Nach den zwei Tagungen – wohin steuert China?

Creek Li, Infomail 1251, 13. April 2024

Berichte aus China zeigen, dass das Land trotz Fassade der Einheit und schmeichelhaften Sprache, die auf dem Nationalen Volkskongress im März dieses Jahres geherrscht hat, mit ernsten wirtschaftlichen Problemen konfrontiert ist, sowohl im Inland als auch auf internationaler Ebene, die das parteistaatliche System in eine Situation des Stillstands und der Lähmung bringen.

Das lässt sich an der Unfähigkeit der Parteiführung unter Xi Jinping ablesen, sich an die etablierten Verfahren zur Entwicklung der Wirtschaftspolitik zu halten. Normalerweise würde diese zunächst auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees, die üblicherweise im November stattfindet, erörtert und dann von der Zentralen Wirtschaftsarbeitskonferenz im Dezember detaillierter ausgearbeitet werden. Schließlich würde sie auf den „Zwei Tagungen“ des Nationalen Volkskongresses und des Politischen Konsultativrats des Chinesischen Volkes, die im März zwei Wochen lang zusammentreten, zur Zustimmung vorgelegt. Symptomatischer Weise wurde diese Tagung nach der ersten Woche abgebrochen, und es wurden keine größeren Ankündigungen gemacht – sogar die traditionelle Pressekonferenz des Ministerpräsidenten wurde abgesagt.

Obwohl die regierende Kommunistische Partei erfolgreich die Restauration des Kapitalismus unter ihrer vollständigen Kontrolle überwacht hat, ist eine wichtige Quelle der Legitimität des Regimes die Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Wirtschaftswachstums und die ständige Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung. Dies ist in den letzten drei Jahrzehnten mehr oder weniger gut gelungen. Zum Zeitpunkt des Handelskriegs zwischen China und den USA Ende der 2010er Jahre waren jedoch bereits Anzeichen für eine schlechte Wirtschaftslage zu erkennen. Engpässe in der Infrastruktur und ein Mangel an Innovationen in der Hightechindustrie, der auf die Verlagerung  ausländischer, insbesondere US-amerikanischer, Produktionsunternehmen in befreundete Länder nach Südostasien und Lateinamerika sowie auf die langfristigen Auswirkungen der US-Sanktionen zurückzuführen ist, waren echte Hindernisse für eine weitere Beschleunigung.

Der Inflationszyklus, der das Wachstum in den 1990er und 2000er Jahren begleitet hatte, wich einer schleichenden Deflation als Reaktion auf die schwache Nachfrage nicht nur in China, sondern auch international aufgrund des Rückgangs der chinesischen Exporte. Diese Schwierigkeiten wurden durch die Covid-19-Ausperrungen von 2020 bis 2022 und die schädlichen Auswirkungen des Klimawandels auf der ganzen Welt noch verschärft. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2023 gingen beispielsweise die Ausfuhren Chinas in die Vereinigten Staaten um 25 % zurück. Der größte Handelspartner der Vereinigten Staaten ist nun Mexiko, während China auf den dritten Platz zurückgefallen ist.

Die Expert:innen an der Spitze waren sich der Schwierigkeiten bewusst, die mit den Produktionsüberkapazitäten des Landes, dem Investitionsstau bei der Infrastruktur, der Immobilienpreisblase, der ungleichen Einkommensverteilung und der chronischen Deflation verbunden waren. Im Jahr 2021 ließ Peking diese Bedenken in den Entwurf des 14. Fünfjahresplans einfließen, eine aus der Zeit der Planwirtschaft übernommene Praxis, die einen Ausblick auf die wirtschaftlichen Entwicklungsstrategien für die nächsten fünf Jahre gab. Dieser Plan sah eine Ausweitung der Investitionen in Forschung und Entwicklung, der ländlichen Bildung, der Gesundheits- und Umweltdienste, der Sozialfürsorge, eine bessere Verteilung des Nationaleinkommens und die Eingliederung junger Menschen in den Arbeitsmarkt vor, alles in Verbindung mit einer relativen finanziellen Stabilität und einer gesunden Zahlungsbilanz. Aufgrund einiger tief verwurzelter struktureller Probleme in der chinesischen Wirtschaft, die mit dem parteistaatlichen System zusammenhängen, sind diese Ziele jedoch nur schwer zu erreichen.

Das erste und wichtigste Problem bildet natürlich das Platzen der Immobilienblasen und die daraus resultierenden riesigen Schulden. Dies betrifft nicht nur die berühmten Unternehmen wie Evergrande und Country Garden, sondern auch die Kommunal- und Provinzregierungen und die von ihnen geschaffenen Einrichtungen, die Finanzstützen für Kommunalverwaltungen, die den Verkauf von Grundstücken an Immobilienunternehmen subventionieren. Durch den Konkurs von Bauträger:innen ist den lokalen Regierungen eine wichtige Einnahmequelle weggebrochen – Berichten zufolge über 25 % –, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits unter den enormen Kosten der von Peking verhängten Abriegelungen während der Pandemie leiden. Zweitens hat das Versäumnis Pekings, Rettungspläne zur Entschädigung kleiner Unternehmen oder prekär Beschäftigter während der Covidzeit durchzuführen, zu einem starken Rückgang des Verbrauchs geführt, da die Menschen an ihren Ersparnissen festhalten. Dies erklärt, warum es nach der Wiedereröffnung nicht, wie von den meisten Ökonom:innen erwartet, zu einem Konsumboom gekommen ist. Es hat vielmehr dazu geführt, dass viele Unternehmen Lagerüberschüsse verzeichnen und Arbeiter:innen entlassen, was die Nachfrage noch weiter schwächt.

Technisch gesehen sind die Schulden von Evergrande und anderen Unternehmen zwar spektakulär, aber kein unlösbares Problem. Eine Kombination aus Umschuldung, Finanzierung der Fertigstellung und des anschließenden Verkaufs unvollendeter Projekte, Zusammenlegung potenziell lebensfähiger Teile der bankrotten Unternehmen, Übertragung der Schulden auf eine „Bad Bank“, Zwangsvergleiche mit den Gläubiger:innen und die Beschlagnahmung der Vermögenswerte der Immobilienspekulant:innen selbst könnten alle eine Rolle bei der Lösung der Finanzkrise der Branche spielen. Bisher wurden solche Maßnahmen jedoch kaum ergriffen, und der Chef von Evergrande, Hui Ka Yan, wurde sogar recht milde behandelt. Dies ist ein Zeichen für den widersprüchlichen Druck und die Loyalitäten innerhalb des Regimes. Aber das ist noch nicht alles: Selbst wenn solche Maßnahmen rigoros umgesetzt würden, wären damit weder das Problem der Umstrukturierung der Wirtschaft weg von der langjährigen Strategie der Abhängigkeit von Infrastrukturinvestitionen noch das der riesigen Schulden der lokalen Regierungen gelöst.

Sowohl die bankrotten und veralteten Sektoren der Wirtschaft als auch die potenziell dynamischen und profitablen Branchen sind im Parteistaatsapparat vertreten. Die zahlreichen Interessen innerhalb der Partei, die in regionalen, generationsbedingten, beruflichen und sozialen Unterschieden wurzeln, konnten zusammengehalten werden, solange alle auf den Fortschritt durch die robusten wirtschaftlichen Wachstumsstatistiken der letzten dreißig Jahre vertrauten. Zu diesem „Wachstum“ gehörten jedoch auch Zigmillionen leere Wohnungen und Tausende von Kilometern ungenutzter Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecken und Autobahnen. Ein krasses Beispiel stellt die Provinz Guizhou dar. Nach Angaben der Zeitung South China Morning Post hat Guizhou bis Ende 2022 insgesamt 8.331 Kilometer Autobahnen gebaut und übertrifft damit Japans Gesamtlänge von 7.800. Aber Japan hat 82 Millionen Autos, die auf seinen Autobahnen fahren, Guizhou verfügt über weniger als 6 Millionen. Die Kosten und mangelnde Rentabilität solcher Investitionen machen die unterschiedlichen Interessen innerhalb des Parteistaatsapparats zunehmend unvereinbar.

Auch auf internationaler Ebene stößt China auf mehrere Schwierigkeiten. Einerseits hat es seinen Plan, das Überkapazitätsproblem durch Kapitalexporte über das Programm „Ein Gürtel, eine Straße“ („Neue Seidenstraße“) zu lösen, nicht erfüllt. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs und einer eskalierenden Rivalität mit den USA wird dies noch schwieriger sein.Die derzeitige Pattsituation in der Welthandelsorganisation WTO zeigt, dass China zwar die seit dem Ende des Kalten Krieges im Washingtoner Konsens festgelegte „regelbasierte Ordnung“ untergräbt, aber noch nicht in der Lage ist, sie zu stürzen. Die USA sind ein globaler Hegemon mit der stärksten Militärmacht und sie kontrollieren immer noch die Bretton-Woods-Institutionen, die unter ihrer Vorherrschaft aufgebaut wurden und dazu dienen, diese aufrechtzuerhalten.

Die Gipfeltreffen der G20- und der BRICS-Staaten haben gezeigt, dass es für China möglich ist, über Handelsbeziehungen mit den Ländern des globalen Südens stabile Wirtschaftspartner:innenschaften aufzubauen. Diese bieten nicht nur neue Märkte für Chinas Produkte, sondern erhöhen auch dessen moralische Autorität in der Weltordnungspolitik, nicht zuletzt durch die Stimmen dieser Länder in der UNO. Nichtsdestotrotz stellen sie nicht annähernd eine Konkurrenz für die USA dar. Außerdem ist, wie John Maynard Keynes schon vor langer Zeit feststellte, „Währungskompetenz“ für die internationalen Beziehungen von entscheidender Bedeutung.

Trotz der wiederholten Bemühungen Pekings, den Yuan zu internationalisieren, hat es bisher nichts geschaffen, was auch nur annähernd mit den Funktionen des US-Dollars vergleichbar wäre. Eine echte Internationalisierung des Yuan würde im Wesentlichen Reformen zur Lockerung der Banken- und Kapitalkontrollen erfordern. Wie die Fälle der Konzerne Tencent und Alibaba Finanz zeigen, wären solche Reformen mit dem parteistaatlichen System unvereinbar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Zinsdifferenz zwischen China und den USA zu einer ständigen Kapitalflucht und zum Abzug ausländischer Investitionen führt.

Hier fangen alle politischen Probleme an und deshalb kann es zu einer Lähmung innerhalb des Parteistaats kommen. Nachdem Parteichef  Xi Jinping im Fraktionskampf erfolgreich war und den Gipfel seiner persönlichen Macht erreicht hat, ist er nun von Verleumder:innen umgeben und steht an einem existenziellen Scheideweg, der in der Geschichte schon so oft Autokrat:innen zu falschen Entscheidungen getrieben hat.

Kürzlich beschloss Xi aus Furcht vor einer sich auftürmenden Staatsverschuldung und einer Krise der Staatsfinanzen, die Ausgaben der lokalen Behörden und Infrastrukturprojekte zu kürzen. Dies fiel mit dem Abschwung im Immobiliensektor zusammen und die kombinierte Wirkung wird zu einem weiteren Rückgang der Einkommen und Beschäftigung führen, wodurch Millionen von Menschen arbeitslos und Zulieferbetriebe in der gesamten Wirtschaft in den Ruin getrieben werden. Dies könnte sich in einer politisch sensiblen Zeit als gefährlicher Schritt erweisen. Gleichzeitig wird sich die chinesische Wirtschaft stetig verschlechtern, wenn Xi zulässt, dass Immobilienspekulant:innen ihre Geschäfte wie gewohnt fortsetzen und die Immobilienblasen nicht aufbrechen, wie die sanfte Behandlung des Chefs von Evergrande andeuten könnte. Die Jugendarbeitslosigkeit hat im Jahr 2023 einen historischen Höchststand erreicht und liegt nach Schätzungen einiger Ökonom:innen derzeit bei etwa 40 %, was zu sozialen Unruhen führen könnte. Diese Kombination von Problemen, die jeweils verschiedene Bereiche innerhalb der Partei und des Staatsapparats betreffen, erklärt sowohl die immer diktatorischere Herrschaft von Xi als auch seine Unfähigkeit, ein neues Wirtschaftsmodell zu finden, das das Wirtschaftswachstum in der Einparteiendiktatur fördern kann.

Was Chinas derzeitige Krise schlussendlich von der in anderen imperialistischen Ländern unterscheidet, ist das herrschende Regime, keine kapitalistische Regierung, sondern ein stalinistischer Parteistaat, der aus einer Planwirtschaft hervorgegangen ist und nun versucht, seine Herrschaft in einer kapitalistischen Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

Im Laufe der Zeit haben sich zwangsläufig verschiedene Fraktionen und Flügel innerhalb der Staatsbürokratie herausgebildet, die ihre eigenen politischen Programme mit unterschiedlichen Haltungen gegenüber der chinesischen Bourgeoisie sowie Strategie zur Bewältigung der aktuellen wirtschaftlichen Probleme entwickeln werden.

Dies bietet die Möglichkeit einer offenen Spaltung der Partei, bei der die prokapitalistischen Fraktionen mit der Großbourgeoisie zusammenarbeiten könnten, um zu versuchen, eine bürgerliche Demokratie zu errichten, möglicherweise sogar unter dem Banner der Republik China. Das Verständnis der Dynamik einer solchen Situation ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines Programms für eine Arbeiter:innenpartei, die durch die Mobilisierung der Arbeiter:innen zur Verteidigung ihrer Interessen unabhängig von und gegen die Interessen sowohl der Bürokratie als auch der Kapitalist:innen aufgebaut werden soll.




Gefangen im Schatten der Unterdrückung: Patriarchale Gewalt an Dalit-Frauen in Indien

Night Ophelia, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Die Situation von Frauen in Indien ist alles andere als homogen. Ihre Realität wird von Faktoren wie gesellschaftlicher Herkunft, Klassen- und Kastenzugehörigkeit, Nationalität und Religion geprägt. Ein kritischer Blick offenbart, dass insbesondere Dalit-Frauen, Angehörige der untersten Kaste, einer besonders unsicheren Lage ausgesetzt sind.

Allgemeines zum Kastenwesen

Das indische Kastensystem ist ein soziales Hierarchiesystem, das die Gesellschaft in verschiedene Gruppen oder Kasten einteilt, basierend auf Beruf und sozialer Stellung. Der Begriffe Kaste selbst stammt ursprünglich aus dem Portugiesischen und überlappt sich nur teilweise mit den indischen Begriffen jati (Gattung, Wurzel) und varna (Farbe), was der Einteilung in vier große Kasten am nächsten kommt: Brahmanen (traditionell intellektuelle Elite, Priester:innen), Kshatriyas (traditionell Krieger:innen, höhere Beamt:innen), Vaishyas (traditionell Händler:innen, Kaufleute, Grundbesitzer:innen, Landwirt:innen) und Shudras (traditionell Handwerker:innen, Pachtbauern/-bäuerinnen, Tagelöhner:innen).

Darunter stehen die Dalits und Adivasi (Indigene). Dazu ist zu sagen, dass die jeweiligen Kasten sich auch noch mal in Subkasten teilen können und das Kastensystem bereits jahrtausende vor der Kolonialisierung zurückreicht. Die Einteilung der Gesellschaft in Kasten entspricht historisch einer Produktionsweise, die selbst auf Gemeineigentum an Produktionsmitteln, einer relativ statischen Arbeitsteilung unter den Gemeindemitgliedern, die Agrikultur und Manufaktur verbindet, sowie einem zentralisierten Staatsapparat, der Beamte, Heer und allgemeine Infrastruktur zur Verfügung stellt, fußt.

Durch die Kolonisierung seitens der Brit:innen wird das Kastensystem keineswegs abgeschafft, sondern vielmehr für die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse umgewandelt, in gewisser Weise noch prägender. Während der Kastenwesen in der vorkapitalistischen Gesellschaft, die von Marx an mehreren Stellen als „asiatische Produktionsweise“ charakterisiert wurde, Ausdruck eine Gesellschaftsformation war, die auf dem Gemeineigentum an Grund und Boden basierte, so wurde das Kastensystem mit der Kolonisierung, mit der ökonomischen und gewaltsamen Zerstörung der traditionellen Dorfgemeinschaften zu einem Mittel, die privilegierte Rolle der nun mit der kolonialen Herrschaft verbundenen Eliten und das Privateigentum an Grund und Boden (wie an allen andere wichtigen Produktionsmitteln) zu legitimieren.

Vereinfacht gesagt sichert das Kastenwesen die Klassenverhältnisse, erschwert bis verunmöglicht sozialen Aufstieg und verfestigt somit die Spaltung der Gesellschaft wie auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen. Klasse und Kaste sind miteinander verwoben, jedoch nicht als Synonym zu verwenden, da  die kapitalistische Produktionsweise selbst Druck auf das Kastenwesen ausübt und es formt.

Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass in Indien Diskriminierung aufgrund der Kastenherkunft zwar formal verboten ist (Artikel 15 der indischen Verfassung oder bswp. Scheduled Castes and Scheduled Tribes [Prevention of Atrocities] Act). In Wirklichkeit verhindert aber ungleiche Kastenherkunft oft Heiraten und bestimmt generell Bildungschancen, Gesundheitsversorgung sowie rechtlichen Schutz.  Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Situation von Dalit-Frauen, auch als „Unberührbare“ bekannt, näher anschaut. Sie stehen am untersten Ende dieser Hierarchie und wurden historisch marginalisiert und diskriminiert.

Wer sind Dalit-Frauen?

Laut Zensus (Volkszählung) des indischen Staates von 2011 machen Dalits 16,6 % der indischen Bevölkerung aus, also rund 240 Millionen. Diese sind vor allem in den Bundesstaaten Uttar Pradesh (21 %), Westbengalen (11 %), Bihar (8 %) und Tamil Nadu (früher: Madras; 7 %) konzentriert und machen dort zusammen fast die Hälfte der Dalit-Bevölkerung des Landes aus. Gleichzeitig leben sie auch häufig in ländlichen Regionen und sind deswegen infrastrukturell schlechter angebunden.

Rund die Hälfte der Dalitbevölkerung sind Frauen und auch wenn sich die Diskriminierung auf beide Geschlechter erstreckt, sind diese doppelter Benachteiligung ausgesetzt. Die Verbindung zwischen dem Kastensystem und Patriarchat zeigt sich durch die Kontrolle über die weibliche Sexualität. Das Kastensystem wird durch die Einschränkung der sexuellen Autonomie von Frauen aufrechterhalten. Dies führt zu einem Klima, in dem sexuelle Gewalt und Vergewaltigung als Mittel der Unterdrückung und Machtausübung eingesetzt werden. Diese Gewaltakte dienen nicht nur der physischen, sondern auch der symbolischen Kontrolle, um die soziale Hierarchie aufrechtzuerhalten. Der Widerstand gegen diese Unterdrückung nimmt zu, da Dalit-Frauen und ihre Gemeinschaften für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kämpfen. Doch bevor wir dazu kommen, ein paar Fakten.

Ökonomische Lage

Das Kastenwesen im Kapitalismus hat eine gesellschaftliche Arbeitsteilung manifestiert, die die unterste Kaste als landlos zurücklässt. So arbeitet der Großteil im informellen Sektor und Dalits sowie Adivasi stellen landesweit den größten Anteil an temporären Arbeitsmigrant:innen dar. Obwohl sie nur 25 % der Bevölkerung ausmachen, stellen sie offiziellen Schätzungen zufolge mehr als 40 % der saisonalen Migrant:innen. Praktisch arbeiten sie in der Landwirtschaft sowie im Baugewerbe und werden häufig in den gefährlichsten, anstrengendsten und umweltschädlichsten Bereichen der Wirtschaft eingesetzt. Auch Anstellung in Bereichen wie der Abwasserreinigung sind nicht untypisch,  die vor allem für den Status der „Unreinheit“ gesorgt haben, da diese von den oberen Kaste als entwürdigend angesehen wurden. Insbesondere diese Arbeit, die zwar gesetzlich verboten wurde, wird heute mehrheitlich von Frauen verrichtet und sorgt dafür, dass sie weniger verdienen als Männer.

