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Palästina/Israel: Widerstand gegen Israels Unterdrückung vereinen!

Alex Rutherford, Neue Internationale 272, April 2023

Der Besuch des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in Großbritannien (und Deutschland) fand zu einer Zeit statt, in der die Brutalität des israelischen Apartheidstaates einen weiteren Höhepunkt erreicht. Im Jahr 2023 wurden bisher mindestens 83 Palästinenser:innen von den israelischen Verteidigungskräften (IDF) und verschiedenen bewaffneten Siedler:innengruppen getötet.

Die Gewalt geht einher mit Angriffen der israelischen Regierung auf die vermeintlich demokratische Verfassung des Landes, einschließlich der Unabhängigkeit der Justiz.

Diese miteinander verknüpften Faktoren haben zu einem Aufschwung des Widerstands gegen den israelischen Staat sowohl in der israelischen als auch in der palästinensischen Bevölkerung geführt. Sie haben auch zu einem ungewöhnlichen Anblick auf den Straßen Londons geführt – Menschenmassen von israelischen und palästinensischen Demonstrant:innen, die gegen einen gemeinsamen Feind demonstrieren – wenn auch mit deutlich unterschiedlichen Slogans.

Entwicklung seit Jahresbeginn

Nach dem Massaker vom 26. Januar in Dschenin führten israelische Streitkräfte am 6. Februar eine Razzia in Jericho durch, bei der fünf Palästinenser:innen getötet wurden und die zu Massenprotesten führte. Am nächsten Tag ermordeten IDF-Kräfte einen 17-jährigen Palästinenser. An Reaktion darauf rammte am 10. Februar ein palästinensischer Autofahrer sein Fahrzeug in eine Menschenmenge, die an einer Bushaltestelle in Jerusalem wartete; drei israelische Zivilist:innen starben dabei. Vier Tage später führten israelische Streitkräfte eine Razzia in einem Flüchtlingslager in der Nähe der palästinensischen Stadt Tubas durch, bei der ein palästinensisches Kind getötet wurde.

Am 22. Februar verübten die IDF ein weiteres Massaker, diesmal in der Stadt Nablus im Westjordanland, bei dem 11 Einwohner:innen getötet und mehr als 100 verwundet wurden. Am 26. Februar eröffnete ein Palästinenser an einer Verkehrskreuzung das Feuer und brachte zwei israelische Siedler:innen um.

Stunden später randalierten mehr als hundert israelische Siedler:innen in palästinensischen Dörfern in der Umgebung von Nablus, was die palästinensischen Behörden als „Pogrom“ bezeichneten. Bei dem Angriff wurden Häuser, Geschäfte und Autos in Brand gesetzt, 390 Zivilist:innen verletzt und Samih al-Aqtash, ein Vater von fünf Kindern, erschossen. Dorfbewohner:innen berichteten, dass IDF-Kräfte anwesend waren und nichts unternahmen, um sie zu stoppen. Am nächsten Tag wurden Hunderte weiterer israelischer Truppen in das Westjordanland entsandt.

Ein weiterer Angriff von israelischen Siedler:innen ereignete sich am 6. März in Huwara, als sie eine palästinensische Familie mit Steinen und einer Axt  attackierten. Am 7. März folgte ein weiterer israelischer Überfall in Dschenin.

Am 8. März zeigte ein Generalstreik in den palästinensischen Städten Nablus, Dschenin und Ramallah das Ausmaß der Empörung der Arbeiter:innenklasse über die Gewalt. In der darauf folgenden Woche, am 9. und 16. März, fanden jedoch zwei weitere israelische Razzien statt.

Die zunehmende Gewalt, die nicht nur von offiziellen staatlichen Kräften, sondern auch von bewaffneten Siedler:innenbanden ausgeht, weist alarmierende Ähnlichkeiten mit der Art von staatlich geförderter Gewalt auf, die die jüdische Bevölkerung in Europa im 20. Jahrhundert erleben musste und die im Holocaust gipfelte. Dies spiegelt sich auch in dem wütenden antipalästinensischen Rassismus wider, den die derzeitige israelische Regierung an den Tag legt.

Das Argument, dass das Pogrom und andere Gewalttaten von Siedler:innen gegen Palästinenser:innen in irgendeiner Weise durch die israelische Wut über palästinensische Terrorakte gerechtfertigt oder zumindest milder beurteilt werden müssen, kann leicht zurückgewiesen werden.

Die Gewalt der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker:innen kann in keiner Weise mit der Barbarei der militärischen und zivilen Besatzungstruppen gleichgesetzt werden. Revolutionäre Kommunist:innen müssen an der Seite der palästinensischen Widerstandsbewegung und der arbeitenden Massen in ihrem Kampf gegen den rassistischen israelischen Siedler:innenkolonialstaat stehen, während sie gleichzeitig die Ideologie, Strategie und Taktik der Führerung der Bewegung schonungslos kritisieren.

Verfassungskrise

Es ist klar, dass sich Israel unter der mit Rechtsextremen besetzten Regierung Netanjahu auf ein unverhohlen autoritäres Regime zubewegt, nicht nur für seine palästinensischen, sondern auch für seine jüdischen israelischen Bürger:innen. Auch wenn es sich nicht, wie manche behaupten, um einen faschistischen Staat handelt, sind die jüngsten Schritte zur Beschneidung der verfassungsmäßigen Befugnisse des Obersten Gerichtshofs bedrohlich.

Solche Schritte entlarven weiter die Falschheit der Behauptung, Israel sei seit seiner Gründung eine „liberale Demokratie“. Wie kann dies der Fall sein, wenn es Millionen von Palästinenser:innen, die in den besetzten Gebieten und Flüchtlingslagern an den Grenzen Israels leben, systematisch elementare demokratische Rechte verweigert? Deren Aushöhlung für jüdische Israelis ist letztlich eine unvermeidliche Folge eines solchen Regimes.

Der Aufstieg des extremistischen jüdisch-israelischen Nationalismus innerhalb des israelischen Staatsapparats und die derzeitige Vorherrschaft rechter Demagog:innen in der Exekutive spiegeln den Vormarsch einer virulenten Ideologie innerhalb der Siedler:innenbevölkerung selbst wider.

Die jüdische Vorherrschaftsideologie von Regierungsmitgliedern wie Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich ist in hohem Maße repräsentativ für die Mehrheitsmeinung in den illegalen israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland.

Dies wiederum hat seine materielle Grundlage in der Segregation und Unterdrückung der Palästinenser:innen innerhalb des Apartheidstaates und dem zunehmenden palästinensischen Widerstand gegen diese Unterdrückung.

Die offensichtliche Brutalität und der Autoritarismus des neuen Regimes schaffen jedoch einen Widerspruch zwischen den wütenden zionistischen Kräften in Israel, deren Annäherung an eine pogromistische Politik gegenüber den Palästinenser:innen immer deutlicher wird, und den liberalen Zionist:innen sowohl in Israel als auch in Großbritannien, der EU und den USA, den wichtigsten imperialistischen Unterstützer:innen des Regimes.

Diese liberalen zionistischen Kräfte wollen ihre Verteidigung Israels als demokratischen Staat rechtfertigen – eine Propaganda, die mit jeder neuen Gräueltat des Regimes zunehmend diskreditiert wird.

Innerer Widerspruch des liberalen Zionismus

Darin spiegelt sich ein tieferer Widerspruch zwischen der angeblich befreienden Ideologie, dem jüdischen Volk eine sichere „Heimat“ zu bieten, und der brutalen Realität, ein ganzes Volk aus seinem eigenen Land zu vertreiben und es neu zu besiedeln. Dieser Zwiespalt verursacht enorme Probleme für die westlichen Unterstützer:innen des Zionismus, die versuchen, die Herzen und Köpfe der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern zu gewinnen.

Diesen gelingt es in der Regel, große Teile dieser Arbeiter:innenschaft in eine stillschweigende Unterstützung der liberal-zionistischen Ideologie einzulullen, solange die Brutalität des israelischen Staates von den Medien und Politiker:innen verdeckt wird. In Großbritannien ist der liberale Zionismus in den letzten Jahren in die politische Offensive gegangen, nachdem seine Behauptungen über weit verbreiteten Antisemitismus eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Zerstörung der Corbyn- und der wirksamen Unterdrückung der BDS-Bewegung gespielt haben. In Deutschland wurde die „bedingungslose Solidarität“ mit Israel zu einem Bestandteil der Staatsräson, der sich letztlich auch die Linkspartei unterordnet.

Die offenen Angriffe des israelischen Staates auf die rechtsstaatliche Demokratie und eine sich dagegen entwickelnde Protestbewegung eines großen Teils der jüdischen israelischen Bevölkerung, einschließlich der Weigerung von IDF-Reservesoldat:innen, ihren Dienst zu verrichten, wurden bisher strikt im Rahmen einer liberalen, rechtsstaatlich-demokratischen Bewegung durchgeführt, die Palästinenser:innen von einer wirksamen Beteiligung ausschließt und auch palästinensische Flaggen bei Demonstrationen in Israel verbietet.

Die linkszionistische Ideologie der Protestbewegung verengt ihren politischen Horizont und schließt die Perspektive der Einheit mit den Millionen von unterdrückten und enteigneten Palästinenser:innen aus. Obwohl 200.000 linkszionistische Demonstrant:innen gegen die Verfassungsreform auf die Straße gingen, kamen nur 1.000 jüdische Israelis, um gegen das Pogrom vom 22. Februar zu protestieren.

Während Sozialist:innen diesen mutigen Demonstrant:innen ihre Solidarität bekunden sollten, ist dies nur ein Anfang. Israelische und palästinensische Sozialist:innen müssen dringend Solidarität mit den Arbeiter:innen und Jugendlichen ausüben, die in der Netanjahu-Regierung und den Siedler:innenpogromen einen gemeinsamen Feind erkennen. Wenn eine neue Intifada wächst, braucht sie internationalistische israelische Unterstützung und breite internationale Rückendeckung, insbesondere im imperialistischen Europa und den USA. Nur so können die Fundamente des Apartheidstaates untergraben und das Ziel eines binationalen, demokratischen, sozialistischen Palästinas realisierbar werden.

Der palästinensische Widerstand

Die zunehmende Repression durch die israelischen Streitkräfte ist Teil einer Kampagne mit der offiziellen Bezeichnung „Break the Wave (Wellenbrecher)“, die Massenverhaftungen und Tötungen in Städten des Westjordanlands vorsieht, die als Zentren des palästinensischen Widerstands bekannt sind und sich insbesondere gegen bewaffnete Gruppen wie die al-Quds-Brigaden des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) und die al-Aqsa-Märtyrer:innenbrigaden der Fatah richten.

Obwohl die Kampagne darauf abzielt, den Widerstand zu brechen, hat sie in Wirklichkeit den gegenteiligen Effekt, indem sie den Widerstand gegen die Besatzung innerhalb Palästinas verstärkt. Bei der Beerdigung von palästinensischen Kämpfer:innen, die bei der israelischen Razzia in Dschenin am 7. März getötet wurden, war die Zahl der bewaffneten Menschen auffallend hoch, und die Fahnen der verschiedenen Fraktionen der Widerstandsbewegung waren miteinander vermischt.

Diese Gruppierungen organisieren den bewaffneten Widerstand gegen den israelischen Staat, aber auch gegen ihre Kollaborateur:innen, die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA), die es seit fünfzehn Jahren nicht gewagt hat, Wahlen auszurufen. Die Anwesenheit von Kämpfer:innen, die nominell mit der Fatah, der dominierenden Gruppierung in der PNA, verbunden sind, zeigt, dass sich die Spaltung in ihren Reihen vertieft.

Während die Zahl der Todesopfer durch die Gräueltaten der israelischen Streitkräfte und der zivilen Siedler:innen steigt, sind die Mitschuld der Palästinensischen Autonomiebehörde an der Unterdrückung des palästinensischen Volkes und ihre Unterwürfigkeit gegenüber dem israelischen Staat für viele in der Widerstandsbewegung deutlich geworden.

Obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde ursprünglich nur als Übergangsregierung für einen Zeitraum von fünf Jahren vor der Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates gedacht war, hat sie fast drei Jahrzehnte nach der Unterzeichnung der Osloer Abkommen nichts getan, um die politischen und gesetzlichen Rechte der palästinensischen Bürger:innen zu fördern – im Gegenteil, der Lebensstandard der Palästinenser:innen ist weiter gesunken.

Israel hat seine Apartheidpolitik weiter vertieft, und der israelische Staat, der schon immer auf den Grundsätzen des Kolonialismus beruhte, hat sich selten so offen entschlossen gezeigt, die Zerstörung der Palästinenser:innen als souveräne nationale Gemeinschaft, die in ihrem eigenen Land lebt, zu vollenden. Da es der PNA nicht gelungen ist, nennenswerte Verbesserungen für die eigene Bevölkerung zu erreichen, ganz zu schweigen von der utopischen Zwei-Staaten-Lösung, hat sie ihre politische Autorität innerhalb der Widerstandsbewegung verloren, während die Aktivist:innen nach wirksamen Antworten auf ihre brennenden Probleme suchen.

Damit die PNA ihre relativ privilegierte Stellung durch die Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung aufrechterhalten kann, muss sie sich als legitimer politischer Ausdruck des palästinensischen Volkes darstellen. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird durch die Entwicklung einer unabhängigen Widerstandsbewegung bedroht, die sie nicht kontrollieren kann. Sie muss daher mit allen Mitteln gegen die unabhängige Organisation des palästinensischen Bevölkerung vorgehen.

