Nieder mit der Taliban-Diktatur: Befreit die afghanischen Frauen!

Interview mit einer afghanischen Geflüchteten in Pakistan, 15.01.2024, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge, etwa die Hälfte der 3 – 4 Millionen in Pakistan lebenden Afghan:innen, sollen bis Ende des Jahres abgeschoben werden, wenn sie das Land nicht „freiwillig“ verlassen. Viele davon sind vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen. Nun müssen sie Pakistan verlassen, andernfalls drohen ihnen Haft und Abschiebung. Seit Anfang November sind Schikanen und Zwangsabschiebung von Afghan:innen weit verbreitet. Gleichzeitig nehmen die Proteste seit Wochen zu, vor allem am Grenzübergang Chaman (Belutschistan). Tausende von pakistanischen Paschtun:innen schließen sich den Protesten an, darunter zahlreiche Arbeiter:innen. Die Demonstrant:innen haben auf beiden Seiten der Grenze massenhafte Sitzstreiks organisiert.

Der Grund für die Proteste an der Grenze ist ganz klar. Die paschtunische Bevölkerung lehnt die Abschiebungen nicht nur ab, sondern versteht sie auch richtig als Teil der Politik und Interessen der Regierung, die das Leben der paschtunischen Bevölkerung zum Elend verschlechtert hat. Sie erkennet, dass die Abschiebungen Hand in Hand mit der Enteignung der Afghan:innen gehen, die ihnen ihre Lebensgrundlage und ihr Recht auf ein Leben in dem Gebiet nehmen, in dem sie – manchmal seit Generationen – arbeiten und leben.

Im Rahmen unserer bedingungslosen Solidarität mit den mutigen afghanischen Frauen in Afghanistan und in der Diaspora spricht FIGHT mit Roya Afghan Aazad (dokumentierter Flüchtling mit POR-Karte), die in Pakistan lebt, über den Stand der Dinge seither, wobei der Schwerpunkt auf den afghanischen Frauen heute liegt. Die Interviewpartnerin wählte diesen Namen, um ihre Identität zu schützen. Er bedeutet „Traum für ein freies Afghanistan“. Das Interview führt Minerwa Tahir.

FIGHT: Vielen Dank, dass du sich bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen, Roya. Wie würdest du die allgemeine Situation der Frauen in Afghanistan beschreiben? Dürfen sie frei arbeiten? Dürfen sie nur in bestimmten Berufen oder gar nicht arbeiten? Unterscheidet sich das Leben der afghanischen Frauen aus der Mittelschicht heute von dem der Frauen aus der Arbeiter:innenklasse?

Roya Afghan Aazad: Ich habe mehrere Verwandte, die in Afghanistan leben, und dort gibt es ein vollständiges Verbot für die Ausbildung von Frauen an Universitäten. Da Bildung zum Beispiel nur bis zur sechsten Klasse erlaubt ist, versuchen viele Mädchen, sich online weiterzubilden, wenn auch nur informell. Ich habe viele Verwandte, die Medizin und Ingenieurwesen studierten und nun gezwungen sind, ihre Ausbildung abzubrechen. Infolgedessen treten psychische Probleme auf.

Was die Arbeit anbelangt, so arbeiteten viele Freund:innen in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, aber nach einiger Zeit wurden alle ihre Stellen gestrichen. Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg. Das bedeutet, dass es viele Witwen und Waisen gibt. Wenn eine Witwe drei Kinder hat, ist sie die einzige Ernährerin. Wenn ihr Mann gestorben ist, wie soll sie dann ihre Kinder ernähren, wenn nicht durch Arbeit? Verwandte erzählten mir, dass die Situation so schrecklich ist, dass ehemalige Lehrer:innen eines ihrer Kinder verkaufen mussten, um vier andere zu ernähren. Vor allem Frauen wurden in die Armut gedrängt. Aber diejenigen, die männliche oder wirtschaftliche Unterstützung haben, können sich auf diese verlassen. Ich kenne eine Frau, die Managerin war. Jetzt ist sie Witwe und wegen des Beschäftigungsverbots für Frauen arbeitslos. So kommt es zu einer extremen Verarmung der Frauen.

Auch Vergewaltigungen und andere geschlechtsspezifische Gewalttaten sind weit verbreitet, werden aber nicht gemeldet, weil es keine Medienfreiheit gibt. Die geringe Berichterstattung erweckt den Eindruck, dass die Frauen in Würde leben, aber die Realität sieht anders aus. Nach 2021 mussten die Menschen ihre Töchter aufgrund der Wirtschaftskrise verkaufen. Zwangsverheiratungen von älteren Männern mit Minderjährigen sind weit verbreitet. Eltern, die arbeitslos sind und Töchter haben, sehen sich gezwungen, ihre Töchter an ältere Männer zu verkaufen, um den Rest der Familie zu ernähren. Die Wirtschaftskrise und die erzwungene Arbeitslosigkeit sind die Hauptursachen dafür.

FIGHT: Du hast psychische Probleme erwähnt. Kannst du bitte beschreiben, über welche Art von Problemen berichtet wird? Und wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aus?

Roya Afghan Aazad: Viele Studentinnen, die sich in den letzten Semestern befanden, als die Ausbildungsverbote verhängt wurden, sind jetzt mit Selbstmordgedanken konfrontiert. Sie erhalten nicht einmal Pässe, um ins Ausland zu gehen und sich weiterzubilden. Du kannst dir vorstellen, dass die Taliban den Frauen nicht erlauben, im Land zu studieren, warum sollten sie ihnen dann ermöglichen, sich im Ausland fortzubilden. In ihrn Augen hat es keinen Sinn, Frauen auszubilden, da sie zu Hause bleiben und Kinder gebären und aufziehen sollen.