Durch die strukturelle Einstellung in schlechter bezahlte, prekäre Jobs kommt es zu größeren Einkommensunterschieden zwischen den Kasten. Zwar hat sich das in den vergangenen Jahren geringfügig verbessert – an der generellen Ungleichheit ändert das jedoch wenig. Für Frauen kommt noch der Gender Pay Gap hinzu, der dafür sorgt, dass sie im gleichen Beruf weniger verdienen.

Ebenso problematisch ist Schuldknechtschaft, die nicht anderes ist als Zwangsarbeit oder moderne  Sklaverei. So können jüngere Mädchen beispielsweise – um Kosten für die Mitgift zu bezahlen – in Spinnereien angeworben werden. Die Eltern warten oft mehrere Jahre, bevor sie das Geld erhalten, das in der Regel niedriger ist als ursprünglich vereinbart. Aber auch die Vererbung von Schulden über Generationen  ist möglich.

Grundsätzlich dient das Kastenwesen dazu, einen segregierten Arbeitsmarkt zu verfestigen und reproduzieren, auf dem die Dalits einen Kern einer permanent überausgebeuteten Arbeiter:innenschaft darstellen, die strukturell gezwungen ist, in ihrer großen Mehrheit unter den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu leben. Allein schon deshalb bildet das Kastensystem keineswegs einen „Überrest“ der Vergangenheit, sondern vielmehr einen integralen Bestandteil des indischen Kapitalismus.

Bildung

Eine Analyse der ILO auf Basis der Daten der Nationalen Stichprobenerhebung (NSS) deutet darauf hin, dass der Bildungsstand unter Dalits zugenommen hat, jedoch nicht in demselben Tempo wie bei den oberen Kasten. Während in den zwei Jahrzehnten nach 1983 Dalit-Männer eine Verbesserung von 39 Prozentpunkten (56 Prozentpunkte bei anderer Kastenzugehörigkeit) des Bildungsniveaus nach der Grundschule erreichten, sind es bei Dalit-Frauen nur 21 (38 Prozentpunkte bei Angehörigen der oberen Kaste). Ebenso ist die Abbruchquote innerhalb des Grundschulzeitraums hoch. Laut einer Analyse des IndiaGoverns Research Institute machten Dalits im Zeitraum 2012 – 2014 fast die Hälfte der Grundschulabbrecher:innen in Karnataka (früher: Mysore) aus. Das liegt jedoch nicht nur an der Diskriminierung, die während des Schulalltags passiert. Eine 2014 von ActionAid finanzierte Stichprobenerhebung ergab, dass von den staatlichen Schulen in Madhya Pradesh 88 Prozent Dalit-Kinder diskriminieren: So war es in 79 % der untersuchten Schulen Dalit-Kindern verboten, das Mittagessen anzurühren, und in 35 % befohlen, beim Mittagessen getrennt sitzen.

Der Hauptgrund dafür ist, dass die Einkommen der Familien nicht ausreichen, um diese zu ernähren und Kinder somit gezwungen werden, zu arbeiten, was wiederum schlechtere Anstellungsverhältnisse begünstigt.

Gewalt

Während Gewalt gegenüber Frauen ein Klassen (und Kasten) übergreifendes Problem und kastenbasierte Gewalt ebenfalls Alltag sind, wird hier das Ausmaß der gesellschaftlichen Stellung von Dalit Frauen sichtbar. Eine dreijährige Studie über die Erfahrungen von 500 Dalit-Frauen mit Gewalt in vier indischen Bundesstaaten zeigt, dass die Mehrheit mindestens eine der folgenden Erfahrungen gemeldet hat:

  • verbale Gewalt (62,4 %),

  • körperliche Übergriffe (54,8 %),

  • sexuelle Belästigung und Übergriffe (46,8 %),

  • häusliche Gewalt (43,0 %),

Ebenso werden nach Angaben des National Crime Records Bureau jeden Tag mehr als vier Dalit-Frauen vergewaltigt. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher, da viele solcher Verbrechen nicht gemeldet werden aufgrund Angst vor Gewalt und Einschüchterung sowie Tatenlosigkeit der Polizei und Gerichte. Die mangelnde Erfassung solcher Daten ist dabei ein großes Problem. Zwar gibt es lokale Statistiken, die aufzeigen, dass Sexualstraftaten mehr geahndet und verurteilt werden, wenn die Betroffenen höheren Kasten angehören, das Ausmaß lässt sich aber nur vermuten. Gleiches gilt für Zwangsheiraten sowie verbindliche Aussagen, wie viele Frauen als Devadasis (Prostituierte; ursprünglich bezeichnete der Begriff Tempeltänzerinnen; d. Red.) arbeiten müssen. Ein Bericht von Sampark (niederländische Stiftung für Bildungsfragen; d. Red.) aus dem Jahr 2015 an die ILO stellt fest, dass 85 % der befragten Devadasis aus Dalit-Gemeinschaften stammen. Wie viele es jedoch an sich gibt, ist unklar aufgrund der Weigerung mancher Bundesstaaten, zuverlässige Daten zu erfassen.

Widerstand

Der Widerstand gegen das Kastensystem an sich existiert schon lange. So engagierten sich in den 1920er Jahren beispielsweise Dalit-Frauen in Bewegungen gegen Kasten und Unberührbarkeit, in den 1930er Jahren in der Non-Brahman-Bewegung und haben dafür gekämpft, dass die eigenen Forderungen auch in der Frauenbewegung Indiens aufgenommen werden, was seit den 1970er Jahren auch Wirkung zeigt. Während der Widerstand gegen die gesellschaftliche Unterdrückung von Dalits in Indien zunehmend an Bedeutung gewinnt, steigt jedoch auch die Gewalt gegen diese, vor allem durch Unterstützer:innen der BJP und faschistische Kräfte. Nach besonders schockierenden Vorfällen von Gewalt, Femiziden oder Sexualstraftaten finden dabei regelmäßig Protestbewegungen statt wie im Fall von Manisha. Sie wurde am 14. September 2020 von vier Männern vergewaltigt, ihre Zunge durchgeschnitten und Wirbelsäule gebrochen, sodass sie nach 15 Tagen ihren Verletzungen erlag. Solche Taten sind keine Einzelfälle und führen regelmäßig zu Mobilisierungen und Aufschrei, gegen die anhaltende Gewalt und Unterdrückung vorzugehen. Auch am 4. Dezember 2023 gab es in Jantar Mantar einen größeren Protest, bei dem verschiedene Organisation für die Rechte von Dalits auf die Straße gingen. Ihre Forderungen waren mitunter: Schutz der bestehenden Wohlfahrtsprogramme für Dalits, Anerkennung von Dalit-Siedlungen, indem Eigentumsrechte eingeräumt werden. Landlose sollten für Wohngrundstücke identifiziert und der Besitz sollte für ihre Erben gesichert werden. Ferner wurde die sofortige Umsetzung des Gesetzes zur Abschaffung der Schuldknechtschaft (Bonded Labor Abolition System Act, 1976).

Was tun?

Die Realität zeigt: Formale Gleichheit auf dem Papier ist zwar ein wichtiger Schritt, reicht aber lange nicht aus, um diese auch in der Praxis umzusetzen. Dabei muss auch klar sein, dass der Kampf gegen den Chauvinismus, den das Kastensystem mit sich bringt, notwendig ist. Schulungen und Aufklärungskampagnen alleine werden jedoch nichts verändern.

Aufgabe muss sein, das Kastenwesen zu zerschlagen und mit ihm die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die es aufrechterhält. Große Worte, die in der Praxis bedeuten, für ein Sozialversicherungssystem, kollektive Organisation der Reproduktionsarbeit sowie ein Mindesteinkommen, gekoppelt an die Inflation, für alle zu kämpfen. Verbunden werden müssen diese Forderungen mit dem Kampf um ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle, finanziert aus den Profiten der Unternehmen, um für alle freie, kostenlos zugängliche Bildungs-, Gesundheits- und Altenvorsorge zu gewährleisten.

Denn nur wenn die grundlegende Lebensabsicherung für alle gegeben ist, kann die Ungleichheit anfangen zu verschwinden. Dies umzusetzen, ist jedoch einfacher geschrieben als getan. Zum einen kann das Vertrauen, wenn es darum geht, solche Maßnahmen umzusetzen, nicht bei Regierung und Staat liegen. Vielmehr braucht es Komitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die die Umsetzung kontrollieren. Dabei muss durch eine Quotierung sichergestellt werden, dass auch aus den untersten Schichten Repräsentant:innen sicher vertreten sind.

Zum anderen sorgt Indiens Stellung auf dem Weltmarkt für die massive Überausbeutung großer Teile der Bevölkerung. Um die Kosten der Ausweitung der Sozialversicherung und die Abschaffung des informellen Sektors zu tragen, muss man mit der Politik, die die Überausbeutung schützt, brechen. Das heißt: Schluss mit der Politik für die Interessen von Weltbank, Währungsfonds, USA, Japan und EU! Schuss aber auch mit einer Politik, die die indischen Großkapitale und Monopole fördert! Ansonsten wird es nie möglich sein, fundamentale Verbesserung für die Mehrheit der Bevölkerung einzuführen.

Kurzum: Der Kampf für konkrete Reformen muss mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden werden. Um die Umsetzung sicherzustellen, braucht es Selbstverteidigungskomitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die sich gegen die Angriffe von jenen wehren, die das System der Unterdrückung aufrechterhalten wollen.

Der Kampf für die Verbesserung der Situation von Dalit-Frauen ist darin unmittelbar eingebunden. Er bedeutet, für jene Forderungen zu mobilisieren, aktiv zu kämpfen und den Protest zu nutzen, um seitens der Gewerkschaften für organisierte Kampagnen in Stadtvierteln und Dörfern einzutreten, die über den Chauvinismus, der mit dem Kastensystem einhergeht, sowie Sexismus aufklären.

  • Für regelmäßige statistische Erhebungen über die Auswirkungen des Kastenwesens, Geschlecht, sowie Religion auf Beschäftigung und Lebensqualität – kontrolliert durch Gewerkschaften und Ausschüsse der Dalit!

  • Weg mit dem informellen Sektor! Für die flächendeckende Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Berufen!

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Weg mit dem Gender Pay Gap, Einführung eines Mindestlohns sowie Mindesteinkommen, das automatisch an die Preissteigerung angepasst wird!

  • Schluss mit Chauvinismus: Zerschlagung des Kastensystems, Kampf dem Hinduchauvisismus und Sexismus, für Aufklärungskampagnen seitens der Gewerkschaften in den Wohnvierteln und Dörfern!

  • Kampf gegen die Reproduktion des Kastensystems in der Linken und den Gewerkschaften, Recht auf gesonderte Treffen von Dalit und Frauen!

  • Kein Vertrauen in die Polizei: Für demokratisch gewählte sowie organisierte  Selbstverteidigungskomitees sowie Meldestellen für Diskriminierung von Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!

  • Nein zur Doppelbelastung: Für die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle!

Ein solches Programm, das wir hier nur knapp skizzieren können, ist unvereinbar nicht nur mit der Herrschaft der hinduchauvinistischen BJP, sondern mit dem indischen Kapitalismus selbst. Es muss daher im Rahmen eines Programms der permanenten Revolution mit dem Kampf um die Enteignung des indischen und imperialistischen Großkapitals und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Dazu braucht es den revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft in Indien und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte stützt.




Der Kampf der Belutsch:innen gegen staatliche Morde und Ausbeutung

Minerwa Tahir, Gruppe Arbeiter:innemacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Ihr Land ist besetzt und Militärkontrollpunkte kontrollieren ihre Bewegungsfreiheit. Das Land ist reich an Gas, Mineralien und Öl, aber ihre Ressourcen werden ohne Entschädigung geplündert. Ihnen werden die grundlegenden sozialen und demokratischen Rechte vorenthalten. Sie werden häufig als „Terrorist:innen“ gebrandmarkt und entmenschlicht. Ähnlich wie die Palästinenser:innen sind die Belutsch:innen nicht länger bereit, ihr gewaltvolles Schicksal hinzunehmen.

Das Volk der Belutsch:innen lebt in der Region Belutschistan, die zwischen Pakistan und Iran aufgeteilt ist. Dies ist die Provinz mit der größten Fläche und der kleinsten Bevölkerung. Sie grenzt an den Iran und Afghanistan. In der Region gibt es seit Langem eine Aufstandsbewegung, die von Separatist:innen angeführt wird, die die Unabhängigkeit von Pakistan fordern. Andere Teile der nationalen Bewegung fordern eine größere Autonomie und/oder mehr Rechte innerhalb des pakistanischen Staatsgefüges.

Die jüngste Auseinandersetzung zwischen Belutsch:innen und pakistanischem Staat wurde durch die Ermordung des 24-jährigen Balach Mola Bakhsh und dreier weiterer Personen am 23. Oktober 2023 in der Stadt Turbat im Distrikt Kech in Belutschistan ausgelöst. Es kam zu einer Welle von Protesten, da die Belutsch:innen den Staat dafür anklagen, dass Bakhsh ein weiteres Opfer außergerichtlicher Tötungen sei. Die Proteste gipfelten in dem „Langen Marsch der Belutsch:innen“, eines über 1.000 Meilen durchgeführten Protestmarsches, der von Familienangehörigen, Freund:innen und anderen Aktivist:innen zu Fuß unternommen wurde. Während dessen gesamter Dauer führten die pakistanischen Behörden eine Desinformationskampagne gegen die Demonstrant:innen und setzten sie wiederholt Einschüchterungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen aus.

Hintergrund

Am 23. November 2023 meldete die pakistanische Abteilung für Terrorismusbekämpfung (CTD), dass sie in einer geheimdienstlichen Operation vier „Terrorist:innen“ getötet habe. Einer von ihnen wurde als Bakhsh identifiziert, nachdem die Leichen der örtlichen Polizei übergeben worden waren. Unterdessen begann die Familie von Bakhsh mit dem Leichnam eine Sitzdemonstration. Sie berichteten, dass Bakhsh vor einem Monat von der CTD verhaftet und dem örtlichen Gericht vorgeführt worden war, das ihn für 10 Tage in Polizeigewahrsam nahm.

Die Demonstrant:innen forderten die Verhaftung der CTD-Beamt:innen und die Einsetzung einer gerichtlichen Kommission zur Untersuchung der Morde. Nach Angaben der Familie wurden alle vier Opfer in Gewahrsam getötet. Ein Richter am Gericht von Turbat hatte die örtliche Polizei daraufhin sogar angewiesen, eine Anzeige gegen den für die Morde verantwortlichen Beamten zu erstatten. Doch das verläuft seither im Sand.

BLM: Langer Marsch der Belutsch:innen

Der Lange Marsch der Belutsch:innen (BLM) begann am 6. Dezember 2023, wird vom Baloch Yakjehti Committee (Baloch-Solidaritätskomitee) organisiert und von unbewaffneten Frauen und Kindern aus Belutschistan angeführt, die auf ihrem Weg von dort nach Islamabad schweren Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt waren. Diese Frauen haben jahrzehntelang unter Schmerzen und Ängsten gelitten, denn ihre Väter, Ehemänner, Brüder und Söhne sind „gewaltsam verschwunden“. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist eine jahrzehntelange Praxis, gegen die die Belutsch:innen immer wieder protestieren. Männer werden Berichten zufolge von staatlichen Behörden wegen Terrorismusverdachts festgenommen und „verschwinden“ dann. Am 16. Januar 2024 berichtete die Untersuchungskommission für gewaltsames Verschwindenlassen, dass sie seit 2011 insgesamt 10.078 Fälle registriert hat, davon 3.485 in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa und 2.752 in Belutschistan.

Zu den Forderungen der BLM gehörten nicht nur Gerechtigkeit für die vier Opfer der Morde vom Oktober, sondern auch ein Ende der barbarischen und undemokratischen Praktiken des Verschwindenlassens und Tötens.

Am 17. Dezember wurden 20 belutschische Demonstrant:innen verhaftet, als der lange Marsch über Dera Ghazi Khan in die Provinz Punjab (Pandschab) zu gelangen versuchte.

Als die unbewaffneten Demonstrant:innen in der Nähe von Islamabad ankamen, ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen sie vor, unter anderem mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern. Um ihnen den Weg nach Islamabad zu versperren, errichtete die Polizei Barrikaden rund um die Hauptstadt, schlug und verhaftete eine Reihe von Teilnehmer:innen. Gegen ältere Menschen und Minderjährige wurde brutale Gewalt angewandt, während Frauen von Männern in Uniform weggezerrt wurden.

Belutschische Frauen führen internationale Solidarität an

Der von Frauen angeführte Protest der Belutsch:innen musste aufgrund verschiedener Faktoren, die von extremer Kälte bis hin zu schweren staatlichen Repressionen reichten, abgebrochen werden. Dennoch bedeutet das nicht auf ein Ende der Bewegung hin. Es scheint vielmehr der Beginn der nächsten Phase der Bewegung zu sein, d. h. einer, die die Unterdrückten der Region zusammenführt. Am 21. Januar 2024 organisierte das Baloch Yakjehti Committee trotz aller staatlichen Hindernisse die erste Internationale Konferenz der Unterdrückten in Islamabad. Diese wurde mit dem Ziel organisiert, die Unterdrückten der Region zu vereinen und den „Völkermord an den Belutsch:innen“ aufzuklären. Dies ist natürlich eine positive Entwicklung, die der Bewegung gegen nationale Unterdrückung helfen wird, aus ihrer Isolation auszubrechen und Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung zu werden.

Der pakistanische Staat behauptet, die Vorwürfe über einen Völkermord an den Belutsch:innen seien übertrieben. Die Menschenrechtsaktivistin Mahrang Baloch verwies jedoch auf die Einrichtung eines Friedhofs mit unbekannten verstümmelten Leichen, auf Kinder, die auf der Straße nach ihren Vätern suchen, auf kollektive Tötungen und Massengräber als Beweis für den Ernst der Lage und forderte die internationale Gemeinschaft auf, diese Gräueltaten als eine Form des Völkermords anzuerkennen. Im Jahr 2014 wurden beispielsweise im Bezirk Khuzdar Massengräber gefunden.

Frauen wie Mahrang sind sich bewusst, dass sie nicht allein leiden. Auf der Internationalen Konferenz für unterdrückte Völker in Islamabad erhob sie ihre Stimme nicht nur gegen den  „Völkermord an den Belutsch:innen“, sondern auch gegen die Herausforderungen, mit denen Hazara, Sindhi, Muhajir, Paschtun:innen, Schiit:innen, Hindi, Christ:innen und andere unterdrückte Nationalitäten, aber auch religiöse Minderheiten in Pakistan zu kämpfen haben.

Das anhaltende Massaker an den Palästinenser:innen und die darauffolgende internationale Solidaritätsbewegung haben auch dazu geführt, dass es zumindest in einigen Staaten schwerer wird, die eigenen Gräueltaten zu vertuschen.

Es wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, die Ignoranz vieler Pakistaner:innen gegenüber dem Leiden der Belutsch:innen zu brechen. Das scheint jedenfalls ein Stück weit gelungen zu sein, was sich daran zeigt, dass die Mainstreammedien über den von Frauen geführten BLM berichtet haben wie nie zuvor.

Wir sehen, dass die Lehren, die die Bewegung der Belutsch:innen gegen die nationale Unterdrückung aus ihren Erfahrungen mit verschiedenen politischen Strömungen gezogen hat, ihnen mehr und mehr bewusst gemacht haben, dass ihre Befreiung mit der anderer unterdrückter Nationen zusammenhängt, einschließlich derer, die unter der indischen Besatzung in Dschammu und Kaschmir unter ähnlicher Unterdrückung leiden.

