Pakistan: Solidarität mit den afghanischen Flüchtlingen und Massenprotesten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1237, 20. November 2023

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele der 1,7 Millionen sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung.

Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und der Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung miserabel gemacht hat. Sie erkennen, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Darüber hinaus will die Regierung paschtunische Führer:innen und Händler:innen dazu zwingen, künftig Grenzkontrollen durchzuführen. Der Zusammenschluss von Kaufleuten und lokalen Stämmen soll gezwungen werden, Pässe und Visa auszustellen. Doch zumindest bisher haben sie diese Anordnungen abgelehnt. Derzeit beteiligen sich Bauern und Bäuerinnen, Händler:innen, Stammesführer:innen und berufstätige Paschtun:innen verschiedener politischer Parteien an diesem Protest und lehnen die Regierung und ihre Politik ab.

Die Demonstrant:innen lehnen die Zwangsvertreibung von afghanischen Flüchtlingen ab und fordern, dass die Regierung diese unmenschliche Politik zurücknimmt und das Leben der afghanischen Flüchtlinge nicht noch härter und ärmer macht. Ihre Vertreibung wird alles zerstören, was sie in harter Arbeit ein Leben lang und über Generationen hinweg aufgebaut haben. Zurück in Afghanistan gibt es nichts für sie und viele sind ernsthaften Bedrohungen durch das Regime ausgesetzt.

Die geschäftsführende Regierung von Anwaar-ul-Haq Kakar will von der Krise des Systems, der grassierenden Inflation und der Energieknappheit ablenken. Sie macht die Afghan:innen für den Mangel an Ressourcen verantwortlich. Deshalb werden die afghanischen Flüchtlinge zum Sündenbock gestempelt und der Rassismus gegen sie wird angeheizt. In der Tat wird die Bewegungsfreiheit aller Menschen ohne Pass an der Grenze von Chaman in Zukunft vollständig unterbunden.

Der Grenzhandel ist auch in Belutschistan zu einem ernsten Problem geworden. Dort ist die Beschäftigung und der Lebensunterhalt von Millionen von Menschen damit verbunden. Die Politik der pakistanischen Regierung vernichtet diese im Interesse des Großkapitals.

Diejenigen, die bereits Opfer der vom Imperialismus und dem Staat aufgezwungenen Marginalisierung und des Krieges sind, werden um alles gebracht. Daher liegt es in der Verantwortung der Arbeiter:Innen im ganzen Land, auch in Belutschistan, sich mit den afghanischen Flüchtlingen zu solidarisieren. Die pakistanischen Gewerkschaften müssen die Massensitzstreiks und Proteste an den Grenzen unterstützen. Sie müssen in Solidaritätsmobilisierungen und Streiks mit ihren afghanischen Brüdern und Schwestern auftreten und sich in einem gemeinsamen Kampf gegen alle Abschiebungen, für das Recht aller Flüchtlinge, in Pakistan zu leben und zu arbeiten, und gegen die Inflation, die staatlichen Kürzungen, die Diktate des Internationalen Währungsfonds und die kapitalistische Krise, die die wahre Ursache für das Elend der pakistanischen Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der afghanischen Flüchtlinge sind, vereinen.

Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Sie müssen Proteste und Kundgebungen in verschiedenen Ländern organisieren und Solidaritätsbotschaften an die Protestierenden senden!




Frauen und Afghanistan: Widerstand gegen Islamismus und Imperialismus

Minerwa Tahir (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 10, März 2022

Die Niederlage und der schmachvolle Abzug der imperialistischen Besatzungstruppen in Afghanistan haben die Taliban wieder an die Macht gebracht. Die Niederlage der USA, der NATO und ihrer Verbündeten wie der Bundesrepublik offenbarte nicht nur den reaktionären Charakter dieser Herrschaft – sie offenbarten zugleich auch, dass es sich bei deren angeblichen Fortschritten weitgehend um Fiktionen handelte. Das Regime Ghani verfügte im eigenen Land über keine wirkliche Machtbasis. Die imperialistische Besatzung, die weitere 20 Jahre Bürger:innenkrieg brachte und Zehntausenden Menschen durch US- und NATO-Bombardements das Leben kostete, stützte sich im Wesentlichen auf Besatzungstruppen, einen korrupten Staatsapparat und eine Allianz mit reaktionären Eliten und Warlords.

Kein Wunder, dass diese Herrschaft von der Masse der Afghan:innen, insbesondere der ländlichen Bevölkerung immer als das empfunden wurde, war sie war: ein Besatzungsregime.

Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Lage jedoch längst nicht stabilisiert. Unter US-Herrschaft wurde die Wirtschaft des Landes im Wesentlichen von westlichen Geldgeber:innen am Leben gehalten. Den einzigen profitablen Exportsektor des Landes stellte der formell illegale, faktisch jedoch immer tolerierte Drogenhandel dar. Dessen Profite eigneten sich natürlich nicht die Bauern/Bäuerinnen und Landarbeiter:innen auf den Mohnfeldern, sondern Mittelsmänner und Warlords an.

Nachdem die westlichen Besatzer:innen zum Abzug gezwungen worden waren, überließen sie das Land den Taliban. Die Geld- und Devisenreserven des Landes beschlagnahmten jedoch die USA, um so ein Milliarden US-Dollar schweres Druckmittel gegenüber dem neuen Regime zu behalten und dieses ökonomisch zu destabilisieren, nachdem sie die Kontrolle über das Land verloren hatten.

Damit trägt der westliche Imperialismus selbst bis heute wesentlich zum faktischen Zusammenbruch der afghanischen Wirtschaft bei und zu einer humanitären Katastrophe, die für Hundertausende, ja Millionen Afghan:innen eine tödliche Gefahr darstellt und sie mit dem Hungertod oder Erfrieren bedroht. Mit der Wirtschaft und der Versorgung lebensnotwendiger Güter brach zugleich das Gesundheitssystem zusammen. Millionen sind zur Flucht in die Nachbarländer gezwungen, vor allem nach Pakistan und in den Iran.

Dabei könnten die USA und ihre Verbündeten, die für die gesamte Katastrophe wesentlich verantwortlich sind, durch die Freigabe von Milliarden US-Dollar die Hungersnot und den Mangel an lebenswichtigen Gütern seit Monaten lindern. Für sie sind Millionen afghanische Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und selbst die Mittelschichten jedoch nur Marionetten, deren Leben nichts zählt, wenn es um geostrategisches Kleingeld geht und darum, den Taliban Zugeständnisse bei der Neuordnung des Landes abzuringen. Auch China und Russland halten sich, wie nicht anders zu erwarten, mit humanitärer Hilfe vornehm zurück. Millionen Afghan:innen werden so in die Flucht getrieben, sei es im eigenen Land, sei es in Nachbarländer wie Pakistan oder den Iran. Der Westen nimmt allenfalls einige Tausend ehemalige Beschäftigte der Besatzungsarmeen auf – und selbst diese werden zumeist im Stich gelassen. Für die Masse der Afghan:innen gibt es keinen Weg nach Europa oder in die USA. Und wer es dennoch schaffen sollte, dem/r droht die Abschiebung.

Die ökonomische Krise bedeutet jedoch, dass die Taliban bis heute ihre Herrschaft im Land nicht vollständig etablieren und durchsetzen konnten. In etlichen Regionen und Provinzen müssen sie sich auf traditionelle Eliten und Strukturen stützen. In manchen wird ihre Macht von noch reaktionäreren islamistischen Kräften herausgefordert, die dem sog. Islamischen Staat politisch-ideologisch nahestehen.

Frauen sind von der ökonomischen Krise besonders hart betroffen, weil sie in der Öffentlichkeit weniger bewegen und bis auf wenige Bereiche faktisch von der Lohnarbeit ausgeschlossen sind.

Unterdrückung und Widerstand

Doch viele Frauen sind selbst unter der Herrschaft der Taliban nicht bereit, sich als Opfer widerstandslos zu fügen. Im Gegenteil. Sie widersetzen sich unter diesen Bedingungen und trotz zügelloser Repression, die das eigene Leben kosten kann. Proteste ohne Genehmigung der Regierung werden verboten und Journalist:innen festgenommen, von denen viele schwer verprügelt wurden, sodass sie ins Krankenhaus mussten. Und dies sind nur einige gut dokumentierte Fälle der Repression.

Die Taliban behaupten zwar, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen, aber alle, mit Ausnahme derjenigen im öffentlichen Gesundheitswesen, wurden aufgefordert, nicht zu arbeiten, bis sich die Sicherheitslage verbessert habe. Die gleiche Ausrede wurde in den 1990er Jahren benutzt, um Frauen von der Teilnahme am öffentlichen Leben fernzuhalten. Außerdem haben die Taliban den Frauen erneut eine strenge reaktionäre Kleiderordnung auferlegt, die das Tragen von Kopfbedeckungen und Gesichtsschleiern wie Hidschab und Niqab vorschreibt. Weiterführende Schulen für Mädchen wurden geschlossen. Längere Wege dürfen nur in männlicher Begleitung zurückgelegt werden.

Als Reaktion auf die zunehmende Zahl von Protesten haben die Taliban erklärt, dass Demonstrantinnen nicht nur eine Genehmigung des Justizministeriums einholen, sondern die Sicherheitsdienste auch Ort und Zeit des Protests und sogar die Verwendung von Transparenten und Slogans genehmigen müssen.

Frauen, die gegen die Talibanherrschaft protestieren, wurden angehalten, mit Peitschen geschlagen und mit Elektrostöcken geprügelt. Mit scharfen Salven, die angeblich über Menschenmengen in die Luft geschossen wurden, sind bereits im September 2021 drei Menschen getötet worden. Die Frauen wurden nicht nur mit Namen beschimpft, deren Wiederholung sie als beschämend empfinden, sondern es wurde ihnen auch gesagt, sie sollten nach Hause gehen, weil dies „ihr Platz“ sei. Dennoch protestieren die Frauen weiter, und zwar nicht nur gegen die Taliban, sondern oft auch gegen ihre Familien.

Bisher wurden die meisten Proteste von jungen Frauen und auch Männern angeführt, die vor allem aus der Mittelschicht stammen und beschäftigt sind/waren. Sie zeigen, wie sich die Urbanisierung unter der imperialistischen Besatzung auf Afghanistan ausgewirkt hat. Die 20 Jahre der Besatzung und des Krieges haben es einem Teil der jungen Afghan:innen ermöglicht, das Leben in den Städten mit gewissen Freiheiten zu erleben. Für sie würde die Herrschaft der Taliban bedeuten, dass sie in eine Gesellschaft gezwungen werden, die sie nie gekannt haben und in der sie die begrenzten „Privilegien“ verlieren, zu arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Insbesondere junge Frauen, die in den Städten aufgewachsen sind, sind dazu nicht bereit.

Dies wurde von Mitgliedern der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) bei einer Protestaktion in Balkh (Balch; Nordafghanistan) am 6. September mit Plakaten deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir gehen nicht zurück!“ und „Frauen werden nicht zurückgehen!“

Trotz Repression gingen die Proteste in den letzten Monaten weiter. So organisierten Frauen in mehreren Städten öffentliche Proteste am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, und am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte mit Losungen wie: „Fundamentalism + Imperialism = Barbarism!“ Auch gegen die im Dezember beschlossene Einschränkung der Bewegungsfreiheit gingen Frauen in Kabul auf die Straße.

