Entstehung, Programm, Praxis – zum Charakter der Linkspartei

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024

Die Gründung der Partei DIE LINKE 2007 geht auf die Fusion von „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und der „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) zurück. Sie bildete eine Antwort auf die Agenda 2010, auf die sozialdemokratische Dominanz und den Verrat der SPD an der Arbeiter:innenklasse, der auch im Verhältnis zwischen dieser und Lohnarbeiter:innen eine nachhaltige Zäsur bedeutete.

Das Positive daran war sicherlich eine Erschütterung des SPD-Monopols auch in den Gewerkschaften, die – anders als bei den Grünen in den 1980er Jahren – nicht zur Bildung einer „radikalen“ kleinbürgerlichen, später offen bürgerlichen Alternative zur SPD führte, sondern zur Entstehung einer zweiten reformistischen Partei.

Mit Gründung der Linkspartei ist eine zweite, im Grunde linkssozialdemokratische Partei entstanden. Andererseits war DIE LINKE selbst nie mehr als eine Partei zur Reform und Bändigung des Kapitalismus – und wollte auch nicht mehr sein.

Entstehung

Das verdeutlichte bereits ihre Entstehung. Die PDS war trotz ihres parlamentarischen Überlebens eine schrumpfende Partei, die nur in den neuen Bundesländern und Berlin über einen Massenanhang verfügte. Die Mitgliedschaft betrug 1990 noch 285.000 Mitglieder, 1991 172.579 und im Jahr 2006, also vor Fusion mit der WASG, 60.338.

Die ehemalige PDS-Mitgliedschaft wies bei der Fusion einige Besonderheiten in der Sozialstruktur auf, die davon herrühren, dass sie aus der Partei der ehemals herrschenden Bürokratie der DDR hervorging und die dort politisch absolut dominierende gewesen war.

Mehr als 60 Prozent der PDS-Mitglieder waren 2006 älter als 65 Jahre, also Rentner:innen. Die jüngeren sind es jedoch, die im Apparat der Partei, in den Stiftungen, Landtagen, Kommunen usw. als Funktionär:innen tätig sind. Zweitens lag der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Parteimitgliedschaft in der PDS mit 37 Prozent deutlich unter jenem der SPD (57 Prozent). Drittens verfügten 54 % der PDS-Mitglieder über einen Hochschulabschluss gegenüber 33 Prozent bei der SPD, während umgekehrt nur 30 % die Schule mit einem  Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss absolviert hatten – ein extrem geringer Prozentsatz für eine Massenpartei, die sich sozial auf das Proletariat stützt, 2006 auch extrem gering gegenüber 40 Prozent bei der SPD und 50 Prozent in der Gesamtbevölkerung.

Die PDS war zwar auch immer eine reformistische, bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Aber anders als die SPD stützte sich ihre organische Verankerung kaum auf die Gewerkschaften. Diese wurde vielmehr über den Einfluss in anderen Massenorganisationen wie der Volkssolidarität, Mieter:innenvereinigungen, lokalen Verbänden sowie eine historisch gewachsene Verbindung zu den akademisch gebildeten Schichten der ostdeutschen Lohnabhängigen gebildet. Dazu kam ein Massenanhang auch unter sozial schlechter gestellten Teilen der Arbeiter:innenklasse, insbesondere auch Arbeitslosen im Osten.

Das wirkliche neue politische Phänomen bei der Fusion stellte die WASG dar. Diese war ein Resultat der Massenproteste und Mobilisierungen gegen die Angriffe der rot-grünen Regierung – Agenda 2010 und Hartz-Gesetze – und der damit verbundenen Krise der SPD.

Auch beim Blick auf die WASG ist jede nachträgliche Idealisierung fehl am Platz. Schon der Name „Wahlalternative“ war instruktiv dafür, worin die Praxis der zukünftigen Partei bestehen sollte. Zweitens war die WASG von Beginn an von einem „traditionalistischen“ Flügel der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie, ihren akademischen Wasserträger:innen und ehemaligen SPD-Funktionär:innen um Lafontaine dominiert und geführt.

Für diese, die WASG von Beginn an prägende und dominierende Strömung war immer auch klar, wie eine zukünftige neue Partei der „sozialen Gerechtigkeit“ aussehen müsste. Sie sollte eine Wahlpartei sein, die im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften und deren Führungen sowie anderen, vom Reformismus dominierten sozialen Bewegungen (z. B. attac, Friedensbewegung) v. a. an der Wahlurne einen „Politikwechsel“ erzwingt, eine Partei, deren Ziel die Verteidigung oder Wiedererrichtung des „Sozialstaates“ war.

Die WASG litt jedoch an einem inneren Widerspruch, der die reformistische Führung umtrieb und beunruhigte und zugleich das klassenkämpferische Potenzial der neuen Partei zum Ausdruck brachte. Die WASG zog nämlich als Mitglieder nur wenige Bürokrat:innen an, sondern vor allem Arbeitslose und Aktive aus den sozialen Bewegungen. Sie war eine Partei der Hartz-IV-Bezieher:innen; von Arbeitslosen, die damals mit 345 (West) bzw. 331 (Ost) Euro plus Wohngeld über die Runden kommen mussten. In vielen Städten machten diese die Hälfte der Mitgliedschaft oder mehr aus.

Auch wenn diese Schicht der Mitgliedschaft viele der Illusionen in den „Sozialstaat“, den Parlamentarismus und die Möglichkeit einer „Reformpolitik“ teilte, so wollte sie eine aktive Partei bilden, die für die Belange der Arbeitslosen und anderer Unterdrückter und Ausgebeuteter kämpft.

Die WASG war zwar von Beginn an eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Doch die vorherrschende Bürokrat:innenclique verfügte noch nicht über einen starken, verlässlichen Apparat. Noch hatte sich in ihr kein stabiles Verhältnis zwischen Führung und Basis herausgebildet, das in langjährig etablierten reformistischen Parteien fast automatisch die Gefolgschaft der, meist passiven, Mitglieder sicherstellt. Die WASG hingegen war eine reformistische Partei mit einer außergewöhnlich aktiven Mitgliedschaft, was aus ihrer Verbindung zur Arbeitslosenbewegung herrührt.

Für die PDS und heute DIE LINKE oder die SPD war und ist es normal, dass die überwältigende Mehrheit der Mitglieder außer der Beitragszahlung nichts oder wenig tut, zu keinen Versammlungen erscheint oder, wo sie es tut, dort mehr oder weniger passiv agiert und die Vorgaben von oben abnickt. Das stärkt die Führung und das ist im Grunde auch so gewollt. Die aktiven Mitglieder reformistischer Parteien sind in der Regel die Funktionär:innen der Partei bzw. Funktionsträger:innen des bürgerlichen Staates oder korporatistischer Gremien wie Betriebsräten, von Sozialverbänden oder ähnlichem. Und genau diesen „Normalzustand“ einer bürgerlichen Partei – und eine solche, wenn auch besondere Form ist auch eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei – wollten die Spitzen von WASG und PDS mit der Fusion zur Linkspartei bewusst herbeiführen.

Das haben sie mit der Fusion mit der PDS auch geschafft. Von den 12.000 WASG-Mitgliedern machte nur etwas mehr als die Hälfte die Fusion mit. Viele widersetzten sich der bürokratischen Fusion und der Regierungspolitik der PDS, die vor allem in Berlin katastrophal war. Den Höhepunkt erlebte diese Rebellion der Bewegungsbasis in der Kandidatur der Berliner WASG gegen die PDS 2006, wo die PDS 9,2 % der Stimmen verlor und auf 13,4 % absackte. Die Berliner WASG konnte einen Achtungserfolg mit 3,8 % der Erststimmen und 2,9 % der Zweitstimmen (40.504) verbuchen.

Dieser Erfolg der WASG und die Formierung des Netzwerks Linke Opposition (NLO) brachten das Potential eines Bruchs und einer weiteren Radikalisierung zum Ausdruck, der jedoch auch daran scheiterte, dass ein Teil der Linken, die den Wahltritt in Berlin unterstützt hatten, vor dieser Perspektive zurückschreckte und, allen voran die SAV, in den Schoß der Linkspartei zurückkehrte. Neben linken Fusionsgegner:innern blieben v. a. die Arbeitslosen, die unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse, der neuen Partei fern.

Die Entstehung 2007 verdeutlicht auch das reale Verhältnis der Partei zu sozialen Bewegungen. Diese sind solange willkommen, als sie der Partei Mitglieder und Wähler:innen zutragen – nicht jedoch als eigenständiger Faktor, der der Spitze gefährlich werden und die Partei real zu einem Instrument von Klassenbewegungen von unten machen könnte.

Außerdem konnte DIE LINKE diese Verluste durch ein scheinbar stetes Wachstum und Wahlerfolge von 2007 – 2010 leicht kompensieren. Abgesehen von Bayern überwand sie in diesem Zeitraum bei allen westdeutschen Landtagswahlen die 5 %-Hürde. Auch im Osten fuhr DIE LINKE Rekordergebnisse ein, so 2009 in Thüringen (27,4 %) und Brandenburg (27,2 %). Bei den Bundestagswahlen 2009 brachte sie es auf 11,5 % (gegenüber 8,7 % 2005) und 76 Abgeordnete.

Bei ihrer Gründung 2007 hatte DIE LINKE insgesamt 71.711 Mitglieder in 16 Landesverbänden. In den Folgejahren stieg die Zahl auf 75.968 (2008) und 78.046 (2009). 2010 schrumpfte die Mitgliedschaft jedoch um fast 5.000 auf 73.658. Seither ist die Mitgliederzahl der Partei, wenn auch mit einzelnen Ausnahmen, stetig rückläufig. 2023 beträgt sie nur noch 55.000.

Programm und Strategie

Dem reformistischen Charakter der Partei entsprachen von Beginn an ihre programmatischen, strategischen Vorstellungen.

Das Programm der Partei DIE LINKE (Programmatische Eckpunkte, angenommen 24./25. März 2007) trug von Beginn an die Handschrift des keynesianischen, auf die Gewerkschaftsbürokratie und die Arbeiter:innenaristokratie orientierten Mehrheitsflügels der Partei. Als strategisches Ziel der Partei verortet es einen „Politikwechsel“, gestützt auf das Erringen einer „antineoliberalen gesellschaftlichen Hegemonie“.

DIE LINKE bekennt sich in den programmatischen Eckpunkten ihres Gründungsparteitages 2007 ausdrücklich zum freien Unternehmer:innentum. Dort heißt es: „Gewinnorientiertes unternehmerisches Handeln ist wichtig für Innovation und betriebswirtschaftliche Leistungsfähigkeit.“ (S. 3) Der Staat habe nur dafür zu sorgen, dass dieses im kreativen Überschwang nicht über die Stränge schlage und gegen das Gemeinwohl verstoße.

Dahinter steht die alte reformistische Mär, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse durch die Intervention von Staat und Politik, wenn schon nicht überwunden, so erfolgreich abgemildert werden könne – was wiederum impliziert, dass „der Staat“ kein Instrument zur Sicherung zur Herrschaft der Bourgeoisie wäre, sondern über dem Klassengegensatz stünde.

Dabei ist den Strateg:innen der LINKEN durchaus klar, dass eine einfach Mehrheit im Parlament, ein Parteienbündnis von LINKEN und SPD (und evtl. den Grünen) nicht ausreicht, um die Sabotage jeder fortschrittlichen Maßnahme durch die herrschende Klasse, die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die monopolisierten bürgerlichen Medien usw. abzuwehren.

Marx, Lenin und alle anderen revolutionären Marxist:innen haben daraus und aus der Aufarbeitung der Klassenkämpfe und Revolutionen seit Beginn der bürgerlichen Epoche den Schluss gezogen, dass das Proletariat – will es sich befreien, will es dem kapitalistischen Ausbeutungssystem ein Ende setzen – den bürgerlichen Staat nicht einfach übernehmen, nicht auf eine „Regulierung“ des Kapitalmonopols an den Produktionsmitteln hoffen darf, sondern die herrschende Klasse enteignen, den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und durch die Herrschaft der in Räten organisierten bewaffneten Arbeiter:innenklasse ersetzten muss.

DIE LINKE schlägt hier einen ganz anderen, wenn auch nicht gerade originellen Weg vor. Eine „Reformregierung“ müsse sich auf die „gesellschaftliche Hegemonie“ stützen – sprich darauf, dass auch die „weitsichtigen“ und „sozialen“ Teile der herrschenden Klasse für eine Politik des Klassenausgleichs gewonnen werden müssen.

Eine solche Politik bedeutet notwendigerweise eine Unterordnung der LINKEN unter einen Flügel der herrschenden Klasse, eine Garantie für das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Es bedeutet notwendig eine staatstragende Politik der „Opposition“.

Der Partei schwebt eine Marktwirtschaft ohne große Monopole und Konzerne vor, ein Sozialismus auf Basis von Warenproduktion und pluralen Eigentumsverhältnissen.

DIE LINKE erkennt zwar die Existenz von Klassen und auch des Klassenkampfes an – aber nicht dessen Zuspitzung. Der Kampf für Sozialismus oder eine andere Gesellschaft durch die Linkspartei ist für die Alltagspraxis allerdings weitgehend fiktiv, eine Worthülse. Das drückt sich auch im Sozialismusbegriff aus. Dieser wird nicht als bestimmte Produktionsweise, sondern vor allem als Wertegemeinschaft verstanden. So heißt es im Grundsatzprogramm von 2011:

„Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird.“

Dieser Anklang an Marx ist allerdings auch schon alles, was mit dessen Vorstellung von Sozialismus/Kommunismus und dem Weg dahin zu tun hat. Anstatt einer Revolution als Vorbedingung zur Entwicklung gen Kommunismus sieht der Programmentwurf einen „längere(n) emanzipatorische(n) Prozess (vor), in dem die Vorherrschaft des Kapitals durch demokratische, soziale und ökologische Kräfte überwunden wird und die Gesellschaft des demokratischen Sozialismus entsteht.“ Der Boden des bürgerlich-demokratischen Systems ist ihr als politisches Terrain heilig, die sozialistische Revolution lehnt sie ab.

Das bedeutet aber auch, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer Ziele und Version dieses Sozialismus durch Regierungsbeteiligungen herbeiführen muss. Wo die Linkspartei an der Regierung ist, gestaltet sie die bestehenden Verhältnisse mehr oder minder sozial mit. Dabei akzeptiert sie die Institutionen des bürgerlichen Systems als unüberschreitbaren Rahmen linker Politik, der allenfalls durch einzelne Reformen zu erweitern wäre.

Das entscheidende Problem dieser Konzeption liegt im Verständnis von Klassenkampf und Staat. Der bürgerliche Staat wird als Mittel zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen, als Terrain des Klassenkampfes, nicht als Staat des Kapitals, als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie.

Der Unterschied zum Marxismus besteht dabei nicht darin, dass der Kampf um Reformen und für demokratische Rechte abzulehnen wäre. Er besteht auch nicht darin, dass nicht auch Kämpfe auf staatlichem Terrain ausgetragen werden können und müssen, sondern in der Annahme, dass diese den Klassencharakter des bürgerlichen Staats aufheben könnten. Die Transformationsstrategie begreift ihn als ein ein zu reformierendes Instrument gesellschaftlicher Veränderung hin zum Sozialismus.

Das findet sich auch im noch heute gültigen Grundsatzprogramm von 2011, dem angeblich linken „Erfurter Programm“ wieder:

„DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“

Auch wenn hier nebulös von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gesprochen wird, so bleibt folgendes Kernproblem: Die Transformationsstrategie löst die Dialektik von Reform und Revolution so auf, dass die Revolution als eine in die Breite gezogene, bloß tiefer gehende, grundlegendere und langwierige Reform verstanden wird. Die Revolution bildet dann im Grunde nur eine Fortsetzung ewiger Reform- und Transformationsbemühungen.

Kommunistische Politik betrachtet die Frage gerade umgekehrt. Die Revolution stellt einen Bruch dar, ein qualitativ neues Moment, eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse. So wichtig einzelne Reformen auch sein mögen, so zeichnet sich eine revolutionäre Veränderung durch die Machteroberung einer bisher ausgebeuteten Arbeiter:innenklasse aus. Dabei ist aber nicht die Transformation des bürgerlichen Staates kennzeichnend, sondern vielmehr umgekehrt das Zerbrechen oder Zerschlagen dieses Apparates. Die Herrschaftsinstrumente des Kapitals werden ersetzt durch qualitativ neue vorübergehende Formen politischer Herrschaft, die Räteherrschaft der Arbeiter:innenklasse, also die Diktatur des Proletariats anstelle der des Kapitals.