Wir solidarisieren uns klar mit dem Volk von Belutschistan in seinem Kampf gegen die nationale Unterdrückung. Das Volk der Belutsch:innen hat ebenso wie die Palästinenser:innen und die Kaschmiris das Recht auf Selbstbestimmung. Wir stehen an ihrer Seite, so wie wir an der Seite der Palästinenser:innen, der Kurd:innen, der Iraner:innen, der Afghan:innen, der Armenier:innen, der Kaschmiris, der Dalits und der Rom:nja und Sinti:zze stehen. Wir rufen die Arbeiter:innen und Unterdrückten der Welt auf, sich die Sache der Belutsch:innen zu eigen zu machen. Schließlich ist niemand von uns frei, solange wir nicht alle frei sind.

Letztendlich besteht die Bedeutung des BLM und der oft von Frauen geführten neu entstehenden Massenbewegung auch darin, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung selbst einer politischen und strategischen Neuausrichtung bedarf. Historisch ist er stark vom Gueriallismus und von einer Etappentheorie der Befreiung geprägt, derzufolge das strategische Ziel des Kampfes die Errichtung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse – entweder in Form eines eigenen Staates oder von mehr demokratischen Rechten für die Provinz im Rahmen des pakistanischen Staates – sein solle. In beiden Fällen wären jedoch die kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse davon nicht berührt.

Genau darin liegt eine entscheidende Schwäche der bisherigen Bewegung. In Wirklichkeit ist die Unterdrückung der Belutsch:innen eng mit Kapitalismus und Imperialismus verbunden. Belutschistan ist reich an Rohstoffen, die von der pakistanischen und imperialistischen Bourgeoisie ausgebeutet werden. Es hat eine wichtige geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung für die „Neue Seidenstraße“ Chinas (CPEC). Dies sind nur einige Beispiele dafür. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, eine Perspektive zu weisen, wie der Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem gegen die Ausbeutung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verbunden werden kann – in Belutschistan und ganz Pakistan. Nur eine Einheitsfront aller Organisationen unterdrückter Ethnien und Arbeiter:innen kann den pakistanischen Staat effektiv unter Druck setzen und ihn zwingen, das Morden zu stoppen. Die Nation der Belutsch:innen muss mithilfe demokratischer Rechte in der Lage sein, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden. Die führende Rolle von Frauen bei der Organisierung, Durchführung und öffentlichen Vertretung des BLM verweist darüber hinaus darauf, dass diese nicht nur eine führenden Rolle im Kampf für nationale Befreiung und sozialistische Umwälzung, sondern auch für den Kampf gegen das Patriarchat spielen können und werden.




Nieder mit der Taliban-Diktatur: Befreit die afghanischen Frauen!

Interview mit einer afghanischen Geflüchteten in Pakistan, 15.01.2024, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele davon sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung. Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung zum Elend verschlechtert hat. Sie erkennet, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Im Rahmen unserer bedingungslosen Solidarität mit den mutigen afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora spricht FIGHT mit Roya Afghan Aazad (dokumentierter Flüchtling mit POR-Karte), die in Pakistan lebt, über den Stand der Dinge seither, wobei der Schwerpunkt auf den afghanischen Frauen heute liegt. Die Interviewpartnerin wählte diesen Namen, um ihre Identität zu schützen. Er bedeutet „Traum für ein freies Afghanistan“. Das Interview führt Minerwa Tahir.

FIGHT: Vielen Dank, dass du sich bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen, Roya. Wie würdest du die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan beschreiben? Dürfen sie frei arbeiten? Dürfen sie nur in bestimmten Berufen oder gar nicht arbeiten? Unterscheidet sich das Leben der afghanischen Frauen aus der Mittelschicht heute von dem der Frauen aus der Arbeiter:innenklasse?

Roya Afghan Aazad: Ich habe mehrere Verwandte, die in Afghanistan leben, und dort gibt es ein vollständiges Verbot für die Ausbildung von Frauen an Universitäten. Da Bildung zum Beispiel nur bis zur sechsten Klasse erlaubt ist, versuchen viele Mädchen, sich online weiterzubilden, wenn auch nur informell. Ich habe viele Verwandte, die Medizin und Ingenieurwesen studierten und nun gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen. Infolgedessen treten psychische Probleme auf.

Was die Arbeit anbelangt, so arbeiteten viele Freund:innen in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber nach einiger Zeit wurden alle ihre Stellen gestrichen. Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Das bedeutet, dass es viele Witwen und Waisen gibt. Wenn eine Witwe drei Kinder hat, ist sie die einzige Ernährerin. Wenn ihr Mann gestorben ist, wie soll sie dann ihre Kinder ernähren, wenn nicht durch Arbeit? Verwandte erzählten mir, dass die Situation so schrecklich ist, dass ehemalige Lehrer:innen eines ihrer Kinder verkaufen mussten, um vier andere zu ernähren. Vor allem Frauen wurden in die Armut gedrängt. Aber diejenigen, die männliche oder wirtschaftliche Unterstützung haben, können sich auf diese verlassen. Ich kenne eine Frau, die Managerin war. Jetzt ist sie Witwe und wegen des Beschäftigungsverbots für Frauen arbeitslos. So kommt es zu einer extremen Verarmung der Frauen.

Auch Vergewaltigungen und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten sind weit verbreitet, werden aber nicht gemeldet, weil es keine Medienfreiheit gibt. Die geringe Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass die Frauen in Würde leben, aber die Realität sieht anders aus. Nach 2021 mussten die Menschen ihre Töchter aufgrund der Wirtschaftskrise verkaufen. Zwangsverheiratungen von älteren Männern mit Minderjährigen sind weit verbreitet. Eltern, die arbeitslos sind und Töchter haben, sehen sich gezwungen, ihre Töchter an ältere Männer zu verkaufen, um den Rest der Familie zu ernähren. Die Wirtschaftskrise und die erzwungene Arbeitslosigkeit sind die Hauptursachen dafür.

FIGHT: Du hast psychische Probleme erwähnt. Kannst du bitte beschreiben, über welche Art von Problemen berichtet wird? Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aus?

Roya Afghan Aazad: Viele Studentinnen, die sich in den letzten Semestern befanden, als die Ausbildungsverbote verhängt wurden, sind jetzt mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Sie erhalten nicht einmal Pässe, um ins Ausland zu gehen und sich weiterzubilden. Du kannst dir vorstellen, dass die Taliban den Frauen nicht erlauben, im Land zu studieren, warum sollten sie ihnen dann ermöglichen, sich im Ausland fortzubilden. In ihrn Augen hat es keinen Sinn, Frauen auszubilden, da sie zu Hause bleiben und Kinder gebären und aufziehen sollen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, auch unter meinen Verwandten. Als ich ein kleines Mädchen fragte, was sie nach der sechsten Klasse machen würde, fing sie an zu weinen. „Wir haben keine Zukunft. Wir sitzen fest. Wir können diese Hölle nicht verlassen“, sagte sie mir. […] Ich würde nicht ausschließen, dass viele Selbstmord begangen haben. Was ist der Sinn dieses Lebens? 20 Jahre lang hatten wir Schulen und Sport, und jetzt wird uns das plötzlich weggenommen.

Auch viele afghanische Frauen, die sterben, sterben nicht auf natürliche Weise. Sie sterben bei der Geburt, weil eine Reihe von Krankenhäusern geschlossen wurde und es aufgrund verschiedener von der Regierung aufgestellter Hürden kein weibliches Personal gibt. Das Gesundheitswesen ist der einzige Beruf, in dem einige Frauen arbeiten, aber viele wurden entmutigt. Ich habe einen Cousin in Kabul, der Arzt ist.  Ich habe ihn gefragt: Wird es in Zukunft keine Ärztinnen mehr geben? Wenn schwangere Frauen von Männern betreut werden, wo bleiben dann die so genannte Ehre, die Purdah (Verschleierung) und der Islam der Taliban? Er erzählte mir, dass Ärztinnen zwar offiziell praktizieren dürfen, aber nicht bezahlt werden, und dass der Berufsstand aufgrund dieser Situation generell Arbeitskräfte verliert.

FIGHT: Wie verbreitet ist das Phänomen der Selbstmorde?

Roya Afghan Aazad: Man darf nicht vergessen, dass dies ein Land ist, in dem es keine freien Medien gibt. Es gibt zwar einige Berichte in den sozialen Medien, aber wenn sie über solche Dinge berichten, dann anonym und ohne Ortsangabe zur Sicherheit. In den letzten Tagen hat sogar ein männlicher Journalist Selbstmord begangen, so dass wir uns vorstellen können, wie schrecklich es für Frauen sein muss. In Kabul haben die Menschen Smartphones und Internet. In den ländlichen Gebieten haben die Frauen keinen Zugang zu Informationen. Eine große Anzahl von Verbrechen, die Frauen in diesen Gebieten betreffen, wird überhaupt nicht gemeldet.

FIGHT: Dürfen Frauen und Kinder ihre Häuser ohne männlichen Vormund verlassen?

Roya Afghan Aazad: Sie sind von der Regierung angewiesen worden, einen männlichen Begleiter zu haben, auch wenn es sich um einen Minderjährigen handelt. Letzte Woche habe ich ein Video von einem weinenden Mädchen gesehen. Sie trug eine bodenlange Burka und hatte ein Exemplar des Korans bei sich. Sie sagte, ihre 19-jährige Schwester sei von der Regierung mit der Begründung abgeführt worden, dass sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Und das, obwohl diese Mädchen eine bodenlange Burka trugen.

FIGHT: Das klingt ganz ähnlich wie die Situation im Iran. Gilt dort eine Kleiderordnung? Gilt sie für Frauen und Mädchen jeden Alters oder gibt es Ausnahmen? Und was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für afghanische Frauen, die beruflich als Journalistinnen, Lehrerinnen, Diplomatinnen, Übersetzerinnen usw. tätig waren? Können sich Frauen in Afghanistan politisch organisieren? Können sie ihre Meinung frei äußern? Gibt es Versammlungsfreiheit? Gibt es die Freiheit zu protestieren?

Roya Afghan Aazad: Es ist sehr ähnlich wie im Iran. In Afghanistan gilt die Regel: Burka für alle. Es gibt keine Ausnahmen. Alle Journalist:innen, die ausreisen konnten, haben das Land verlassen. Andere warten darauf, gerettet zu werden. Sie haben keine Arbeit. Als die Taliban die Macht übernahmen, führten sie Razzien durch, um nach allen zu suchen, die mit den USA und NGOs zusammenarbeiteten, egal ob männlich oder weiblich. Es sind grausame Videos aufgetaucht, die zeigen, wie diese Razzien durchgeführt wurden, wobei die Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen abgeführt wurden. Berufstätige Frauen haben es sehr schwer. Diejenigen, die in die Nachbarländer geflohen sind, wurden von ihren ehemaligen Arbeit„geber“:innen mit dem Versprechen, gerettet zu werden, dazu aufgefordert. Einige wurden gerettet, aber andere leiden immer noch, weil sie auf ihr Visum warten. Eine Reihe von Menschen kam mit gültigen pakistanischen Visa nach Pakistan, aber nun sind ihre Visa dort abgelaufen und sie werden als Menschen ohne Papiere betrachtet. Infolgedessen leiden sie unter der Unsicherheit von Nahrung und Unterkunft, da niemand Menschen ohne gültige Papiere eine offizielle Arbeit geben würde. Ihr Leben war in Gefahr, und wenn sie heute keine Dokumente haben, was sollen sie dann tun? Wer wird sich um sie kümmern? Sie werden erbarmungslos gezwungen, zu der Regierung zurückzukehren, vor deren Verfolgung sie geflohen sind. Wohin sollen sie gehen?

Und nein, es gibt keine Freiheit zu protestieren. Als die Taliban an die Macht kamen, gab es in großen Städten wie Kabul, Herat, Masar-e-Scharif, Dschalalabad usw. Proteste. Viele dieser Menschen wurden identifiziert, ihre Häuser wurden später durchsucht und sie wurden verhaftet. Dies wirkt abschreckend auf Formen des Widerstands. Frauen haben dann natürlich Angst vor Verhaftung und Inhaftierung.

(Anmerkung der Interviewerin: Trotz der Unterdrückung durch die Taliban gibt es in Afghanistan weiterhin Proteste. Der jüngste Fall war, als Frauen gegen die Schließung von Schönheitssalons unter dem islamistischen Regime protestierten).

FIGHT: Wie ist die Lage der Frauen, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, in Afghanistan?

Roya Afghan Aazad: Die Hazara sind eine der gut ausgebildeten Gemeinschaften in Afghanistan. Im Vergleich zu anderen Ethnien sind sie nicht konservativ. Sie waren häufig das Ziel von Bombenanschlägen. Erst letzte Woche wurde ein Viertel der Hazara in Kabul angegriffen. Sie wurden angegriffen, als die Taliban noch nicht an der Macht waren, und sie werden auch weiterhin angegriffen, wenn die Taliban an der Macht sind. Das wirft Fragen auf. In jedem Fall werden die Frauen der Gemeinschaft vom Verbot der Bildung betroffen sein. Außerdem sind die Taliban Sunnit:innen, während die Hazara Schiit:innen sind. Die religiösen Aktivitäten der Hazara, wie z. B. das Feiern ihrer Juloos (Geburtstag des Propheten Mohammed) und anderer wichtiger Tage, wurden verboten. Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht. Auch die Sikhs fliehen seit 2021 nach Indien, und nur sehr wenige bleiben im Land.

FIGHT: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es beschleunigte Visaverfahren und Ausnahmeregelungen, und das zu Recht. Leider gilt das nicht für Afghan:innen, obwohl westliche Länder direkt an dem Krieg beteiligt waren, der sie  heute zu Flüchtlingen macht. Was würdest du dazu sagen?

Roya Afghan Aazad: Diejenigen, die vorgeben, Pat:innen der Menschlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzer:innen. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden zeitweise ohne Visum und Pass aufgenommen. Aber wenn es um afghanische geht, wurden sie im Stich gelassen und warten nach zwei Jahren immer noch auf ein Visum. Schließlich sind die Ukrainer:innen die „zivilisierten“ Flüchtlinge. Sie sind nicht wie die Afghan:innen, Syrer:innen und Iraker:innen. Das ist Diskriminierung. Die Nationalität eines Flüchtlings sollte nicht über seinen Anspruch auf Menschenrechte entscheiden. Es gibt niemanden, die/der diese Länder für diese Diskriminierung zur Rechenschaft zieht. Die Afghan:innen sind heute Ihretwegen Flüchtlinge, aber sie sind heute nicht für sie da. Um uns Ich glaube, dass man sich um die Ukrainer:innen kümmern sollte, aber das sollte man auch. Wir sollten nicht als unzivilisiert angesehen werden.

FIGHT: Was würden Sie über die Behandlung sagen, die die pakistanische Regierung den Afghan:innen im Laufe der Jahre zuteil werden ließ?

Roya Afghan Aazad: Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und ich bin hier aufgewachsen. Als ich in der Mittelstufe war (das pakistanische Äquivalent zum Abitur), wusste ich nicht, dass ich ein Flüchtling war. Ich kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Flüchtling. Als mir klar wurde, dass ich ein Flüchtling bin, begann ich mich zu fragen, ob dies nicht mein Heimatland ist, wo es wirklich ist. Ich habe mich darüber informiert und festgestellt, dass Pakistan in den Krieg in Afghanistan verwickelt war. Zuerst habe ich dem Gastland die Schuld gegeben. Aber ich bin Studentin der internationalen Beziehungen und habe einen MPhil der Universität Karatschi. Ich habe mich auch mit den Kriegsherren in Afghanistan befasst und bin zum Schluss gekommen, dass man von außen angegriffen wird, wenn man Außenstehenden die Türen seines Hauses für seine eigenen Interessen öffnet. Ich gebe den Warlords die Schuld für den Ausverkauf meines Landes. […] Eine Reihe von Akteuren ist für meine missliche Lage verantwortlich. Von den Vertretern Afghanistans wie Gulbuddin Hekmatyar, Hamid Karzai und Aschraf Ghani bis hin zu den Mudschahidin, von allen regionalen Nachbarn bis hin zu allen imperialistischen Mächten wie der UdSSR und den USA – alle Länder waren aufgrund ihrer eigenen Interessen beteiligt.

FIGHT: Wie sieht das Leben der afghanischen Flüchtlinge aus, die in die Nachbarländer geflohen sind? Nach dem, was du mir erzählst, scheint es eine hierarchische Abstufung der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu geben. Einige Afghan:innen durften bleiben, während andere pauschal abgeschoben werden müssen. Ist das richtig?

Roya Afghan Aazad: Es gibt Flüchtlinge in Pakistan, aber viele sind auch in den Iran gegangen. Im Iran ist es schlimmer als in Pakistan. Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan wurden einer Kategorisierung unterzogen, und einige dürfen immer noch bleiben. Inhaber:innen einer afghanischen Staatsbürger:innen- und einer POR-Karte besitzen grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, Unterkunft und Gesundheit. Im Iran ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Ich war noch nie im Iran, aber ich berufe mich auf Informationen, die mir Verwandte und Freund:innen von dort gegeben haben. Aber selbst afghanische Flüchtlinge ohne Papiere hatten vor Oktober 2023 Zugang zu niederen Arbeiten, mit denen sie einen Tageslohn verdienen konnten. Sie hatten auch Zugang zur Gesundheitsversorgung in Pakistan. Nach Oktober 2023 erleben wir eine beispiellose staatliche Politik. Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und lebt seither hier. In den Jahren 2015 – 2016 fanden einige Abschiebungen statt. Aber das Ausmaß, das wir heute sehen, gab es nicht. Pakistan behauptet, diese Entscheidung aus Sicherheitsgründen getroffen zu haben. Aber sie hätten auch sehen müssen, dass viele derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeschickt werden, in Lebensgefahr sind. Flüchtlinge sind immer noch Menschen, auch wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hat.

FIGHT: Wie hat sich die Weltgemeinschaft, sowohl die Nachbarländer wie Pakistan als auch die breitere Gemeinschaft, insbesondere der Westen, deiner Meinung nach gegenüber den Afghan:innen verhalten?  Was würdest du über die Herrschaft von Aschraf Ghani und die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Afghanistan sagen?

Roya Afghan Aazad: Unsere unmittelbaren Nachbarländer sind Pakistan und Iran. In den letzten 40 Jahren sind Flüchtlinge aus Afghanistan in diese Länder gekommen, weil die Grenze durchlässig ist, aber auch, weil sich beide Regierungen ihrer eigenen Verwicklung in die Situation in Afghanistan bewusst waren, sei es in Form der Mudschahidin oder des Kriegs gegen den Terror. In Pakistan hat man im Laufe der Jahre auch einige Flüchtlinge registriert. Diejenigen, die nach 2021 nach Pakistan kamen, wurden jedoch nicht registriert, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland flohen, weil ihr Leben bedroht war. Jetzt werden sie abgeschoben. Wie kann man jemanden abschieben, die/der in seinem Herkunftsland in Lebensgefahr ist?

In der Zwischenzeit hat die Weltgemeinschaft auch nicht viel getan. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brach der Krieg in der Ukraine aus. Seitdem sind Ukrainer:innen die Flüchtlinge, um die sich der Westen kümmert, und alle haben die Afghan:innen vergessen. Zwei Jahre lang wurden keine Visa für die Menschen ausgestellt, die in den Ländern Pakistan und Iran festsaßen, obwohl viele Chef:innen ihren afghanischen Mitarbeiter:innen geraten hatten, vorübergehend in Pakistan Zuflucht zu suchen, da dort Visa ausgestellt würden. Nachdem Pakistan mit den Massenabschiebungen begonnen hat, wurden einigen wenigen Personen Visa ausgestellt.