In der Erklärung der RAWA zur Machtübernahme durch die Taliban wurde ihr Standpunkt klar und deutlich dargelegt: „In den letzten 20 Jahren war eine unserer Forderungen ein Ende der US/NATO-Besatzung und noch besser wäre es, wenn sie ihre islamischen Fundamentalisten und Technokrat:innen mitnehmen und unser Volk selbst über sein Schicksal entscheiden lassen würden. Diese Besatzung hat nur zu Blutvergießen, Zerstörung und Chaos geführt. Sie haben unser Land in den korruptesten, unsichersten, von Drogenmafiastrukturen durchsetzten und gefährlichsten Ort verwandelt, vor allem für Frauen.“

Dies unterstreicht den progressiven Charakter der Demonstrationen. Im Moment mag es ihnen an starker, landesweiter Unterstützung fehlen, aber zwei Faktoren könnten das drastisch ändern. Erstens: Die Abwertung der afghanischen Währung und die steigende Inflation führen dazu, dass die meisten AfghanInnen darum kämpfen, überhaupt Brot auf den Tisch bringen können, was die Aufrechterhaltung der Ordnung von Tag zu Tag schwieriger macht. Zweitens nehmen die Angriffe auf die demokratischen Freiheiten in dem Maße zu, in dem die Taliban mehr Kontrolle über das Land erlangen. Das führt dazu, dass immer mehr Schichten der Gesellschaft in den Widerstand gezogen werden, wodurch Raum für den Klassenkampf geschaffen wird, der das derzeitige reaktionäre Regime wirksam stürzen kann.

Kontrolle

Da es unter der Herrschaft der Taliban zu Protesten kommen konnte, zeigt sich auch, dass sie das Land noch nicht vollständig unter Kontrolle haben. Ihre Verbote werden trotz strenger Repressionen weiterhin missachtet. Infolgedessen organisierten die Taliban eigene Gegenproteste, bei denen verschleierte Frauen in Universitäten Talibanfahnen trugen, um deren Herrschaft zu verteidigen. Dies zeigt, dass die neuen Herren zumindest derzeit nicht mehr so regieren können wie in den 1990er Jahren. Diese inszenierten Gegenproteste sind ein Versuch, eine soziale Rechtfertigung für die Durchsetzung der Reaktion zu schaffen, anstatt einfach jede Opposition mit brutaler Gewalt zu unterdrücken.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Loyalität der lokalen Warlords. Sie mögen die Talibanherrschaft vorerst akzeptiert haben, aber solche Loyalitäten werden sich in Zeiten widerstreitender Interessen ändern. Auch die Kämpfe innerhalb der Talibanfraktionen sollten nicht außer Acht gelassen werden. Das Ausmaß, in dem diese Faktoren ihre Herrschaft schwächen und destabilisieren könnten, hängt weitgehend von der Rolle Chinas ab. Der chinesische Imperialismus hegt mit seiner „Neuen Seidenstraße“-Initiative ein eigenes Interesse daran, die Beziehungen zu den Taliban aufrechtzuerhalten. Der Rückzug der USA ermöglicht es ihm, zu einem noch mächtigeren Akteur in der Region zu geraten.

Die Liga für die Fünfte Internationale erklärt sich uneingeschränkt solidarisch mit der entstehenden Frauenbewegung in Afghanistan. Diese aufkeimende Bewegung ist derzeit noch fragmentiert und schwach und trägt einen klassenübergreifenden Charakter mit der unbestreitbaren Präsenz einiger proimperialistischer und Mittel- und Oberschichtelemente. Dennoch bietet sie Hoffnung für die Millionen kriegsgeschüttelter Afghan:innen, die der imperialen Besatzung überdrüssig sind, aber auch die Politik der ehemaligen Ghaniregierung und die Reaktion der Taliban ablehnen. In einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, ist eine solche Bewegung das Gebot der Stunde.

Revolutionär:innen in Afghanistan müssen diese Bewegung aufbauen und ihre fortgeschrittensten und bewusstesten Schichten für das Programm der permanenten Revolution gewinnen. Im Kampf für demokratische Grundfreiheiten wie das Recht auf Arbeit und Sozialleistungen für Frauen treten wir für den Aufbau von Organisation der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen ein, die nicht nur die Taliban besiegen, sondern auch diese Rechte garantieren können und um die Macht kämpfen.

Die afghanischen Revolutionär:innen müssen sich auf der Grundlage eines revolutionären Programms organisieren, das keine Illusionen in eine imperialistische Macht, seien es die USA, China oder Russland, schürt. Dies wird entscheidend sein für die Intervention bei den aktuellen Protesten oder bei künftigen Bewegungen in dem Land. Die wirklichen Verbündeten der Arbeiter:innen, der armen Bauern und Bäuerinnen, der Frauen und der nationalen Minderheiten sind nicht die imperialistischen Mächte.

Es sind die Arbeiter:innen Pakistans, Irans, Turkmenistans, Tadschikistans, Usbekistans und Chinas, die in ihren jeweiligen Ländern für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge kämpfen müssen. Es sind die britischen, amerikanischen, deutschen und französischen Lohnabhängigen, die sich nicht nur für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge einsetzen müssen, sondern auch dafür, dass ihre Regierungen keine Sanktionen gegen Afghanistan verhängen und Reparationen für den Wiederaufbau des Landes zahlen.

Die Arbeiter:innen in der ganzen Welt müssen ihre Solidarität mit unseren afghanischen Brüdern und Schwestern, die schon viel zu lange unter dem Krieg leiden, in Aktionen organisieren. Es lebe die internationale Solidarität! Lang lebe der Kampf gegen die Taliban und den Imperialismus in Afghanistan!




Afghanistans Wirtschaft im freien Fall

Martin Suchanek, Neue Internationale 260, November 2021

Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Ökonomie des Landes faktisch zusammengebrochen. Sein BIP soll nach Prognosen des IWF um bis zu 30 % schrumpfen – und dies, nachdem die Wirtschaft faktisch schon seit Jahren am Boden liegt.

Schon vor dem Sturz des westlichen Marionettenregimes Ghani und dem Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten prägten Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Armut das Leben der Massen auf dem Land und in den städtischen Slums. Zwei Drittel der Bevölkerung lebten unter der Armutsgrenze. Dies war eine direkte Folge des Beharrens der USA und ihrer Verbündeten auf dem „Freihandel“, der das Land für eine Flut billiger Waren öffnete, mit denen die heimische Wirtschaft nicht konkurrieren konnte. Dies galt insbesondere für die Landwirtschaft, was zu einer Flucht in die Städte führte, während das Land weiterhin unter der Kontrolle der traditionellen Führer blieb.

Doch nun droht eine humanitäre Katastrophe. Ein Drittel der Bevölkerung – also rund 12 der 37 Millionen – leidet unter Hunger und Unterernährung. Ohne rasche und massive Hilfe droht Millionen der Tod.

Ursache: Imperialismus

Für die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind die ehemaligen Besatzungsmächte zu einem großen Teil verantwortlich. Nach dem Abzug der US/NATO-Truppen und dem Sieg der Taliban wurden die westlichen Hilfsgelder mit einem Schlag gestoppt.

Dabei waren es jene Finanzmittel, die in den letzten Jahrzehnten das Land überhaupt am Laufen hielten. Unter der Herrschaft der USA und ihrer Verbündeten wurden rund 40 % des afghanischen Bruttoinlandsproduktes aus internationalen Hilfsgeldern bestritten, 60 – 70 % der Staatsausgaben finanzierten die Geberländer aus dem Westen oder dem Arabischen (Persischen) Golf. Nach der Machtübernahmen der Taliban kamen diese Quellen zum Erliegen. Außerdem froren die USA und andere westliche Staaten die Reserven Afghanistans ein. Den größten Teil davon, rund 7 Milliarden US-Dollar, kontrolliert seither die US-amerikanische Notenbank, die Federal Reserve. Die Regierung Biden hat sich faktisch den größten Teil der Geldreserven angeeignet und verfügt über diese seither als Mittel zur Erpressung des Regimes in Kabul.

Mit verheerenden Folgen für die afghanische Wirtschaft! Der drastische Einbruch des BIP geht mit einem Zusammenbruch des Bankensystems, der Geldzirkulation und einer rasenden Inflation einher. Kein Wunder, dass alle, die irgendwie konnten, in den letzten Monaten ihre Bankkonten leerten, was wiederum die Geldkrise zusätzlich verschärfte. Geschäfte, Restaurants und die öffentliche Verwaltung sind zu größten Teilen geschlossen, Staatsbedienstete erhalten keine Löhne, weil der Staat faktisch pleite ist.

Da Afghanistan kaum über industrielle Produktion verfügt und die Landwirtschaft infolge von Krieg, Besatzung sowie klimatischer Veränderungen und zunehmender Dürren am Boden liegt und die eigene Bevölkerung nicht ernähren kann, droht nun eine Hungerkatastrophe. Die Inflation und der Zusammenbruch der Geldzirkulation bedeuten auch, dass auch viele Waren unerschwinglich werden – vor allem Lebensmittel, Brennstoffe für die Heizungen und auch Geld für die Miete. Mit dem Winter droht also auch das Frieren.

Die Politik des westlichen Imperialismus und vor allem der USA folgt einem menschenverachtenden zynischen Kalkül. Sie nimmt Elend, Hunger und Kälte bewusst in Kauf und nutzt sie als politische Druckmittel. Nachdem die Taliban militärisch gesiegt haben, sollen sie durch finanziellen Druck – einschließlich des zumindest zeitweiligen Raubes ihrer Devisenreserven – gefügig gemacht werden.

Das Sperren von Hilfsgeldern durch die NATO, die USA oder auch die Bundesrepublik wird hierzulande gern als Akt der Unterstützung der Bevölkerung dargestellt. In Wirklichkeit ist es Teil eines zynischen Spiels, um Einfluss auf die Zukunft des Landes zu sichern. Selbst wenn es zu „humanitären“ Abkommen mit den Taliban und einigen Hilfsgeldern kommen sollte, werden die westlichen Staaten darauf bestehen, dass sie oder mit ihnen verbundene NGOs die Verteilung der Gelder kontrollieren.

Wirtschaftlich befindet sich das Regime in Kabul in einer prekären Lage. Als Alternative zum Westen hoffte das Taliban-Regime auf den globalen Gegenspieler der USA, auf China, sowie auf bessere Beziehungen zu Pakistan, Iran und Russland.

Doch auch China und die anderen Mächte in der Region verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen. Falls Peking den Taliban finanziell unter die Arme greifen sollte, so nur im Austausch für politische und wirtschaftliche Zugeständnisse. Dies würde erstens die Ausschaltung von ISIS-Chorasan, einer ultrareaktionären Dschihadisten-Truppe, die im Land gegen die Taliban kämpft und auch von China als Bedrohung betrachtet wird, der Ostturkestanischen Islamischen Bewegung (separatistische Strömung unter den chinesischen UigurInnen) und aller anderen islamistischen Gruppierungen betreffen, die als Sicherheitsrisiko für die Ordnung in benachbarten Staaten und die Neue Seidenstraße betrachtet werden. Zweitens würde es bedeuten, dass China ein privilegierter Zugriff zu den reichen, wenn auch bislang nicht erschlossenen Bodenschätzen des Landes gewährt wird. Im Gegenzug könnte Afghanistan Hilfsgelder erhalten, die das Land am Laufen zu halten.

Brandbeschleuniger Taliban-Regime

Neben der erpresserischen Politik der verschiedenen imperialistischen Mächte darf der zweite Faktor nicht vergessen werden, der die aktuelle Misere noch verschärft: die theokratische Diktatur der Taliban selbst. Als Organisation verfügen die Taliban nicht über die Voraussetzungen, um das Land zu regieren. Ihre Fähigkeit, im ganzen Land Kräfte gegen die verhassten BesatzerInnen zu mobilisieren und sich dabei vor allem auf lokale Führer und Geistliche zu stützen, hat keine nationale Verwaltung geschaffen, auch nicht auf militärischer Ebene. Nun droht der Zerfall, die vorhandenen zentralen Stellen zu untergraben.

Natürlich hätten jede Gesellschaft und jedes politische Regime bei einem Wegfall eines Drittels des BIP und von zwei Dritteln des Staatshaushaltes mit einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe zu kämpfen.

