorkam) zusammen.

In dieser erfüllte der Staat wesentliche, stark zentralisierte Funktionen zur Sicherung der Gesamtreproduktion der Gesellschaft (Bewässerung, Handel, Austausch zwischen den Agrargemeinden, Militär). Auf dieser Grundlage konnten nicht nur große Agrarterritorien regiert werden, wo die Dorfgemeinde (später tw. auch individuelle Bauern) noch Eigentümer von Grund und Boden war/en, an den Staat ein Mehrprodukt in Form von Tribut ablieferten.

Obwohl es immer wieder zu Aufständen kam, die sogar zu Herrschaftswechseln und Einsetzung einer neuen Herrschaftselite führten, blieben die eigentlichen Produktionsverhältnisse am Land davon weitgehend unberührt.

Eine starke Rolle in diesem Staat der herrschenden Klasse bildeten Beamte (nur Männer). Diese besaßen nicht nur das Macht-, sondern auch das Wissensmonopol. Die Rolle der Frau war demnach, bis auf den kaiserlichen Hof, eher eine arbeitende.

Beschäftigt man sich mit den Geschlechter- und Schönheitsidealen des vormodernen China, so ist davon auszugehen, dass vor allem die Verhältnisse der herrschenden Klasse bis heute überliefert sind. Über die normale Bevölkerung wissen wir hingegen wenig, da sie in Abbildungen und Texten weniger vorkommt und diese nicht selber hervorgebracht habt. Sie war zu sehr mit Produzieren beschäftigt. Allerdings waren Schönheitsideale bereits vor 1.000 Jahren nicht nur auf Frauen konzentriert. Immer wieder gab es Zeiten, in denen Männer, die sich schminkten, ganz normal waren. Außerdem darf man nicht vergessen, dass in den vormodernen Gesellschaftsstrukturen Chinas die Geschlechterverhältnisse keineswegs deckungsgleich mit europäischen waren.

Durch das Vordringen des Weltmarktes und damit verbundene Umwälzung der Klassenbeziehungen, soziale Bewegungen und nicht zuletzt die maoistische Führung wurde dieses Weltbild v. a. im 20. Jahrhundert stark aufgebrochen. So hinkte die Technik unter Mao Wirtschaftsplänen hinterher und Frauen wurden als Arbeiter_Innen gebraucht. Dies spiegelte sich auch in der Propaganda wider. Gleichzeitig kann man nicht von einer gänzlichen Gleichberechtigung von Frauen sprechen. Denn dazu zählt nicht nur die Gleichstellung auf rechtlicher und ökonomischer Ebene, sondern auch gesellschaftlich und somit auch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Die Ein-Kind-Politik und auch die starke Bevorzugung von männlichen Babys stehen im krassen Widerspruch zur Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Jedoch gab es nach Maos Tod eine Zeit der Entspannung in China. Doch diese war nicht nachhaltig. In der KP von heute stehen vor allem Männer in den ersten Reihen. Und spätestens mit der Übernahme durch Xi Jinping wurden die chinesische Politik und Gesellschaft neustrukturiert. Dazu gehört auch die bewusste Förderung tradierter konfuzianischer Vorstellungen von Ordnung und Unterordnung sowie reaktionären Geschlechterrollen.

Xi Jinping zieht die Zügel an

Im ostasiatischen Raum ist Südkorea in der Popkultur seit mehreren Jahren der Maßstab. Von K-Pop, bis Serien begegnen einem dort auch Männerbilder, die fernab westlicher Vorstellungen sind. Werden hierzulande schon Menschen wegen etwas Nagellack schief angesehen, ist es dort kein Problem, als Nicht-XX-Chromosomensatz geschminkt aufzutreten und großen Wert auf die äußere Erscheinung zu legen. Auch chinesische Schauspieler nähern sich diesem Ideal oft an. Doch sind „verweichlichte“ Männer, womit Schminke von reaktionären Kräften auch assoziiert wird, der Parteiführung mittlerweile ein Dorn im Auge. Die nationale und somit KP-gesteuerte Filmindustrie soll sich diesem Trend entgegenstellen. Zum Teil bedeutet das sogar die Zensur solcher Filme und Serien. Doch warum werden Männer mit Schminke als so große Gefahr angesehen?

Bedenkt man, dass Menschen, die nicht in das binäre und heteronormative System passen, vor allem LGBTIQA, in China stark bekämpft werden, ist das nicht sehr verwunderlich. Sie werden als krasses Gegenstück für die herrschenden Geschlechterverhältnisse und als Angriff auf die soziale Ordnung gesehen. Des Weiteren gibt es auch einen politischen Hintergrund für das Verstärken eines vermeintlich traditionellen Männerbildes.

Im Rahmen zunehmender globaler Konkurrenz und eines Blockbildungsprozesses auf Militarisierung und „traditionelle“ Männlichkeit zu setzen, ist nichts Neues. Auch Putin greift zu diesem Narrativ „des Hüters der Männlichkeit“. Dieses betrifft nicht nur die offizielle politische Ebene, sondern auch die scheinbar private. Schönheitsideale werden politisch. Schminke gilt als Verweichlichung der starken Männer. Dieses Weltbild betrifft nicht nur Männer, die sich dem nicht unterwerfen, sondern auch vor allem Frauen und nonbinäre oder trans Personen. Denn das Pendant ist nicht die kämpferische Frau, sondern das krasse Gegenteil: Die „gute“ Frau sorgt sich um den Herd und trägt einen Rock, ähnlich dem westlichen Familienbild der 1950er Jahre.

Dieser reaktionäre Wandel des Frauenbildes wird vor dem Hintergrund der veränderten Rolle Chinas als aufstrebende imperialistische Macht verständlich. Mittlerweile stellt es den Hauptrivalen der niedergehenden Hegemonialmacht USA dar. Schaut man sich die Versuche an, Halbkolonien in die eigene Einflusssphäre einzubinden, ist sein Weg zur Weltmacht z. B. bei der „Neuen Seidenstraße“ deutlich erkennbar. Doch auch im Inland gibt es Auswirkungen des Blockbildungsprozesses.

Das Militär ist in China mittlerweile omnipräsent: seien es stetig wiederkehrende Militärreklame, die an Werbespots erinnert, Truppen bei Zugreisen oder in Bahnhöfen, wie man sie in wahrscheinlich keinem europäischen Land in diesem Umfang zu sehen bekommt. Die letzten Jahre und Monate hat China nicht nur auf ökonomischer und diplomatischer Ebene, vor allem in halbkolonialen Ländern in Afrika, Asien oder Südosteuropa, seinen Einfluss verstärkt. Auch im Inland bzw. dem Gebiet, welches die chinesische Regierung als solches betrachtet, wurden Militäraktionen immer präsenter und aus Sicht der Regierung notwendiger. In Taiwan läuten unaufhörlich die Alarmglocken, da das chinesische Militär immer stärker in dessen Luftraum eindringt. Des Weiteren kam es auch bei den Protesten in Hongkong zum Einsatz. Wie es in Xinjiang oder Tibet aussieht, lässt sich aufgrund der immer schlechter werdenden Informationslage nur vermuten. Sucht man nach „Zhongguojunren“ (chinesische Soldat_Innen), erscheinen in erster Linie Bilder von Männern in Uniform. Frauen und Militär sind an sich eigentlich kein Widerspruch und Frauen und Kämpfer_Innen schon gar nicht. Allerdings scheint der neue Kurs vor allem auf Männer ausgerichtet zu sein. Diese Entwicklung symbolisiert auch das staatlich verordnete Männlichkeitsbild.

Frauen als Systemstörung!?

Die Frauen werden in den Hintergrund gedrängt, zurück an den Herd, während die Männer kampfbereit gemacht werden sollen. Neben der strategischen Militarisierung Chinas spielt noch ein weiteres Element hinein. Auch der chinesischen Wirtschaft hat die Corona-Pandemie, vor allem zu Beginn, geschadet. Zusätzlich muss eine innerchinesische Schuldenkrise abgewendet werden (siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/19/china-was-heisst-lehman-auf-chinesisch/).

Zwei Krisen auf einmal also, die den Aufstieg gefährden könnten! Der eingeschlagene Kurs auf Stärkung reaktionärer Geschlechterrollen und das Zurückdrängen der Frauen stellt dabei auch ein Mittel zur Spaltung der Ausgebeuteten und zur Schwächung und Isolierung von Widerstand und Protest dar. Dabei manifestierten sich in den letzten fünf Jahren durchaus Proteste unter der Beteiligung von Frauen und gesellschaftlich unterdrückten Gruppen, die der Linie der KP-Führung im Weg stehen. Dazu zählen Proteste der LGBTIAQ-Bewegung ebenso wie Streiks im Care-Sektor oder „#MeToo“-Ableger in chinesischen „sozialen Medien“ oder der Versuch, in China als Single-Frauen anerkannt und in Ruhe gelassen zu werden. (Siehe Frauenzeitung 2020: „Frauen in China: die Verliererinnen des Aufschwungs?“)

Diese Bewegungen haben auch gezeigt: Frauen stellen eine „Gefahr“ dar. Gleichzeitig sind sie unabdinglich für Reproduktion und Reproduktionsarbeit, zuhause und gesellschaftlich, sowie als Reserve im Kriegsfall. Daher muss ein Weg gefunden werden, um sie in Schach zu halten. Sie aus dem ökonomischen Kreislauf heraus- und zurück nachhause zu drängen, ist ein Mittel, um ihre Unabhängigkeit und Mitbestimmung zu beschneiden. Um die längerfristige Machterhaltung der KP zu ermöglichen und gleichzeitig den Einfluss in der Welt zu stärken, ist die stärkere Unterordnung der Gesellschaft und vor allem der Frauen unabdingbar.

Die Rhetorik Xi Jinpings greift zur Formierung einer kampfbereiten Gesellschaft auf altbewährte Phrasen zurück. Das alte philosophische Konstrukt des „Tianxia“, was so viel wie alle unter einem Himmel bedeutet, ist sein Credo. In diesem Fall ist es nicht nur ein philosophisches Modell, sondern ein Kampfbegriff, unter dem sich imperialistische Politik betreiben lässt und der sich geradezu anbietet. Alte Größe wiederherstellen, indem man auf lange tradierte, funktionierende und stark verankerte Konstrukte zurückgreift, funktioniert. Erstens, weil die Ideen stark in der chinesischen Kultur verankert und daher in der Bevölkerung anschlussfähig sind. Zweitens, weil gerade der Konfuzianismus stark hierarchisch geprägt ist. Die Unterordnung unter den Staat steht an erster Stelle, die Durchsetzung des patriarchalen Systems folgt darauf und stützt wiederum den Staat. Schließlich basieren Kapitalakkumulation und Herausbildung einer Kapitalist_Innenklasse im chinesischen Imperialismus darauf, dass die Staatsbürokratie eine aktive, vorantreibende Rolle spielt.

Gemeinsamer Kampf!

Daran zeigt sich, dass die Forcierung reaktionärer Geschlechterrollen eng mit der Entwicklung des Kapitalismus und Militarismus verknüpft ist. Der Kampf gegen die neuen Formen der Unterdrückung und die Stärkung patriarchaler Strukturen und Ideologien braucht einerseits ökonomische Organisierung, aber auch gemeinsamen Widerstand gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im öffentlichen und privaten Raum.

Ein Kampf gegen die Verhältnisse ist jedoch keiner von Frauen allein. Auch eine Organisierung von LGBTIAQ-Menschen liegt in unserem Interesse, u. a. weil es hier bereits Strukturen gibt und auch Erfahrungen mit der Arbeit im Untergrund. Doch eine sozialistische Antwort ist nicht nur auf ein Geschlecht fokussiert.

Das Vorgehen der chinesischen Regierung richtet sich nicht nur gegen die Stellung von Frauen in der Gesellschaft, sondern birgt auch für Männer eine Gefahr, weil es ein Teil der Formierung des chinesischen Kapitalismus darstellt und eng mit dem Kampf um die Weltmachtrolle Chinas verknüpft ist.

Der Kampf muss dabei unter Bedingungen der Illegalität geführt werden müssen, was auch einschließt, Dynamiken für offene Auseinandersetzungen z. B. in Betrieben zu nutzen, wo sie entstehen. Vor allem aber geht es darum, eine politische Organisation, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen und den Sexismus auf allen Ebenen mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbindet. Auch in China steht der Hauptfeind der Arbeiter_Innenklase und der ländlichen Armut im eigenen Land.




China: Xi Jinping rüstet sich gegen stürmisches Wetter

Peter Main, Infomail 1170, 19. November 2021

Eine Schlagzeile aus China lautet, dass das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Parteiam 11. November eine „historische Resolution“ zur Geschichte der Partei verabschiedet hat, in der Xi Jinping der gleiche Status wie Mao Zedong (Mao Tse-tung) und Deng Xiaoping zuerkannt wird. Zusammen mit der vorangegangenen Verfassungsänderung, mit der die Begrenzung auf zwei Amtszeiten für PräsidentInnen aufgehoben wurde, unterstreicht diese Auszeichnung Xis Machtkonsolidierung innerhalb der Partei. Zumindest hat es den Anschein.

Die wichtigste Nachricht aus China aber ist, dass der zu erwartende Konkurs von Evergrande die Zahlungsunfähigkeit vieler anderer großer Immobilienunternehmen in den Fokus rückt und die Auswirkungen des wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. (Siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/10/19/china-was-heisst-lehman-auf-chinesisch/)

Andere große Unternehmen wie Sinic, Fantasia und China Modern Land sind mit Tilgungen ihrer Anleihen in Verzug geraten und auch Kaisa, eine Immobilienverwaltungsgesellschaft, ist gefährdet. Die Lage von Evergrande wurde durch die Enthüllung verschlimmert, dass das Unternehmen große Summen von einer Bank geliehen hatte, die ihm teilweise gehört, was einen Verstoß gegen die Bankvorschriften darstellen könnte.

Auf internationaler Ebene brachten die Schwierigkeiten von Evergrande verheerende Auswirkungen auf die auf Dollar lautenden Anleihen, mit sich die andere chinesische ImmobilienentwicklerInnen Finanzmittel beschaffen. Im Juni boten diese 10 Prozent Zinsen, jetzt müssen sie 29 Prozent offerieren, was weit in den Bereich der „Schrottanleihen“ hineinreicht. Das bedeutet, dass chinesische BauträgerInnen keine internationalen Kredite aufnehmen können.

Am 12. November berichtete die Financial Times außerdem, dass chinesische Anleihen in der Regel zu einem höheren Kurs, aber einer niedrigeren Umlaufrendite als andere angeboten wurden, weil sie als sehr risikoarm galten – der „China-Aufschlag“. KommentatorInnen sprechen jetzt von einem „China-Abschlag““ – was bedeutet, dass die Anleihen zu einem niedrigeren Kurs, aber einer höheren Marge angeboten werden müssen, weil das Risiko höher eingeschätzt wird.

Partei

Hat irgendetwas davon Einfluss auf Xi Jinpings neuen und erhabenen Status? Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Die Kommunistische Partei ist für das gesamte chinesische Regierungssystem von derart zentraler Bedeutung, dass sich jede Veränderung ihrer Struktur, ihrer Führung oder ihrer propagandistischen Schwerpunkte mit Sicherheit in umfassenden Entwicklungen in der Gesellschaft ausdrücken wird.

Die zentrale Stellung der Partei ist in ihrer Geschichte verwurzelt. In der langen Periode der territorialen Doppelherrschaft zwischen der Niederlage von 1927 und dem Sieg von 1949 war die Partei der entscheidende Faktor für den Zusammenhalt der Landesteile, die insgesamt doppelt so groß wie Frankreich waren und etwa 100 Millionen EinwohnerInnen zählten.

Neben der Verwaltung der von ihr kontrollierten Gebiete steuerte die Partei natürlich auch die Entwicklung der Volksbefreiungsarmee. Kurzum, die Partei stellte das Personal für einen sich entwickelnden Staatsapparat, der durch die Kombination ihrer Volksfrontstrategie zur Erlangung der Macht und ihrer bürokratisch-zentralistischen Disziplin zusammengehalten wurde, die beide von der Kommunistischen Internationale unter Stalin eingeführt worden waren.

Es wurde ein bürgerlicher Staatsapparat mit einer zivilen Verwaltung, einem Rechtssystem und einer Armee aufgebaut. Nach der Niederlage der Guomindang (Kuomintang) im Jahr 1949 konnten die entsprechenden Elemente des bestehenden chinesischen Staates, die von politisch unzuverlässigem Personal gesäubert worden waren, relativ leicht in den kommunistisch kontrollierten Apparat integriert werden.

Trotz wilder politischer Ausschläge in den letzten 70 Jahren ist die „führende Rolle“ der Partei das bestimmende Merkmal des chinesischen politischen Systems geblieben. Die Partei stellt nicht nur alle Schlüsselfiguren in allen Ministerien des Staates. Ihre 92 Millionen Mitglieder bilden ein Netz der Überwachung und Kontrolle in der gesamten Gesellschaft. Jeder große Betrieb muss ein Parteikomitee haben, jeder Stadtbezirk hat seine Parteiorganisation.

Ein solches System verleiht der Führung natürlich enorme Macht, hat aber auch seine Schattenseiten: Die schiere Größe der Organisation und ihre derart tiefe gesellschaftliche Einbindung bedeuten zwangsläufig, dass unterschiedliche, potenziell widersprüchliche Ideen und soziale Kräfte ihren Weg in die Partei finden.

Im Rahmen des Systems bürokratischer Planung, das nie so zentralisiert war wie im sowjetischen Modell, auf dem es ursprünglich beruhte, führte dies zu weit verbreiteter Korruption, Vorteilsnahme für die eigene Familie, bevorzugten Beförderungen, Sonderrationen und – auf höherer Ebene – zu regionalem Vorrang bei der Zuteilung von Entwicklungsgeldern und Ähnlichem. Die Restauration des Kapitalismus öffnete jedoch vollends alle Schleusentore. Die Bewilligung immer engerer Verbindungen zwischen Partei und Kapital wurde dadurch signalisiert, dass „Geschäftsmänner“ – und dies waren in der Regel Männer – nun Parteimitglieder werden konnten.

Gleichzeitig wurden viele Parteimitglieder entweder selbst zu KapitalistInnen oder zu KapitalverwalterInnen im Auftrag des Staates oder eines Unternehmens. Solange die Wirtschaft als Ganzes expandierte, stellte der wachsende Einfluss kapitalistischer Interessen innerhalb der Partei kein großes Problem dar. In der Tat spielte der Parteistaatsapparat die von Marx beschriebene Rolle des (mehr als ideellen) „Gesamtkapitalisten“ und lenkte die Gesamtwirtschaft im Interesse der Kapitalakkumulation, die, wie in anderen Ländern, als „nationales Interesse“ dargestellt wurde.

Spannungen

Der Kapitalismus wächst jedoch weder beständig noch gleichmäßig. Selbst in einem hochgradig verstaatlichten Kapitalismus wachsen verschiedene Sektoren in unterschiedlichem Tempo oder eben nicht, und die Ökonomie als solche wird von der Dynamik der Weltwirtschaft beeinflusst. Diese unvermeidlichen Schwankungen müssen nun in Form verschiedener Gruppierungen innerhalb der Partei ihren Ausdruck finden.