Die israelische Militärkampagne hat keineswegs „die Welle gebrochen“, sondern im Gegenteil die Woge des Widerstands noch verstärkt, da überall in den besetzten Gebieten neue „Brigaden“ von palästinensischen Widerstandskämpfer:innen entstanden sind. Diese unterscheiden sich jedoch deutlich von den Gruppierungen, aus denen sich die bewaffnete Widerstandsbewegung in jüngster Vergangenheit zusammensetzte. Die Brigaden stützen sich nicht auf eine bestimmte religiöse Ideologie, sondern sind in lokalen Gemeinschaften wie Dschenin, Nablus und Tubas verwurzelt.

Veränderung der Kräfte

In Nablus war eines der populären Gesichter der bewaffneten palästinensischen Widerstandsbewegung der 19-jährige Ibrahim al-Nabulsi, ein Kämpfer der al-Aqsa-MärtyrerInnenbrigaden, der als „Löwe von Nablus“ bekannt war. Er wurde am 9. August getötet und wurde zum Symbol für eine neue bewaffnete Widerstandsgruppe, die als „Höhle des Löwen“ bekannt ist und durch die die wachsende Wut ihren politischen Ausdruck findet.

Diese Bewegung, die ausdrücklich dazu aufruft, dem Fraktionsdenken innerhalb der Widerstandsbewegung ein Ende zu setzen, steht offenbar nicht unter der Kontrolle der traditionellen Fraktionen des palästinensischen Widerstands, was für Israel sehr gefährlich ist, da es selbst die Fähigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde, als Gendarm im Westjordanland zu agieren, unerbittlich untergräbt.

In allen palästinensischen Vierteln in den besetzten Gebieten finden sich jetzt die Insignien der Löwenhöhle. Eine kürzlich vom Palästinensischen Zentrum für Politik- und Umfrageforschung durchgeführte Meinungserhebung ergab, dass 72 % aller Palästinenser:innen die Gründung weiterer bewaffneter Widerstandsgruppen im Westjordanland unterstützen, 79 % die Auslieferung von Militanten an die PA-Kräfte ablehnen und 87 % die Vorstellung zurückweisen, dass die PA das Recht hat, Verhaftungen vorzunehmen.

Die Parole der Einheit, die von der Höhle des Löwen ausgegeben wurde, ist richtig. Die Koordination zwischen den verschiedenen Fraktionen des Widerstands wird entscheidend sein, um einen wirksamen Kampf gegen die israelische Offensive zu führen. Die derzeitigen Anzeichen deuten darauf hin, dass es im Westjordanland zu einem bewaffneten Massenaufstand kommt, wie er seit der Zweiten Intifada von 2000 – 2005 nicht mehr stattgefunden hat.

Was jedoch die gegenwärtige Situation von diesem früheren Kampf unterscheidet (abgesehen von der enormen Verschärfung der Unterdrückung und des Landraubs in den dazwischen liegenden Jahren), ist die politische Position der PNA. Während der Zweiten Intifada unterstützten ihre Sicherheitskräfte den Aufstand, und die PNA genoss in der gesamten palästinensischen Gesellschaft noch breite Unterstützung. Da die PNA nun rundum diskreditiert ist, da sie nicht mehr in der Lage ist, auch nur symbolischen Widerstand gegen die Besatzung zu leisten, wird sich die Dritte Intifada stattdessen auf die Basisorganisation der palästinensischen Bevölkerung selbst stützen müssen.

Welche Führung, welche Strategie?

Leider sind sowohl die palästinensischen als auch die israelischen Arbeiter:innenmassen von schädlichen Ideologien beeinflusst, die die Entwicklung ihrer Bewegung zu einer wirklich selbstbewussten sozialistischen behindern, die in der Lage ist, den zionistischen Apartheidstaat zu stürzen und eine säkulare, sozialistische demokratische Republik in Palästina zu errichten.

Auf der jüdischen Seite hindert die reaktionäre Ideologie des Zionismus selbst jene jüdischen Arbeiter:innen, die die Brutalität ihrer eigenen Regierung erkennen, daran, eine konsequente befreiende Politik zu vertreten.

Auf palästinenischer Seite führt die schein-radikale, aber reaktionäre Ideologie des Islamismus dazu, dass die Widerstandsbewegung unter den Einfluss religiöser Fanatiker:innen gerät und in dschihadistische und individualterroristische Taktiken abgleitet, die eine Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten zur Folge haben und auch zum „Märtyrer:innentod“ der entschlossensten Kämpfer:innen führen.

Während wir unsere volle Unterstützung und Solidarität mit dem berechtigten Widerstandskampf der Palästinenser:innen zeigen müssen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre politische Unabhängigkeit von diesen Führungen erringen und die Fehler ihrer Strategie aufzeigen, um die Massen von ihren Ideologien zu lösen und den Weg für die Entwicklung einer wirklich sozialistischen Massenbewegung der palästinensischen und israelischen Arbeiter:innenklassen zu öffnen.

Wir müssen die Perspektive einer gemeinsamen revolutionären Partei für ganz Palästina aufzeigen, die die palästinensischen Arbeiter:innen mit dem fortschrittlichsten Teil der israelischen Arbeiter:innen hinter einem gemeinsamen Programm für den Sturz des israelischen kapitalistischen Staates und seine Ersetzung durch eine gemeinsame säkulare, demokratische, sozialistische Republik Palästina, in der alle Bürger:innen gleiche Rechte haben, vereint – als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens.




Frauen und die Revolution im Iran

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken.

Über 500 Menschen wurden von den bewaffneten Kräften der Staatsmacht, von Polizei, Geheimdiensten oder den sog. Revolutionswächtern, ermordet. Tausende wurden verletzt, über 20.000 festgenommen. Seit Monaten werden Aktivist:innen der Bewegung und bekannte Oppositionelle nach Schauprozessen öffentlichkeitswirksam hingerichtet, um die Massen einzuschüchtern und die Anhänger:innen des Regimes zu stärken.

Nach Monaten des heroischen Kampfes droht die Bewegung, durch die Konterrevolution der Mullahs zerschlagen zu werden. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, wird dieser „Sieg“ nicht von Dauer sein. Sie können zwar möglicherweise den Protest niederschlagen – die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime, die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Eine Revolution der Frauen

In den letzten Jahrzehnten erschütterten immer wieder Massenproteste den Iran. 2009, bei der sog. grünen Revolution, bildeten vor allem die städtischen Mittelschichten – Intellektuelle, das Kleinbürger:innentum sowie reformorientierte Unternehmerschichten, die ihre Hoffnungen in den damaligen Präsidentschaftskandidaten Chātami setzten – die soziale Basis der Bewegung.

2017 und vor allem 2019 änderte sich die Lage. Die „Unterschichten“, d. h. vor allem die Arbeiter:innenklasse, schwangen sich zur sozialen Trägerin des Kampfes auf. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes waren bei den Massen verflogen. Umso drängender rückten die sozialen Fragen in den Vordergrund.

2022 standen von Beginn an Frauen, Studierende und die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten im Zentrum.

Natürlich wurde dies auch durch den Mord an einer jungen Kurdin, Jina Mahsa Amini, durch die „Sittenpolizei“ befördert. Dass die Protestbewegung vor allem von jungen Frauen und Studentinnen getragen und vorangetrieben, sie mit gewissem Recht als feministische Revolution bezeichnet wurde, verweist auf tiefere gesellschaftliche Ursachen.

Frauen, Arbeit und Bildung

Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft und Unterdrückung ging mit einer widersprüchlichen, teilweise geradezu paradoxen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen, teilweise auch in der Arbeitswelt einher.

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und insbesondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Nach unterschiedlichen Schätzungen leben 35 – 50 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend angesichts von massiver Inflation und ökonomischer Stagnation.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. So liegt der Anteil von Frauen an den Beschäftigten noch immer bei nur 17,26 % (er überstieg in der Islamischen Republik nie 20 %). Auch wenn dies den realen Anteil der Erwerbsarbeit von Frauen nicht reflektiert, weil ein großer Teil der in der Landwirtschaft Beschäftigten (Schätzungen gehen davon aus, dass rund 60 % der Arbeit auf dem Dorf von Frauen erledigt wird) wie auch nicht offiziell registrierte Beschäftigung rausfallen, werden Frauen auf dem Arbeitsmarkt schon nach amtlichen Zahlen massiv diskriminiert.

Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen (https://de.theglobaleconomy.com/Iran/) mit offiziell 18,96 % im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89 %). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21 %. Mit fast 89 % extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen.

Die Anzahl studierender Frauen ist seit Jahren vielen Mullahs an Dorn im Auge. Unter dem erzkonservativen Einpeitscher Ahmadineschād wurde nicht nur auf propagandistischer und ideologischer Ebene gegen diesen „Auswuchs“ angegangen, sondern wurden auch Männerquoten in verschiedenen, vor allem technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen eingeführt. Der „Erfolg“ war mäßig, da selbst regimetreue, sozial-konservative Väter (einschließlich hoher Kleriker) aller reaktionären Gesinnung zum Trotz ihre Töchter an die Unis schicken und gut ausgebildet haben wollten.

Die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nimmt daher viel stärker die Form der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt an.

Für beschäftigte Arbeiterinnen kommt „natürlich“ auch noch Sexismus am Arbeitsplatz hinzu. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist, so dass dieser einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet.

Von der halben Revolution zur ganzen Konterrevolution

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Anders als heute gern von den bürgerlichen Medien vereinfacht dargestellt wird, war die iranische Revolution zu Beginn am Ende der 1970er Jahre keineswegs eine „islamische“.

Im Kampf gegen das Schahregime stellten die Linken, die Arbeiter:innenklasse und auch eine starke Frauenbewegung eine zentrale Kraft dar. Politisch kann die iranische Revolution als Kampf dreier Kräfte betrachtet werden. Erstens das prowestliche despotische Schahregime, das sich auf den Imperialismus, den iranischen Staatsapparat und einen Teil der herrschenden Klasse stützte, zweitens die von liberalen, mehr und mehr aber auch von den lslamist:innen vertretene oppositionelle Bourgeoisie und Mittelklasse.

Schließlich die Arbeiter:innenschaft und bäuerliche Schichten. Sie bildeten nicht nur eine zentrale Kraft beim Sturz des Schah, sondern die Arbeiter:innenklasse errichtete auch Formen der Doppelmacht, vor allem in verstaatlichten Betrieben und auf den Ölfeldern (Schoras = Räte).

Aber die stalinistische Doktrin der iranischen Linken erwies sich selbst als Hindernis für die Revolution. Gemäß ihrer Vorstellung war das Land für eine sozialistische Umwälzung noch nicht reif, vielmehr stünde als nächste Etappe eine antiimperialistische, bürgerliche Revolution an, die die „nationale Bourgeoisie“ zuerst an die Macht bringen müsste. Vor diesem Hintergrund wurden Khomeini und seinen Anhänger:innen als Verkörperung der antimonarchischen, nationalen Revolution betrachtet.

Politisch bedeutete dies, die Interessen der Arbeiter:innenklasse wie aller Unterdrückten – und das hieß vor allem jene der Frauen – denen der „nationalen“ Bourgeoisie und damit den Islamist:innen unterzuordnen.

Dies und die eng mit ihnen verbundenen Sektoren der Kapitalist:innenklasse, insbesondere die in Teheran ansässigen Handelskapitale (Bazaris), hatten ihrerseits längst die Linke und die Arbeiter:innenklasse als unversöhnlichen Gegnerinnen ausgemacht. Das lag nicht zuletzt auch an deren Stärke. Die Eroberung des Flughafens Teheran durch bewaffnete Guerillaeinheiten, die die Armee vertrieben, und die Errichtung von Arbeiter:innenräten beunruhigten alle kapitalistischen und reaktionären Kräfte. Zu Recht fürchteten sie (wie auch die westlichen Regierungen), dass die Revolution auch die Eigentumsverhältnisse in Fragen stellen könnte.

Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass eine solche, ihrem Wesen nach sozialistische Revolution gesiegt hätte. Aber die Unterordnung der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft unter die herrschende Klasse konnte ihrerseits nur zum Sieg der Konterrevolution führen. Khomeini und die islamistischen Kräfte vernichteten alle Kräfte der Arbeiter:innenbewegung und der demokratischen Opposition – einschließlich vieler, die ihn als „Antiimperialisten“ gepriesen hatten. Tausende und Abertausende wurden gefoltert, liquidiert oder „verschwanden“. Die Arbeiter:innenklasse erlitt eine historische Niederlage. Die halbe, im Kampf um die Demokratie stehengebliebene Revolution endete mit einer ganzen Konterrevolution.

Konterrevolution und Entrechtung

Deren Sieg bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft.

Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, as islamische Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage. Hier einige zentrale Folgen für die Frauen:

  • Frauen sind strengen Kleidervorschriften, die u. a. die Zwangsverschleierung umfassen, unterworfen.

  • Frauen sind vor Gericht den Männern nicht gleichgestellt. Ihre Aussage zählt nur halb so viel wie die eines Mannes. In manchen Fällen sind sie erst gar nicht als Zeuginnen zugelassen.

  • Frauen sind von bestimmten Berufen (Armee, Richterinnen) ausgeschlossen.

  • Frauen benötigten für Arbeit, Reisen und Scheidung das Einverständnis ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder.

  • Sie haben faktisch keinen Anspruch auf Sorgerecht.

  • Das Mindestalter für Ehen und die volle Strafmündigkeit wurde bei Mädchen auf neun Jahre heruntergesetzt, Abtreibungen wurden verboten.

  • Männer haben das „Recht“, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau gewaltsam durchzusetzen. Vergewaltigung in der Ehe ist daher legal.

  • Geschlechtertrennung wurde in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens eingeführt, zum Beispiel im Personennahverkehr, beim Sport, in Bildungsinstitutionen und bei der Gesundheitsversorgung.