Vor diesem Hintergrund wird auch die Begrenztheit einer in der Linkspartei gern geführten Debatte zwischen linkem und rechtem Flügel ersichtlich, zwischen kommunaler/parlamentarischer Regierungsarbeit und Bewegungslinker/Parteiapparat. Die gesamte Transformationsstrategie verspricht zwar eine Verbindung dieser, stößt aber unwillkürlich selbst auf das Problem, dass eine bürgerliche Regierung auch mit der Linkspartei eine solche bleibt. D. h., die Partei muss dann notwendigerweise an der Regierung gegen die Interesse der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten handeln und jene der herrschenden Klasse vertreten – oder sie müsste mit ihrem gesamten Konzept brechen. Die Transformationsstrategie, die in der realen Regierungspraxis ohnedies keine Rolle spielt, erfüllt im realen Leben im Grunde nur die Aufgabe einer Rechtfertigungsideologie für die bestehende Praxis.

Wohin das Konzept der Linkspartei führt, zeigt sich an den Regierungen selbst, wenn sie teilweise aktiv in Bewegungen ist. Auch dort nimmt es eine zwiespältige Haltung an, z. B. in der Wohnungspolitik Berlins. Dort wird DWE unterstützt, aber die rot-roten Regierungen hatten mehr Wohnungen privatisiert als jede andere. Wo DIE LINKE regiert, erfüllt sie auch alle repressiven Aufgaben des Staates – z. B. regelmäßige Abschiebungen von Geflüchteten auch in Berlin oder Thüringen etc. Über diese Leichen im Keller spricht die Linkspartei nicht gerne. Dabei bilden sie das notwendige Resultat ihrer Realpolitik.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft als staatstragend. So z. B. der Spitzenkandidat Bartsch, als er an einer Solidaritätskundgebung mit Israel während der Bombardierung von Gaza teilnahm.

Diese alles andere als sozialistischen Politiken sind keine Warzen im demokratisch-sozialistischen Gesicht der Linkspartei, sondern notwendige Folgen ihrer politischen Konzeption. Sie liegen in der Logik einer Partei, die den Kapitalismus nicht überwinden, die Herrschaft der Bourgeoisie nicht brechen, den bürgerlichen Staat nicht zerschlagen, sondern mit verwalten und transformieren will.

Programmatische Methode

Dies erfordert jedoch nicht nur eine Ablehnung, sondern auch eine Kritik der Methode des Programms. Allgemein fällt bei diesem auf, dass es zwar viele Forderungen inkludiert, aber vollkommen unklar ist, welchen Stellenwert sie für die Praxis und Strategie der Partei haben. Dieses Manko ist jedoch durchaus typisch für reformistische Organisationen. Schließlich will die Parteiführung nicht gern an den eigenen Versprechen gemessen werden. Sie will freie Hand haben und sich nicht mit Forderungen ihrer Mitglieder und Anhänger:innen konfrontiert sehen, welche die Erfüllung der Versprechen einfordern und Rechenschaft verlangen könnten.

Insgesamt offenbart der Entwurf ein Programmverständnis, das methodisch im Reformismus und Stalinismus wurzelt. Es ist vom Programmtyp her ein Minimal-Maximal-Programm, d. h. der Sozialismus als „historisches Endziel“ steht – trotz der scheinbaren Verbindung durch einen  längeren „transformatorischen Prozess“ – unverbunden neben (oft durchaus richtigen) Alltagsforderungen. Die Kämpfe um höhere Löhne, gegen Sozialabbau, Hartz IV, Krieg, Aufrüstung usw. sind aber nicht mit dem Ringen um den Sozialismus verwoben. Der Sozialismus ist als Losung im Grunde hier nichts anderes als das Amen in der Sonntagspredigt.

Anstelle eines Minimal-Maximal-Programms bräuchte es ein Programm von Übergangsforderungen. Ein solches müsste soziale, gewerkschaftliche und demokratische Kämpfe gegen Krise, Krieg und Rassismus mit der Perspektive der Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse verbinden. Diese käme allerdings nicht etwa dadurch zustande, dass Forderungen wie „Gegen Entlassungen! Für Verstaatlichung!“ usw. einfach mit der Losung „Für Sozialismus!“ ergänzt werden. Dazu wäre es nötig, dass die Selbstorganisation der Klasse gefördert wird, dass sie sich eigene Machtpositionen und -organe im Betrieb, im Stadtteil und letztlich in der Gesellschaft erkämpft. Solche Forderungen sind z. B. jene nach Arbeiter:innenkontrolle über Produktion, Verteilung, Verstaatlichung, Sicherheitsstandards usw. Es sind Forderungen nach Streikkomitees, die von der Basis direkt gewählt und ihr verantwortlich sind; zur Schaffung von Streikposten, Selbstverteidigungsorganen, Preiskontrollkomitees usw. bis hin zu Räten, Arbeiter:innenmilizen und einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Mobilisierungen und Kampforgane der Klasse stützt.

Diese – und nur diese – Übergangsmethodik würde programmatisch das repräsentieren, was Marx über den Sozialismus sagte: dass er die „wirkliche Bewegung“ ist und nicht etwa nur eine „Vision“ oder „Utopie“, wie es DIE LINKE gern formuliert. Diese Elemente fehlen in deren Programm völlig.

Dieser sicher nicht nur für diese Partei typische Mangel bedeutet konkret, dass die Arbeiter:innenklasse in ihrem Kampf über das, was sie als Führungen und Strukturen vorfindet, nie bewusst und gezielt hinauskommt. Es bedeutet, dass das Proletariat letztlich den reformistischen Parteien, Gewerkschaftsapparaten, Betriebsräten, dem Parlamentarismus oder, noch schlimmer, den spontan vorherrschenden bürgerlichen Ideologien dieser Gesellschaft ausgeliefert bleibt.

Das Fehlen von Übergangsforderungen bedeutet, dass die Klasse sich in ihrem Kampf bürgerlichen Strukturen und Ideen unterordnet. Gemäß der LINKEN soll also die gesellschaftliche Dynamik zur Überwindung des Kapitalismus in den Bahnen der alten Gesellschaft, also zu den Bedingungen der Bourgeoisie erfolgen. Daran ändern auch ein paar Volksentscheide oder ein bisschen mehr „Mitbestimmung“ nichts.

Methodisch wurzelt all das letztlich in einer undialektischen Sichtweise von Geschichte und Klassenkampf. Das Prinzip des Minimal-Maximal-Programmes entspricht der Vorstellung von gesonderten, nicht miteinander verbundenen Etappen der Revolution bzw. des historischen Prozesses allgemein. Wie im Stalinismus, der die Revolution auf die demokratische Phase beschränkte, geht es auch der LINKEN um begrenzte Reformen. Dass selbst diese objektiv oft eine Dynamik Richtung Sozialismus annehmen, selbst die Umsetzung grundlegender bürgerlich-demokratischer Aufgaben im imperialistischen Zeitalter nur durch das Proletariat und unter dessen Führung errungen und durch den Sturz der Bourgeoisie gesichert werden kann, bleibt der LINKEN ein Buch mit sieben Siegeln.

Das marxistische Programmverständnis hingegen geht vom aktuellen Stand des internationalen Klassenkampfes aus und unterbreitet Vorschläge, wie dieser – also Aktion, Bewusstsein und Organisierung – vorangebracht werden kann. Das impliziert auch, konkret zu benennen, welche Kampfformen, Konzepte, Organisationen und Führungen den Kampf behindern, schwächen oder falsch orientieren und wie die Klasse den Einfluss dieser Faktoren überwinden kann.

Das Programm der Linkspartei entspricht deren reformistischem Charakter. Es entspricht den politischen Zielen der zentralen Teile des Apparates und des Funktionärskörpers, der sie dominiert, entspricht der tagtäglichen realen parlamentarischen Praxis, ob nun als Regierung oder Opposition, und auch den gelegentlichen Ausflügen und Interventionen in Bewegungen und linke Gewerkschaftsmilieus, als deren Vertretung sich DIE LINKE betätigt. Das alles sollte niemanden überraschen, zumal die Spitzen der Linkspartei aus ihrem Reformismus auch nie ein Geheimnis gemacht haben.

Umso erstaunlicher und beschämender ist jedoch, dass große Teil der Linken in der Linkspartei jahrelang diese Tatsachen schönredeten. So verkannten sie die Annahme des Erfurter Programm 2011 als „Erfolg“ der Linken in der Partei, weil es den Regierungssozialist:innen angeblich „rote Haltelinien“ bei der Regierungsbeteiligung auferlegt hätte. Christine Buchholz (damals marx21, heute Sozialismus von unten) und Sahra Wagenknecht freuten sich damals noch gemeinsam über das Programm. Gegenüber der Jungen Welt erklärte Buchholz: „Die Art und Weise, wie die Debatte gelaufen ist, stimmt mich da sehr zuversichtlich: Wir haben am Wochenende eine konstruktive Diskussion gehabt, nach der es weder Sieger noch Besiegte gibt. Ich persönlich bedaure z. B., dass unsere ‚Haltelinien‘ geschwächt sind, andere kritisieren andere Punkte – aber die Richtung stimmt.“

Wer solche „Siege“ erringt, braucht keine Niederlagen. Auch die AKL gab sich damals „insgesamt zufrieden“. Am kritischsten äußerte sich noch die SAV. Sie bemängelte zwar „Aufweichungen“ des Programms, lobte aber dessen grundsätzlich richtige „antikapitalistische Stoßrichtung“.

Stagnation, Krisen und Niedergang

Nach den Wahlerfolgen der Anfangsjahre trat freilich Ernüchterung ein, die sich in stagnierenden und fallenden Mitgliederzahlen und Wahlniederlagen widerspiegelte, in Flügelkämpfen und seit 2022 in einer existenziellen Krise.

Dabei formierten sich auch die politischen Flügel teilweise neu. Lange Zeit bildeten die ostdeutschen Realos den sog. Hufeisenflügel mit den angeblichen linken Wagenknecht-Anhänger:innen. Demgegenüber formierte sich die sog. Bewegungslinke, die ihrerseits ein strategisches Bündnis mit den Regierungssozialist:innen gegen Wagenknecht einging – natürlich alles zum Wohl der Partei und ihres Überlebens. Doch dürfen bei diesem allgemeinen Niedergang wichtige Veränderungen der Parteizusammensetzung und Wähler:innenbasis nicht übersehen werden.

Rund 60 % ihrer Mitglieder sind erst nach 2011 eingetreten, die ehemaligen PDS-Genoss:innen sind längst zu einer kleinen Gruppierung geworden. 15 % der Mitglieder sind unter 35. Dies ist mehr als bei jeder anderen Bundestagspartei und stellt auch einen Zuwachs seit Parteigründung dar. Zugleich stellen die Altersgruppen der 50- – 64-Jährigen und der 65- – 79-Jährigen je 27 % der Mitglieder. Die Linkspartei ist vergleichsweise schwach unter der Altersgruppe von 36 – 49 vertreten.

Die Linkspartei hat wichtige Schichten und die Bindekraft zu Arbeitslosen, ärmeren Teilen der Klasse und auch des Kleinbürger:innentums im Osten an die AfD verloren. Dies ist zweifellos Resultat von Regierungspolitik und Anpassung, aber auch eines Rechtsrucks und einer Demoralisierung von Teilen der Lohnabhängigen selbst.

DIE LINKE hat massiv Mitglieder, Verankerung und Wähler:innen in der Fläche im Osten verloren. Ihre, wenn auch oft geschwächte Mitglieder- und Wähler:innenbasis kommt aus Großstädten sowie Städten und Ortschaften zwischen 5.000 und 20.000 Einwohner:innen. In Kleinstädten und auf dem Dorf ist sie wenig bis gar nicht vorhanden. Zugleich hat sie im Westen eine stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenklasse und der Jugend (und somit über längere Zeit auch bei jüngeren Lohnabhängigen) gewonnen. So entspricht der Anteil von „Arbeiter:innen“ unter den Berufstätigen 17 %, der von Angestellten 67 % (darunter 35 % im öffentlichen Dienst). Gleichzeitig dominiert noch immer ein überdurchschnittlich hoher Schulabschluss und Bildungsniveau unter den Mitgliedern, während der Anteil von Arbeitslosen und Auszubildenden geringer als in anderen Parteien ist. Das drückt sich auch in veränderten Größen der Landesverbände und einem stärkeren Gewicht im Westen aus.

Diese Verschiebungen verweisen auch darauf, dass die Linkspartei in den Gewerkschaften und Betrieben, also in der organisierten Arbeiter:innenklasse stärker geworden ist, und zwar deutlich mehr, als dies bei Wahlen zum Ausdruck kommt. Von den Mitgliedern her stützt sich die Partei vor allem auf die mittleren und bessergestellten urbanen Schichten der Lohnabhängigen. Sie verfügt also über eine für eine reformistische Partei eher typische stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenaristokratie als unter der Masse des Proletariats.

Die betrieblichen und unteren gewerkschaftlichen Funktionsträger:innen betreiben zwar nicht einfach dieselbe Politik wie der sozialdemokratisch dominierte Apparat, aber sie fordern diesen nicht heraus, zumal ihre reformistische Politik natürlich auch im Rahmen tarifvertraglicher und sozialpartnerschaftlicher Regulierung bleibt. Die Linkspartei betreibt z. B. eine aktive Politik, ihre jüngeren AnhängerInnen aus den Unis in den Gewerkschaftsapparat zu schicken (z. B. über Organizing- und Trainee-Programme) und so ihre Verankerung zu stärken. Auch die Konferenz zur gewerkschaftlichen Erneuerung, die DIE LINKE zuletzt im Mai 2023 in Bochum mit 1.550 Teilnehmer:innen organisierte, belegt einen gewachsene Verankerung im Gewerkschaftsapparat und unter betrieblichen Funktionär:innen.

Sie hat in den letzten Jahren an Verankerung in sozialen Bewegungen gewonnen, wenn auch nicht ohne Rückschläge und eher indirekt, also über die Zusammenarbeit, informelle Bündnisse mit Teilen der radikalen Linken (IL, Antifa) und Migrant:innenorganisationen (einige kurdische Vereine, Teile von Migrantifa). Der Beitritt von etlichen hundert Menschen aus dem „linksradikalen“ Milieu im November 2023 belegt diesen Trend.

Grundsätzlich kann aber gesagt werden, dass in den letzten 4 – 5 Jahren die Zuwächse im Westen die Verluste im Osten nicht mehr ausgleichen. Die Partei stagniert oder verliert fast überall. Das bildet letztlich auch den Boden für die innere Krise einer parlamentarisch fixierten reformistischen Partei, die um ihr Überleben als solche kämpft.

Dominanz der Funktionär:innenschicht

Über der sozialen Basis und den Mitgliedern und Wähler:innen erhebt sich ein Funktionär:innenapparat, der die Partei führt und prägt. Die Tätigkeit der aktiven Mitglieder ist wesentlich auf Vertretung in kommunalen, regionalen Strukturen, Ländern, Bund vertreten. DIE LINKE verfügt über 6.500 kommunale und sonstige Abgeordnete, über 200 Parlamentarier:innen und hauptberufliche Mitarbeiter:innen. Allein die Zahl der Kommunalpolitiker:innen, darunter hunderte Bürgermeister:innen, beläuft sich auf über 5.000 und diese sind vor allem im Osten tätig.

Der Stiftung der Partei beschäftigt natürlich auch vom Staat gesponsorte hauptamtliche Funktionär:innen – und diese bald in jedem Bundesland. Hinzu kommt noch ein Parteiapparat im Bund und allen Ländern. Wenn man all dies addiert, so kommt die LINKE auf mehrere hundert, wenn nicht tausend hauptamtliche Funktionär:innen, die Einkommen direkt aus dem Parteiapparat oder staatlichen Vertretungsorganen beziehen. Andere erhalten bloß Aufwandsentschädigungen. Hier sind noch gar nicht jene Abteilungen der Arbeiter:innenbürokratie in der LINKEN mitgezählt, die ihre Einkünfte aus anderen Quellen – dem Gewerkschaftsapparat oder als freigestellte Betriebsräte – beziehen.