Aber den Taliban geht es zuerst um die Sicherung ihres neuen, islamistischen Regimes. So forcieren sie seit der Machtübernahme den Ausschluss der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und gehen daran, deren begrenzte Rechte durch Repression, öffentliche Angriffe, Erniedrigung bis hin zur Verfolgung von Vorkämpferinnen für die Rechte der Frauen zu beschneiden. Vor allem aber sollen Frauen aus vielen Berufen verdrängt, ausgeschlossen oder auf eng umrissene Bereiche beschränkt werden, vor allem aus der öffentlichen Verwaltung, dem kulturellen Leben, dem Gesundheitswesen, den Universitäten und Schulen.

Die frauenfeindliche, reaktionären Politik bedeutet zugleich, dass qualifizierte Fachkräfte am Arbeiten gehindert werden, dass das wirtschaftliche und soziale Leben weiter zerrüttet wird.

Was auf die systematische geschlechtliche Unterdrückung zutrifft, lässt sich auf allen anderen Gebieten des gesellschaftlichen und politischen Lebens finden – der Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse, der BäuerInnenschaft, der Intelligenz, nationaler und religiöser Minderheiten wie der Hazara.

Die despotische Politik der Taliban, die Angst vor Unterdrückung und Verfolgung bis hin zum Mord treibt ebenso wie der Hunger Hunderttausende, wenn nicht Millionen zur Flucht. Schon jetzt leben rund 3 Millionen allein in Pakistan und im Iran. In den kommenden Wochen werden die Lager in den Grenzregionen dieser Länder und in Tadschikistan weiter anwachsen. Die meisten, die Repression, Hunger und Not entkommen wollen, sind jedoch Binnenflüchtlinge. Und die Zahlen steigen.

Was tun?

Die Verhinderung der unmittelbar drohenden humanitären Katastrophe, der Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen infolge von Armut, Hunger und Kälte zum Opfer zu fallen drohen, muss unmittelbar im Zentrum jeder fortschrittlichen und internationalistischen Politik stehen.

Das bedeutet vor allem in den westlichen Staaten, die über Jahrzehnte Afghanistan besetzt und kontrolliert haben, dafür zu kämpfen, dass die US-Regierung und ihre Verbündeten nicht weiter ihre finanziellen Ressourcen als Mittel zur politischen Erpressung nutzen können. Die USA muss zur Herausgabe der Reserven ohne jegliche Bedingungen gezwungen werden. Wir müssen außerdem die Freigabe von Hilfsgeldern zur Sicherung des Überlebens in Afghanistan wie in den Flüchtlingslager fordern sowie die Öffnung der Grenzen zur EU, in die USA oder nach Britannien für alle Geflüchteten, die in diese Länder wollen.

So wenig wie einer der imperialistischen Machtgruppierungen die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgeldern anvertraut werden kann, so wenig Verlass ist auf das Regime in Kabul, solche Gelder und Güter gerecht zu verteilen.

Aufgrund der despotischen, brutalen Herrschaft der Taliban und ihrer Unterdrückungsmaschinerie kann ein Kampf um die Verteilung der Hilfsgüter von Gewerkschaften, Linken und demokratischen Frauenorganisationen nur unter Bedingungen der Illegalität geführt werden. Dennoch besteht die unmittelbare Priorität darin, soweit wie möglich lokale, demokratisch kontrollierte Organisationen zu bilden, die die Verteilung der beschaffbaren Hilfsgüter überwachen.

Die heroischen Demonstrationen von Frauen um ihr Recht auf Arbeit im September zeigen jedoch, dass die Herrschaft der Islamisten noch nicht voll konsolidiert ist. Die aktuelle, sich vertiefende Krise erschwert die Festigung der Taliban-Herrschaft zur Zeit und eröffnet einen Spielraum zur Mobilisierung um Fragen der Versorgung der Bevölkerung und die Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern und knappen Ressourcen. Das Aufgreifen der Überlebensfragen von Millionen erlaubt zugleich, den Kampf gegen das Taliban-Regime zu entfachen.

Lehren

Für diese Perspektive sind zwei politische Lehren von zentraler Bedeutung: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben.

Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet; mit Organisationen, die bei einer Zuspitzung des Klassenkampfes zu Organen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung geraten können.




Afghanistan: Frauen weisen den Weg gegen die fundamentalistische Reaktion

Revolutionary Socialist Movement, Pakistanische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1162, 13. September 2021

Afghanische Frauen sind führend bei der Organisation von Anti-Taliban-Protesten in Kabul und anderen Teilen Afghanistans. Sie tun das, was die US-amerikanischen und verbündeten Besatzungstruppen nicht geschafft haben: sich den Taliban entgegenzustellen. Und dies trotz zunehmend zügelloser Repression. Die Taliban haben eine schwangere Polizistin getötet, Proteste ohne Genehmigung der Regierung verboten und mehr als ein Dutzend JournalistInnen festgenommen, von denen zwei so schwer verprügelt wurden, dass sie ins Krankenhaus mussten. Und dies sind nur einige gut dokumentierte Fälle der Repression.

Die Taliban, die seit dem schmachvollen Abzug der imperialistischen Besatzungstruppen an der Macht sind, haben zwar behauptet, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen, aber alle Frauen, mit Ausnahme derjenigen im öffentlichen Gesundheitswesen, aufgefordert, nicht zu arbeiten, „bis sich die Sicherheitslage verbessert“. Die afghanischen Frauen glauben das nicht: Die gleiche Ausrede wurde in den 1990er Jahren, als die Taliban zuletzt an der Macht waren, benutzt, um Frauen von der Teilnahme am öffentlichen Leben abzuhalten. Außerdem haben sie den Frauen erneut eine strenge reaktionäre Kleiderordnung auferlegt, die das Tragen von Kopfbedeckungen und Gesichtsschleiern wie Hijab und Niqab vorschreibt.

Proteste und Unterdrückung

Als Reaktion auf die zunehmende Zahl von Protesten haben die Taliban erklärt, dass DemonstrantInnen nicht nur eine Genehmigung des Justizministeriums einholen müssen, sondern dass die Sicherheitsdienste auch Ort und Zeit des Protests und sogar die Verwendung von Transparenten und Slogans genehmigen müssen.

Frauen, die gegen die Taliban-Herrschaft protestieren, wurden angehalten, mit Peitschen geschlagen und mit Elektrostöcken geprügelt. Mit scharfen Salven, die angeblich über Menschenmengen in die Luft geschossen wurden, sind bereits drei Menschen getötet worden. Die Frauen wurden nicht nur mit Namen beschimpft, deren Wiederholung sie als beschämend empfinden, sondern es wurde ihnen auch gesagt, sie sollten nach Hause gehen, weil dies „ihr Platz“ sei. Dennoch protestieren die Frauen weiter, und zwar nicht nur gegen die Taliban, sondern oft auch gegen ihre Familien.

Bisher wurden die meisten Proteste von jungen Frauen und Männern angeführt, die vor allem aus der Mittelschicht stammen und beschäftigt sind/waren. Sie zeigen, wie sich die Urbanisierung unter der imperialistischen Besatzung auf Afghanistan ausgewirkt hat. Die 20 Jahre der Besatzung und des Krieges haben es einem Teil der jungen AfghanInnen ermöglicht, das Leben in den Städten mit gewissen Freiheiten, wie dem Recht auf Arbeit, zu erleben. Für sie würde die Herrschaft der Taliban bedeuten, dass sie in eine Gesellschaft gezwungen werden, die sie nie gekannt haben und in der sie die begrenzten „Privilegien“, zu arbeiten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, verlieren. Junge AfghanInnen, insbesondere Frauen, die in den Städten aufgewachsen sind, sind nicht bereit, dies zuzulassen.

Dies wurde von Mitgliedern der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA = Revolutionary Association of the Women of Afghanistan) bei einer Protestaktion in Balkh (Balch) am 6. September mit Plakaten deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir gehen nicht zurück!“ und „Frauen werden nicht zurückgehen!“

In der Erklärung der RAWA zur Machtübernahme durch die Taliban wurde ihr Standpunkt klar und deutlich dargelegt: „In den letzten 20 Jahren war eine unserer Forderungen ein Ende der US/NATO-Besatzung und noch besser wäre es, wenn sie ihre islamischen FundamentalistInnen und TechnokratInnen mitnehmen und unser Volk selbst über sein Schicksal entscheiden lassen würden. Diese Besatzung hat nur zu Blutvergießen, Zerstörung und Chaos geführt. Sie haben unser Land in den korruptesten, unsichersten, von Drogenmafia-Strukturen durchsetzten und gefährlichsten Ort verwandelt, vor allem für Frauen.“

Dies unterstreicht den progressiven Charakter der Demonstrationen. Im Moment mag es ihnen an starker, landesweiter Unterstützung fehlen, aber zwei Faktoren könnten das drastisch ändern. Erstens: Die Abwertung der afghanischen Währung und die steigende Inflation führen dazu, dass die meisten AfghanInnen darum kämpfen, überhaupt Brot auf den Tisch bringen können, was die Aufrechterhaltung der Ordnung von Tag zu Tag schwieriger macht. Zweitens nehmen die Angriffe auf die demokratischen Freiheiten in dem Maße zu, in dem die Taliban mehr Kontrolle über das Land erlangen, was dazu führt, dass immer mehr Schichten der Gesellschaft in den Widerstand gezogen werden, wodurch Raum für den Klassenkampf geschaffen wird, der das derzeitige reaktionäre Regime wirksam stürzen kann.

Widersprüchliche Stimmungen

Heute äußert sich der Widerstand in einem afghanischen nationalistischen Rahmen. Es gibt Teile, die weiterhin Illusionen in eine imperialistische Lösung hegen. Einige pflegen auch Verbindungen zu internationalen Nichtregierungsorganisationen, die mit imperialistischen Institutionen politisch kollaborieren. Bei einigen Demos wurden auch Slogans gegen den pakistanischen Staat und seine Behörden laut. All dies nimmt dem brodelnden Zorn der AfghanInnen nicht sein Potenzial.

Die Wut auf den pakistanischen Staat und seine historische Doppelrolle im „Krieg gegen den Terror“, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen und politischen Vorteilen, die er daraus gezogen hat, ist auf Seiten der einfachen AfghanInnen verständlich. Selbst einfache Taliban, wenn nicht sogar die Mullahs, haben das große Interesse pakistanischer JournalistInnen an einer Berichterstattung in Afghanistan in Frage gestellt.

Die Illusionen einiger Schichten der afghanischen Gesellschaft in den US-Imperialismus müssen im Lichte der Tatsache verstanden werden, dass die Besatzung für Teile der städtischen Frauen eine völlig neue Lebensweise ermöglichte. Ebenso boten internationale Nichtregierungsorganisationen den afghanischen Frauen Beschäftigungsmöglichkeiten und damit die Aussicht auf ein Leben außerhalb der häuslichen Enge.

Was den afghanischen Nationalismus anbelangt, so handelt es sich nicht um eine einzige, monolithische Strömung. Neben dem neu entstandenen Nationalismus der Taliban oder dem US-hörigen Nationalismus von Ghani gibt es auch die einen, wenn auch noch kleinen, aber fortschrittlichen Teils der Gesellschaft, der sich keinen Illusionen in einen der beiden hingibt. Stattdessen hofft und kämpft er für ein Afghanistan, das von denjenigen regiert wird, die den Reichtum des Landes produzieren, den ArbeiterInnen und armen Bauern und Bäuerinnen. Wenn eine Anti-Taliban-Bewegung in Afghanistan wächst, wird diese kleine Kraft die Möglichkeit haben, sich selbst aufzubauen und die Türen für eine revolutionäre Alternative in einer Region zu öffnen, die durch die Politik der ImperialistInnen und der nationalen bürgerlichen FührerInnen und der von ultra-reaktionären Kräften in Trümmer gelegt wurde.