Die meisten dieser Maßnahmen wurden im Zuge der „kulturellen Revolution“ der Mullahs in den Jahren 1980 – 1983 eingeführt, in einer Art konzertierter Aktion zur Auslöschung aller Errungenschaft der Frauen. Auch wenn einige wenige Gesetze seither etwas gelockert wurden, blieb das System der institutionellen Unterdrückung bis heute intakt und stellt einen Eckpfeiler der klerikalen Diktatur dar.

Diese Form begünstigt Sexismus und Gewalt bis hin zu Femi(ni)ziden in Familien, in der Öffentlichkeit und durch staatliche Repressionsorgane. So sind Folter, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen durch Pasdaran (Iranische Revolutionsgrade), Sittenpolizei und andere Reaktionswächter weit verbreitet. Im Extremfall wurden Vergewaltigungen vor Hinrichtungen sogar durch sog. „Zeitehen“ gegen den Willen der Frauen von Geistlichen legalisiert.

Welche Revolution?

Die Erfahrungen der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen (sowie armen Bauern und Bäuerinnen sowie unterdrückten Nationalitäten) im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nichtmonarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student:innen und Arbeiter:innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen und Mittleren Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden. Und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können.

In einer Situation, in der die Repression immer erdrückender gerät, ist es jedoch schwieriger denn je, eine offene Debatte über Strategien zu führen. Hierbei könnten wohl im Exil Lebende eine wichtige Rolle spielen, doch es bleibt zentral, dass die linken Organisationen vor Ort sich dieser Debatte nicht verschließen. Andernfalls verblasst das Potenzial erneut.

Denn klar ist: Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Von der Verteidigung der Bewegung zur Revolution

Martin Suchanek, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben verbinden seit Monaten Parolen wie „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes. Ihnen ist längst bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Trotz der Repression im Herbst 2022 verbreiteten sich die Proteste wochenlang. Die Aktionen waren auf lokaler, universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet hatten. Aber die Bewegung besaß kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

In den letzten Wochen zeigt sich dieses Problem immer deutlicher. Die Konterrevolution hat die Initiative ergriffen, droht, die Bewegung im Blut zu ersticken.

Um das zu verhindern, braucht sie Kampfformen, die sie vereinheitlichen kann und die das gesamte Land erschüttern können – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Alle Unterdrückten, die Frauen, die Jugend, die nationalen Minderheiten würden darin einen zentralen Platz einnehmen. Die Bewegung würde so auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung geraten.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufrufe an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Übergangsprogramm

Es braucht ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!

  • Volle demokratische Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!

  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!

  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!

  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!

  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!

  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!

  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und alle anderen Unternehmen!Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!

  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assadregimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!

  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!

  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!



Erdbeben in Türkei und Syrien: Eine humanitäre Katastrophe – vor allem für die Minderheiten

Dilara Lorin, Infomail 1213, 7. Februar 2023

4.440 Tote forderte das Erdbeben in der Türkei und Syrien bis zum Morgen des 7. Februar. Und die Zahlen steigen stetig weiter. Hinzu kommen weit über zehntausend, teilweise schwer, verletzte Menschen.

Die humanitäre Katastrophe trifft die Masse der Bevölkerung in beiden Ländern, die ohnedies unter Krieg, brutaler Repression durch die Regime von Assad und Erdogan, unter der Inflation, Wirtschaftskrise und Korruption leiden. Die humanitäre Krise und die hohe Zahl der Toten sind daher nicht nur das Resultat einer Naturkatastrophe, sondern auch Folge brutaler Ausbeutung und Unterdrückung – eine Tatsache, die in der offiziellen Berichterstattung viel zu wenig oder gar nicht vorkommt.

Unterdrückte Minderheiten

Die Hauptbetroffenen der humanitären Katastrophe sind oft Angehörige unterdrückter Minderheiten  wie Kurd:innen, Alevit:innen, Araber:innen und Geflüchtete.

Seit den Morgenstunden am 6. Februar haben mehr als 100 Erdbeben die mehrheitlich kurdischen Regionen Maras über Antep, Nordost Syrien/Rojava bis nach Mersin erschüttert. Es wurden Erdbeben mit einer Stärke von 7,9 gemessen, welches somit seit 1939 das schlimmste Erdbeben in der Türkei ist. Die Situation ist katastrophal. Die aktuellen Todeszahlen stiegen allein für die Türkei auf 3600 und mehr als 15.000 Menschen sind verletzt, weitere Abertausende sind vermisst. Die Zahl der Vermissten, Verletzten und Toten steigt stündlich an und wird noch in den nächsten Tagen das Ausmaß dieser Katastrophe sichtbar machen.

Vor allem betroffen sind die unterdrückten Minderheiten in der Türkei und Geflüchtete vor Ort. Dass in dieser Region mehrheitlich Kurd:innen und Alevit:innen leben ist einer der Gründe, warum das türkische Regime Jahrzehnte lang diese Region unterentwickelt ließ und kaum bis wenig in Infrastruktur, Bildung oder Gesundheitswesen investierte. Die benachteiligten Teile der Gesellschaft bilden, wie gesagt, mehrheitlich Kurd:innen und andere unterdrückte Minderheiten, es sind die Teile der Gesellschaft, welche aufgrund ihrer Armut oftmals gezwungen sind, in Häuser einzuziehen, die nicht nur mit billigen Materialien errichtet wurden, sondern in deren Konstruktion und Statik kaum investiert wurde, da sie ohnedies für die unteren Teile der Gesellschaft gedacht waren.

Dass also bei diesem Erdbeben so viele Häuser wie Spielkarten zusammenfallen, wäre in vieler Hinsicht vermeidbar gewesen. Aber es lag und liegt im Interesse staatlicher Institutionen, die Investitionskosten gering zu halten, und es lag und liegt im Interesse der Bauunternehmen, die Profite möglichst hoch zu halten.

Bis heute gibt es etliche alevitische und kurdische Dörfer, in welchen kein Leitungswasser fließt, in denen Stromnetze nur spärlich ausgebaut sind oder in denen keine asphaltierte Straße errichtet wird, aber in dem türkischen Nachbardorf konnte es ermöglicht werden. Diese bewusste Nicht-Entwicklung ist ein politisches Machtinstrument, um unerwünschte Minderheiten aus der türkischen Bevölkerung hinauszudrängen, aber sie eben zugleich als billige Arbeitskräfte auszubeuten.

Kurdische Regionen

Auch ist es mehreren Wissenschaftler:innen zufolge Tage vorher bekannt gewesen, dass ein Erdbeben dieser Stärke die Region erschüttern wird, aber Vorkehrungen, wie z.B. Evakuierungen, wurden nicht ansatzweise eingeleitet, die Bevölkerung wurde einfach nicht informiert.

Mehr noch. Der Wissenschafter Prof. Naci Görür wies im Live TV bei Fox darauf hin, dass nicht nur Jahr lang bekannt war, dass es früher oder später in der Region Erdbeben geben wird. Sie hat außerdem als Wissenschaftlerin Bürgermeister und Gouverneure mehrmals angesprochen und sogar eine Art Rettungs- und Aktionsprogramme für den Katastrophenfall vorgelegt. Die Verantwortlichen abwinkten aber nur ab.

In den türkischen Medien ist von all dem kaum die Rede. Schaltet man die Kanäle ein, welche von der AKP koordiniert und kontrolliert werden, will keiner davon etwas wissen. Bilder werden lediglich aus einigen wenigen Gebieten gestreamt. Regionen wie Pazarcık, Elibstan, Gölbaşı oder Hatay, welche durch die Erdbeben erschüttert wurden und die zu 90 % kurdisch geprägt sind, werden nicht gezeigt. Dabei sind es diese Gebiete, in welchen viele Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dies spiegelt auch die reale und aktuelle Lage der Menschen vor Ort wieder. Unterstützung und Hilfe erreichten kaum jemand in den genannten Regionen. Die Menschen versuchen, mit ihren eigenen Händen die Betonplatten der Häuser zu entfernen, denn sie hören immer wieder noch Hilferufen und Schreie der Überlebenden unter den Trümmern, können aber in den meisten Fällen nichts unternehmen. Die Social-Media-Kanäle sind voller Hilferufe, voll mit Adressen von zusammengefallenen Häusern, in welchen Menschen um ihr Leben ringen. Diese werden eben gepostet, weil es sonst kaum Möglichkeiten gibt, denen eine Stimme zu verleihen, und aus verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht doch eines der wenigen Rettungsteams, die schon vor Ort sind, dies liest.

Eine schnelle Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die meisten Menschen, befinden sich außerhalb der Häuser, um sich richtigerweise vor weiteren Erdbeben zu schützen. Aber bei den Temperaturen, welche  zwischen 3 und -7 Grad in der Nacht liegen, drohen viele Menschen im Freien zu erfrieren. Trotz dieser Bedrohungen sind die Rettungskräfte der türkischen Regierung – nach Zeugenberichten aus den Gebieten – kaum anzutreffen bzw. nicht sichtbar, und wenn, dann sind es viel zu wenige an den Katastrophenorten.

In den Grenzregionen verschärft sich die Lage außerdem für die vielen Geflüchteten, die auch bislang nur in heruntergekommenen Gebäuden Unterschlupf finden konnten. Es ist außerdem der Rassismus gegenüber Geflüchteten, der vielen Menschen Angst macht, denn dieser wird in den kommenden Tagen nicht nachlassen. Das altbekannte Spiel, dass man lieber nach unten tritt als nach oben, droht hier ein Ausmaß anzunehmen, das uns nur grausen lässt.

Syrien

Auch wenn wir uns im Artikel vor allem mit der Türkei beschäftigt haben, so darf die Katastrophe in Syrien nicht übersehen werden. In dem Land sind bisher rund 1500 Menschen dem Erdbeben zum Opfer gefallen. Die nordöstlichen Regionen und Teile von Rojava sind vom Erdbeben massiv betroffen. Es sind dies Gebiete, die durch den jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelt und ausgeblutet sind und nicht zur Ruhe kommen. Sie verfügen über wenig bis gar keine Infrastruktur, um Bergungsarbeiten durchzuführen. Assads Stellungnahme dagegen sind blanker Zynismus. Kaum staatliche Unterstützung wurde in diese Region entsendet, denn es sind zum Teil Gebiete, die nicht mehr unter Assads Kontrolle stehen. Die Türkei wiederum setzte die Angriffe auf Rojava auch während des Erdbebens fort!

Wer hilft?

In der aktuellen Situation sind Sach- und Geldspenden dringend erforderlich, welche die Menschen vor Ort direkt erreichen. Für alle, die Geld überweisen wollen, verweisen wir auf die Webseite und das Konto von Heyva Sor (Kurdischer Roter Halbmond; https://www.heyvasor.com/de/alikari/) Dabei ist recht sicher, dass die Spenden auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden.

Denn nicht jeder Spendenaufruf ist einer, der die Teile der Bevölkerung erreicht, die am härtesten von der Katastrophe betroffen sind. Spenden, die an den türkischen oder an den syrischen Staat gehen, sind oftmals welche, die in den Taschen des Regimes oder deren Mittelsmänner landen und nicht die Menschen vor Ort erreichen. In vielen Städten Deutschlands werden aktuell auch Sachspenden gesammelt, womit dann Menschen oftmals mit dem Auto in die Gebiete fahren und die Sachspenden dann an den Stellen weitergeben, in welchen sich gerade (notgedrungen) die meisten Menschen aufhalten. Dabei fehlt es fast an allem, denn die meisten Menschen mussten ihre Wohnungen innerhalb von Sekunden verlassen.

Es ist aber klar, dass die humanitäre Hilfe, egal welcher Art, nur die Auswirkungen der Katastrophe lindern kann. Was sind aber politische Forderungen, die Revolutionär:innen in diesen Momenten aufwerfen müssten?

Es muss die Frage gestellt werden, wie es sein kann, dass gerade die Regionen, in welchen die kurdischen, arabischen, alevitischen Minderheiten leben, dies sind, die am schlechtesten auf Naturkatastrophen vorbereitet sind, obwohl es bekannt ist, dass in dieser Region die anatolische Platte auf die arabische trifft. Rassismus und Unterdrückung führen direkt zur Armut, zu einer Lage, die von Immobilienhaien und kapitalistischen Unternehmen bewusst ausgenutzt wird. Die Frage, die hier also hauptsächlich gestellt werden muss, ist auch die Frage der Verbindung des Befreiungskampfes der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten in der Türkei und in Syrien mit dem der Arbeiter:innenklasse. Wir fordern:

  • Massive Hilfsgüter und Personal für alle betroffenen Regionen! Private Spenden sind gut, aber eigentlich müssen die Reichen, die Profiteure, der Staat und die imperialistischen Länder gezwungen werden, für die Katastrophenbekämpfung aufzukommen!

  • Damit die Hilfsgelder nicht im Korruptionssumpf versinken, muss ihre Verteilung und Verwendung von Ausschüssen der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten und von Beschäftigten bei den Hilfsorganisationen kontrolliert werden. Auch Beschäftigte bei den Banken und Finanzinstitutionen können hier eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen.

  • Um den Zugang für Hilfsgüter, Helfer:innen, Katastrophenschutz zu allen Regionen, frei von Repression und Angst vor Unterdrückung, zu ermöglichen, ist der Rückzug der Armee und der Polizei notwendig. Schluss mit der Verfolgung und Unterdrückung kurdischer und anderer oppositioneller Organisationen! Rückzug von Assads Schlächter-Truppen! Bleiberechte für alle Geflüchteten!

  • Rettungs- und Wiederaufbauprogramm, finanziert aus der Besteuerung der Profite und großen Privatvermögen unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuer:innen in den betroffenen Regionen!



Israel: Rechte Regierung, Unterdrückung und Widerstand

Alex Rutherford und Marcel Rajecky, Infomail 1212, 6. Februar 2023

Am 30. Dezember wählte das israelische Parlament eine Regierung unter dem Vorsitz des Führers des Likud-Blocks, Benjamin Netanjahu, ins Amt. Diesmal hatte Netanjahu Vertreter:innen mehrerer extrem religiöser und rechtsextremer Parteien in seine Koalition aufgenommen, die den Block „Religiöser Zionismus“ (RZ) bilden.