All diese machen einen selbst für eine bürgerliche Partei untypisch hohen Anteil der Funktionär:innen an der aktiven Mitgliedschaft aus – von Funktionär:innen, die fest in die Tagesgeschäfte des bürgerlichen Systems eingebunden sind, und zwar nicht nur oder nicht einmal in erste Linie in Landesregierungen, sondern vor allem auf der kommunalen Ebene, wo die parteiübergreifende Zusammenarbeit noch viel pragmatischer geregelt wird, wo Klassenzusammenarbeit tägliches Brot darstellt und somit auch eine feste Basis für den Reformismus auf „höheren“ Ebenen abgibt. Diese Funktionär:innen machen insgesamt über 10 % der Mitgliedschaft aus. Ziehen wir in Betracht, dass die Mehrheit der Mitglieder passiv ist, am regelmäßigen Parteigeschehen nicht teilnimmt, so dominiert diese Schicht im Grunde alle größeren Strömungen der Partei. Der Unterschied besteht dann eher darin, mit welchen Milieus (Kommunalpolitik, gewerkschaftliches Organizing, soziale Bewegungen und NGO-artige Kampagnen) sie verbunden sind.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft staatstragend. So z. B. bei der Solidaritätskundgebung mit Israel im Bundestag.

Taktik

Angesichts der aktuellen Angriffe und des gesellschaftlichen Rechtsrucks stellt DIE LINKE weiter eine organisierte Kraft der Arbeiter:innenklasse dar, die zur gemeinsamen Aktion aufgefordert, der gegenüber auf verschiedenen Ebenen (bis hin zur kritischen Wahlunterstützung) die Taktik der Einheitsfront angewandt werden muss. Aber wir dürfen uns dabei keine Illusionen über den Charakter der Partei machen und müssen uns vergegenwärtigen, dass sie nicht nur eine aktive Minderheit der organisierten Arbeiter:innenklasse vertritt, sondern zugleich auch ein Hindernis für den Aufbau einer wirklichen Alternative, einer revolutionären Arbeiter:innenpartei darstellt.

Daher muss die Anwendung einer Einheitsfronttaktik Hand in Hand mit einer marxistischen Kritik und dem Kampf für eine revolutionäre Alternative zur Linkspartei einhergehen.

Natürlich ist es unter den gegebenen Bedingungen notwendig, z. B. in DWE oder den Gewerkschaften gemeinsam zu kämpfen. Es ist auch notwendig, den gemeinsamen Kampf gegen laufende und kommende Angriffe zu intensivieren, von der Linkspartei dies einzufordern.

Heute geht es aber nicht primär darum, gemeinsame Handlungsfelder auszuloten, sondern darum, was die Linkspartei ist und was Sozialist:innen oder Kommunist:innen daraus folgern sollen: Sie sollten sich keinen Illusionen in die Partei hingeben, sondern selbst eine linke Kritik entwickeln und am Aufbau einer revolutionären Alternative zur Linkspartei mitwirken, den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei vorantreiben!

Eine solche Partei wird sicherlich nicht einfach durch lineares Wachstum aus einer der bestehenden kommunistischen oder sozialistischen Kleingruppen oder deren bloßer Vereinigung entstehen können. Es braucht eine Kombination aus gemeinsamem Kampf und gemeinsamer Bewegung mit einer programmatischen Klärung. Das heißt aber auch Überwindung der reformistischen Begrenztheit und Schwächen der Linkspartei, nicht nur des Wagenknecht-Flügels und der Regierungssozialist:innen, sondern auch der sog. Transformationsstrategie.




Zur “Revolutionären Realpolitik” der Linkspartei: Revolution oder Transformation?

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024 ursprünglich veröffentlich im Dezember 2016

Die Berliner LINKE koaliert mit dem Segen der Parteispitze, Bodo Ramelow führt eine Rot-Rot-Grüne Koalition in Thüringen an.

In der Luxemburgstiftung, dem hauseigenen Think Tank, wollen sich deren Vordenker:innen mit der platten Rechtfertigung dieser Politik oder gar den unvermeidlichen Verrätereien durch Teilnahme an den Regierungen allein nicht zufriedengeben. An etlichen Stellen kritisieren sie sogar die allzu euphorischen Anhänger:innen rot-roter oder rot-rot-grüner Koalitionen offen, zu viele Zugeständnisse an die „Partner:innen“ zu machen.

Das ist nicht nur selbstgefälliger, entschuldigender Gestus linker Theoretiker:innen angesichts der unvermeidlichen Niederungen reformistischer Regierungspolitik. Es geht ihnen auch darum, der Partei eine höhere strategische Ausrichtung zu verleihen. Dazu prägen sie seit Jahren Begriffe wie „Transformationsstrategie“, „revolutionäre“ oder „radikale Realpolitik“, um die Programmatik der Linkspartei als eine moderne Version einer „sozialistischen Partei“ zu präsentieren.

Es ist immerhin ein Verdienst dieser politisch-ideologischen Richtung, dass sie in den Veröffentlichungen der Stiftung ihre Anschauungen darlegt; so z. B. in der Broschüre „Klasse verbinden“, herausgegeben im April 2016 vom US-amerikanischen Magazin Jacobin und der Luxemburg-Stiftung, oder im Aufsatz „Rückkehr der Hoffnung. Für eine offensive Betrachtungsweise“ von Michael Brie und Mario Candeias.

Revolutionäre „Realpolitik“

Seit Jahren wird neben Antonio Gramsci ausgerechnet Rosa Luxemburg als Patin für die „Transformationsstrategie“ der Linkspartei ins Feld geführt.

Sie selbst verwendet den Begriff „revolutionäre Realpolitik“ unter anderem in der Schrift „Karl Marx“, die anlässlich seines 20. Todestags verfasst wurde:

„Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst mit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass bürgerliche Politik vom Standpunkt der materiellen Tageserfolge real ist, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.“ (Luxemburg, Werke, Band 1/2, S. 375)

Und weiter: „Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewusst nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sie zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.“ (Ebenda, S. 376)

Luxemburg betont zwar, dass Reform und Revolution nicht als ausschließende Momente einander entgegengestellt werden dürfen, hält aber zugleich fest, dass die Revolution das entscheidende Moment dieses Verhältnisses darstellt. Nur in Bezug auf diesen Zweck kann eine revolutionäre (Real-)Politik bestimmt werden.

Sie grenzt sich daher gegen zwei politische Fehler innerhalb der Arbeiter:innenbewegung ab: einerseits den utopischen Sozialismus, andererseits die bürgerliche Realpolitik. Der Revisionismus oder Reformismus des 20. und 21. Jahrhunderts stellen letztlich Spielarten dieser bürgerlichen Realpolitik dar.

Das Revolutionäre an Luxemburgs „Realpolitik“ besteht genau darin, dass sie den Kampf für Reformen als Moment des Kampfes um die revolutionäre Machtergreifung des Proletariats bestimmt.

„Real“politik ist revolutionäre Politik in dem Sinne und Maß, wie eine Partei ihre Taktik auf einem wissenschaftlichen Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und deren Entwicklungslogik aufbaut. Daraus ergibt sich, dass die Revolution nicht „jederzeit“ als reiner Willensakt „gemacht“ werden kann, sondern eine tiefe Krise des Gesamtsystems voraussetzt, eine Zuspitzung der inneren Widersprüche, die zu ihrer Auflösung drängen.

Innere Widersprüche

Für Luxemburg (und generell für den Marxismus) zeigt die Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus zweitens, dass die Arbeiter:innenklasse in der bürgerlichen Gesellschaft noch keine neue, eigene Produktionsweise vorfindet, die sie mehr und mehr ausbauen könnte, sondern dass vielmehr die gegenteilige Entwicklung prägend ist. Der innere Widerspruch zwischen zunehmend gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung spitzt sich zu in der Konzentration des Reichtums in den Händen einer immer kleineren Schicht von Kapitalbesitzer:innen.

Genau deshalb greift Luxemburg auch Bernsteins Idee an, dass Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe und der zunehmende Kampf der Gewerkschaften für soziale Verbesserungen Schritt für Schritt zum Sozialismus führen könnten. Allenfalls stellen sie begrenzte Hilfsmittel zur Verbesserung der Lage der Klasse dar und können, im Fall der Gewerkschaften, Mittel zur Selbstorganisation und für die Entstehung von Klassenbewusstsein werden. Für sich genommen sprengt der gewerkschaftliche Kampf jedoch nicht den Rahmen des bestehenden Systems der Lohnarbeit (und erst recht nicht tun dies selbstverwaltete Betriebe).

Schließlich greift sie die darauf aufbauende, korrespondierende Vorstellung des Revisionismus an, dass der Parlamentarismus, die Sammlung einer numerischen Mehrheit bei Wahlen, Mittel zur erfolgreichen „Transformation“ der Gesellschaft sein könnten. Im Gegenteil: Luxemburg erblickt in der Integrationskraft des bürgerlichen Parlamentarismus auch eine Basis für das Vordringen der bürgerlichen „Realpolitik“ in der Arbeiter:innenbewegung, über „sozialistische“ Regierungen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr den „Sozialismus“ einführen zu können.

Für sie hingegen zielt „revolutionäre Realpolitik“ wesentlich auf den Übergang der politischen Macht von einer Klasse auf die andere, durch das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie, den Übergang der Macht an die Arbeiter:innenräte, auf die Diktatur des Proletariats.

Was die Luxemburg-Stiftung aus Luxemburg macht

Die Theoretiker:innen der Linkspartei rekurrieren zwar gern auf Luxemburgs Begrifflichkeit und präsentieren ihre Strategie so, als würde sie ihr Verständnis von Reform und Revolution aufgreifen.

Dieser Schein wird nicht nur durch Entstellungen ermöglicht, sondern auch durch einen anderen Ausgangspunkt der Theorie Bernsteins und der aktuellen Theoretiker:innen der Luxemburg-Stiftung untermauert. Bernstein behauptete, dass sich Marx und Engels in ihrer Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus geirrt hätten, dass diese nicht nur ihr Tempo überschätzt, sondern auch ihre grundlegende Entwicklungsrichtung verkannt hätten. Demgegenüber hält Luxemburg mit Marx und Engels an der grundlegenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems und der ihm innewohnenden Tendenz zum Zusammenbruch fest.

Zu Recht weist sie darauf hin, dass die Leugnung dieser Schlussfolgerungen aus der Marxschen Analyse des Kapitals einer Preisgabe des wissenschaftlichen Sozialismus gleichkommt. Die Überwindung des Kapitalismus stellt dann keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr dar, sondern kann nur moralisch begründet werden.

Anders als Bernstein geht die Luxemburg-Stiftung von einer Systemkrise des Kapitalismus aus.

„Die strukturelle Krise ist nicht gelöst und sie lässt sich im alten Rahmen auch nicht lösen. Die Versuche, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu stabilisieren, verlängern nur die Agonie und zerreißen die Europäische Union und unsere Gesellschaften. Die Situation ist jedoch nicht durch Aufbruch gekennzeichnet, vielmehr gilt ein altes Zitat von Gramsci: ‚Das Alte stirbt, das neue kann nicht zur Welt kommen. Es ist die Zeit der Monster.’“ (Brie/Candeias)

Das obige Zitat zeigt aber auch eine Differenz zur marxistischen Analyse. Aus den Fugen geraten ist nicht der Kapitalismus als System, sondern nur der „Finanzmarktkapitalismus“. Bei aller verbalen Radikalität wird so ein theoretisches „Hintertürchen“ für eine reformistisch gewendete „revolutionäre Realpolitik“ geöffnet.

Hinzu kommt, dass der Kapitalismus zwar in einer historischen Krise stecken mag, eine sozialistische Revolution jedoch der Partei auch ausgeschlossen erscheint. Was bleibt also? Eine „Transformationsstrategie“. Was steckt aber hinter diesem unschuldigen Wort? Sind  nicht auch revolutionäre Marxist:innen dafür, erkennen sie nicht auch an, dass der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus eine ganze Periode des Übergangs einschließt, dass nicht alle überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem nicht die tradierte grundlegende Arbeitsteilung der alten Gesellschaft mit einem Schlag „abgeschafft“ werden können? Standen nicht die frühe Kommunistische Internationale und der Trotzkismus auf dem Boden eines Programms von Übergangsforderungen, das den Kampf für Reformen in eine Strategie zur Machtergreifung einbettet?

Genau diese Ausrichtung ist bei der Luxemburg-Stiftung nicht gemeint.

Da die sozialistische Revolution, die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse als unmöglich, fragwürdig erscheint, bezieht sich das Ziel der Transformation nicht auf das der „revolutionären Realpolitik“ einer Rosa-Luxemburg,  sondern darauf, dass die „Linke“ sich auf einen „Macht“wechsel auf dem Boden des Parlamentarismus vorbereiten müsse.

In einer offenen Krisensituation entsteht eine radikal neue Situation, in der sich die Eliten spalten, ein Richtungswechsel möglich wird – hin zu einem autoritären Festungskapitalismus wie aber auch hin zu einer solidarischen Umgestaltung. Die Linke muss sich jetzt vorbereiten, daran arbeiten, dass sie fähig wird, in eine solche Situation überzeugend einzugreifen. Darauf ist sie nicht eingestellt.“ (Brie/Candeias)

Wir möchten nicht widersprechen, dass die Linke auf diese Situation nicht vorbereitet ist. Entscheidend ist jedoch, dass die TheoretikerInnen der Linkspartei die eigentliche Alternative, die in einer solchen Phase aufgeworfen wird, verkennen – es geht um Revolution oder Konterrevolution, um Sozialismus oder Barbarei.

Für die Ideolog:nnen der Linkspartei stellt sie sich jedoch anders dar – „autoritärer Festungskapitalismus“ (womit Regierungen wie jene von Trump gemeint sind) oder „solidarische Umgestaltung“.

Hier wird die sozialistische Revolution aus der „revolutionären Realpolitik“ verabschiedet.

Regierung als Ziel

Daher ist es kein Wunder, dass die Strategie in eine Regierungsbeteiligung münden muss. Natürlich ist auch das Zeil einer jeden kommunistischen Strategie, eine revolutionäre Arbeiter:innenregierung zu schaffen. Diese ist aber letztlich nur als Mittel zum Übergang zur Herrschaft der Arbeiter:innenklasse oder, in ihrer eigentlichen Form, als „Diktatur des Proletariats“, möglich. Die „Realpolitik“ der Arbeiter:innenklasse kann nämlich nur vom Standpunkt ihrer zukünftigen Herrschaft und deren Vorbereitung richtig verstanden werden.

Diese grundlegende Schlussfolgerung Rosa Luxemburgs verschwindet bei der Luxemburg-Stiftung gänzlich, wird sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Zur strategischen Zielsetzung wird die „realistische“, „grundlegende“ Reform, die „solidarische Umgestaltung“.

Den Vordenker:innen der Linkspartei ist jedoch klar, dass eine solche „Umgestaltung“ keine Chance hat, wenn sie sich nur auf parlamentarische Mehrheiten stützt. Daher beurteilen sie das Regierungshandeln in Thüringen durchaus skeptisch, weil dieses keinem nennenswerten Druck von außen oder aus der Partei ausgesetzt ist. Sie halten eine Regierung auf Bundesebene erst recht für „verfrüht“ und erkennen, dass eine „Reformregierung“, die den Kurs der Großen Koalition fortsetzt, letztlich einer weiteren Stärkung der Rechten, v. a. der AfD, den Weg bereitet. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

„Und schließlich muss die Linke an einer politischen Machtperspektive arbeiten. Dies darf nicht auf Wahlen verengt werden… Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn die Mobilisierung nicht mit einer nachhaltigen Verankerung und Organisierung verbunden wird. Eine politische Linke in den Vertretungsorganen ohne eine starke, eigenständige, kritische gesellschaftliche Linke, die in den Nachbarschaften, in Betrieben, in Initiativen und Bewegungen verankert ist, muss scheitern.“ (Brie/Candeias)

Die Linkspartei müsse einen „Spagat“ vollziehen zwischen „Bewegungspartei“ („Netzwerkpartei“) und „strategischer Partei“, die die verschiedenen Bewegungen, zusammenführt, Klassenfragen und Fragen der sozialen Unterdrückung vereint und ihnen eine Ausrichtung gibt.