Die Realität des Kapitalismus bedeutet, in China wie überall, dass mit größerer Kapitalakkumulation auch größere soziale Ungleichheit einhergeht. In einem Land, das von einer Organisation regiert wird, die sich selbst als kommunistische Partei bezeichnet, wirkt dieser Gegensatz jedenfalls potentiell sehr destabilisierend. Die Legitimität des Regimes, die durch Chinas traditionelle politische Kultur gestärkt wird, beruht auf dessen Fähigkeit, die soziale Ordnung und den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Die weit verbreiteten Berichte, wonach Xi jetzt den Schwerpunkt auf den Aufbau eines „gemeinsamen Wohlstands“ lege, aber auch seine Maßnahmen gegen eine Reihe von MilliardärInnen sind eindeutige Belege für Versuche, diese Legitimität zu untermauern.

Als die Partei 1945 eine Resolution verabschiedete, in der Mao Zedongs politische und theoretische Errungenschaften mit denen von Marx und Lenin gleichgesetzt wurden, bedeutete dies seinen Sieg über andere Fraktionen innerhalb der Partei. Auch Deng Xiaopings Resolution zur Geschichte der Partei, in der er Maos Verdienste und Fehler in einem Verhältnis von 70 zu 30 Prozent einstufte, markierte 1978 seinen Sieg über die Überbleibsel von Maos Regime, der „Viererbande“. Wie sollten wir dann Xi Jinpings Erhebung in den Pantheon, den höchsten Tempel der Partei durch das Zentralkomitee verstehen?

Wandel

Das zunehmend autoritäre und repressive Regime, das Xi eingeführt hat, deutet auf ein anderes Szenario hin. Es handelt sich nicht um einen Sieg über rivalisierende Fraktionen, sondern um einen Präventivschlag in Vorbereitung auf kommende Kämpfe. Xis Anspruch auf Vormachtstellung beruht auf der Behauptung, dass er die Nachfolge von Mao und Deng antrete und das Parteiziel vom „Sozialismus chinesischer Prägung“ als Spielart des „Sozialismus in einem Land“ vollende.

Laut Xi erfordern weitere Fortschritte eine Änderung der Wirtschaftsstrategie, deren Ziel die Verwirklichung des „dualen Kreislaufs“ sein wird. Was dies genau bedeutet, wird möglicherweise im 14. Fünfjahresplan dargelegt, der Anfang nächsten Jahres verabschiedet werden soll, aber der Begriff kursiert bereits seit einiger Zeit und impliziert eine geringere Abhängigkeit von internationalen Lieferketten und eine stärkere Betonung der steigenden Verbrauchernachfrage in China selbst. Das Modell einer autarkeren Volkswirtschaft mag an den „Sozialismus in einem Land“ erinnern, aber der Zeitpunkt zeigt, dass es eher als Reaktion auf die von Washington auferlegten Handelsschranken betrachtet werden muss, insbesondere für in den USA entwickelte Hightech-Güter.

Die Abkehr von der durch Deng Xiaoping verfolgten Strategie einer „Großen Internationalen Zirkulation“, die darin bestand, das riesige Arbeitskräfteangebot Chinas zu nutzen, um seine Wirtschaft in den Weltmarkt zu integrieren, wird sicherlich zu großen Veränderungen in der Prioritätensetzung innerhalb Chinas führen. Die Entscheidung, gegen die Baubranche und somit den Immobiliensektor vorzugehen, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die Folgen, mögliche große Konkurse und Veränderungen in den Zulieferindustrien, sind die ersten Anzeichen dafür, wie weit Xis Führung zu gehen bereit ist.

Es muss damit gerechnet werden, dass wichtige Teile des Kapitals und vor allem der Belegschaften die Weisheit der neuen Politik in Frage stellen und vielleicht sogar versuchen werden, sich ihr zu widersetzen. Das ist genau der Grund, warum das Regime in den letzten Jahren immer repressiver geworden ist – und warum es notwendig war, Xi ideoloigsch aufzuwerten und somit zu stärken, um die Unterbindung jeglichen Widerspruchs zu rechtfertigen.

Für SozialistInnen bietet die Aussicht auf interne Meinungsverschiedenheiten innerhalb eines solchen autokratischen Regimes die Möglichkeit, eine marxistische Kritik nicht nur an unmittelbaren politischen Entscheidungen, sondern am Charakter des gesamten Regimes und seiner Geschichte zu fördern. Das strategische Ziel ist, wie in allen Ländern, die Bildung einer ArbeiterInnenpartei mit einem Programm für den revolutionären Sturz des Kapitalismus durch unabhängige Organisationen auf Grundlage von ArbeiterInnenräten.

Diejenigen, die sich diesem Ziel verschreiben, müssen einen organisatorischen Rahmen schaffen, in dem die Schlüsselelemente eines solchen Programms ebenso wie die notwendigen Taktiken entwickelt werden, um es in die Kämpfe einzubringen, das kapitalistische China in den kommenden Jahren mit Sicherheit erschüttern werden.




China: Was heißt „Lehman“ auf Chinesisch?

Peter Main, Infomail 1167, 19. Oktober 2021

Nun, eine genaue Übersetzung gibt es nicht, aber vielleicht wäre „Evergrande“ eine gute Entsprechung. So wie Lehman Brothers einst als Unternehmenssymbol für den nicht enden wollenden Boom der Globalisierung galt, so stand Evergrande, ein Immobilienentwickler und keine Bank, einst als Unternehmenssymbol für den ständig wachsenden Reichtum Chinas seit der Restauration des Kapitalismus.

Und wie bei Lehman Brothers hat sich gezeigt, dass die Symbolik auf Bergen von Schulden beruht, die nicht zurückgezahlt werden können. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollte Evergrande Auslandsanleihen im Wert von rund 11,9 Mrd. US-Dollar rückerstatten. Am 23. September sollte das Unternehmen 83,5 Mio. US-Dollar an Zinsen für eine Anleihe zahlen, was jedoch nicht geschah. Am 29. September waren weitere 45,2 Mio. US-Dollar für eine andere Anleihe fällig, die ebenfalls nicht beglichen wurden. Infolgedessen obliegt Evergrande nun eine 30-tägige „Gnadenfrist“, bevor das Unternehmen für zahlungsunfähig erklärt wird.

Noch schlimmer sind die Schulden bei chinesischen GläubigerInnen, die auf 310 Milliarden US-Dollar geschätzt werden. Früher sagte man, wenn man einer Bank 1 Million US-Dollar schuldet, hat man ein großes Problem, aber wenn man bei einer Bank mit 100 Millionen US-Dollar im Soll steht, hat die Bank ein großes Problem – und 350 Milliarden US-Dollar … ?

Implikationen

Die Bedeutung von Evergrande liegt nicht nur darin, dass es sich um ein riesiges Unternehmen handelt, das wahrscheinlich in Konkurs gehen wird. Es ist bei weitem nicht der einzige Immobilienentwickler, der mit demselben Problem konfrontiert ist. Im vergangenen Jahr hatte Country Garden Holdings den höchsten Umsatz in der Branche, sein Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten liegt bei 78,5 Prozent und damit weit über dem von der Regierung festgelegten Grenzwert. Nach Angaben von Morgan Stanley hat der Immobiliensektor insgesamt Schulden in Höhe von 2,8 Billionen US-Dollar und macht etwa 30 Prozent des BIP aus. Die Auswirkungen des möglichen Zusammenbruchs von Evergrande gehen jedoch tiefer, als selbst diese Zahlen vermuten lassen.

In vielerlei Hinsicht ist das Unternehmen ein Produkt des gesamten Wirtschaftsmodells Chinas seit der Wiederherstellung des Kapitalismus. Es wurde 1996 von Hui Ka Yan (Xu Jiayin), einem Metallarbeiter, gegründet, um die neuen Möglichkeiten zu nutzen, die sich durch die Abschaffung der Planwirtschaft eröffneten. Zuvor basierten die Ausgaben der Kommunalverwaltungen auf zentral zugewiesenen Zuschüssen. Als diese abgeschafft wurden, begannen die Kommunalverwaltungen, durch den Verkauf von Grundstücken an Bauträger Geld zu beschaffen.

Angesichts des Ausmaßes der Verstädterung, als Hunderte von Millionen Menschen in die schnell wachsenden Städte strömten, war die Aufnahme von Krediten zum Kauf von Grundstücken, auf denen sowohl Industrie als auch Wohnungen gebaut werden sollten, nicht nur lukrativ, sondern auch politisch vorteilhaft. Die Beziehungen zwischen der lokalen Regierung, den Bauträgern und den örtlichen, staatseigenen Banken blühten auf, und die Verträge wurden natürlich von den lokalen FunktionärInnen der Kommunistischen Partei beaufsichtigt. Was konnte da schon schiefgehen?

Zwanzig Jahre lang lief aus Sicht von Hui nichts schief. Nach der Finanzkrise von 2008/9, als China sein riesiges Ausgabenprogramm startete, hätte es kaum besser laufen können. Im Jahr 2015 wurde sein Vermögen auf 45 Milliarden US-Dollar geschätzt und er wurde von den Großen und Mächtigen gefeiert. In jenem Jahr begleitete er Xi Jinping selbst auf seiner Reise nach London, wo er von Prinz Andrew im Buckingham Palace empfangen wurde – auch wenn er jetzt vielleicht nicht mehr auf diese besondere Liaison hinweisen würde.

Ironischer Weise wurde auch 2015 zum ersten Mal deutlich, was alles schiefgehen kann. Ein Zusammenbruch der Börse in Shanghai offenbarte die Kluft zwischen der Bewertung vieler Unternehmen und ihrem tatsächlichen Vermögen. (Mehr dazu unter: https://fifthinternational.org/content/china-free-market-not-going-according-plan) Die unmittelbare Reaktion der Regierung, nämlich das Einfrieren aller Aktivitäten auf den Märkten, stellte die Stabilität recht schnell wieder her, aber danach wurden Regeln eingeführt, um das Wachstum der Schulden zu begrenzen, insbesondere durch die staatlichen Banken.

Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Geschäftsmodell der Bauträger, die sich nicht mehr auf die leichten Kredite der staatlichen Banken verlassen konnten, die das „Wachstum“ ungeachtet der finanziellen Tragfähigkeit finanzieren wollten. Stattdessen begannen Hui und andere wie er, getreu ihrem optimistischen Motto „Baut es und sie werden kommen“, Kapital für ihre Bauprojekte zu beschaffen, indem sie „außerhalb des Plans“ verkauften, d. h. Immobilien veräußerten, bevor sie gebaut wurden. Einem Bericht der französischen Investmentbank der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, Natixis, zufolge machen solche Finanzierungen inzwischen 54 Prozent der Immobilienentwicklung aus.

Rote Linien

Im Juli letzten Jahres führte die Regierung noch strengere Vorschriften ein, die als „drei rote Linien“ bezeichnet werden, um die Immobilienspekulation einzudämmen. Die „Linien“ beziehen sich auf die Begrenzung dreier Schlüsselkennzahlen, nämlich des Verhältnisses von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten, von Nettoverschuldung zu Eigenkapital und von Liquiditätsmitteln zu kurzfristigen Krediten. 14 der 30 größten Bauträger Chinas haben in den letzten Monaten mindestens eine dieser roten Linien überschritten.

Solche Verstöße haben gezeigt, dass der gesamte Sektor am Rande einer Krise steht. Zum einen kamen sie trotz des optimistischen Mottos jedoch nicht, und nun stehen in einigen Regionen derzeit rund 30 Millionen Wohnungen in China leer. Andererseits hat der Mangel an Finanzmitteln dazu geführt, dass die im Voraus bezahlten Wohnungen nicht gebaut wurden. Schätzungen zufolge hat Evergrande 1,6 Millionen Wohnungen nicht ausgeliefert.

In einem Interview mit der Financial Times bemerkte Jim Chanos, der dafür bekannt ist, den Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron vorhergesagt zu haben: „In vielerlei Hinsicht muss man sich keine Sorgen machen, dass es sich um eine Situation wie bei Lehman handelt, aber in vielerlei Hinsicht ist es viel schlimmer, weil es symptomatisch für das gesamte Wirtschaftsmodell und die Schulden ist, die dahinter stehen. Alle Bauträger sehen so aus. Der gesamte chinesische Immobilienmarkt steht auf Stelzen.“

Hier liegt das Dilemma für die Regierung in Peking: Fast ein Drittel der heimischen Wirtschaft ist finanziell nicht lebensfähig. Hier geht es nicht darum, ob Hui Ka Yan zum Sündenbock gestempelt werden soll, sondern um ganze Industrien, um Vermögenswerte im Wert von Billionen von US-Dollar und um 1,6 Millionen Familien, die dachten, sie hätten ein Haus gekauft.

Wie die chinesische Regierung damit umgeht, bleibt abzuwarten. Die „Gnadenfrist“ endet am 23. Oktober. Wenn die Zinszahlungen nicht geleistet werden und Evergrande für zahlungsunfähig erklärt wird, sind die GläubigerInnen berechtigt, Vermögenswerte zu beschlagnahmen. Zuvor wird der Staat wahrscheinlich Maßnahmen zum Verkauf von Vermögenswerten, zur Umstrukturierung der Schulden und möglicherweise zur Aufteilung des Konglomerats in getrennte Geschäftsbereiche ergreifen, um lebensfähige Teile zu ermitteln. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Staat die Fertigstellung bereits verkaufter Projekte garantieren, um die soziale Stabilität zu gewährleisten. Er hat nunmehr branchenweite Regeln eingeführt, die vorschreiben, dass alle Einnahmen aus „Vorverkäufen“ separat unter lokaler Bankenaufsicht zu verbuchen sind.

Ansteckung

Auch wenn solche Notmaßnahmen die unmittelbaren Auswirkungen des Zusammenbruchs von Evergrande begrenzen mögen, so kann dies jedoch nicht ohne dramatische Folgen für den gesamten Immobilienentwicklungssektor bleiben, denn wie wir gesehen haben, sind auch andere Unternehmen von einem Ausfall bedroht. Da ihre Anleihen von anderen Unternehmen gehalten werden, die sie als Sicherheiten für ihre eigene Kreditaufnahme verwenden können, besteht die ernste Gefahr einer „Ansteckung“ über die säumigen SchuldnerInnen hinaus. Sicherlich werden viele GläubigerInnen einen Schnitt hinnehmen müssen, indem sie nur einen Prozentsatz ihrer fälligen Rückzahlungen akzeptieren. Vor allem ausländische InvestorInnen werden wahrscheinlich keine weiteren Kredite an Bauunternehmen in China vergeben.

Selbst wenn diese Maßnahmen ausreichen, um einen weitreichenden Zusammenbruch des gesamten Sektors zu verhindern, was nicht garantiert ist, wird die Schuldenkrise zweifellos starke Auswirkungen auf die Wirtschaft im Allgemeinen haben. Abgesehen von den unmittelbaren Folgen unvollendeter Projekte stellt dies die Politik in Frage, die für Chinas Wirtschaftswachstum insbesondere seit der Krise von 2008/9 von zentraler Bedeutung war: Investitionen in Infrastruktur und Bauwesen.

Viele ÖkonomInnen haben argumentiert, dass eine solche Änderung notwendig ist, und gefordert, den Schwerpunkt auf den Binnenkonsum zu verlagern, um die Wirtschaft „wieder ins Gleichgewicht“ zu bringen. Doch selbst wenn Xi und die Parteiführung dem zustimmen, wird es viele Interessengruppen geben, die sich dem widersetzen. Das stellt ein grundlegendes Problem für das gesamte politische Regime dar.

Xi selbst wurde erst nach einem langwierigen Fraktionskampf innerhalb der KP Chinas Präsident (siehe unsere Untersuchung dazu) und festigte in seiner ersten Amtszeit die Position seiner Fraktion durch eine Säuberung von GegnerInnen, wobei er den „Linken“ in der Partei den Vorzug gab, die sich gegen eine weitere Aushöhlung der staatlichen Kontrolle und Zugeständnisse an den Privatsektor aussprachen.

In seiner zweiten Amtszeit, seit 2017 und im Zuge der Finanzkrise von 2015, gab es dagegen mehrere hochkarätige Maßnahmen gegen einige der reichsten KapitalistInnen in China. So wurde beispielsweise nur wenige Tage vor dem Börsengang (öffentliches Gründungsangebot; IPO) von Jack Ma’s Ant Group an der Shenzhener Börse, bei dem die höchste IPO-Bewertung aller Zeiten erwartet wurde, die Börsennotierung staatlicherseits gestoppt. Ma, selbst Mitglied der KP Chinas und Milliardär, wurde monatelang nicht gesehen, hat die Entscheidung aber inzwischen akzeptiert.

Die Parteidisziplin ist zweifellos ein starker Faktor, und auch Repression kann sehr wirksam sein, aber die Nachwirkungen des Immobiliencrashs und die Aussicht auf eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik müssen innerhalb der Partei Konsequenzen tragen. Alte Fraktionen werden sich bestätigt fühlen, neue werden sich bilden. Es kann gar nicht anders sein, denn die Partei selbst hat „Geschäftsleute“ zum Beitritt ermutigt, und nach 30 Jahren des Aufbaus des Kapitalismus sind viele StaatsbeamtInnen, das Rückgrat der Partei, selbst in eine weitere kapitalistische Entwicklung verstrickt.

Es sind diese Spannungen und Widersprüche, die hinter dem zunehmend autoritären Regime in China stehen: die verstärkte Bevölkerungskontrolle durch Überwachungsprogramme, die mörderische Unterdrückung der UigurInnen in Xinjiang, das Vorgehen gegen demokratische Rechte in Hongkong, die kriegerische Behauptung, dass Taiwan unter chinesische Souveränität zurückkehren muss. Dies alles ist nicht mit der persönlichen Psychologie von Xi Jinping zu erklären, wie es oft dargestellt wird, sondern eine Vorbereitung auf stürmische Zeiten.




China als Modell?

Das isw Müncheni und der chinesische Imperialismus

Alex Zora, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

Der Aufstieg Chinas in den letzten vier Jahrzehnten dürfte kaum jemanden entgangen sein. Ausgehend von den Reformen unter Deng Xiaoping hat in China in den vier Jahrzehnten seit 1978 eine riesige gesellschaftliche Umwälzung stattgefunden. Es ist nicht nur die weltweit größte industrielle ArbeiterInnenklasse aus hunderten Millionen ehemaligen Bauern und Bäuerinnen entstanden, sondern China hat es auch geschafft, zu einer ernsthaften Konkurrenz zu den USA aufzusteigen. Grund genug, China und seine „sozialistischen Marktwirtschaft“, wie die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land gerne bezeichnet, zu untersuchen. Diese Erkenntnis hat sich auch im eurokommunistisch geprägten Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung in München (isw) durchgesetzt, und in den letzten 10 Jahren gab es mehrere Ausgaben ihres mehrmals jährlich erscheinenden Reports, die sich China bzw. dem Konflikt China-USA widmeten, mit deren Analysen wir uns im folgenden Beitrag beschäftigen wollen. Sie stehen auch weitgehend im Einklang – wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen und Schattierungen – mit den Einschätzungen, die auch rund um die europäische Linkspartei, das Netzwerk „transform! Europe“ oder die deutsche Rosa-Luxemburg-Stiftung weit verbreitet sind.

Neuer Kalter Krieg?

Schon unter Präsident Obama wurde der Dreh- und Angelpunkt der US-Außenpolitik (pivot to asia) auf Asien gelegt. Durch China ausschließende Freihandelsabkommen wie TPP sollte es ökonomisch und politisch isoliert und im Rahmen der „regelbasierte internationalen Ordnung“, die in erster Linie von den USA etabliert wurde, bekämpft werden.