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet, auch unter meinen Verwandten. Als ich ein kleines Mädchen fragte, was sie nach der sechsten Klasse machen würde, fing sie an zu weinen. „Wir haben keine Zukunft. Wir sitzen fest. Wir können diese Hölle nicht verlassen“, sagte sie mir. […] Ich würde nicht ausschließen, dass viele Selbstmord begangen haben. Was ist der Sinn dieses Lebens? 20 Jahre lang hatten wir Schulen und Sport, und jetzt wird uns das plötzlich weggenommen.

Auch viele afghanische Frauen, die sterben, sterben nicht auf natürliche Weise. Sie sterben bei der Geburt, weil eine Reihe von Krankenhäusern geschlossen wurde und es aufgrund verschiedener von der Regierung aufgestellter Hürden kein weibliches Personal gibt. Das Gesundheitswesen ist der einzige Beruf, in dem einige Frauen arbeiten, aber viele wurden entmutigt. Ich habe einen Cousin in Kabul, der Arzt ist.  Ich habe ihn gefragt: Wird es in Zukunft keine Ärztinnen mehr geben? Wenn schwangere Frauen von Männern betreut werden, wo bleiben dann die so genannte Ehre, die Purdah (Verschleierung) und der Islam der Taliban? Er erzählte mir, dass Ärztinnen zwar offiziell praktizieren dürfen, aber nicht bezahlt werden, und dass der Berufsstand aufgrund dieser Situation generell Arbeitskräfte verliert.

FIGHT: Wie verbreitet ist das Phänomen der Selbstmorde?

Roya Afghan Aazad: Man darf nicht vergessen, dass dies ein Land ist, in dem es keine freien Medien gibt. Es gibt zwar einige Berichte in den sozialen Medien, aber wenn sie über solche Dinge berichten, dann anonym und ohne Ortsangabe zur Sicherheit. In den letzten Tagen hat sogar ein männlicher Journalist Selbstmord begangen, so dass wir uns vorstellen können, wie schrecklich es für Frauen sein muss. In Kabul haben die Menschen Smartphones und Internet. In den ländlichen Gebieten haben die Frauen keinen Zugang zu Informationen. Eine große Anzahl von Verbrechen, die Frauen in diesen Gebieten betreffen, wird überhaupt nicht gemeldet.

FIGHT: Dürfen Frauen und Kinder ihre Häuser ohne männlichen Vormund verlassen?

Roya Afghan Aazad: Sie sind von der Regierung angewiesen worden, einen männlichen Begleiter zu haben, auch wenn es sich um einen Minderjährigen handelt. Letzte Woche habe ich ein Video von einem weinenden Mädchen gesehen. Sie trug eine bodenlange Burka und hatte ein Exemplar des Korans bei sich. Sie sagte, ihre 19-jährige Schwester sei von der Regierung mit der Begründung abgeführt worden, dass sie den Hidschab nicht ordnungsgemäß getragen hätten. Und das, obwohl diese Mädchen eine bodenlange Burka trugen.

FIGHT: Das klingt ganz ähnlich wie die Situation im Iran. Gilt dort eine Kleiderordnung? Gilt sie für Frauen und Mädchen jeden Alters oder gibt es Ausnahmen? Und was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für afghanische Frauen, die beruflich als Journalistinnen, Lehrerinnen, Diplomatinnen, Übersetzerinnen usw. tätig waren? Können sich Frauen in Afghanistan politisch organisieren? Können sie ihre Meinung frei äußern? Gibt es Versammlungsfreiheit? Gibt es die Freiheit zu protestieren?

Roya Afghan Aazad: Es ist sehr ähnlich wie im Iran. In Afghanistan gilt die Regel: Burka für alle. Es gibt keine Ausnahmen. Alle Journalist:innen, die ausreisen konnten, haben das Land verlassen. Andere warten darauf, gerettet zu werden. Sie haben keine Arbeit. Als die Taliban die Macht übernahmen, führten sie Razzien durch, um nach allen zu suchen, die mit den USA und NGOs zusammenarbeiteten, egal ob männlich oder weiblich. Es sind grausame Videos aufgetaucht, die zeigen, wie diese Razzien durchgeführt wurden, wobei die Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen abgeführt wurden. Berufstätige Frauen haben es sehr schwer. Diejenigen, die in die Nachbarländer geflohen sind, wurden von ihren ehemaligen Arbeit„geber“:innen mit dem Versprechen, gerettet zu werden, dazu aufgefordert. Einige wurden gerettet, aber andere leiden immer noch, weil sie auf ihr Visum warten. Eine Reihe von Menschen kam mit gültigen pakistanischen Visa nach Pakistan, aber nun sind ihre Visa dort abgelaufen und sie werden als Menschen ohne Papiere betrachtet. Infolgedessen leiden sie unter der Unsicherheit von Nahrung und Unterkunft, da niemand Menschen ohne gültige Papiere eine offizielle Arbeit geben würde. Ihr Leben war in Gefahr, und wenn sie heute keine Dokumente haben, was sollen sie dann tun? Wer wird sich um sie kümmern? Sie werden erbarmungslos gezwungen, zu der Regierung zurückzukehren, vor deren Verfolgung sie geflohen sind. Wohin sollen sie gehen?