Wenn sich ein solcher Anti-Taliban-Widerstand behaupten kann, wird er der Welt die Macht des revolutionären Subjekts zeigen. Die imperialistischen Mächte konnten die Taliban nicht besiegen und waren gezwungen, mit ihnen zu paktieren, was ihnen die Macht in Afghanistan einbrachte. Jetzt sind es die AfghanInnen selbst, die gegen die Taliban kämpfen. Dies widerlegt alle Märchen der Liberalen und ihre Überzeugung, dass die Taliban nur durch eine ausländische imperiale Intervention besiegt werden können, weil das afghanische Volk nicht die Fähigkeit oder die Macht hat, sich den Taliban und den regionalen Militärführern entgegenzustellen. Die gegenwärtige Bewegung bildet einen Hoffnungsschimmer gegen die imperiale und fundamentalistische Reaktion, denn sie zeigt, wer wirklich bleibt und den Kampf für die Freiheit bestreitet.

Kontrolle

Da es unter der Herrschaft der Taliban zu Protesten kommen konnte, zeigt sich auch, dass sie das Land noch nicht vollständig unter Kontrolle haben. Ihre Verbote werden trotz strenger Repressionen weiterhin missachtet. Infolgedessen organisierten die Taliban eigene Gegenproteste, bei denen verschleierte Frauen in Universitäten Taliban-Fahnen trugen, um die deren Herrschaft zu verteidigen. Dies zeigt, dass die neuen Herren zumindest derzeit nicht mehr so regieren können wie in den 1990er Jahren. Diese inszenierten Gegenproteste sind ein Versuch, eine soziale Rechtfertigung für die Durchsetzung der Reaktion zu schaffen, anstatt einfach jede Opposition mit brutaler Gewalt zu unterdrücken.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Loyalität der lokalen Warlords. Sie mögen die Taliban-Herrschaft vorerst akzeptiert haben, aber solche Loyalitäten werden sich in Zeiten widerstreitender Interessen ändern. Auch die Kämpfe innerhalb der Taliban-Fraktionen sollten nicht außer Acht gelassen werden. Das Ausmaß, in dem diese Faktoren die Taliban-Herrschaft schwächen und destabilisieren könnten, hängt weitgehend von der Rolle Chinas ab. Der chinesische Imperialismus hat mit seiner „Neuen Seidenstraße“-Initiative ein eigenes Interesse daran, die Beziehungen zu den Taliban aufrechtzuerhalten, und der Rückzug der USA ermöglicht es ihm, zu einem noch mächtigeren Akteur in der Region zu werden.

Die Liga für die Fünfte Internationale erklärt sich uneingeschränkt solidarisch mit der entstehenden Frauenbewegung in Afghanistan. Diese aufkeimende Bewegung ist derzeit noch fragmentiert und  schwach und trägt einen klassenübergreifenden Charakter mit der unbestreitbaren Präsenz einiger proimperialistischer und Mittel- und Oberschicht-Elemente. Dennoch bietet sie Hoffnung für die Millionen kriegsgeschüttelter AfghanInnen, die der imperialen Besatzung überdrüssig sind, aber auch die Politik der ehemaligen Ghani-Regierung und die Reaktion der Taliban ablehnen. In einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, ist eine solche Bewegung das Gebot der Stunde.

RevolutionärInnen in Afghanistan müssen diese Bewegung aufbauen und ihre fortgeschrittensten und bewusstesten Schichten für das Programm der permanenten Revolution gewinnen. Im Kampf für demokratische Grundfreiheiten wie das Recht auf Arbeit und Sozialleistungen für Frauen kämpft diese Strategie für den Aufbau von ArbeiterInnen- und bäuerlichen Organisationen, die nicht nur die Taliban besiegen, sondern auch diese Rechte garantieren können. Diese demokratischen Rechte können nur durch eine Regierung gesichert werden, die sich auf solche Organisationen stützt, die im ganzen Land die Macht übernehmen.

Die afghanischen RevolutionärInnen müssen sich auf der Grundlage eines Aktionsprogramms für eine solche Revolution in Afghanistan organisieren – eines Programms, das keine Illusionen in eine imperialistische Macht, seien es die USA, China oder Russland, setzt. Dies wird entscheidend sein für die Intervention bei den heutigen Protesten oder bei künftigen Bewegungen in dem Land. Die FreundInnen der afghanischen ArbeiterInnen, der armen Bauern und Bäuerinnen, der Frauen und der nationalen Minderheiten sind nicht die imperialistischen Mächte, die, nachdem sie im Land Verwüstung angerichtet haben, wie kleine Hühner davonliefen.

Es sind die ArbeiterInnen Pakistans, Irans, Turkmenistans, Tadschikistans, Usbekistans und Chinas, die in ihren jeweiligen Ländern für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge kämpfen müssen. Es sind die britischen, amerikanischen, deutschen und französischen ArbeiterInnen, die nicht sich nur für die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge einsetzen müssen, sondern auch dafür, dass ihre Regierungen keine Sanktionen gegen Afghanistan verhängen und Reparationen für den Wiederaufbau des Landes zahlen.

Die ArbeiterInnen in der ganzen Welt müssen ihre Solidarität mit unseren afghanischen Brüdern und Schwestern, die schon viel zu lange unter dem Krieg leiden, in Aktionen organisieren. Es lebe die internationale Solidarität! Lang lebe der Kampf gegen die Taliban und den Imperialismus in Afghanistan!




Afghanistan: Der Sieg der Taliban und seine internationale Bedeutung

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 18.8.2021, Infomail 1159, 20. August 2021

Der Sieg der Taliban und der Sturz der Regierung Ghani sind eine demütigende Niederlage von globaler Bedeutung für die USA und ihre westlichen Verbündeten. Das Bild der Hubschrauber, die fliehende DiplomatInnen vom Dach der US-Botschaft heben, erinnert stark an den Fall von Saigon im Jahr 1975. Aber der Unterschied ist noch wichtiger. Damals war die einzige globale Rivalin der USA, die Sowjetunion, selbst schon eine schwindende Macht. Heute ist China ein kräftiger Imperialismus, der durch sein eigenes Wachstum veranlasst ist, seine Macht und seinen Einflussbereich auf Kosten der USA auszuweiten.

Trumps Entscheidung, den Rückzug der USA mit den Taliban in Doha zu vereinbaren, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, die Regierung in Kabul zu konsultieren, war nicht nur eine persönliche Laune eines exzentrischen Präsidenten. Sie war Ausdruck der zunehmenden Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen und es besser ist, sich zurückzuziehen und zu verschwinden. Diese Schlussfolgerung wurde nicht nur von vielen Mitgliedern der Republikanischen Partei geteilt, sondern auch von Joe Biden, der sich als Vizepräsident gegen Obamas „Eingriff“ ausgesprochen hatte.

In Doha stimmte eine neue Generation von Taliban-Führern, die von jenen Teilen des pakistanischen Staates, die sie im Exil unterstützt hatten, beraten, wenn nicht gar gelenkt wurden, taktisch einem Abkommen zu, das eine Art Machtteilung in einer künftigen Regierung vorsah. Während dies für die USA gesichtswahrend war, wussten die Taliban, dass sich die sozialen Verhältnisse im größten Teil ihres Heimatlandes nicht geändert hatten und das gesamte Regime vollständig von der US-Präsenz abhängig war. Eine fortschrittliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung hätte den Sturz der landbesitzenden Klasse erfordert, was unter den USA oder ihren HandlangerInnen in Kabul niemals geschehen würde.

Die Taliban haben vielleicht nicht mit der außergewöhnlichen Geschwindigkeit gerechnet, mit der sie das ganze Land erobert haben, aber sie waren immer zuversichtlich, dass das Regime und seine Truppen zusammenbrechen würden, sobald die imperialistischen Besatzungstruppen abgezogen sind, was die harte Wahrheit ans Licht bringt, dass die Regierung keine wirklichen sozialen Wurzeln in der afghanischen Gesellschaft hatte.

Nach 20 Jahren Besatzung, Hunderttausenden von Toten und 7 Millionen Flüchtlingen, die der lange asymmetrischen Krieg hervorgebracht hat, wurde das Land von seinen BesatzerInnen in einem Zustand der Verwüstung zurückgelassen. Rund 80 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos oder unterbeschäftigt, und 60 Prozent der Kinder leiden an Hunger und Unterernährung.

Die Kombination aus Armut und Krieg trieb nicht nur Millionen von Menschen aus dem Land, die oft von den Taliban rekrutiert wurden, sondern auch in die Städte. Hier haben sich die sozialen Beziehungen verändert, vor allem für die Frauen, aber auch in Bezug auf Arbeitsplätze und ein gewisses Maß an politischer Demokratie. Wie das Regime selbst sind jedoch auch diese stark von den Ressourcen abhängig, die von den USA und ihren Verbündeten bereitgestellt werden.

Pakistan

Die Tatsache, dass die Taliban in der Lage waren, nicht nur gegen den mächtigsten Staat der Welt zu überleben, sondern auch so weit zu wachsen und sich zu entwickeln, dass sie innerhalb weniger Wochen das ganze Land übernehmen konnten, hing offensichtlich nicht nur von der Rekrutierung verarmter Flüchtlinge ab. Der Schlüssel dazu war die Unterstützung Pakistans, insbesondere des Geheimdienstes ISI, der Afghanistan seit langem als potenziellen Faktor in seiner Fehde mit Indien ansieht.

Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan, als das halbkoloniale Pakistan ein williger Verbündeter der USA war, spielte der ISI eine wichtige Rolle beim Aufbau der reaktionären Mudschahidin-Guerilla und sammelte wertvolle Erfahrungen und Fachkenntnisse bei der Kanalisierung der US-Hilfe für ihre GuerillakämpferInnen. Doch die Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Loyalitäten. Die zwanzig Jahre der US-Besatzung Afghanistans waren auch die Jahre des Aufstiegs Chinas, das heute die wichtigste Quelle wirtschaftlicher Hilfe für Pakistan verkörpert und für das letzteres im Rahmen von Pekings Neuer Seidenstraße eine strategische Bedeutung einnimmt. Zweifellos gibt es im pakistanischen Staatsapparat immer noch prowestliche Elemente, aber die Geschwindigkeit, mit der Premierminister Imran Khan den Sieg der Taliban begrüßt hat, deutet darauf hin, dass die prochinesische Fraktion jetzt die Oberhand gewonnen hat.

Die globale, vielleicht historische Bedeutung des Sieges der Taliban liegt darin, dass die US-Invasion, wie auch die anschließende im Irak, nicht nur der Demonstration der US-Macht diente, sondern auch der Konsolidierung dieser Macht, indem sie den gesamten Nahen und Mittleren Osten unter ihre Kontrolle brachte. Damit sollte der Boden für das neue amerikanische Jahrhundert bereitet werden, das durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Globalisierung eingeläutet wurde.

Der barbarische und reaktionäre Angriff auf die Zwillingstürme in New York diente als Vorwand, als Rechtfertigung für den „Krieg gegen den Terror“, in dem Washington das Recht beanspruchte, überall dort militärisch zu intervenieren, wo es seine Interessen bedroht sah. Heute, nach den militärischen Niederlagen im Irak und in Afghanistan und der Wirtschaftskrise von 2008/9, steht diese ganze Weltsicht in Frage. Die USA stellen zweifelsohne immer noch einen sehr mächtigen Staat dar, aber sie sind kein unangefochtener Hegemon mehr.

Das veränderte Kräftegleichgewicht wird nicht nur die rivalisierenden Imperialismen China und Russland, sondern auch regionale Mächte wie Pakistan, Iran, die Türkei und Indien dazu ermutigen, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. Auch Länder, die die Unterstützung der USA als selbstverständlich angesehen haben, wie Taiwan, müssen sich fragen, was die Zukunft bringt. Selbst EU-Imperialismen wie Deutschland und Frankreich werden abwägen, wie weit sie von den Prioritäten der USA abweichen sollen.