Seit der Wahl von Donald Trump war klar, dass sich in der herrschenden Klasse der USA die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass China längst zum wichtigsten strategischen Gegner aufgestiegen war und mit einseitigen Maßnahmen der USA bekämpft werden müsse – auch ohne Verbündete, wenn nötig. Trumps China-Politik ist indikativ dafür, dass sich ein immer größerer Teil der US-Bourgeoisie nicht mehr auf die Mechanismen der internationalen Freihandelsordnung verlässt. Mit dem Beitritt Chinas zur WTO hatte man sich seine Durchdringung mit US- und, in geringerem Maße, auch europäischem Kapital erhofft, um es in eine untergeordnete neokoloniale Rolle herabzudrücken. Die Erfahrung seit 2001 zeigte aber, dass sich China in den letzten zwei Jahrzehnten nicht stärker in eine Abhängigkeit der traditionellen imperialistischen Metropolen begeben, sondern – insbesondere durch die Wirtschaftskrise 2008/09 – sich eine deutlich eigenständigere und unabhängigere Rolle verschafft hat.

Statt den Strategien der Obama Ära hat sich also in den letzten Jahren die Meinung in der US-Bourgeoisie durchgesetzt, dass man sich gegenüber China mit allen Mitteln verteidigen müsste. Wichtige VertreterInnen beider Parteien der US-Bourgeoisie heißen Trumps Strafzölle gegen China gut. Immer wieder sprach insbesondere der demokratische Minderheitsfraktionsführer im Senat, Charles Ellis „Chuck“ Schumer, Präsident Trump in seinem Kurs gegenüber China die Unterstützung zu. Durchaus beachtlich, da die Demokratische Partei Trumps erratischen Kurs in der Außenpolitik als einen ihrer Hauptangriffspunkte betrachtet.

Trumps Handelskrieg, der mit Strafzöllen auf Stahl und Aluminium im März 2018 begann, war ein Bestandteil der strategischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Zwar wurde Anfang dieses Jahres in einem ersten Teil eines Handelsabkommen die Eskalation der Zölle erst einmal gestoppt, die schon bestehenden sollen aber bis zum Abschluss eines zweiten Teils nicht aufgehoben werden. Die Entwicklung rund um die Covid-Pandemie hat aber den Konflikt zwischen China und den USA in anderen Bereichen wieder eskalieren lassen. Auf der einen Seite bezeichnete Trump das Coronavirus auch gerne als „Chinavirus“ und schob China die Schuld an der globalen Epidemie zu. Der Konflikt, der sich auch im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation WHO abspielte, nahm in den letzten Monaten weit gefächerte Formen an. Schon mit Beginn der weiten Ausbreitung von Covid-19 in den USA begann Trump, der WHO die Schuld für die Pandemie zuzuschieben. Im April kündigte er die Kürzung der US-amerikanischen WHO-Beiträge um 50 % an. Und nachdem die USA eine entscheidende Abstimmung über eine von der EU eingebrachte und von China mitgetragene Resolution bei der Weltgesundheitsversammlung im Mai diesen Jahres verlor, kündigte die Trump-Regierung dann den Rückzug der USA aus der WHO 2021 an. Grund dafür sei, dass die WHO von den USA geforderte „Reformvorschläge“ nicht vollziehen würde.

Einen neuen Höhepunkt der Eskalation erreichte die Auseinandersetzung zwischen den USA und China, als im Juli die USA das Konsulat Chinas in Houston (Texas) schließen ließen. Chinas Konter, die Schließung des US-Konsulats in Chengdu (Südwestchina), folgte kurze Zeit später. Die USA hatten den Vorwurf erhoben, dass das Konsulat in Houston ein wichtiger Bestandteil des chinesischen Spionagenetzwerks in den USA gewesen sei.

Der Konflikt, der sich hier zwischen China und den USA abspielt, ist aber kein Produkt von Trumps Psyche und wird sich auch nicht so schnell durch einen Wechsel an der Spitze der USA ändern. Es ist zwar zu vermuten, dass sich eine Regierung der demokratischen Partei unter Joe Biden wohl verstärkt darauf fokussieren würde, gemeinsam mit der Europäischen Union China zu isolieren, aber die grundlegenden bestehenden Widersprüche sind ökonomischer Natur. China und die USA werden in den nächsten Jahren klären müssen, wer die ökonomische und politische Vorherrschaft behalten bzw. erlangen wird. China will bis 2049 (1949 wurde die Volksrepublik gegründet) zur globalen Supermacht aufsteigen – ökonomisch, politisch und militärisch.

Das isw und der Konflikt China – USA

In seinen Publikationen wird der Konflikt zwischen China und den USA ausführlich diskutiert. Positiv fällt hier vor allem auf, dass das isw nicht in die klassisch liberale Deutung des Konflikts als eines zwischen dem demokratisch Westen und dem despotischen China verfällt. Doch für eine sich dem Marxismus zuordnende Publikation reicht diese Erkenntnis noch nicht aus.

Dagegen [gegenüber der militarisierten Globalisierung des Westens] praktiziert China die Globalisierung anders. Sie soll „gerecht und inklusiv“ sein und ohne militärische Begleitung.ii

Richtigerweise kreidet das isw die scheinheilige Verwendung von Menschenrechten als politische Waffe des westlichen Imperialismus an, aber wenn es um die Politik der chinesischen Führung geht, wird diese kaum hinterfragt. Dabei sollte zentraler Ausgangspunkt für die Beurteilung des Konfliktes zwischen China und den USA die grundlegende Betrachtung der Rolle der beiden Kräfte im kapitalistischen Weltsystem sein. Der politische Ausdruck des ökonomischen Konflikts ist nicht in erster Linie daran zu messen, welche der beiden Seiten den ersten Stein geworfen hat oder die aggressivere Politik verfolgt, sondern an ihrem Klassencharakter und ihrer Stellung auf dem Weltmarkt. Beide Länder sind kapitalistische, ja imperialistische Großmächte.

Dem isw geht es aber eben nicht vorab demzufolge darum, Liebknechts berühmtem Leitsatz „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ Rechnung zu tragen, sondern in erster Linie werden die USA als Hauptfeind ausgemacht. Denn die europäischen Imperialismen werden in erster Linie als ZuträgerInnen des Us-amerikanischen Imperialismus gesehen. Conrad Schuhler macht das in einem Artikel auch ganz explizit, wenn er zustimmend Albrecht Müller zitiert „Die Deutschen – und die Mehrheit der Europäer – sollten sich daran gewöhnen, dass die USA nicht unser Freund sind. Sie sind das Imperium und behandeln uns wie eine Kolonie.iii

Die Position ist damit nicht in erster Linie antiimperialistisch, sondern eigentlich ein Ratschlag für den deutschen (bzw. europäischen) Imperialismus, den traditionellen Verbündeten fallenzulassen und sich der aufstrebenden Macht zuzuwenden. Garniert wird dies zuweilen noch mit dem Ratschlag, doch ein bisschen vom chinesischen System, wie einen aktiven, bedeutenden staatlichen Sektor, zu übernehmen. Walter Baier dazu: „Die politische Frage, auf die die großen europäischen Staaten und die EU eine Antwort finden müssen, lautet, ob sie sich gegenüber dem Druck der USA, die auf eine Zerstörung des freien Welthandels und eine Verschärfung der politischen und militärischen Konfrontationen zielen, emanzipieren wollen oder nicht. Gerade in Deutschland sollte man verstehen, dass der von der Trump-Administration entfesselte Wirtschaftskrieg sich gegen die europäischen Industrien und Arbeitsplätze richtet.iv

Der Charakter Chinas

Die zentrale Frage für die Bewertung des Konfliktes zwischen China und den USA ist – zumindest für revolutionäre MarxistInnen – also nicht die nach dem „Aggressor“ sondern dem grundlegenden Charakter des ökonomischen Systems und der Stellung im kapitalistischen Weltgefüge. Das isw tut sich weitgehend schwer damit, eine eindeutige Charakterisierung Chinas abzugeben. „,Sozialismus chinesischer Prägung’, ,Sozialistische Marktwirtschaft’, eine ,Art Staatskapitalismus unter dem Kommando der KP’, ,Staatlich kontrollierter Kapitalismus’, ,Wohlfahrtstaat’ nach schwedischen Modell – es fällt schwer, den chinesischen Weg zu einer modernen Volkswirtschaft in ein Schema zu pressen und zu kategorisieren“, schreibt zum Beispiel Fred Schmidv. Um einiges leichter tun sich die VertreterInnen des chinesischen Regimes, die vor allem im isw Report 119 zu Wort kommen. Für sie ist klar, dass es sich bei China um eine „Sozialistische Marktwirtschaft“ handelt, also eine Marktwirtschaft deren „sozialistischer“ Charakter durch die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas garantiert wird.

Die Charakterisierung Chinas als „Neoliberalismus mit chinesischem Antlitz“, wie David Harvey behauptetvi, wird entschieden abgelehnt. Genauso wird die Charakterisierung Chinas als Imperialismus zurückgewiesen. „Chinas Globalisierung ist ein dezidiert antikoloniales, nicht-imperialistisches, völkerrechtskonformes Projekt; es stiftet Frieden und breiten Wohlstand.vii

Die Argumentation dafür ist bezieht sich im Wesentlichen auf diverse Überbauphänomene: China sei kein Aggressor; seine Auslandsinvestitionen bzw. -kredite seien nicht an spezifische Spar- oder Reformprogramme gebunden, wie das bei IWF oder Weltbank üblich ist. China mische sich auch nicht oder zumindest viel weniger in die Innenpolitik der jeweiligen Länder ein; das Militär sei auch in erster Linie defensiv aufgestellt und wichtige strategische Projekte wie die neue Seidenstraße, die weiter unten noch detaillierter behandelt wird, seien auch nicht an eine militärische Strategie gebunden usw. Ob all diese Bewertungen so auch wirklich stimmen oder nicht, sei einmal dahingestellt. Zentral ist aber, dass sie nicht die determinierenden Faktoren für die Stellung eines Landes im imperialistischen Weltsystem ausmachen – für MarxistInnen.

Es ist zwar unter speziellen Umständen möglich, dass ein Land weder eine dominante Rolle als Großmacht (oder unterstützend als Juniorpartner) noch als dominierte Neokolonie spielt. China und Russland auf ihrem Weg zur Wiedereinführung des Kapitalismus wiesen bestimmte Eigenschaften dieser Zwischenkategorie auf. Doch zentral ist, dass in einem imperialistischen Weltsystem, das keine dauerhafte stabile Situation darstellt, sondern die internationale Konkurrenz auf höhere Stufenleiter hebt, die Länder entweder eine dominierende Position erobern oder in die Beherrschung durch andere zurückfallen müssen. Für das isw hingegen scheint China zumindest bis auf Weiteres außerhalb dieser Hierarchien stehen zu können und das, obwohl es, wie auch das isw zugesteht, als kapitalistisches Land vollkommen in den Weltmarkt integriert ist.

Kaum jemand beim isw würde wohl bestreiten, dass die USA nicht erst mit den Eintritt in den 2. Weltkrieg und der damit enorm geänderten Außenpolitik einen imperialistischen Charakter annahmen. In der Zwischenkriegszeit wiesen sie durchaus einige Ähnlichkeiten mit dem Verhalten Chinas der letzten beiden Jahrzehnte auf. Das Militär der USA nach dem 1. Weltkrieg und seine Einmischung in außeramerikanische Angelegenheiten waren äußerst beschränkt. Mit derselben Argumentation wie das isw hätte man in den 1920er Jahren das französische und britische Imperium den USA entgegenstellen können, um damit zu begründen, dass es sich bei letzteren unmöglich um eine imperialistische Großmacht handeln könne. Das isw begeht hier den gleichen Fehler wie Kautsky während des 1. Weltkriegs. Für ihn handelte es sich beim Imperialismus nicht um ein Stadium, eine Epoche der kapitalistischen Weltwirtschaft, sondern schlicht um Militarismus, Großmacht- und Kanonenbootpolitik.

Hier ist nicht der Ort, um eine ausführliche Analyse Chinas als neuer imperialistischer Großmacht anstellen zu können. Doch mit der letzten Krisenperiode, die mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA 2008 ihren Anfang nahm und verschiedene Phasen durchmachte, konnte es seine Position auf dem Weltmarkt und im imperialistischen Weltsystem wesentlich stärken. Es profitierte dabei nicht nur von der krisengeschüttelten Europäischen Union, den sich spätestens sei 2015/16 abzeichnenden Tendenzen zum Rückzug auf den Nationalstaat einiger imperialistischer Länder wie Großbritanniens und der USA (Brexit, Wahl Donald Trumps, …) und den sich dadurch politisch auftuenden Räumen, sondern auch vom Umbau der eigenen Wirtschaft weg von einem Billiglohnland zu einem mit einer der weltweit größten kaufkräftigen „Mittelschichten“ und vermehrt von einem ausschließliches Billigwarenexporteur hin zu einem Kapitalexporteur. Die Rolle Xi Jinpings als neuer starker Mann (auf einer Ebene mit Mao oder Deng Xiaoping) ist dafür politischer Ausdruck.

Aber sein Aufstieg und seine gestärkte Rolle sind nicht nur ein Ausdruck für die gestärkte Rolle Chinas in der Welt, sondern auch seiner inneren Dynamik. Das Land ist trotz seines unglaublichen Aufstiegs von riesigen inneren Widersprüchen gekennzeichnet: auf der einen Seite zwischen den durch den Staat und die Bürokratie organisierten staatskapitalistischen Unternehmen und Banken und auf der anderen Seite den oft dynamischeren privaten Unternehmen und mit ihnen verknüpften Privatinstitutionen. Insbesondere wichtig sind hier die sogenannten Schattenbanken, die in China ein riesiges Ausmaß der Finanzwirtschaft kontrollieren und ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor sind. Für Xi Jinping ist es in dieser Situation möglich, sich zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des Kapitals und der Bürokratie eine besondere Position zu erobern. Dabei sind auch interne Spaltungslinien in der Partei relevant, insbesondere die unteren und mittleren Schichten der Bürokratie in den unterschiedlichen Provinzen und Städten sind dabei noch vermehrt mit den staatlichen Unternehmen verbunden, die höheren Führungskader hingegen stärker mit dem Interesse des Gesamtkapitals und insbesondere auch den dynamischen Privatunternehmen.

Wesentlich für die Bewertung der Rolle Chinas als neue imperialistische Großmacht ist, dass es hier nicht ausschließlich um die Anwendung der fünf Lenin’schen Merkmale des Imperialismus gehen kann. Diese sind wesentlich für die Feststellung des Imperialismus als Stadium des Kapitalismus, also der gesellschaftlichen globalen Gesamtheit, müssen aber nicht vollständig für jedes einzelne Land zutreffen, erfüllt sein, um eine imperialistische Großmacht zu verkörpern. Ausschlaggebend für seine Charakterisierung ist seine Stellung in der Weltmarkthierarchie. Für Lenin war z. B. auch klar, dass es bei der Kategorisierung als imperialistische Großmacht nicht darum geht, ausschließlich den ökonomischen Entwicklungsstand zu bewerten, wenn er auch eine wichtige Rolle spielt. Zum Beispiel bewertete er sowohl Japan als auch Russland als imperialistische Großmächte, die zu seiner Zeit ökonomisch nicht auf derselben Stufe wie die USA, Deutschland oder Großbritannien standen. Entscheidend war hier, dass sie wie diese Länder in einem imperialistischen Verhältnis zu anderen Staaten und Nationen standen. „In Japan und Rußland wird das Monopol des heutigen, modernen Finanzkapitals zum Teil ergänzt, zum Teil ersetzt durch das Monopol der militärischen Macht, des unermeßlichen Gebiets oder der besonders günstigen Gelegenheit, nationale Minderheiten, China usw. auszuplündern.viii

Schließlich sei noch der Hinweis gestattet, dass China (im Gegensatz zu Russland, bei dem sich der imperialistische Charakter noch aus deutlich spezifischeren Umständen ergibt) mittlerweile auch viele der „klassischen“ Merkmale aufweist. Chinesische Banken gehören zu den größten der Welt; in Fragen des Kapitalexports steht China auf Augenhöhe mit den anderen imperialistischen Großmächten und hat mit Lenovo, ZTE, Huawei, Alibaba und anderen weltweit agierende Konzerne geschaffen. Dazu ist es vermehrt militärisch selbstbewusst mit den weltweit zweitgrößten Militärausgaben, unterhält mittlerweile schon mehrere Militärbasen in anderen Ländern (Tadschikistan, Dschibuti) und darüber hinaus ist auch die brutale nationale Unterdrückung der UigurInnen sowie eine stärker aufflammende nationalistische Rhetorik wesentlicher Bestandteil seines imperialistischen Charakters.

Die Neue Seidenstraße – Globalisierung ohne militärische Begleitung?

Seit einigen Jahren ist Chinas „One Belt, One Road“-Initiative sein zentrales außenpolitisches Projekt. Ziel ist es – angelegt an die antike Seidenstraße –, sowohl über den indischen Ozean (Belt; Meerenge) als auch über Zentralasien (Road; Landweg) den eurasisch-afrikanischen Raum für den internationalen Warenverkehr zu erschließen. Ein enormer Ausbau der Infrastruktur soll Chinas Exportrouten diversifizieren, geopolitischen Einfluss in den beteiligten Ländern erlangen und letztlich einen Ausweg aus seinem wohl größten geostrategischen Problem schaffen. China ist für die absolute Mehrheit seiner Exporte, aber auch seiner Rohstoffimporte, auf den Seeweg – insbesondere auf die Straße von Malakka – angewiesen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass – falls es zu einer militärischen Auseinandersetzung mit den USA kommt – eine Seeblockade Chinas für seine Wirtschaft tödlich wäre. Deshalb sollen Land-, sowie kombinierte Land- und Seerouten (mit Häfen in Pakistan) die Versorgung des Landes mit Rohstoffen sowie den Export sicherstellen.

Die Neue Seidenstraße ist nicht nur das größte Globalisierungsprojekt der bisherigen Menschheitsgeschichte, sondern vor allem: Es kommt zum ersten Mal in der neueren Geschichte ohne militärische Begleitung aus.ix Doch so einfach ist die Sache nicht, denn schon jetzt gibt es an zwei neuralgischen Punkten – in Dschibuti am Horn von Afrika und in Tadschikistan in Zentralasien – chinesische Militärbasen. Auch der Ausbau bzw. Aufbau militärischer Anlagen im südchinesischen Meer (Spratly- und Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer) ist in diesen Kontext einzuordnen. China möchte sich aus der militärischen Umklammerung durch die USA befreien, denn diese unterhalten unzählige Militär- und Marinebasen im Westpazifik, aber auch im indischen Ozean und Zentralasien. Auch in anderen Häfen, wie in Sri Lanka (Hambantota) oder in Pakistan (Gwadar), gab und gibt es Spekulationen über den möglichen raschen Ausbau zur chinesischenMarinebasis, obwohl der in nächster Zukunft wohl nicht zu erwarten ist.