Solcherart könne eine Umgestaltung vollzogen werden, die parlamentarische und institutionelle Mittel des Staates nutzt, den Kampf gewissermaßen „um den Staat und im Staat“ führt und gleichzeitig auch Gesamtstratege der heterogenen Widerstandsmilieus wäre.

Im Gegensatz zu naiven Bewegungslinken sehen sie ein, dass sich aus der Addition der spontanen Initiativen „von unten“, von Bewegungen, sozialen Kämpfen, Platzbesetzungen, Streiks, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung oder „Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle“, wie manche Projekte übertrieben genannt werden, keine gemeinsame Strategie ergibt. Eine „verbindende“ Partei reicht dazu nicht aus, es braucht eine strategische.

Es erhebt sich aber die Frage, warum Parteien wie Syriza diesen Spagat nicht durchzuhalten vermochten. In der Broschüre „Klasse verbinden“ wird lediglich festgehalten, dass sie die „Bewegungswurzeln“ nicht beibehalten konnte, dass eine  solche Entwicklung auch dem Linksblock in Portugal drohe oder auch die Bilanz der „linken“ Stadtverwaltung in Barcelona diskussionswürdig sei.

Strategische Partei und Staat

Die Lösung liege in einer „strategischen Partei“, die Elemente der „verbindenden Partei“ (Partei der Bewegungen) aufnimmt. Das sei notwendig, damit sie im Zuge der gesellschaftlichen Transformation eine doppelte Aufgabe erfüllen könne. Als Partei müsse sie den Staatsapparat transformieren, in dessen Institutionen eindringen. Dies könne aber nur gelingen, wenn sich ihr Handeln nicht auf den Staatsapparat, Parlament und Regierung konzentriert, wenn sie sich zugleich auf Massenbewegungen außerhalb stützt bzw. von diesen unter Druck gesetzt werden kann.

„Als Linke in die Institutionen zu gehen, ob in Athen, Barcelona oder Madrid, führt in einen politischen Limbo, sofern es nicht gelingt, diese Institutionen zu öffnen für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen und Solidaritätsstrukturen aus der Zivilgesellschaft und damit eine weiterreichende Partizipation aller populären Klassen zu verankern.“ (Candeias, Gedanken zu Porcaros „strategischer Partei“, in: Klasse verbinden, S. 20)

Dazu bedürfe es „eigener ‚stabiler Institutionen‘ jenseits des Staates, die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden können.“ (Ebenda, S. 20)

Reformismus reloaded

Diese „Institutionen“ sind einerseits politische und gesellschaftliche Bewegungen, andererseits wären es aber auch „Institutionen“, die „schon heute eine ‚materielle Macht‘ ausbilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktive Ressourcen einer solidarischen Ökonomie entwickelt, um den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten – der oft zitierte Plan C.“ (Ebenda, S. 20). Dieser Plan ist nur eine Reformulierung des alten Revisionismus und der Sozialstaatspläne der Nachkriegssozialdemokratie auf niedrigem Niveau.

Die aktuelle Periode engt den „Spielraum“ für solche Pläne ein, verurteilt sie rasch dazu, zum reinen Reparaturbetrieb zu werden. Daran ändert auch die Verklärung von  selbstverwalteten Betrieben, besetzten Häusern, Nachbarschaftshilfe oder Beteiligungshaushalten zu Institutionen gesellschaftlicher „Gegenmacht“ nichts.

Die Strateg:innen der Linkspartei kommen hier bei Bernstein an – allerdings in einer widersprüchlicheren Form. Der „alte“ Revisionismus oder auch die Politik der Sozialdemokratie der 60er und frühen 70er Jahre versuchten ihre Politik durch angebliche Wandlungen des Kapitalismus zu begründen, die den Boden für eine schrittweise Verbesserung der Lage der Arbeiter:innenklasse und eine immer größere Demokratisierung des Systems abgeben würden.

Die mit Entstellungen der Arbeiten von Luxemburg oder Gramsci getränkte strategische Ausrichtung der Luxemburg-Stiftung akzeptiert hingegen, dass wir in einer Krisenperiode leben. Sie will aber nichts davon wissen, dass diese eine Strategie der revolutionären Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse erfordert.

Syriza ist in Griechenland nicht daran gescheitert, dass der Spagat zwischen „Regierung“ und „Bewegung“ nicht funktionierte. Sie ist vielmehr an den inneren Widersprüchen einer reformistischen Realpolitik gescheitert – einerseits die Lage der Massen verbessern zu wollen und andererseits die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Verelendung, also den Kapitalismus selbst, nicht anzugreifen, sondern „mitzuverwalten“.

Klassencharakter des Staates

Die „Transformation“ des griechischen Staates ist nicht an einzelnen Fehlern von Syriza-Politiker:innen und am mangelnden Druck der Bewegung gescheitert. Sie wurde vielmehr unvermeidliches Opfer dieser Institutionen, weil der bürgerliche Staat selbst nicht zu einem Mittel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft „transformiert“ werden kann. Genau das vertreten aber der „alte“ wie moderne Revisionismus, indem sie den Klassencharakter des bürgerlichen Staates negieren. Mit Luxemburg werden so auch gleich Marx‘ Lehren aus der Pariser Commune oder Lenins „Staat und Revolution“ entsorgt.

Die „revolutionäre Realpolitik“ entpuppt sich letztlich als bürgerliche, die bei allem Beschwören von „Bewegungen“ und „Gegenmacht“ letztlich auf einen friedlichen, graduellen, parlamentarischen Übergang zum Sozialismus, also auf den Sankt-Nimmerleinstag orientiert.

Für die Strateg:innen der Linkspartei ist der bestehende, wenn auch zu transformierende Staat, das entscheidende politische Instrument. Abgestützt werden müsse dieses durch Eroberung ideologischer Positionen und Vorherrschaft („Hegemonie“) in der Zivilgesellschaft und den Aufbau von „Gegenmacht“. Solcherart wäre eine schrittweise Transformation möglich. Dabei wird die Revolution zu einer Reihe von Reformen. Auch hier befindet sich die Linkspartei in Gesellschaft von Bernstein, nicht von Luxemburg:

„Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die kondensierte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlagen der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, Werke, Band 1, S. 428)




PDS, Linkspartei und die Wohnungsfrage: „Rebellisches“ Regieren in Berlin

Susanne Kühn, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024

Gern präsentiert sich DIE LINKE als einzige Partei im Berliner Abgeordnetenhaus, die „konsequent“ für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. eingetreten wäre. Stolz verweist die Partei darauf, dass sie 2021 zehntausende Unterschriften gesammelt hat und viele ihrer Mitglieder aktiv an der Kampagne teilgenommen haben.

Dieser rosigen Seite der Mietenpolitik der Berliner Linkspartei und ihrer Vorläuferorganisation stehen jedoch zahlreiche dunkle Kapitel gegenüber, die die Grenzen „linker“ Reformpolitik deutlich machen.

Vom Saulus zum Paulus?

Über das unrühmlichste und wohnungspolitisch geradezu kriminelle Kapitel der eigenen Parteigeschichte hüllt DIE LINKE in Berlin gern den Mantel des Schweigens. Unter der rot-roten Landesregierung wurde massiv privatisiert. Von den knapp 400.000 landeseigenen Wohnungen bei Antritt des SPD-PDS-Senats blieben nur ca. 250.000 übrig.

Darüber hinaus wurden in Berlin in dieser Periode auch die Wasserwerke teilprivatisiert und Krankenhäuser an Vivantes, Helios und die Rhön-Kliniken verscherbelt.

Kurz gesagt, die Regierungsrebell:innen um Gregor Gysi und Harald Wolf rührten die Scheiße am Wohnungsmarkt mit an, die die Linkspartei seither beklagt. Gelernt hatte sie aber schon damals nichts aus der Enttäuschung ihrer Wähler:innen. Trotz Stimmenverlusten von beinahe 10 Prozent verblieb DIE LINKE als Juniorpartnerin im Senat unter Klaus Wowereit und werkelte von 2006 – 2011 weiter als treue Vasallin der SPD.

In der Opposition 2011 – 2016 reorganisierte sie sich ein wenig und erzielte 2016 15,6 % (ein Plus von 3,9 % gegenüber 2011). Von 2016 bis 2021 war sie, ebenso wie von 2021 bis zur Nachwahl 2023, Teil des Senats mit SPD und Grünen.

Anders als in den vorherigen Senatsperioden versuchte sich DIE LINKE darin, ihr tristes Regierungsdasein mit „oppositionellen“ Regungen zu verbinden, was noch 2021 dazu führte, dass sie relativ wenig Stimmen verlor. Doch gerade diese Zeit, die die Linkspartei am ehesten als „rebellisches Regieren“ verkaufen möchte, verdient eine genauere Betrachtung.

Gleich 2016 versuchte DIE LINKE mit der Ernennung des linken, antikapitalistischen Gentrifizierungskritikers Andrej Holm zum Staatssekretär unter der Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher, einen Akzent zu setzen. Innerhalb weniger Monate wurde Holm jedoch durch eine reaktionäre Kampagne bürgerlicher Medien, von CDU und FDP sowie unter kräftiger Mithilfe des rechten Flügels von SPD und Grünen zum Rücktritt gezwungen – ein klares Signal, dass die Immobilienlobby und ihr politischer Anhang vor nichts zurückschrecken würden, um jede wohnungspolitische Wende zu verhindern, die sich auch nur im Ansatz gegen ihre Interessen richtet.

Zugleich musste der Senat und damit auch DIE LINKE versuchen, dem wachsenden Druck unzufriedener Mieter:innen und von Protestansätzen Rechnung zu tragen. Hierbei sollte der Mietendeckel helfen, den Lompscher 2019 auf den Weg brachte und der im Januar 2020 vom Abgeordnetenhaus beschlossen wurde. Der durchaus löchrige Deckel sollte die Mietpreissteigerungen für Hunderttausende Mieter:innen begrenzen. Die Bundestagsfraktionen von CDU und FPD klagten gegen diesen Anschlag auf den „freien Markt“. Das Bundesverfassungsgericht gab der Immobilienlobby Recht und kassierte das Berliner Gesetz – mit verheerenden Folgen für rund 1,5 Millionen Mieter:innen, denen  teilweise massive Nachzahlungen, vor allem aber weitere Mieterhöhungen ins Haus standen.

Die beiden Beispiele verdeutlichen das ganze Dilemma der Reformpolitik der Linkspartei, selbst wenn sie, anders als im rot-roten Senat, keine Verschlechterungen, sondern Verbesserungen in Angriff nahm. Unter dem Druck der bürgerlichen Öffentlichkeit knickte sie wie im Falle Holm ein. Kassierte ein Gericht die Reformen, war sie mit ihrem Latein am Ende. Einen Plan B, der über letztlich symbolische Demonstrationen und Proteste gegen die Urteile hinausging, hatte sie nie.

Deutsche Wohnen und Co. enteignen

Das Kassieren des Mietendeckels beflügelte auf seine Art die größte und auf ihrem Höhepunkt auch erfolgreichste von Linken und der Mieter:innenbewegung getragene Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. DIE LINKE unterstützte die Kampagne von Beginn an, auch wenn sie deren massiven Erfolg bei der Volksabstimmung 2021 wie viele andere nicht voraussehen konnte. Am 26. September stimmten 59 % für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne in Berlin.

Nicht nur die Wohnungswirtschaft, AfD, CDU und FDP waren wild entschlossen, die Entscheidung der Bevölkerung nicht umzusetzen. Auch die rechte SPD-Führung um Giffey und Geisel wollte den Volksentscheid politisch kippen. Natürlich konnte sie das nicht direkt tun. Daher zauberten Geisel und Giffey eine sog. Expert:innenkommission aus dem Hut, die überprüfen sollte, ob der Volksentscheid umsetzbar und in welches Gesetz er gegebenenfalls zu gießen wäre.

So sollte in einer im Geheimen tagenden Kommission zuerst einmal Zeit gewonnen werden, ohne offen den Mehrheitswillen zu ignorieren. Zweitens erklärten denn Giffey und Geisel auch deutlich, dass selbst ein positives Ergebnis der Kommission längst nicht bindend wäre, sondern der Senat darüber entscheiden müsse. Kurzum, die SPD-Führung machte klar, dass es sich nur um eine Verschleppung handelte und sie ohnedies immer den Volksentscheid blockieren würde.

Dieses Manöver war nicht nur ein Hohn auf jede Demokratie, sondern natürlich ganz im Interesse des Kapitals. Die Grünen spielten gern mit und die SPD machte die Expert:innenkommission zur Bedingung für eine Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition.

Und DIE LINKE? Die spielte das schäbige Spiel mit. Sie lief sehenden Auges in die offene Falle, die Giffey und Geisel gestellt hatten. Dass auch die Mehrheit der Kampagne von Deutsche Wohnen und Co. um die Interventionistische Linke das üble Spiel mitgstaltete, diente der Mehrheit der Linkspartei zwar als Entschuldigung für ihre Kapitulation vor der SPD, macht die Sache aber nicht besser.

Ein Mitgliederentscheid sprach sich für die Fortsetzung der Koalition aus. Insgesamt beteiligten sich 4.220 (53,64 %) der 8.016 Parteimitglieder am Entscheid über den Koalitionsvertrag, davon waren 3.926 Stimmen gültig. 2.941, also 74,91 %, votierten für Rot-Grün-Rot, 880 oder 22,4 % stimmten mit Nein, 105 (2,67 %) enthielten sich.

Die Landesparteivorsitzende Katina Schubert und mit ihr die gesamte Senatsriege konnten ihre Freude kaum verbergen. „Das ist ein klarer Auftrag für uns. Das gute Ergebnis ist Rückenwind für die aktuellen und kommenden Herausforderungen,“ erklärte sie und ließ weiter verlauten: „Wir haben angekündigt, den Berlinerinnen und Berlinern die Stadt zurückzugeben.“

In Wirklichkeit halfen sie der Immobilienlobby mit, ihre volle Verfügungsgewalt über ihr Privateigentum zu behalten. Die Expert:innenkommission werkelte über Monate vor sich hin, die Bewegung und die Strukturen von Deutsche Wohnen und Co. schrumpften und brachen mehr und mehr in sich zusammen. Mit der Neuwahl 2023 und der Bildung des CDU/SPD-Senats war der Volksentscheid endgültig erledigt.

Opportunismus und Blindheit

Das Beispiel verdeutlicht das Problem des „rebellischen Regierens“, selbst wenn DIE LINKE eine Bewegung aktiv unterstützt. Letztlich stößt eine solche Bewegung, gerade wenn sie das kapitalistische Privateigentum und seine rechtliche Absicherung, also ein gesellschaftlich wesentliches Verhältnis, berührt, an die Grenzen des bürgerlichen Systems. Das ist unvermeidbar.

Sowohl die Mehrheit der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen als auch DIE LINKE weigerten sich jedoch bewusst, diese Problematik von Beginn an zu thematisieren. Der Opportunismus setzte auf politische Blindheit – und wunderte sich dann, dass er das Offensichtliche nicht vorausgesehen hatte.

Was die Führung der Linkspartei betrifft, so erfüllt diese jedoch auch einen Zweck. Sie sollte jede vorausschauende Diskussion, jede strategische Debatte darüber verhindern, wie die Kampagne erfolgreich weitergeführt werden könnte, auch wenn der Senat sabotiert und DIE LINKE nicht mehr in der Landregierung vertreten ist. Dazu hätten nämlich sowohl die Kampagne wie auch DIE LINKE auf eine Strategie der klassenkämpferischen Mobilisierung, auf den Aufbau von Mieter:innenkomitees, auf Verbindung mit betrieblichen und gewerkschaftlichen Organisationen, auf die Verbreiterung von Miet- und politischen Solidaritätsstreiks orientieren müssen. Genau das wollten aber die Vertreter:innen des „rebellischen Regierens“ nicht, weil sie selbst viel stärker unter den direkten und demokratischen Druck einer solchen Kampagne geraten wären, weil es viel schwerer geworden wäre, 2021 weiter im Senat zu hocken und dafür den Volksentscheid faktisch zu opfern.