Was die Sanktionen anbelangt, so erhalten die Taliban jede Woche 40 Millionen US-Dollar. Wie kann eine terroristische Organisation zwei Jahre lang überleben? Die afghanische Währung hat sich durch die Hilfe der USA und UN-Organisationen stabilisiert. Aber der US-Dollar ist dort die eigentliche Währung, und deshalb hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aber die ganze Hilfe gelangt in die Hände der Taliban. Als das Erdbeben in Herat ausbrach, haben mir alle meine Verwandten, die dort leben, erzählt, dass die Taliban alles nehmen, was reinkommt, und der einfache Mann bekommt die drittklassige Ware. Die Mehrzahl der Güter geht an die Taliban. Bei der Verteilung werden dann die Hazara, Turkmen:innen und Tadschik:innen diskriminiert. Die Taliban-Kämpfer erhalten die Waren, die als Hilfsgüter eingehen. Dies hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung. Witwen leiden am meisten. Sie sind die Bedürftigsten, aber die Taliban glauben, dass Frauen keine Menschen sind. Nach ihrer Logik bilden Männer die einzige menschliche Ressource im Land.

FIGHT: Was würdest du sagen, sind die wichtigsten Forderungen der afghanischen Frauen heute? Wie können sie heute ihre Freiheit erlangen? Wie sieht der Widerstand in Afghanistan aus? Werdet ihr in irgendeiner Form von afghanischen Männern unterstützt? Wie sieht die Unterdrückung durch den Taliban-Staat aus, wenn Menschen Widerstand leisten?

Roya Afghan Aazad: Das Recht auf Arbeit und Bildung, auf ein Leben in Freiheit und auf Redefreiheit. Journalistinnen, Sängerinnen und andere künstlerische Berufe, Lehrerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen und Bankangestellte sind von ihren Berufen ausgeschlossen. Unser Grundbedürfnis ist das Recht auf Redefreiheit, Arbeit und Bildung. Afghanische Frauen sollten das Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen. Welchem Islam die Taliban folgen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die Frau des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) war ebenfalls Kauffrau. Es war ihr nicht verboten zu arbeiten. Allah sagt, dass der Erwerb von Wissen für alle Muslim:innen Pflicht ist. Muslim:innen sind sowohl Männer als auch Frauen. Die Taliban vergessen das oft, und deshalb berauben sie uns der Bildung.

Wenn die internationale Gemeinschaft und die westlichen Länder Druck auf die Taliban ausüben, anstatt sie zu stärken, dann können die Rechte der Frauen gewährleistet werden. Alle Frauen, die ihre Stimme für ihre Rechte erhoben haben, wurden verhaftet. Es gibt eine Journalistin, die in Deutschland Asyl gefunden hat und deren Familie nun zur Zielscheibe wird. Diese Familie protestierte in Deutschland und forderte, dass die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan anerkennt.

Leseempfehlung

Für uns ist klar: Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Dabei heißt es, klar für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einzustehen. Wir kämpfen überall gegen Abschiebungen, ob nun in Pakistan oder Deutschland. Dabei geht es uns nicht nur darum, dass Geflüchtete bleiben können, sondern auch die gleichen Rechte erhalten – also zu arbeiten, wählen zu gehen und und nicht als Menschen 2. Klasse in den jeweiligen Ländern leben zu müssen.
Mehr zur Lage von Frauen und Widerstand in Afghanistan:




Pakistan: Nach Wahlbetrug drohen IWF-Knechtschaft und Instabilität

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1245, 19. Januar 2024

Die Wahlen in Pakistan am 8. Februar ergaben ein geteiltes Mandat. Trotz schwerer Repressionen vor der Wahl und Manipulationen am Wahltag gewannen „unabhängige“ Kandidat:innen, die von Imran Khans Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) unterstützt wurden, 92 der 266 direkt gewählten Sitze. Nawaz Sharifs Pakistan Muslim League – Nawaz (PML-N) erhielt trotz der Unterstützung durch das militärische Establishment nur 75 Sitze. Die Pakistanische Volkspartei (PPP) der Bhutto-Dynastie kam mit 54 Sitzen auf den dritten Platz.

Daneben werden den Parteien weitere Mandate aus den 70 für Frauen und religiöse Minderheiten reservierten Sitzen zugewiesen. Da diese Plätze unabhängigen Kandidat:innen nicht zur Verfügung stehen, haben sich Khans „Unabhängige“ mit der Majlis Wahdat-i-Muslimeen (MWM) zusammengeschlossen, einer religiösen Partei der schiitischen Sekte, die einen Sitz in der Nationalversammlung von Khyber Pakhtunkhwa gewonnen hat. Die von der PTI unterstützten Unabhängigen haben eine ähnliche Koalition mit der Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft) in der Provinzversammlung von Khyber Pakhtunkhwa vorgeschlagen, doch wurde dieses Angebot bisher nicht angenommen.

In anderen Provinzparlamenten wie im Punjab behielt die PML-N ihre Mehrheit, während die PPP in Sindh die Mehrheit bewahren konnte. Die PPP wird wahrscheinlich auch in Belutschistan ein Bündnis mit den nationalistischen Parteien eingehen. In Khyber Pakhtunkhwa dominierten die „Unabhängigen“.

Stimmen und Mandate

In der Zwischenzeit haben die PML-N und die PPP ihr eigenes Bündnis mit vier anderen Parteien geschlossen, nämlich der Muttahida Qaumi Movement – Pakistan (MQM-P; Vereinigte Volksbewegung), der Pakistan Muslim League – Quaid (PML-Q), der Istehkam Pakistan Party (IPP; Pakistanische Partei für Stabilität) und der Belutschistan Awami Party (BAP; Belutschische Volkspartei). Damit kommen sie auf 152 Sitze, was sie zusammen mit den reservierten Mandaten über die für eine Regierungsbildung erforderlichen 169 Stimmen bringt. In dieser Koalition fehlt Maulana Fazal-ur-Rehman von der Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl), JUI (F) (Versammlung Islamischer Kleriker [Fazl]). Er war Vorsitzender der Pakistanischen Demokratischen Bewegung (PDM), die 2020 als Bewegung gegen die angebliche Manipulation der Wahlen von 2018 gegründet wurde, die Imran Khan an die Macht brachten, und eine wichtige Kraft hinter Khans Sturz 2022. Die anderen Mitglieder der PDM haben sich der Regierungskoalition angeschlossen. Die JUI (F) fällt unter das parlamentarische Dach der Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan, die nur vier Sitze in der Nationalversammlung erreichte. Die Partei hat die „manipulierten“ Ergebnisse zurückgewiesen.

Der PPP-Vorsitzende Asif Ali Zardari erklärte, dass seine Partei und die PML-N zwar getrennt zu den Wahlen angetreten seien, sich nun aber im „Interesse der Nation“ zusammengeschlossen hätten. Nawaz Sharifs Tochter Maryam Nawaz ist für das Amt der Ministerpräsidentin in der Pandschab-Provinz vorgesehen, während ihr Bruder Shehbaz Sharif als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten auserkoren wurde. Es gibt Andeutungen, dass Zardari Staatspräsident werden soll.

Die Wahlergebnisse zeigten auch eine massive Ablehnung der religiösen Parteien. Die JUI (F) verlor Sitze. Die klerikalfaschistische Tehreek Labbaik Pakistan (Bewegung „Hier bin ich!“ Pakistan) erhielt in keinem einzigen Wahlkreis mehr als fünf Prozent der Stimmen. Die Jamaat-e-Islami versuchte, in Städten wie Karatschi von der Antimanipulationskampagne der PTI zu profitieren, jedoch ohne Erfolg. Ihr Chef in Karatschi gewann zwar ein Mandat in der Provinzversammlung, gab es aber mit der Begründung wieder auf, dass in Wirklichkeit der von der PTI unterstützte Kandidat gewonnen habe. In Khyber Pakhtunkhwa hatte diese islamistische Partei drei Sitze errungen, doch kurz nachdem Nachrichten über eine Regierungskoalition mit der PTI in der Provinz aufgetaucht waren, führte eine Neuauszählung dazu, dass die Kandidat:innen der Partei ihre Sitze an Unabhängige verloren.

„Gestohlenes Mandat“

Das harte Vorgehen gegen die PTI vor den Wahlen war so heftig, dass man davon ausging, dass die PML-N bei den Wahlen einen klaren Sieg davontragen würde. Khan und andere führende Politiker:innen wurden disqualifiziert, nach Verurteilungen ins Gefängnis gesteckt und/oder von der Kandidatur ausgeschlossen. Einige Parteiführer:innen liefen über. Die PTI wurde ihres Wahlsymbols beraubt und ihre Bewerber:innen mussten als Unabhängige antreten und durften keinen Wahlkampf führen. Das Internet wurde am Tag der Wahl abgeschaltet.

Doch trotz dieser weit verbreiteten Repression konnten die von der PTI unterstützten Kandidat:innen am Wahltag Siege verbuchen. Die Ergebnisse der Wahllokale werden förmlich auf dem „Formular 45“ festgehalten, das die Grundlage für die spätere Zusammenstellung der Ergebnisse in den Wahlkreisen bildet. Es wird nicht nur vom Vorsitzenden des Wahllokals unterzeichnet, sondern auch von Vertretungen der anwesenden Kandidat:innen, die als Zeug:innen des Vorgangs fungieren. Die Wahllokale sind gesetzlich verpflichtet, Kopien des Formulars öffentlich auszuhängen, um die Rechenschaftspflicht und Transparenz der Wahlen zu gewährleisten. Die Formulare werden dann dem/r Leiter:in des Wahlkreises vorgelegt, der/die die Ergebnisse aller Wahllokale zusammenzählt, die Endergebnisse zusammenstellt und diese auf dem „Formular 47“ vermerkt. Die beiden Formulare standen im Mittelpunkt der Kontroverse um die Wahlergebnisse in Pakistan.

Laut den Formularen 45 erklärte die PTI 170 Sitze als gewonnen. Auf den Formblättern 47 wurden jedoch nur 93 Sitze für die von der PTI unterstützten Unabhängigen ausgewiesen. Die Partei hat die Ergebnisse gerichtlich angefochten und behauptet, dass die auf den Formblättern 47 ausgewiesenen Ergebnisse erheblich von den Angaben auf den Formblättern 45 abweichen. In anderen Fällen berichteten die Kandidat:innen, dass ihren Wahlhelfer:innen das Formular 45 von den Wahlleiter:innen verweigert wurde, obwohl mehrere Stunden nach Wahlschluss vergangen waren. Die PTI behauptet, dies sei geschehen, um die Wahlergebnisse zu manipulieren.

Inoffizielle Wahlergebnisse, die von den Medien auf Grundlage der Formulare 45 und 47 gemeldet wurden, zeigten eine Reihe von Siegen für die PTI. Die Medien wurden jedoch an der Ausstrahlung der Wahlergebnisse gehindert, die sich um Stunden verzögerte. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse bekanntgegeben, die einen Sieg der PML-N, der PPP und der MQM in vielen Sitzen zeigten, die die PTI nach den Formblättern 45 und 47 gewonnen hatte.

Bei Bekanntgabe der vorläufigen Wahlresultate lag Nawaz Sharif, der ursprünglich als Kandidat für das Amt des Premierministers vorgesehen war, mit einem Abstand von 13.000 Stimmen hinter der von der PTI unterstützten Yasmin Rashid. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse zugunsten von Nawaz Sharif bekannt gegeben.

Die Massen haben gesprochen

Die Wahlbeteiligung hat überdeutlich gezeigt, dass die Massen das harte Vorgehen gegen die PTI ablehnen. So sehr der Staat mit Verurteilungen, Inhaftierungen und Verleumdungen auch zeigen wollte, dass die Ära der PTI vorbei ist, die Wähler:innen machten sie dennoch zur größten Partei, was die Zahl der Sitze angeht.

Die PTI hat behauptet, sie habe vor der Manipulation der Ergebnisse 170 Sitze errungen. Selbst wenn man Übertreibungen zulässt, ist es ziemlich offensichtlich, dass die Ergebnisse in mindestens 10 Bezirken in Karatschi und rund 30 Sitzen in der Provinz Punjab und anderen Gebieten zugunsten der PML-N und PPP verändert wurden.

Die hohe Wahlbeteiligung war nicht nur Ausdruck der Wut über Wahlmanipulationen, sondern auch über die steigenden Lebenshaltungskosten und das unerträgliche Elend, das der Internationale Währungsfonds (IWF) auferlegt hat. Die PTI ist keine Anti-IWF-Partei, vielmehr hat Khan das jüngste Hilfspaket eingebracht. Dadurch verlor er zwar an Unterstützung, doch nachdem er sich mit dem militärischen Establishment überworfen hatte, lehnte er einige der IWF-Bedingungen ab, die dann von der nachfolgenden geschäftsführenden Regierung umgesetzt wurden, so dass die PTI als Gegnerin des IWF auftreten konnte. Das harte Vorgehen des militärischen Establishments gegen die PTI stärkte dann ihren Status als wichtigste Oppositionspartei.

Eine neoliberale Regierung

Die PTI hat die Wahlergebnisse rechtlich angefochten. Das Ergebnis bleibt abzuwarten, aber es ist offensichtlich, dass den pakistanischen Massen im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik der kommenden Regierung dunkle Zeiten bevorstehen.

Abgesehen von den Lippenbekenntnissen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Entwicklung ist die PML-N eine Partei des Großkapitals und eine Sklavin ihrer Herr:innen in den USA, China und den Golfstaaten. Die Auflagen des IWF-Programms werden nur noch strenger werden. Sobald eine neue Regierung an der Macht ist, wird sie das Diktat des IWF umsetzen müssen. Angesichts der Opposition der PTI ist es unwahrscheinlich, dass die nächste Regierung stark sein wird. Gleichzeitig wird die Regierung auch die wirtschaftliche Agenda des militärischen Establishments durchsetzen müssen. Obwohl die PPP in einer Koalition sitzt, wird sie die Unzufriedenheit, mit der die neue Regierung wahrscheinlich schon bald konfrontiert sein wird, mit Sicherheit ausnutzen, weshalb sie sich als volksnahe Alternative präsentiert. Die vermeintliche Ablehnung der IWF-Bedingungen durch die PTI wird ihre Unterstützung in der Bevölkerung wahrscheinlich noch verstärken, auch wenn dies ein Irrtum sein mag.

Unterdessen ist der erwartete massive Sieg von Nawaz Sharif nicht eingetreten. Meinungsumfragen hatten darauf hingedeutet, dass die PML-N in ihrer Hochburg Punjab immer noch vor der PTI liegen würde. Er war so zuversichtlich, dass er nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale eine Siegesrede hielt. Diese Träume zerschlugen sich, als die Ergebnisse bekanntgegeben wurden. Seine Partei konnte kaum die Hälfte der Sitze im Punjab gewinnen, und fast alle übrigen gingen an die von der PTI unterstützten „Unabhängigen“ verloren. Die Niederlage kann mit Sicherheit auf die jahrzehntelange Korruption der Partei zurückgeführt werden. An der Regierung konzentrierte sich Shehbaz Sharif darauf, die Anklagen gegen seinen Bruder fallen zu lassen und gleichzeitig die Politik des IWF durchzusetzen. Die massive Inflation und die weit verbreitete Arbeitslosigkeit haben die Basis der Partei erschüttert.

Heute ist sich Sharif wahrscheinlich bewusst, dass, selbst wenn seine Partei vorerst die Regierung bilden mag, das geteilte Mandat immer Raum für ein Manöver gegen ihn lässt, sobald er in der Gunst des Militärs zurückfällt. Die Kombination aus der Tatsache, dass die PTI eine wichtige Partei des Großkapitals ist, und Khans narzisstischer Persönlichkeit wird dazu führen, dass die PTI-Führung immer bereit sein wird, ihre Wähler:innenschaft zu verraten, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Kurzum, es ist sicher, dass eine schwache und instabile Regierung einer frustrierten Opposition gegenüberstehen wird.

Kandidat:innen der Arbeiter:innenklasse

Die meisten Stimmen bei der Wahl waren entweder für oder gegen Khan. Diese Polarisierung ließ wenig Raum für Vertreter:innen der Arbeiterklasse. Abgesehen von einem Kandidaten der kommunistischen Mazdoor Kissan Party (Kommunistische Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei), der in Charsadda, Khyber Pakhtunkhwa, 10.000 Stimmen erhielt, konnte keiner der anderen Bewerber:innen linker Parteien und Organisationen die 1.500-Stimmen-Marke deutlich überschreiten.

Linke Kandidat:innen wie Ammar Ali Jan von der Haqooq-e-Khalq-Partei (HKP) erklärten, dass ihre Wahlniederlage unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass die Menschen über nationale Themen und damit für Parteien mit nationaler Präsenz abgestimmt hätten. Er schrieb, dass wir den Klassenkampf verschärfen und die Themen, mit denen die Massen konfrontiert sind, im nächsten Fünfjahreszeitraum in den nationalen Mainstream einbringen müssen.

Der Weg nach vorn

Auch wenn Ammar Ali Jan damit recht hat, möchten wir hinzufügen, dass dies einen zweigleisigen Ansatz erfordert. Erstens, der Aufbau einer Einheitsfront der Arbeiter:innen und Unterdrückten, um die Angriffe des IWF und seiner unterwürfigen Regierung zu bekämpfen. Zweitens, der Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms.

Erstgenanntes wird der Linken in Pakistan helfen, eine ernstzunehmende Kraft zu werden. Keine der kleinen, isolierten Gruppen mit Hunderten von Mitgliedern kann allein eine wirksame Verteidigung auf die Beine stellen. Wir müssen uns für ein gemeinsames Vorgehen gegen den IWF zusammenschließen. Wir rufen alle Gewerkschaften und Arbeiter:innen- sowie feministische und fortschrittliche Organisationen auf, sich an einer solchen antikapitalistischen, gegen den IWF gerichteten Einheitsfront zu beteiligen.

Das Zweite, die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, ist entscheidend für die Gewährleistung selbst aller grundlegenden demokratischen Forderungen. Wie die Erfahrung dieses und aller vergangenen sozialen Kämpfe gezeigt hat, werden die Grenzen der bürgerlichen Demokratie in dem Moment deutlich, in dem der Kampf beginnt, eine echte Dynamik zu entwickeln. Wir brauchen eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die nicht nur für grundlegende demokratische und wirtschaftliche Rechte kämpfen kann, sondern auch in der Lage ist, einen Kampf zum Aufbau von Arbeiter:innenorganisationen zu führen, die diese Rechte tatsächlich garantieren können. Das ist die Lehre, die wir aus den arabischen Revolutionen oder dem jüngsten Aufstand im Iran ziehen müssen. Ohne Organisationen wie demokratische Gewerkschaften, Arbeiter:innenräte und die Mittel, sie zu verteidigen, ist die Gefahr groß, dass durch den Kampf errungene Rechte verlorengehen. Jedes Eintreten für Demokratie oder soziale Fragen muss mit dem Bestreben für den Aufbau von Organisationen und Strukturen verbunden sein, die die Macht übernehmen und halten können. Dafür brauchen wir eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die eine solche Revolution anführen und eine auf diesen Strukturen basierende Arbeiter:innenregierung bilden kann, um den bestehenden kapitalistischen Staat zu ersetzen, das Kapital zu enteignen, eine Sofortprogramm im Interesse der Arbeiter:innen und Bäuer:innen umzusetzen und die Wirtschaft auf der Grundlage demokratischer Planung zu reorganisieren.




Pakistan-Wahlen: Nieder mit der Scheindemokratie! Vorwärts zu einer Arbeiter:innen-Alternative!

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1244, 6. Februar 2024

Am 8. Februar finden in Pakistan Parlamentswahlen statt. Dies wäre zwar das dritte Mal in Folge, dass die Pakistaner:innen eine zivile Regierung wählen, die nicht von Militärdiktaturen unterbrochen wird. Doch die Grenzen dieser demokratischen Struktur sind unübersehbar. Der zum Politiker gewordene Cricketspieler Imran Khan befindet sich heute in der gleichen Lage wie Nawaz Sharif bei der Wahl 2018. Die beiden scheinen die Plätze in dem Rollenspiel getauscht zu haben, das alle etablierten politischen Parteien abwechselnd vor dem mächtigen Militär des Landes spielen.