Zusätzlich wird China vom isw dafür gepriesen, dass es mit den riesigen Krediten für die am Projekt der Neuen Seidenstraße beteiligten Länder keine politischen Absichten verfolge, also nicht wie IWF oder Weltbank auf Umstrukturierungs- oder Reformmaßnahmen dränge. Das ist zwar durchaus richtig, aber China macht es auch nicht einfach aus einer altruistischen Perspektive heraus, sondern mit dem Motiv, bei einer möglichen Zahlungsunfähigkeit einfach Eigner oder Pächter der Infrastruktur zu werden. So bekam nach der Zahlungsunfähigkeit Sri Lankas China den Hafen von Hambantota für 99 Jahre verpachtet. Solche Kreditausfälle mit anschließender Übernahme von Infrastruktur werden sich in den nächsten Monaten und Jahren vermutlich häufen, wenn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise voll durchschlagen werden.

Im Kontext der Neuen Seidenstraße ist auch die Politik der chinesischen Regierung gegenüber den UigurInnen zu verstehen. Strategisch verläuft durch die Provinz Xinjiang, in der nahezu alle UigurInnen in China leben, ein essentieller Zugang zum zentralasiatischen Raum. Ihre Unterwerfung und Auslöschung als Nation (worauf die Politik der chinesischen Regierung, insbesondere der „Umerziehung“ und Ansiedlung ethnischer Han-ChinesInnen abzielt) ist hierbei essentiell, um diese strategische Rolle der Region zu sichern. Dazu kommt noch, dass Xinjiang reich an Rohstoffen ist, insbesondere an Öl, Gas und diversen Metallen, und eine mögliche uigurische Unabhängigkeitsbewegung oder allgemeiner Widerstand gegen die Politik der Zentrale für diese nicht in Kauf genommen werden können. Auch hier ist das Agieren der chinesischen Regierung ein Musterbeispiel für imperialistische Politik.

Beispiel für erfolgreiche nachholende Entwicklung?

Das isw lobt auch den chinesischen Entwicklungsweg als nachahmenswert für zurückgebliebene Volkswirtschaften:

Für Schwellenländer hat der chinesische Weg aber durchaus einen gewissen Vorbildcharakter. Er zeigt, dass eine erfolgreiche nachholende Entwicklung möglich ist, bei gleichzeitiger Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung und Überwindung der Armut. Notwendig sind dazu ein „proaktiver Entwicklungsstaat“ (UNDP) sowie staatliche Planung, zumindest staatliche Rahmen- und Schwerpunktplanung […].“xAn anderen Stelle bei Fred Schmidxi wird China nicht nur als Beweis für die erfolgreiche nachholende Entwicklung für Schwellenländer, sondern auch für Entwicklungsländer dargestellt. Es sei der Beweis dafür, dass man ohne westliche Hilfe, wie es die sogenannten Tigerstaaten gebraucht hätten, um eine erfolgreiche Entwicklung zu nehmen, auch den Aufstieg aus der Armut schaffen könne.

China ist in der Tat eines der seltenen Beispiele von Ländern, die es nicht nur geschafft haben, sich zu industrialisieren und das allgemeine Lebensniveau der Massen zu heben, sondern auch zu einer imperialistischen Großmacht aufzusteigen. Doch es muss klar sein, dass das nicht die Regel, sondern nur die Ausnahme ist. China hat unter ganz spezifischen Umständen, die nicht ohne Weiteres kopiert werden können, eine erfolgreiche nachholende Entwicklung zustande gebracht.

Zuerst einmal kann man China nicht aus der Gegenwartsperspektive betrachten und dann die essentiellen Faktoren ableiten, die es von anderen Staaten unterscheiden. Es ist vielmehr notwendig, die lebendige Entwicklung zu untersuchen und die historischen Besonderheiten abzuleiten, die es zu dem gemacht haben, was es heute ist. Der wohl wesentlichste Unterschied Chinas zu „herkömmlichen“ unterentwickelten Staaten ist, dass dort – als von Beginn an bürokratisch degenerierter oder deformierter ArbeiterInnenstaatxii – mehrere Jahrzehnte lang kein Kapitalismus existierte. Dazu kam, dass vor allem seit dem Bruch mit der Sowjetunion, der Ende der 1950er Jahre einsetzte, China auch noch einmal besonders auf eine eigenständige Entwicklung angewiesen war. Dadurch entwickelte sich eine stark abgeschlossene Wirtschaft, die frei von jeglichem ausländischen Kapital war.

Die Entwicklung Chinas hin zur Einführung des Kapitalismus haben wir in „Von Mao zum Markt“ von Peter Main (Revolutionärer Marxismus 39) ausführlich nachgezeichnet. Von den ehemals degenerierten ArbeiterInnenstaaten ist nur die DDR (als Teil Deutschlands) sowie Russland die Entwicklung zu einem imperialistischen Staat gelungen. In Ostdeutschland geschah dies durch den Anschluss an die imperialistische BRD, auch wenn diese Region ähnlich dem italienischen Süden nur die zweite Geige im Land spielt. Die größten Konzerne Deutschlands sind ausschließlich westdeutschen Ursprungs, in der herrschenden Klasse dominiert westdeutsches Kapital. Darüber hinaus sind auch das Lohnniveau und andere Indikatoren des Lebensstandards auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch signifikant niedriger. Für Russland hat es sehr spezifische Umstände gebraucht, um sich zu einer imperialistischen Macht zu entwickeln. In den 1990er Jahren nach dem Kollaps der sowjetischen Wirtschaft sah es lange Zeit danach aus, als ob es auch den Weg in den neokolonialen Status einschlagen würde. Doch auch Russland hat es unter sehr spezifischen Umständen – vor allem durch die alten Verbindungen der Sowjetunion, sein militärisches Gewicht sowie bis zu einem gewissen Grad auch durch seine Monopolstellung als Rohstoffexporteur gegenüber Europa – vermocht, eine prekäre Stellung als imperialistische Großmacht zu erringen. Bezüglich der Betrachtung Russlands sei auf „Die Auferstehung des russischen Imperialismus“ von Frederik Haber (Revolutionärer Marxismus 46) verwiesen.

Chinas besondere Umstände, nämlich, dass es aufgrund seiner Geschichte als von Beginn an degenerierter ArbeiterInnenstaat frei von der Durchdringung mit ausländischem Kapital war, lässt sich für den durchschnittlichen neokolonialen Staat nicht einfach wiederholen. Die Ausgangsbedingungen sind nämlich komplett andere. Ein wesentlicher Umstand für die spezielle Lage, in der sich China befand, war die chinesische Auslandsbourgeoisie, die aus spezifischen historischen Gründen nicht nur in Taiwan, sondern auch in Hongkong sowie überhaupt in einigen südostasiatischen Staaten eine besondere Stellung eingenommen hatte und bei der Öffnung des Landes für ausländisches Kapital kräftig im Land investierte.

Ein weiterer wichtiger Vorteil für China war, dass im Gegensatz zu fast allen anderen ehemaligen stalinistischen Staaten in Osteuropa während der Wiedereinführung des Kapitalismus durch das Regime der KPCh weiterhin sehr stabile Machtverhältnisse im Land herrschten. Dafür war die Niederschlagung der Oppositionsbewegung 1989 essentiell. Die Herrschaft der kommunistischen Partei übernahm dabei ähnliche Rollen wie der preußisch-deutsche, russische oder italienische Staat am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und die Entwicklung des Kapitalismus wesentliches staatliches Projekt waren und aktiv gefördert wurden und nicht einfach organisch entstanden. Das durchschnittliche neokoloniale Land kann nicht einfach so die Dominanz des ausländischen Kapitals abschütteln, dafür wäre letztlich eine soziale Revolution notwendig. Eine unabhängige nationale Entwicklung des Kapitalismus ist nicht möglich. Beispiele wie Venezuela zeigen deutlich, zu welche Methoden der Konfrontation insbesondere der Imperialismus anwandte, um diesen Weg zu verbarrikadieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass China kein Modell für andere Staaten sein kann. Im imperialistischen Weltsystem ist es nicht einfach möglich, durch geschickte staatliche Politik die Fessel zu durchbrechen und die Entwicklung hin zu einem eigenständigen und unabhängigen Kapitalismus anzutreten. Für China mussten neben der generellen Größe des Landes und der Bevölkerung eine Reihe an spezifischen historischen Umständen zusammenkommen, um dies zu ermöglichen. Das lässt sich auch darin erkennen, wie schwer es Indien fällt, einen ähnlichen Weg zu beschreiten.

Partei und Bourgeoisie

Die lang andauernde Herrschaft der KPCh ist ein zentrales Merkmal für den chinesischen Kapitalismus, vergleichbar nur mit der der KP Vietnams. Doch die Frage, ist wie diese Herrschaft bewertet wird. Für die chinesischen FunktionärInnen ist sie klar positiv beantwortet:

Zusammenfassend kann man sagen, dass die sozialistische Marktwirtschaft über moderne wirtschaftspolitische Steuerungsmöglichkeiten verfügt. Zuallererst ist die Führung der Partei ein wichtiges Merkmal des sozialistischen Marktwirtschaftssystems und ein wichtiger Garant für moderne Governance-Kompetenz wirtschaftspolitischer Steuerung. Das sozialistische Marktwirtschaftssystem steht unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und steht fest auf sozialistischem Boden. Wir müssen uns auf unser theoriegeleitetes Selbstbewusstsein, unsere aufrichtigen Institutionen und die Führung der Partei verlassen, um diesen großartigen Prozess zum sozialistischen Marktwirtschaftssystem zu vollenden.“ xiiiAber nicht nur in den von direkten VertreterInnen des chinesischen Systems, denen im isw Platz geboten wird, wird diese Ansicht geteilt. Auch bei Fred Schmidxiv gibt es viele lobende Worte für die Partei, insbesondere die Anti-Korruptionskampagnen und die Stärkung ihrer Zellen und Grundeinheiten unter Xi Jinping.

Dass die Kommunistische Partei spätestens seit Anfang der 1990er Jahre klar die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse verteidigt und ausbaut, sollte wohl auch den naivsten KommentatorInnen aufgefallen sein. Zwar wird die „Sozialistische Marktwirtschaft“ weiterhin als Anfangsphase des Sozialismus bezeichnetxv, doch wenn man einmal von der Rhetorik absieht und sich die Fakten vor Augen führt, kann man erkennen, dass sich die Bourgeoisie in China immer mehr als Klasse formiert. Seit 2001 dürfen auch PrivatunternehmerInnen Mitglied der Kommunistischen Partei werden. Im isw Report Nr. 119 finden sich auch interessante Zahlen dazu – natürlich mit der Argumentation verbunden, wie gut es gelingen würde, die neuen Eliten „aufzunehmen und zu lenken“xvi. Von den verantwortlichen Personen der größten 100 chinesischen Privatunternehmen sind „19 % […] Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses, 15 % Abgeordnete der Provinz- und Kommunalkongresse, 27 % Mitglieder der Föderation von Industrie und Handel sowie der Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes. 39 % sind Leiter von Handelskammern, Jugend-, Handels-, und Unternehmensverbänden.“ Die langwierige Entwicklung von Chinas Bourgeoisie von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich ist in den letzten Jahren also ein gutes Stück vorangekommen.

Lange Zeit spekulierte der Westen darauf, dass sich mit der Öffnung Chinas hin zum Markt eine selbstständige Bourgeoisie herausbilden würde, die dann in weiterer Folge in einen Konflikt mit der KPCh-Bürokratie geriete, was dann in weiterer Folge die Herrschaft der Partei untergraben und eine „Öffnung“ beschleunigen würde. Ob das dabei durch friedlichen Druck passieren würde, der die KPCh zwingen würde, einen Weg der demokratischen Reformen und die Einführung eines Mehrparteiensystems zu beschreiten, oder sie andernfalls auch à la UdSSR/Ostblock gestürzt würde, war dabei zweitrangig.

Diese Erwartungen haben sich im letzten Jahrzehnt als Fehleinschätzung herausgestellt. Insbesondere seit der Ära Xi Jinpings, seiner Antikorruptionskampagnen und der Stärkung der Partei wurde der chinesischen Bourgeoisie gezeigt, dass der Weg innerhalb der Partei um einiges besser ist. Gut wird das in einem Artikel Hu Lemingsxvii umrissen: „Institutioneller Wandel ist nicht nur Prozess der rationalen Konstruktion, sondern auch ein Prozess der spontanen Veränderung. Es ist nicht nur ein von der Politik geförderter Top-down-Prozess, sondern auch ein von privaten Unternehmern geförderter Bottom-up-Prozess. Es ist ein Prozess der Interaktion zwischen Politikern und Unternehmern.“

Der chinesische Staat und seine herrschende Bürokratie schaffen es trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) der jüngeren Vergangenheit als von Geburt an degenerierter ArbeiterInnenstaat besonders gut, die Rolle als ideelle/r GesamtkapitalistIn zu übernehmen. Ein wesentliches Merkmal des Abstiegs des US-amerikanischen Imperialismus dagegen ist, dass sich die unterschiedlichen Interessen der Fraktionen der herrschenden Klassen immer mehr aufsplittern. In den USA ist eine langfristige Strategie der Bourgeoisie immer weniger möglich. Die Widersprüche zwischen Demokratischer und Republikanischer Partei, zwischen Protektionismus und Freihandel, zwischen Silicon Valley, Wall Street und den verbliebenen Industrien und heute zwischen VertreterInnen von „Herdenimmunität“ und „Social Distancing“ machen die Verteidigung der Stellung als imperialistische Großmacht Nr. 1 schwer.

Das bedeutet aber nicht, dass in China die gesamte Bourgeoisie mit der Partei zu einer Einheit verschmolzen wäre. Einerseits ist die chinesische Auslandsbourgeoisie nicht wirklich in diese Strukturen eingebunden, andererseits ist es auch kein widerspruchsfreier Prozess. Es ist durchaus möglich, dass sich durch innere wie äußere Faktoren eine eigenständige von der KP-Bürokratie unabhängige Kraft der Bourgeoisie wird versuchen zu etablieren. Wenn es beispielsweise zu einer größeren landesweiten Bewegung gegen das Regime kommt, würde es vermutlich die Spaltungstendenzen innerhalb der Bürokratie selbst vergrößern und ein Teil der Bourgeoisie würde zweifelsfrei versuchen, sich außerhalb des Staats und der Kommunistischen Partei in einer eigenen Partei zu organisieren. Doch auch eine längere Dauer des obrigkeitsstaatlich gelenkten Kapitalismus wie in Preußen und im frühen Deutschen Reich, Russland, Japan oder in seiner parlamentarisch-demokratischen Variante in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg oder in Großbritannien unter Attlee ist als Möglichkeit nicht auszuschließen.

China ist ein Beispiel für das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung. Der chinesische Staat trägt starke Züge einer zuvor existierenden Gesellschaftsformation (der gleichen und kaum von der Chinas zu unterscheidenden wie in Vietnam) ähnlich wie einige andere Staaten mit schwächeren (Großbritannien) oder stärkeren (Saudi-Arabien) monarchistischen Elementen in der Exekutive. Die weitere Existenz der KPCh als herrschende Partei kann deshalb kein Argument für einen grundlegend anderen Klassencharakter Chinas sein.

Wie weiter für China und die ArbeiterInnenklasse?

Bei allen Lobeshymnen auf die Volksrepublik China muss sich das isw doch immer mal wieder eingestehen, dass es vielleicht doch dort auch noch irgendwie ein paar demokratische Defizite gibt. „Dennoch bleibt die Frage nach der demokratischen, insbesondere produktionsdemokratischen, Teilhabe (!) der Menschen in China.“xviii2010 wurden im isw Report Nr. 83/84 noch zwei Möglichkeiten aufgezeigt. Auf der eine Seite gäbe es die der „Herausbildung einer gewerkschaftlichen Gegenmacht und ihre Formierung zur Arbeiterbewegung“xix, auf der anderen Seite für – eine vermutlich durch graduelle Reformen eingeführte – „vertikale Demokratie“. In ihr „werden die Visionen und Ziele des Landes in einem interaktiven Prozess von Spitze und Basis gleichermaßen geformt.“xxWas genau das konkret bedeuten soll, wird weder ausgeführt noch klar definiert.

Acht Jahre später in isw Report Nr. 115 ist dann von der Formierung einer Gegenmacht, geschweige denn politischer und ökonomischer Etablierung der ArbeiterInnenklasse als herrschendes und planendes Subjekt keine Rede mehr. „Ein echter demokratischer Ansatz“ ist jetzt nur mehr „die Weiterentwicklung der „vertikalen Demokratie““xxi. Ein unabhängiger Klassenstandpunkt ist jetzt offenbar weder realistisch noch gewünscht. Hier zeigt sich schließlich am klarsten die endgültige Kapitulation vor dem chinesischen Kapitalismus. Die Rolle von MarxistInnen geht beim isw offenbar kaum mehr ein bisschen über Beifall für eine „vertikale Demokratie“ hinaus.

Aus Chinas besonderer Geschichte ergibt sich für das isw offenbar, dass auf es keinerlei marxistische Kategorien oder Analysen mehr anwendbar seien. Es wird zwar zugestanden, dass es sich auch in dort um eine Kapitalismus handelt, aber dieser sei durch die Rolle der Partei im Staat, die sich noch immer kommunistisch nennt, und des Staates in der Wirtschaft so besonders, dass er eigentlich nicht mehr wirklich des Klassenkampfes, einer eigenständigen Organisation des Proletariats (nur mehr knapp über 7 % der Parteimitgliedschaft sind IndustriearbeiterInnenxxii) oder überhaupt einer proletarischen Revolution für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine ArbeiterInnendemokratie bedürfe. Dabei ist China doch mit der weltweit größten Bevölkerung und der größten ArbeiterInnenklasse eines der Schlüsselländer im imperialistischen Weltsystem!

Die aktuelle Situation in Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie sind für China genauso wie die ganze Welt von entscheidender Bedeutung. In China ist es durch die sehr starke Position des Staates gelungen, die Ausbreitung der Krankheit relativ rasch unter Kontrolle zu bringen und auch die Produktion wieder anzuwerfen, doch es steht vor dem Problem, dass es trotz aller Stärkung des Binnenmarktes immer noch sehr zentral auf den Exportsektor angewiesen ist. Wie in vielen anderen Staaten hat es in der Krise der aktuellen Regierung gegenüber, falls diese nicht vollkommen absurde Maßnahmen durchführte, einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Doch die ökonomischen Widersprüche (insbesondere die Frage, wie lange die Industrieproduktion alleine auf staatlicher Stimulanz basieren kann), die sich aus dem weiteren Verlauf der Wirtschaftsentwicklung ergeben werden, werden unweigerlich ihren politischen Ausdruck finden. Ob sich dieser „nur“ in der Partei und dem Staat abspielen oder auch einen gesamtgesellschaftlichen Ausdruck finden wird, ist noch nicht abzusehen.

Aber zentral für das Verständnis Chinas ist, seine Stellung im imperialistischen Weltsystems zu verstehen. Die Charakterisierung als neue imperialistische Großmacht hat eben nicht nur akademischen Charakter, sondern ist wesentlich zum Verständnis und zur Einordnung eines der wichtigsten Länder für den globalen Klassenkampf. Der imperialistische Hauptkonflikt – zwischen China und den USA – wird sich in den nächsten Jahren nur zuspitzen und in der einen oder anderen Form gelöst werden. Dabei ist es von größter Bedeutung, eine antimilitaristische, antiimperialistische und internationalistische Position in die ArbeiterInnenklassen sowohl in China als auch im Westen zu tragen. Wenn dies nicht gelingt, können die kommenden Konflikte für die ArbeiterInnenklasse und die gesamte Menschheit nur in der Katastrophe enden. Der Hauptfeind steht – auch in der VR China – dabei im eigenen Land!