In Afghanistan selbst wird die Wiedereinsetzung einer Taliban-Regierung eindeutig nicht den Weg zu Frieden und Wohlstand eröffnen. Zwanzig Jahre Exil in Pakistan und den Golfstaaten, die Entwicklung neuer Führungspersönlichkeiten, die Herausforderung, ein Regierungssystem in einem stark veränderten Land zu bilden, und die Möglichkeit von Spannungen zwischen den zurückkehrenden ExilantInnen und denjenigen, die die Organisation im Land unter der Besatzung aufrechterhalten haben, werden wahrscheinlich zu internen Spannungen führen, denn der Sieg trennt immer die SiegerInnen.

Taliban-Regime

Auf seiner ersten Pressekonferenz verkündete der Vertreter des neuen Regimes eine Generalamnestie für alle, die für die vorherige Regierung gearbeitet hatten, und versicherte den Frauen, dass ihre Rechte auf Bildung, Arbeit und Teilnahme am öffentlichen Leben garantiert würden, sofern die islamischen Normen eingehalten würden. Es wurde betont, dass die Taliban keine Rache wollen und sich bemühen werden, andere in die Verwaltung des geplanten theokratischen Emirats einzubeziehen. Es erging eine Aufforderung, wieder normal an die Arbeit zurückzukehren.

Zweifellos ist ein solch pragmatischer Ansatz für eine Bewegung, die über keinen eigenen zivilen Verwaltungsapparat verfügt, praktisch sinnvoll und war der Ratschlag ihrer potenziellen internationalen UnterstützerInnen. Die Zeit wird zeigen, ob dies von Dauer sein wird oder die reaktionärsten Strömungen im Lande bereit sind, solche Zugeständnisse zu tolerieren, nachdem sie zwanzig Jahre lang für die Rückkehr zu den von ihnen bevorzugten Normen gekämpft haben. Klar ist, dass es derzeit keine Kräfte wie politische Parteien oder Gewerkschaften gibt, die mobilisieren könnten, um einen Rückschritt zu verhindern.

Auf internationaler Ebene sollten die VerfechterInnen der demokratischen Rechte der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Afghanistan alles in ihrer Macht Stehende tun, um Racheakte der besiegten ImperialistInnen zu verhindern. Alle Versuche, Sanktionen zu verhängen oder der jetzigen De-facto-Regierung des Landes die Anerkennung zu verweigern, müssen abgelehnt werden, da sie das bereits erlittene Elend und die Armut nur noch vergrößern können.

Für die Massen in Afghanistan brechen dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban wird alle demokratischen, Frauenorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Kräfte in die Illegalität treiben. Gleichzeitig werden aber, wie in allen theokratischen Regimen zu beobachten, die sozialen Widersprüche keineswegs verschwinden. Klassengegensätze und andere soziale Konflikte sind früher oder später unvermeidlich. Die Jugendproteste in Dschalalabad sind ein erstes Anzeichen dafür. Darauf müssen sich die RevolutionärInnen in Afghanistan organisatorisch, politisch und programmatisch unter den Bedingungen der Illegalität, der konspirativen Arbeit vorbereiten.

Partei

Zwei Lehren werden von zentraler Bedeutung sein: Erstens, im Kampf für demokratische und soziale Forderungen kann man sich auf keine der imperialistischen Mächte oder ihre regionalen VertreterInnen verlassen, politische Unabhängigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche Verbündete werden sich nur unter den Kräften in der Region und darüber hinaus finden, die ihre Unabhängigkeit von „ihren“ Regierungen bewiesen haben. Zweitens müssen die afghanischen RevolutionärInnen eine neue Parteiorganisation aufbauen, die sich auf ein Programm stützt, das die unvermeidlichen sozialen und politischen Kämpfe mit dem Aufbau von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern und Bäuerinnen verbindet, die mit der Zeit zu TrägerInnen des Sturzes des bestehenden Regimes und seiner Ersetzung durch eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung geraten können, mit anderen Worten: die Strategie der permanenten Revolution.

Der Aufbau einer solchen Organisation ist zweifelsohne eine langfristige Angelegenheit. Unmittelbar sind Millionen Menschen von brutaler politischer Unterdrückung bedroht. Andere versuchen, in Nachbarländer oder nach Europa zu fliehen. Die Linke und die internationale ArbeiterInnenbewegung müssen einen gemeinsamen Kampf für die bedingungslose Öffnung der Grenzen führen und sich für die Beschaffung materieller Mittel für die Flüchtlinge einsetzen, die in den Nachbarländern Afghanistans bleiben.

Die dramatischen Ereignisse in Afghanistan bestätigen, dass wir in einer Zeit zunehmender zwischenimperialistischer Rivalität leben, einer Zeit, in der ökonomische Konkurrenz zu Handelskriegen führen kann, Sanktionen zu Blockaden werden und regionale Konflikte zu größeren Kriegen führen können. Die für das zwanzigste Jahrhundert typischen wirtschaftlichen und territorialen Reibungen entfalten sich nun im Kontext der sich entwickelnden Klimakatastrophe, die naturgemäß die Notwendigkeit einer internationalen Lösung bestätigt. Voraussetzung dafür ist eine internationale Organisation, eine internationale Partei – das ist die Hauptaufgabe der RevolutionärInnen in aller Welt, der Aufbau einer Fünften Internationale!




Der Sieg der Taliban – die Frucht von 20 Jahren imperialistischer Besatzung

Martin Suchanek, Infomail 1158, 17. August 2021

Nach 20 Jahren Besatzung durch die USA und ihre Verbündeten haben die Taliban Kabul und das Land wieder eingenommen. 20 Jahre Besatzung und Krieg – wofür? Die westlichen imperialistischen Mächte haben keines ihrer Kriegsziele erreicht, weder die vorgeschobenen noch die realen ökonomischen und geostrategischen. Nach zwei Jahrzehnten hinterlassen sie ein verwüstetes Land.

Verwüstetes Land

Während der Besatzung starben rund 250.000 AfghanInnen – rund 70.000 Angehörige der Sicherheitskräfte, etwa 100.000 wirkliche oder vermeintliche Taliban und über 70.000 ZivilistInnen. Sieben von rund 38 Millionen AfghanInnen wurden zu Flüchtlingen, davon rund 4 Millionen im eigenen Land. Die anderen 3 Millionen entflohen nach Pakistan, Iran oder in den Westen.

Auch wenn unter US-Besatzung einige demokratische Reformen auf dem Gebiet der Frauenrechte für die Intelligenz eingeführt wurden, so waren diese beschränkt und erstreckten sich im Wesentlichen auf städtische Zentren und Mittelschichten.

Für die Masse der AfghanInnen bedeutete die Besatzung weiter Willkür – nicht nur durch die Taliban, sondern auch durch Warlords, GrundbesitzerInnen und traditionelle Eliten in den von Regierung und westlichen Mächten kontrollierten Gebieten. Vor allem auf dem Land war und ist die wirtschaftliche Lage katastrophal, die Agrarproduktion am Boden. Die Ausbeutungsbedingungen sind extrem, sofern die Menschen überhaupt als Bauern/Bäuerinnen ihre Produkte verkaufen oder als LandarbeiterInnen Arbeit finden. Während Millionen auf der Flucht und Suche nach Beschäftigung in die Städte flohen, so fanden sie auch dort keine Einkommen und keine oder nur prekäre und befristete Arbeit. 80 % aller AfghanInnen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. 60 % der Kinder leiden unter Unterernährung. Ein großer Teil der Arbeitssuchenden wie überhaupt der urbanen Bevölkerung lebt in städtischen Slums.

All dies verdeutlicht, warum die Demokratie in Afghanistan unter imperialistischer Besatzung eine Farce war und sein musste. So schrecklich und bedrohlich die Rückkehr des Taliban-Regimes auch für viele – vor allem Frauen, demokratische Kräfte, SozialistInnen und die schwache ArbeiterInnenbewegung – sein wird, sind Millionen und Abermillionen AfghanInnen schon während der 20 Jahre Besatzung und Pseudodemokratie verarmt, verelendet, marginalisiert, entrechtet und demoralisiert. Die traditionellen Arbeitsbeziehungen sind nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges, angefangen mit dem reaktionären Krieg der mit dem Westen verbundenen Mudschahidin, weitgehend zerstört, ohne dass neue soziale Beziehungen an ihre Stelle getreten wären. Imperialistische Besatzung und Bürgerkriege haben zur Deklassierung weiter Teile der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft und selbst des KleinbürgerInnentums geführt.

20 Jahre Besatzung haben diese Verhältnisse ständig reproduziert und verschlechtert. Allein das bezeugt den reaktionären Charakter der imperialistischen Besatzung, die auch nicht nachträglich besser wird angesichts der drohenden theokratischen Diktatur der Taliban, des Verdrängens der Frauen aus dem öffentlichen Raum, der Einführung des islamischen Rechts durch die Taliban.

Dass all dies droht, wenn die Dschihadisten gewinnen sollten, war bekannt. Doch warum konnten diese das Land in den letzten Wochen so rasch einnehmen, obwohl allein die USA 2,2 Billionen US-Dollar in die Besatzung und Kriegsführung gesteckt haben? Mehrere Großoffensiven unter Bush und Obama kosteten zwar zehntausenden ZivilistInnen das Leben, das Land befrieden konnten sie jedoch nicht. Faktisch war spätestens 2016, nach der letzten gescheiteren Großoffensive mit über 130.000 US-Soldaten klar, dass eine militärische Lösung unmöglich war. Sicherlich spielte dabei auch die Tatsache eine wichtige Rolle, dass Pakistan, obwohl langjähriger US-Verbündeter, auch eine Schutzmacht der Taliban darstellte und nie aufhörte, als solche mehr oder weniger offen zu agieren.

Kein Problem gelöst

Vor allem aber war das imperialistische Besatzungsregime selbst dafür verantwortlich. Keines der fundamentalen sozialen und demokratischen Probleme des Landes wurde wirklich angepackt. Die Landfrage, eine Kernfrage jeder grundlegenden Veränderung, war faktisch tabu, sollten doch die besitzenden Eliten auf dem Land wichtige Verbündete gegen die Taliban darstellen. Allein die Tatsache, dass etliche von diesen einmal mehr überliefen und, im Gegenzug für ihren Loyalitätswechsel, nun unter den Taliban ihre führende Stellung behalten sollen, verdeutlicht die Logik jeder reaktionären, imperialistischen Besatzungspolitik. Sie setzt auf die Reichen und Besitzenden. Die Lage der Bauern/Bäuerinnen verschlechterte sich so, dass sie keinen Unterschied zwischen der „Demokratie“ unter imperialistischer Herrschaft und dem Emirat der Taliban zu erkennen vermögen. Hunger, Entrechtung und Überausbeutung ändern sich nicht – und die Taliban versprechen wenigstens islamische Wohlfahrt, Almosen für die Armen, während die US-Besatzung dem Land mehrere Strukturanpassungsprogramme des IWF und die Öffnung der Agrarmärkte gegenüber westlicher Konkurrenz aufzwang (was auch zu einem Ruin zahlreicher afghanischer AgrarproduzentInnen führte).

Dasselbe gilt bezüglich der Rechte nationaler Minderheiten, der LohnarbeiterInnen in den Städten. Nicht zuletzt war die afghanische Demokratie wenig mehr als als ein Kampf der mit den USA verbündeten Eliten um die Beute, um die Kontrolle über den Staatsapparat und die Pfründe, die er zu bieten hatte. Milliarden verschwanden in diesen Kanälen – und noch viel mehr in den Taschen der Rüstungs- und Sicherheitskonzerne in den USA und anderen westlichen Ländern. Eine soziale Basis in der Gesellschaft vermochte sich die afghanische Regierung nie aufzubauen. Ihre Stütze war im Grunde über zwei Jahrzehnte die Besatzungsmacht, die ihrerseits keinen Spielraum für ein anderes Regime bot. Ohne US- und NATO-Truppen brach die Regierung innerhalb weniger Wochen zusammen.