Programm der Regierung

Eine Erklärung Netanjahus zu den wichtigsten politischen Maßnahmen der Regierung begann mit den Worten: „Das jüdische Volk hat ein ausschließliches und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung in allen Teilen des Landes Israel vorantreiben und ausbauen – in Galiläa, im Negev, auf den Golanhöhen und in Judäa und Samaria.“

Letzteres bezieht sich auf das besetzte Westjordanland, die zerfaserten Überreste Palästinas, die den 2,5 Millionen ursprünglichen Bewohner:innen, aber nun auch 500.000 zionistischen Siedler:innen gehören.

Der neue Finanzminister Bezalel Smotrich, Mitglied des RZ-Blocks und selbst ein illegaler Siedler, sagte in einem Artikel im Wall Street Journal, dass es niemals eine „Änderung des politischen oder rechtlichen Status“ des Westjordanlandes geben werde. Das bedeutet, dass die „Zweistaatenlösung“, die offiziell von den USA und der so genannten internationalen Gemeinschaft seit den 30 Jahre alten Osloer Abkommen unterstützt wird, nicht einfach nur tot ist, sondern durch Beschlagnahme des Landes, den Abriss palästinensischer Häuser und ständige Razzien in den über 50 Jahre alten Flüchtlings-Lagern ersetzt wurde.

Ein weiterer wichtiger rechtsextremer Minister in der neuen Regierung ist Itamar Ben-Gvir, ein Siedler aus dem besetzten Westjordanland. Im Alter von 16 Jahren schloss er sich der Kach an, der berüchtigten rassistischen und extrem „religiös-zionistischen“ Organisation von Meir Kahane. Im vergangenen Jahr war er aktiv an den Auseinandersetzungen im besetzten Ostjerusalem beteiligt, im Viertel Scheich Dscharrah, wo die israelischen Behörden versuchen, palästinensische Familien zu vertreiben. Dort fuchtelte er mit einer Waffe herum und forderte die Polizei auf, das Feuer auf palästinensische Demonstrant:innen zu eröffnen. Dieser Mann ist jetzt Minister für Nationale Sicherheit, zuständig für die Polizei, die Gefängnisse und den Grenzschutz. Er befürwortet die Einführung der Todesstrafe für „Terrorist:innen“ und noch härtere Bedingungen für die 4.450 palästinensischen Gefangenen (darunter 150 Kinder) in israelischen Gefängnissen.  Außerdem unterstützt er die Ausweisung aller palästinensischen Bürger:innen Israels, die sich weigern, dem jüdischen Staat die Treue zu schwören.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass in den Wochen seit dem Amtsantritt der Regierung Netanjahu die Angriffe des israelischen Staates auf das Westjordanland und ebenso der Widerstand der verschiedenen palästinensischen islamistischen Guerillaorganisationen stark zugenommen haben.

Erneut Dschenin

Am 26. Januar massakrierten die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) neun Palästinenser:innen im Flüchtlingslager Dschenin im besetzten Westjordanland. Ein zehnter Palästinenser wurde später von israelischen Truppen bei einem Protest gegen die Gräueltat getötet. Dschenin ist seit langem Schauplatz zahlloser brutaler Überfälle der so genannten Israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Am 11. Mai letzten Jahres geriet die berühmte palästinensisch-amerikanische Journalistin Shireen Abu Akleh in die Schlagzeilen, als sie von einem IDF-Scharfschützen getötet wurde.

Das palästinensische Gesundheitsministeriums identifizierte drei der bei dem Anschlag am 26. Januar getöteten Menschen: Magda Obaid (61), Saeb Izreiqi (24) und Izzidin Salahat (26). Außerdem wurden 20 Menschen verwundet. Berichten zufolge wurden Krankenwagen zunächst von israelischen Truppen daran gehindert, die Verwundeten zu erreichen, und auch die Kinderstation eines örtlichen Krankenhauses wurde von israelischen Einheiten mit Tränengas beschossen.

Als Reaktion darauf brach die Palästinensische Autonomiebehörde (Israels gewöhnlich zuverlässige Kollaborateurin bei der Unterdrückung der im Westjordanland lebenden Palästinenser:innen) vorübergehend die Sicherheitsbeziehungen zu den Besatzungstruppen ab. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, rief drei Trauertage und einen Generalstreik im gesamten besetzten Westjordanland und in Jerusalem aus.

Die Ermordung von sieben Gläubigen vor einer Moschee am Rande der Jerusalemer Altstadt durch Khairi Alqam, einen 21-jährigen Palästinenser, hat bei den führenden Politiker:innen der Welt natürlich weitaus mehr Empörung ausgelöst als das Massaker von Dschenin am Vortag, das offensichtlich den Anstoß zu dem Anschlag gab, sowie die Tatsache, dass zwei Tage zuvor ein Verwandter von ihm von der israelischen Polizei getötet wurde. Einige palästinensische Organisationen lobten den Anschlag, und natürlich wird die weitaus höhere Zahl der Todesopfer auf ihrer Seite des Konflikts von vielen als ausreichende Rechtfertigung angesehen. Tatsächlich aber führen solche Taten zu weitaus größeren Repressionen, zur Zerstörung des Hauses der Familie des Schützen, zu Massenverhaftungen und zur Androhung noch härterer Vergeltungsmaßnahmen. Angriffe auf willkürliche Gruppen von Zivilist:innen sind ein Produkt der Verzweiflung und kein wirksames Mittel des Kampfes. Nur Massenaktionen wie die beiden Intifadas haben die Aufmerksamkeit der Welt auf die Brutalität der israelischen Unterdrückung gelenkt.

Die Gewalt ist nicht neu: Mindestens 30 Palästinenser:innen wurden in diesem Jahr bereits von israelischen Truppen im Westjordanland getötet, und im vergangenen Jahr waren es mehr als 150. Netanjahus neue Regierung signalisiert natürlich keinen Kurswechsel dieser gewaltsamen Unterdrückung. Trotz kleiner Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen zionistischen Parteien sind die Hauptpfeiler des Siedlungskolonialprojekts – Beschlagnahme von Land für den Bau illegaler Siedlungen, wiederholte Bombenangriffe auf Gaza, Lobbyarbeit gegen die Anerkennung Palästinas – Konsens in der israelischen politischen Klasse und bis zu einem gewissen Grad auch in der israelischen Zivilgesellschaft insgesamt.

Globaler Kontext

Die anhaltende Gewalt gegen die Palästinenser:innen wird mit stiller Billigung von Israels Hauptsponsorin, den Vereinigten Staaten, ausgeübt. Als regionaler Gendarm der USA haben Washington und Tel Aviv ein vereinbartes Programm: mehr Landkonfiszierung und Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten.

Während Trumps Präsidentschaft kam dieser Plan am deutlichsten im sogenannten „Deal des Jahrhunderts“ zum Ausdruck, der im Januar 2020 öffentlich wurde. Darin signalisierten die USA, dass sie umfangreiche Annexionen palästinensischen Landes und die „Judaisierung“ Ostjerusalems unterstützen würden, und schlossen die Möglichkeit eines palästinensischen Staates im eigentlichen Sinne aus. Außerdem versprachen sie ihren regionalen „Partner:innen“ Milliarden für Investitionen in Palästina und den Ausbau ihrer Beziehungen zu dem einst feindlichen zionistischen Staat.

Die USA sind derzeit stark in Konflikte mit Russland in der Ukraine und China in Ostasien verwickelt und können eine größere Explosion im Nahen Osten nicht oder nur schwer vermeiden. Das war auch der Hintergrund des Besuchs von US-Außenminister Antony Blinken in Israel. Deshalb versuchen sie, ihre wichtigsten arabischen Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar mit Israel zu verbinden. Dies soll weiter wirtschaftlich und strategisch forciert werden. Zugleich stärken sei diese Staaten gegen interne Bedrohungen, sei es die politische oder religiöse Opposition oder im Falle Israels die palästinensische nationale Befreiungsbewegung. Die aktuelle Verschärfung der zwischenimperialistischen Rivalität macht diese Ziele und den Unterordnung ihrer regionalen „Partner:innen“ für die USA immer dringlicher (zugleich aber auch immer schwieriger).

Netanjahus Block hat jedoch seine eigenen Probleme in der israelischen Gesellschaft. Seit Wochen finden Demonstrationen gegen die Pläne der neuen Regierung statt, den Obersten Gerichtshof Israels zu schwächen, damit eine Mehrheit in der Knesset, dem israelischen Parlament, seine Entscheidungen außer Kraft setzen kann. Ein Grund dafür ist, die Verurteilung Netanjahus wegen Korruptionsvorwürfen verhindern zu können. Zudem würde dies der Regierung mehr Spielraum für den Bau neuer Siedlungen und die Verfolgung der theokratischen Sozialagenda der religiösen Rechtsextremen gegenüber LGBTIAQ-Rechten geben.

Diese Vorschläge haben in der israelischen Gesellschaft großen Widerstand mit wochenlangen Protesten hervorgerufen, die am 21. Januar in einer Demonstration von 100.000 Menschen in Tel Aviv(-Jaffa) gipfelten, an deren Spitze verschiedene zionistische Parteien, ehemalige Premierminister sowie Menschenrechtsgruppen und die LGBTIAQ-Community standen, denen die religiösen Fanatiker:innen mit neuen repressiven Gesetzen gedroht haben. Die Frage der Rechte der Palästinenser:innen wurde jedoch ausgeklammert, und palästinensische Flaggen waren nicht erlaubt, obwohl sie das erste Ziel einer Regierung wären, die sich völlig von allen gesetzlichen Beschränkungen befreit hat.

Solidarität mit Palästina!

Das politische System Israels ist ein Siedler:innenkolonialismus, der zu Recht mit dem rassistischen Apartheidsystem verglichen wird. Das bedeutet, dass trotz des Ausbruchs moralischer Panik in der israelischen liberalen bürgerlichen Presse in Bezug auf die neue Regierung Israels anhaltende Politik der Unterdrückung der Palästinenser:innen von der gesamten politischen Klasse gebilligt und durch keine israelische Wahl grundlegend geändert wird.

Heute ist zwar noch immer ein bedeutender Teil der israelischen Arbeiter:innenklasse in der 800.000 Mitglieder zählende Histadrut organisiert, der Organisationsgrad liegt aber bei rund 20 %. Seit ihrer Gründung im Jahr 1920 war sie nie eine echte Gewerkschaft, sondern ein wesentlicher Bestandteil des zionistischen Kolonisierungsprojekts, vollständig in das Siedlungskolonialprojekt integriert. Die offiziellen Arbeiter:innenorganisationen vertreten nicht einfach die israelischen Lohnabhängigen und ihre Interessen als Arbeiter:innen, sondern sondern faktisch auch als Besatzer:innen und die einer privilegierten Arbeiter:innenschicht gegenüber den Palästinenser:innen (auch wenn sich die Histadrut formal palästinensischen Arbeiter:innen geöffnet hat).

Natürlich müssen sich Sozialist:innen in Israel und in der ganzen Welt dieser jüngsten Manifestation israelischer Gewalt gegen die Palästinenser:innen widersetzen. Aber genauso wichtig ist es, dass wir uns entschieden gegen den Zionismus in all seinen Formen stellen. Es handelt sich um eine rassistische Ideologie, die tagtäglich zur Rechtfertigung der Unterdrückung des palästinensischen Volkes benutzt wird. Unser Ziel muss daher die Zerstörung des rassistischen zionistischen Siedler:innenstaates und seine Ersetzung durch einen einzigen säkularen Staat für alle Menschen in Palästina sein: Araber:innen und Israelis, Muslim:innen, Juden/Jüdinnen, Christ:innen und Atheist:innen.

Dieses Ziel kann nur durch eine sozialistische Revolution erreicht werden, die die gesamte palästinensische Arbeiter:innenklasse mit fortgeschrittenen Teilen der israelischen Klassenbrüder und -schwestern einbezieht. Aber sie muss auch Teil einer solchen Revolution im gesamten Nahen Osten sein, die die autokratischen Reiche stürzt, seien es militärisch-säkulare wie Ägypten oder „islamische“ wie Saudi-Arabien oder die Golfstaaten. Die internationale Solidarität mit allen fortschrittlichen Kämpfen in der Region ist entscheidend.

Wir weisen das Argument, die Unterstützung Palästinas sei antisemitisch, mit Verachtung zurück und wenden uns gegen jedes Wiederauftauchen antijüdischer Hetze. Wir loben den Mut vieler jüdischer Menschen sowohl in Israel als auch in der ganzen Welt, die die Rechte der Palästinenser:innen unterstützen und die zionistische Unterdrückung anprangern. Wir müssen alle zusammenstehen im Kampf für den Sturz des zionistischen Apartheidstaates und seine Ersetzung durch einen binationalen säkularen sozialistischen Staat, in dem alle Einwohner:innen über gleiche politische und wirtschaftliche Rechte verfügen.




Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Martin Suchanek, Infomail 1205, 28. November 2022

Seit über einer Woche, seit der Nacht vom 19. zum 20. November, greift die türkische Armee die kurdische Region Rojava an – aus der Luft mit Flugzeugen und Drohnen oder durch massiven Beschuss mit Haubitzen, Panzern und Mörsern. Zudem überfallen Söldnertruppen im Dienste der Türkei kurdische Siedlungen.

Allein die erste Angriffswelle auf die kurdische selbstverwaltete Region Rojava forderte Duzende Menschenleben – und die Zahl der toten Kämpfer:innen und Zivilist:innen steigt täglich. Dabei könnten die massiven Bombardements nur das Vorspiel zu einer Offensive mit Bodentruppen und faktischen Besetzung weiterer Teile der kurdischen Gebiete durch die Türkei abgeben.