Endnoten

iInstitut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e. V. mit Sitz in München. Es wurde 1990 von linken SozialwissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen gegründet.

ii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report 119, S. 25

iii„Trumps ,America first’ – der Versuch, die USA zur unumschränkten globalen Supermacht zu machen“, Conrad Schuhler in isw Report 115, S. 11

iv„Warum muss die sozialistische Linke über die VR China diskutieren?“, Walter Baier in isw Report Nr. 119, S. 36

v„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 61

viebenda

vii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26

viii„Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, Lenin in Werke Band 23, S. 113

ix„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26

x„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xi„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 60

xiiDie VR China war wie Kuba, Nordkorea, Nordvietnam, Jugoslawien und Osteuropa ein ArbeiterInnenstaat, der von Beginn seiner Existenz an bürokratisch entstellt war und wo die Arbeiterinnenklasse von der unmittelbaren Ausübung ihrer Diktatur ausgeschlossen blieb. Das unterscheidet ihren degenerierten Charakter vom frühen Sowjetrussland, in dem die stalinistische politische Konterrevolution ab 1924 die Oberhand gewann. Sie unterlag einem Prozess der Degeneration und startete ihre Existenz nicht mit diesem Zustand.

xiii„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 5

xiv„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xv„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 4

xvi„Das chinesische Modell aus der Perspektive staatlicher Handlungsfähigkeit“, Yang Hutao in isw Report Nr. 119, S. 15

xvii„Chinesische Erfahrungen bei Reform und Entwicklung“ Hu Leming in isw Report Nr. 119, S. 10

xviii„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xix„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 62

xxebenda

xxi„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 37

xxii„Number of Chinese Communist Party (CCP) members in China in 2019, by employment“ in https://www.statista.com/statistics/249968/number-of-chinese-communist-party-ccp-members-in-china-by-employment/




China nach der Abriegelung: Neue Probleme, alte Politik

Peter Main, Infomail 1106, 7. Juni 2020

Formell ist der Nationale Volkskongress das höchste Organ der Staatsgewalt in China. Obwohl er nur einmal im Jahr, und zwar zwei Wochen lang, zusammentritt, werfen seine Beratungen ein gewisses Licht auf die Prioritäten der Regierung und die Richtung, in die sich die Politik bewegt. Die diesjährige Tagung, die in den letzten beiden Maiwochen stattfand, musste wegen der Covid-19-Epidemie verschoben werden, deren Nachwirkungen offensichtlich einen völlig unerwarteten Kontext für die Pläne der Regierung geschaffen haben.

Die unmittelbare Folge der Abriegelung der Provinz Hubei und des verlängerten Nationalfeiertags Neues Mondjahr  war ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal um 9,8 Prozent im Vergleich zum letzten Jahresviertel 2019. Selbst jetzt, wird geschätzt, arbeitet die Wirtschaft nur noch zu etwa 80 Prozent der vorherigen Kapazität.

Nichtsdestotrotz wird Covid-19, wie die meisten Krisen, wahrscheinlich Trends, die sich bereits entwickelt haben, und einen politischen Kurs, der bereits geplant war, beschleunigen. Die Wirtschaft war schon ein Grund zur Sorge, lange bevor ein/e unglückliche/r BürgerIn von Wuhan das neue Virus erstmals aufnahm. Die Exporte, die seit 30 Jahren eine große Rolle für Chinas rasantes Wachstum gespielt haben, gingen 2019 sogar um 0,5 Prozent zurück, nachdem sie im Jahr zuvor um 10 Prozent gestiegen waren. Das BIP insgesamt wuchs nur um 6,1 Prozent, verglichen mit dem offiziellen Ziel von 6,5 Prozent.

Ungleichheit

Angesichts der Drohungen von US-Präsident Trump mit einem Handelskrieg waren schon vor der Pandemie die Aussichten auf eine Steigerung der Ausfuhren als Weg zum allgemeinen BIP-Wachstum nicht gut. Die Steigerung des Binnenkonsums ist daher zu einem wichtigen Ziel geworden, aber es ist eines, das ein Merkmal der chinesischen Gesellschaft offenbart, das oft übersehen wird: die enorme soziale Ungleichheit. Im gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt liegt das Pro-Kopf-Einkommen in China bei etwa 30.000 Renminbi, d. h. etwa 4.000 US-Dollar pro Jahr, aber das verdeckt die Tatsache, dass 40 Prozent der Bevölkerung, 600 Millionen Menschen, mit weniger als 1.000 Rebminbi, d. h. etwa 130 US-Dollar pro Jahr, auskommen müssen.

Es ist kein Zufall, dass 40 Prozent der Bevölkerung auf dem Land leben. Einerseits bedeutet dies, dass Geldeinkommen nicht ihre einzige Unterhaltsquelle ist. Auf der anderen Seite macht es sie eindeutig nicht zu einem effektiven Markt für hochwertige Industriegüter, denn jemand mit 130 Dollar im Jahr wird sich kein neues Auto kaufen. Es unterstreicht auch, wie weit die Landbevölkerung von der Integration in die chinesische Marktwirtschaft entfernt ist.

In seiner Rede auf der Schlusssitzung des Nationalen Volkskongresses wies Premierminister Li Keqiang auf die Notwendigkeit hin, das verfügbare Einkommen dieses potentiell riesigen Marktes zu erhöhen, musste aber auch feststellen, dass die Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe, von denen man erwarten könnte, dass sie ihn bedienen, mit zunehmenden Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. Diese beziehen sich auf ein weiteres Hauptthema in Lis Rede, nämlich die Notwendigkeit, sich mit der wachsenden Verschuldung und den „untilgbaren Krediten“ zu befassen, d. h. solchen, für die sich die KreditnehmerInnen nicht einmal die Zahlung von Zinsen leisten können.

Der Lösungsvorschlag der Regierung hierfür lautet wie schon seit vielen Jahren „Öffnung des Finanzsektors“. Dies ist die Formel, mit der Marktreformen in den staatlichen Banken gefördert werden sollen, die nach wie vor staatseigene und daher sehr große gegenüber kleinen, privaten Unternehmen bevorzugen. Die Tatsache, dass dies fast ein Jahrzehnt lang eines der Hauptziele von Präsident Xi Jinping war, unterstreicht die Hartnäckigkeit des Problems.

Ziel

Die Auswirkungen der Epidemie auf die Wirtschaft lassen sich daran ablesen, dass China zum ersten Mal seit mehr als 40 Jahren kein offizielles Wachstumsziel ausgibt. Die „Global Times“, Pekings offizielles Sprachrohr, bemerkte zu dieser Ankündigung von Li, dass jeder Vorschlag, das zuvor erwartete Ziel von „6 Prozent plus“ anzustreben, eindeutig unmöglich sei und „ein niedrigeres Ziel wäre nicht erhellend gewesen“. Mit anderen Worten, jede deutlich niedrigere Zahl als ursprünglich erwartet hätte sowohl die Industrie als auch die Provinzregierungen im ganzen Land entmutigen können.

Unmittelbar nach der Aufhebung der Sperre im März lag der Schwerpunkt verständlicherweise darauf, „die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen“, und die Erreichung dieses 80-Prozent-Wertes innerhalb von etwa sechs Wochen könnte recht beeindruckend aussehen. Es stellt sich jedoch die Frage, was mit den verbleibenden 20 Prozent geschieht.

Die Zahl der WanderarbeiterInnen in China wird auf 174 Millionen geschätzt. Da sie nicht als StadtbewohnerInnen registriert sind, erscheinen sie, wenn sie keine Arbeit haben, nicht in der Arbeitslosenstatistik. Es kann davon ausgegangen werden, dass praktisch alle zum Mondneujahr in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt waren, aber Umfragen haben ergeben, dass nur 123 Millionen nach dem Jahresurlaub in die Städte zurückgekehrt sind, so dass etwa 50 Millionen noch auf dem Land leben.

Darüber hinaus gibt es 149 Millionen Selbstständige, die im Dienstleistungssektor und im kleinen Einzelhandel tätig sind, die beide sehr stark von der Kombination aus Epidemie und dem allgemeineren wirtschaftlichen Abschwung betroffen sind. Hinzu kommen etwa 8 Millionen Schul- und HochschulabgängerInnen, die im Laufe des Jahres in den Arbeitsmarkt eintreten werden. Aus diesen Zahlen geht klar hervor, dass China mit einem gravierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit konfrontiert ist und die Mehrheit der Betroffenen keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben wird. Das ist eine potentiell gefährliche Aussicht.

Xi Jinpings zunehmend repressive Innenpolitik und aggressive Außenpolitik sind zweifellos zum Teil auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass die sozialen Unruhen wahrscheinlich zunehmen werden. Wie viele andere „starke“ nationale FührerInnen benutzt er den Patriotismus, um Maßnahmen zu legitimieren, die eigentlich darauf abzielen, „sein“ eigenes Volk zu kontrollieren und zum Schweigen zu bringen. Die Sofortmaßnahmen, die eingeführt wurden, um der Epidemie zu begegnen, die massenhafte Unterdrückung der UigurInnen von Xinjiang, die strenge Kontrolle der sozialen Medien und des Internets und der umfassende Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie zur Überwachung von Menschenmassen auf den Straßen sind alles Elemente einer systematischen Strategie zur Kontrolle potenzieller Unruhen.

Natürlich lässt sich Patriotismus am leichtesten durch Hinweise auf ausländische Bedrohungen aufpeitschen, und hier kann man sich darauf verlassen, dass Donald Trump sowohl mit seiner Rhetorik als auch mit seiner Handelspolitik ein leichtes Ziel bietet. Auf der diesjährigen Tagung des Nationalen Volkskongresses war es jedoch die Entscheidung, Hongkong stärker zu kontrollieren, die für Schlagzeilen sorgte. Die Ausweitung der nationalen Sicherheitsgesetzgebung auf Hongkong zielt offensichtlich darauf ab, die Oppositionsbewegung in der ehemaligen britischen Kolonie zu kriminalisieren. Forderungen nach mehr Demokratie, geschweige denn nach Unabhängigkeit, könnten als „Untergrabung der Staatsmacht“ eingestuft werden, und die Organisation von Demonstrationen oder Streiks könnte als Beweis für „Terrorismus“ oder „Einmischung ausländischer Mächte“ gelten.

Peking hat auch deutlich gemacht, dass es seine eigenen Sicherheitsdienste dort stationieren wird, falls es der lokalen Hongkonger Verwaltung nicht gelingt, den politischen Protesten und Demonstrationen, die das Gebiet seit mehreren Jahren wiederholt erschüttert haben, Einhalt zu gebieten. Dies wurde als ein Zeichen der Verärgerung gegenüber der Chefin der Hongkonger Exekutive, Carrie Lam, gewertet, ist aber eher als ein Schritt in Richtung eines längerfristigen Ziels zu verstehen.

Für die Kommunistische Partei Chinas war die Annahme der Formel „ein Land, zwei Systeme“, die den Status Hongkongs als „Sonderverwaltungszone“ Chinas untermauert, eine rein pragmatische Taktik, um die Rückkehr des chinesischen Territoriums unter chinesische Herrschaft zu erleichtern. Es war das letzte Echo der ungleichen Verträge, die China im 19. Jahrhundert akzeptieren musste, und besitzt als solches keine moralische Autorität. Es ist beabsichtigt, dass Hongkong mit der Zeit vollständig in die so genannte Greater Bay Area der Provinz Guangdong integriert wird.

In diesem Szenario ist jede Andeutung, dass andere Staaten wie Großbritannien oder die USA irgendein Recht haben, Einfluss darauf zu nehmen, wie das Territorium regiert wird, einfach ein Versuch, Chinas Souveränität erneut einzuschränken. Revolutionäre InternationalistInnen haben keinen Grund, in Streitigkeiten zwischen imperialistischen Regimen Partei zu ergreifen, aber jeden Grund, sich auf die Seite jeder Bevölkerung zu stellen, deren demokratische Rechte bedroht sind.

Die potenzielle Tragödie in der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass die radikaleren Oppositionellen in Hongkong Peking in die Hände spielen, indem sie an die Unterstützung der anderen imperialistischen Mächte appellieren oder, schlimmer noch, sich für die Forderung nach Unabhängigkeit einsetzen. Dies ist nicht nur eine unpraktikable Forderung, sondern eine völlig verfehlte Strategie. Anstatt dem „Festland“ den Rücken zu kehren, ist es weitaus besser, die demokratischen Rechte, die sie noch haben, zu nutzen, um für diese Rechte zu kämpfen, und mehr noch, um sie auf ihre Landsleute in ganz China auszudehnen.

Da sich die Welt am Rande einer Rezession befindet, die sich bereits vor der Pandemie entwickelt hat, aber durch sie sicherlich noch verschärft wird, ist gewährleistet, dass die Rivalität zwischen den Großmächten von der Rhetorik zum Handelskrieg und möglicherweise zu einer tatsächlichen militärischen Konfrontation eskalieren wird. Wie wir bereits sehen können, wird dies mit zunehmend autoritären Regimen im Inneren einhergehen, die mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die „ausländische Bedrohung“ zu bekämpfen. Umso wichtiger ist es, dass die SozialistInnen in den imperialistischen Staaten nicht nur erkennen, dass der/die HauptfeindIn der ArbeiterInnenklasse im eigenen Land steht, sondern dass sie selbst international gegen alle ImperialistInnen organisiert werden müssen.




Frauen in China: die Verliererinnen des Aufschwungs?

Resa Ludivien, Unterstützerin Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Situation von und für Frauen in China hat sich in den
letzten Jahren sehr verändert, was vor allem daran liegt, dass es eine
Neuorientierung der chinesischen Politik mit der Wahl Xi Jinpings zum
Staatspräsidenten gab. Doch schaut man sich die Entwicklungen der letzten 100
Jahre an, erscheinen die Veränderungen –Kämpferinnen im Krieg, wichtiger Teil
der chinesischen Planwirtschaft, zurück an den Herd verdammt – besonders
gravierend.

Gerade Frauen, die nach der neuen chinesischen Politik nicht
(mehr) ins Weltbild passen, haben es in China immer schwerer. Dazu gehören
nicht nur weiterhin Aktivist_Innen für Frauenrechte, solche, die der
heteronormativen Norm entsprechen, sondern auch zunehmend muslimische Frauen
sowie Frauen, die selbst über ihre Zukunft entscheiden wollen und deswegen
keine Familie oder Kinder anstreben oder selbst einen Anteil am chinesischen
Aufschwung einfordern. Man könnte daher glatt die Frage in den Raum stellen, ob
sie nicht die „Verlierinnen“ des Aufschwungs und der
Politik Xi Jinpings sind und zukünftig auch sein werden.

Doch zunächst muss geklärt werden, woher die heutigen
Besonderheiten Chinas herrühren. Genauso wie in anderen (Groß-)Reichen, vor
allem in Asien, gab es in China eine andere Form der vorkapitalistischen
Wirtschaft als Antike bzw. Feudalismus. Marx und Engels nannten sie asiatische
Produktionsweise, doch kam sie auch in anderen Erdteilen vor (z. B.
Mittel- und Südamerika). Auffällig ist, dass der „Staat“, sprich der jeweilige
Herrscher und seine Beamten, eine wichtige Rolle in Produktion und Handel
spielte. Gründe für diese starke Stellung waren die Größe der damaligen
Flächenstaaten, aber auch klimatische Verhältnisse, die stets zwischen Dürre
und Überschwemmungen schwankten und deshalb eine zentrale
Bewässerungswirtschaft erforderten. Um Anbau von Nahrung und Produktion anderer
Güter zu ermöglichen, brauchte man zuverlässige Verantwortliche, die sich
u. a. um das Bewässerungssystem des Landes kümmern. Kein Wunder also, dass
sich in diesen Ländern eine starke bürokratische Elite entwickelt hat, die die
Produktionsmittel verwaltete. Im alten Ägypten waren es die Pharaonen und die
Priesterkaste und im vormodernen China der Kaiser und seine Beamten
(Mandarine). Allerdings konnten dies nur Männer werden, genauer gesagt Männer
aus reichen Familien. Ein solcher Posten bedeutete nicht nur sozialer Aufstieg,
sondern natürlich auch Macht. In den Quellen aus der Vormoderne spielen Frauen
in China nur eine geringe Rolle, weswegen wir heute vor allem die erniedrigende
Praxis des Füße Bindens mit ihrer Stellung in Verbindung bringen. Allerdings
ist gewiss, dass trotz des patriarchalen Systems Frauen aus der Klasse der
Bäuerinnen und Bauern stark am Produktionsprozess in Haus und Hof sowie auf den
Feldern beteiligt waren.

Zwischen Fortschritt
und Rückschritt

Als 1949 die Volksrepublik China gegründet wurde, wurde die
Gleichheit zwischen Männern und Frauen in der Verfassung niedergeschrieben.
Nicht nur, weil jene, die sich selbst als Kommunist_Innen sehen, wissen, dass
ein Sozialismus nur mit Frauenbefreiung einhergehen kann, sondern auch, weil
sie beim Aufbau des neuen Staates gebraucht wurden. Natürlich war auch damals
die Frau gesellschaftlich noch nicht gleichgestellt, sodass in der Verfassung
mehr ein Ziel formuliert wurde, als es je unter der Herrschaft der KP Chinas
Wirklichkeit wurde. Doch 70 Jahre später und nach der ab Ende der 1970er Jahre
eingeleiteten wirtschaftlichen Neuorientierung, die zwar den Lebensstandard
insgesamt gehoben hat, hat sich die Lage der Frau in den letzten Jahren
verschlechtert.

Ab dieser Zeit wurde die Restauration des Kapitalismus in
der VR China eingeleitet. Dieser spielte ab Beginn der 1990er Jahre wieder die
bestimmende Rolle im Land. Schon vor der letzten Weltwirtschaftskrise war China
in die Reihen der imperialistischen Großmächte aufgerückt, was sich heute im
Hauptkonflikt zwischen China und den USA niederschlägt. Davor, seit dem
Korea-Krieg, war die VR China ein von Beginn an bürokratisch degenerierter
ArbeiterInnenstaat ähnlich der UdSSR, Osteuropa, Nordkorea und Kuba. Die
Mehrheit der Bevölkerung stellte aber bei Weitem die Bauern- und
Bäuerinnenschaft.

„Gender Pay Gap“, die Lohnschere zwischen Männern und Frauen,
spielt auch in China eine Rolle. War China 2008 noch auf Platz 57, was diese
Ungleichheit angeht, lag sie im Jahr 2017 nur noch auf Platz 100. Noch
schlechter schnitten Frauen mit Kind in China ab. Ist der Negativmaßstab 42 %
weniger Lohn für Mütter, beträgt er für kinderlose Frauen immerhin 37 %.
Und dies, obwohl es mittlerweile eine Vielzahl von sehr gut ausgebildeten
Frauen in China gibt. Diese Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt führt dazu,
dass Frauen entweder in die ökonomische Abhängigkeit von ihrem Ehepartner
gedrängt werden, der sie aufgrund fehlenden Geldes nur schwer wieder entfliehen
können, oder aber in die Schwarzarbeit, zu menschenunwürdigen Bedingungen. Letzteres
trifft gerade auf arme Frauen und den Großteil der weiblichen Landbevölkerung
zu – eine Gruppe, die, wenn sie in die Städte geht, um Arbeit zu suchen, in
China sowieso schon unabhängig vom Geschlecht kriminalisiert ist.