Die Lehre aus diesen Kämpfen muss aber gezogen werden. Es ist natürlich grundsätzlich richtig, DIE LINKE wie auch andere reformistische Parteien oder Gewerkschaften zur Unterstützung solcher Kampagnen aufzufordern, ja, wenn möglich, dazu zu zwingen. Aber zugleich braucht sie demokratische Kampfstrukturen und eine offen geführte Diskussion und Entscheidung über die zentralen Fragen zur Umsetzung ihrer Ziele – in diesem Fall der Enteignung – und der dafür notwendigen Kampfmethoden und Strukturen. Natürlich können auch dann Reformist:innen und Opportunist:innen eine Kampagne in die Irre führen, aber bieten sich unter diesen Bedingungen viel günstigere Möglichkeiten für klassenkämpferische Kräfte, ihre Vorschläge, ihre Positionen zu vertreten und im günstigsten Fall die Mehrheit dafür zu gewinnen. Hinzu kommt, dass eine solche Methode erlaubt, dass wir nach einem politischen Ausverkauf durch Reformist:innen und deren Senatsambitionen nicht mit leeren Händen, sondern einer politisch aktiven Kampagne dastehen, die weiter kampffähig ist.




BSW: Populismus als Alternative?

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024

Gründen oder nicht gründen – diese Frage machte Sahra Wagenknecht monatelang zum Dauergast in den Talkshows. Der Bruch mit der Linkspartei stand längst fest, fraglich war nur, ob und wann eine neue Partei gegründet wird. Seit dem 23. Oktober wissen wir es. Am 27. Januar 2024 soll die neue Partei von 400 ausgewählten Mitgliedern gegründet werden.

Demokratisch ist das alles nicht für eine „Bewegung“, aber Wagenknecht und ihr innerer Kreis wollen so wohl absichern, dass sie sich von Beginn auf Funktionär:innen, Apparat und ein Fußvolk stützen können, das ihren Ansprüchen an „Politikfähigkeit“ und „Zuverlässigkeit“ genügt. Schließlich wollen sie sich nicht mit „dubiosen Figuren“ und „Querulant:innen“ abplagen, die eine neue linkskonservative Partei nur zu leicht kaputtmachen könnten. Programm, mediale Präsenz und innere „Demokratie“ – daran lassen sie keinen Zweifel – müssen auf Sahra zugeschnitten sein und auf sonst niemanden.

Wofür steht linkskonservativ?

Das Beste an Wagenknechts Parteiprojekt ist, dass niemand auf die formale Gründung oder das Programm warten muss, um zu wissen, wofür die neue Partei steht. Linkskonservativ mag ja ein schräger Begriff sein, links ist daran jedoch – nichts!

„Unser Land ist in keiner guten Verfassung.“ So beginnt das Gründungsmanifest des „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW), das allen „wirtschaftliche Vernunft“, „soziale Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Freiheit“ verspricht. Schließlich verdiene „unser Land“ „eine selbstbewusste Politik, die das Wohlergehen seiner Bürger in den Mittelpunkt stellt“.

Und diese versprechen Wagenknecht und 15 weitere Abgeordnete und Politiker:innen der Linkspartei, die mit dem offenen Brief „Warum wir DIE LINKE verlassen“ ihren Austritt aus der Partei erklären. Die 16 hätten immer wieder argumentiert, „dass falsche Schwerpunkte und die fehlende Konzentration auf soziale Gerechtigkeit und Frieden das Profil der Partei verwässern.“ Ihre Positionen hätten keinen Platz mehr in der Partei gefunden.

Vorweg: Begriffe wie Kapitalismus, Imperialismus, Sozialismus, Arbeiter:innenklasse, Klassengesellschaft oder links kommen im Gründungsmanifest des „Bündnis Sahra Wagenknecht“, das am 23. Oktober auf der Bundespresskonferenz vorgestellt wurde, erst gar nicht vor.

Chauvinismus und Rassismus

Seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 werden Wagenknecht und ihre Anhänger:innen nicht müde,  gegen offene Grenzen zu wettern. „Regulierte“ Zuwanderung lautet ihr Motto und sie befinden sich damit ganz auf Linie der Bundesregierung und Unionsparteien. Während die Linkspartei die jüngsten Angriffe auf das Asylrecht als rassistisch und menschenfeindlich bezeichnet hatte und damit einmal wenigstens verbal ein richtiges Zeichen setzte, ergriff Wagenknecht im Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, der Bildzeitung für Spiegel-Leser:innen, die Seite der EU-Staaten. Mit der Kritik an den geplanten Gefängnislagern zur Abfertigung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen dürfe man es sich, so Wagenknecht, nicht „so einfach“ machen, sondern man müsse erst abwarten und sehen, ob diese funktionieren!

Damit setzte sie ein weiteres rechtes Ausrufezeichen. Auch beim Schleifen des Asylrechts macht Wagenknecht gerne mit. Um diesen Scheiß zu rechtfertigen, greift sie einmal mehr in die Mottenkiste rechter Lügenmärchen. Die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen, behauptet Wagenknecht gegenüber „Die Welt“, wären schließlich nicht „die Ärmsten der Armen“, sondern stammten vor allem aus den Mittelschichten. Woher sie das weiß? Ganz einfach. Die „Ärmsten der Armen“ würden es nämlich gar nicht schaffen, Krieg, Hunger, Umweltkatastrophen zu entfliehen. Folglich könnten diese Menschen nur vergleichsweise „Privilegierte“ sein – und die könnten daher auch ebenso gut in ihren Heimatländern wie Syrien und Afghanistan bleiben.

Sicherlich unterstützen nicht alle Anhänger:innen einer zukünftigen Wagenknecht-Partei diese lupenrein rassistischen und antidemokratischen Positionen. Aber sie nehmen sie billigend in Kauf, wenn sie mitmachen. Und auch die Gründungserklärung des BWS lässt keinen Zweifel daran, dass Zuwanderung und Migration begrenzt werden müssen. Denn die Freiheit, die das BSW verspricht, gibt es nur für jene, die dem deutschen „Sozialstaat“ zumutbar sind. „Das gilt aber nur, solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert, und sofern Integration aktiv gefördert wird und gelingt.“ Und – daran lässt Sahra Wagenknecht schon lange keinen Zweifel mehr – dieser Punkt sei längst überschritten und daher stimmt die neue vorgebliche Oppositionspartei gleich in den Chor all jener ein, die praktisch täglich neue rassistische Gesetzesverschärfungen fordern.

Lifestyle-Linke vs. bodenständige Menschen

Forderungen nach offenen Grenzen und eine „überzogene“ Kritik an Einreisebeschränkungen bilden für das auf dem rechten Auge blinde BSW einen weiteren Beleg dafür, dass sich DIE LINKE von den „normalen“, hart arbeitenden Menschen entfremdet hätte. Und damit nicht genug. „Übertriebener“ Genderismus,  Veganismus, Ökologismus und Kosmopolitismus seien allesamt Ausdruck desselben Grundproblems. DIE LINKE hätte sich lt. Wagenknecht und ihren Anhänger:innen von ihrer eigentlichen Klientel, den Lohnabhängigen, den Erwerbslosen, aber auch von den Handwerker:innen und vom „Mittelstand“ abgewandt. Sie würde sich auf urbane „Aufsteiger:innenmilieus“, auf Linksliberale konzentrieren.

Wagenknecht greift dabei reale Schwächen und Probleme der Identitätspolitik an – vermischt sie jedoch zu einem populistischen Brei, der auch gleich die Kritik an realer sozialer Unterdrückung entsorgt, die in ihr zum Ausdruck kommt.

Wagenknecht punktet darüber hinaus, wenn sie den Rechtsruck von Grünen und SPD anprangert. Aber sie verkennt dabei vollkommen deren Ursache. Sie vermag diese Anpassung nicht als Ausdruck veränderter Akkumulationsbedingungen des Kapitals – und damit veränderter Rahmenbedingungen reformistischer, auf einen Klassenkompromiss zielender Politik – zu begreifen. Die verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt verengt nämlich den Verteilungsspielraum für sozialpartnerschaftliche Politik, was bei der SPD, aber auch bei der Linkspartei zu immer mehr Zugeständnissen an die uneingeschränkt kapitalistischen „Partner:innen“ führt.

Wagenknecht (und vor ihr Lafontaine) werfen im Grunde der SPD vor, an ihrer traditionellen Politik nicht einfach festzuhalten, weil sie in der Tat glauben, dass der Staat den Kapitalismus zum Wohle aller regulieren könne.

Daher bleibt ihre Kritik letztlich rein moralistisch. DIE LINKE hätte sich von Sozialstaat und nationalstaatlicher Umverteilungspolitik abgewandt. Hätte sie das nicht getan, so der Umkehrschluss, könnten wir heute noch immer in einem schön funktionierenden Sozialstaat leben, in dem die Armen versorgt, die Arbeiter:innen angemessen entlohnt und die Unternehmer:innen ehrliche Gewinne machen würden.

Die sogenannte Lifestyle-Linke hätte sich jedoch nicht nur dem Neoliberalismus angeschLossen, sondern sie würde auch unzumutbare Anforderungen an die Massen stellen, wenn sie ständig ihre Einstellungen und Verhaltensweisen in Frage stelle. Der „normale“ Mensch ist für Wagenknecht kein gesellschaftliches Wesen, die vorherrschenden Gedanken, Einstellungen und familiären Verhältnisse sind kein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern quasi natürliche, letztlich unveränderliche Eigenschaften „der“ Menschen. „Normale“ Lohnabhängige seien ebenso wie „normale“ Kleinbürger:innen oder Kleinunternehmer:innen eben heimatverbunden, bodenständig, stolz darauf, Deutsche zu sein. Sie lebten mehrheitlich gern in Familien, sind gerne heterosexuelle Männer und Frauen und wollen nicht „ständig gemaßregelt“ werden, wenn sie einen Witz über Schwule machen.

Wagenknecht präsentiert sich dabei gern als Verteidigerin der einfachen Leute. In Wirklichkeit verhält sie sich jedoch paternalistisch und bevormundend, indem sie darüber bestimmt sagt, was diese einfachen Leute ausmache und was nicht. Ihr zufolge könnten die Lohnabhängigen „überzogenen“ Erwartungen an Fortschrittlichkeit prinzipiell nicht genügen. Man müsse die Menschen eben so nehmen, wie sie (angeblich) sind – darauf läuft das Credo von Wagenknecht wie jedes (linken) Populismus hinaus. Ansonsten liefen die Leute zur AfD über. Und um das zu verhindern, müsse man eben auch den Ball flach halten, wenn es um rückständiges Bewusstsein unter der Masse der Bevölkerung geht.

Populismus und Elektoralismus

Das erscheint Wagenknecht und Co. umso zwingender und unproblematischer, weil es in ihrer politischen Konzeption erst gar nicht vorgesehen ist, das Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse zu verändern. Die Überwindung von inneren Spaltungen stellt für sie kein Problem dar, weil die Lohnabhängigen ohnedies nicht als Subjekt zur Veränderung der Gesellschaft begriffen werden. Sie bilden nur eine besonders zahlreiche Wähler:innenschicht unter anderen „Leistungsträger:innen“, die Wagenknecht ständig im Blick hat: Mittelschichten, städtisches und ländliches Kleinbürger:innentum und, als Krönung der deutschen Wirtschaft, nichtmonopolistische Unternehmen. Das Subjekt einer möglichen Veränderung ist nicht die Arbeiter:innenklasse, sondern es geht nur darum, bei den Wahlen möglichst viele Stimmen der einfachen Leute zu erhalten. Das Subjekt der Veränderung ist sie – Sahra Wagenknecht. Damit sie längerfristig Kreuzchen erhält, muss man den Menschen natürlich etwas bieten. Nämlich Ausgleich zwischen den Klassen, Gerechtigkeit, Sicherheit, Ruhe und Ordnung auf dem Boden der „sozialen Marktwirtschaft“.

Zur sozialen Marktwirtschaft zurück

Ludwig Erhard und Willi Brandt sind die Leitbilder der Wirtschafts- und Sozialpolitik einer Sahra Wagenknecht. Dabei sorgt der Staat für den Ausgleich zwischen den Klassen, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Das ginge, so können wir beispielsweise in „Reichtum ohne Gier“ nachlesen, weil gute Unternehmen eigentlich gar nicht auf Profit aus wären. Dieser entstünde auch nicht, wie uns Marx weismachen wollte, in der Ausbeutung im Produktionsprozess, sondern durch die Monopolprofite der Großkonzernen. Echte Unternehmen hingegen bräuchten gar keinen Kapitalismus, wohl aber eine funktionierende freie Marktwirtschaft.

Diesen kleinbürgerlichen Schwachsinn verkauft Wagenknecht – und der gesamte mediale Rummel um sie – allen Ernstes als „Theorie“, als „tiefgehende“ Gesellschaftsanalyse. Links oder gar marxistisch ist darin gar nichts.

Dafür tischt uns Wagenknecht wie dereinst auch Oskar Lafontaine das Märchen auf, dass der Staat die Wirtschaft zum Wohle aller regulieren könne. Er müsse nur entschlossen eingreifen. Ansonsten drohten dem armen Deutschland Niedergang und Deindustrialisierung.

Damit der Staat im Inneren „freien“ und gerechten Wettbewerb organisieren könne, müsse er sich der Globalisierung widersetzen. Ansonsten werde er ohnmächtig und schwach. Nur auf Basis eines nationalen Programms könnten Wohlstand für alle und sogar ein gewisser Grad ökologischer Nachhaltigkeit erreicht werden. „Alle“ sind dabei natürlich nur deutsche Staatsbürger:innen und jene Ausländer:innen, die ihr Gastrecht nicht verwirkt hätten. Die anderen Länder der Welt müssten eben selbst eine solche Politik umsetzen – dann wird alles gut, sozial und gerecht auch in der Marktwirtschaft.

Das Gründungsmanifest des BSW präsentiert „unsere“ Wirtschaft im Niedergang, nicht unähnlich jeder anderen oppositionellen Bundestagsfraktion, ob nun AfD oder CDU/CSU. Die Rahmenbedingungen für Industrie und Mittelstand hätten sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert, beklagt das BSW.

Woran liegt es? „Von Konzernen beeinflusste und gekaufte Politik und das Versagen der Kartellbehörden haben eine Marktwirtschaft geschaffen, in der viele Märkte nicht mehr funktionieren.“ Und die Lösung? Echter, also fairer Wettbewerb, wie es ihn angeblich mal unter Ludwig Erhard und Willi Brandt gegeben hätte.

„Wir streben eine innovative Wirtschaft mit fairem Wettbewerb, gut bezahlten sicheren Arbeitsplätzen, einem hohen Anteil industrieller Wertschöpfung, einem gerechten Steuersystem und einem starken Mittelstand an. Dafür wollen wir Marktmacht begrenzen und marktbeherrschende Konzerne entflechten. Wo Monopole unvermeidlich sind, müssen die Aufgaben gemeinnützigen Anbietern übertragen werden.“

Dass die Konkurrenz selbst zur Zentralisation und Konzentration des Kapitals führen muss, davon will die ehemalige Marxistin Wagenknecht längst nichts mehr wissen. Statt dessen folgt der Griff in die Mottenkiste des kleinbürgerlichen Antimonopolismus, der hofft, mit staatlichen Regulierungen die Entwicklungsdynamik des Kapitals lenken zu können. Es handele sich um eine Wirtschaftspolitik, in deren Zentrum der vorzugsweise deutsche Mittelstand stehe: „Wir brauchen Zukunftsfonds zur Förderung innovativer heimischer Unternehmen und Start-ups und nicht Milliardensubventionen für Konzerne aus Übersee.“ Gegen staatliche Förderungen des Privatkapitals ist also nichts weiter einzuwenden, solange es nicht aus Übersee kommt, sondern deutsch und innovativ ist.

Dieses Programm wird von Wagenknecht zwar als klassenübergreifende Wohltat angepriesen. Den Interessen der Arbeiter:innenklasse entspricht es jedoch nicht. Im Gegenteil, es bindet die Lohnabhängigen an eine kleinbürgerliche Utopie, an ein Programm, das vor allem im Interesse des Kleinbürger:innentums und der auf den nationalen Markt orientierten Unternehmen liegt. Sollte sie wirklich mal in eine Regierungsverantwortung kommen, dann darf sie sich bereits am Tag eins nach Dienstantritt tief vor den verfluchten Monopolen verbeugen und sich als erste Vorkämpferin des deutschen Imperialismus beweisen – auch gegen die einfachen Leute. Es ist nicht die einzige Parallele zum Rechtspopulismus. Auch, dass rassistisch Unterdrückte und LGBTIA+ dann besonders mit Angriffen von der großen Führerin rechnen müssen, mit denen sie von ihrer völlig kapitalkonformen Politik ablenken wird (wenn auch gemäßigter und weniger aufgeblasen aggressiv als die AfD), passt dazu.