Wahlen an einem entscheidenden Punkt

Innenpolitisch ist Pakistan mit einer hohen Inflation und Arbeitslosigkeit konfrontiert, und ein Ende der Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ist nicht in Sicht. Aufgrund des hohen Zinssatzes haben Unternehmen mit Schließung gedroht. Die Übergangsregierung hat auch die Privatisierung und den Verkauf der nationalen Fluggesellschaft als Teil der IWF-Vereinbarung abgeschlossen, wobei die Pakistanische Muslimliga Nawaz (PML-N) versprochen hat, den Prozess nach ihrer Regierungsübernahme zu beschleunigen.

Die Inflation ist so hoch, dass Menschen Selbstmord begangen oder ihre eigenen Frauen und Kinder getötet haben. Am 31. Januar erhöhte die geschäftsführende Regierung den Benzinpreis um weitere 13,55 Rupien pro Liter für die nächsten vierzehn Tage. Er liegt nun bei 272,89 Rupien pro Liter, verglichen mit 95 Rupien im Jahr 2018. Der Strompreis pro Einheit für Haushalte ist von 12 im Jahr 2018 auf 30 Rupien angestiegen. Die Gaspreise haben sich mehr als verdoppelt. Der US-Dollar war im August 2018 123 Rupien wert. Heute liegt er bei 279 Rupien. In der Zwischenzeit hat die nationale Unterdrückung verschiedene Gemeinschaften dazu veranlasst, gegen das Leid, das ihnen durch das mörderische kapitalistische System zugefügt wird, auf die Straße zu gehen. Belutschische Frauen haben eine massive Kampagne gegen die ihrer Meinung nach staatlichen Entführungen und außergerichtlichen Tötungen von belutschischen Männern und Jugendlichen ins Leben gerufen. In Gilgit-Baltistan eine Massenbewegung gegen die Streichung der Subventionen für Weizenmehl im Gange, während im pakistanisch verwalteten Kaschmir Millionen von Menschen sich weigern, ihre Stromrechnungen zu bezahlen. In Chaman, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Afghanistan, protestieren zahlreiche Menschen seit drei Monaten gegen diskriminierende Gesetze, die sich gegen die lokale paschtunische Bevölkerung (Achakzai) richten.

Nach außen hin ist Pakistan von Nachbarn wie Afghanistan, Indien und Iran umgeben, zu denen die Beziehungen von offener Feindseligkeit bis hin zu Verhärtungen reichen. Die jüngsten Eskalationen mit dem Iran sowie die Massenabschiebungen afghanischer Flüchtlinge haben Pakistan ins internationale Rampenlicht gerückt. China, der vermeintliche Freund Pakistans, tritt oft als Vermittler auf, wenn die Spannungen in der Region eskalieren. Es ist auch die imperialistische Macht, deren Einflussbereich auf Pakistan immer größer zu werden scheint, insbesondere durch den China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC). Zugleich setzt sich die Unterordnung Pakistans unter die USA und andere westliche Mächte fort. Neben der Bindung an den IWF zeigt sich diese Unterordnung am deutlichsten in der drastischen Änderung der pakistanischen Haltung gegenüber Palästina. Während Pakistan den Staat Israel nicht anerkennt, hat der geschäftsführende Premierminister offen darüber gesprochen, wie der Frieden im Nahen Osten durch eine Zweistaatenlösung erreicht werden könnte, und ist damit in die Fußstapfen seiner saudischen Geldgeber getreten und hat den Weg für die Anerkennung des zionistischen Gebildes geebnet.

Prekäre Lage

Zudem ist die Sicherheitslage rund um die Wahlen prekär. Am 31. Januar wurde ein der Pakistan Tehreek-e-Insaf-Partei (PTI; Bewegung für Gerechtigkeit, Partei Imran Khans) nahestehender Kandidat bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Region Bajaur in Khyber Pakhtunkhwa erschossen. Am selben Tag kam es in Belutschistan zu zwei weiteren Zwischenfällen: Ein Mitglied der Awami-Nationalpartei (ANP) wurde während einer Wahlkampfveranstaltung der Partei in Chaman getötet, während fünf weitere Personen bei einem Granatenangriff auf das Wahlbüro der Pakistan Peoples Party (Pakistanische Volkspartei, PPP) in Quetta verletzt wurden. Am 30. Januar wurden bei einer Bombenexplosion auf einer PTI-Kundgebung im Verwaltungsdistrikt Sibi (Belutschistan) vier Menschen getötet und sechs weitere verletzt. Die Terrororganisation Islamischer Staat bekannte sich zur Verantwortung dafür. Die Aktivitäten der belutschischen Aufständischen und die staatliche Repression gegen sie gehen ebenfalls weiter. Die Belutschische Befreiungsarmee (BLA) soll 15 Menschen getötet haben, während das Militär am 2. Februar erklärte, dass in den vergangenen drei Tagen bei Feuergefechten und Räumungsaktionen in den Städten Mach und Kolpur 24 „Terrorist:innen“ der BLA getötet worden seien. Das Ausmaß der Sicherheitsprobleme in Pakistan lässt sich an der Tatsache ablesen, dass es im Jahr 2023 bei 789 Terroranschlägen und Antiterroroperationen 1.524 gewaltbedingte Todesopfer und 1.463 Verletzte gab, darunter fast 1.000 Todesopfer unter Zivilist:innen und Sicherheitskräften. Trotzdem sollen die Wahlen abgehalten werden.

Die Wahl in Pakistan wird auch internationale Auswirkungen haben. Welche Partei auch immer an die Regierung kommt, wird den künftigen Kurs des Landes in Bezug auf Schlüsselfragen wie die Abhängigkeit des Landes vom imperialistischen Gendarmen IWF, die Neutralität oder deren Fehlen im Russland-Ukraine-Krieg, die Haltung gegenüber den großen Rivalen China und USA, gegenüber dem Iran, insbesondere vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts im Nahen Osten, und die Anerkennung des Staates Israel bestimmen. Pakistan könnte in dem sich zunehmend verändernden globalen Konflikt eine wichtige Rolle spielen, vor allem jetzt, da es Berichte gibt, dass die Saudis noch vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ein Militärabkommen mit den USA abschließen könnten, solange die Israelis bereit sind, die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung mündlich zu bestätigen. Pakistan ist eines der wenigen Länder, das weiterhin Handelsbeziehungen mit dem Iran unterhält. Eine US-freundliche Regierung in Pakistan könnte unter Druck gesetzt werden, den Iran weiter zu isolieren, um die amerikanisch-saudische Verflechtung in der Region zu stärken. Dies würde auch Auswirkungen auf den chinesischen Einfluss in Pakistan und der Region zeitigen.

Wenig Begeisterung für die Wahlen

Weniger als eine Woche vor dem Wahltag ist die Stimmung in Pakistan alles andere als wahlbewegt. Bei einer Bevölkerung von 270 Millionen werden schätzungsweise 120 Millionen zur Wahl gehen. Doch die Massen scheinen wenig begeistert zu sein. Die Parteien beklagen, dass sie aufgrund steigender Kosten nicht genug Geld haben, um in Wahlkampfaktivitäten zu investieren. Angriffe auf Wahlkundgebungen durch nichtstaatliche Akteur:innen, ein hartes Vorgehen gegen diejenigen, die in Ungnade gefallen sind (Imran Khan und seine Partei), und das mangelnde Vertrauen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in das Wahlsystem haben ebenfalls zu dieser gedämpften Stimmung beigetragen.

Ein großer Teil derjenigen, die Vertrauen in den Staat und seine Wahlpolitik hegen, ist unzufrieden mit der repressiven Behandlung von Khan und seiner Partei. In einem Eilurteil verurteilte ein Antikorruptionsgericht Khan am 31. Januar zu 14 Jahren Haft wegen illegalen Verkaufs von Staatsgeschenken, nur einen Tag, nachdem er in einem anderen Fall zu 10 Jahren Haft verurteilt worden war. Dies ist seine dritte Verurteilung in den letzten Monaten. In den letzten Tagen vor den Wahlen wurden er und seine Frau in einem weiteren Fall wegen „unrechtmäßiger Heirat“ verurteilt. Das Gericht hat entschieden, dass ihre Ehe unislamisch und illegal war, da die Frau die „Iddah“-Frist (Wartezeit) nach der Scheidung von ihrem früheren Ehemann nicht eingehalten und Imran Khan vor Ablauf der vorgeschriebenen Dreimonatsfrist geheiratet hat.

Der ehemalige Cricketstar wurde außerdem für 10 Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen. Seiner Partei wurde das Wahlsymbol entzogen, und eine Reihe von Parteiführer:innen wurde ausgeschlossen oder ihre Ernennungsunterlagen wurden abgelehnt. Diejenigen, die noch zu den Wahlen antreten können, müssen als Unabhängige kandidieren. Zwar ist keine dieser Taktiken neu, doch das Ausmaß der Repression ist für „demokratische Wahlen“ beispiellos. Der Zeitpunkt der Verurteilung Khans deutet auch darauf hin, dass die Wähler:innenschaft für seine Partei gestimmt hätte. Inzwischen ist Sharif, ebenfalls ein ehemaliger Premierminister, aus seinem luxuriösen Exil in London zurückgekehrt. Er wurde abgesetzt und abgelehnt, weil er beim militärischen Establishment in Ungnade gefallen war, als Khan deren Unterstützung genoss und an die Regierungsmacht kam. Heute ist Sharif der Favorit für das Amt des nächsten Premierministers, während seine Vorstrafen in den Papierkorb gewandert sind.

Alle etablierten Parteien haben in jedem Wahlzyklus ein ähnliches Schicksal erlitten. Dennoch schaffen sie es nie, sich gegen diese Umgangsmethode zusammenzuschließen. Und warum sollten sie auch? Schließlich liegt es in ihrem Interesse, das System aufrechtzuerhalten, das sich auf ein allmächtiges Militär stützt, das das Sagen hat, während diese nationalen Spitzenpolitiker:innen abwechselnd als ihre Marionetten fungieren. Die Widersprüche des globalen kapitalistischen Systems zwingen sie dazu, sich irgendwann in ihrer Amtszeit gegen ihre Herr:innen in Uniform zu stellen, was dazu führt, dass Ausschlüsse und Entlassungen zur Routine zu werden scheinen. Man lasse sich aber nicht täuschen. Jedes Mal, wenn sich ein pakistanischer nationaler Bourgeois gegen die Streitkräfte stellt, ist dies darauf zurückzuführen, dass sie sich nicht einig sind über die Strategie zur Verteidigung der Interessen eines Teils der pakistanischen Kapitalist:innen. Meistens beruhen diese Spaltungen auf imperialistischen Rivalitäten. Verschiedene Teile des pakistanischen Kapitals sind mit verschiedenen globalen Mächten verbündet. Es geht immer darum, welcher Teil seinen Anteil am Kuchen bekommt, indem er seine Vorherrschaft durchsetzen kann. Doch für welche Seite sich ein:e Premierminister:in auch immer entscheidet, für die ausgebeuteten und unterdrückten Massen hat das wenig bis gar keine Auswirkungen. Die Kapitalfraktionen sind Bollwerke des neoliberalen Kapitalismus und Förder:innen der imperialistischen Enteignung. Das politische Programm einer jeden etablierten Partei basiert praktisch auf Privatisierung, Sparmaßnahmen, Inflation und Personalabbau. Insbesondere die PML-N und PTI sind Parteien des Großkapitals.

Und dann sind da noch die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die Armen des Landes, deren Leben sich unter dem erdrückenden Diktat des IWF, das sowohl die Regime von Nawaz als auch von Khan gerne akzeptiert hatten, nur verschlechtert hat. Diese Schichten haben aus ihren Erfahrungen gelernt, dass die Wahl für sie nichts ändern wird. Das Grundverständnis des Wahlmanifests der PML-N besteht darin, wie man im Interesse des Großkapitals regiert, indem man die Industrie effizient betreibt, die Exporte steigert und die Inflation als Ergebnis dieser wirtschaftlichen Entwicklung senkt. Die PPP von Bilawal Bhutto Zardari hat ein vergleichsweise „besseres“ Manifest vorgelegt, aber Bhutto entlarvte dessen Realität, indem er es als einen Traum bezeichnete. Jede PPP-geführte Regierung hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie die Partei des neoliberalen Kapitalismus ist, die sich in einem leicht sozialdemokratischen Jargon präsentiert.

Was tun?

Die von Belutsch:innen bewohnten Bezirke des Punjab (Pandschab) und die Regionen Belutschistan, Kaschmir, Gilgit-Baltistan und Khyber Pakhtunkhwa haben sich gegen die wirtschaftliche und nationale Unterdrückung erhoben. Vor allem die Frauen der Belutsch:innen haben mit ihrem gefahrvollen Marsch von Turbat nach Islamabad ihr Bewusstsein unter Schichten der pandschabischen Massen verbreitet. Die Aufstände der Unterdrückten haben das Potenzial, den Widerstand in ganz Pakistan zu inspirieren. Alle politischen Parteien Pakistans haben gezeigt, dass sie Söldnerinnen des globalen Kapitalismus sind. Die Politik dieses Systems und die herrschenden Klassen, die die Show leiten, werden zunehmend entlarvt. Alle Herrscher:innen sind entblößt und abgelehnt. Wir sind zwar gegen das harte Vorgehen gegen die PTI, frönen aber gleichzeitig auch keinen Illusionen in diese Partei.

Deshalb brauchen wir eine Alternative aus der Arbeiter:innenklasse. Bei jeder Wahl mobilisiert die Bourgeoisie die plebejischen Massen, aber sie sorgt auch dafür, dass die politische Macht nicht mit ihnen geteilt wird. Auf diese Weise bleiben wir selbst bei sogenannten demokratischen Wahlen entrechtet, weshalb die vom IWF auferlegten Privatisierungen und Sparmaßnahmen unhinterfragt angenommen werden.

Während die Labour Qaumi Movement (LQM) ihre Kandidat:innen aufgrund technischer Probleme und rechtlicher Einschränkungen nicht aufstellen konnte, treten 45 Kandidat:innen anderer linker und fortschrittlicher Organisationen in verschiedenen Regionen zu den Wahlen an. Wir rufen Arbeiter:Innen, Gewerkschaften, Unterdrückte und alle linken, feministischen und fortschrittlichen Kräfte auf, für die Genoss:Innen der Barabri Party Pakistan, Awami Workers‘ Party, Haqooq-e-Khalq Party (HKP; vormals: Haqooq-E-Khalq Movement, HKM), Mazdoor Kisan Party und andere ArbeiterInnen- und fortschrittliche Organisationen zu stimmen, ohne deren im Wesentlichen reformistische Programme zu unterstützen. Gleichzeitig fordern wir diese Kandidat:innen auf, unmittelbar nach den Wahlen die folgenden Vorschläge aufzugreifen.

Wir rufen alle Arbeiter:innenorganisationen und fortschrittlichen Kräfte auf, eine Einheitsfront zu bilden, um sich auf die bevorstehenden Angriffe der nächsten Regierung vorzubereiten und dagegen zu kämpfen, die von der Auferlegung eines arbeiter:innenfeindlichen IWF-Programms und der Fortsetzung der Angriffe auf demokratische Freiheiten bis hin zur Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten und der Abschiebung und Diskriminierung von Flüchtlingen reichen werden. Wir rufen die Arbeiter:innenorganisationen auf, eine landesweite Arbeiter:innenkonferenz einzuberufen, um den Kampf gegen die nächste kapitalistische Regierung zu koordinieren.

Gleichzeitig betonen wir die Notwendigkeit, dass die Arbeiter:innenklasse über eine eigene Partei verfügt. Wir unterstützen die Schritte der Labour-Qaumi-Bewegung in diese Richtung, und dies muss mit Entschlossenheit fortgesetzt werden. In dieser Hinsicht plädieren wir dafür, dass eine solche Partei eine revolutionäre Partei wird, die sich auf ein Programm der permanenten Revolution stützt, das die Klassenkämpfer:innen in die Lage versetzt, sich den Herausforderungen des Kapitalismus zu stellen, die Kämpfe der Arbeiter:innenschaft und Unterdrückten zu vereinen und für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu kämpfen, die sich auf Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine Arbeiter:innen- und Volksmiliz stützt, die das Großkapital und die imperialistischen Unternehmen enteignet und einen Notfallplan einführt, der den Bedürfnissen der Massen und nicht den Profiten einiger weniger dient.




Taiwan als Spielball der Mächte

Urs Hecker, REVOLUTION, Infomail 1243, 28. Januar 2024

Die globale Entwicklung der letzten Jahre ist geprägt durch eine immer stärkere Konfrontation Chinas mit den USA und dem restlichen westlichen Block. Auf einer bereits aufgeteilten Welt will die neue und wachsende imperialistische Macht China ihr eigenes Stück vom Kuchen der globalen Ausbeutung, während die bisher dominierende Supermacht USA ihre Stellung und Beute sichern will. Vorangetrieben wird diese Konfrontation durch die sich immer weiter verschärfende globale kapitalistische Krise, welche die imperialistischen Staaten dazu zwingt, neue Absatzmärkte zu erobern. Taiwan liegt genau an der Frontlinie dieser Konfrontation und ist eine der am heißesten umkämpften Stellungen. Jetzt hat Taiwan den Präsidenten gewählt: Der „chinakritische“ Kandidat der liberalen DPP (Demokratische Fortschrittspartei) Lai Ching-te hat gewonnen. Doch es stellt sich die Frage, ob Taiwan sich in diesem Weltsystem überhaupt seinen eigenen Weg aussuchen kann.

Kurzer Abriss der Geschichte Taiwans

Die frühesten Besiedelungen Taiwans durch den Homo sapiens lassen sich bis auf ungefähr 20.000 vor unserer Zeit zurückdatieren, als während der Kaltzeit eine Landbrücke die Insel mit dem heutigen China verband. Auch wenn es in der frühen chinesischen Geschichte immer wieder Migrationswellen vom Festland nach Taiwan gab, so setzte erst in der ersten Hälfe des 1. Jahrtausends eine erste Sinisierung unter der Han-Dynastie ein. Danach brachen jedoch die Verbindungen zum Festland weitgehend ab und blieben bis zum 15. Jahrhundert peripher.

Mit dem Beginn des Zeitalters des Kolonialismus breiteten sich ab 1517 europäische Handelsmächte in Taiwan aus, vor allem die Niederlande und später Spanien. Ab diesem Zeitraum rückte Taiwan auch stärker ins Blickfeld Chinas oder genauer: konkurrierender Dynastien in China. Aufgrund des Vordringens der Mandschu versuchten loyale Unterstützer:innen der Ming-Dynastie, in Taiwan eine neue Basis für die Rückeroberung Chinas auszubauen. 1661 erobert eine 35.000 Mann starke Armee unter dem Ming-Loyalisten Zheng Chenggong Taiwan und 1662 auch die niederländischen Besitzungen.