Die Restauration des Kapitalismus seit Mitte der 1970er
Jahre hat sich also negativ ausgewirkt. Die Bestrebungen Xi Jinpings, China zur
weltweit dominierenden imperialistischen Macht zu machen, also den USA ihren
Rang abzulaufen, haben ihr Weiteres dazu getan. Sein nationalistisches und
militärisches Programm ist dabei ebenso zu nennen wie seine neue
Wirtschaftspolitik. Die chinesische Wirtschaft wird heute vor allem von
Industrie und vom Dienstleistungsgewerbe dominiert. Allerdings verlagert China
seine Produktion zunehmend in afrikanische Länder und nach Südostasien, nicht
nur weil es dort lukrativer ist, sondern auch, um im Kampf um die Neuaufteilung
der Welt sein Einflussgebiet zu vergrößern. Mittelfristig wird dies gerade jene
Frauen treffen, die durch die Restaurationspolitik eine Arbeit in der kapitalistisch
umstrukturierten Industrie annehmen mussten und deren Arbeitsplätze in China
wegfallen werden.

Frauenbewegung in
der VR China

Schaut man sich ein Bild vom letzten Parteitag der
chinesischen Kommunistischen Partei an, sieht man…..Männer. Dieses Bild steht
sinnbildlich für die Rolle der Frau in den Augen der KP im Jahr 2019.

Auch die offizielle Frauenorganisation kann dieses
Missverhältnis nicht aufheben und möchte es auch nicht. Doch eine unabhängige
Organisierung in China ist schwierig, da es weder Presse- noch
Versammlungsfreiheit gibt, geschweige denn das Recht, sich legal zu
organisieren.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Proteste von Frauen. Insbesondere die Themen häusliche und sexualisierte Gewalt spielten dabei eine wichtige Rolle. Im Jahr 2017 rangierte China auf einem der letzten Plätze, wenn es um „Überleben und Gesundheit“ von Frauen geht. Kein Wunder, dass es die #Me-Too-Bewegung sogar bis nach China geschafft hat. Über Tausende beteiligten sich und Hunderte Millionen Menschen (Vergleich: Deutschland hat nicht einmal 100 Millionen Einwohner_Innen) teilten die Beiträge von Frauen, die über ihr Erlebtes berichteten. Über 70 % der chinesischen Frauen gaben an, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. Dennoch geht man von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Nach einer solchen Umfrage musste das zuständige Institut in Guangzhou (Kanton), das zu Gleichberechtigung forschte, seine Arbeit einstellen. Außerdem wurden in sozialen Medien die Accounts von Aktivist_Innen gesperrt. Daran erkennt man ,wie sehr dem Staat dieses Thema ein Dorn im Auge ist.

Auch die 37-tägige Inhaftierung der sog. „Feminist Five” Li
Maizi, Zheng Churan, Wei Tingting, Wu Rongrong und Wang Man im Jahr 2015
bestätigt dies. Man versucht, durch solche Aktionen die Aktivist_Innen nicht
nur zum Schweigen zu bringen, sondern auch durch das Abschneiden von der
Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten zu lassen. Doch gerade Aktivist_Innen
wie Li Maizi macht man nicht so leicht mundtot. Sie engagiert sich nicht nur
für Frauenrechte in China, sondern stellt auch ein Bindeglied zur
kriminalisierten LGBTIQ-Community her. Diese wiederum hat viele weibliche
Aktivist_Innen und nicht nur solche, die selbst Teil der Community sind. Auch
viele Mütter, die sich gegen die Entkriminalisierung ihrer Kinder einsetzen,
beteiligen sich am Protest.

Was tun die Gewerkschaften für chinesische Frauen?

Im Grunde kann man sagen, dass die einzige legale
Gewerkschaft (Allchinesischer Gewerkschaftsbund; ACGB) mit über 300 Millionen
offiziellen Mitgliedern keine Gewerkschaft im eigentlichen Sinne darstellt. Sie
ist weder in den Betrieben verankert noch vertritt sie die Interessen der Arbeiter_Innen.
Auch ist ihre Führung durch den Staat eingesetzt und somit nicht frei gewählt.
Insgesamt besteht die Strategie Pekings darin, Protest zu entpolitisieren.

Dennoch gab es einen Anstieg von Arbeitskämpfen in China in den
letzten 30 Jahren, was mit seiner Entwicklung zu einem wichtigen Player des
kapitalistischen Systems zusammenhängt. Gerade der Südosten Chinas hat viele
Kämpfer_Innen hervorgebracht. So gab es bspw. seit 2008 immer wieder Streiks im
Reinigungsbereich. Angeführt wurden diese von Frauen. Auch in China ist dies
ein Sektor, in dem gerade Menschen arbeiten, die sonst keine bessere
Jobperspektive haben wie Alte, Arme, Migrant_Innen und Frauen. Im Jahr 2014
wurde das Guangzhou’s Higher Education Mega Center, das 200.000 Studierende
umfasst, von den Arbeiter_Innen der Putzfirma bestreikt. Von Anfang an
verbanden sie Migrant_Innen und Frauen durch Selbstorganisierung. Sie wählten
sogar 18 Vertreter_Innen, von denen 5 zugelassen waren, für Gespräche mit der
Firma. Ebenso solidarisierten sich Hunderte Studierende. Diese Arbeitskämpfe
bilden einen wichtigen Pol, um den herum sich der Aufbau vom Staat
unabhängiger, klassenkämpferischer und antibürokratischer Gewerkschaften
vollziehen kann, die überdies weit mehr Schichten als die
ArbeiterInnenaristokratie organisieren müssen und können.

Innere Widersprüche
und die Stellung der Frau in China

Wie in allen anderen Kulturkreisen gibt es auch in China
historische Begebenheiten und Vorstellungen, die die Stellung von Frauen sowie
das Miteinander der Gesellschaft bis heute prägen. In Ostasien ist das u. a.
die Philosophie des Konfuzianismus.

Allerdings war eines der einschneidendsten Erlebnisse für
Frauen in der jüngeren Vergangenheit vor allem die Ein-Kindpolitik ab 1979, die
vor ein paar Jahren abgeschafft wurde. Familien durften nur ein Kind bekommen
(mit Ausnahmen u. a. auf dem Land, da dort die Arbeitskraft benötigt
wurde) und Mädchen wurden in großer Zahl getötet. Gründe dafür sind  nicht nur das Prestige, dass ein Junge
und späterer Erbe mit sich brachte, sondern auch die Tatsache, dass Mädchen, um
zu heiraten, ihre Familien verlassen würden und sich somit nicht um die Eltern
kümmern könnten. Heute kommen ca. 100 Frauen auf 121 Männer. Die Auswirkungen
hiervon sind Raub an jungen Mädchen in China und angrenzenden Ländern sowie
eine Konzentration unverheirateter Männer in armen Provinzen.

Am Beispiel Hongkong kann man viele Widersprüche innerhalb
der chinesischen Gesellschaft ab der Phase der Restauration erkennen und
beschreiben. Hier ist der Konflikt zwischen kapitalistischen Bestrebungen und
Frauenbefreiung täglich sichtbar, die Probleme der doch nicht so
gleichgestellten Frau treten offen zu Tage.

Hongkong ist für viele Chines_Innen das Ziel ihrer Träume.
Die ehemalige britische Kronkolonie, heutige bedeutender Finanzstandort, verspricht
der armen Bevölkerung auf dem Land Arbeit und ein besseres Leben. Doch kann die
Stadt dieses Versprechen nicht halten. Dennoch ist dies eine Frage, die nur
wenige von den immer wieder aufkeimenden und aktuell stattfindenden Protesten
aufgreifen. Etwa die Hälfte aller Demonstrant_Innen bei den weiterhin
anhaltenden Protesten sind Frauen. Unabhängige Frauengruppen- und -initiativen
haben sich herausgebildet. Dennoch: Veraltete Rollenbilder von Frauen, die
schweigen und sich gefälligst mit nichts außerhalb des privaten Raums
beschäftigen sollen, gibt es natürlich nicht nur in Europa, sondern auch in
Ostasien. Um Frauen daran zu erinnern, wo aus patriarchaler Sicht ihr Platz
ist, greifen Polizist_Innen in Hongkong zu einer ganz besonderen Form der
Gewalt: sexualisierter Gewalt. Ungefähr jede fünfte Frau, die festgenommen
wurde, berichtet von sexueller Belästigung und Gewalt durch die Polizei. Die
Bewegung reagierte mit Demonstrationen dagegen, die von Tausenden besucht
wurden. Und nicht nur Frauen solidarisieren sich, auch Männer. Ein kleiner
Anfang.

Proletarische Frauenbewegung
jetzt!

Die #Me-Too-Bewegung hat den Bedarf, den es auch in China
gibt, gezeigt. Jetzt gilt es, praktische Maßnahmen zu ergreifen. Es braucht
nicht nur eine Selbstorganisierung, sondern aufgrund der hohen Zahlen an
häuslicher und sexualisierter Gewalt organisierten Selbstschutz. Doch eine Organisierung
der Frauen ist nur möglich, wenn man einerseits trotz all der Repression immer
wieder Öffentlichkeit für die Themen schafft und andererseits die
Herausforderung angeht, trotz überwachter sozialer Medien, Frauen über größere
Entfernungen hinweg zu organisieren, egal ob in der Stadt oder auf dem Land.
Hier kann allerdings von der Queerbewegung gelernt werden, die es seit Jahren
immer wieder erfolgreich schafft, sich zu organisieren und auch Treffen zu abzuhalten.
Der Gebrauch von dafür genutzten Tarninternetseiten sollte aber dabei dem
Verkehr über WeChat vorgezogen werden.

Die Perspektive, die eine chinesische Frauenbewegung braucht
sind nicht nur praktische Antworten auf Diskriminierung, sexualisierte Gewalt
und Repression, sondern auch eine Verbindung der Kämpfe mit anderen Betroffenen
der chinesischen Politik, sprich eine internationalistische Perspektive. Ebenso
darf man nicht vergessen, dass derzeit viele der Aktivist_Innen aus der
gebildeten Schicht in den Großstädten stammen. Auf die Interessen von proletarischen
Frauen muss daher dringend eingegangen werden. Eine Verbindung einer
chinesischen Frauenbewegung mit der von Peking stillgehaltenen Arbeiter_Innenbewegung
ist unabdinglich. Alles andere als eine solche proletarische Frauenbewegung würde
auch darüber hinwegtäuschen, dass die Auswirkungen der neuen Politik und der
patriarchalen Gesellschaft Chinas gerade Arbeiterinnen trifft. Sie werden von
ihren Familien getrennt und kriminalisiert, weil sie versuchen, in den Städten
Arbeit zu finden. Sie sind es, die aufgrund schlechter Ausbildung und Jobs der
häuslichen Gewalt nicht entfliehen können und auch zunehmend ihre Jobs
verlieren werden, wenn China die Produktion weiter ins Ausland verlagert.
Gleichzeitig sind nur sie zahlenmäßig und von ihrer Klassenstellung her im
Unterschied zu (bildungs-)bürgerlichen und Mittelschichten dazu in der Lage,
durch Streiks, v. a. gemeinsame mit ihren männlichen Kollegen, und weitere
Mittel die chinesische Gesellschaft in Bewegung zu setzen und für die Befreiung
der Frau einzutreten.

Kommunistinnen müssen an vorderster Front in den
Massenorganisationen ihrer Klasse arbeiten, v. a. in Gewerkschaften und
Frauenbewegung, um sie für revolutionär-sozialistische Ziele zu gewinnen, eine
neue revolutionäre kommunistische Massenpartei und kommunistische
Frauenorganisation aufzubauen.

  • Für eine internationale, proletarische Frauenbewegung und -internationale!
  • Für Frauenselbstorganisierung- und -selbstverteidigungsgruppen!
  • Bildet unabhängige Gewerkschaften!
  • Für den Aufbau einer revolutionären Fünften ArbeiterInneninternationale!



Hongkong: Massendemonstrationen, chinesische Truppen an der Grenze

Peter Main, Infomail 1065, 20. August 2019

Eine
Demonstration durch das Zentrum Hongkongs, die elfte seit Anfang Juni, zu der
von der Civil Human Rights Front (Bürgermenschenrechtsfront) für Sonntag, den
18. August, aufgerufen wurde, war von den Hongkonger PolizeichefInnen verboten
worden. Trotzdem folgten rund 1,7 Millionen Menschen dem Aufruf und
marschierten durch die Stadt. Die Repressionsorgane schritten nicht ein. Die
Konfrontation geht weiter.

Zentrale
Forderungen und Zusammenstöße

Die zentralen
Forderungen der Demokratiebewegung sind die vollständige Rücknahme des
vorgeschlagenen Auslieferungsgesetzes, die Freilassung aller noch inhaftierten
DemonstrantInnen, die Einstellung der Anklagen gegen mehr als 600 Personen und
eine unabhängige Untersuchung der polizeilichen Zusammenarbeit mit den Triaden,
der Mafia von Hongkong. Die Front rief zu dem Marsch jedoch ausdrücklich auf
aus Protest gegen Polizeigewalt während der Straßendemos letzte Woche und gegen
den Angriff auf den Protest auf dem internationalen Flughafen am Montag und
Dienstag.

Vor allem für
Tausende von jungen AktivistInnen sind es die Taktiken der Polizei, die die
Demonstrationen ebenso stark vorantreiben, wie es die Forderungen der Kampagne
tun. Die Besetzung des Flughafens zum Beispiel war eine Reaktion auf den
Einsatz von Hunderten von Tränengasgranaten, auch in sehr engen Räumen wie
U-Bahn-Stationen, und das Abfeuern von Gummigeschossen und sogenannter
Beanbag-Munition (Power Punch; Schockgeschosse aus Schrot in Beuteln, die ihre
Wirkung vollständig auf die Körperoberfläche übertragen, jedoch nicht
eindringen sollen) in Menschenmengen aus nächster Nähe während der
Demonstrationen der vergangenen Woche. Die Anwesenheit von internationalen
Reisenden auf dem Flughafen gab den DemonstrantInnen nicht nur die Möglichkeit,
ihre Forderungen einem breiteren Publikum zu erläutern, sondern bot auch einen
gewissen Schutz vor der Polizei.

Dennoch gab es
mehrere blutige Zusammenstöße, einige davon ausgelöst durch die Anwesenheit von
verdeckter Polizei, die sich als Protestierende ausgab, aber die Verhaftung
einzelner AktivistInnen leitete. Die Zahl der Schwerverletzten führte sogar
dazu, dass medizinisches Personal in sieben Krankenhäusern der Stadt am
Dienstag aus Protest gegen die Gewalt der Polizei Sitzstreiks veranstaltete.

Diese physische
Gewalt fand ihre propagandistische Entsprechung durch immer aggressivere
offizielle Erklärungen sowohl von der Hongkonger Regierung als auch von den
Behörden des chinesischen Festlandes und verstärkte sie möglicherweise noch. So
gab beispielsweise das Verbindungsbüro Pekings in Hongkong eine Erklärung
heraus, in der es hieß, dass sich die Aktionen der DemonstrantInnen am
Flughafen „nicht von denen der TerroristInnen unterscheiden“. Dies soll eine
klare Warnung sein, dass die Polizei sie als solche behandeln darf. Die
provokante Sprache wurde auch durch Aktionen unterstützt wie bspw. die
publikumswirksame Stationierung von Tausenden von paramilitärischen PolizistInnen
in einem Sportstadion in Shenzhen, gleich hinter der Grenze zu Hongkong.

Stellung von
Hongkong

Obwohl allein
ihre Präsenz den Ernst der Situation unterstreicht, glauben nur wenige, dass
diese Kräfte tatsächlich nach Hongkong selbst einfallen würden. Das könnte nur
von Peking entschieden werden, und die chinesische Festlandregierung hat ein
echtes Interesse daran, die Fiktion „ein Land, zwei Systeme“
aufrechtzuerhalten. Buchstäblich Milliarden von Dollar an Investitionen und
Handel fließen jedes Jahr durch Hongkong, gerade weil ausländische
InvestorInnen und Unternehmen sein eigenes Rechtssystem als eine zuverlässigere
Verteidigung ihrer Interessen betrachten als das des Festlandes.

Die USA zum
Beispiel haben ihren Hong Kong Policy Act, der es US-Unternehmen erlaubt,
Hongkong als Drehscheibe für Handelsgeschäfte zu nutzen, aber nicht direkt mit
dem Festland in Verbindung zu treten. Das wurde 1992 beschlossen, als
Washington erkannte, dass es die in China zu erzielenden reichen Gewinne
verpassen könnte, wenn es die nach dem Massaker von Tian’anmen (Platz des
Himmlischen Friedens) 1989 eingeführte pauschale Sanktionspolitik beibehalten
würde.

Heute liegt ein
Vorschlag vor, das Gesetz jedes Jahr zu erneuern, damit bei einem Verstoß gegen
die Autonomie Hongkongs Sanktionen verhängt werden können. Eine Besetzung durch
die paramilitärische Polizei, geschweige denn durch die Volksbefreiungsarmee,
wäre natürlich ein solcher Verstoß, und das wird bei den Berechnungen Pekings
schwer wiegen.

Eine noch
schwerwiegendere Überlegung ist jedoch die Möglichkeit, dass eine erfolgreiche
Missachtung der Zentralregierung durch eine Massenbewegung, die demokratische
Rechte fordert, eine solche auf dem Festland selbst auslösen könnte. Solange
die Demokratiebewegung als eine von den USA oder der alten Kolonialmacht, dem
Vereinigten Königreich von Großbritannien, organisierte Mittelstandskampagne
dargestellt werden kann, wird es wenig Sympathie für sie geben, aber eine
Bewegung, die offen demokratische Rechte fordert und die ArbeiterInnenklasse
mobilisiert, wäre ein anderes Kaliber.

Generalstreik

Das ist die
Bedeutung des Protesttages am Montag, den 5. August, der durch den Aufruf zum
Generalstreik durch den Gewerkschaftsverband Hong Kong Confederation of Trade
Unions, HKCTU, unterstützt wurde. In vielen Bereichen des Territoriums kam es
zu erheblichen Stillständen, was die tatsächliche Feindseligkeit nicht nur
gegenüber dem vorgeschlagenen Auslieferungsgesetz, sondern ganz allgemein auch
gegenüber der Unfähigkeit der Hongkonger Regierung, die Erosion der Autonomie
zu verhindern, zeigt.

Es handelte sich
jedoch nicht um einen Generalstreik im Sinne einer Mobilisierung des vollen
Gewichts der ArbeiterInnenorganisationen für die Schließung des Gebiets, bis
ihre Forderungen erfüllt waren. Die HKCTU ist die kleinere der beiden
Gewerkschaftsorganisationen. Die größere, die Hong Kong Federation of Trade
Unions, HKFTU, ist pekingfreundlich und feindlich gegenüber der
Demokratiebewegung eingestellt. Am 5. August rief die HKCTU die ArbeiterInnen,
dazu auf, die bestehende Führung der Bewegung, der Civil Human Rights Front, zu
unterstützen, die sich größtenteils aus VertreterInnen von NGOs und
berufsständischen Organisationen zusammensetzt.