Starker Staat und sozialer Imperialismus

Die Schwachen, so hatte schon Oskar Lafontaine verkündet, bräuchten einen starken Staat. Dabei bleiben die Schwachen zwar auch weiter schwach – aber sie werden besser, „anständig“ und „ausreichend“ versorgt. Die Starken bleiben natürlich weiter stark, aber sie müssen höhere Steuern zahlen.

Die braucht der Staat schließlich, um weiter zu funktionieren. Damit ist bei Wagenknecht und Co. keineswegs nur (was immerhin richtig wäre) ein Ausbau von Bildung, Gesundheitswesen oder Infrastruktur gemeint.

Auch wenn sich Wagenknecht gern als Friedensengel hinstellt, so ist sie eine realistische „Pazifistin“. Deutschland brauche natürlich eine leistungsfähige, verteidigungsbereite Bundeswehr, erklärt sie in zahlreichen Interviews. Das Problem an der Kriegstreiberei der aktuellen Bundesregierung besteht für sie nicht darin, die eigene Armee aufzurüsten, sondern sich in Kriege zu verwickeln, die Deutschland schaden würden.

Auch wenn das Gründungsmanifest des BSW zu Recht die Aufrüstung der NATO anprangert, so bleibt es vollkommen utopisch. Schließlich muss auch in der Welt des BSW der Weltfrieden irgendwie garantiert werden. Aber wie? Inmitten des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen imperialistischen Mächten strebt es eine „neue Ära der Entspannung und neue Verträge über Abrüstung und gemeinsame Sicherheit an“. Die imperialistische Ordnung soll – ganz wie der Kapitalismus – nicht bekämpft, sondern nur reguliert werden – und zwar vorzugsweise von jenen Mächten, die heute die Welt dominieren.

Deutschland soll dabei aktiv mitmischen, ja voranschreiten. So erfahren wir vom BSW: „Europa benötigt eine stabile Sicherheitsarchitektur.“ Natürlich mit Bundeswehr. Diese hätte schließlich den „Auftrag, unser Land zu verteidigen. Für diese Aufgabe muss sie angemessen ausgerüstet sein.“

Abschottung nach außen

Doch mit der Anerkennung der Bundeswehr nicht genug. Wagenknecht fordert Investitionen für alle anderen Repressionsorgane und -institutionen – für „unsere“ Polizei, „unsere“ Gefängnisse, „unsere“ Frontex-Kräfte und Abschiebebehörden. Racial Profiling von Migrant:innen oder Schikanieren von Jugendlichen durch Cops? All das gibt es in der Welt des Links-Konservativismus allenfalls als Marginalie. Die Einzelfälle lassen grüßen.

So wie Wagenknecht den von Rassismus, Sexismus oder Transphobie Betroffenen und anderen gesellschaftlich Unterdrückten den Rücken kehrt, so wie sie von der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse durch das gesamte Kapital – inklusive des sog. Mittelstandes – nichts wissen will, so verschwindet für sie auch der Klassencharakter des bürgerlichen Staates.

Für die einstige Marxistin ist dieser längst kein Herrschaftsinstrument des Kapitals mehr, sondern eigentlich der Gipfel menschlicher Zivilisation. Wo der Staat keinen Klassencharakter mehr hat, verschwindet folgerichtig auch der deutsche Imperialismus.

Imperialistisch sind allenfalls die anderen – sicherlich die USA, wohl auch China, vielleicht sogar Russland. Deutschland droht in Wagenknechts Weltsicht, unter die Räder zu kommen, ja abhängig zu werden, weil es die eigenen Unternehmen nicht ausreichend fördert und schützt. Während die Großkonzerne Teile der Produktion ins Ausland verlagern und so den Standort schwächen, drohen die „kleinen“, also die Mittelständer:innen, die auch mehrere Tausend Arbeiter:innen ausbeuten, einzugehen.

Wenn Wagenknecht ein düstereres Bild des deutschen Kapitalismus zeichnet, geht es ihr natürlich nicht um dessen Kritik, sondern Rettung. Die Bundesregierung, so ihr, der AfD nicht ganz unähnlicher Vorwurf, fahre unsere Wirtschaft „an die Wand“. Sie habe versagt, es brauche eine/n andere/n Arzt/Ärztin am Krankenbett der Marktwirtschaft, eine/n, der/die Staat, Unternehmen und nebenbei auch noch die Lohnarbeit rettet. Dazu wären Regierung, Unionsparteien, aber auch die AfD nicht imstande. Dazu brauche es Wagenknechts rettende links-konservative Partei.

Deutschland-Retterin im Wartestand

Mehr noch als die reformistische Linkspartei bietet Wagenknecht eine neue links-konservative Partei als Rettung aller Klassen an. Und sie bedient dabei durchaus eine reale Stimmung. Der rechtspopulistischen AfD will sie eine (links)populistische Alternative entgegensetzen. Ob dies gelingt, ist zweifelhaft.

Es ist aber bezeichnend für den Charakter eine möglichen Wagenknecht-Partei, woher ihre potentiellen Wähler:innen kommen würden. In verschiedenen Umfragen wird einer solchen Partei ein Potential bis zu 25 % zugerechnet, was jenen Menschen entspricht, die sich vorstellen könnten, eine solche Gruppierung zu wählen. Ob sie das gegebenenfalls wirklich tun würden, ist eine andere Frage, aber die Herkunft dieses Potentials ist dennoch von Interesse.

Im Artikel „Wo liegt das Potenzial einer Wagenknecht-Partei?“ verweist Carsten Braband auf eine Studie des Instituts Kantar vom Februar 2023. Dieser zufolge kämen 15 % der potentiellen Wähler:innen von der Linkspartei, 3 % von den Grünen, 12 % von der SPD, also insgesamt nur 28 %. Die überwältigende Mehrheit des Wähler:innenpotentials rekrutiere sich aus  bürgerlichen und rechten Parteien: FDP: 8 %, CDU/CSU: 22 %, AfD 41 %!

Diese Zahlen sind zwar auch für DIE LINKE bedrohlich, weil sie angesichts ihres maroden Zustandes das endgültige parlamentarische Aus der Partei herbeiführen könnten. Aber entscheidend ist, dass Wagenknecht in der AfD ihr größtes Wähler:innenreservoir vorfindet, gefolgt von den Unionsparteien!

Die Anhänger:innen von Wagenknecht betrachten das als eine Bestätigung ihrer Rolle als Bürgerinnen- und Rechten-Schreck. Doch warum spricht sie gerade diese Wähler:innen an? Ganz einfach. Sie verspricht einerseits eine gewisse soziale Sicherheit, die CDU/CSU und auch die AfD nicht ganz so überzeugend zu vermitteln vermögen. Vor allem aber signalisieren ihre Anhänger:innen: Reaktionäre Einstellungen, Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Transphobie – all das ist für Wagenknecht und Co. kein Problem, ja es erscheint ihnen geradezu als Erfolgsgarant. Indem man konservative und traditionelle „Werte“ zu Familie, Ehe, Migration akzeptiert und sich selbst zu eigen macht, würde man die Anhänger:innen der AfD mittels Sozialstaatsversprechen wieder für eine vorgeblich „linke“ Politik zurückgewinnen.

Das ist nicht nur spalterisch gegenüber den Lohnabhängigen und reaktionär, es ist auch dumm und kurzsichtig. Die letzten Jahre haben in zahlreichen europäischen Ländern gezeigt, dass gerade die rassistischen Zugeständnisse gegenüber den Rechten ihnen nicht das Wasser abgegraben, sondern diese bestärkt haben. Und so wird es auch hier laufen. Die Ideologie des Links-Konservativismus ist letztlich Wasser auf den Mühlen der AfD – nicht umgekehrt.

Wagenknecht begeht hier im Grunde einen ähnlichen fatalen Fehler wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Während sich diese mehr und mehr den grünen und sozialdemokratischen Parteien anpassen und dabei immer offener die demokratisch verbrämte imperialistische Politik Deutschlands verteidigen, passt sich Wagenknecht an die rechten, konservativen und reaktionären kleinbürgerlichen Gegner:innen dieser Politik an. Ihr Programm und ihre Partei sind nicht Teil der Lösung der Krise der Arbeiter:innenbewegung, sondern ein mögliches neues, populistisches Hindernis.

Statt reformistisch eingehegter, im Grunde bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik, die immerhin noch den Klassengegensatz formal berücksichtigt, kennt die neue Partei keine Klassen. Das Großkapital wird nicht als Kapital kritisiert, sondern der Verzerrung des Wettbewerbs angeklagt, der eigentlichen Quelle allen Übels.

Daher stellt es den Monopolen und insbesondere den ausländischen Großkonzernen die Einheit des „Volkes“, vom mittleren und kleinen Unternehmen bis zum/r prekär Beschäftigten entgegen. Von einer „richtigen“ Wirtschaftspolitik könnten dann alle profitieren, vorausgesetzt, der Staat würde sich um die „wirklichen Menschen“ und nicht um „Randgruppen“ kümmern und auch die Zahl der Menschen auf ein „vernünftiges“ Maß durch effektive Einreiserestriktionen begrenzen.

Diese Weltsicht, diese politische Heilserwartung entspricht der „Vernunft“, genauer der Klassenlage, deutscher Kleinbürger:innen und Mittelschichten. Links und oppositionell ist daran – nichts.




Weder neu, noch internationalistisch: Die LINKE und der „neue Internationalismus“

Leo Drais, Neue International 279, Dezember 2023/Januar 2024

„Wir setzen dagegen auf Deeskalation, globale Gerechtigkeit und zivile Konfliktlösung, um der sich zuspitzenden Blockkonfrontation eine friedliche Alternative entgegenzusetzen. Das meint eine Politik, die nicht der Logik des Militärischen folgt, die die Bedrohung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von innen und außen ernst nimmt, aber grenzübergreifend Ausgleich, Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet ist. Eine Entspannungspolitik, die internationales Recht und den Weg der Diplomatie und Verhandlung stärkt. Die endlich die Fluchtursachen bekämpft – nicht die Geflüchteten. Die solidarischen Handel und gemeinsame Entwicklung stärkt, statt Standortkonkurrenz und neokoloniale Ausbeutung zu verschärfen. Die aktiv jene Menschen, Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen unterstützt, die für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten, anstatt weiter Deals mit Diktatoren zu machen. Die dafür sorgt, dass die EU nicht ein Treiber des Wettrüstens bleibt, sondern eine Friedensunion wird.

Das kann gelingen mit einem neuen Internationalismus, der ohne Doppelstandards Völkerrecht und Menschenrechte achtet – und überall für Gerechtigkeit, Kooperation und Demokratie eintritt. Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, unser Kampf für Gerechtigkeit ist universell. Denn es braucht weltweit soziale Gerechtigkeit, eine klimagerechte Wirtschaft und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und handlungsfähige internationale Strukturen.“ (Linkspartei, Wahlprogrammentwurf zur Europawahl 2024)

Alt und bricht sofort

Das, was sich weiter Linkspartei nennt, in das über 1.000 neue Genoss:innen nach dem ersehnten Weggang Sahra Wagenknechts und ihrer Sänftenträger:innen eingetreten sind, wird nicht müde zu betonen, dass jetzt alles besser würde. Aufbruchstimmung, alles neu, beziehungsweise: Back to the roots. Und das trifft es. Denn der oben zitierte „neue Internationalismus“ ist gar nicht so neu. Vor zehn Jahren hätte das Ganze mehr oder weniger genauso im Wahlprogramm der LINKEN stehen können und damals wie heute wäre auch eine Sahra Wagenknecht damit zufrieden. Hinter floskelhaft Unkonkretem kann sich weiterhin fast alles und jede/r sammeln. Es ist ein Internationalismus, der außer dem Namen wenig Internationalistisches in sich trägt, eine Klammer, die Regierungssozialist:innen, Bewegungslinke und den Rest wie mit einem porösen Einweckgummi zusammenhält.

Und während der Gummi alt und ausgeleiert ist und nur durch den Weggang des Wagenknechtflügels eine gewisse Entlastung erfährt, wiegt die veränderte Weltlage so schwer. Die Linkspartei spricht ja selbst von einem „Epochenbruch“. Doch aus dieser Erkenntnis folgt keine Revision des Programms. Die alten Antworten sollen auch in der neuen Zeit die richtigen sein, dabei waren sie es in der „alten“ schon nicht.

Denn was so schön und einfach klingt – „friedliche Alternative“, „Ausgleich“, „Abrüstung“, „solidarischer Handel“, „soziale Gerechtigkeit“, „Menschenrechte“ – das ist fromm im religiösesten Sinn. Es wird geglaubt, versprochen und nicht analysiert. Fest geglaubt daran, dass Kapitalismus „fair“ und „friedlich“ gehen könne. Ein fortgesetzter Gottesdienst, der die Illusion streut, das Hier und Jetzt könnte einfach so anders werden. Das steht so zwar nicht da, aber es ist, worauf die Politik der Linkspartei wie eh und je hinausläuft. Oder besser: nicht hinausläuft. Denn nur weil sich etwas gewünscht wird, wird es nicht passieren. Die kapitalistische Welt ist eben eine ganz konkrete, von Widersprüchen durchzogene, in der Konkurrenz überhaupt das ist, worin sie sich verwirklichen kann. Selbst wenn die Linkspartei an der Regierung wäre, mit absoluter Mehrheit, würde alles, was sie sich wünscht, an diesen Sachzwängen zerrreißen und zerbrechen. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Ausbeutung und Konkurrenz, die die Ausbeutung immer weiter zuspitzt und eben zu Neokolonialismus führen muss.

Das weiß sie vielleicht auch selbst. Aber ihr Wahlprogramm ist ja auch erst mal nur ein Stimmenfänger und dann sieht man, was möglich ist, innerhalb des Systems, mit ein bisschen sozialer Bewegung und Parlamentarisieren. Wenn aber die Welt nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, was ist dann die Politik der LINKEN anderes als eine nationale, kapitalistische? Ihre „friedliche Alternative“ ist eine Lösung des Ukrainekrieges am Verhandlungstisch der Großmächte Russland und NATO, keine des Selbstbestimmungsrechts der Menschen, die in der Region leben. Ihr „Völkerrecht“ ist das der UNO und damit einer imperialistischen Institutionen schlechthin. Ihr „solidarischer Handel“ ist immer noch Ausbeutung.

So wenig neu wie das Programm für ein „Comeback“ ist, so wenig neu ist eigentlich auch unsere Kritik daran. Wir haben die Programme der Linkspartei in den letzten Jahren wiederholt Kritiken unterzogen, auch hinsichtlich des Internationalismus, der nur so halbgar daherkommt. Was sich jedoch mit der „Epochenwende“ durchaus verändert, ist, dass Ansprüche früher mit der Realität kollidieren, wobei die kapitalistische Realität bei diesem Zusammenprall keinen Schaden nimmt, wohl aber die Linkspartei und die, die an sie glauben oder doch wenigstens ein kleines bisschen in Ermangelung von Alternativen auf sie hoffen. Die Partei ist getrieben von der Welt.

Offene Grenzen

Als Beispiel dafür dient die Forderung nach offenen Grenzen, inzwischen entsorgt und opportun durch ihre Negation ersetzt, nämlich der Absage an Grenzkontrollen (Beschluss des Parteivorstandes vom 23. Oktober 2023). Natürlich war das mit den offenen Grenzen nie wirklich ernstgemeint. Solange es eine im Vergleich zu heute überschaubare Migration gab (die schon 2014 für Tausende den Tod im Mittelmeer bedeutete), war das etwas, womit man sich gut schmücken konnte.

Dann kam 2015, dann die AfD und es stellte sich wirklich die Frage, wie mit Millionen Geflüchteten umgegangen werden soll. Die Antwort oben: Fluchtursachen bekämpfen. Das ist zwar an sich richtig, aber es verkommt zur Phrase, wenn es als Ersatz für eine konkrete Antwort herhalten soll, ob Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen werden sollen oder nicht. Man weicht also aus und setzt auf „Gerechtigkeit“ usw., also auf Plattitüden.

