Westsahara: neuer Zank um Afrika

Urte March, Infomail 1134, 13. Januar 2021

In den letzten Tagen seiner Präsidentschaft wird das Chaos, das Donald Trump zu Hause anrichtet, durch kalkulierte Provokationen im Ausland ergänzt. Indem er die marokkanische Souveränität über das umstrittene Territorium der Westsahara im Austausch für die „Normalisierung“ der marokkanischen Beziehungen zu Israel anerkennt, hat Trump einen Doppelschlag gelandet: Er untergräbt selbst jeden noch so symbolischen Widerstand gegen Israels Annexion von besetztem palästinensischem Land und öffnet gleichzeitig ein ressourcenreiches afrikanisches Gebiet für die Ausbeutung durch das internationale Kapital.

Der Schritt ist ein Verrat an den Rechten der indigenen Sahrauis und birgt das Risiko, weitere Gewalt und Instabilität in der unruhigen Region zu schüren. Ein genauerer Blick auf den Konflikt in der Westsahara offenbart eine komplexe Dynamik der sich verschärfenden Groß- und Regionalmachtrivalität in Westafrika.

Hintergrund

Das Wüstengebiet der Westsahara ist umkämpft, seit sich die spanische Kolonialverwaltung 1975 zurückzog und ein versprochenes Referendum über die Selbstbestimmung aufgab. Die Region wurde in einen Bürgerkrieg zwischen einer neu gegründeten antikolonialen Befreiungsbewegung, der Polisario-Front, und den Nachbarländern Marokko und Mauretanien gestürzt, die beide auf territoriale Ansprüche drängten.

Marokkanische Streitkräfte übernahmen bald die Kontrolle über das Gebiet. Der darauf folgende Guerillakrieg führte zu einem Massenexodus von zivilen Flüchtlingen nach Algerien, dem Hauptsponsor der Polisario. Heute sind die geschätzten 200.000 Flüchtlinge, die immer noch in von der Polisario verwalteten Lagern außerhalb der algerischen Grenzstadt Tinduf leben, zum Überleben vollständig auf internationale Hilfe angewiesen. Die Polisario kontrolliert auch ein Stück unfruchtbares Land, das etwa 25 Prozent des Westsahara-Territoriums umfasst, die selbsternannte Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS), die von der von Marokko verwalteten Zone durch die Berme abgetrennt ist, eine stark militarisierte Sand- und Steinmauer, die gebaut wurde, um Guerillas fernzuhalten.

Das versprochene Referendum über die Unabhängigkeit, das 1991 durch einen von der UNO vermittelten Waffenstillstand wiederbelebt wurde, kam nicht zustande, da es Streitigkeiten darüber gab, wer wählen darf und was auf dem Stimmzettel stehen soll. Währenddessen hat Marokko eine aggressive Siedlungspolitik betrieben, um eine Mehrheit für die Integration zu garantieren. Seit 1991 hat die Polisario den bewaffneten Kampf zugunsten einer politischen Kampagne und des Aufbaus einer Zivilverwaltung in den von ihr kontrollierten Gebieten weitgehend aufgegeben.

Doch zwei Jahrzehnte gescheiterter Diplomatie nähren den Ruf nach einem bewaffneten Befreiungskampf unter jungen Sahrauis, die keine Alternative zur Öde und Entbehrung in den Lagern sehen. Im November letzten Jahres kündigte die Polisario an, den Waffenstillstand offiziell zu beenden und Tausende von Freiwilligen zum Kampf zu mobilisieren, nachdem marokkanische Streitkräfte einen Pro-Unabhängigkeits-Protest in der Grenzstadt El Guerguerate gewaltsam aufgelöst hatten.

Imperialistische Interessen

Die USA sind das erste Land, das Marokkos Souveränität über die Westsahara offiziell anerkennt, was Marokkos regionaler wirtschaftlicher Expansion einen wertvollen diplomatischen Schub verleiht. Das Gebiet bietet reiche Beute, darunter Phosphat – ein begrenzt vorkommendes Mineral, das für synthetische Düngemittel unerlässlich ist –, Schiefergas und unerschlossene Binnenlands-Öl- und Gasreserven. Marokko und die Westsahara zusammen besitzen mehr als 72 Prozent aller Phosphatgestein-Reserven der Welt und bieten die Aussicht auf ein globales Monopol, da kleinere Reserven anderswo erschöpft sind.