Und nein, es gibt keine Freiheit zu protestieren. Als die Taliban an die Macht kamen, gab es in großen Städten wie Kabul, Herat, Masar-e-Scharif, Dschalalabad usw. Proteste. Viele dieser Menschen wurden identifiziert, ihre Häuser wurden später durchsucht und sie wurden verhaftet. Dies wirkt abschreckend auf Formen des Widerstands. Frauen haben dann natürlich Angst vor Verhaftung und Inhaftierung.

(Anmerkung der Interviewerin: Trotz der Unterdrückung durch die Taliban gibt es in Afghanistan weiterhin Proteste. Der jüngste Fall war, als Frauen gegen die Schließung von Schönheitssalons unter dem islamistischen Regime protestierten).

FIGHT: Wie ist die Lage der Frauen, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, in Afghanistan?

Roya Afghan Aazad: Die Hazara sind eine der gut ausgebildeten Gemeinschaften in Afghanistan. Im Vergleich zu anderen Ethnien sind sie nicht konservativ. Sie waren häufig das Ziel von Bombenanschlägen. Erst letzte Woche wurde ein Viertel der Hazara in Kabul angegriffen. Sie wurden angegriffen, als die Taliban noch nicht an der Macht waren, und sie werden auch weiterhin angegriffen, wenn die Taliban an der Macht sind. Das wirft Fragen auf. In jedem Fall werden die Frauen der Gemeinschaft vom Verbot der Bildung betroffen sein. Außerdem sind die Taliban Sunnit:innen, während die Hazara Schiit:innen sind. Die religiösen Aktivitäten der Hazara, wie z. B. das Feiern ihrer Juloos (Geburtstag des Propheten Mohammed) und anderer wichtiger Tage, wurden verboten. Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht. Auch die Sikhs fliehen seit 2021 nach Indien, und nur sehr wenige bleiben im Land.

FIGHT: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es beschleunigte Visaverfahren und Ausnahmeregelungen, und das zu Recht. Leider gilt das nicht für Afghan:innen, obwohl westliche Länder direkt an dem Krieg beteiligt waren, der sie  heute zu Flüchtlingen macht. Was würdest du dazu sagen?

Roya Afghan Aazad: Diejenigen, die vorgeben, Pat:innen der Menschlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind die schlimmsten Menschenrechtsverletzer:innen. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden zeitweise ohne Visum und Pass aufgenommen. Aber wenn es um afghanische geht, wurden sie im Stich gelassen und warten nach zwei Jahren immer noch auf ein Visum. Schließlich sind die Ukrainer:innen die „zivilisierten“ Flüchtlinge. Sie sind nicht wie die Afghan:innen, Syrer:innen und Iraker:innen. Das ist Diskriminierung. Die Nationalität eines Flüchtlings sollte nicht über seinen Anspruch auf Menschenrechte entscheiden. Es gibt niemanden, die/der diese Länder für diese Diskriminierung zur Rechenschaft zieht. Die Afghan:innen sind heute Ihretwegen Flüchtlinge, aber sie sind heute nicht für sie da. Um uns Ich glaube, dass man sich um die Ukrainer:innen kümmern sollte, aber das sollte man auch. Wir sollten nicht als unzivilisiert angesehen werden.

FIGHT: Was würden Sie über die Behandlung sagen, die die pakistanische Regierung den Afghan:innen im Laufe der Jahre zuteil werden ließ?

Roya Afghan Aazad: Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und ich bin hier aufgewachsen. Als ich in der Mittelstufe war (das pakistanische Äquivalent zum Abitur), wusste ich nicht, dass ich ein Flüchtling war. Ich kannte nicht einmal die Bedeutung des Wortes Flüchtling. Als mir klar wurde, dass ich ein Flüchtling bin, begann ich mich zu fragen, ob dies nicht mein Heimatland ist, wo es wirklich ist. Ich habe mich darüber informiert und festgestellt, dass Pakistan in den Krieg in Afghanistan verwickelt war. Zuerst habe ich dem Gastland die Schuld gegeben. Aber ich bin Studentin der internationalen Beziehungen und habe einen MPhil der Universität Karatschi. Ich habe mich auch mit den Kriegsherren in Afghanistan befasst und bin zum Schluss gekommen, dass man von außen angegriffen wird, wenn man Außenstehenden die Türen seines Hauses für seine eigenen Interessen öffnet. Ich gebe den Warlords die Schuld für den Ausverkauf meines Landes. […] Eine Reihe von Akteuren ist für meine missliche Lage verantwortlich. Von den Vertretern Afghanistans wie Gulbuddin Hekmatyar, Hamid Karzai und Aschraf Ghani bis hin zu den Mudschahidin, von allen regionalen Nachbarn bis hin zu allen imperialistischen Mächten wie der UdSSR und den USA – alle Länder waren aufgrund ihrer eigenen Interessen beteiligt.

FIGHT: Wie sieht das Leben der afghanischen Flüchtlinge aus, die in die Nachbarländer geflohen sind? Nach dem, was du mir erzählst, scheint es eine hierarchische Abstufung der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan zu geben. Einige Afghan:innen durften bleiben, während andere pauschal abgeschoben werden müssen. Ist das richtig?