Das ist einfacher, als offene Grenzen wirklich mal konsequent weiter zu denken und jenen zu vermitteln, die tatsächlich eine damit verbundene Angst haben, jedoch noch nicht in den Fängen der AfD oder von BSW stecken. Dies nicht zu tun, heißt ansonsten, dass sich DIE LINKE im Endeffekt unter jene einreiht, für die Grenzkontrollen usw. alternativ sind. Sie mag zwar die Politik der Regierung in einzelnen Fällen kritisieren, aber selbst formuliert sie in dieser einen Grenzfrage eben keine Alternative.

Dass offene Grenzen mit der bestehenden Realität nicht vereinbar sind, ist dabei der Linkspartei selbst klar, sonst würde sie an der Idee festhalten. Aber obwohl, ja weil sie mit der imperialistischen Weltordnung unvereinbar ist, halten z. B. wir an der Idee fest. Sie führt im Grunde sofort zu der Frage: Wie soll die Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit aussehen? Wer antirassistisch sein will, der muss dafür sein, dass alle Menschen das Recht haben, überall auf der Welt zu leben. Alles andere ist geheuchelt. Den Weg zu so einer Welt zu zeichnen und vorstellbar zu machen, das macht einen wirklichen Internationalismus aus. Daher muss Antirassismus als integraler Teil des Klassenkampfes verstanden werden. Verteilung der Arbeit auf alle, Sicherung von Wohnraum und soziale Absicherung für alle, Enteignung internationaler Konzerne, ein Plan zur Reparation der Schäden in der halbkolonialen Welt, multilinguale Ämter usw. sind davon genauso Eckpunkte wie eben die offenen Grenzen.

Ukraine

Ein anderes Beispiel für den halbgaren Internationalismus ist die Haltung zur Ukraine. Hier offenbart sich außerdem, dass der in der Partei weit verbreitete Pazifismus keine Antwort auf die Kriegsgefahr bietet. Zwar muss zugutegehalten werden, dass diese Pazifist:innen nicht so wie viele andere vom Krieg einfach umgeworfen wurden und auf der Seite der NATO landeten. Trotzdem stellt sich die Frage: Wenn man der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, wie soll sie dieses dann wahrnehmen? Zu sagen, dass mehr Waffen keinen Frieden bringen, dieser nur diplomatisch erreichbar sei, und an Putin, Biden und Scholz zu appellieren, sich doch an einen Tisch zu setzen, bedeutet im Grunde nur, den Großmächten der Welt zuzugestehen, dass sie über Krieg und Frieden und über die „Friedensordnung“ entscheiden. Das heißt jene, die sich nicht nur auf militärischem Gebiet im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt befinden, sollen entscheiden, wie die Ukraine neu aufgeteilt wird. Ein solcher imperialistischer Frieden würde allenfalls die geostrategische Konfrontation, die den Krieg um die Ukraine auch, wenngleich nicht ausschließlich prägt, in neue Formen gießen. An der Aufrüstung, der Expansion der NATO wie ihrer imperialistischen Rivalität mit Russland und China würde das nichts ändern. Aber alles ist, was und wie es ist, so scheiße es auch ist.

Allgemein gesteht DIE LINKE zwar der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung gegen die imperialistische Invasion Russlands zu. Aber die Frage, wie die Anerkennung dieses Selbstbestimmungsrechts, das ohne die Mittel zur seiner Umsetzung nichts wert ist, mit dem Kampf gegen jede imperialistische Einflussnahme in der Ukraine verbunden werden kann, stellt sie sich erst gar nicht.

Als Revolutionär:innen gestehen wir zwar der Ukraine zu, sich die Mittel für ihre Verteidigung zu beschaffen, wir lehnen aber Forderungen an die westlichen imperialistischen Mächte, sich einzumischen, ab und treten offensiv für ein Ende der Sanktionen gegen Russland ein, weil diese integraler Teil eines neuen Kalten Krieges zwischen den Großmächten sind.

Bezüglich der Waffenlieferungen an die Ukraine geht es vor allem darum: Wie kann dafür gesorgt werden, dass diese nicht zur Aufrüstung der NATO in Polen oder im Baltikum genutzt werden? Im Endeffekt bedeutet es zu fordern, dass Waffentransporte nicht durch die Armeen und NATO-Staaten kontrolliert werden, sondern durch die Transportarbeiter:innen selbst. Immerhin gibt es in Europa kleine Beispiele, wo sowas passierte. Es verweist aber auch auf das, was wirklich dem Krieg das Handwerk legen kann.Nicht die Diplomatie der Imperialist:innen, sondern eine internationale Antikriegsbewegung auf Straßen, Gleisen und in Rüstungsfabriken. Nur diese wäre in der Lage die Unterstützung des ukrainischen Selbstbestimmungsrechtes und den Kampf gegen die Imperialist:innen auf allen Seiten miteinander zu kombinieren. Eine solche Bewegung müsste in klarer Opposition zur Selenskyj-Regierung stehen und die linken und gewerkschaftlichen Kräfte in der Ukraine unterstützen und zwar vor allem jene, die für von allen bürgerlichen und imperialistischen Kräften unabhängige Arbeiter:innenpolitik einstehen. Klar sind wir davon weit weg. Wäre trotzdem die Aufgabe der Linkspartei, vermittelt über ihren Einfluss in Gewerkschaften, so etwas aufzubauen. Es ist allemal sinnvoller, als für ein Ende der Kriege durch UNO, Diplomatie und Pazifismus einzutreten. Es wäre die Bereitschaft zum Klassenkampf: sich darauf vorzubereiten, allem, was ist, glaubwürdig den Krieg zu erklären.

Palästina

Und damit kommen wir zu Palästina, heute der Gretchenfrage, wenn es um internationale Solidarität deutscher Linker geht. Im Bundestag hatte sich die Linkspartei allen anderen Parteien schnell angeschlossen, als es um die Verurteilung des Hamasterrors und die Solidarität mit Israel ging.

Auch wir verurteilen die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen am 7. Oktober und lehnen die Politik und Strategie der Hamas ab. Aber das ändert nichts daran, dass der palästinensische Widerstand gegen die seit Jahrzehnten andauernde Vertreibung und Besatzung auch unter einer schlechten, reaktionären Führung wie jener der Hamas legitim ist.

Wenn, wie Gregor Gysi sagt, die Palästinenser:innen die Unterdrückten sind, dann stellt sich für Linke die Frage: Wie kann diese Unterdrückung beendet werden? Dieser Weg führt darüber, dass eine linke Alternative zur Hamas aufgebaut werden muss, die den Kampf nicht einfach für sich selbst und eine Zwei-Staaten-Lösung führt, sondern wirklich ein Programm bietet, was jede Unterdrückung in der Region beendet. Die der Palästinenser:innen durch Israel. Die palästinensischer Frauen in einer extrem konservativen Gesellschaft. Die der rassistisch unterdrückten Israelis durch den Zionismus. Der Weg dahin führt nicht über eine Unterstützung des Staates, der wesentlich die Ursache für die heutige Situation darstellt. Man kann solidarisch mit ermordeten und entführten Zivilist:innen sein, ohne sich auf die Seite des Staates zu stellen, der auf ihrem Pass steht.

Das aber hat die Linkspartei nicht getan. Sie bietet auch heute keine Perspektive und keine klare Unterstützung der Unterdrückten, weder vor Ort noch in Palästina. Sie landet maximal dort, wo wir sie schon oben kritisierten: bei der Illusion eines Völkerrechts, einer gerechten Weltordnung in einer grundsätzlich ungleichen Welt. Bei zähen Debatten, bei verwundenen Begründungen, warum man da steht, wo man steht. Damit ist die Linkspartei noch weniger glaubwürdig als alle anderen Parteien.

Denn während diese den Boden, auf dem sie agieren – den deutschen Imperialismus  –, auch verbal gar nicht in Frage stellen und sich eben für diesen strategisch in die Bresche werfen, wenn auch mit unterschiedlichen Ideen, so bezeichnet sich die Linkspartei ja schon als eine demokratisch-sozialistische Partei. Weder in Palästina noch der Ukraine noch sonst wo ist jedoch ersichtlich, wie ihr Selbstverständnis zu einer demokratisch-sozialistischen Welt werden kann. Und, das sei mal unterstellt, auch wenn der Traum davon bei vielen Mitglieder ein aufrichtiger ist, in der Realität ist das nur eine verschwommene Erinnerung an die letzte Nacht und genauso viel wert.




Wieso, weshalb, warum? Eine Antwort an:  Wir // Jetzt // Hier

Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1237, 22. November 2023

Nach dem Parteitag der Linkspartei in Augsburg veröffentlichen „Linke aus verschiedenen Teilen der Zivilgesellschaft“ den Beitrag „Wir // Jetzt // Hier“ und kündigen ihren Eintritt in DIE LINKE an.

Wer im letzten Jahrzehnt die Politik der radikalen Linken in Deutschland verfolgen musste, den erinnern darin viele Formulierungen und Inhalte an die Interventionistische Linke und andere postautonome Gruppierungen. Diese ist seit Corona erstaunlich stumm, zum Ukrainekrieg lässt sie sich kaum blicken und zu Palästina hat sie praktisch nichts zu sagen.

Aber es bleibt letztlich nur eine Mutmaßung, woher die Autor:innen genau kommen, die schreiben. In einer Telegram-Gruppe haben die Initiator:innen über 500 Menschen gesammelt, am 20. November sollten möglich alle in die Partei eintreten. Doch das Schreiben wirft in vielerlei Hinsicht mehr Fragen auf, als es klärt. Deswegen fragen wir zurück und freuen uns auf eine Antwort.

Wieso?

Die stetig voranschreitende Klimakrise, der scheinbar unaufhaltsame Rechtsruck – all das scheint unerträglich ohne eine linke Alternative, insbesondere für Aktivist:innen, die „sich der parlamentarischen Politik nie verbunden gefühlt haben.“ Stattdessen haben sie „protestiert, blockiert, gestreikt und Politik und Kultur von unten“ organisiert. So weit so verständlich.

Im späteren kommt dann die weitere Erklärung: „Durch den Abgang des Wagenknecht-Lagers kann sie sich entweder als eine solche verbindende Organisation neu aufstellen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken.“ Aber schreibt der Abgang von Wagenknecht wirklich die Geschichte der Linkspartei neu?

Weshalb?

Nein, eigentlich nicht. Denn Wagenknecht sitzt nicht in Thüringen, Bremen oder Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung und schiebt dort auch nicht ab. Wagenknecht war auch nicht dafür verantwortlich, dass es keine Kampagne für offene Grenzen gegeben und man nicht versucht hat, mit den Gewerkschaftsmitgliedern der Partei dafür zu kämpfen, dass Geflüchtete in diese aufgenommen werden, man dort gemeinsam Arbeitskämpfe führen könnte, die rassistische Vorurteile abbauen und Verbesserungen für alle mit sich bringen.

Dass das nicht stattgefunden hat, ist vor allem das Werk des Flügels der Regierungssozialist:innen. Mit diesen hat kein Bruch stattgefunden, vielmehr hat sich die Bewegungslinke aus Angst vor dem Untergang an ihn geklammert und selbst angefangen, „Rebellisches Regieren“ auf ihre Fahne zu schreiben. Doch das wisst ihr selber. Deswegen schreibt ihr: „Es gibt kein ,rebellisches Regieren‘ mit SPD und Grünen. Das zeigt die zunehmende Abschiebepraxis in Thüringen ebenso wie die Blockade des Volksentscheids ,Deutsche Wohnen & Co enteignen‘ unter Rot-Rot-Grün in Berlin“ und „DIE LINKE hat sich mit diesen Regierungsprojekten für eine Koalitionsfähigkeit verbogen und sich zur Komplizin des rot-grünen Mitte-Extremismus gemacht.“

Das wollt ihr stoppen, das wollt ihr verändern und deswegen tretet ihr nun in die Partei ein. Aber wie genau das vonstattengehen soll, das verschweigt ihr. Mit dieser Entscheidung und ohne Plan lauft ihr Gefahr, einfach nur die neue Bewegungslinke zu werden. Ihr nehmt den Streit, der seit Gründung der Linkspartei stattfindet, auf. Aber bei Deutsche Wohnen & Co enteignen, da hattet ihr selber keinen Plan, wie man die Bewegung voranbringt, Druck auf die Linkspartei ausübt, damit sie nicht ihre eigene Regierungsbeteiligung über den Erfolg der Bewegung stellt. Was macht euch so sicher, dass es jetzt ganz anders läuft? Denn es war nicht Wagenknecht, die in Berlin den Volksentscheid blockiert hat.

Für eine Partei der Arbeiter:innen?

Die Forderungen nach einem durchschnittlichen Facharbeiter:innengehalt und auch nach begrenzten Amtszeiten für Abgeordnete sind super. Wir unterstützen diese. Aber eine Partei für Arbeiter:innen macht mehr aus, als dass Mandatsträger:innen Arbeiter:innen sind und einen Teil ihrer Gehälter abgeben. Das ist ein Mittel, das verhindern soll, dass eine Schicht von Fuktionär:innen entsteht, die sich verselbständigt und im Interesse ihrer eigenen ökonomischen Stellung handelt. Das reicht aber nicht aus.

Mandatsträger:innen müssen ihrer Basis gegenüber auch rechenschaftspflichtig – und zur Not auch abwählbar – sein. Passiert das nicht, können sich Bundestagsabgeordnete mit ihrem Mandat nicht nur aus dem Staub machen, sondern Mandatsträger:innen können soziale Bewegungen und Arbeiter:innenkämpfe verraten, ohne unmittelbar Konsequenzen zu tragen.

Und auch das reicht nicht, um eine Partei der Arbeiter:innen zu sein. Busfahrer:innen und Krankenpflegende können im Bundestag sitzen – das ist cool und notwendig –, aber inhaltlich trotzdem keine Politik machen, die den Kapitalismus überwindet. Darum geht’s doch hoffentlich. Das ist eine Annahme, denn ja, es ist wichtig, wie ihr schreibt, „eine radikale, linke Sprache der Gegenwart zu entwickeln“. Aber es hilft nicht, alles scheinbar Angestaubte zu ersetzen, wenn man niemand mehr weiß, ob man denn nun transformieren, zerschlagen oder doch nur reformieren will. Klare Inhalte und Vorhaben einfach verständlich zu kommunizieren, findet nicht dadurch statt, dass man schöne Umschreibungen für Worte wie „Arbeiter:innenklasse“ oder „Sozialismus“ findet. Es geht um konkrete Ideen, die man mit entsprechender Politik umsetzen will. Denn das Wort „Enteignung“ hat z. B. die Mehrheit der Berliner Bevölkerung beim Volksentscheid auch nicht verschreckt.

Warum?

Mit der Krise der Interventionistischen Linken ist es still um weite Teile der postautonomen Linken geworden. Dabei war ihre Stagnation ein Resultat der Krise der Linkspartei. Über Jahre ging dieser Teil der „radikalen Linken“ eine Art Arbeitsteilung mit ihr ein, die Luxemburg-Stiftung und andere Finanzquellen dienten als Verbindungsstück. Nun steht dieses Verhältnis in Frage, denn wenn DIE LINKE aus dem Bundestag und den Landesparlamenten verschwindet, versiegen auch diese Geldquellen. Und das trifft ganz offenkundig auch Linke, die sich ansonsten die Hände nicht schmutzig machen wollten im parlamentarischen Geschäft, wenn es heißt: „Soziale und ökologische Bewegungen brauchen ein ökonomisches Zuhause.“

Deswegen überrascht es nicht, dass Teile aus diesem Spektrum sich entscheiden, das was sie letzten Endes immer gewesen sind, nun auch zu formalisieren. Es ist keine große, neue Veränderung, sondern eine Konsolidierung der alten Kräfte. Eventpolitik kann nun unter einem neuen Banner betrieben werden – und das hält zusammen. Das ist schade, denn die Krise der Linkspartei muss genutzt werden, um über Strategien zu reden und aus vergangenen Fehlern zu lernen.