Doch diese Herrschaft endete rasch, als die Insel 1682 von der chinesischen Qing-Dynastie erobert wurde und Taiwan erstmals zu einem Teil des chinesischen Kaiserreichs geriet, das bis 1912 bestand. Zum Zeitpunkt der Eroberung basierte der Staat auf einer vorkapitalistischen Produktionsweise, die Marx als asiatische charakterisierte, die man also nicht mit bürgerlichen Nationalstaaten samt nationaler/m Identität und Anspruch vergleichen kann. 1895 verlor die Qing-Dynastie die Insel an Japan. Taiwan blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs japanische Kolonie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg brach erneut ein Bürgerkrieg in Festlandchina zwischen der nationalistischen Kuomintang (KMT) und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) aus. Als sich der Sieg der stalinistischen KPCh abzeichnete, floh die KMT zusammen mit Teilen der festlandchinesischen Bourgeoisie und Verwaltung nach Taiwan. Sie errichtete dort eine bonapartistische Diktatur mit Unterstützung der USA. Sie gab sich weiter als legitime Regierung ganz Chinas aus, obwohl sie keinen Teil des Festlandes mehr kontrollierte. Die KMT vertrat das Interesse der vom Festland geflohen Bourgeoisie und gab als Parole seine Rückeroberung aus. Sie selbst verdankte ihr Überleben aber nur dem US-Imperialismus, der sie vor einer Invasion der Volksrepublik schützte. In den 1970er und 1980er Jahren erlebte Taiwan ein starkes Wirtschaftswachstum und es entwickelte sich taiwanesisches Kapital, was sich auf die Tradition und Nachkommen der Menschen bezieht, die schon vor 1945 dort lebten. Diese gründeten nun ihre eigene Partei, die DPP, und forderten politische Unabhängigkeit, vor allem von der Volksrepublik. Dies gelang und Ende der 1980er Jahre wandelte Taiwan sich langsam in eine bürgerliche Demokratie. Die KMT regierte trotz Endes der Diktatur jedoch erstmal weiter und begann, sich nach der kapitalistischen Restauration auf dem Festland diesem anzunähern. Zentral ist dafür die 1992 mit der Volksrepublik getroffene Vereinbarung zum „Ein-China-Prinzip“, gemäß dem beide Länder anerkennen, dass es nur ein China gibt, sodass nur sehr wenige Länder eigenständige Diplomatie mit Taiwan führen. Die DPP gewann erstmals 2013 die Wahlen zur Präsidentschaft und zum Parlament und stellt seitdem die Regierung. Sie lehnt das „Ein-China-Prinzip“ ab und steht für die Unabhängigkeit Taiwans.

Wirtschaftsaufschwung gebremst

Taiwans Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg basierte auf riesigen US-Investitionen ähnlich wie im Fall der Republik (Süd-)Korea. Das Militärregime sorgte für billige Arbeitskräfte. Das Kriegsrecht endete erst 1987 und 1996 fanden die ersten Wahlen statt.

Doch Taiwans Volkswirtschaft steht vor massiven Problemen. Außerhalb des Halbleitertechnologiesektors stagniert seine Position in der globalen Wertschöpfungskette. Branchen mit niedriger Kapitalproduktivität wie Textil, Chemie und Rohmetalle tragen zur Hälfte seiner Industrieproduktion bei. Seine Stellung innerhalb der internationalen Wertschöpfungsstufenleiter ist zudem arg gefährdet. Die Ironie der zunehmenden innerimperialistischen Konkurrenz verlangt immer gebieterischer, dass Taiwans Schlüsselsektor sich zunehmend in die USA (Arizona), nach Japan und Deutschland verlagert (Chip Act). Gleichzeitig nimmt der so bedeutende Handel mit der Volksrepublik dieser Logik zufolge ab. Außerhalb des Hightechsektors verliert der Produktivitätszuwachs ständig an Fahrt. Der taiwanische „Tiger“, ab den späten 1970er Jahren als sicherer Beitrittskandidat in den erlesenen Club imperialistischer Mächte gehandelt, scheint das Schicksal anderer Tigerstaaten zusehends zu teilen, sein Ende nicht im imperialistischen Kuschelbett zu finden, sondern davor – als Bettvorleger.

Die Wahl und die Kandidat:innen

Am 13. Januar 2024 fanden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Taiwan statt.

Gewonnen hat Lai Ching-te von der regierenden DDP. Er hatte verschiedene Ministerposten innerhalb der alten Regierung inne und steht für eine Fortsetzung der bisherigen, konfrontativen und pro-US-amerikanischen Politik gegenüber der Volksrepublik der letzten Jahre. Er hatte sich selbst einst als „pragmatischen Arbeiter für Taiwans Unabhängigkeit“ beschrieben. Er ist aber infolge des Wahlkampfs aufgrund der Angst vor einer noch größeren Eskalation innerhalb der Bevölkerung zurückgerudert. Heute spricht er davon, den Status quo zu erhalten, die Anbindung an den Westen zu stärken und die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Wie schon erwähnt ist die Wahlbasis der DPP der Teil der Bevölkerung, dessen Wurzeln auf die Besiedlung während der Qing-Dynastie zurückgehen. Diese Gruppe sieht sich vor allem als Taiwanes:innen und höchstens sekundär auch als Chines:innen. Die DPP vertritt vor allem die Interessen der „kleineren“ sich als taiwanesisch verstehenden Bourgeoisie und des taiwanesischen Kleinbürger:innentums. Sie ist eine enge Verbündete des US–Imperialismus und wird auch entsprechend stark von westlichen Medien im Wahlkampf unterstützt. Sie versucht, für ein formal unabhängiges, stark an den Westen angebundenes, liberal-demokratisches Taiwan zu kämpfen.

Auch gute Chancen hatte der Präsidentschaftskandidat der Kuomintang, Hou Yu-ih. Der ehemalige Polizeipräsident von Taipeh ist der klassische Repräsentant der Bürokratie und des Großbürger:innentums. Die Kuomintang steht seit der kapitalistischen Restauration in der Volksrepublik dieser deutlich wohlwollender gegenüber als zuvor. So haben die verschiedenen Kuomintang-Regierungen vor 2013 einen Entspannungs- und Annäherungskurs gegenüber der Volksrepublik gefahren und vor allem die wirtschaftlichen Verflechtungen stark ausgebaut. Auch heute wirft sie der DPP vor, das Land in den Krieg zu stürzen, und strebt den Dialog mit der Volksrepublik an. Die Wahlbasis der KMT bleiben vor allem die Nachkommen der nach dem Bürgerkrieg eingewanderten Festlandchines:innen, aber auch Teile der indigenen Taiwanes:innen. Die KMT vertritt in Taiwan vor allem das Interesse des Großkapitals, das aufgrund seiner engen wirtschaftlichen Verbindung zum Festland Entspannung gegenüber der Volksrepublik anstrebt. Und was auch von einer potenziellen „Wiedervereinigung“ profitieren könnte, da sie dann Teil eines imperialistischen Staates wären und die Privatkapitalist:innen ein wichtigerer Bestandteil der herrschenden Klasse werden könnten. Trotz des rhetorischen Fokus auf Entspannung steht auch die KMT für eine Erhöhung der Rüstungsausgaben. Sie wird sie vor allem von chinesischen Medien unterstützt.

Eher kleinere Chancen hatte der Überraschungskandidat Ko Wen-je der Taiwanischen Volkspartei. Ko ist ein ehemaliger Chirurg und probiert, sich als „Mittelweg“ zwischen KMT und DPP zu präsentieren. Er lehnt die harte Politik der DPP gegenüber der Volksrepublik ab, wirft aber auch der KMT vor, dieser zu freundlich gegenüberzustehen. Ko zieht dabei vor allem junge Wähler:innen an und Menschen, die sich vom bisherigen Zwei-Parteien-System nicht vertreten fühlen. Er vertritt eine populistische „volksnahe“ Politik. Hatte er anfangs noch gute Chancen, ist er gegen Ende eher in den Hintergrund gerückt. Zwischenzeitlich stand eine Koalition zwischen der KMT und seiner Volkspartei im Raum, welche aber letztendlich an Streitigkeiten über Posten und Ämter scheiterte. Ko ist aber auch interessant, da er, auch durch seine politische Unerfahrenheit, dazu neigt, die Dinge klarer zu benennen. In einem Interview mit Bloomberg sagte er zur Frage über die Ausrichtung gegenüber China: „Zurzeit ist der Status quo die einzige Wahl, die wir haben, weil die USA Taiwan sich nicht mit China vereinigen lassen (würden) und China nicht zulassen würde, dass Taiwan unabhängig wird.“

Selbstbestimmung und globale Ordnung

Diese erfrischende Ehrlichkeit eines bürgerlichen Politikers trifft den Nagel auf den Kopf. Eine, wenn nicht die zentrale Frage für die meisten Menschen auf Taiwan, die nach dem nationalen Selbstbestimmungsrecht, stößt innerhalb des imperialistischen Weltsystems direkt auf die Großmachtinteressen Chinas und der USA. Denn Taiwan ist eine Halbkolonie. Das bedeutet, dass seine Stellung in der Weltordnung durch das Finanzkapital und die geostrategischen Interessen anderer bestimmt wird, sowohl auf ökonomischer Ebene als auch auf politischer. Taiwan ist vor allem von den USA abhängig.

Diese Abhängigkeit ist historisch entstanden, da Taiwan ohne militärische und wirtschaftliche Unterstützung der USA längst erobert worden wäre, und wurde zu der Zeit, als die Volksrepublik noch ein degenerierter Arbeiter:innenstaat war, als kapitalistischer Gegenentwurf zu dieser aufgebaut. Nach der kapitalistischen Restauration blieb diese Abhängigkeit bestehen. Das Interesse der USA an Taiwan ist ein wirtschaftliches so wie ein militärisch-geostrategisches. Neben dem erweiterten Ressourcen- und Absatzmarkt, den Taiwan dem US-Kapital bietet, wird dort ein Großteil der weltweiten Halbleiterchips produziert. Diese sind zentral für digitale Produkte aller Art. Aus militärstrategischer Sicht ist Taiwan für die USA wichtig, da es zusammen mit Japan und den Philippinen eine Inselkette bildet, die es ermöglicht, der chinesischen Flotte den Zugang zum Pazifik zu verwehren.

Aus diesen Gründen will auch China Taiwan in seinen Einflussbereich verschieben und schlussendlich annektieren. Daneben spielt es für die chinesische Regierung eine besonders wichtige ideologische Rolle: Durch eine Annexion könnte sich die „KP“ Chinas als Vollenderin der „chinesischen Einheit“ darstellen und die Hoffnung der breiten Massen auf eine bürgerliche Demokratie ersticken.

Für die imperialistischen Mächte ist Taiwan in diesem Konflikt bloße Beute, ein Staat, der im Zentrum des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt steht! Weder durch eine fortgeführte Politik der Unterordnung unter die USA noch durch eine Annäherung an die Volksrepublik kann sich die taiwanesische Bourgeoisie aus dieser Lage herausmanövrieren. Taiwan wird in einen Konflikt gezwungen, dessen mögliche Konsequenzen – einen Krieg zwischen den USA und China – die große Mehrheit der Menschen auf der Insel zu Recht fürchtet. Zugleich will sie aber auch berechtigterweise ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht opfern.

Teilweise können wir in den bürgerlichen Medien lesen, dass Taiwans wichtige Stellung in der Halbleiterproduktion einen Krieg verhindern würde. Es wird argumentiert, dass dadurch die Weltwirtschaft (einschließlich der USA und Chinas) enormen Schaden nehmen würde und dies nicht im Interesse der „Supermächte“ wäre. Zweifellos spielt dies eine Rolle dabei, dass der aktuelle Konflikt noch nicht über Drohungen, diplomatische militärische Manöver hinausgegangen ist. Aber der Verweis auf bestehende wirtschaftliche Vorteile des Friedens verkennt, dass die Zuspitzung der innerimperialistischen Rivalität – siehe nur die ökonomischen Verflechtungen zwischen den Großmächten vor dem 1. oder 2. Weltkrieg – früher oder später trotz deren Verbindungen in einen heißen Krieg umschlagen kann, ja irgendwann wird, sollte die Arbeiter:innenklasse nicht vorher „ihre“ herrschenden Klassen stürzen.

Es ist daher auch kein Zufall, dass sich die Staaten gegenüber einem „Ausfall“ Taiwans abzusichern beginnen. So baut baut China zurzeit selbst seine eigene Halbleiterproduktion auf und wird im Laufe der Zeit unabhängig von der auf Taiwan werden. Zum anderen steigert gerade die wichtige wirtschaftliche Rolle Taiwans die Konkurrenz der imperialistischen Länder um die Insel.

Auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise kann Taiwan wie jede andere Halbkolonie natürlich niemals wirklich unabhängig werden, da die wirtschaftlichen Abhängigkeiten weiter bestehen und die kapitalistischen Länder nichts davon abhalten würde, Taiwan erneut zu unterwerfen. Zum anderen müssen wir aber festhalten, dass wie Lenin in den Diskussionen um die nationale Frage in der kommunistischen Bewegung immer wieder betonte, das nationale Selbstbestimmungsrecht keine ökonomische, sondern eine politische Kategorie ist. Das heißt, es bezieht sich auf die Frage der politischen Selbstbestimmung (eigenes Territorium, eigene Regierungsform, …). Dies ist im Kapitalismus verwirklichbar, auch wenn die Realisierung der nationalen Selbstbestimmung die ökonomischen Abhängigkeiten auf dem Weltmarkt und die imperialistische Konkurrenz nicht beseitigt. Daher ist der Kampf um nationale Selbstbestimmung und erst recht die Kontrolle über die eigenen Ressourcen gerade bei geostrategisch so wichtigen Ländern, die gewissermaßen an den tektonischen Grenzen der Einflusssphären der Großmächte liegen, so eng mit dem globalen Kampf gegen jeden Imperialismus verbunden.

Wie kann wirkliche Selbstbestimmung für die Menschen Taiwans aussehen?

Da die verschiedenen Flügel der Bourgeoisie Taiwans ihr und des Landes Schicksal mit dem konkurrierender imperialistischer Mächte verknüpft haben, kann es keine wirkliche Selbstbestimmung unter ihrem Regime geben. Sie werden immer mehr oder weniger offene, despotische oder „demokratische“ Vasallen einer Großmacht sein.

Es braucht also einen Systemwechsel auf Taiwan, aber in letzter Konsequenz natürlich weltweit. Denn nur wenn die ausländischen Konzerne enteignet und unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt werden, nur wenn Taiwan die US-Basen schließt, kann es sich von der proimperialistischen Politik der herrschenden Klasse lösen. Eine solche Entwicklung würde freilich auf den Widerstand beider Großmächte stoßen. In Taiwan würde das eine Revolution und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung erfordern, die sich auf Räte und Milizen stützt.

Vor allem müsste ein solches sozialistisches Taiwan mit Interventionen beider Großmächte rechnen. Es bräuchte daher die Solidarität der Arbeiter:innenklasse weltweit, vor allem aber der chinesischen und US-amerikanischen. Revolutionär:innen müssen daher in den USA und China für die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts Taiwans eintreten. Sie müssen in China gegen die nationalistischen Mythen und die großchinesischen imperialistischen Eroberungspläne kämpfen. In den USA müssen sie für den Abzug der US-Truppen aus Taiwan wie von allen anderen Flotten- und Militärstützpunkten in Asien eintreten. In Deutschland und anderen mit den USA verbündeten Ländern müssen wir gegen deren imperialistischen Ziele, gegen die militärische Aufrüstung, jede Truppenstationierung in Ostasien und jede Intervention kämpfen.

Nur so kann eine Grundlage gelegt werden, um die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts Taiwans mit dem Kampf gegen das globale System des Imperialismus zu verbinden. Nur so kann verhindert werden, dass die imperialistischen Länder Taiwan und die ganze Welt in ihren Krieg zerren. Um diesen Kampf zu führen, müssen wir eine internationale Bewegung der Arbeiter:innen und Jugend aufbauen in Taiwan, Deutschland, China, in den USA und überall sonst auf der Welt. Wir müssen uns gegen jede imperialistische Aggression stellen und den Kampf für nationale Selbstbestimmung mit dem gegen dieses System verbinden. In Taiwan bedeutet das, dass wir für das Recht der Taiwanes:innen einstehen, selbst entscheiden zu können, zu welcher Nation sie gehören. Dieses müssen wir mit dem Kampf für eine sozialistische Föderation in ganz Ostasien verbinden.




Schauprozesse in Hongkong

Peter Main, Infomail 1242, 17. Januar 2024

Am 18. Dezember begann in Hongkong der Prozess gegen Jimmy Lai, den Eigentümer der inzwischen eingestellten Apple Daily, der wichtigsten liberalen Zeitung Hongkongs. Lai, der seit drei Jahren inhaftiert ist, zumeist in Einzelhaft, muss sich vier Anklagen stellen, darunter drei Verstöße gegen das Nationale Sicherheitsgesetz (NSL). Dieses wurde 2020 über Hongkong verhängt und verbietet effektiv jegliche Opposition oder Kritik an den Regierungen von Hongkong und Peking. Das Gesetz sieht im Falle einer Verurteilung eine lebenslange Haftstrafe vor, und die Erfolgsquote bei der Strafverfolgung liegt Berichten zufolge bei 100 Prozent.

Im Fall von Lai führte die Staatsanwaltschaft als Beweis für seine Schuld die Tatsache an, dass er in seiner Zeitung zur internationalen Unterstützung der Demokratiebewegung in Hongkong aufgerufen und verschiedene internationale politische Persönlichkeiten auf seinem Twitter-Account hervorgehoben markiert hatte. Angesichts der weit verbreiteten Verurteilung des Prozesses in der ganzen Welt ist es erwähnenswert, dass die vierte Anklage nach dem britischen Kolonialgesetz gegen „Aufwiegelung“ erhoben wurde.

Verfahren gegen „Hongkong 47“

Der Prozess gegen Lai findet nur zwei Wochen nach dem Abschluss des Verfahrens gegen die „Hongkong 47“ statt. Ihr „Verbrechen“? Im Juli 2020 organisierten sie eine inoffizielle Vorwahl, um Kandidat:innen für die im September anstehenden Wahlen zum Legislativrat von Hongkong auszuwählen. Ihr Ziel war es, die Chancen zu maximieren, genügend Sitze zu gewinnen, um die Politik, einschließlich des von der von Peking eingesetzten Regierung vorgeschlagenen Haushalts, zu blockieren.

Nach dem Gesetz über die nationale Sicherheit stellt dies eine „Subversion“ dar, denn wenn der Haushalt nicht verabschiedet wird, kann die Regierung ihre Politik nicht umsetzen. Für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), die die eigentliche Quelle aller Entscheidungen in China darstellt, haben die gewählten Volksvertreter:innen nicht das Recht, eine Regierung an der Umsetzung ihrer Politik zu hindern.

Der Vorwahlkampf war erfolgreicher als erwartet: Mehr als 600.000 Menschen, d. h. mehr als 13 % der gesamten Wähler:innenschaft, gaben ihre Stimme ab. Schließlich verschob die Covid-Pandemie die Wahl auf Dezember 2021. Bis dahin war den meisten Angeklagten Entlassung gegen Kaution verweigert worden und sie befanden sich in Untersuchungshaft. Nach wiederholten Anträgen der Staatsanwaltschaft auf Verschiebung des Prozesses mit der Begründung, dass mehr Zeit für den Abschluss der Ermittlungen erforderlich sei, blieben sie das ganze Jahr 2022 in Haft.

Auf den ersten Blick scheint das zu zeigen, dass sie über keine Beweise verfügte, um ihre Verfolgung zu unterstützen, als die Angeklagten inhaftiert wurden, aber der wahrscheinlichere Grund ist die Absicht, andere einzuschüchtern, die an irgendwelche Aktivitäten gegen die Regierung denken könnten.

In der Zwischenzeit erkannte die Regierung die weit verbreitete Unterstützung für die Angeklagten an, indem sie erklärte, es bestehe die „Gefahr der Pervertierung der Justiz, wenn der Prozess mit Geschworenen geführt wird“, und ernannte daher einen handverlesenen Richter, der den Fall verhandeln sollte. Der Prozess begann schließlich im Februar 2023, und schon bald stellte sich heraus, dass einige der Angeklagten tatsächlich im Auftrag der Regierung gehandelt hatten, indem sie heimlich Sitzungen zur Organisation der Vorwahlkampagne filmten und aufzeichneten. Ein Urteil wird nicht vor Ablauf von drei Monaten erwartet, so dass der Stress für die Gefangenen und ihre Familien anhält und als Warnung für andere dient.