Roya Afghan Aazad: Es gibt Flüchtlinge in Pakistan, aber viele sind auch in den Iran gegangen. Im Iran ist es schlimmer als in Pakistan. Die afghanischen Flüchtlinge in Pakistan wurden einer Kategorisierung unterzogen, und einige dürfen immer noch bleiben. Inhaber:innen einer afghanischen Staatsbürger:innen- und einer POR-Karte besitzen grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, Unterkunft und Gesundheit. Im Iran ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Ich war noch nie im Iran, aber ich berufe mich auf Informationen, die mir Verwandte und Freund:innen von dort gegeben haben. Aber selbst afghanische Flüchtlinge ohne Papiere hatten vor Oktober 2023 Zugang zu niederen Arbeiten, mit denen sie einen Tageslohn verdienen konnten. Sie hatten auch Zugang zur Gesundheitsversorgung in Pakistan. Nach Oktober 2023 erleben wir eine beispiellose staatliche Politik. Meine Familie kam 1997 nach Pakistan und lebt seither hier. In den Jahren 2015 – 2016 fanden einige Abschiebungen statt. Aber das Ausmaß, das wir heute sehen, gab es nicht. Pakistan behauptet, diese Entscheidung aus Sicherheitsgründen getroffen zu haben. Aber sie hätten auch sehen müssen, dass viele derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeschickt werden, in Lebensgefahr sind. Flüchtlinge sind immer noch Menschen, auch wenn man die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hat.

FIGHT: Wie hat sich die Weltgemeinschaft, sowohl die Nachbarländer wie Pakistan als auch die breitere Gemeinschaft, insbesondere der Westen, deiner Meinung nach gegenüber den Afghan:innen verhalten?  Was würdest du über die Herrschaft von Aschraf Ghani und die aktuellen Sanktionen des Westens gegen Afghanistan sagen?

Roya Afghan Aazad: Unsere unmittelbaren Nachbarländer sind Pakistan und Iran. In den letzten 40 Jahren sind Flüchtlinge aus Afghanistan in diese Länder gekommen, weil die Grenze durchlässig ist, aber auch, weil sich beide Regierungen ihrer eigenen Verwicklung in die Situation in Afghanistan bewusst waren, sei es in Form der Mudschahidin oder des Kriegs gegen den Terror. In Pakistan hat man im Laufe der Jahre auch einige Flüchtlinge registriert. Diejenigen, die nach 2021 nach Pakistan kamen, wurden jedoch nicht registriert, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland flohen, weil ihr Leben bedroht war. Jetzt werden sie abgeschoben. Wie kann man jemanden abschieben, die/der in seinem Herkunftsland in Lebensgefahr ist?

In der Zwischenzeit hat die Weltgemeinschaft auch nicht viel getan. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan brach der Krieg in der Ukraine aus. Seitdem sind Ukrainer:innen die Flüchtlinge, um die sich der Westen kümmert, und alle haben die Afghan:innen vergessen. Zwei Jahre lang wurden keine Visa für die Menschen ausgestellt, die in den Ländern Pakistan und Iran festsaßen, obwohl viele Chef:innen ihren afghanischen Mitarbeiter:innen geraten hatten, vorübergehend in Pakistan Zuflucht zu suchen, da dort Visa ausgestellt würden. Nachdem Pakistan mit den Massenabschiebungen begonnen hat, wurden einigen wenigen Personen Visa ausgestellt.

Was die Sanktionen anbelangt, so erhalten die Taliban jede Woche 40 Millionen US-Dollar. Wie kann eine terroristische Organisation zwei Jahre lang überleben? Die afghanische Währung hat sich durch die Hilfe der USA und UN-Organisationen stabilisiert. Aber der US-Dollar ist dort die eigentliche Währung, und deshalb hat sich der Wechselkurs stabilisiert. Aber die ganze Hilfe gelangt in die Hände der Taliban. Als das Erdbeben in Herat ausbrach, haben mir alle meine Verwandten, die dort leben, erzählt, dass die Taliban alles nehmen, was reinkommt, und der einfache Mann bekommt die drittklassige Ware. Die Mehrzahl der Güter geht an die Taliban. Bei der Verteilung werden dann die Hazara, Turkmen:innen und Tadschik:innen diskriminiert. Die Taliban-Kämpfer erhalten die Waren, die als Hilfsgüter eingehen. Dies hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen auf die einfache Bevölkerung. Witwen leiden am meisten. Sie sind die Bedürftigsten, aber die Taliban glauben, dass Frauen keine Menschen sind. Nach ihrer Logik bilden Männer die einzige menschliche Ressource im Land.

FIGHT: Was würdest du sagen, sind die wichtigsten Forderungen der afghanischen Frauen heute? Wie können sie heute ihre Freiheit erlangen? Wie sieht der Widerstand in Afghanistan aus? Werdet ihr in irgendeiner Form von afghanischen Männern unterstützt? Wie sieht die Unterdrückung durch den Taliban-Staat aus, wenn Menschen Widerstand leisten?

Roya Afghan Aazad: Das Recht auf Arbeit und Bildung, auf ein Leben in Freiheit und auf Redefreiheit. Journalistinnen, Sängerinnen und andere künstlerische Berufe, Lehrerinnen, NGO-Mitarbeiterinnen und Bankangestellte sind von ihren Berufen ausgeschlossen. Unser Grundbedürfnis ist das Recht auf Redefreiheit, Arbeit und Bildung. Afghanische Frauen sollten das Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen. Welchem Islam die Taliban folgen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Die Frau des Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) war ebenfalls Kauffrau. Es war ihr nicht verboten zu arbeiten. Allah sagt, dass der Erwerb von Wissen für alle Muslim:innen Pflicht ist. Muslim:innen sind sowohl Männer als auch Frauen. Die Taliban vergessen das oft, und deshalb berauben sie uns der Bildung.