Den Angriff hat das Erdogan-Regime schon lange angekündigt und geplant. Es stieß dabei jedoch nicht nur auf Auflehnung des reaktionären despotischen syrischen Regimes und des russischen Imperialismus, sondern auch der USA, die den Luftraum über Rojava faktisch kontrollieren.

Vorwand

Der Anschlag in der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal, bei dem am 13. November 6 Personen getötet und 81 weitere verletzt worden waren, bot dem türkischen Regime eine willkommene Gelegenheit. Ohne jeden Beweis wurde die Verantwortung für die Morde der PKK und der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava in die Schuhe geschoben. Dabei haben die kurdischen Kräfte diesen reaktionären Anschlag rasch und deutlich verurteilt.

Es fragt sich darüber hinaus aber auch, warum sie ausgerechnet eine Aktion durchgeführt haben sollen, die politisch vom Erdogan-Regime ausgeschlachtet wird, die dem kurdischen Befreiungskampf nur schadet und nicht nützt. Wer sich die Frage nach dem Cui bono (lateinisch: Wem zum Vorteil?) ernsthaft stellt, wird wohl dort eher nach Antworten suchen müssen, wo die politischen Profiteur:innen des Anschlags sitzen.

In jedem Fall hat die türkische Regierung nicht lange gezögert. Seit dem 19./20. November sind tausende Raketen, Drohnen, Bomben, Artillerie- und Panzergeschosse auf Rojava niedergegangen bzw. überflogen dieses Territorium. Die USA und ihre Verbündeten – darunter auch die Bundesregierung – übernehmen weitgehend die Propagandalügen Erdogans. Im Namen des sog. „Kampfs gegen den Terrorismus“, und um den NATO-Verbündeten Türkei im Kampf um die Ukraine bei der Stange zu halten, überlassen die USA ihm faktisch den Luftraum. Russland und das Assad-Regime kritisieren das zwar, waschen aber ansonsten ihre Hände in Unschuld. Schließlich wollen auch sie die Vernichtung kurdischer Selbstverwaltung. Umso besser also, wenn Erdogan die Drecksarbeit erledigt. Schließlich sind Assad mit der Stabilisierung seiner Diktatur und Putin mit mörderischen Bombardements auf ukrainische Städte beschäftigt.

Darüber hinaus berichten einige arabische Medien über Verhandlungen zwischen der Türkei und Syrien. Diesen zufolge wäre Erdogan zur Einstellung der Angriffe bereit, wenn das Assad-Regime die Kontrolle über Rojava übernimmt. Ein solcher Deal würde für die Kurd:innen den Anfang vom Ende ihrer Autonomie bedeuten. Ebenso wenig wie kurdische Selbstbestimmung unter der Herrschaft des türkischen Nationalismus und der NATO-Mächte realisiert werden kann, kann es sie unter der Diktatur des Schlächters Assad geben.

In dieser Lage gibt der Westen der Türkei nicht nur freie Hand. Die NATO-Staaten Westeuropas und die Anwärter Schweden und Finnland schweigen nicht nur zu den verbrecherischen Angriffen der Armee auf Rojava, sie gehen auch gegen die kurdischen Organisationen in ihren Ländern vor. In Deutschland und der EU sind die PKK und andere kurdische Organisationen weiter als „terroristische Organisationen“ verboten. Schweden und Finnland bescheinigt Erdogan großzügig „Fortschritte“ bei der Bekämpfung kurdischer politischer Flüchtlinge, nachdem der neue Premierminister Ulf Kristersson (Moderate Sammlungspartei) Anfang November die Umsetzung der von Erdogan geforderten Voraussetzungen für die NATO-Mitgliedschaft zugesagt hat.

Angriff an mehreren Fronten

Die Angriffe auf das kurdische Volk wurden zudem nicht nur in Rojava forciert. Seit Mitte November geht das türkische Regime unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ praktisch täglich gegen die kurdische Bevölkerung, wirkliche oder vermeintliche Aktivist:innen im eigenen Land vor. So finden in zahlreichen Städten Hausdurchsuchungen und Razzien statt. Hunderte Menschen wurden festgenommen, weil sie angeblich Mitglieder der PKK seien. Mit brutaler Härte geht die Polizei außerdem gegen Demonstrationen vor, die sich mit den Kurd:innen in Rojava solidarisieren, das Ende der Angriffe und willkürlichen Hausdurchsuchungen und Festnahmen fordern.

Die türkische Regierung und der Staatsapparat verschärfen ihren Krieg gegen das kurdische Volk, gegen dessen demokratische Rechte, betreiben faktisch Staatsterrorismus unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung.

Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Solidarität mit dem kurdischen Volk zum Ausdruck bringen. In der Türkei gehen regelmäßig Tausende trotz massiver Repression auf die Straße. In Deutschland fanden in mehreren Städten wie z. B. Berlin, Frankfurt/Main und Hannover Solidaritätsdemonstrationen statt. Weitere sind für die nächsten Tage geplant. Doch diese Solidarität darf sich nicht auf die Teilnahme der kurdisch-migrantischen Bevölkerung, ihre Organisationen und linke Aktivist:innen und Gruppierungen beschränken. Die Gewerkschaften, die Linkspartei müssen ebenfalls ihre Mitglieder und Anhänger:innen mobilisieren. Dasselbe gilt für alle Sozialdemokrat:innen und Grünen, die den Schießkurs „ihrer“ Regierung nicht teilen.

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!

  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist:innen!

  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



Iran-Proteste: „Anfangs emotional – jetzt politisch“

Interview der Liga für die Fünfte Internationale mit Ali Rezaei, einem Iranischen Sozialisten, Infomail 1205, 18. November 2022

LFI: Wir möchten unser Mitgefühl ausdrücken. Wir wissen, dass viele Menschen, und fast alle Sozialist:innen, im Iran einen geliebten Menschen verloren haben oder um einen solchen fürchten. Wie fühlst Du Dich, wenn Du jetzt Tausende von Menschen siehst, die sich auf den Straßen des Irans wehren?

AR: Das iranische Volk kämpft gegen einen barbarischen Klerus, dessen Brutalität die Jugend, die Frauen, die Arbeiter:innen, die Armen, die Liberalen, die Progressiven, die Sozialist:innen und alle, die einen anderen Standpunkt vertreten, mit Blut getränkt hat. In jeder Stadt, ja in jeder Familie, gibt es Beispiele von Menschen, die nicht nur Unterdrückung und Gewalt, sondern auch den Tod erlebt haben. Der Klerus hat das Leben zu einer Qual gemacht.

Dies ist keine gewöhnliche Bewegung, sondern der Hass gegen den Klerus ist explodiert. Die Ermordung von Jina Mahsa Amini hat eine Revolution ausgelöst, in der Frauen eine zentrale Position eingenommen haben und Student:innen ebenfalls sehr wichtig sind. Sie haben in den Bewegungen der Vergangenheit immer eine entscheidende Rolle gespielt. Die iranische Gesellschaft hat die Herrschaft des Klerus abgelehnt.

Die Ermordung von Mahsa hat die Angst zerschlagen. Ursprünglich war es emotional, aber jetzt ist es politisch, eine Bedrohung für das Regime, das die Massen seit vier Jahrzehnten unterdrückt hat. Die Bewegung hat das einfache Volk geeint. Es scheint, dass das Ende dieses repressiven Regimes möglich ist. Das treibt den Kampf voran und hat Kurd:innen, Belutsch:innen, Araber:innen sowie die Arbeiter:innen und Armen mit einbezogen.

Die Revolte, die sich an Universitäten und Schulen ausgebreitet hat, ist ermutigend. Früher waren es Aktivist:innen, die hofften, dass diese dunkle Nacht ein Ende haben würde. Jetzt wird diese Stimmung von der gesamten Gesellschaft geteilt, die sich weigert, dieses Scharia-System zu akzeptieren. Unterdrückung und Tyrannei werden nicht länger geduldet, die Menschen kämpfen dagegen und für die Freiheit.

LFI: Mahsa ist ein Symbol für die Brutalität der Sittenpolizei und die Unterdrückung des kurdischen Volkes. Jetzt ist sie auch zu einem Band geworden, das den Widerstand wieder zusammengeführt hat. Wie hat sich der Tod von Mahsa auf Dich ausgewirkt?

AR: Ihr richtiger Name ist nicht Mahsa Amini. Im Iran darf man keine kurdischen Namen verwenden. Ihr richtiger Name ist Jina. Das zeigt, wie stark die nationale Unterdrückung im Iran ist. Die Art und Weise, wie Demonstrant:innen nach der Vergewaltigung eines belutschischen Mädchens getötet wurden, zeigt das wahre Gesicht dieser islamistischen Regierung. Ob unter dem Schah oder dem Klerus, in den Gebieten der unterdrückten Nationen kamen immer extreme Formen der Unterdrückung vor, Rückständigkeit und Armut. Aber es gab auch Widerstand, manchmal bewaffnet. Türk:innen, Kurd:innen, Araber:innen und Belutsch:innen sind in dieser Bewegung vereint, und die Slogans gegen die nationale Unterdrückung und das herrschende Regime vereinen die Bewegung.

Für die iranischen Staatsbürger:innen ist das Regime des Klerus seit Jahrzehnten eine Falle. Im Rahmen dieser Bewegung gegen die Ermordung von Mahsa droht vielen jungen Frauen und Student:innen die Inhaftierung. Viele wurden sogar bereits brutal ermordet. Tod der Diktatur! Sie ist eine Blutsaugerin! Die Fundamente dieses Systems stehen in dem Blut, das diese berüchtigte religiöse Diktatur vergossen hat. Wir alle sind Jina. Die Solidarität mit dieser Revolution gibt uns Hoffnung. Ich appelliere an die Frauen und Arbeiter:innen in aller Welt, diesen Kampf gegen die Unterdrückung, die die schlimmste Dekadenz des kapitalistischen Systems und des Imperialismus hervorgebracht hat, weiterhin zu unterstützen.

LFI: Wir hören Berichte über eine neue Generation junger iranischer Frauen, die sich weder dem Staat noch seiner Ideologie beugen.

AR: Die Haltung des klerikalen Regimes war für Frauen schon vor diesem Mord unerträglich geworden. Die Geschichte der Frauenbewegungen im Iran ist bewundernswert. Es gab bereits ein Gefühl der Macht, aber der Tod von Mahsa verwandelte dies in eine Revolution.

Die Frauen akzeptieren den Hidschab und andere Einschränkungen nicht. Jugendliche und Student:innen, die eine wichtige Rolle spielen, sind für die Mullahs schwer zu kontrollieren. Hass und Wut wachsen. Einer der Hauptgründe dafür ist neben den Einschränkungen und der Unterdrückung die Wirtschaftskrise. Der jungen Generation wurde die Hoffnung genommen, und ihre einzige Möglichkeit ist der Kampf.

Die Situation ist jetzt ganz anders. Eine große Mehrheit der Bevölkerung will die Mullahs loswerden. Frauen spielen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung, aber jetzt schließen sich alle Schichten der Bewegung an. Selbst religiöse Menschen hassen diese Regierung jetzt, was bedeutet, dass die Wurzeln des klerikalen Regimes hohl geworden sind und seine Basis sehr schwach ist.

LFI: Kannst du uns etwas über die Mentalität dieser neuen Generation erzählen, von der wir alle hoffen, dass sie der Garant für zukünftige Freiheit sein wird?

AR: Junge Menschen machen mehr als 60 Prozent der iranischen Gesellschaft aus. Sie tragen nicht die Last vergangener Niederlagen und stehen in Kontakt mit der modernen Welt, auch wenn es viele Probleme gibt und die Situation sehr kompliziert ist. Inflation und Arbeitslosigkeit haben jedoch alle Schichten der Gesellschaft erfasst. Auch die Mittelschicht ist davon stark betroffen, und deshalb umfasst die Bewegung verschiedene Schichten.

Andererseits ist die Popularität der Mullahs auf einen Tiefpunkt gesunken, und es wird immer schwieriger, diese Jugendlichen zu kontrollieren. Sie sind wütend über die Demütigung, der sie, insbesondere die Frauen, ausgesetzt sind. Die Gesellschaft liegt bereits so sehr im Würgegriff, aber es werden noch mehr Einschränkungen auferlegt, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Frauen werden nicht nur gedemütigt, sie werden gewaltsam verhaftet und verschwinden, und auch die Familienmitglieder werden gedemütigt. Das ganze System basiert auf Angst und Unterdrückung, und die Jugend akzeptiert es nicht mehr.

LFI: Wie reagieren die Sittenpolizei und das Regime auf diese junge Generation? Kannst Du uns etwas über die Praktiken der Sittenpolizei und das Leid, das sie verursacht, erzählen?

AR: Der iranische Staat und seine Institutionen waren früher in der Lage, jeden Widerstand mit Gewalt zu unterdrücken. Seit 2009 wurden verschiedene Bewegungen durch die brutale Repression, das Verschwinden-Lassen, die Verhaftungen und die Massaker der Welayat-e-Faqih-Bande (Statthalterschaft des Rechtsgelehrten), der mörderischen sogenannten Wächter:innen der Revolution und anderer niedergeschlagen. Die Unterdrückung der Kurd:innen und Belutsch:innen ist besonders extrem.