Dennoch ist die
Erkenntnis, dass es mehr als nur Demonstrationen am Wochenende braucht, ein
wichtiger Schritt nach vorn, auf dem die Linke in Hongkong aufbauen sollte. Die
Gefahr besteht jetzt darin, dass die Behörden die gleiche Strategie wie gegen
die Besetzungsbewegung im Jahr 2014 verfolgen: die Repression entpolitisieren,
indem sie sich auf die Gerichte verlassen, um Unterlassungsklagen zu verhängen,
die dann eine selektive Inhaftierung rechtfertigen, um wichtige AktivistInnen
zu entfernen, und darauf warten, dass der Bewegung Ideen und Dynamik ausgehen, wenn
die Schulen und Universitäten im September wieder beginnen. Sie könnten sogar
feststellen, dass die harten Polizeitaktiken dazu beitragen, die Bewegung
derzeit aufrechtzuerhalten.

Sicher ist, dass
die derzeitige Führung der Bewegung, die sich nicht nur auf ihre Unterstützung
durch die breite Öffentlichkeit, sondern auch durch die Geschäfts- und
Handelsklassen stützt, niemals in der Lage sein wird, den Umfang der Maßnahmen
zu fordern und zu organisieren, die notwendig sind, um Peking echte Zugeständnisse
abzutrotzen. Ihre Kampagne basiert letztlich auf dem Glauben, dass, wenn sie
beweisen können, dass ihre Forderungen die überwältigende Unterstützung der
Bevölkerung von Hongkong finden, die Regierung diesen Forderungen am Ende
nachgeben muss.

Wie 2014 gezeigt
hat, ist das einfach nicht wahr. Nach den riesigen Demonstrationen im Juni und
Juli, bei denen bis zu zwei Millionen Menschen auf den Straßen waren,
unterstützen die Menschen zweifellos die Forderungen, aber selbst wenn das bei
Hongkongs Regierungschefin, Carrie Lam, Gewicht hatte, tut es das sicherlich
nicht bei ihren eigentlichen politischen TaktgeberInnen in Peking. Der
Fortschritt der Bewegung hängt nun nicht mehr von der Kraft des Arguments ab,
sondern vom Argument der Kraft. Das bedeutet vor allem, die Funktion Hongkongs
als wichtige Schnittstelle für Handel und Finanzen zwischen China und dem Rest
der Welt zu lähmen.

Nur ein echter
Generalstreik, ein Streik, der die gesamte Produktion, den gesamten Verkehr,
alle Publikationen, alle Fernseh- und Radioanstalten lahmlegt, kann das tun.
Ein solcher Streik kann nicht aus dem Nichts mobilisiert werden, er muss in
Betrieben und Wohnsiedlungen selbst aufgebaut werden. Das ist die Aufgabe, der
sich die Linke und die Tausenden von StudentenaktivistInnen stellen sollten.
Dafür dürften die bestehenden Kampagnenparolen nicht ausreichen.

Insbesondere
gegen die pekingfreundlichen Gewerkschaften und deren Führung muss die Bewegung
Forderungen gegen die klaffende Ungleichheit in Hongkong erheben, für eine
massive Aufstockung der Mittel für Sozialwohnungen, Sozialdienste, Gesundheit
und Bildung. Bereits jetzt wird bei den Demonstrationen die Forderung nach
allgemeiner Wahl und einer gewählten, nicht ernannten Regierung in Hongkong
gehört, und die ArbeiterInnenbewegung sollte dies zu einer zentralen Forderung
machen, aber nicht nur für Hongkong, sondern für ganz China. Sie muss diese
Verbinden mit der Forderung nach Organisationsfreiheit für eine illegal oder
halblegal existierenden ArbeiterInnenbewegung.

Beschränkungen

Die bestehende
Kampagne stößt an ihre Grenzen, und in ihr wird ständig über das weitere
Vorgehen diskutiert. In dieser Gärung von Ideen müssen sich diejenigen, die
sowohl die Notwendigkeit als auch die Dringlichkeit der Mobilisierung der
ArbeiterInnenklasse erkennen, die die utopische Fantasie der Unabhängigkeit für
Hongkong durchschauen und die Notwendigkeit verstehen, den Kampf gegen Pekings
bürokratische Einparteiendiktatur auf das Festland selbst zu führen, sich als
Kern einer neuen ArbeiterInnenpartei organisieren, die sich dem Sturz sowohl
dieser Diktatur als auch der der KapitalistInnen in Hongkong und ganz Chinas
widmet.




China: Tian’anmen, 30 Jahre danach

Peter Main, Infomail 1057, 3. Juni 2019

In den frühen
Morgenstunden des 4. Juni 1989 stießen Panzer und Infanterie der
Volksbefreiungsarmee auf den riesigen Platz des Himmlischen Friedens vor, der
vor der „Verbotenen Stadt“ Pekings, dem Regierungssitz, liegt. Der Platz selbst
wurde von zehntausenden AnhängerInnen der „Demokratiebewegung“ besetzt,
hauptsächlich von StudentInnen, die dort mehrere Wochen lang campiert hatten.
Die Panzer stoppten ihren Vormarsch nicht, ihre Spurketten zerstörten die Zelte
und überrollten viele, die nicht entkommen konnten. Viele weitere starben, als
Truppen das Feuer direkt in die Menge eröffneten.

Als sich die
Nachricht vom Massaker von Tian’anmen verbreitete, formierten sich Proteste von
Millionen in allen großen Städten Chinas. Generalstreiks brachten einen
Großteil des Landes zum Erliegen. Das Kriegsrecht, das am 18. Mai in Peking
verkündet wurde, wurde auf das gesamte Land ausgedehnt, und alle
Mobilisierungen wurden so grausam unterdrückt wie in der Hauptstadt. Im Juli
war jeglicher Widerstand gebrochen. Die verbleibende Aktivität beschränkte sich
auf das Verstecken von AktivistInnen und den Versuch, die Toten und die
Vermissten zu dokumentieren.

Vorgeschichte

Die Bewegung,
die so blutig endete, besaß ihre Vorläuferin in der Mobilisierung der „Mauer
der Demokratie“ ein Jahrzehnt zuvor. So wie diese spiegelte sie eine Spaltung
in der Führung der Kommunistischen Partei Chinas, KPCh, in der
Wirtschaftspolitik wider. 1978 endete die Debatte mit dem Sieg der Vorschläge
von Deng Xiaoping, das Wachstum durch „Marktreformen“ des Systems der
staatlichen Planung zu stimulieren. Bis Mitte der 1980er Jahre hatten diese
jedoch widersprüchliche Ergebnisse erbracht. Die Wiedereinführung der privaten
Landwirtschaft hatte die Jahresproduktion um bis zu 13 Prozent erhöht und das
Wachstum der privaten Leichtindustrie angefacht, aber eine erhöhte Autonomie
der Leitung in der staatlichen Industrie hatte keine nennenswerte Entwicklung
gebracht.

Die Debatte
darüber, wie dieser Widerspruch gelöst werden konnte, hatte nicht nur die
FührerInnen der KP Chinas beschäftigt. In den Universitäten und den Ministerien
gerieten ExpertInnen, von denen einige an „westlichen“ Universitäten studieren
durften, über das weitere Vorgehen in Streit. Solche Argumente fanden natürlich
ihren Weg in die Zeitschriften und damit in die Hörsäle und Seminarräume. Hu
Yaobang, der Generalsekretär der KP Chinas, ermutigte solche Debatten und
machte deutlich, dass er nicht nur mehr „vermarktende“ Reformen, sondern auch
eine politische Entspannung befürwortete.

Im Januar 1987
wurde Hu durch Zhao Ziyang ersetzt, aber dies führte nicht zu einer sofortigen
Änderung der Politik. Im September 1988, als sich die Parteiführung nicht auf
eine Preisreform einigen konnte, wurde die Situation noch verschärft. Diese
Lähmung auf höchster Ebene konnte nicht öffentlich gemacht werden, aber sie war
hinreichend bekannt, insbesondere unter der Intelligenz.

Was das Thema in
die Öffentlichkeit brachte und die Demokratiebewegung auslöste, war der Tod von
Hu Yaobang bzw. seine Beerdigung im April 1989. Die Beisetzung eines
hochrangigen Parteivorsitzenden war eine öffentliche Veranstaltung, die jedoch
vor allem für StudentInnen zu einer Gelegenheit wurde zu demonstrieren, und die
Unterstützung eines Mann zum Ausdruck zu bringen, der sich für politische
Debatten und sogar Pluralismus eingesetzt hatte. Es wurden Forderungen nach
einer freien Presse, nach Maßnahmen gegen korrupte BeamtInnen und nach der
Anerkennung unabhängiger studentischer Organisationen laut. Die Demos wurden
von den Pekinger EinwohnerInnen begeistert angefeuert, und dies sorgte, gepaart
mit der offiziellen Trauer um Hu, für das Ausbleiben von Repression.

Ausweitung und
Besetzung

Ermutigt durch
diese Erfahrung riefen die StudentInnen eine Demonstration zum Gedenken an die „Bewegung
des vierten Mai“ von 1919 aus (Proteste gegen den Versailler Vertrag, der China
nicht die Aufhebung der „Ungleichen Verträge“ und 21 Forderungen Japans
brachte). Zehntausende folgten dem Aufruf und die Demonstration betrat den
Platz des Himmlischen Friedens ohne die erwartete offizielle Opposition. Mehr
noch, Zhao Ziyang selbst erklärte öffentlich, dass vieles, was die StudentInnen
wollten, im Einklang mit der Parteipolitik stand.

Nichtsdestotrotz
änderte sich nichts und die StudentInnen beschlossen, weitere Demonstrationen
zu veranstalten, um den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow
am 15. Mai zu begrüßen. Gorbatschow selbst wurde mit der Einführung von „Glasnost“
und „Perestroika“, Offenheit und Umbau in der Sowjetunion in Verbindung
gebracht, und die Botschaft der StudentInnen an die KPCh-Führung hätte kaum
deutlicher sein können.

Die
Menschenmassen auf dem Platz des Himmlischen Friedens waren so groß, dass Gorbatschow
durch einen Seiteneingang ungesehen in die Verbotene Stadt gebracht werden
musste. Nun begann die dauerhafte Besetzung des Platzes. Hunderte von
StudentInnen begannen einen Hungerstreik, um ihren Forderungen Nachdruck zu
verleihen. Drei Tage später lehnte der Ständige Ausschuss des Politbüros, die
tägliche Führung der Partei, Zhaos Vorschlag für Konzessionen an einige der
Forderungen der StudentInnen ab. Nachdem er diese besucht hatte, wurde er aus
dem Amt entfernt und am nächsten Tag erklärte Li Peng, der Premierminister, in
Peking das Kriegsrecht.

Die sofortige
Reaktion war ein massiver Protest der Pekinger Einwohnerschaft. Mehr als eine
Million Menschen besetzten nun den Platz. Streiks lähmten die ganze Stadt und
verhinderten, dass Truppen das Zentrum erreichten. Am Abend wurde die
Organisation Autonomer ArbeiterInnen Pekings gegründet. Zwei Wochen lang hielt diese
Situation an. Außerhalb von Peking wuchs die Demokratiebewegung in den
Provinzstädten, und viele beschlossen, Delegationen von StudentInnen und
ArbeiterInnen in die Hauptstadt zu entsenden.

Es war ihre
Ankunft auf dem Platz des Himmlischen Friedens, verbunden mit der zunehmenden
Verbrüderung zwischen lokalen Garnisonstruppen und den DemonstrantInnen, die
Deng, den „obersten Führer“, davon überzeugten, dass die gesamte Bewegung
endgültig gestoppt werden musste. Ende Mai gab es einen separaten und ganz
eigenen „ArbeiterInnenabschnitt“, der die nordwestliche Ecke des Platzes
einnahm. Das erste Zeichen dessen, was kommen sollte, war die gewaltsame
Verhaftung der FührerInnen der Autonomen ArbeiterInnenorganisation am 31. Mai.
In den nächsten zwei Tagen brachen wiederholte Versuche, das Zentrum Pekings
mit unbewaffneten Truppen zu besetzen, angesichts der Verbrüderung zusammen.
Inzwischen waren jedoch Truppen aus fernen Provinzgarnisonen in der Hauptstadt
angekommen, die in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni zur Räumung des Platzes
eingesetzt wurden.

Charakter des
Massakers

Damals und
seither haben die FührerInnen der KP Chinas das Massaker von Tian’anmen als
notwendige Unterdrückung eines „konterrevolutionären Aufstands“ gerechtfertigt.
Dass es sich nicht um einen Aufstand handelte, geht aus dem Charakter der
Ereignisse hervor: Kein Aufstand dauert mehr als einen Monat und beinhaltet
Aktionen in jeder Großstadt. Aber war die Bewegung konterrevolutionär? Für
MarxistInnen, und die FührerInnen der KPCh sagen, dass sie MarxistInnen sind,
würde das einen bewussten Versuch bedeuten, den Kapitalismus in China
wiederherzustellen, d. h. das Planungssystem zu demontieren, das
staatliche Außenhandelsmonopol abzuschaffen und das staatliche Eigentum zu
privatisieren.

Keine dieser
Maßnahmen stand in den Forderungen der Demokratiebewegung, die sich stattdessen
auf demokratische Rechte konzentrierte: Pressefreiheit; Versammlungsfreiheit;
für ein pluralistisches politisches System; das Recht, Organisationen wie
Gewerkschaften und studentische Verbände zu bilden. Darüber hinaus beschränkte
sich die Bewegung, weit vom Versuch entfernt, den Staatsapparat zu stürzen, darauf,
diesen Apparat aufzufordern, diese Rechte als Reformen einzuführen. Höchstens
war dies eine massenhafte, radikale, demokratische Protestbewegung.

Mit der Gründung
von proletarischen Organisationen wie der Autonomen ArbeiterInnenorganisation
in Peking, der Verbrüderung mit den SoldatInnen und der Spaltung in der Führung
der herrschenden Partei verfügte die Bewegung sicherlich über das Potenzial,
sich zu einer Revolution gegen die Parteidiktatur zu entwickeln, die wir als
politische Revolution bezeichnen würden, die die bestehenden planwirtschaftlichen
Strukturen zwar massiv von unten reformieren, aber nicht zerschlagen und durch
kapitalistische ersetzen würde. Das wäre vergleichbar gewesen mit den vielen
Revolutionen der „Volksmacht“, die wir gegen Diktaturen in kapitalistischen
Ländern erlebt haben, die auch den kapitalistischen Charakter der Wirtschaften
unbeeinträchtigt ließen. Allerdings wurde die Bewegung in China in Blut
ertränkt, bevor sie dieses Potenzial entwickeln konnte.

Konterrevolutionäre
Politik der KPCh

Zu beachten ist,
dass Deng Xiaoping, derselbe „oberste Führer“ der KPCh, 1992 selbst den Abbau
des Planungssystems, die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols und
die Privatisierung und Trustbildung eines Großteils der staatlichen Industrie
vorgeschlagen hat. Um das Funktionieren des neuen Systems sicherzustellen, hat
das Regime auch das Recht der ArbeiterInnen auf Arbeit, Wohnung,
Krankenversicherung und Bildung für ihre Kinder abgeschafft. So waren es die
Führung und der Apparat der Kommunistischen Partei Chinas, die die wirklich
konterrevolutionäre Kraft verkörperten, und sie konnten nur ihre Wiederbelebung
des Kapitalismus vollenden, weil sie auf dem Platz des Himmlischen Friedens die
Fähigkeit der ArbeiterInnenklasse, sich selbst und ihre Interessen zu
verteidigen, zerstörte.

Bis zum heutigen
Tag wird die Partei keine erneute Bewertung der Ereignisse von 1989 zulassen.
Das mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen: Der durch die
„Kulturrevolution“ verursachte Schaden wurde kritisiert, und selbst Mao Zedong
wird als „fehlerhaft“ eingestuft. Der Punkt ist, dass es sich dabei um interne
Streitigkeiten innerhalb des bürokratischen Apparats handelte, auf dem die
Partei beruht, und die „Neubewertungen“ wurden von der siegreichen Fraktion
vorgenommen. Die Demokratiebewegung konnte aufgrund der Spaltungen innerhalb
der Bürokratie zu einem landesweiten Ausmaß wachsen, war aber als Bewegung eine
Bedrohung für die gesamte Parteidiktatur. Daher würde alles andere als eine
vollständige Verurteilung die Leugnung der „führenden Rolle der Partei“
bedeuten.

Die anhaltende
Feindseligkeit der bürokratischen Partei gegenüber demokratischen
Beschränkungen ihrer eigenen Macht zeigt sich deutlich an ihrer brutalen
Unterdrückung nationaler Minderheiten wie der Uiguren von Xinjiang, der
stetigen Erosion der BürgerInnenrechte in Hongkong und dem Einsatz modernster
Technologien zur Überwachung der gesamten Bevölkerung, ohne dass diese Zugang
zu Informationen erhält. Diese Maßnahmen selbst garantieren praktisch, dass
demokratische Forderungen in jeder zukünftigen Massenbewegung eine zentrale
Rolle spielen werden.

Es gilt jedoch
noch eine weitere Lektion zu ziehen. Die bürokratische Diktatur stellte den
Kapitalismus wieder her, um ihre eigene Herrschaft zu bewahren, als ihre
Kontrolle der Wirtschaftsplanung Wachstumsraten gegen Null erzielte. So wie sie
kein grundlegendes Engagement für die Planwirtschaft zeigte, so verfügt sie
auch über keins für das spontane Funktionieren des kapitalistischen
Wettbewerbs, ganz zu schweigen von den demokratischen politischen
Institutionen, die manchmal mit dem Kapitalismus verbunden sind. Dies eröffnet
die Möglichkeit von Interessenkonflikten zwischen der Bürokratie und der
KapitalistInnenklasse, die sie ins Leben gerufen hat. Bislang haben sich Chinas
KapitalistInnen damit begnügt, die bürokratische Herrschaft zu akzeptieren,
weil sie Gewinne garantierte, aber mit der Entstehung von global bedeutsamem
Kapital könnte sich dies mit der Zeit ändern.

Unter dem Druck
des verlangsamten Wirtschaftswachstums und des Handelskrieges von Trump wird
die Annahme in Frage gestellt, dass die Partei die Garantin für soziale
Stabilität ist, auch von denen, die in der Vergangenheit davon profitiert
haben. In einem solchen Szenario sollte die ArbeiterInnenbewegung, die bereits
existiert, der aber alle Rechte verwehrt werden, ihr großes soziales Gewicht in
den Kampf für demokratische Forderungen einbringen. Wie 1989 könnte eine solche
Bewegung sehr schnell auf nationaler Ebene wachsen. Ihr Erfolg wird davon
abhängen, ob die ArbeiterInnenklasse ihre eigenen Organisationen bildet, vor
allem eine politische Partei, die von allen Fraktionen der Bürokratie und allen
Strömungen innerhalb der KapitalistInnenklasse unabhängig ist. Ihr Ziel sollte
der Sturz des gesamten Systems der bürokratischen Diktatur und ihre Ersetzung
durch eine ArbeiterInnenregierung sein, die auf den Kampforganisationen der
ArbeiterInnenklasse basiert und ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist.




„Handelskriege sind gut“ – Zur Gefahr eines globalen Handelskrieges

Markus Lehner, Neue Internationale 227, April 2018

Donald Trump mag in vielem wie ein Clown wirken. Diesmal könnten die von ihm unterzeichneten Dekrete zur Verhängung von Einfuhrzöllen auf Stahl und Aluminium und für Strafzölle gegen China historische Bedeutung annehmen..