Ironischer Weise endete dieses Verfahren am Tag der ersten Wahl zum Legislativrat, die nach den neuen Vorschriften stattfand. Bei der Wahl 2019, die nach dem vorherigen System stattfand, lag die Wahlbeteiligung bei 71,23 Prozent, und die „prodemokratischen“ Kandidat:innen gewannen mehr als 80 Prozent der Sitze in den 18 abstimmenden Bezirken. Damals wurden 90 Prozent der Sitze durch das Volk gewählt; diesmal waren weniger als 20 Prozent zu wählen, nur von der Regierung überprüfte Bewerber:innen durften kandidieren, und natürlich saßen die „prodemokratischen“ Kandidat:innen im Gefängnis. Die Wähler:innen in Hongkong machten ihre Ablehnung dieses manipulierten Systems deutlich, indem sie das Verfahren boykottierten; die Wahlbeteiligung lag bei nur 27,5 Prozent der Wahlberechtigten.

Weitere Verfahren

Im selben Monat beantragte Chow Hang-tung, eine Anwältin, die seit zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt, weil sie die Mahnwachen 2020 und 2021 zum Gedenken an das Tian’anmen-Massaker von 1989 organisiert hat, die Freilassung gegen Kaution, da noch kein Termin für ihren Prozess feststeht. Chow wurde kürzlich zusammen mit zwei Anwälten vom Festland, Xu Zhiyong und Ding Jiaxi, mit dem Menschenrechtspreis des Europäischen Rates der Gerichte und Anwaltschaften (CCBE) ausgezeichnet.

Der Richter lehnte ihren Antrag ab und begründete dies damit, dass er nicht wisse, ob ihr Handeln gegen das NSL verstoße. Es ist offensichtlich, dass die Richter das Gesetz nicht mehr auslegen und anwenden, sondern auf das Urteil der KPCh warten, oder, wie Chow es in ihrer Annahme des CCBE-Preises formulierte, „selbst ein ,unabhängiges Gericht‘ … wird in der Praxis zum Vollstrecker des parteiischen Willens der Partei“.

Die Inszenierung dieser Schauprozesse durch die KPCh bestätigt auf ihre Weise, dass selbst die elementarsten demokratischen Rechte – Redefreiheit, unabhängige politische Parteien, freie Wahlen – tatsächlich eine Bedrohung für ihre Herrschaft darstellen. Der Kampf für die Beibehaltung einiger dieser Rechte in Hongkong nach der Rückgabe des Gebiets an China im Jahr 1997 hat zu verschiedenen Zeiten Millionen von Menschen mobilisiert, war aber immer von der Annahme geprägt, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, die nur Hongkong betrifft. Einige glaubten sogar, dass „Ein Land, zwei Systeme“ eine Art Garantie für den Sonderstatus der ehemaligen Kolonie darstellte. Es ist klarer denn je, dass der Kampf für selbst grundlegende demokratische Rechte in dem Gebiet nicht von dem Eintreten für diese Rechte in ganz China getrennt werden kann.

Heute verlangsamt sich die nationale Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit steigt, und es gibt Anzeichen von Spaltung und sogar Lähmung in den Reihen der KPCh selbst. Die Sozialist:innen in ganz China müssen sich in einer Partei auf der Grundlage eines Programms organisieren, in dessen Mittelpunkt der Aufbau unabhängiger Organisationen der Arbeiter:innenklasse steht – betriebliche Ausschüsse, unabhängige Gewerkschaften, eine Jugendorganisation, eine Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse – und das sich der Verteidigung der Arbeiter:inneninteressen, dem Widerstand gegen weitere Zugeständnisse an kapitalistische Willkür, dem Sturz der Diktatur und ihrer Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenorganisationen verpflichtet.




Neujahrserklärung der Chinesischen Revolutionären Sozialist:innen (Trotzkist:innen)

Chinesische Revolutionäre Sozialist:innen (Trotzkist:innen), 30. Dezember 2023, Infomail 1240, 1. Januar 2024

Wir veröffentlichen die folgende Erklärung in Solidarität mit ihren Verfasser:innen und als Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Gruppen in China.

Das Jahr 2023 geht zu Ende und die Welt steht vor einer Krise, die möglicherweise tiefer ist als die Finanzkrise von 2008. Der russisch-ukrainische Krieg ist noch nicht beendet. Der Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse in den europäischen und amerikanischen Ländern ist von der höchsten Inflation seit Jahrzehnten betroffen. Der palästinensisch-israelische Konflikt droht den gesamten Nahen Osten in einen Krieg zu stürzen, während die ohnehin schon schwachen Volkswirtschaften der meisten Länder der Dritten Welt unter dem Doppelschlag von Pandemien und geopolitischen Rivalitäten am Rande des Bankrotts stehen.

In China verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, und das parteistaatliche System steuert stetig auf Instabilität zu. Die zwangsläufig ungleiche Entwicklung des Kapitals innerhalb Chinas in Verbindung mit den Verzerrungen der bürokratischen Kontrolle haben nicht nur zu sinkenden Wachstumsraten, sondern auch zu Spaltungen innerhalb der herrschenden bürokratischen Kaste geführt. Zu einem solchen historischen Zeitpunkt ist es nach Ansicht der chinesischen Trotzkist:innen an der Zeit, ihre Ansichten, Grundsätze und Positionen zur chinesischen Revolution öffentlich zu machen, sich von den Programmen der Maoist:innen (Mao-Linken) und der Liberalen abzugrenzen und die Strategie und Taktik für die bevorstehende Massenbewegung zu klären.

Als aufrichtige Marxist:innen-Leninist:innen halten wir diese Wahrheit für selbstverständlich, dass aufeinanderfolgende Produktionsweisen die menschliche Produktivität bis zu dem Punkt gesteigert haben, an dem ihre eigenen sozialen Strukturen eine weitere Entwicklung unmöglich machten. Damit die Produktion ein höheres Niveau erreichen konnte, mussten diese sozialen Strukturen in einer sozialen Revolution umgestürzt werden. Der Kapitalismus, der die Produktivkräfte bis zu einem globalen System der wirtschaftlichen Produktion entwickelt hat, hat nun den Punkt erreicht, an dem seine soziale Struktur die Gesellschaft vor die Alternative Sozialismus oder Barbarei stellt. Das Ziel des Sozialismus ist Freiheit, Gleichheit und die nachhaltige Entwicklung der Menschheit, und um diesem Ziel zu dienen, soll die Arbeiter:innenklasse, die selbst das Produkt des modernen Kapitalismus ist, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen Arbeiter:innenstaat ersetzen, um das kapitalistische System zur Erzielung von Profit zu stürzen und es durch eine Planwirtschaft zur Befriedigung der Bedürfnisse zu ersetzen, die den Weg zu einer staatenlosen und klassenlosen kommunistischen Gesellschaft ebnet.

Die Herrschaft von demokratisch rechenschaftspflichtigen Arbeiter:innenräten ist das entscheidende Merkmal eines Arbeiter:innenstaates, der den Weg zum Sozialismus und Kommunismus eröffnen kann. Dieses grundlegende Axiom des Marxismus wurde erstmals aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 formuliert und von den Bolschewiki in der Russischen Revolution von 1917 weiterentwickelt. Es wurde durch die Erfahrungen der Sowjetunion, Chinas und der anderen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und von denen keiner in der Lage war, seine Wirtschaft auf ein höheres Niveau als die fortgeschrittenen imperialistischen Staaten zu entwickeln, auf der negativen Seite bestätigt.

Die Kommunistische Partei Chinas (im Folgenden KPCh) war bei ihrer Gründung 1921 eine echte revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Dennoch sah sich die KPCh infolge der falschen Führung durch die stalinistische Dritte Internationale und der historischen Niederlage des chinesischen Proletariats im Jahr 1927 mit ungeheuer harten Bedingungen konfrontiert, als alle städtischen Arbeiter:innenorganisationen und die Vorhut vernichtet wurden. Weit davon entfernt, ihre soziale Basis in der Arbeiter:innenklasse aufrechtzuerhalten, war die KPCh gezwungen, auf dem konservativen und rückständigen Land zu überleben, und rekrutierte ihre Soldat:innen aus der revolutionären Bauern- und Bäuerinnenschaft. Der Klassencharakter der Partei änderte sich allmählich in qualitativer Hinsicht. Als Mao Zedong und die Rote Armee 1936 in Yan’an (Yenan) eintrafen, war die KPCh bereits zu einer konterrevolutionären Partei einer militärisch-bürokratischen Kaste geworden, die bereit war, ihre Macht um jeden Preis zu verteidigen. Hier entstand der Maoismus, der „Stalinismus mit chinesischen Merkmalen“.

1949 kam die KPCh an der Spitze einer Volksfront an die Macht, deren ursprüngliches Programm eine längere Periode der kapitalistischen Entwicklung vorsah. Als sich dies als unmöglich erwies, stürzte die KPCh, die in der Staatsbürokratie verwurzelt war, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und schuf einen degenerierten Arbeiter:innenstaat. Obwohl die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durch bürokratische Maßnahmen umgestürzt worden waren, wurde der Fortschritt hin zu qualitativ höheren Produktionsniveaus und sozialer Gleichheit durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste verhindert. Der Übergang zum Sozialismus erforderte daher den Sturz der KPCh durch eine politische Revolution.

Heute, 30 Jahre nach dem Beschluss der KPCh von 1992, den Kapitalismus wiederherzustellen, hat sich der Klassencharakter Chinas von einem kapitalistischen Land zu einem imperialistischen kapitalistischen Land mit globalen Ambitionen entwickelt. Die Aufgabe des chinesischen Proletariats ist daher nicht mehr die politische Revolution, sondern die soziale Revolution – mit anderen Worten, die proletarische Revolution müsste sowohl der Einparteiendiktatur als auch den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, die vom Parteistaat verteidigt und gefördert werden, ein Ende setzen.

In der Epoche des Imperialismus – dem höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus – sind die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution überall auf der Welt reif. Die Geschichte zeigt jedoch immer wieder, dass die subjektiven Bedingungen für eine Revolution ebenso wichtig sind wie die objektiven. Deshalb verkünden wir, die chinesischen Trotzkist:innen, auf der Grundlage der Prinzipien und Erfahrungen des Bundes der Kommunist:innen, der Ersten Internationale, des linken Flügels der Zweiten Internationale, der Dritten Internationale in der Ära Lenins und der Vierten Internationale in der Ära Trotzkis den Bürger:innen in China und der Welt die folgenden 10 Punkte als unsere Haltung:

1. Nieder mit der bürokratischen Diktatur! Abschaffung der „führenden Rolle“ der KPCh.

China ist ein kapitalistisches Land, wir fordern die sofortige Anerkennung aller demokratischen Forderungen, die mit dem Kapitalismus vereinbar sind, wie Vereinigungs-, Rede-, Bewegungsfreiheit, das Recht, unabhängige Gewerkschaften und Parteien zu bilden. Die öffentliche Verwaltung ist notwendig, aber die bürokratische Herrschaft ist es nicht: Alle Parteikomitees und Posten der KPCh in allen Bereichen des Lebens, in der Wirtschaft, in der Politik und im sozialen Bereich müssen aufgelöst werden. Die bürokratische Herrschaft hat die grundlegende Spaltung der Gesellschaft zwischen den Arbeiter:innen und der Kapitalist:innenklasse verschleiert, die die bürokratische Herrschaft unterstützt, solange sie die Kapitalakkumulation garantiert. Kein Vertrauen in die Kapitalist:innen und ihre Verbündeten im Kampf für die Rechte der Arbeiter:innen.

2. Für die Wahl von Betriebsausschüssen, die dann als Grundlage für Arbeiter:innenräte sich aus abwählbaren Delegierten zusammensetzen.

Aufgrund des Charakters des stalinistischen Regimes würde jede unabhängige Organisierung der Arbeiter:innenklasse sofort in Konflikt mit dem Staatsapparat geraten, welches Problem auch immer ihre Mobilisierung auslösen mag. In allen Betrieben und Fabriken sind die demokratisch gewählten betrieblichen Ausschüsse aller Arbeiter:innen die oberste Instanz. Die im Betriebsrat sitzenden Abgeordneten müssen jederzeit von einer Vollversammlung abberufen werden können. Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, Offenlegung aller Management-Informationssysteme, Bücher und Konten zur Kontrolle durch die Arbeiter:innendeputierten.

Fabrikausschüsse sollen die Arbeiter:innenkontrolle in allen Aspekten der Produktion durchsetzen, einschließlich der Gewährleistung des Streikrechts und des Vetorechts gegen Entscheidungen der Unternehmensleitung – ob es um Löhne, Arbeitsbedingungen oder Entlassungen geht. Gegen die Privatisierung des Bankwesens und der staatlichen Monopolindustrien! Für Arbeiter:innenkontrolle über die People’s Bank of China (Chinesische Zentralbank), die Enteignung aller Geschäftsbanken und ihre Zusammenlegung zu einer einzigen Staatsbank, ein wesentlicher Schritt zur Einführung einer demokratischen Planung, die von einem staatlichen Planungsrat überwacht wird, wie es sowohl Lenin als auch die sowjetische linke Opposition in den frühen 1920er Jahren vorschlugen! Für Arbeiter:innenkontrolle über die staatlichen Industrien, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Energie, Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Eisenbahn, Luftfahrt und Mineralien.

3. Außerhalb des Arbeitsplatzes muss das Proletariat unabhängige Gewerkschaften als zentrales Element seiner Klassenorganisation haben.

Entweder durch die Umgestaltung der bestehenden „staatlichen“ Gewerkschaften oder Schaffung neuer Gewerkschaften in der demokratischen Bewegung müssen unabhängige Gewerkschaften ihren Mitgliedern gegenüber rechenschaftspflichtig sein und von ihnen kontrolliert werden. Gewerkschaftsfunktionär:innen müssen von den Gewerkschaftsmitgliedern direkt gewählt und abwählbar sein; die „führende Rolle der Partei“ wird abgeschafft; Gewerkschaftsfunktionär:innen erhalten das Durchschnittsgehalt ihrer Mitglieder.

4. Gegen die Zensurgesetze der KPCh-Bürokratie sollten die Lohnabhängigen selbst entscheiden, was sie veröffentlichen wollen.

Unterstützung der freien Verbreitung aller literarischen und künstlerischen Werke. Öffnung des Zugangs zu Presse, Zeitungen, Radio und Fernsehen für alle Arbeiter:innenorganisationen und unabhängigen Gewerkschaften. Beseitigung der Zensur in den sozialen Medien und Abschaffung der Internetzensur Great Firewall. Die Arbeiter:innen sollen das Recht haben, ohne staatliche Einmischung über jede Art von Gesetzgebung zu diskutieren. Wahl von Richter:innen und Prozessen an Arbeiter:innengerichten.

5. Die Freiheit aller werktätigen Schichten, politische Parteien zu gründen, das Recht jeder Gruppe von Arbeiter:innen und Klein:bäuerinnen, bei jeder Wahl ihre eigenen Kandidat:innen aufzustellen.

Alle Einwohnner:innen haben das Recht, politische Parteien zu gründen, die die demokratischen Rechte respektieren (und damit die Faschist:innen ausschließen). Transparente Wahl der jederzeit abberufbaren Dorfbevollmächtigten. Offenlegung der Buchführung und Konten jedes Dorfes. Vollständige Entschädigung der Opfer von Landbeschlagnahmungen und illegalen Landverkäufen. Wahl ländlicher Räte, die von einer bäuerlichen Miliz bewacht werden und die über die Nutzung der kollektiven Landressourcen, das Verkehrswesen, den Betrieb öffentlicher Einrichtungen und den Umweltschutz entscheiden werden. Widerstand gegen die Privatisierung von Grund und Boden in den Städten und auf dem Land. Forderung nach kostenlosen Krediten für Landwirt:innen zum Kauf von Maschinen und Düngemitteln sowie nach Anreizen für einzelne Bewirtschafter:innen, sich Genossenschaften sowie Versorgungs- und Vermarktungsgemeinschaften anzuschließen. Kontrolle großer kapitalisierter Unternehmen durch die Beschäftigten, die sich seit der Privatisierung der Kolchosen und Produktionsgenossenschaften im Zuge der Reform von Deng Xiaoping entwickelt haben. Aufbau moderner staatlicher Großbetriebe als Modell für die freiwillige Umstellung der individuellen/familiären Landwirtschaft. Massive Investitionen zur Verbesserung der kostenlosen Gesundheitsversorgung, des Verkehrswesens und der kulturellen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten. Bereitstellung von kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Landlose. Schrittweise Beseitigung des Stadt-Land-Gefälles durch die „Kombination von Land- und Industriearbeit“. Abschaffung des Systems der „Landfinanzierung“ und entschädigungslose Verstaatlichung des Immobiliensektors. Bereitstellung von angemessenem und kostenlosem öffentlichem Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen.

6. Im Zuge der Revolution werden die Polizei, die bewaffnete Polizei und die nationale Sicherheitsbehörde aufgelöst und durch ein Komitee für öffentliche Sicherheit nach dem Vorbild der Tscheka in der frühen Sowjetära ersetzt.

Wie die Erfahrungen des Arabischen Frühlings zeigen, werden Revolutionen in autoritären Ländern mit demokratischen Forderungen beginnen, können aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie über das demokratische Stadium hinausgehen, die Soldat:innen von ihrem Oberkommando lösen und Teile von ihnen für die Revolution gewinnen. Das Massaker von Tian’anmen hat auch gezeigt, dass selbst bei einer Spaltung innerhalb der Bürokratie, wenn die dominierende Fraktion noch immer die Streitkräfte kontrolliert, diese zur Abwehr von Volksaufständen eingesetzt werden. In dieser Hinsicht besteht der Kern des revolutionären Programms daher darin, die Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit der Soldat:innen zu unterstützen und ihre eigenen Befehlshaber:innen in Soldat:innenausschüsse zu wählen, die dann zum Soldat:innenrat werden.

Alle Arbeiter:innen erhalten eine militärische Ausbildung, bewaffnen sich und organisieren sich in betriebseigenen Milizen als Hüter:innen von Arbeiter:innenräten. Aufhebung des Gesetzes über die nationale Sicherheit in Hongkong. Sofortige Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Einberufung verfassunggebender Versammlungen sowohl auf Provinz- als auch auf nationaler Ebene. Die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Beziehungen zwischen der Region Hongkong und den Zentralbehörden werden der verfassunggebenden Nationalversammlung zur Überprüfung oder Änderung vorgelegt. Abschaffung der Todesstrafe. Für die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen.

7. Für die Rätedemokratie.

Um die bürokratische Diktatur zu stürzen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre eigenen Mittel zur Ausübung der Staatsgewalt schaffen. Die unabhängigen Organisationen, die im Kampf gegen die Bürokratie entstanden sind, die Fabrikkomitees, müssen zu Arbeiter:innenräten (Sowjets) zusammengefasst werden. Die Sowjets werden die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten aus der armen Landbevölkerung organisieren, um einen Massenaufstand gegen den bürgerlichen Staat durchzuführen. Der Arbeiter:innenrat hat sowohl exekutive als auch legislative Funktionen. Der Arbeiter:innenrat und der Soldat:innenrat werden zusammengelegt, um die Sowjetregierung (Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung) als Form der proletarischen Diktatur zu bilden. Die Sowjetregierung setzt ein Preisüberwachungskomitee ein, das die Qualität und die Preise von Konsumgütern überwacht und die gleitende Skala der Löhne sicherstellt. Schaffung einer landesweiten Arbeitslosengewerkschaft, um den Arbeitslosen eine Berufsausbildung zu ermöglichen und die vorhandenen Arbeitsplätze anteilig auf die gesamte Erwerbsbevölkerung aufzuteilen.