Scheitern der imperialistischen Ziele

Doch die USA und ihre Verbündeten vermochten nicht nur ihr vorgeschobenen Versprechen nicht einzulösen. Indem sie sich als unwillig und unfähig erwiesen, das Land selbst ökonomisch und sozial zu stabilisieren und ihm eine gewisse Perspektive zu erlauben, scheiterte auch die Verwirklichung ihrer realen, wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele.

Der Einmarsch und die rasche Eroberung des Landes durch die US-geführte Allianz, der sich 2001 fast alle Staaten der Welt offiziell anschlossen, wurden von den USA als Akt der Selbstverteidigung

nach dem reaktionären Anschlag auf die Twin Towers am 11. September 2001 präsentiert. In Wirklichkeit sollten die Eroberung Afghanistans ebenso wie der Krieg gegen den Irak und andere Interventionen die nahezu unangefochtene Hegemonie der USA nach dem Kalten Krieg und während des ersten Jahrzehnts der kapitalistischen Globalisierung verewigen. Von dieser „neuen Weltordnung“, für deren Errichtung die Kontrolle Eurasiens und die Verhinderung des Aufstiegs neuer imperialistischer Rivalen als zentral angesehen wurde, ist der US-Imperialismus heute weiter denn je entfernt. Auch wenn er noch immer die größte Ökonomie und die stärkste politische und militärische Macht darstellt, so offenbart der Rückzug der US- und NATO-Truppen vor allem den Niedergang der Hegemonialmacht. Am Ende konnten sie nicht einmal eine Machtteilung zwischen dem Vasallenregime Ghani und den Taliban durchsetzen.

Auch der „Krieg gegen den Terror“, diese ideologische Allzweckwaffe, die über zwei Jahrzehnte als Vorwand für so ziemlich jede Intervention herhalten sollte, hat sich abgenutzt. Geblieben sind nackte Interessenpolitik, die mehr oder weniger offene Verfolgung der eigenen imperialistischen Ziele im globalen Konkurrenzkampf, Islamophobie und antimuslimischer Rassismus in den imperialistischen Zentren als Ideologien zur Rechtfertigung der Unterdrückung im Inneren und zur Intervention nach außen.

Der Zusammenbruch des Vasallenregimes in Kabul bezeugt daher vor allem den Niedergang des US-Imperialismus. Er belegt, wie sehr sich die Weltlage in den beiden letzten Jahrzehnten grundlegend verändert hat. Auch wenn es schwer absehbar ist, ob und wie andere Mächte das Vakuum füllen können, das die USA in Afghanistan hinterlassen, so stehen die VerliererInnen fest. Die USA und ihre westlichen Verbündeten erlitten eine Niederlage von enormer internationaler Bedeutung. Sie erwiesen sich als unfähig, die Welt nach ihren Vorstellungen zu „ordnen“. Nach 20 Jahren endete der asymmetrische Krieg in einer Niederlage, deren globale Bedeutung der in Vietnam nicht nachsteht. Selbst einen „geregelten“ Übergang, eine Machtteilung der Regierung Ghani mit den Taliban vermochten sie nicht mehr auszuhandeln. Die größte Weltmacht wie der gesamte Westen wurden weltpolitisch vorgeführt.

Kampfloser Fall

Der kampflose Fall Kabuls besiegelte die Niederlage des afghanischen Regimes unter Präsident Aschraf Ghani. Nachdem die USA-Besatzungstruppen und ihre NATO-Verbündeten überhastet und frühzeitig abgezogen waren, entpuppte sich die afghanische Regierung samt ihrer nach offiziellen Angaben 300.000 Mann starken Verteidigungskräfte als Papiertigerin.

Innerhalb von nur wenigen Wochen konnten die Milizen der Taliban das Land erobern, obwohl sie zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch als unterlegen galten. Nachdem Anfang Mai, am Beginn des Abzugs der US/NATO-Truppen, noch der größere Teil des Landes von der Regierung kontrolliert wurde, veränderte sich die Lage bis Anfang Juli dramatisch. Rund die Hälfe des Territoriums hatten die Taliban eingenommen, oft ohne auf großen militärischen Widerstand zu stoßen. Zu diesem Zeitpunkt nahmen sie jedoch vor allem ländliche, oft relativ dünn besiedelte Regionen und kleinere Städte ein. Doch bald begannen sie auch, erste größere Provinzhauptstädte zu umzingeln und einzunehmen, mitunter nach längeren Gefechten mit den Regierungstruppen oder mit ihnen verbündeten Milizen von Landlords, also lokaler, oft auf Clanstrukturen basierenden Kriegsherren.

Mit jeder Niederlage der Regierungstruppen, die sich ihrerseits von ihren ehemaligen Schutzmächten, den USA und schwächeren imperialistischen Mächten wie Deutschland im Stich gelassen fühlten, schwanden die Hoffnungen, den Talibanvormarsch aufhalten zu können.

Mehr und mehr Großstädte wurden kampflos übernommen. Teile der lokalen Sicherheitskräfte liefen über, andere verkauften ihre Waffen an die Taliban, flohen mit ihrem Gerät in andere Regionen oder ins Ausland oder desertierten, um unterzutauchen.

Die Kampfmoral war offenkundig schon weitgehend gebrochen, als der Vormarsch der Taliban begann. Überraschend war sicher nicht der Umstand selbst, wohl aber das Ausmaß der Demoralisierung, die die Regierung und ihre westlichen Schutzmächte überraschte, wahrscheinlich aber auch die Taliban.

Mit dem US- und NATO-Abzug, ja im Grunde mit Donald Trumps Ankündigung aus dem letzten Jahr war schließlich längst klar, dass das afghanische Regime nicht einfach weiterregieren können würde. Die westlichen imperialistischen Mächte, aber auch Russland und China sowie regionale Player wie Pakistan, Iran und die Türkei strebten eine Machtteilung der Regierung Ghani mit den Taliban an, die vor allem am Verhandlungstisch errungen werden sollte.

Doch die Unterredungen stockten, auch weil die Regierung Ghani ihre Karten überreizte und hoffte, dass im schlimmsten Fall die USA und ihre Verbündeten doch mehr Truppen und Personal im Land lassen würden. Dabei verkalkulierte sie sich offenkundig.

Die USA, die NATO und sämtliche westlichen Besatzungsmächte rechneten damit, dass die Regierung wenigstens die größten städtischen Zentren und deren Umland halten würde können. Umgekehrt gingen im Mai und Juni wahrscheinlich auch die Taliban nicht davon aus, dass sie bis Mitte August ganz Afghanistan weitgehend kampflos erobern könnten. Länder wie Pakistan, während des gesamten Kriegs nicht nur Verbündeter der USA, sondern auch eine Art Schutzmacht der Taliban, sowie China und Russland setzten aus geostrategischen und ökonomischen Interessen auf eine Verhandlungslösung, die ihnen am Verhandlungstisch größeren Einfluss auf Kosten der USA gebracht hätte.

Doch die Kampfmoral der Verteidigungskräfte und deren innerer Zusammenhalt waren offenbar so gering, dass sie sich nach anfänglichen verlorenen Gefechten im Juli nur noch auf dem Rückzug befanden. Nicht nur Desertion und Kapitulation waren verantwortlich. Die Armeeführung war offenbar nicht in der Lage, Nachschub und Ersatzkräfte zu sichern. Warum also sollten die SoldatInnen ihr Leben angesichts der Taliban-Erfolge riskieren, wenn sich ihre Regierung als vollkommen unfähig erwies, sie zu unterstützen, und nachdem sie ihre imperialistischen Verbündeten faktisch aufgegeben hatten? Während die USA und NATO ihre Truppen überhastet abgezogen hatten, ohne die lokalen Einheiten der afghanischen Armee über die Modalitäten des Rückzugs zu informierten, sollten diese weiter für die Marionettenregierung in Kabul als Kanonenfutter agieren.

Das hindert US-Militärs und PolitikerInnen bis hin zum Präsidenten Biden natürlich nicht daran, die Verantwortung für die schmähliche militärische Niederlage den afghanischen Vasallen in die Schuhe zu schieben. Feige und inkompetent, käuflich und unzuverlässig wären diese gewesen. Dabei haben die NATO-Staaten die afghanischen Sicherheitskräfte selbst zwei Jahrzehnte lang ausgebildet und immer wieder von enormen Fortschritten berichtet. Bei den Kampfhandlungen ließen 70.000 dieser ihr Leben, während nur rund 3.500 NATO-SoldatInnen fielen (davon rund 2.500 aus den USA).

Doch in typisch imperialer Herrenmanier erklären nun westlichen Militärs und PolitikerInnen, dass die edle Mission nicht an ihnen, sondern an rückständigen, unzuverlässigen und schwachen afghanischen Verbündeten gescheitert wäre. So schiebt der Imperialismus die Niederlage auch noch seinen Marionetten zu, die nicht richtig nach seiner Pfeife getanzt hätten. Dabei schaffen es die USA, Deutschland und andere BesatzerInnen allenfalls, einen Teil der direkt als ÜbersetzerInnen, KundschafterInnen, Personal aller Art beschäftigten HelferInnen und deren Familien aus dem Land zu bringen. Auch wenn westliche PolitikerInnen ihre Sorge und Betroffenheit über deren Schicksal medienwirksam zur Schau stellen, so darf diese niemanden täuschen. Das Schicksal der ehemaligen HelferInnen und Verbündeten interessiert die imperialistischen BesatzerInnen wenig. Die Krokodilstränen für die Hunderttausende, die vor den Taliban Richtung Iran und Türkei auf der Flucht sind, erweisen sich als pure Heuchelei, sobald es darum geht, den Menschen die Flucht nach Europa zu ermöglichen und die Grenzen der EU zu öffnen.

Was droht?

Für die AfghanInnen kommt der Sturz des Regimes Ghani wie ein Wechsel von Pest zur Cholera. Während die imperialistischen BesatzerInnen das Land verlassen haben und gerade noch dabei sind, ihre letzten Truppen, Tross und Gerätschaft außer Landes zu fliegen, geht die Macht an die Taliban über.

Im Land selbst steht ihnen zur Zeit keine organisierte, kampffähige Kraft gegenüber. Die Armee ist zerfallen, nach ihr das Regime, deren Mitglieder sich jetzt gegenseitig die Hauptschuld an der Niederlage zuschieben.

Ein Übergangsregime, eine Machtteilung kommt für die Taliban nicht in Frage. Sie werden in den nächsten Tagen vielmehr ihre eigenen Regierung einsetzen, die einem Gottesstaat, einem Emirat vorstehen soll. Auch wenn die Sieger zur Zeit versprechen, die Zivilbevölkerung zu schonen, so besteht am reaktionären, unterdrückerischen Charakter des Regimes, das sie errichten wollen, kein Zweifel. Für die Frauen, für oppositionelle demokratische und sozialistische Kräfte, für die ArbeiterInnenbewegung brechen finstere, despotische Zeiten an. Auch wenn deren genaues Ausmaß nicht präzise vorherbestimmt werden kann, so werden die Taliban gerade auf dem Gebiet erzkonservativer Familien- und Moralvorstellungen und gegenüber allen Regungen des sozialen oder politischen Aufbegehrens von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen keine Gnade kennen. Das trifft auch auf die demokratische Intelligenz sowie auf unterdrückte Nationalitäten und Glaubensgemeinschaften zu. Wahrscheinlich wird es auch zu Schauprozessen gegen Angehörige der gestürzten Regierung und KollaborateurInnen mit den Besatzungsmächten kommen.

Doch die Taliban können sich nicht nur auf die repressive Sicherung ihre Herrschaft und ihre Moralvorstellungen beschränken. Sie müssen auch eine marode kapitalistische Ökonomie irgendwie am Laufen halten und wiederbeleben, sie müssen ein zerfallendes Land regieren und zusammenhalten. Dazu werden sie nicht wenige ParteigängerInnen des alten Regimes, BürokratInnen, lokale Landlords, Wirtschaftstreibende, wenn auch unter „islamischen“ Vorzeichen in ihr Regime zu integrieren versuchen.