Wenn die internationale Gemeinschaft und die westlichen Länder Druck auf die Taliban ausüben, anstatt sie zu stärken, dann können die Rechte der Frauen gewährleistet werden. Alle Frauen, die ihre Stimme für ihre Rechte erhoben haben, wurden verhaftet. Es gibt eine Journalistin, die in Deutschland Asyl gefunden hat und deren Familie nun zur Zielscheibe wird. Diese Familie protestierte in Deutschland und forderte, dass die internationale Gemeinschaft die Geschlechterapartheid in Afghanistan anerkennt.

Leseempfehlung

Für uns ist klar: Weltweit müssen sich Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Organisationen mit den afghanischen Flüchtlingen und ihren Sit-ins solidarisieren. Dabei heißt es, klar für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle einzustehen. Wir kämpfen überall gegen Abschiebungen, ob nun in Pakistan oder Deutschland. Dabei geht es uns nicht nur darum, dass Geflüchtete bleiben können, sondern auch die gleichen Rechte erhalten – also zu arbeiten, wählen zu gehen und und nicht als Menschen 2. Klasse in den jeweiligen Ländern leben zu müssen.
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Afghanistan: 20 Jahre Krieg, Intervention, Besatzung

Martin Suchanek, Infomail 1157, 30. Juli 2021

Am 29. Juni zogen die letzten Kommandos der Bundeswehr nach fast 20 Jahren aus Afghanistan ab. Nachdem die USA den Rückzug ihrer Besatzungstruppen verkündet und vorverlegt hatten, hielt auch die deutsche Armee und die anderen NATO-Truppen nichts mehr im Land. Nach 20 Jahren Krieg und Besatzung hinterlassen sie – nicht als erste Invasionsmacht – ein ausgeblutetes Land.

Verbittert beklagen die Verbündeten des Westens den überhasteten Rückzug der NATO-Staaten. Sie fürchten, von den Taliban überrollt zu werden – und das, obwohl deren „endgültige“ Vertreibung und Vernichtung in den letzten 20 Jahren immer wieder versprochen worden war. Diese Ankündigungen der westlichen imperialistischen Mächte erwiesen sich wie zahlreiche andere vollmundige Reden über den Aufbau eines „demokratischen“ Afghanistan als leere Worte. Ernst gemeint waren sie ohnedies nie.

Vorwand

Als die USA und ihrer Verbündeten im Oktober 2001 Afghanistan angriffen, erfolgte diese Mission unter dem ideologischen Vorwand des „Krieges gegen den Terror“. Nach dem Angriff auf die Twin Towers (World Trade Center) in New York am 11. September 2001, bei dem rund 6.000 Menschen ums Leben kamen, machten die USA rasch Osama bin Laden und sein islamistisch-terroristisches al-Qaida-Netzwerk als Schuldige aus.

Da sich bin Laden zu diesem Zeitpunkt in Afghanistan aufhielt, wurde die Taliban-Regierung selbst für den Angriff mitverantwortlich gemacht und das Land zu einem Rückzugsraum für den Terrorismus erklärt.

Diese – nebenbei bemerkt sogar völkerrechtswidrige – Rechtfertigung sollte dafür herhalten, dass die USA nicht nur von al-Qaida, sondern auch von den Taliban angriffen worden wäre, was sie zu einem legitimen Ziel für einen Angriff der USA und ihrer Verbündeten machen würde.

Innerhalb weniger Tage und Wochen nutzten die US-Regierung unter Bush Jr. und seine neokonservativen BeraterInnen und StrategInnen das Entsetzen der amerikanischen Massen wie auch der internationalen Öffentlichkeit, um einen Angriff auf Afghanistan zu legitimieren, eine breite internationale Koalition zu bilden, der sich auch die rot-grüne deutsche Regierung ohne Zögern anschloss. Es gelang den USA damals, die Unterstützung fast aller Länder der Welt offen oder stillschweigend zu organisieren. Der Angriff der USA und ihrer Verbündeten wurde selbst von Ländern wie Russland und China akzeptiert. An Afghanistan angrenzende Länder (außer dem Iran) stellten Luftraum und Militärbasen zur Verfügung.

Die Kriegsziele beschränkten sich nicht auf die Vernichtung der Basen des „Terrorismus“. Der Sturz des Taliban-Regimes sollte auch eine neue Ära der Demokratie, der Menschenrechte, der Zivilgesellschaft, der Befreiung der Frauen … einläuten. Afghanistan sollte einen Regimewechsel erleben, der den Menschen auch materielle Verbesserungen und Demokratie bringen sollte.

Bis auf einige Ansätze demokratischer Verbesserungen trat nichts davon ein – und es war auch nie wirklich zu erwarten, dass diese Versprechungen erfüllt würden. Warum auch? Schließlich waren die USA und ihre westlichen Verbündeten selbst bereit gewesen, die ultrareaktionären Gotteskrieger der Mudschahedin im Kampf gegen die Regierung der Afghanischen Volkspartei und gegen die Sowjetunion zu unterstützen. Auch damals galten Demokratie und Frauenbefreiung nichts. Warum also sollte es unter US/NATO-Besatzung und einem mehr oder minder willfährigen „demokratischen“ Marionettenregime anders sein? Auf welche anderen Kräfte denn auf reaktionäre Taliban-GegnerInnen und Warlords, die selbst für Jahrzehnte von Bürgerkrieg und Verwüstung des Landes verantwortlich waren, sollte sich die westliche Besatzung im Inneren stützen?

Es gehört zu den Lebenslügen praktisch aller imperialistischen Interventionen – zumal der von westlichen Demokratien – den reaktionären und kollaborationsbereiten politischen und sozialen Kräften im Land die ausschließliche Verantwortung dafür in die Schuhe zu schieben, dass der demokratische und rechtsstaatliche Aufbau nicht so recht vorankommen will.