Erste Runde der Tweets

Unmittelbar benutzt der US-Präsident ein Schlupfloch in der US-Handelspolitik, das ihm bei „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ erlaubt, am Kongress vorbei „Schutzzölle“ zu dekretieren. Allerdings sind die 25 % Einfuhrzölle auf Stahl und 10 % auf Aluminium nach den Regularien der Welthandelsorganisation WTO eher als Strafzölle zu verstehen.

Insofern machte der US-Präsident damit unmissverständlich klar, dass ihm die internationalen Handelsabkommen und ein eventuelles Strafverfahren bei der WTO im Zweifelsfall egal sind. Als die EU-Kommission darauf in vorhersehbarer Weise entlang eben dieser WTO-Regularien mit wertgleichen Gegenmaßnahmen drohte (25 % Zölle auf Whisky, Erdnussbutter, Jeans etc. im Einfuhrwert von 2,8 Milliarden Euro), reagierte Trump mit der Drohung, dann auch Einfuhrzölle auf Autos in ebensolcher Weise zu erhöhen. Mit Verweis auf das 800 Milliarden Handelsbilanzdefizit der USA erklärte Trump über Twitter, dass unter solchen Voraussetzungen „Handelskriege gut und leicht zu gewinnen“ seien.

Aufregung der Weltpresse

Am deutlichsten und dramatischsten reagierte der Londoner „Economist“, seit seiner Gründung 1843 ein „Zentralorgan“ des Freihandels. Auf der Titelseite des Journals wurde Trump als Handgranate dargestellt, mit der Überschrift „Gefahr für den Welthandel“. Das Blatt titelte am 8. März „The rule based system is in danger“ (Das auf dem Recht basierende System ist in Gefahr), zog Parallelen zu den 1930er-Jahren, als die USA unter Präsident Hoover in den Protektionismus (Smoot-Hawley Tariff Act) verfielen und dabei die Weltwirtschaftskrise erst recht zu einer globale Depression verschärften.

Nach Ansicht nicht nur des Economist würden die Zölle zwar kurzfristig die US-Stahlindustrie stützen, dafür aber die Vorprodukte der Stahl verarbeitenden Unternehmen, die zu den weitaus produktiveren Bereichen der US-Ökonomie zählen, verteuern. Dies war auch die Erfahrung mit dem letzten Versuch unter Präsident Bush, Zölle um 2005 für den Stahlbereich einzuführen. Letztlich war damals der Druck der anderen Industrien größer und führte zur Wiederabschaffung. Auch diesmal haben die großen Wirtschaftsverbände, allen voran die mächtige US Chamber of Commerce gegen eine Ausdehnung der Zollpolitik durch den Präsidenten Stellung bezogen (Protesterklärung vom 18.3.). Ihr folgte auch ein großer Teil der Abgeordneten, selbst der Republikanischen Partei. Der Rücktritt des Chef-Wirtschaftsberaters des Weißen Hauses, Gary Cohn, signalisierte sicherlich ein Zerwürfnis mit der Freihandelsfraktion in der US-Bourgeoisie. Allerdings wurde mit Lawrence A. „Larry“ Kudlow (ehemals Chefökonom bei der Investmentbank Bear Sterns) sofort wieder ein anderer Republikaner aus dem Businessflügel zum Nachfolger ernannt, der die Zollerhöhungen noch kurz davor als „versteckte Steuererhöhungen“, die 5 Millionen Jobs kosten würden, kritisiert hatte. Dies könnte darauf hindeuten, dass es den USA letztlich nicht wirklich um einen Handelskrieg, sondern um eine Neuverhandlung der Welthandelsbedingungen geht, in die jetzt Trump seine ökonomischen Bulldoggen Lighthizer (Handelsbeauftragter) und Ross (Handelsminister) schickt.

Dabei sind natürlich die USA alles andere als die „Leidtragenden“ des bestehenden Handelssystems. Zolltarife spielen seit den 90er-Jahren eine immer geringere Rolle im internationalen Handel – sie gingen im Weltdurchschnitt von 13,1 % im Jahr 1995 auf heute 7,5 % zurück. Die USA erheben auf EU-Waren im Durchschnitt 3,2 % Zoll, die EU auf US-Waren im Gegenzug 3,9 %. Insgesamt bleibt der Zolleffekt für die Handelsbilanz bisher marginal. Entscheidend ist hier das Preis-, sprich das Produktivitätsproblem bestimmter Sektoren der US-Industrie.

Das Handelsbilanzdefizit der USA wird allerdings andererseits wettgemacht durch die Stärke des US-Technologie- und -Finanzkapitals. So kommt es erst zustande, dass trotz des enormen Handelsbilanzdefizits der Dollar nicht wesentlich abstürzt. Das wiederum führt zur Bestärkung der Exportschwäche der herstellenden Industrie in den USA. Darüber hinaus haben die US-Konzerne wesentliche Bereiche ihrer Herstellung entweder in die NAFTA-Staaten (Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko) oder nach China ausgelagert. So sind 40 % der Importe von Elektronik-Waren in die USA tatsächlich Produkte von US-chinesischen Joint-Ventures. Offensichtlich haben große Teile des US-Kapitals von dieser Art internationaler Arbeitsteilung stark profitiert.

Konkurrenz China

Allerdings hat sich vor allem nach den Erschütterungen im Gefolge der Finanzkrise und den ihr nachfolgenden großen Investitionsprogrammen an der Rolle Chinas einiges geändert. Inzwischen ist das Land in den Wertschöpfungsketten der internationalen Arbeitsteilung wesentlich nach oben geklettert. Nunmehr beschäftigt China selbst Billigproduktion im von ihm abhängigen Ausland und hat technisches Know-how für eigene Hochtechnologie-Branchen angesammelt. Seine Konzerne können heute denen anderer Großmächte längst auf allen Gebieten Konkurrenz machen. Insbesondere die USA, die über Hochtechnologiekompetenz und Finanzkapital weiterhin am oberen Ende der internationalen Wertschöpfungskette stehen, müssen sich derzeit durch China essentiell herausgefordert fühlen. Die Teile des US-Kapitals, die diese Befürchtungen teilen, sind wohl auch hinter Trumps Aktionen zu sehen.

Daher war auch die Ankündigung der Zolltarife auf Stahl und Aluminium durch Trump am 8. März nur das Vorbeben zur eigentlichen Show, die am 22. März im Oval Office stattfand: die Ankündigung von Strafzöllen gegen China in der Höhe von 60 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: das von den Zöllen bei Stahl betroffene Volumen des EU-Exportes betrug etwa 5 Milliarden. Interessanterweise verkündete Lighthizer am selben Tag im zuständigen Kongresskomitee, dass die EU vorerst zusammen mit den NAFTA-Staaten, Australien, Argentinien, Brasilien und Südkorea (Japan wurde irgendwie vergessen) von den Zöllen für Stahl und Aluminium vorläufig (bis Anfang Mai) ausgenommen würden.

Letztere Tatsache zeigt, dass sich hier im Rahmen des Handelskonflikts auch eine verstärkte Neuordnung der imperialistischen Weltordnung abspielt. Noch Anfang März forderten alle Freihandels-EnthusiastInnen auch innerhalb der EU bis hin zu den SozialdemokratInnen geschlossene Ablehnung und begannen Gespräche mit China und anderen Mächten für gemeinsame Gegenaktionen. Kanada war als erstes umgefallen, zu Kompromissen bei den NAFTA-Verhandlungen bereit, um dann auch als erstes von den Zöllen ausgenommen zu werden.

Die EU blieb zwar geschlossen und EU-Kommissarin Malmström wie auch Bundeswirtschaftsminister Altmaier bearbeiteten Lighthizer und Ross. Kurz vor der vorläufigen Einigung erklärte CDU-Politiker Jürgen Hardt (Koordinator für transatlantische Beziehungen im auswärtigen Amt): „Natürlich werden wir den Amerikanern auch sagen, dass wir gemeinsame Maßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken aus China ergreifen könnten“ (FAZ, 17.3.). Im Interesse der EU sei es eher, eine Einigung mit den USA anzustreben, als sich auf die Seite Chinas zu stellen. Dies ist nun offenbar geschehen und die Liste der Länder mit Ausnahmen zeigt, wie isoliert China gegenüber dem viel massiveren Angriff vom 22. März dasteht. Das letzte Wort in Sachen Blockbildung ist damit aber sicher nicht gesprochen – die Ausnahmen gelten ja nur bis zum 1. Mai und die massiven US-Forderungen an die EU können auch jederzeit einen Frontenwechsel bewirken.

Tatsächlich sind die USA schon wegen der Größe ihrer Binnenökonomie wesentlich weniger vom Warenexport abhängig als alle anderen Konkurrenten. Der aktuelle Einschnitt in den Welthandel trifft daher alle Ökonomien heftiger, die stärker vom Export abhängig sind – also nicht nur China, sondern auch Deutschland. So erklärte der Hauptgeschäftsführer des DIHT (Industrie- und Handelskammertag) Wansleben: „Wir sind heute alle ein bisschen China“ (ntv, 23.3.).

Die Befürchtung, dass ein Handelskrieg zwischen USA und China insgesamt zu einem Einbruch im Welthandel und damit auch zu einem Problem für die deutschen Exporte geraten könnte, liegt auf der Hand. In den 1930er Jahren führte die gegenseitige Aufschaukelung im Zollkrieg zu einer Halbierung des Welthandels innerhalb von nur 3 Jahren. Auch heute entwerfen ÖkonomInnen des IWF bedrohliche Szenarien für das Abbrechen des 2017 gerade erst begonnenen Erholungszyklus der Weltwirtschaft. Schon werden um bis zu 1 % geringere Wachstumsraten als möglich gesehen beziehungsweise sogar wieder ein Weg in die Rezession. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass selbst in den USA die Ankündigung von Trump am 22.3. sofort zu einem Absturz des Börsenindex DOW um mehr als 700 Punkte führte.

Viel wird jetzt natürlich auf die Reaktion Chinas ankommen. Ohne Zweifel hat es ein Problem mit seinem überdimensionierten Stahlsektor, der die Welt mit Billigstahl überschwemmt. Da er aber ein wichtiger Sektor der politisch bedeutsamen Staatswirtschaft ist, hätten Kompromisse hier innenpolitisch schwerwiegende Folgen für die Staatsführung. Auch die Fragen von Patentrechten und angeblich illegalem Technologietransfer berühren Kernelemente des neuen Wirtschaftsplans. Die chinesische Staatsführung wird auch in Fragen der Öffnung der Märkte (direkte Kapitalkontrolle bei Investitionen) kaum zu Zugeständnissen bereit sein.

Die ersten Erklärungen aus China zu Trumps Maßnahmen klangen denn auch sehr patriotisch und fast wie Mobilisierung für einen Krieg. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass China tatsächlich zu Gegenmaßnahmen greift. So könnten z. B. Zölle auf Import von Soja aus den USA erhoben werden (12 Milliarden), was speziell Trumps Wählerschaft in Soja produzierenden Bundesstaaten extrem treffen würde. Da müsste allerdings auch Brasilien als Ersatzlieferant für Soja nach China mitspielen. Auch könnte China den Export von seltenen Erden in die USA unterbinden, was die Hightech-Industrie dort schwer treffen würde. Schließlich wird China mit schwindendem Marktzugang in den USA aggressiver in andere Märkte, so auch in die EU, drängen. Dies ist schon jetzt absehbar im Stahlsektor –was die europäische Stahlindustrie weitaus heftiger treffen könnte als die US-Zölle. Alles in allem sind die Aussichten auf eine Periode turbulenter Handelskonflikte und Einbrüche in der Weltwirtschaft stark gewachsen.

Ein Blick in die Geschichte

Der Kapitalismus kennt unterschiedliche Welthandelsordnungen. So war es die britische Bourgeoisie, die seit den 1840er Jahren weltweit ein Freihandelsregime unter Dominanz der britischen Industrie durchsetzte. Dabei durchzog sie z. B. Europa mit einer Reihe von Handelsabkommen (am einschneidendsten 1860 mit Frankreich), die die Zölle wesentlich nach unten anglichen. Schließlich wurde mit dem Goldstandard 1879 ein Mechanismus gefunden, der den Regierungen „automatisch“ eine Anpassung an die Handelsströme aufzwang (Handelsbilanzdefizite führten durch Goldabfluss automatisch zu Währungsabwertung). In der vorimperialistischen Epoche war es jedoch auch in diesem Rahmen noch möglich, dass einzelne protektionistische Inseln errichtet werden konnten. Aufstrebende Konkurrenten für das britische Kapital in Deutschland, USA und Japan konnten bestimmte Bereiche ihrer Industrien und Landwirtschaft durch Schutzzölle hochpäppeln, verblieben jedoch im Rahmen eines von Großbritannien garantierten Weltfreihandels.

Der imperialistische Widerspruch eklatierte schließlich im Ersten Weltkrieg, mit dem auch für einige Jahre Weltfreihandel und Goldstandard zusammenbrachen. Die verzweifelten Versuche Britanniens, 1925 den Goldstandard wiedereinzuführen, kontrastierten damit, dass es schon längst nicht mehr in der Lage war, den Welthandel zu ordnen. Mit der Wirtschaftskrise brachen dann in den 1930er Jahren Goldstandard wie Welthandelssystem zusammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit dem System von Bretton-Woods ein sehr viel weniger offenes System errichtet. Nur der Dollar als Leitwährung hatte noch Goldbindung. Das Zollniveau war weitaus höher als in der britischen Periode und das System lebte insgesamt von der Dominanz der US-Kapitalexporte. Der enge Rahmen und die eindeutige Hegemonie einer imperialistischen Macht ermöglichten jedoch die kapitalistische Boomperiode der Nachkriegszeit bis zum Zusammenbruch von Bretton-Woods Anfang der 1970er Jahre.

Nach den Krisen der 1970er-/80er Jahre, in denen verschiedene Regime (frei floatende Währungen, Wechselkursfixierungen, Handelsbeschränkungen versus -liberalisierungen) sich abwechselten und neue Konkurrenz zum US-Kapital auftauchte, gelang es erst in den 1990er Jahren wieder, ein neues System des Welthandels zu errichten. Das Währungssystem wird nunmehr endgültig von „den Märkten“ (vor allem für Devisen, Derivate, Staatsanleihen) dominiert und die Deregulation der internen Märkte erlaubt privaten Kapitalexport in zuvor nicht gekanntem Ausmaß. Die Produktionsketten der großen Kapitale sind heute auch in der Tiefe international, wodurch ein beträchtlicher Teil des Welthandels aus Handel mit Zwischenprodukten besteht. Zentral für die relative und vorübergehende Stabilisierung der Globalisierungsperiode war jedoch auch der Aufstieg Chinas zur billigen Weltfabrik, kombiniert mit seiner Ausnahme vom gegenwärtigen Währungssystem, d. h. einer künstlich niedrig gehaltenen chinesischen Währung. Dollarankäufe durch die chinesische Zentralbank, billige China-Ware und eine durch die US-Vermögen gedeckte Schuldenökonomie zur Finanzierung des US-Imports waren die Motoren des Globalisierungsaufschwungs.

Krise 2008

Durch die Wirtschaftskrise nach 2008 wurde dieses Wachstumsmodell offensichtlich erschüttert, konnte aber durch die Politik des billigen Geldes (Quantitative Easing) und durch große staatliche Investitionsprogramme vor allem in China zumindest eine Zeitlang weiter betrieben werden – allerdings vor dem Hintergrund einer stagnativen Grundtendenz der Weltwirtschaft. Insgesamt hat dies aber zu einer wesentlichen Stärkung Chinas geführt und langfristig wird es sicherlich eine andere Rolle anstreben, als ihm in der Globalisierungsperiode zufiel. Offensichtlich stehen wir wieder einmal vor einer Neuordnungsauseinandersetzung der kapitalistischen Mächte. Dies wird nicht mit ein paar Auseinandersetzungen um Zölle beendet werden. Es sind vielmehr ähnlich turbulente Zeiten wie etwa in den 1970er/80er Jahren zu erwarten. Auch damals gab es immer wieder scheinbare Stabilisierungen in der Rückkehr zu alten Regeln, z. B. die Plaza-Louvre-Abkommen zur Fixierung der Wechselkurse. Je nach Heftigkeit der Auseinandersetzungen sind jedoch auch schwerwiegendere Einbrüche wie Anfang der 1930er Jahre möglich. Selbst wenn es in den USA zu einem Regierungswechsel oder bei den nächsten Kongresswahlen zu einem Mehrheitswechsel kommt, so wird der Gegensatz zu China nicht verschwinden und die Maßnahmen jeder US-Regierung werden in nächster Zeit weiterhin die Weltmarktordnung erschüttern.

Auch wenn die USA bzw. ihr Präsident den aktuellen Konfrontationskurs mit den großen Handelspartnern und gleichzeitigen Rivalen vor allem als Mittel betrachten, die eigene Position auf dem Weltmarkt zu verbessern und die KonkurrentInnen zu Zugeständnissen zu zwingen, so kann aus dem Wetterleuchten am Firmament der Weltwirtschaft leicht ein Orkan werden. Ein Handelskrieg mag zwar nicht gewünscht sein, die Konfrontation hat jedoch ihre eigene Logik, die zu einer Verschärfung der Lage führen kann und in den kommenden Jahren auch führen muss.

Und die ArbeiterInnenklasse

In dieser Situation ist es umso wichtiger, dass sich die ArbeiterInnenklasse nicht vor den Karren der „eigenen“ herrschenden Klasse spannen lässt. Die Versprechungen Trumps an die Lohnabhängigen in der US-Stahlindustrie werden sich in jedem Fall als heiße Luft entpuppen. Allenfalls können sie vorübergehend auf Jobs hoffen – allerdings zu weitaus schlechteren Arbeitsbedingungen und geringeren Löhnen. Insgesamt werden alle Regierungen versuchen, die Kosten eines Handelskriegs auf die Lohnabhängigen in Form höherer Preise abzuwälzen – sei es durch verteuerte Importe oder, indem der Kauf teuerer heimischer Produkte als patriotische Pflicht dargestellt wird.

Jede Unterstützung einer solchen Politik kann nur zur nationalistischen Spaltung der Lohnabhängigen verschiedener Länder führen. Daher muss jede Mitwirkung der Gewerkschaften, der sozialdemokratischen oder linker Parteien an einer Schutzzollpolitik scharf verurteilt werden – ebenso wie umgekehrt die Lebenslügen des kapitalistischen Freihandels und seine leeren Versprechungen denunziert werden müssen.

Jeder nationale Schulterschluss hinter den Handelspraktiken der „eigenen Regierung“, jeder Akt der „Vergeltung“ mit eigenen Schutzzöllen muss entschieden zurückgewiesen werden. Handelskriege sind letztlich keine rein ökonomischen Angelegenheiten, dienen nicht nur der Verteidigung oder Eroberung von Positionen auf dem Weltmarkt, sondern auch in der imperialistischen Weltordnung. Sie sind Teil eines Kampfes um die Neuaufteilung der Welt, der sich heute zwischen den alten und neuen Großmächten entwickelt. Nur wenn die ArbeiterInnenklasse in ihrer „eigenen“ imperialistischen Bourgeoisie und nicht im „Handelsrivalen“ den Hauptfeind erkennt, wenn sie den Klassenkampf nicht im „nationalen“ Interesse zurückstellt, kann eine Zuspitzung der wachsenden Konkurrenz, ein Welthandelskrieg und dessen politische Folgewirkungen verhindert werden – durch den internationalen Klassenkampf, durch die sozialistische Weltrevolution.