Schon vor Covid trug die anhaltende Wirtschaftskrise zu einem starken Anstieg von Armut, Inflation und Arbeitslosigkeit bei. Gegenwärtig leben mehr als 40 Prozent der iranischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Die Ermordung von Jina Mahsa Amini löste den allgemeinen Widerstand aus, aber die Ursachen für diese Revolution waren bereits vorhanden. Die Brutalität des Staates hat nicht abgenommen, aber jetzt ist es nicht mehr der Kampf einer einzelnen Schicht. Auch religiöse Menschen wollen ihn loswerden. Die Mehrheit wird dieses System nicht akzeptieren und will einen Ausweg. Die Tapferkeit der Frauen und Studentinnen ist eine Ohrfeige für das Regime. Trotz der Tatsache, dass Massaker, Verhaftungen und das Verschwinden-Lassen von Personen an der Tagesordnung sind, hält dies die Moral der Bewegung aufrecht. Obwohl die vorherige Generation Angst um ihre Kinder hat, gibt ihr Mut auch den Eltern Hoffnung.

LFI: Wir hören von neuen Netzwerken unter radikalen Student:innen und innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Wie effektiv sind sie und welche Rolle haben sie vor Ort gespielt?

AR: Die Protestbewegung brach spontan aus, aber es existiert eine Koordination, die nicht nur durch Internetaufrufe kommuniziert wird. Es besteht auch eine lokale Koordination. Die Menschen sprechen über die aktuelle Situation bei den Protesten und diskutieren auch die Strategie für Aktionen. Student:innen  an den Universitäten unterhalten Netzwerke, die die Autorität der Mullahs ablehnen. Es gibt Organisationen der Arbeiter:innenklasse, die Proteste und Streiks organisieren. Alle diese Organisationen spielen eine wichtige Rolle, aber das Fehlen einer Führung, die einen landesweiten Wandel erzwingen kann, ist jetzt noch deutlicher zu spüren. Die Ermordung von Jina Mahsa Amini hat den Iran geeint, aber es gibt Widersprüche, und wir brauchen eine Strategie, die die Mullahs zurückdrängen und die Revolution weiter voranbringen kann.

LFI: Was bedeutet die Wirtschaftskrise? Wie stehen die Aussichten für die Linke?

AR: Die Wirtschaftskrise hat im Iran Verwüstungen angerichtet, die Preise für die Grundbedürfnisse sind um mehr als 60 Prozent gestiegen. Die Mittelschicht ist ruiniert und die Bedingungen für die Arbeiter:innen sind schrecklich. Berichte über die Korruption der Mullahs stehen auf der Tagesordnung. Fabriken werden geschlossen, in der Ersatzteilproduktion sind 100.000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Die Menschen im Iran haben auch die Nase voll von der Interventionspolitik des Mullah-Regimes in anderen Ländern, die ihr Leben immer weiter von der Welt isoliert. Sie alle beteiligen sich an der Revolution „Frau. Leben. Und Freiheit“. Alle sehen die Lösung der Wirtschaftskrise im Tod der Diktatur. Die Situation ist sehr schwierig, es gibt keine besonders starke Strömung. Begrenzt kommt sogar Unterstützung von Liberalen und Anhänger:innen des ehemaligen Schahs, aber es ist auch Raum geschaffen für sozialistische Ideen. In wirtschaftlicher Hinsicht haben die Sozialist:innen eine Perspektive für das Ende des Mullah-Regimes, die Freiheiten und ein Ende der wirtschaftlichen Unterdrückung bringt.

LFI: Hat die Bewegung auch die industriellen Zentren des Irans erreicht? Schließlich müssen die Inflation und die allgemeine Krise viele Menschen und Familien aus der Arbeiter:innenklasse an den Rand treiben. Welche Forderungen beziehen sich konkret auf die Klassenfrage?

AR: Der Kampf entwickelt sich in der Arbeiter:innenklasse, und sie nimmt an den Protesten teil, aber viele ihrer Anführer:innen wurden verhaftet. Die Arbeiter:innenklasse beteiligt sich in verschiedenen Städten daran, insbesondere die Lehrer:innen sind in dieser Hinsicht sehr aktiv. In Teheran sind die Busfahrer:innen mobilisiert, und die Tankwagenfahrer:innen haben am 19. Oktober in Solidarität mit dem Protest gestreikt. Die Arbeiter:innen der Röhrenwerke, des Stahlkomplexes Neyriz Ghadir, der Mehrschar-Raffinerie, der petrochemischen Gesellschaft und der Raffinerie in Abadan, der petrochemischen Gesellschaft auf der Insel Hengham, der petrochemischen Gesellschaft in Buschehr und des Gaskondensatfeldes in Südparas streiken und protestieren in Solidarität mit den Demonstrant:innen. Die Verhaftung der Anführer:innen hat jedoch zu Schwierigkeiten geführt.

Trotz der Einschränkungen im Internet nehmen die Proteste nicht ab. Die Menschen sind immer noch über verschiedene alternative Quellen miteinander verbunden. Ja, es gibt Schwierigkeiten, aber aufgrund der Widersprüche des Imperialismus eröffnen sich auch Chancen, und viele junge Menschen erstellen Links, die Videos und andere Botschaften verbreiten. Die Regierung greift jedoch immer wieder an. Verschiedene Gewerkschaften haben zum Streik aufgerufen und es kam zu erfolgreichen Arbeitsniederlegungen, aber das generelle Problem dieser Revolution ist immer noch das einer kollektiven Führung. Ein Generalstreik ist wichtig, aber er muss bis zum Ende des Mullah-Regimes andauern. Dies erfordert die Bildung von Fabrik- und Betriebsräten sowie Verteidigungskomitees. Ohne sie ist die staatliche Repression unvermeidlich, und es ist nicht möglich, es mit ihr aufzunehmen.

LFI: Ist es richtig zu sagen, dass alle, die sich an dem derzeitigen Kampf beteiligen, den Sturz des Regimes wollen?

AR: Die Bewegung will mehr als nur Reformen, sie will das Ende des Mullah-Regimes. Es ist ein starker Geist, der die Menschen aktiv hält. Trotz aller Unterdrückung sind die Menschen nicht bereit, sich mit weniger zufriedenzugeben als mit dem Sturz der Regierung. Die Unterdrückung ist jedoch sehr hart. Und die Demonstrant:innen müssen vor den Mörder:innengarden und anderen reaktionären Kräften geschützt werden. Die Demonstrant:innen widersetzen sich diesen Kräften, aber das muss organisiert werden.

Alle wollen das Ende dieser Regierung, aber das Fehlen einer nationalen Führung bedeutet, dass es keine klare Strategie gibt, und das ist eine gefährliche Situation. Wenn die Regierung stürzt, werden die Reformist:innen versuchen, sich als Alternative zu präsentieren, auch wenn sie im Moment wenig Unterstützung genießen. Dann gibt es auch noch die Pahlavi-Anhänger:innen des alten Schah-Regimes. In einer solchen Situation kann es auch zu einer gewissen Unterstützung durch die Bevölkerung kommen, aber das ist nicht die Alternative, für die die Menschen kämpfen. Unserer Meinung nach ist die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung wichtig, die die Arbeiter:innen durch die Bildung von Räten demokratisch vereinen kann, und Wahlen unter deren Kontrolle sind unerlässlich. Das sozialistische Programm ist die einzige Lösung, die der Barbarei der Mullahs ein Ende setzen und auch eine breitere Demokratie bringen kann. Es wendet sich gegen das kapitalistische System und den Imperialismus, was bedeutet, dass die Ressourcen des Irans genutzt werden können, um das Leben des Volkes zu verbessern, anstatt den Interessen der herrschenden Klasse untergeordnet zu werden.

LFI: Was sind die führenden politischen Kräfte in der Oppositionsbewegung? Welche Klasse führt die Bewegung an? Welche Rolle spielt die Arbeiter:innenklasse als politische Kraft?

AR: Dies begann als eine „spontane“ Bewegung. Schon vor der Ermordung von Jina Mahsa Amini waren alle Zutaten vorhanden, aus denen diese Bewegung entstanden ist. Sie umfasst Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, und verschiedene Vereinigungen unterstützen sie. Sie ist auch in den kurdischen und belutschischen Gebieten zu finden und zieht die verwüstete Mittelschicht an. Das Einzige, was sie eint, ist die Opposition gegen die Regierung.

Der Einfluss der Jugend in dieser Bewegung ist sehr groß und vor allem die Studentinnen sind sehr aktiv, trotz aller Unterdrückung, Gewalt und Mordes. Die Liberalen hoffen auf Demokratie. Sie wollen sich wieder mit der Welt verbinden, stehen der Regionalpolitik des Staates kritisch gegenüber und wollen ein freies Leben führen. Ein Leben in Ketten ist für sie nicht akzeptabel. Die reformistische Führung ist nicht dominant, aber viele derjenigen, die Hoffnungen in den Reformismus setzen, sind aktiv.

Es gibt Platz für die Linke und sie ist auch aktiv. Die Gewerkschaften beteiligen sich an den Protesten. Zwar wird gestreikt, doch müssen diese Maßnahmen zu einem landesweiten Streik und dem Sturz der Regierung ausgebaut werden. Es muss eine sozialistische Alternativbewegung geben, denn dieses System hält keine Lösung für die Menschen im Iran parat. Die Möglichkeit der Vorherrschaft der Konterrevolution ist unter diesen Umständen nicht völlig auszuschließen.

LFI: Wie können die Frauen der Arbeiter:innenklasse und die Arbeiter:innenklasse als Ganzes nicht nur in den Vordergrund der Straßenkämpfe treten, sondern die Führung im Kampf für die Nachfolge des Regimes übernehmen? Wie können sie die Vorkämpfer:innen für eine sozialistische Republik werden? Gibt es Kräfte, die versuchen, die beginnende demokratische Revolution dauerhaft zu machen?

AR: Trotz aller Repression und Gewalt sind die Mullahs immer noch nicht in der Lage, die Revolution zu kontrollieren. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass diese Situation nicht ewig andauern kann. Jetzt ist ein unbefristeter Generalstreik notwendig, der deutlich macht, dass die wirkliche Macht in der Gesellschaft bei der Arbeiter:innenklasse liegt und sie das System stoppen kann. Die Linke hat wenig politischen Einfluss auf die Bewegung, aber es gibt viele Möglichkeiten für sie in dieser Revolution. Wenn sie nur der bestehenden Bewegung hinterherlaufen würde, könnte das Ergebnis ins Leere laufen, denn selbst wenn das Regime der Mullahs stürzt, könnte die Macht an jene Kräfte (reformistische, prowestliche, Pahlavi) übergehen, die nichts für die Arbeiter:innen und die Armen des Irans tun werden und auch nicht die vollen Freiheiten für die Frauen und die Demokratie bringen würden.

Wir brauchen eine klare sozialistische Alternative, die eine verfassunggebende Versammlung fordert und eine Arbeiter:innenregierung anstrebt, deren Programm das Recht der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung anerkennt. Nur das kann diese Bewegung zum Erfolg führen. Es braucht eine revolutionäre Kraft im Iran, die für die Strategie der Permanenten Revolution kämpft und glaubt, dass das Ende des Mullah-Regimes und der Kampf für demokratische Freiheiten im Iran mit der Befreiung vom Imperialismus und dem Ende des Kapitalismus verbunden ist. Eine solche Kraft befindet sich in einem frühen Stadium, aber sie hat die Möglichkeit, ihr Programm zu präsentieren.

LFI: Was wären die ersten Dinge, die Sozialist:innen umsetzen würden, wenn sie nach dem Sturz des Mullah-Regimes das Sagen hätten?

AR: Die Abschaffung des Hidschabs und aller anderen Gesetze gegen Frauen, vollständige demokratische Freiheiten, das Recht auf Selbstbestimmung für unterdrückte Nationen, die vollständige Trennung des Staates von der Religion und die vollständige Beendigung der Hilfe für religiöse Institutionen, die Beendigung der regionalen Intervention und die Einführung einer Planwirtschaft, so dass das Ziel der Wirtschaft nicht darin besteht, Profite für die Bürokratie und die kapitalistische Klasse zu erwirtschaften, sondern alle Ressourcen für die Verbesserung des Lebens der Arbeiter:innen und armen Menschen zu verwenden. Dies ist im bestehenden Staat unmöglich, daher ist die Abschaffung des bestehenden Staates und die Errichtung eines Arbeiter:innenstaates, der von Arbeiter:innenräten kontrolliert wird, notwendig.




Türkei: Erdogan-Regime instrumentalisiert Anschlag von Istanbul

Martin Suchanek, Infomail 1204, 15. November 2022

Das Erdogan-Regime in der Türkei handelt rasch, wenn es darum geht, einen Anschlag auf Zivilpersonen politischen Gegner:innen in die Schuhe zu schieben.

Am 13. November waren infolge einer Bombenexplosion in der Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal 6 Personen getötet und 81 weitere verletzt worden. Doch fast so schnell, wie die Nachricht über den Anschlag auf unschuldige Zivilist:innen um die Welt ging, macht die türkische Regierung auch schon die Schuldigen aus.

Wurde am Beginn noch gemutmaßt, ob es sich um Anhänger:innen der Gülen-Bewegung oder der PKK (Kurdische Arbeiter:innenpartei) handele, so steht das Ergebnis für Innenminister Süleyman Soylu nunmehr fest: Eine Syrerin mit Verbindungen zur kurdischen Miliz YPG soll es gewesen sein, die in Nordsyrien ausgebildet wurde und ihre Befehle aus Kobanê erhalten hätte.

Beweise wurden erst gar keine vorgelegt – ganz abgesehen davon, wie wenig vertrauenswürdig diese aus der Hand des türkischen Regimes auch aussehen sollen. Es gibt  keine Indizien dafür, dass der Anschlag von der PKK verübt wurde. Es fragt sich vielmehr, warum sie eigentlich unschuldige Menschen im Zentrum von Istanbul in die Luft sprengen sollte? Welchen politischen Sinn macht das für die türkische und syrische kurdische Bewegung, die die wenigen verbliebenen demokratischen Rechte in der Türkei zu verteidigen trachtet und sich der offenen Aggression der Türkei gegen Rojava erwehren muss?