Grundsätzlich ging es beim Krieg den Terror auch nie darum. Die Formel diente vor allem zur Rechtfertigung von Interventionen der USA und ihrer Verbündeten, um einem umfassenderen Ziel näher zu kommen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion, in Osteuropa und China schien ein neues Zeitalter der USA-Hegemonie in Reichweite. US-StrategInnen wie Zbigniew Brzeziński formulierten das Ziel des US-Imperialismus, eine anhaltende „neue Weltordnung“ zu etablieren, in der dauerhaft das Auftauchen neuer RivalInnen um die globale Vorherrschaft verhindert werden sollte.

Diese Strategie ist, wie wir heute wissen, mit dem Aufstieg Chinas gescheitert. In den 1990er Jahren und am Beginn des 21. Jahrhunderts schien sie jedoch greifbar nahe. Die US-StrategInnen hatten in ihren Erwägungen die Kontrolle des eurasischen Raums als einen Schlüssel zur dauerhaften Vorherrschaft auf dem Globus ausgemacht. Diesem Ziel dienten der Angriff und die Invasion in Afghanistan (wie später auch Krieg und Besatzung des Irak).

Die USA und ihre Verbündeten verfolgten also in erster Linie geostrategische Ziele, die aus der Lage Afghanistans erwuchsen – nahe an den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und an China. Hinzu kamen auch wirtschaftliche Interessen im Land (Rohstoffe wie seltene Erden) und die Kontrolle über damals geplante Pipelines, die Öl aus den ehemaligen Sowjetrepubliken durch Afghanistan transportieren sollten.

Der Angriff war also Teil der US-Strategie zur Errichtung einer neuen Weltordnung. Die militärischen Angriffe wurden dabei pseudodemokratisch (Kampf für Menschenrechte) und rassistisch legitimiert als ultrareaktionärer, neokonservativer „Kampf der Kulturen“.

Damit war auch der Boden für eine staatlich forcierte Zunahme antimuslimischen und antiislamischen Rassismus bereitet, die nicht nur zur nationalistischen Mobilisierung im Inneren, sondern auch zur Rechtfertigung imperialistischer Angriffskriege und Besatzung beitragen sollte und beitrug.

Was westliche Verbünde der USA wie die Bundesrepublik betrifft, so beteiligte sie sich am Krieg und an der Besatzung natürlich auch nicht aus humanitären oder selbstlosen Gründen. Vielmehr wollten sie und die sich formierende EU bei der Neuordnung und Neuaufteilung der Welt auch ein Wörtchen mitreden – und das erforderte auch militärische Präsenz, den Aufbau und das Training einer kampfkräftigen Armee. Deutsche Interessen sollten, so der SPD-Verteidigungsminister Struck, auch am Hindukusch behauptet werden – und er verwies damit, wenn auch ungewollt, auf die neue, weltweite Ausrichtung des BRD-Imperialismus.

Rasche Eroberung – zähe Befriedung

Die USA und ihre Verbündeten konnten Afghanistan rasch erobern und teilten das Land faktisch in Besatzungszonen im Rahmen der Mission „Enduring Freedom“, die von 2001 bis 2014 dauerte. Die Die ISAF (International Security Assistance Force fungierte) als Besatzungstruppe. 2015 wurden „Enduring Freedom“ und ISAF unter dem Namen „Resolute Support Mission“ weitergeführt, deren offizielles Ziel darin bestand, die afghanischen Streitkräfte aufzubauen, zu schulen und zu befähigen, das Land ohne Besatzungstruppen zu kontrollieren.

Bestand das ursprüngliche Ziel darin, die Taliban vollständig zu vernichten, so erwies sich dies bald als unmöglich – nicht zuletzt, weil sie auch einen Rückzugsraum in Pakistan fanden und dort von Teilen des Staatsapparates gestützt wurden, der darin ein Mittel sah, selbst zu einem wesentlichen Faktor in Afghanistan zu werden.

Ab 2005/6 vermehren sich wieder Angriffe und Operationen der Taliban. Aus diesem Grund verstärkte Barack Obama in den ersten Jahren seiner Amtszeit noch einmal die Truppen und Kriegsanstrengungen der USA.

In diesen Jahren waren bis zu 130.000 Mann reguläre US-Truppen plus noch einmal so viele Sicherheitsdienste im Land stationiert, flankiert von anderen NATO-Kontingenten, darunter über 5.000 der Bundeswehr.

Barbarische Kriegsführung

Dass die Taliban nicht besiegt werden konnten, lag zwar auch daran, dass sie Rückzugsraum im unwegsamen Gelände und in Pakistan fanden. Vor allem aber lag es an zwei anderen Faktoren: a) der verheerenden, barbarischen Kriegsführung der imperialistischen Mächte; b) der Unfähigkeit und Unwilligkeit, das Land wirtschaftlich zu stabilisieren und aufzubauen.

In den 20 Jahren Krieg und Besatzung starben rund 240.000 AfghanInnen im Land oder bei Bombardements und Operationen in Pakistan.

Während die NATO-Besatzungsmächte insgesamt rund 3.500 Tote zu beklagen hatten – davon rund 2.500 die USA und 59 die Bundeswehr – so kamen rund 70.000 afghanische Sicherheitskräfte, rund 70.000 ZivilistInnen und 100.000 wirkliche oder vermeintliche KämpferInnen der Taliban um.