Daher auch die ständigen Versicherungen, dass die Talibankämpfer nicht plündern würden, dass das Geschäftsleben möglichst rasch weitergehen solle, dass niemand willkürlich enteignet werde. Auch die Scharia respektiert das geheiligte Privateigentum. Um ihre Herrschaft sozial zu stabilisieren, werden sie eventuell auch auf Wohlfahrtsprogramme für die Armen setzen, auch wenn unklar ist, woher diese Mittel kommen sollen.

Selbst wenn die Taliban im Inneren kurzfristig kaum eine/n politische/n oder militärische/n GegnerIn zu fürchten haben, so regieren sie ein geschundenes, desintegriertes Land, das wirtschaftlich und sozial am Boden liegt. Diese Hinterlassenschaft der alten Regierung, von Jahrzehnten Bürgerkriegen und vor allem von imperialistischer Besatzung und Plünderung lastet auch auf den Taliban.

Cui bono?

Das Schicksal des Landes wird daher auch unter den Taliban nicht selbstständig in Kabul entschieden werden. Während die westlichen BesatzerInnen fluchtartig das Land verlassen haben, brauchen die Taliban neue Verbündete und Schutzmächte, die wesentlich die Zukunft des Landes (mit)bestimmen werden.

Pakistan drängt sich hier als eine erste Macht auf. Im Unterschied zu allen anderen Ländern unterhielt es immer diplomatische Beziehungen zu den Taliban, die auch während des Krieges gegen den Terror ihre Büros in Pakistan weiter offenhalten konnten. Vor allem aber dienten die Grenzregionen als Rückzugsgebiete für Talibankämpfer und Logistik. Teile des pakistanischen Geheimdienstes und des Militärs unterhielten seit Gründung der Taliban enge Beziehungen mit diesen, bilden diese faktisch aus. Das erklärt auch, warum sie eine schlagkräftige und zentralisierte Armee aufbauen konnten.

Pakistan hat schon jetzt erklärt, dass es eine neue Regierung als erstes Land anerkennen will, und unterstützt offen deren Bildung als konstruktiver Vermittler, um die nächste Administration auf eine breite und inklusive Grundlage zu stellen. Dazu finden zur Zeit erste Konsultationen von VertreterInnen der pakistanischen Regierung und der Taliban in Islamabad statt.

Der Präsident des Landes Imran Khan kritisierte dabei offen die USA als verantwortlich für die Lage in Afghanistan, setzt auf ein gemeinsames Vorgehen von Regierung, Militär und Geheimdienst. Kurz gesagt, auch wenn Pakistan wahrscheinlich selbst eine längere Übergangsphase gewünscht hätte, so sieht es zur Zeit die Chance gekommen, sich als Regionalmacht zu stärken und einen dominierenden Einfluss auf die weitere Entwicklung in Afghanistan zu nehmen.

Natürlich sind der pakistanischen Regierung die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten dieses Unterfangens klar. Daher sucht sie auch, weitere PartnerInnen mit ins Boot zu holen. Vor allem geht es dabei um China und den Iran. China wurde in den letzten Jahren die dominierende imperialistische Macht in Pakistan. Zugleich verfolgt Peking sowohl ökonomische Interessen (Abbau von Rohstoffen in Afghanistan), geostrategische (Neue Seidenstraße) wie auch innenpolitische (Abwendung von Unruhen der UigurInnen). Falls Pakistan vermitteln kann und die Taliban garantieren, dass sie sich in innere Angelegenheiten Chinas nicht einmischen werden, steht guten Beziehungen zu einer neuen Regierung in Kabul wenig im Wege. Ähnliches mag für den Iran gelten, der seinerseits schon seit Jahren regelmäßige Konsultationen mit China und Pakistan durchführt.

Zu diesen dreien gesellt sich die Türkei. Imran Kahn hat bereits die Initiative ergriffen, Erdogan in die Gespräche über die Zukunft Afghanistans einzubeziehen. Und schließlich wird auch Russland direkt und als Schutzmacht der ehemaligen Sowjetrepubliken, die an Afghanistan grenzen, mit im Boot sitzen. Während die USA und die europäischen Länder ihre Botschaften geschlossen und ihren diplomatischen Stab abgezogen haben, agiert die russische Botschaft weiter. Russland und China haben bereits angekündigt, die neue Regierung anzuerkennen. Beide wollen das politische Vakuum füllen, das der Westen hinterlassen hat.

Auch das verweist auf eine Veränderung der Verhältnisse, die nur wenig mit den Taliban, aber viel mit der Entwicklung der Weltlage seit 2001 zu tun haben.

Auch wenn die USA und die EU weiter versuchen werden, Einfluss in Afghanistan auszuüben, wenn sie mehr oder weniger heftig mit Sanktionen und Abbruch diplomatischer Beziehungen drohen, sollten die Taliban das internationale Recht nicht respektieren, so wirken diese Drohungen wenig furchteinflößend. Der Abzug der westlichen Militärs, Botschaften, von JournalistInnen und Geschäftsleuten ist der schlecht verhüllte Abzug von VerliererInnen.

Auch wenn es unklar ist, ob und wie neue Mächte die veränderte Lage in Afghanistan nutzen werden, so wird dessen Neuordnung keinesfalls nur ein innere Angelegenheit der Taliban bleiben. Ironischer Weise werden sich diese reaktionären Pseudobefreier selbst wahrscheinlich rasch als Vasallen größerer Mächte und von deren wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen erweisen.

Perspektive

Für die Massen in Afghanistan brechen hingegen dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban wird faktisch alle Ansätze von demokratischen, von Frauenorganisationen, Gewerkschaften und sozialistischen oder kommunistischen Kräften in die Illegalität treiben. Zugleich werden jedoch – wie in allen theokratischen Regimen – die gesellschaftlichen Widersprüche keineswegs verschwinden. Ausbrüche von Klassengegensätzen und anderen sozialen Konflikten – teilweise sogar eruptive – sind früher oder später unvermeidlich. Darauf müssen sich RevolutionärInnen in Afghanistan organisatorisch, politisch und programmatisch unter Bedingungen der Illegalität und der konspirativen Arbeit vorbereiten. Das bedeutet aber auch, sich klar zu werden über die wesentlichen Schwächen und Fehler der afghanischen Linken, die zumeist aus moskau- oder maostalinistischer Tradition kommen und in den letzten Jahren stark von sozialdemokratischen und liberalen Ideen beeinflusst wurden.

Zwei Lehren werden dabei zentral sein: Erstens muss der Kampf für demokratische und soziale Forderungen immer mit dem gegen imperialistische Besatzung verbunden werden. Zweitens und damit verbunden dürfen der Kampf für demokratische und soziale Verbesserungen und der für eine sozialistische Umwälzung nicht als Gegensatz oder gar als zeitlich und strukturell getrennte Etappen verstanden werden. Vielmehr verdeutlicht die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass die afghanische Revolution eine permanente im Sinne Trotzkis sein muss. Nur durch die Errichtung einer revolutionären ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung können die bis heute unerfüllten demokratischen Aufgaben im Rahmen einer sozialistischen Umwälzung gelöst werden. Wenn es die afghanische Linke, die fortgeschrittensten Teile der ArbeiterInnen-, der Frauenbewegung und der demokratischen Intelligenz vermögen, in der Illegalität eine solche revolutionäre Partei zu schaffen, dann können sie in der Lage sein, die nächste Krise des Landes im Interesse der ArbeiterInnenklasse und Bauern/Bäuerinnenschaft zu lösen.

Solidarität mit den Geflüchteten!

Die Entwicklung einer solchen Organisation stellt zweifellos eine langfristige Perspektive dar. Unmittelbar droht Millionen brutale politische Unterdrückung. Andere versuchen, in benachbarte Länder oder nach Europa zu fliehen.

Die imperialistischen Besatzungsmächte, die fluchtartig das Land verlassen haben, lassen nicht nur die meisten ihrer HelferInnen zurück. Vor allem wollen sie keine afghanischen Geflüchteten aufnehmen. Eine „Flüchtlingswelle“ soll verhindert werden. Wenn die Menschen schon vertrieben werden, sollen sie in angrenzenden Staaten wie Pakistan, Iran, Usbekistan oder der Türkei ausharren. Dabei ist die Verantwortung des Westens in kaum einem anderen Land so deutlich, sind imperialistischer Krieg und Besatzung so offenkundig Fluchtursachen. Umso zynischer ist es nun, für jene Menschen die Festung Europa dichtzumachen, deren Land von europäischen Truppen besetzt und verwüstet wurde. Doch damit nicht genug. Einige EU-Staaten wie Österreich sondieren sogar schon, wann sie die Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge wieder aufnehmen können.

Die Linke und die ArbeiterInnenbewegung müssen sich ohne Wenn und Aber für die Öffnung der EU-Grenzen für die Geflüchteten aussprechen. Wie die EU-Kommission oder die Regierung Merkel deutlich gemacht hat, wird das nur durch massive Mobilisierungen möglich sein. Die Aufnahme aller Geflüchteten, offenen Grenze und volle StaatsbürgerInnenrechte für alle sollte daher auch eine zentrale Forderung der Demonstrationen von #unteilbar am 4. September und darüber hinaus bilden.

Die zweite unmittelbar Lehre aus dem Afghanistankrieg muss lauten: Rückzug aller SoldatInnen der Bundeswehr und aller anderer imperialistischer Staaten nicht nur aus Afghanistan, sondern von allen Einsätzen – sei es unter UNO-, NATO- oder EU-Leitung! Nein zur Aufrüstung der Bundeswehr! Keinen Cent für Armee und Militarismus!




Afghanistan: USA verlassen ein verwüstetes Land

Dave Stockton, Infomail 1156, 21. Juli 2021

Kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag der Erklärung von George W. Bushs Krieg gegen den Terrorismus verkündete der jetzige US-Präsident Joe Biden den endgültigen Abzug der verbliebenen 2.500 US-Truppen aus Afghanistan. Die US-Streitkräfte verließen Bagram, den riesigen, befestigten Luftwaffenstützpunkt, ohne die afghanischen Regierungstruppen auch nur zu benachrichtigen, woraufhin die PlünderInnen anrückten. Biden hat sich bei seinem Rückzug als überstürzter und bedingungsloser erwiesen als Obama oder Trump, die beide darauf erpicht waren, aus dem afghanischen Sumpf herauszukommen.

Zynismus

Wenn irgendetwas mit der Zerstörungskraft der „humanitären“ Invasionen und Besetzungen der USA konkurriert, dann sind es die Nachwirkungen ihres Rückzugs. Die Taliban, das Ziel von Bushs und Blairs vermeintlichem Befreiungskrieg, versuchen nun die Kräfte des korrupten und inkompetenten Regimes aufzurollen.

Biden, mit atemberaubendem Zynismus, lieferte das endgültige Urteil über Amerikas längsten Krieg: „Wir machen kein Nation Building“. In der Tat! Nach den Ergebnissen der Invasion in Afghanistan und im Irak und der Bombardierung Libyens und Syriens können Sie das wieder sagen, Herr Präsident.

Zu Beginn des Krieges gegen den Terror prahlte der gerade verstorbene ehemalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nach der erfolgreichen Invasion des Iraks: „Ich lege keine Sümpfe an“. Aber er tat es!

Heute, auch wenn „Stiefel“, also Truppen auf dem Boden zu teuer und kontraproduktiv geworden sind, wird Biden wohl kaum die Bomben- und Drohnenangriffe stoppen, die von den großen US-Basen auf der arabischen Halbinsel oder der 5. Flotte im Golf gestartet werden, sofern es seiner Meinung nach eine „reale und akute Gefahr“ für die strategischen und wirtschaftlichen Interessen der Klasse gibt, die er vertritt. In der Tat macht der neue Kalte Krieg mit China und Russland, der bereits im Anfangsstadium ist, dies zu einer Gewissheit.