Die strategische Lage der Westsahara an der Atlantikküste macht sie außerdem unverzichtbar für die Verbindung der sich schnell entwickelnden Länder südlich der Sahara mit Europa. Ein staatlicher Entwicklungsplan für die „südlichen Provinzen“ – ein Begriff der marokkanischen Regierung für die besetzte Westsahara – schlägt den Ausbau von drei Häfen vor, einschließlich eines neuen 1-Milliarde-US-Dollar-Megahafens in Ad-Dakhla, für den in diesem Monat die Ausschreibungen für den Bau beginnen sollen. Die Gewässer vor der Küste beherbergen auch eine lukrative Fischereiindustrie und ungenutztes Potenzial für die Erzeugung von Wind- und Gezeitenenergie.

Trumps Anerkennung der marokkanischen Souveränität öffnet die Schleusen fürs US-Kapital, und die Geier haben keine Zeit verschwendet. Als der Geschäftsführer von Soluna Technologies, John Belizaire, kurz nach Trumps Erklärung die Absicht seines Unternehmens ankündigte, einen 900-Megawatt-Windpark in Ad-Dakhla zu bauen, erklärte er, die Region sei „reich an Ressourcen und Potenzialen an Land wie auf See [und] wird als Brücke und Bindestrich zwischen Marokko und seiner afrikanischen Tiefe dienen“.

Aus den gleichen Gründen haben imperialistische Länder auf der ganzen Welt ein gemeinsames Interesse daran, die Westsahara für ihren eigenen Anteil an der „Entwicklung“ zu öffnen. Als Teil seiner „Neuen Seidenstraße“-Initiative wetteifert China bereits mit Marokkos traditionellem imperialistischen Sponsor, Frankreich, um den Bau eines neuen Abschnitts der Hochgeschwindigkeitseisenbahn in Marokko, die König Mohammed VI. versprochen hat, weiter südlich nach Ad-Dakhla zu verlängern. Russland hat kürzlich ein neues Fischereiabkommen mit Marokko unterzeichnet, das russischen Fangschiffen erlaubt, in den Gewässern vor der Westsahara zu fischen. Die EU arbeitet unter einem ähnlichen Fischereiabkommen, entgegen wiederholter Urteile des Europäischen Gerichtshofs.

Die Golfstaaten, die Investitionsmöglichkeiten sowie die Handelsvorteile einer besseren Anbindung an Europa ins Auge fassen, haben alle die marokkanischen Ansprüche auf die Westsahara unterstützt, ohne die diplomatischen Folgen einer formellen Anerkennung zu riskieren. Als die Vereinigten Arabischen Emirate im vergangenen November eine diplomatische Vertretung in dem Gebiet eröffneten, sagten sie, dies sei eine „Anerkennung der ,marokkanischen Identität’“ der Westsahara.

Folgen

Die öffentliche Wiederbelebung der Beziehungen zwischen Marokko und Israel wird an sich keine wesentliche Abweichung vom Status quo darstellen. Jahrzehntelang hat die marokkanische Monarchie mit Israel in militärischen und nachrichtendienstlichen Angelegenheiten kooperiert, indem sie eine Rückschaltung zu anderen arabischen Nationen bereitstellte und im Austausch für Waffen, militärisches Training und verdeckte Operationen nachrichtendienstliche Informationen über Israels FeindInnen in der Region lieferte. Marokkanische BeamtInnen behaupten, dass sie keine vollen diplomatischen Beziehungen mit Israel aufnehmen, sondern nur „Verbindungsbüros“ wiedereröffnen, die im Jahr 2000 geschlossen wurden, und erklärten, dass die israelisch-marokkanischen Beziehungen „bereits normal“ seien. Die Zurückhaltung ist sicherlich zum Teil darauf zurückzuführen, dass 88 % der marokkanischen Bevölkerung, im Gegensatz zu ihrer reaktionären Monarchie, die diplomatische Anerkennung Israels ablehnen.