In ersten Erklärungen PKK und YPG jede Beteiligung am Anschlag dementiert und diesen verurteilt. So heißt es in einer über die Nachrichtenagentur Firatnews veröffentlichten Erklärung: „Unser Volk und die demokratische Öffentlichkeit wissen genau, dass wir nichts mit diesem Vorfall zu tun haben, dass wir nicht direkt auf Zivilisten zielen und dass wir Aktionen nicht akzeptieren, die auf Zivilisten abzielen.“

Auch wenn man der politischen Strategie und Programmatik der PKK und YPG kritisch gegenübersteht, so gibt es gute Gründe, die Erklärung für stichhaltig zu betrachten. So veröffentlichen nationale Befreiungsbewegungen normalerweise Bekennerschreiben zu den Anschlägen, die sie selbst verüben. Schließlich wollen sie, dass die Öffentlichkeit weiß, warum und wozu sie eine solche Aktion verübt haben. Doch nichts dergleichen. Stattdessen verurteilen diese Organisationen den Anschlag. Allein dies kann schon als Beleg dafür gelten, dass PKK und YPG nicht für das Attentat von Istanbul verantwortlich sind, sondern es ihnen vielmehr untergeschoben werden soll. Dies wird umso klarer, wenn wir uns nach dem politischen Ziel der Aktion fragen.

Warum sollten PKK oder YPG einen Anschlag planen, von dem sie wissen, dass er von Erdogan sowohl innen- wie außenpolitisch gegen die kurdische Bewegung und ihre Organisationen ausgeschlachtet werden wird? Warum sollten sie einen Anschlag planen, mit dem Erdogan von der wirtschaftlichen Krise in der Türkei ablenken und die Unzufriedenheit mit nationalistischer Hetze gegen die Kurd:innen kanalisieren kann? Warum sollten sie ihm angesichts schlechter Umfragewerte für die Parlamentswahlen im Juni 2023 die Chance bieten, auf die nationalistisch Karte zu setzen, um die Anhänger:innen der AKP und ihrer Koalitionspartner zurückzuholen? Warum sollten sie einen Anschlag verüben, der als Vorwand zum militärischen „Vergeltungsschlag“ gegen Rojava genutzt werden kann? Kurzum, warum sollten PKK und YPG reaktionäre Aktionen durchführen, die ausschließlich den Zielen der türkischen Regierung dienen?

Derweil versucht die Regierung in Ankara, die Situation für sich zu nutzen. Die von der türkischen Rundregulierungsfunkbehörde RTÜK verhängte vorläufige Nachrichtensperre für die Medien und erschwerte Erreichbarkeit von Twitter und Co. sind dabei nur erste Schritte, um die öffentliche Meinung staatlich gelenkt zu manipulieren. So durften nach dem Anschlag nur Interviews mit Minister:innen ausgestrahlt werden.

Politisch wird das Regime den Anschlag zu einer nächsten Runde im Kampf gegen die kurdische Bewegung und ihre Organisationen in der Türkei und womöglich zu einem Militärschlag oder gar Vorstoß in Rojava nutzen. All das natürlich im Zeichen des Kampfes gegen den „Terrorismus“ der Kurd:innen – und diesmal womöglich mit westlicher Unterstützung. In jedem Fall wird die Türkei ihre Forderungen nach Auslieferung kurdischer politischer Flüchtlinge aus Schweden als Preis für dessen NATO-Mitgliedschaft forcierten. Während der türkische Innenminister Soylu den USA eine politischer Verantwortung für den Anschlag vorwirft, erklärte Karine Jean-Pierre, die Pressesprecherin von US-Präsident Biden: „Wir stehen im Kampf gegen Terrorismus Seite an Seite mit unserem NATO-Verbündeten Türkei.“ Annalena Baerbock und Olaf Scholz werden in dieser Situation Erdogan sicher keine Steine in den Weg legen, sollte er den Befehl zu Angriffen auf Rojava geben.

Umso wichtiger ist es, dass wir unsere Solidarität mit dem kurdischen Volk zum Ausdruck bringen. Unsere Anteilnahme gilt den 6 Opfern von Istanbul und den 81 Verletzten. Doch nicht minder deutlich müssen wir uns gegen das durchsichtige und reaktionäre Spiel des Erdogan-Regimes wenden, den Tod unschuldiger Zivilist:innen zur antikurdischen Hetze, zur Rechtfertigung von Repression und eines möglichen Militärschlages gegen Rojava zu missbrauchen.




Die iranische Revolution hat begonnen – wie kann sie siegen?

Martin Suchanek, Neue Internationale, November 2022

Die iranische Revolution steht an einem entscheidenden Punkt. Seit Wochen gehen Tausende, ja insgesamt wohl Millionen auf die Straße. In den kurdischen Regionen legten Generalstreiks das öffentliche Leben lahm. Die Universitäten bilden einen Hort des Widerstandes. Und seit Wochen breiten sich auch Streiks im Land aus.

Die Massen zeigen seit Wochen, dass sie nicht mehr leben wollen wie bisher. Ihre Kraft, ihr Heroismus, ihr Widerstand, an dessen Spitze bis heute vor allem junge Frauen stehen, konnte vom Regime bisher nicht gebrochen werden – trotz massiver Repression, trotz hunderter Toter, trotz Tausender Verletzter, Festgenommener und trotz inszenierter regierungstreuer Aufmärsche.

Doch die Bewegung steht auch an einem entscheidenden Punkt. Sie konnte zwar das islamistische Regime erschüttert. Brechen konnte sie es bisher jedoch nicht. Die Mullahs verfügen nach wie vor über einen zentralisierten Staats- und Repressionsapparat. Sie kontrollieren nach wie vor die Reichtümer des Landes, die Medien, die öffentlichen Institutionen, vor allem Hunderttausende in den Polizeikräften, Armeeeinheiten, Geheimdiensten und Milizen wie die Pasdaran und die Basidsch-e Mostaz’afin, die zu jedem Verbrechen bereit sind, um die Massenbewegung in Blut zu ertränken. Unverhohlen drohen die Führer der Reaktion wie der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, mit Worten wie: „Die Demonstranten sollten die Geduld des Systems nicht überstrapazieren.“ Was damit gemeint ist, zeigen Bilder aus Mahabad, wo Kräfte des Regimes am 28. Oktober in die Menge schossen.

Bislang hat die Bewegung trotz der Brutalität des Regimes standgehalten, ja sie hat sich über Wochen ausgeweitet und verbreitet. Doch wir nähern uns täglich einem Punkt, an dem das Regime versuchen wird, die Offensive wieder zu erlangen. Für die Bewegung stellt sich daher die Überlebensfrage: Wie kann die Massenbewegung zu einer organisierte Kraft werden, die selbst den Apparat der Mullahs brechen und zerschlagen kann? Wie kann die Revolution siegen?

Der Funke, der das Pulverfass entzündete

Der Mord an der 22jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini war jener berühmte Funke, der das Pulverfass explodieren ließ. Drei Tage nach der Festnahme durch die sog. Sittenpolizei wegen angeblichen Verstößen gegen die reaktionäre Kleiderordnung verstarb die junge Frau.

Ihr Schicksal war kein Einzelfall. Willkür, Misshandlung und Erniedrigung von Frauen, von nationalen Minderheiten, Unterdrückung der Jugend und die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse gehören zum Sittenbild einer „rechtschaffenen“ Theokratie, deren inszenierte moralische Autorität regelmäßig in Barbarei umschlägt. Dieses Regime fordert jährlich Tausende und Abertausende Opfer, deren Schicksal, deren Namen, deren Angehörige und Freund:innen unter dem Druck von Repression und Unterdrückung in der Anonymität verschwinden. Die Herrschaft des islamistischen Regimes umfasst alle Ebenen des Staates, durchdringt über sämtliche religiösen und andere reaktionäre Institutionen die Gesellschaft und ist eng mit der wirtschaftlichen Elite verflochten.

Doch dieser allmächtige staatliche, klerikale und wirtschaftliche Apparat, dieser Moloch,  der die gesamte iranische Gesellschaft zu ersticken droht, hat seit dem 16. September den Nimbus seiner Allmacht verloren. Die seit Jahren und Jahrzehnten angehäuften Widersprüche der iranischen Gesellschaft treten seither offen zutage.

Heroismus

Täglich riskieren tausende Frauen im ganzen Land ihre Leben, bilden die Speerspitze der Bewegung. Sie legen öffentlich den Schleicher ab, lassen sich ihr Haar schneiden, riskieren ihr eigenes Leben, um ein zukünftiges zu erkämpfen. Dieser Heroismus, diese Entschlossenheit verweisen aber auch auf die Tiefe der gegenwärtigen Bewegung. Sie treffen einen ideologischen und materiellen Kern der islamistischen Diktatur, die geschlechtsspezifische Unterdrückung. Zweitens zeigen sie aber auch, dass die große Mehrheit der iranischen Frauen und der gesamten Bevölkerung nicht mehr bereit ist, weiter so zu leben wie bisher. Viele fürchten ein Leben in Unfreiheit, partriarchaler und klerikaler Unterdrückung mehr als den Tod.

Dieser Heroismus bezeugt sehr viel mehr als Mut, Opferbereitschaft, Kampfeswille und Unbeugsamkeit Einzelner. Dass er zum Massenphänomen wurde, dass er breite Schichten ergriff, verdeutlich das revolutionäre Potential der Massen.

Ausweitung seit September

In den letzten Wochen hat sich die Bewegung gegen das Regime ausgeweitet. In den kurdischen Gebieten hat der Kampf teilweise die Form von lokalen Aufständen angenommen. In Sine (Sanandadsch, Sanandaj) wurden Anfang Oktober Sicherheitskräfte aus Teilen der Stadt zurückgedrängt. Das Regime versuchte, die Bewegung mit brutaler Repression, Einsatz von Kriegsgerät durch die Polizei und willkürlichen Morden niederzuschlagen und die kurdische Bewegung zu einer verfrühten bewaffneten Konfrontation zu provozieren.

Ein entscheidender Grund dafür, dass das Regime bisher die Bewegung nicht brechen konnte, liegt darin, dass sie alle Schichten der Gesellschaft, Frauen, Studierende, die unterdrückten Nationalitäten, vor allem aber auch die Arbeiter:innenklasse ergriffen hat. Deren soziale Lage hat sich über Jahre besonders dramatisch verschlechtert. Seit gut einem Jahrzehnt liegt die offizielle Inflationsrate bei 10 – 20 %. 11,3 Prozent sind offiziell als arbeitslos registriert. Frauen, Jugendliche, aber auch Menschen mit Hochschulabschluss und nationale Minderheiten sind davon besonders stark betroffen.

Schon im Frühjahr und Sommer 2022 fanden im Iran wichtige illegale oder halblegale Streiks der Arbeiter:innen gegen Preissteigerungen, schlechte Arbeitsbedingungen und für die Auszahlung ausstehender Löhne statt. Es ist daher kein Wunder, dass sich die Arbeiter:innenklasse im September rasch hinter die Protestbewegung stellte.

Seither weiteten sich die Streiks und Aktionen rasch aus. Seit dem 10. Oktober ergriffen sie auch die Ölindustrie. So streiken die Arbeitenden der Öl- und Gaswerke in Asaluyeh und Kangan, im South-Pars-Gasfeld, in Buschehr im Süden Irans. Am 19. Oktober befanden sich Beschäftigte von Asalouyeh Petrochemical, Bandar Abbas Petrochemical, Abadan Petrochemical, Bushehr Petrochemical, South Pars Petrochemical, Haft Tappeh Sugar Cane Company, Neyriz Ghadir Steel in Fars im Ausstand.

Der Versuch, auf die Opposition mit eigenen, regierungstreuen, islamistischen Massenkundgebungen zu antworten, erwies sich im September als politisches Eigentor. Die inszenierten Aktionen blieben zahlenmäßig weit hinter der Protestbewegung zurück. Offenkundig können die Mullahs die alte Ordnung bisher nicht einfach wieder herstellen, weder durch massive Repression noch durch inszenierte Zurschaustellung ihrer eigenen Anhänger:innen.

Auch wenn das Regime erschüttert ist, so wird es nicht freiwillig oder aufgrund von Straßenprotesten und unkoordinierten Besetzungen und Streiks weichen. Im Gegenteil: Es sammelt seine Kräfte, reorganisiert sie und verfügt über einen zentralisierten Apparat, der zwar in der Defensive, aber intakt geblieben ist. Es monopolisiert weiter die Medien und öffentliche Propaganda, verfügt über ein Monopol der bewaffneten Kräfte und ist eng mit der herrschenden Kapitalist:innenklasse verbunden.

Die Bewegung wiederum kann nicht ewig auf diesem Stand verharren. Sie muss vielmehr einen entscheidenden Schritt vorwärts gehen, wenn sie die vorrevolutionäre Krise in eine echte Revolution umwandeln, das Regime stürzen will.

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben haben längst Parolen wie „Jin Jiyan Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes verbunden. Ihnen ist längst schon bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Auch anderen Schichten der Unterdrückten ist bewusst, dass sie zur Zeit an einem Scheideweg, vor einer klaren Alternative stehen: Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Diese Frage ist untrennbar verknüpft mit der, welche gesellschaftliche Kraft der Revolution ihren Weg weisen, sie zum Sieg führen und die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen erfüllen kann.