Für den Moment ist jedoch klar, dass die US-AmerikanerInnen ihren Krieg gegen die Taliban verlorengegeben haben. Obwohl in Doha gerade ein weiteres Waffenstillstandsabkommen vereinbart wurde, wird es, selbst wenn es hält und in ein vollständiges Friedensabkommen umgewandelt wird – und das ist ein großes WENN –, zu den Bedingungen der Taliban zustande kommen. Ein Aufgebot von Welt- und Regionalmächten versucht, jede Einigung zu beeinflussen, und keine von ihnen wird sich als humanitärer oder befreiender erweisen als die scheidenden „demokratischen Imperialismen“.

Seit dem 1. Mai haben die Taliban die Zahl der von ihnen kontrollierten Bezirke verdoppelt und wichtige Zollposten wie Spin Boldak an der pakistanischen Grenze übernommen, über die Heroin im Wert von Milliarden von US-Dollar in die Hafenstadt Karatschi gelangt, was einen großen Beitrag zu ihrer Kriegskasse leistet. In der Nähe von Herat haben sie auch den Grenzübergang Islam Qala eingenommen, und im Norden Afghanistans belagern sie praktisch die sechstgrößte Stadt des Landes, Kundus.

Misserfolg

Trotz der US-NATO-Siege in Afghanistan 2001 und im Irak 2003, trotz der späteren Zerstörung des ISIS-„Kalifats“ im Nordirak und in Syrien und der Tötung von Osama Bin Laden in seinem Versteck in Abbottabad war demnach der Krieg gegen den Terrorismus ein gigantischer, wenn auch zerstörerischer Misserfolg. Er hat die Städte und die Infrastruktur dieser Länder verwüstet und Millionen von Menschen ins Ausland oder intern in elende Lager vertrieben.

Was den „internationalen Terrorismus“ betrifft, so haben sich in den letzten Jahren dschihadistische Gruppen wie Boko Haram in den Staaten des subsaharischen Afrika ausgebreitet. Lokale Ableger von al-Qaida, ISIS und anderen Gruppen führen weiterhin regelmäßig Guerillakriege und verüben Terroranschläge und inspirieren „einsame Wölfe“ zu Anschlägen in Europa.

Die Zahl der verlorenen oder zerstörten Leben ist hoch. Seit 2001 wurden mehr als 775.000 US-amerikanische SoldatInnen nach Afghanistan geschickt, viele von ihnen zu wiederholten Einsätzen. Viele sind seelisch vernarbt und brutalisiert nach Hause gekommen. 2.300 wurden im Einsatz getötet und 20.589 schwer verwundet (Zahlen des US-Verteidigungsministeriums). Dies hat das Land 2,26 Billionen US-Dollar gekostet.

Natürlich musste die afghanische Bevölkerung einen noch höheren Blutzoll zahlen. Die Zahl der Todesopfer der Regierungstruppen liegt bei über 70.000 und die der Taliban wird auf 51.000 geschätzt. Noch höher sind die Verluste an zivilen Opfern. Mehr als 71.000 sind während des Konflikts im afghanisch-pakistanischen Kriegsgebiet gestorben.

Der Höhepunkt des Engagements der USA und der NATO lag zwischen 2010 und 2012 unter Obama, der mit dem Versprechen gewählt wurde, den Krieg zu beenden, dann aber einen militärischen Vorstoß mit dem unglaublichen Namen Operation Enduring Freedom (Operation Dauerhafte Freiheit) startete, begleitet von massiven Drohnenbombardements sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan, mit hohen zivilen Opfern. Dies wie auch Bushs Bemühungen, die Taliban zu unterdrücken, scheiterten zum Teil daran, weil sie die nicht so geheime Unterstützung von Elementen der pakistanischen Sicherheitskräfte hatten.

Unter Obama, Trump und Biden haben diese fruchtlosen Kosten, menschlich und materiell, die permanente militärische und politische Elite der USA eindeutig davon überzeugt, dass das Engagement in Afghanistan sinnlos und im Vergleich zu ihrer wachsenden Konzentration auf China nicht mehr von großer geostrategischer Bedeutung ist.

Hier müssen sie vielleicht vorsichtig sein: Afghanistan könnte ein wichtiges Bindeglied in Xi Jinpings „Belt and Road“-Projekt sein, der sog. neuen Seidenstraße. Die ChinesInnen verhandeln darüber schon lange sowohl mit der afghanischen Regierung als auch mit den Taliban. Es wäre eine Erweiterung des 62 Milliarden US-Dollar schweren Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridors, CPEC. Obwohl sich die fortgesetzte Unterdrückung der UigurInnen als Hindernis erweisen könnte, ist China bereits ein Akteur der neuesten Ausformunen im großen Machtspiel.

Der pakistanische Geheimdienst ISI wird weithin dafür verantwortlich gemacht, dass nicht nur die Mudschahidin, die die Sowjets in Afghanistan bekämpften, sondern auch die Taliban entstanden sind. Seitdem hat er bei kritischen Gelegenheiten hinter den Kulissen interveniert. Jetzt sieht der ISI Afghanistan als strategischen Stützpunkt gegen seinen großen Rivalen Indien.

Selbst wenn die Verhandlungen in Doha dazu führen, dass die Taliban die wichtigsten Städte nicht einnehmen (Kabul, Kandahar, Herat, Masar-e Scharif, Kundus, Jalalabad), wird die Zukunft der städtischen Bevölkerung, der Frauen und der nationalen und religiösen Minderheiten düster sein und die Zahl der Flüchtlinge wird zweifellos steigen.

Es ist offensichtlich, dass, obwohl die vom westlichen Imperialismus unterstützten Regierungen das Bildungswesen für Frauen wieder geöffnet und erweitert und sich Frauenbefreiungsbewegungen, StudentInnen- und ArbeiterInnenorganisationen entwickelt haben, all dies wieder einmal wie in früheren Perioden auf ausländischer Vorherrschaft beruhte und keine Wurzeln in der Mehrheit der Bevölkerung schlagen konnte. Ohne die Umgestaltung des ländlichen Lebens und die Einführung einer direkten Demokratie für alle, die in den Häusern, auf den Feldern und in den Fabriken arbeiten, bleiben selbst beschränkte Fortschritte anfällig für einen sozialen und politischen Rückschritt. Eine Revolution von oben ruht immer auf dem schwächsten aller Fundamente.

Lehren

Jahrhundertelang kamen die intervenierenden Mächte – das britische Raj (Britisch-Indien von 1858 – 1947), die Sowjetunion, die USA und morgen vielleicht China – aus ihren eigenen geostrategischen Gründen und nicht aus irgendeiner Art selbstloser Förderung von Modernisierung, Demokratie oder Frauenbefreiung. Nur wenn die Intelligenz, die ArbeiterInnen und die arme Dorfbevölkerung des Landes mit einer revolutionären Partei die Kontrolle über ihr Schicksal übernehmen, kann der Kreislauf aus von außen aufgezwungenen korrupten Regimen, reaktionären terroristischen Aufständen und Stammeskriegsherren durchbrochen werden.

In der Zwischenzeit können fortschrittliche Kräfte mit größerer Repression rechnen, was auch immer bei einer „Friedensregelung“ in Doha herauskommt. Afghanistan hat eine bedeutende linke Tradition, wenn auch eine, die vom Stalinismus in seiner sowjetisch-russischen oder maoistischen Version mit ihrer Etappentheorie und Perspektive des Sozialismus in einem Land dominiert wird. Ihre AnhängerInnen wurden in die sowjetische Intervention/den Rückzug im späten Kalten Krieg hineingezogen.

Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass kleine Teile der linken Tradition die Fragen des Programms neu überdenken und sich mit Trotzki und der Theorie der permanenten Revolution und der Taktik, die sie zum Ausdruck bringt, auseinandersetzen. Sie verdienen sicherlich jede mögliche ideologische, materielle und moralische Unterstützung, um die vor ihnen liegende Probezeit der Illegalität zu überstehen.

In den Ländern, die den langen Krieg gegen Afghanistan angezettelt haben, in erster Linie die imperialistischen NATO-Staaten, muss die internationale ArbeiterInnenbewegung auf die Aufnahme jeder neuen Flüchtlingswelle und ihre Versorgung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen drängen. Schon jetzt sind viele AfghanInnen dem harschen Empfang der Festung Europa im Mittelmeer und Einreiseverboten in die USA ausgesetzt. In Pakistan stehen fortschrittliche Kräfte vor ähnlichen (in bestimmten Fällen genau denselben) Problemen und werden es gut verstehen, die Solidarität auszuweiten.

Nicht zuletzt muss die Linke in den imperialistischen Staaten ein genaues Auge auf „unsere eigenen Imperialismen“ werfen, die auf einen ausgewachsenen Konflikt mit den „neuen“ Imperialismen und ihren regionalen Verbündeten beschleunigt zusteuern. Auf ihrem Höhepunkt mobilisierte die Antikriegsbewegung 2001 – 2003 weltweit Millionen auf den Straßen gegen die NATO-Invasion und die Besatzungen, aber ihre reformistischen FührerInnen hielten die ArbeiterInnenbewegung von direkten Massenaktionen zur Beendigung des Krieges ab und trugen damit eine Mitverantwortung für die Schrecken der letzten 20 Jahre. In einem direkten Zusammenstoß zwischen den Imperialismen werden diese Schrecken ans Tageslicht kommen.

Hier sollten wir uns an die Betonung des Internationalismus erinnern, mit der Marx die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1864 enden lässt:

„Wenn die Emanzipation der Arbeiterklassen das Zusammenwirken verschiedener Nationen erheischt, wie jenes große Ziel erreichen mit einer auswärtigen Politik, die frevelhafte Zwecke verfolgt, mit Nationalvorurteilen ihr Spiel treibt und in piratischen Kriegen des Volkes Blut und Gut vergeudet? Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heroische Widerstand der englischen Arbeiterklasse gegen ihre verbrecherische Torheit bewahrte den Westen Europas vor einer transatlantischen Kreuzfahrt für die Verewigung und Propaganda der Sklaverei. Der schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord des heroischen Polen und der Erbeutung der Bergveste des Kaukasus durch Rußland zusahen; die ungeheueren und ohne Widerstand erlaubten Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf zu St. Petersburg und deren Hand in jedem Kabinett von Europa, haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig zuvorzukommen, sich zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen.“

In einer Zeit der sich verschärfenden Rivalität zwischen imperialistischen und regionalen Mächten mögen Zusammenstöße an „fernen Orten“ für die ArbeiterInnenbewegungen der älteren imperialistischen Mächte keine offensichtliche Sorge darstellen, außer vielleicht, wenn sich Flüchtlingsströme ihren Grenzen nähern. Tatsächlich berühren sie aber die Lebensinteressen der internationalen ArbeiterInnenklasse. Der überstürzte Rückzug der Westmächte wird von Versuchen begleitet sein, ihre Verantwortung für die neuen Gräueltaten zu tilgen, die ein BürgerInnenkrieg und die Restauration der Taliban mit sich bringen werden.

Außerdem leben in vielen imperialistischen Staaten beträchtliche Massen migrantischer  ArbeiterInnen und von Flüchtlingen, die aus Ländern stammen, in die ihre HerrscherInnen einst einmarschiert sind oder die sie besetzt haben, und die eine wichtige Rolle beim Aufbau einer internationalen ArbeiterInnenbewegung in Solidarität mit fortschrittlichen Kräften in ihren Heimatländern spielen könnten. Sie können ein wichtiger Teil einer neuen, einer fünften Internationale sein; einer, die helfen kann zu verhindern, dass auch die ArbeiterInnen der halbkolonialen und imperialistischen Länder in weitere Kriege mit unvorstellbarer Zerstörung hineingezogen werden.