Wie barbarisch der Krieg geführt wurde – und zwar keineswegs nur oder in erster Linie von den Taliban – bezeugen die regelmäßigen Flächenbombardements und Luftangriffe auf wirkliche und vermeintliche Stellungen von TerroristInnen. Letztere – Angriffe auf eigentlich ZivilistInnen – ziehen sich wie ein roter Faden durch den Krieg, natürlich auch mit Beteiligung der Bundeswehr.

Den traurigen Höhepunkt solcher Schlächtereien unter nachweislicher Beteiligung deutscher Armeeangehöriger bildete der Luftangriff auf einen Tanklaster bei Kundus im September 2009, dem 142 ZivilistInnen zum Opfer fielen, weil der deutsche Oberst Klein diese irrtümlich für TerroristInnen gehalten hatte. Für dieses Kriegsverbrechen wurde bis heute niemand zur Rechenschaft gezogen. Klein wurde im April 2013 zum Brigadegeneral befördert.

Diese Art der Kriegsführung, der Tausende und Abertausende AfghanInnen zum Opfer fielen, verdeutlicht mehr als tausend Erklärungen den imperialistischen, barbarischen Charakter der Besatzung – und warum das ganze Gerede von Menschenrechten unglaubwürdig war und sein musste.

Verwüstetes Land

Auch wirtschaftlich erwies sich die westliche Besatzung als unfähig, das Land voranzubringen oder auch nur ein ökonomisch einigermaßen stabiles Vasallenregime zu errichten. Die Besatzung hat vielmehr die Rückständigkeit des Landes perpetuiert und seine Abhängigkeit verschärft.

  • Das betrifft die neoliberale Öffnung der Ökonomie für Investitionen und Gewinntransfers für ausländisches Kapital, die Einführung eines 20 %igen Flatrate-Steuersatzes und die Verdrängung einheimischer Produktion durch die ausländische Konkurrenz.
  • Die zivile Zusammenarbeit wurde zudem eng an militärische Vorgaben geknüpft, was etliche NGOs kritisierten. Faktisch kontrollierten Militärs auch die zivile und wirtschaftliche Zusammenarbeit; damit war ziviler Aufbau auch in die Besatzung integriert und verhasst.
  • Die Ökonomie stagnierte faktisch (und war schon vorher nach Jahrzehnten von Bürgerkriegen am Boden). Die Importabhängigkeit führte außerdem zu einem massiven Handelsbilanzdefizit und einer Zunahme der Auslandsverschuldung.
  • Alles dies mündete in dauerhafter und extremer Armut: Von den 38 Millionen EinwohnerInnen sind 80 % arbeitslos oder gehen einer Arbeit nach, die nicht existenzsichernd ist. Rund 60 % der Kinder leiden unter Mangelernährung. Wie zur Zeit der Taliban-Herrschaft lebt heute etwas die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Nur rund ein Viertel der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser.
  • Krieg und Verfall der Agrarproduktion führten zu einer massiven Flucht- und Migrationsbewegung vom Land in die Städte. Das Wachstum der Städte ist v. a. eines der Slums, wo heute geschätzte 86 % der urbanen Bevölkerung leben.
  • Der Krieg machte rund 7 Millionen zu Geflüchteten, davon 4 Millionen Binnenflüchtlinge. Die 3 Millionen, die ins Ausland flohen, leben zur Zeit vor allem in Pakistan und im Iran. Die westlichen Demokratien verweigern den meisten Menschen den Zugang oder schieben sie gar weiter ab.
  • Die „Demokratie“ steht naturgemäß auf wackeligen Beinen. Sie ist wenig mehr als eine Form der Aufteilung der Pfründe zwischen nationalistischen, reaktionären Eliten und Warlords. Staatliche Institutionen, Armee, Sicherheitskräfte werden von diesen Kräften dominiert, kassieren deren Beute.
  • Seit 2014 stellt die Besatzungspolitik im Grunde die Verwaltung eines Desasters dar.

Abzug

Der Abzug unter Biden, dem sich auch alle anderen Besatzungstruppen anschlossen, kommt letztlich nicht überraschend. Überraschend war nur seine überhastete Art.

Finanziell erwies sich die gesamte Operation als kostspielig und Fass ohne Boden. Allein die USA kosteten die Besatzung, die militärischen Operationen und damit verbundene Ausgaben in den letzten 20 Jahren rund 2.261 Milliarden (=2,2 Billionen) US-Dollar. Deutschland hat nach offiziellen Zahlen 12,5 Milliarden Euro für den Bundeswehreinsatz verbraten. Die Gesamtkosten dürften aber deutlich höher liegen.

Für die NATO-Mächte geht es jedoch vor allem um die politische Bilanz des Krieges. Und die ist negativ. Der Abzug der USA und ihrer Verbündeten ist der gescheiterter imperialistischer Mächte. Er stellt eine Niederlage dar, auch wenn die US-Regierung unter Biden und ihre Verbündeten das gern beschönigen wollen. Für die Bundeswehr und die Bundesregierung bleibt unterm Strich immerhin das zweifelhafte Plus, dass die Streitkräfte fitter für imperialistische Interventionen, für Kampfeinsätze und für das Töten geworden sind – also vorbereitet für weiter Auslandseinsätze wie z. B. in Mali.