8. Nieder mit jeder Art von sozialer Unterdrückung.

Ein typisches Merkmal der stalinistischen Regime ist, dass die Frauenbewegung und die Bewegung zur Befreiung der Homosexuellen tagtäglich von der Bürokratie unterdrückt und sogar verfolgt werden. In der Sowjetunion bedeutete die politische Konterrevolution der 1920er Jahre nicht nur die Errichtung einer bürokratischen Diktatur über Wirtschaft und Politik, sondern auch die Rückgängigmachung der nach 1917 eingeführten Reformen zur Bekämpfung der sozialen Unterdrückung. Der enorme Beitrag der Oktoberrevolution zur Befreiung der Homosexuellen und Frauen ist seit langem völlig zunichtegemacht worden. Reaktionäre Gesetze und Moralvorstellungen wurden wieder eingeführt. Überall in China verstärkte die stalinistische Bürokratie das bürgerliche Familienkonzept und diktierte weiterhin die Größe der Familie nach den unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnissen. Die Restauration des Kapitalismus und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen seit den 1990er Jahren haben die Unterdrückung der Frauen erheblich verschärft, und die chinesischen Frauen sind gezwungen, die dreifache Last von Arbeit, Haushalt und Kindererziehung zu tragen. Gleichzeitig wird die Jugend in Schulen und Klassenzimmern mit dem „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen in der neuen Ära von Xi Jinping“ indoktriniert, und sie wird nicht nur durch eine reaktionäre patriotische Moral getäuscht, sondern auch ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt. In diesem Zusammenhang sollten wir die folgenden Forderungen aufstellen:

  • Sozialisierung der Hausarbeit und Einrichtung von 24-Stunden-Kinderkrippen. Verbot der geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei Einstellungen und Zulassungen. Kampf für eine unabhängige proletarische Frauenliga. Umfangreiche Investitionen und Ausbau von Frauenhäusern, Waisenhäusern, öffentlichen Kantinen und Wäschereien, kostenlosen Kliniken usw.

  • Aufhebung aller aufgezwungenen Familienpläne. Abschaffung der „Bedenkzeit für die Scheidung“ und vollständige Freigabe des Scheidungsrechts. Härtere Strafen für Unzucht mit Kindern, Frauen- und Kinderhandel und Vergewaltigung.

  • Gleichstellung von LGBTIAQ-Personen. Gegen Belästigung und Gewalt aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung.

  • Unterstützung der demokratischen Kontrolle von Schulen und Bildungssystemen durch Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen und Psycholog:innen. Erhöhung der Investitionen in die Bildung durch Erlass aller Studiengebühren, Honorare und Kosten für Unterkunft und Verpflegung von der Grundschule bis zur Universität, unabhängig von der Nationalität. Jugendverbände werden von keiner politischen Partei reguliert und üben die Kontrolle über ihre eigenen Kultur-, Verlags- und Verbreitungsorgane aus.

  • Abschaffung der Zensur, die der Jugend den Zugang zum bestehenden kulturellen Erbe der Welt verwehrt. Dies wird nur ihren Intellekt und ihren Kampfgeist schwächen und sie zum Opfer reaktionärer Ideen machen.

  • Abschaffung der Diskriminierung junger Menschen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Auszubildende, Zeitarbeiter:innen und Festangestellte.

9. Das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung ist ein absolutes und unbedingtes demokratisches Recht, das die Stalin-Maoist:innen jedoch ständig leugneten.

Trotz des föderalen Charakters Sowjetrusslands seit seiner Gründung behielt der Stalinismus, wie auch bezüglich anderer Aspekte der politischen Praxis der bolschewistischen Partei, die Form bei und beraubte sie ihres revolutionären Inhalts. In der Sowjetunion und in allen degenerierten Arbeiterstaaten, die folgten, waren weder der föderale Charakter (UdSSR und Jugoslawien) noch der Einheitsstaat (China) unter dem Deckmantel der „autonomen Regionen“ eine freiwillige Föderation der Völker, sondern ein gemeinsames Gefängnis für alle Völker.

Der Marxismus vertritt die Auffassung, dass die Nation ein neuzeitliches politisches Konzept ist, das aus der Bildung eines gemeinsamen Marktes im Prozess der kapitalistischen Entwicklung unter Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren wie Geographie, Sprache, religiöse Überzeugungen usw. hervorgegangen ist. Daher bildet das Territorium Chinas während der dynastischen Periode ungeachtet seiner Grenzstreitigkeiten und historischen Veränderungen keine Quelle der Legitimität für den Anspruch auf „souveräne Integrität“. Im 19. und 20. Jahrhundert, in dieser kritischen Phase der nationalen Formierung in der kapitalistischen Entwicklung, haben Xinjiang (Sinkiang), Tibet und Taiwan entweder ihre Unabhängigkeit erklärt oder sich für lange Zeit von China abgespalten und sollten unter den Bedingungen der nationalen Formierung das Recht auf Selbstbestimmung genießen.

Nachdem die KPCh 1949 an die Macht gekommen war, marschierte die Volksbefreiungsarmee in Xinjiang und Tibet ein und beraubte die beiden ethnischen Gruppen ihres Selbstbestimmungsrechts. Seit den 1990er Jahren erlebten die Gebiete der ethnischen Minderheiten aufgrund der sozialen Konterrevolution, die durch die Restauration des Kapitalismus ausgelöst wurde, den Aufstieg religiöser Ideologien und Nationalismen. Wie die sozialen Gegenrevolutionen, die in anderen Bereichen des nationalen Lebens stattfanden, führte die Wiederherstellung des Kapitalismus einerseits zu separatistischen Gefühlen und andererseits zu eskalierenden Konflikten zwischen der von der KPCh unterstützten Han-Bevölkerung und den ethnischen Minderheiten. In den letzten Jahren ist Xinjiang zum typischsten Fall geworden.

Die proletarische Revolution muss zunächst das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Bevölkerung in Xinjiang und Tibet anerkennen, was das Recht auf Abspaltung durch ein Referendum einschließt. Vor allem, welche Form der Selbstbestimmung das sein könnte und ob sie dieses Recht ausüben wollen, hängt vom Willen der Indigenen ab. Dies ist nicht nur prinzipiell richtig, sondern auch in der Praxis die einzige Möglichkeit, die Spannungen zwischen der Han-Mehrheit und ethnischen Minderheiten aufgrund staatlicher Unterdrückung abzubauen. Daher ist die nationale Selbstbestimmung der einzige Weg, um die Unterstützung des Proletariats der nationalen Minderheiten für die chinesische Revolution zu gewinnen.

In der Zwischenzeit müssen alle Sozialist:innen, ob Han-Chines:innen oder ethnische Minderheiten, die Bildung einer sozialistischen Föderation Asiens fordern, der die Mitgliedsstaaten freiwillig beitreten und wieder austreten können, und dass Han-Chines:innen, die sich im Rahmen des staatlichen Kolonialprogramms in Xinjiang und Tibet niedergelassen haben, das Recht haben zu wählen, ob sie bleiben und sich gemeinsam mit den ethnischen Minderheiten entwickeln oder in ihre Heimat im chinesischen Stammland zurückkehren wollen, unabhängig von der Zukunft von Xinjiang und Tibet.

Die Forderungen der Sozialist:innen lauten:

  • Auflösung des Produktions- und Baukorps von Xinjiang.

  • Abzug der in Tibet stationierten Truppen.

  • Freilassung aller Uigur:innen und Abschaffung der „Umerziehungslager“.

  • Für Religionsfreiheit, Freiheit der einheimischen Sprachen und Kultur.

  • Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

  • Lang lebe eine Föderation der asiatischen Arbeiter:innenstaaten!

10. Eine Rückkehr zum proletarischen Internationalismus von Lenin und Trotzki.

Westliche Sozialist:innen haben die Auflösung der NATO, der Weltbank und des IWF gefordert, während chinesische Sozialist:innen die Auflösung der Asiatischen Infrastrukturinvestitionsbank (AIIB), den Erlass aller Schulden der Entwicklungsländer, die Abschaffung der Gürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) und die kostenlose Schenkung von Infrastrukturprojekten in Afrika und Südostasien an die lokale Bevölkerung fordern. In Ländern, die zu Halbkolonien des chinesischen Imperialismus geworden sind (z. B. Pakistan), sollten alle Truppen von den Militärbasen in Übersee abgezogen, alle ungleichen Privilegien abgeschafft und ein Plan zur Kompensation der durch die Verlagerung von Produktionskapazitäten verursachten Umweltschäden angekündigt werden. Anerkennung der Souveränität eines Arbeiter:innenstaates bei der Festlegung der Kontrolle und Entwicklung der chinesischen Unternehmen in Übersee. Abschaffung der Geheimdiplomatie. Offenlegung aller mit dem Ausland abgeschlossenen Geheimverträge. Verurteilung des vom russischen Imperialismus geführten Krieges in der Ukraine. Hände weg von Taiwan. Aufhebung aller Sanktionen oder Gegensanktionen. Ablehnung aller Militärausgaben des Parteienstaates. Verurteilung des israelischen Siedlerkolonialismus und Unterstützung eines einheitlichen, säkularen und sozialistischen Staats in Palästina. Stopp der offiziellen Fremdenfeindlichkeitspropaganda und der militärischen Aufrüstung mit nuklearen oder konventionellen Waffen. Volle und gleiche Rechte für ausländische Einwohner:innen. Abgabe der revolutionären Erklärung an die Regierungen aller Länder und Aufruf zur Weltrevolution.

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Am Vorabend der Amerikanischen Revolution im Jahr 1776 schrieb Thomas Paine: „Die Sache Amerikas ist in hohem Maße die Sache der gesamten Menschheit. Viele Umstände sind eingetreten und werden eintreten, die nicht lokal, sondern universell sind und durch die die Prinzipien aller Menschenfreund:innen betroffen werden und an deren Zustandekommen ihre Zuneigung interessiert ist.“ Heute ist die Sache des chinesischen Proletariats in erster Linie auch die Sache der gesamten Menschheit, weil der internationale Charakter einer proletarischen Revolution natürlich die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaates überwindet und die chinesische Revolution ein Glied in der Weltrevolution und im Übergang zu einer sozialistischen Weltföderation sein wird. Obwohl die chinesische Bourgeoisie derzeit ihre eigenen Gründe hat, sich dem Parteistaat zu widersetzen, und die Republik China als Banner für eine „demokratische Revolution“ benutzen kann, kann die chinesische Revolution eine echte Revolution sein, wenn und nur wenn sie in einer Machtergreifung durch das Proletariat endet.

Trotzki hat bei der Erläuterung des philosophischen Denkens von Marx und Engels einmal darauf hingewiesen: „Die Menschheit hat die dunklen spontanen Kräfte aus der Sphäre der Produktion und der Ideologie vertrieben und die barbarischen Konventionen durch Wissenschaft und Technik ersetzt. Die Ersetzung der Religion durch die Wissenschaft, die zur Renaissance und Reformation des 15. und 16. Jahrhunderts führte, war das Streben nach intellektueller Rationalität; und dann vertrieb die Menschheit das Unbewusste aus der Politik und stürzte die Monarchie und die Hierarchie durch ein demokratisches, rein rationalistisches parlamentarisches System und dann ein völlig transparentes Sowjetsystem. Es war das Streben nach politischer Rationalität, das mit den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts begann und in der Oktoberrevolution kulminierte; und schließlich schlugen die blinden, spontanen Kräfte die tiefsten Wurzeln in den wirtschaftlichen Verhältnissen – aber dort trieb die Menschheit diese mit der sozialistischen Wirtschaftsorganisation aus, was alles ermöglichte, die wirtschaftliche Rationalität zu erreichen.“

Das Besondere an China ist, dass es ein Land ist, in dem keine der drei Rationalitäten – ideologisch, politisch, wirtschaftlich – verwirklicht wurde, und daher muss die Mission der proletarischen Revolution die Kombination aller drei sein.

Folglich müssen alle Revolutionär:innen, die die oben genannten Forderungen unterstützen, zunächst in einer einzigen Partei organisiert werden. Eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei muss demokratischen Zentralismus praktizieren – „ein Mitglied – eine Stimme“ für ihre Mitglieder und volle Freiheit in der Diskussion, wobei die Minderheit der Mehrheit gehorchen muss, Demokratie in der Entscheidungsfindung und absolute Disziplin in der Durchführung von Aktionen. Wie Lenin betonte, muss eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei als Vorhut der Arbeiter:innenklasse den Organisationsgrad, die Moral und das Bewusstsein des Proletariats durch jeden einzelnen Kampf anheben, bis sie in der Lage ist, die gesamte Klasse durch einen Aufstand zum Sturz des bürgerlichen Staates zu führen und eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung einzusetzen. Jede Arbeiter:innenpartei darf daher ihre Regierung nur durch die Erringung der Mehrheit der Sitze im Arbeiter:innen- und Soldat:innenrat bilden und niemals den Parteiapparat selbst als Regierungsmacht betrachten. Um die revolutionären Bewegungen jenseits der Grenzen zu fördern, zu koordinieren und zu vereinigen, rufen wir schließlich zu einer neuen Revolutionären Internationale auf, die auf dem demokratischen Zentralismus basiert, als Weltpartei für die sozialistische Revolution.

Obwohl wir derzeit eine winzige Minderheit innerhalb des chinesischen Proletariats von insgesamt 400 Millionen sind, obwohl wir der Feindschaft der zweitgrößten imperialistischen Macht und eines völlig totalitären KPCh-Staates gegenüberstehen, glauben wir, dass das chinesische Proletariat in seiner gerechten Macht den absoluten Sieg davontragen wird. Am Vorabend des Neujahrs 2024 bitten wir die kämpferischen Arbeiter:innen zu Hause und in der ganzen Welt, unseren Forderungen Gehör zu schenken und unseren Aktionen zu folgen.

  • Arbeiter :innen und Unterdrückte aller Länder, vereinigt euch!

  • Lang lebe die chinesische Revolution!

  • Lang lebe die Weltrevolution!



Pakistan: Solidarität mit dem langen Marsch der Belutsch:innen!

Shahzad Arshad, Infomail 1240, 26. Dezember 2023

In der Nacht zum 21. Dezember wurden die Teilnehmer:innen des Langen Marsches der Belutsch:innen gegen das Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen in Islamabad von den staatlichen Kräften gnadenlos angegriffen, als sie die Hauptstadt erreichten. Eine große Zahl von Student:innen, darunter Frauen und ältere Menschen, wurde verhaftet. Die Regierung setzte alles daran, die verhafteten Frauen mit Gewalt nach Quetta (Provinzhauptstadt Belutschistans) zu bringen. Die Belutschinnen, die den Marsch angeführt hatten, leisteten trotz aller Gewalt und Drohungen Widerstand. In Belutschistan, aber auch in anderen Gebieten mit Belutsch:innen, begannen Proteste und Sitzstreiks gegen die Gewalt auf dem Langen Marsch, die sich in Radblockaden und Streiks an den Türen entluden.

Im ganzen Land, auch in Belutschistan, fanden in Städten und Distrikten wie Turbat, Panjgur (Pangor), Gwadar, Khuzdar, Mastung, Dalbandin, Quetta, Kohlu, Dera Bugti, Sibi, Rakhni, Barkhan, Logistikzentrum Awaran, Karatschi, Bela, Taunsa, Dera Ghazi Khan, Lahore, Islamabad, Bahawalpur, Multan und vielen anderen Proteste aus Solidarität mit den Angegriffenen statt.

Diese Gewalt in Belutschistan hat die Proteste nicht gebrochen, sondern vielmehr den Geist und den Mut des Kampfes der Bevölkerung gestärkt und die Angst allmählich überwunden. In diesen Gebieten entsteht eine neue politische Realität, die die bestehende so genannte politische Ordnung ins Wanken bringt. In dieser Situation hat das Gericht die Freilassung einiger verhafteter Personen angeordnet. Auch die Regierung hat Verhandlungen aufgenommen, und deshalb wird die Jirga (Versammlung der traditionellen Anführer:innen der Community) auch dazu benutzt, den politischen Kampf zu kontrollieren, der sich in allen Gebieten der Belutsch:innen ausgebreitet hat.

Am Beginn dieses Kampfes stand die brutale Ermordung von Balach Baloch in Turbat unter Gewahrsam der CTD (Counter Terrorism Department = Abteilung zur Terrorismusabwehr). Aber diese Bewegung ist auch das Ergebnis und die Fortsetzung vieler ähnlicher Bewegungen, die in den letzten Jahren immer wieder von belutschischen Student:innen und Frauen in verschiedenen Städten organisiert worden sind. Es wurden auch Solidaritätskomitees gebildet. Dadurch konnte die Angst in der belutschischen Bevölkerung überwunden werden, die der Staat durch schwere Zwangsgewalt, Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen und verstümmelte Leichen erzeugt hatte.

Es wurde eine Untersuchung gegen diejenigen eingeleitet, die der Ermordung von Balach Baloch beschuldigt werden, und anscheinend ist eine der Forderungen des Langen Marsches akzeptiert worden, aber die Hauptforderung des Langen Marsches ist derzeit die Beendigung der staatlichen Politik des gewaltsamen Verschwindenlassens und die Wiederkehr der so Verschwundenen. Dies ist eine legitime Forderung, die die gesamte Bevölkerung unterstützt und für die sie kämpft und die derzeit vom Langen Marsch unter der Schirmherrschaft des Belutsch:innen-Solidaritätskomitees unter der Leitung von Mahrang Baloch und anderen Aktivistinnen vertreten wird.

Die Haltung der staatlichen Institutionen gegenüber dem Langen Marsch hat die Politik des Staates gegenüber der Nation der Belutsch:innen verdeutlicht. Die Struktur des pakistanischen Staates basiert auf internem Kolonialismus, der diesem seine elementaren demokratischen Rechte verweigert hat. Was den Marsch angeht, hat sich der Staat verkalkuliert. Die Behörden wussten nicht, dass dieser eine so große Bewegung unter den Belutsch:innen auslösen würde, die trotz aller Gewalt, Verhaftungen und Einschränkungen nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Mit brutaler Gewalt wurde versucht zu verhindern, dass sich immer mehr Menschen dem Langen Marsch anchließen, bei dem auch belutschische Frauen, Mädchen und ältere Menschen verhaftet wurden.

Darüber hinaus wurden mehr als dreihundert Student:innen verhaftet, von denen bisher nur 167 wieder freigelassen wurden. Darüber hinaus sind mehrere Studierende bei der Niederschlagung des Langen Marsches gewaltsam „verschwunden“. Die Teilnehmer:innen des Langen Marsches protestieren derzeit vor dem Nationalen Presseclub in Islamabad. Sie haben deutlich gemacht, dass sie zu noch entschlosseneren Maßnahmen gezwungen sein werden, wenn die Student:innen nicht freigelassen werden oder noch mehr von ihnen gewaltsam verschwinden.

Der Lange Marsch, der vom Belutsch:innen-Solidaritätskomitee initiiert wurde, kam nach Islamabad in der Hoffnung, dass er den Staat unter dem Druck ihres Kampfes zwingen würde, seine Politik zu ändern und mehr vorgetäuschte Zusammenstöße und gewaltsames Verschwindenlassen zu beenden. Diese sollten gestoppt werden und die Nation der  Belutsch:innen sollte ihre demokratischen Rechte erhalten, damit sie über ihr eigenes Schicksal entscheiden kann. In diesem Sinne sollte der Lange Marsch einen erfolgreichen Kampf für seine Ziele fortsetzen.

Der Lange Marsch wird in großem Umfang von anderen unterdrückten Nationen unterstützt, darunter die PTM (Paschtunische Tahafuz-Bewegung) und andere Organisationen unterdrückter Ethnien. Zum ersten Mal hat der Lange Marsch in begrenztem Umfang Unterstützung im Punjab erhalten, und das Leiden des belutschischen Volkes und sein Schmerz sind spürbar. PTM, das Belutsch:innen-Solidaritätskomitee und die Parteien und Organisationen der Linken haben die Verantwortung, den Kampf der Belutsch:innen nicht nur zu unterstützen, sondern eine Einheitsfront zu bilden und diesen Kampf zur Arbeiter:innenklasse zu tragen. Es gilt, diesen demokratischen Kampf zu verbreiten und den Staat zu zwingen, die Serie des Verschwindenlassens und des Völkermordes zu beenden und dem Volk der Belutsch:innen volle demokratische Rechte zu gewähren.