Die gegenwärtige Bewegung erscheint zwar als spontane, doch ihre Aktionen sind auf lokaler, auf universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet haben. In den kurdischen Gebieten existiert auch ein Koordinierungsausschuss von bislang natürlich illegalen Parteien. Doch die Bewegung hat kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

Und eine solche Koordinierung und Zentralisierung kann aus einzelnen lokalen Aktionen, Streiks, Demonstrationen nicht entstehen. Es braucht vielmehr eine die Bewegung zusammenfassende Kampfform, die das gesamte Land erschüttern kann – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Entscheidend ist aber, dass diese auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufruf an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Schon in der iranischen Revolution bestand ein Kernproblem darin, dass die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten die Hauptlast des Kampfes gegen den Schah trugen, aber ihre Interessen jenen des Bündnisses mit anderen Klassen gegen den Thron untergeordnet wurden. Damals führten vor allem die Stalinist:innen die Arbeiter:innenklasse und Frauen dazu, ihre eigenen Befreiungsinteressen, Klassenforderungen zurückzustellen zugunsten eines Bündnisses mit vermeintlich „antiimperialistischen“ Kräften und dem „nationalen“ Flügel der Bourgeoisie. Diese Politik führte dazu, dass die Frauen auf ihre emanzipatorischen Ziele verzichten sollten, damit die Mullahs für ein Bündnis gegen den Schah und den US-Imperialismus gewonnen werden konnten. Diese Politik führte dazu, dass zugunsten einer sog. „demokratischen Etappe“ der Revolution die Arbeiter:innenklasse die Enteignung des Kapitals und den Kampf für eine sozialistische Umwälzung zurückstellen sollte. Diese Politik führte nicht zur „demokratischen“ Etappe, sondern zur islamistischen Diktatur, zur Entrechtung der Frauen und der Arbeiter:innenklasse.

Dieser Fehler darf heute nicht in anderer Form wiederholt werden. So wie die Beschränkung der iranischen Revolution auf eine bürgerlich-demokratische Etappe damals der Konterrevolution zum Sieg verhalf, so dürfen die Lohnabhängigen, die Frauen, die Jugend, die unterdrückten Nationalitäten heute keine Hoffnung in ein Bündnis mit der monarchistischen oder demokratisch-imperialistischen bürgerlichen Opposition hegen.

Programm

Es braucht vielmehr ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuer:innenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!

  • Volle demokratischen Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!

  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!

  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie die Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!

  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!

  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!

  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!

  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und Unternehmen! Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuer:innen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!

  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assad-Regimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!

  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Buern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!

  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!

Revolutionäre Arbeiter:innenpartei

Ein solches Programm wird nicht einfach spontan aus dem Kampf entstehen. Es braucht bewusste, revolutionäre Kräfte, die es weiter ausarbeiten, dafür unter den Arbeiter:innen, Studierenden, den Frauen, den nationalen Minderheiten eintreten und Kräfte sammeln. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen sich alle jene revolutionären und klassenkämpferischen Kräfte, die diese Perspektive teilen, jetzt organisieren, eine neue revolutionäre Arbeiter:innenpartei schaffen, eine Partei, die legale und illegale Arbeit geschickt verbinden muss. Die Zeit drängt in jedem Fall. Die nächsten Tage und Wochen können für Jahre entscheidend sein.

Keine Frage, es wird überaus schwer, in dieser kurzen Zeitspanne eine Partei der Revolution zu schaffen, eine Kraft, die wirklich unter den Massen verankert ist, und diese Arbeiter:innenklasse im Bündnis mit den Unterdrückten zum Sieg führen kann. Allein, es gibt dazu auch keine Alternative.




Krise, Kapitalismus und Herrschaft der Mullahs

Martin Suchanek, Neue Internationale 269, November 2022

Die Tiefe der aktuellen Bewegung im Iran wird erst richtig verständlich, wenn wir die sozialen und ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre und die Verbindung des Regimes zum Kapitalismus betrachten.

Stagnation

Seit Jahren befinden sich die iranische Wirtschaft und Gesellschaft in einer tiefen ökonomischen und sozialen Krise. Die Entwicklung des BIP (Bruttoinlandsprodukts) gleicht dabei einer Fieberkurve. Auf den Einbruch 2012 (-3,75 %) und 2013 (-1,53 %) folgte 2014 ein Plus von 4,99 %. Im Folgejahr 2015 schrumpfte das BIP jedoch wieder (-1,43 %). 2016 schoss es um 8,82 % in die Höhe, doch schon 2017 ging das Wachstum wieder auf 2,76 % zurück. Es folgten 2018 (-1,84 %) und 2019 (- 3,07 %) Jahre der Rezession. 2020 und 2021 wuchs das BIP zwar wieder (+3,3 % und +4,72 %).

Diese Zickzackkurve verdeutlicht schon, wie fragil die kapitalistische Entwicklung im Land geworden ist, bildet sich doch seit Jahren kein „normaler“, über mehrere Jahre gehender Konjunkturzyklus heraus. Faktisch stagniert die Ökonomie des Landes seit etwa einem Jahrzehnt, insbesondere wenn wir das BIP ins Verhältnis zur Bevölkerung setzen, die von 76,04 Millionen Menschen im Jahr 2012 auf 84,98 Millionen im Jahr 2021 zunahm.

Soziale Lage

Besonders dramatisch gestaltet sich zudem die Lage der Lohnabhängigen. Seit 2012 sank das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von rund 8.000 US-Dollar auf etwas über 2.000 (2020). Die Hauptgründe für den realen Verlust an Kaufkraft und damit verbundene Entwertung der Einkommen und Vermögen der Massen liegen in der dauerhaft hohen Inflationsrate (10 – 20 % pro Jahr), dem Kursverfall der Währung sowie der hohen Arbeitslosigkeit, prekärer und Unterbeschäftigung. Die Arbeitslosenrate beträgt heute offiziell 11,13 %, wobei sie für Frauen, Jugendliche, Menschen mit Hochschulabschluss und nationale Minderheiten etwa doppelt so hoch liegt wie im Durchschnitt.

Doch auch für die beschäftigten Arbeiter:innen waren die letzten zehn Jahre ein soziales Desaster. Lt. Massarrat sank der reale Mindestlohn von 400 US-Dollar/Monat im Jahr 2010 auf 100 – 130 im Jahr 2018 – und das trotz vieler, erbittert geführter Arbeitskämpfe, die teilweise auch zu kurzfristigen Lohnerhöhen führten. Allein, die Inflation frisst diese rasch wieder auf, sie lag 2021 bei über 40 % und zur Zeit bei über 30 %. Unter der Pandemie verschlechterte sich darüber hinaus die allgemeine Lage. Heute lebt rund die Hälfe der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

All dies erklärt aber auch, warum die Bewegung so rasch und massiv an den Universitäten und in den Betrieben Fuß fassen, sich ausweiten und verankern konnte.

Jugend und Frauen

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und besondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppt sich nach anfänglichen Industrialisierungs- und ökonomischen Erfolgen in den 1980er und 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13 verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innenklasse bildet mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Staat und Bourgeoisie

Nach der konterrevolutionären Machtübernahme und Niederlage der iranischen Revolution 1979 setzte das Regime auf eine staatskapitalistische Industrialisierung, finanziert durch das Ölgeschäft und ein Bündnis mit der Handelsbourgeoisie, vor allem den sog. „Bazaris“ (einer traditionell religiös-konservativ eingestellten Schicht von Großhändler:innen, die am Bazar von Teheran ihren Geschäftssitz hat und sich unter dem Schah benachteiligt fühlte).

Bewerkstelligt werden sollte diese durch Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas sowie durch westliche Investitionen. Diese Politik zeitigte auch einige begrenzte Erfolge, was sich auch im Wachstum der Arbeiter:innenklasse ausdrückte.

Die Öleinnahmen wurden unter den Mullahs ebenso wie unter dem Schah zum größten Teil jedoch nicht in die Entwicklung einer umfassenden, nationalen Wirtschaft und Industrie investiert, sondern der größere Teil floss entweder in die Taschen einer Bürokratenkaste und der eng mit dem Regime verbunden religiösen und repressiven Institutionen. Dabei entstand auch eine neue Schicht von Unternehmer:innen, indem beispielsweise Offizier:innen, hohe Beamt:innen, führende Kommandeur:innen der Milizen und andere Funktionsträger:innen bei Privatisierungen begünstigt wurden, deren Geschäftsmodell im Wesentlich aus staatlichen Aufträgen bestand, also aus einer Umverteilung der Öleinnahmen. Dies war für sie zugleich profitabler und sicherer als industrielle Neuinvestitionen.

Das traf erst recht für die schon etablierten kapitalistischen Großhändler:innen zu, von denen selbst viele historisch aus dem Großgrundbesitz auf dem Land hervorgegangen waren. Das Geschäftsmodell der großen Handelskapitale bestand einerseits im Import von Waren für jene Schichten, die aus den Öleinnahmen alimentiert wurden (und damit eben heimische Produkte ersetzen) sowie in Anlagen von Immobilien und auf Finanzmärkten. Der Grund dafür ist kein Geheimnis. Diese Sphären versprachen einfach raschere und höhere Gewinne als der industrielle Sektor. Die Öleinnahmen des iranischen Staates fungierten als Garantinnen für diese Geschäfte.

Dieses Problem, dass die Einnahmen aus dem Rohstoffreichtum nicht organisch in den Aufbau der heimischen Wirtschaft fließen, ist natürlich kein speziell iranisches. Es ist vielmehr typisch für halbkoloniale Länder, deren Einnahmen wesentlich aus dem Verkauf von Rohstoffen oder Einnahmen in Form der Grundrente stammen. Länder wie der Iran sind trotz Sanktionen und diplomatischer Isolierung natürlich weiter vom Weltmarkt abhängig. Das zeigt sich auch darin, dass die iranische Wirtschaft seit 2012/13 auch wegen des gesunkenen Rohstoffpreises für Öl und Gas in weitere Schwierigkeiten geriet. Darüber hinaus führten die von den USA forcierten und auch bei ihren westlichen Verbündeten durchgesetzten Sanktionen zu einem Rückgang an Investitionen ausländischen Kapitals, das auch durch andere Staaten wie China nicht aufgewogen werden konnte.

Weltmarkt und nationales Kapital

Die Abhängigkeit vom Weltmarkt geht aber auch mit einer bestimmten Ausrichtung des nationalen Kapitals einher. Nicht nur das wichtigste Wirtschaftsgut ist auf den Weltmarkt ausgerichtet, auch die Investitionsrichtung der bedeutendsten Kapitalgruppen wird davon bestimmt. Dass das „nationale“ Kapital im Iran seine Gelder lieber in spekulative Geschäfte und in Im- und Export von Waren anlegt, folgt der simplen Logik jedes Einzelkapitals – dort zu investieren, wo die größte Rendite bei geringstem Risiko zu erwarten ist.

Dies erklärt auch, warum die iranische Bourgeoisie wieder willens noch fähig ist, das Land selbst zu entwickeln, sondern wesentlich parasitäre Züge annimmt. Erst recht trifft dies auf die aus dem Regime hervorgegangenen, „neuen“ Unternehmer:innen zu. Hinzu kommt, dass das islamistische Regime auch noch eine ganze Heerschar von Repressionskräften, Militär, paramilitärische Einheiten wie die Pasdaran, Staatsbeamt:innen, religiöse Würdenträger – allesamt ökonomisch unproduktive Gesellschaftsschichten – alimentieren muss.

Anders als in den Petromonarchien am Golf ist die iranische Bevölkerung jedoch viel zu groß, um in ihrer Gesamtheit aus den Öleinnahmen alimentiert werden zu können. Da die Privatbourgeoisie ihr Kapital lieber in Handel und Finanzen statt in der Industrie anlegte, versuchten der Schah wie auch das islamistische Regime, über einige Zeit eine staatskapitalistische Industrialisierung zu forcieren. Doch diese scheiterte nicht nur an der Abhängigkeit vom Weltmarkt (Öl- und Rohstoffpreise), sondern auch daran, dass zuerst die Handels- und Finanzbourgeoisie und eigenen zahlreichen Günstlinge bedient werden mussten.

Der „Rest“ war zu gering und unsicher, um eine ökonomische Modernisierung zu leisten. So blieb vieles Stückwerk, auf halbem Weg stecken. Die neoliberale Wende des Regimes nach 2010 und die Sanktionen des Westens verschärften das Problem. Die Industrie und angelagerte Wirtschaftsteile litten an fehlenden Ersatzteilen, überalterten Maschinen, fehlenden Märkten, mangelnder Auslastung und ganz besonders an Kapital für Neu- oder Ersatzinvestitionen.

Die Arbeiter:innenklasse muss den niedergehenden Betrieb irgendwie am Laufen halten und erlebt zugleich täglich, dass sich der islamistische Kapitalismus nicht nur im Niedergang befindet, sondern auch die Lohnabhängigen mit in den Abgrund zu reißen droht.

Für die beschäftigten Arbeiter:innen verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen, Unfälle werden zur Regel. Viele verdienen aufgrund von Inflation und Produktionsausfällen immer weniger, andere warten monatelang auf ihre Löhne.

Es ist kein Wunder, dass sich die Lohnabhängigen v. a. außerhalb strategischer staatlicher Betriebe, wo noch höhere Löhne bezahlt werden, in den letzten Jahren immer mehr vom Regime entfremdeten. Vor allem aber 2019 bildeten sie die zentrale soziale Kraft in der Massenbewegung gegen das Regime, erhoben sie ökonomische Forderungen in Verbindung mit solchen nach dem Sturz der Mullahherrschaft.

Unter der Diktatur des Schahs und jener der Islamist:innen erwies sich die iranische Bourgeoisie als unfähig und unwillig, das Land zu entwickeln. Dazu wird sie auch in Zukunft nicht in der Lage sein, als fortschrittliche Kraft hat sie längst ausgespielt. Umso dringenden ist es, dass die Jugend, kämpfenden Frauen, unterdrückten Nationalitäten, vor allem aber die Arbeiter:innenklasse selbst erkennen, dass die kommende iranische Revolution nur dann die Probleme des Landes lösen kann, wenn sie zu einer sozialistischen wird.