Mehr als alles andere ist die Ankündigung symbolisch – ein weiterer Sieg für Trumps „Deal des Jahrhunderts“ kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt und ein Gütesiegel für die Ausbeutung der Westsahara, die bereits in vollem Gange ist. Natürlich schadet er nicht nur den Sahrauis, sondern ist auch ein weiterer Schlag gegen die palästinensische Sache, da er die israelischen Menschenrechtsverletzungen und die illegale Besetzung der Palästinensergebiete weiter legitimiert.

Aber der Schritt könnte dennoch neue Probleme für Marokko und seine Verbündeten schaffen. Weitere Unruhen und bewaffneter Widerstand der Polisario werden durch die eklatante Missachtung des Völkerrechts wahrscheinlich noch verschärft werden. Algerien, das die Polisario-Front unterstützt und sie in der Vergangenheit mit Waffen und Finanzmitteln versorgt hat, hat sich bisher auf rhetorisches Anprangern beschränkt, könnte aber leicht eine energischere Intervention erneuern, wenn die Feindseligkeiten eskalieren. Eine komplexe Konstellation von bewaffneten Gruppen mit Verbindungen zu Marokko, Algerien und der Westsahara operiert in Mali und in der gesamten Sahelzone und könnte in den Konflikt hineingezogen werden, wenn er zu einem Stellvertreterkrieg entartet. Ein islamistischer Aufstand auf niedrigem Niveau im Norden Malis und im Tschad hat Frankreich veranlasst, sein militärisches Engagement in der Region zu verstärken und als Ordnungshüter für die Interessen der gesamten westlichen Allianz gegen die Übergriffe Chinas zu fungieren.

Nichtsdestotrotz scheint es, dass der Trend zur internationalen Anerkennung des marokkanischen Anspruchs auf die Westsahara wahrscheinlich weiter anhalten wird. Die kommende US-Administration unter Biden hat, obwohl sie selbst vielleicht keinen so aggressiven Schritt gesetzt hätte, wenig Anreiz, die Entscheidung zurückzunehmen, und unterstützt weitgehend Trumps Politik gegenüber Israel. Obgleich sie sich einst auf eine säkulare arabische nationalistische Tradition berief und ein Programm sozialer Reformen förderte, hat die Polisario-Front jetzt kein politisches Programm und keine Strategie, die über die Forderung nach Unabhängigkeit hinausgeht. Mit Algerien als einzigem regionalen Verbündeten verfügt sie über wenig internationalen Einfluss und besitzt kaum eine Chance auf nennenswerte militärische Fortschritte, selbst wenn sie nach 20 Jahren, in denen sie wie eine Nichtregierungsorganisation agiert hat, eine Kampftruppe mobilisieren könnte.

SozialistInnen unterstützen das Recht auf Selbstbestimmung für alle Nationen und unterstützen die nationalen Befreiungskämpfe der unterdrückten Völker, einschließlich der Sahrauis in der Westsahara. Doch wir erkennen auch an, dass die Unabhängigkeit allein die wirtschaftlichen oder sozialen Probleme nicht lösen wird; in einer Ära der imperialistischen Rivalität kann sie diese sogar oft verschärfen. Trotz ihres Reichtums an einigen wichtigen Ressourcen nennt die Westsahara eine winzige Bevölkerung ihr Eigen, und die Wüstenlandschaft macht Landwirtschaft und die meisten Industrien unrentabel. Selbst wenn die Unabhängigkeit möglich wäre, wäre das Land weiterhin völlig abhängig von ausländischen/m Investitionen und Schutz, sein halbkolonialer Status bliebe weitgehend unverändert.

Die einzige Möglichkeit, dem sahrauischen Volk kulturelle und wirtschaftliche Freiheit zu garantieren, besteht darin, dass es sich mit den ArbeiterInnenklassen der Nachbarländer, insbesondere mit der demokratischen Jugendbewegung gegen die verkrustete FLN (Nationale Befreiungsfront Algeriens)-Diktatur vereint und für den Sturz ihrer reaktionären Regime kämpft und sich in einer sozialistischen Staatenföderation zusammenschließt, die das imperialistische Kapital enteignen und für die Bedürfnisse der Völker der gesamten Region einsetzen kann.