Insgesamt bedeutet der Rückzug eine Niederlage in mehrfacher Hinsicht:

  • Er verdeutlicht, dass die USA und ihre Verbündeten nicht in der Lage waren, Afghanistan in ihrem Interesse neu zu ordnen. Sie konnten die Marionettenregierung nicht stabilisieren und auch keine Machtteilung mit den Taliban organisieren. Natürlich werden vor allem die USA, ihre Marine, ihre Luftwaffe und Spezialkräfte weiter eine Rolle spielen – aber letztlich keine dominierende.
  • Ob die Taliban das gesamte Land einnehmen oder zu einem Kompromiss mit der Regierung kommen, hängt natürlich nicht nur vom militärischen Kräfteverhältnis ab, sondern auch davon, wie andere Mächte – vor allem China und Russland, aber auch wichtige regionale Player wie Pakistan oder Iran und die Türkei – agieren.
  • Für sie bietet der Abzug der USA eine Chance – andererseits fürchten auch sie eine weitere Destabilisierung des Landes und einen Zerfall. Vor allem China hat den „überhasteten“ Abzug der USA kritisiert, weil es die wirtschaftlichen und politischen Unwägbarkeiten der Lage fürchtet. Für sein Projekt der „Neuen Seidenstraße“ kann China keinen Bürgerkrieg brauchen und auch keine reine Tabilan-Herrschaft, zumal diese auch Verbindungen zu den national unterdrückten UigurInnen unterhalten. Pakistan kommt somit als vom chinesischen Imperialismus mehr und mehr dominierter Halbkolonie eine wichtige Rolle für eine etwaige Neuordnung des Landes zu – wobei jedoch verschiedene Kräfte im pakistanischen Staatsapparat unterschiedliche Ausrichtungen im Land verfolgen.
  • Auch wenn die Zukunft des Landes schwer genau vorhersehbar ist, so können wir von weiterer Instabilität ausgehen, die ihrerseits selbst eine Folge der reaktionären Besatzung sein wird, die keines der Probleme des Landes zu lösen vermochte.

Was tun?

Die Besatzung hat zu einer Situation geführt, die für die afghanischen Massen als hoffnungslos erscheint. Es droht eine Machtübernahme und brutale Diktatur für die ArbeiterInnen, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die Intelligenz, alle säkularen Kräfte, vor allem für Frauen, aber auch ethnische, nationale und religiöse Minderheiten.

Die Kriegsführung, die räuberische Plünderung des Landes wie auch die Form des Abzuges, das Fallenlassen der ehemaligen Beschäftigen der NATO-Kräfte wie der Bundeswehr zeigen, dass sich die afghanische Bevölkerung auf diese „westlichen FreundInnen“ nicht verlassen darf. Sie hat schon jetzt einen viel zu hohen Preis für falsche Hoffnungen in diese bezahlt.

Ebenso wenig sollte sie freilich anderen Mächten wie China und Russland oder Pakistan vertrauen. Auch für diese geht es nur um ökonomische und geostrategische Interessen.

Schließlich sollten die Massen auch keine Hoffnungen in die Regierung oder in den Präsident Ghani hegen – auch ihnen dienen Demokratie oder Frauenrechte allenfalls als Verhandlungsmasse mit den Taliban.

Es gibt jedoch eine städtische ArbeiterInnenklasse – vor allem ein riesiges Subproletariat –, eine Bauern-/Bäuerinnenschaft, eine lohnabhängige Intelligenz, Ansätze von Gewerkschaften, Frauenorganisationen, die ihr Schicksal auch unter diesen Umständen in die eigenen Hände nehmen können und müssen.

Dazu müssen sie die Bewaffnung der Massen, vor allem der ArbeiterInnen, der Bauern und Bäuerinnen, der Frauen, der Minderheiten fordern; sie müssen von einfachen SoldatInnen fordern, Soldatenkomitees zu bilden, die dies unterstützen und mithelfen, das zu erzwingen.

In den Städten und auf dem Land müssen Aktionsräte gebildet und koordiniert werden, die die Verteidigung gegen Angriffe der Taliban, aber auch gegen andere reaktionäre Kräfte organisieren.

Auf diesem Weg können Organe der Selbstorganisation der Massen aufgebaut werden, die auch eine Alternative zum bestehenden korrupten, reaktionären und repressiven Staatsapparat und zur herrschenden Klasse des Landes darstellen. So wichtig dabei Fragen der Selbstverteidigung, der Sicherung und Ausweitung demokratischer Rechte sind, so müssen diese mit sozialen Fragen und der Kontrolle der Verteilung knapper Güter in Stadt und Land verbunden sein. Die Kontrolle über Hilfsgelder, über die Rohstoffe, die bestehende Produktion und die Umsetzung eines Notplans zur Versorgung der Bevölkerung sind unmöglich ohne die Enteignung aller kapitalistischen Großunternehmen, aller ausländischen InvestorInnen (ob aus den USA, Europa oder China), ohne Streichung der Auslandschulden.

Diese Forderungen müssen auch alle InternationalistInnen, alle linken, demokratischen und ArbeiterInnenorganisationen weltweit und vor allem in den Ländern erheben, die Afghanistan über Jahrzehnte ruiniert und verwüstet haben. Die USA, Deutschland und die anderen NATO-Staaten müssen gezwungen werden, die Kosten für den Wiederaufbau zu zahlen – und zwar ohne Bedingungen. Zugleich müssen die Lohnabhängigen, die Frauen, die Bauern-/Bäuerinnenschaft in Afghanistan kontrollieren, wofür diese Mittel verwendet werden. Diese Kontrolle kann letztlich nur dann von Dauer sein kann, wenn Selbstverteidigungsorgane und Räte selbst die Macht übernehmen und eine auf diese gestützte ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung bilden. Nur so kann das Land aus dem Teufelskreis von Reaktion und imperialistischer Besatzung und Plünderung gerissen werden.