Denn für sozialistische Politik in der Linkspartei zu kämpfen, das haben schon andere versucht in den letzten Jahren. Die Resultate sind bescheiden: marx21 hat sich im Oktober in mehrere Teile gespalten, die SAV letztes Jahr, wenn auch aus anderen Gründen. Die Antikapitalistische Linke ist kaum wahrnehmbar. Also was ist es, was euch unterscheidet? Was ist es, das verspricht, dass ihr es tatsächlich besser macht? Was ist der Plan? Wenn ihr diese Fragen nicht genügend beantworten könnt, werdet ihr nur ein neues linkes Feigenblatt für eine Partei, die vielleicht dynamischer wird, ein paar schöne Kampagnen fährt – aber letzten Endes schweigt, wenn es darum geht, Deutsche Wohnen & Co zu enteignen.

Euer Aufruf fällt dabei hinter die Einschätzungen oben genannter Gruppierungen zur Linkspartei weit zurück. So heißt es: „Für alle, die es ernst meinen mit dem Klimaschutz, dem Feminismus, dem Antirassismus sowie dem Kampf gegen Antisemitismus, für LGBTIQA+-Rechte und andere umwelt- und gesellschaftspolitisch fortschrittliche Anliegen kann dieses Zuhause nur in einer antikapitalistischen Partei liegen. Die Parteispitze hat ihren Willen zu einer Erneuerung der Partei und einer Öffnung hin zu den sozialökologischen Bewegungen wiederholt deutlich gemacht.“

So weit her ist es mit dem Antikapitalismus der Linkspartei bekanntlich nicht. Und den Willen zur Erneuerung? Worin besteht der? Bloße „Öffnung“ und Wachstumspläne ändern am Inhalt, Programm und an der seit Jahren eingeübten bürgerlichen Reformpolitik in Parlamenten, Kommunen, Stadträten, von Landesregierungen und Bürgermeister:innen nichts.

Was also tun?

Keine linke Alternative zu haben, während die Rechten immer stärken werden, macht Angst. Die Klimakrise und Kriege tun ihr Restliches dazu und man fühlt sich ohnmächtig. Aber diese Angst sollte nicht dazu führen, dass der „Kampf für Demokratie“ und eine „Transformation“, unter der sich alle vorstellen können, was sie gerade wollen, wichtiger ist als der für Sozialismus. Wer das anders sieht, der hat nicht verstanden, warum die AfD immer stärker geworden ist und weiß letztlich keinen Ausweg, wenn es darum geht, den Rechtsruck zu bekämpfen.

Denn die aktuelle Hetze, die wir erleben, kommt nicht nur von der AfD, sondern wird von allen ach so demokratischen Kräften mitgetragen. Sie ist Ausdruck einer sich international verschärfenden Konkurrenz, die den Kampf um die gewaltvolle Neuaufteilung der Welt vorbereitet und gleichzeitig die Sparmaßnahmen im Innern zu übertünchen versucht.

Um effektiv dagegen vorzugehen, kann man nicht sagen: „Hey, wir brauchen eine Linke, weil es eine Rechte gibt, wir müssen diffus über Umverteilung reden und für eine geile Sozialpolitik eintreten!“ Denn die aktuelle Situation lässt nicht zu, dass genügend Geld für eine geile Sozialpolitik einfach da ist. Selbst für solche Umverteilungsforderungen muss man den Klassenkampf mit Streiks forcieren und diese mit der Eigentumsfrage verbinden. Dementsprechend müssen Kämpfe für Lohnerhöhung, Verbesserungen der Lebensbedingungen immer mit einer Perspektive zur Überwindung des kapitalistischen Systems aktiv und deutlich verbunden werden. Ansonsten rennen wir ins Leere, erfahren Niederlagen und schaffen es nicht, eine gesellschaftlich linke Perspektive sichtbar zu machen.

Das heißt nicht, dass man sagen soll: „Hey, lass‘ für höhere Löhne kämpfen und ach, vergiss nicht, gegen den Kapitalismus musst du auch sein!“ sondern, dass man es schafft, Forderungen aufzustellen, die eine Brücke weisen vom Kampf für unmittelbare Ziele zu dem gegen das System, welches diese in Frage stellen. Beispielsweise „Hey, lass uns für höhere Löhne kämpfen, die automatisch an die Inflation angepasst werden und deren Erhöhung von den Lohnabhängigen selbst kontrolliert wird. Das ist doch besser, als bei jeder Schwankung streiken zu müssen und zu hoffen, dass man dann ein bisschen was abbekommt. Und sinnvoll ist auch, dass ihr dann ein Komitee gründet, was kontrolliert, dass das auch umgesetzt wird.“ Das kann man nur durchsetzen, wenn man eine gewerkschaftliche Basisopposition gegen die Bürokratie organisiert, Bewegungen so aufbaut, dass sie Selbstermächtigungsorgane der Klasse (Komitees an Schulen, Unis und Betrieben, Vorformen von Räten also) schafft und in diesen für eine Politik der Zuspitzung, der gesellschaftlichen Veränderung eintritt.

Und irgendwie bleibt beim Lesen des Textes, das Gefühl, dass es eher die Angst vor rechts ist, die euch planlos in DIE LINKE treibt, ohne Weg zurück.  Also, was ist euer Plan?




Europaparteitag DIE LINKE: Vom Abbruch zum Aufbruch?

Martin Suchanek, Infomail 1237, 20. November 2023

Vorweg: Das Programm zur Europawahl spielte auf dem Parteitag in Augsburg allenfalls eine Nebenrolle. Natürlich gab es um das 84-seitige Papier auch Debatten, einige Änderungsanträge und sogar etwas Kritik. Doch insgesamt war dies eine Marginalie, eine Quasipflichtübung zum eigentlichen Zweck: der Wahl einer Kandidat:innenliste zu den Europawahlen 2024 und einer Zurschaustellung eine neuen Einheit, Geschlossenheit und Zuversicht. Augsburg soll für Aufbruch stehen – und, wenigstes medial, ist diese Inszenierung einigermaßen gelungen.

So attestiert die Tagesschau: „Diszipliniert beschließt DIE LINKE ihr Europawahlprogramm, die Einigkeit ist groß: Ohne das Wagenknecht-Lager wirkt DIE LINKE wie befreit.“ Und das Neue Deutschland, das der Partei am weitaus freundlichsten gesonnene Medium, verteilt gute Noten. Der Anfang sei gemacht, jetzt müsse „nur“ noch geliefert werden.

Bemerkenswert an diesem Aufbruch ist zuallererst, dass das Wahlprogramm inhaltlich vor allem für Kontinuität steht. Wo Differenzen auftauchten, wie vor allem bei der Nahost-Frage, greift man, auch nicht gerade originell, zum gemeinsam verabredeten Formelkompromiss. Das hilft zwar in der Sache nicht, wohl aber in Sachen „Einheit der Partei“.

Reformistischer Wein in nicht so neuen Schläuchen

Programmatisch präsentierte der Parteitag alten reformistischen Wein in gar nicht so neuen Schläuchen. Gegenüber früheren Programmen ist das für 2024 inhaltlich eher noch einmal weichgespült.

Wie in so ziemlich jedem sozialdemokratischen Reformprogramm der letzten Jahrzehnte stellt auch DIE LINKE nicht die Eigentumsfrage, sondern die nach „Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit“ ins Zentrum. Als Hauptursache der Probleme wird nicht der Kapitalismus, sondern der „Neoliberalismus“ ausgemacht. Daher soll aus der EU auch ein reformierter Hort der Gerechtigkeit werden:

„Wir treten an gegen ein Europa der Reichen, Rechten und Lobbyisten – und für die Interessen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen, all der Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Sie sind unsere Leute. Für sie machen wir Politik. Deswegen wollen wir eine europäische Zeitenwende für Gerechtigkeit. Deshalb wollen wir, dass die EU zu einer Kraft für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Frieden wird. Ein unabhängiges Europa, das den Menschen verpflichtet ist, nicht dem Profit.“

Diese Credo bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik zieht sich durch die folgenden fünf Abschnitte des Programms: „Umverteilen für soziale Gerechtigkeit“, „Wirtschaft sozial und ökologisch gerecht umbauen“, „Klimagerechtigkeit“, „Frieden und soziale Gerechtigkeit weltweit“ und „Mehr Demokratie, weniger Lobbyismus“.

Insbesondere das erste Kapitel „Umverteilen und soziale Gerechtigkeit“ enthält hunderte, für sich genommen zumeist unterstützenswerte Forderungen, die allesamt auf höhere Einkommen und Löhne, Mindestsicherungen, gute und kostengünstige Sozialleistungen auf der einen Seite und gleichzeitig auf Gewinnabschöpfung und Besteuerung des Kapitals und der Reichen auf der anderen zielen. Schon hier zeigt sich ein durchgängiges Problem: Wie diese Forderungen gegen die Reichen und Mächtigen, gegen das Kapital, seine Regierungen und staatlichen Institutionen erkämpft werden sollen – das kommt im Reformprogramm erst gar nicht vor. Die folgenden Abschnitte behalten diesen grundlegenden Zug nicht nur bei, sie verschlimmern ihn eher noch.

Im gesamten Programm werden große Bögen um zentrale Fragen gemacht. Erstens um die Eigentumsfrage. Diese wird nur bei den Immobilien wirklich gestellt, wobei auch dort die Frage der Entschädigung oder eben Nicht-Entschädigung ausgeklammert wird. An die Banken wagt sich die DIE LINKE jedoch erst gar nicht ran. Statt ihrer entschädigungslosen Verstaatlichung und Zentralisierung unter Arbeiter:innenkontrolle beschwört die Linke mehr „Transparenz“ und ihre Verkleinerung. Insgesamt soll der private Finanzsektor „auf eine dienende Funktion für die Gesellschaft“ zurechtgestutzt werden, so dass die Profitmacherei nur noch ausnahmsweise am Rande stattfinde. Wünsch Dir was im Kapitalismus, also.

Der andere durchgängige Fehler besteht darin, dass, mitunter auch recht kleinteilig, an der Verbesserung der bestehenden bürgerlichen Institutionen herumgeschraubt wird. Die EU wird recht detailreich „reformiert“, demokratisiert und, jedenfalls im Programm der Linkspartei, zu etwas ganz anderem gemacht, als sie eigentlich ist. Dass es sich bei ihr um einen imperialistischen Staatenblock unter deutscher und französischer Führung handelt, kommt im Programm erst gar nicht vor. Vielmehr leidet dieser „nur“ unter Fehlentwicklungen, die scheinbar wegreformiert werden könnten. DIE LINKE wendet sich zwar zu Recht gegen nationale Abschottungsstrategien, von der sozialistischen Alternative zum Europa des Kapitals – von Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas – will sie jedoch nichts wissen.

Damit bleibt ihr jedoch eine wirkliche Alternative zur populistischen Rückbesinnung auf die „Unabhängigkeit“ der Nationalstaaten verbaut, ja die Europapolitik der Linkspartei verkommt unwillkürlich zu einer utopistischen Verklärung der bestehenden EU.

Doch nicht nur dort. Zwar nimmt DIE LINKE den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zur Kenntnis, erkennt die Gefahr von immer heftigeren Kriegen – aber ihre Antwort bleibt nicht nur vollkommen reformistisch, sondern ist offenkundig auch utopisch. Die Stärkung und Reform der UNO gerät so zum Credo ihre Außenpolitik, zum Wundermittel „friedlicher Konfliktlösung“.

Dabei zeigen alle aktuellen Kriege, ob nun der russische Angriff auf die Ukraine, die türkischen Bombardements Rojavas, Israels Invasion in Gaza oder der Bürgerkrieg im Jemen, dass sich die UNO regelmäßig als wirkungslos erweist, weil sei eben nur Ausdruck eines globalen Kräfteverhältnisses zwischen den alten und neuen imperialistischen Mächten und kein, über der imperialistischen Ordnung stehendes Organ der „Weltgemeinschaft“ ist.

Daher fehlt aber auch im internationalen Teil des Wahlprogramms jeder Bezug auf Kämpfe der Arbeiter:innenklasse, von national Unterdrückten, auf die imperialistische Konkurrenz zwischen den Großmächten. In der Ukraine erkennt die Partei zwar zu Recht das Selbstverteidigungsrecht des Landes gegen den russischen Imperialismus an, aber sie zeigt gleichzeitig keine klare Kante gegen die westliche und deutsche imperialistische Einmischung, ja sie stützt diese mit der Verteidigung von Sanktionen gegen Russland.

In Palästina verurteilt die Partei zu Recht die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen durch die Hamas, aber sie weigert sich auch, die Legitimität des palästinensischen Widerstandes gegen die Unterdrückung durch Israel anzuerkennen. Stattdessen werden die utopische und reaktionäre Zwei-Staatenlösung und die Vermittlung durch die UNO beschworen.

Diese reformistische Grundausrichtung des Wahlprogramms ist natürlich nichts Neues, sondern bestimmt die Politik der Linkspartei seit ihrer Gründung. Inhaltlich brachte der Parteitag weder einen Neuanfang noch einen Bruch, sondern vielmehr Kontinuität auf der Basis eines nicht einmal allzu linken reformistischen Wahlprogramms, in dem auf 84 Seiten das Wort Sozialismus erst gar nicht erwähnt wird.

Plan 2025

Der „Aufbruch“ entpuppt sich aber nicht nur in dieser Hinsicht als mehr Schein als Sein. Anders als bei früheren Wahlen zum EU-Parlament geht DIE LINKE mit Spitzenpersonal aus der Partei und bekannten und anerkannten Aktivist:innen aus sozialen Bewegungen in den Wahlkampf. Die Kandidat:innen der Parteiführung erhielten anders als bei früheren Parteitagen durchweg gute Wahlergebnisse.

So erzielte der Spitzenkandidat und Parteivorsitzende Schirdewan 86,9 Prozent, ein Gegenkandidat aus dem Wagenknecht-Lager, der noch vor der Wahl seinen Austritt erklärte und sich als politischer Geisterfahrer zum Clown machte, verabschiedete sich mit 2 %. Die Umwelt- und Seenotaktivistin Carola Rackete wurde ohne Gegenkandidatin von 77,78 % gewählt. Die EU-Abgeordnete Özlem Demirel steht auf Listenplatz 3 mit 62,04 Prozent (gegen 28,86 % für Didem Aydurmus). Der Sozialmediziner Gerhard Trabert erzielte mit 96,81 % das weitaus beste Ergebnis des Teams der vier Spitzenkandidat:innen.

Klar ist aber auch eines: Die Wahlen in den Jahren 2024 und 2025 stehen im Zentrum der Aktivitäten der Linkspartei. So werden im „Plan 2025“ zum „Comeback der Linken“ die verschiedenen Urnengänge bis zur nächsten Bundestagswahl – für eine elektoral ausgerichtete Partei durchaus konsequent – als entscheidende „Etappenziele“ für den Aufbruch und Neuaufbau angeführt. Das Überleben und der viel bemühte „Gebrauchswert“ der Linkspartei hängen somit vor allem davon ab, ob wie Europawahl, die Landtagswahlen und vor allem die Bundestagswahl 2025 ausgehen werden.

Wahrscheinlich stehen der Partei in den kommenden Monaten noch etliche, womöglich mehrere Tausend Austritte von Anhänger:innen der Bewegung um Sahra Wagenknecht bevor, spätestens wenn die neue populistische Partei gegründet wird. Insofern sind die stetigen Verkündigungen von Neueintritten mit Vorsicht zu genießen. Umgekehrt wird DIE LINKE jedoch auch nicht kurzfristig zusammenbrechen. Die neue Einheit der Partei ohne Wagenknecht und Co. ist nämlich nicht bloß inszeniert. Regierungssozialist:innen und Bewegungslinke erwiesen sich nur als scheinbare Gegensätze. In Wirklichkeit bilden sie zwei Seiten einer Medaille. Es wächst zusammen, was zusammengehört – und das wird sicher dadurch erleichtert, als die Linkspartei in nächster Zukunft immer weniger in die Verlegenheit von Regierungsbeteiligungen kommen wird, also viel leichter ihr „Bewegungsgesicht“ zeigen kann. Schließlich wird sich DIE LINKE gegen alle anderen Parteien – einschließlich des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) – als einzige Partei präsentieren, die überhaupt den Rechtsruck in Deutschland beim Namen nennt und gegen diesen steht. Da dieser eine Realität ist, trifft sie damit ein reales Problem und es ist keineswegs auszuschließen, dass ihr das eine gewisse Anziehungskraft verleihen kann. Das eigentliche Problem besteht darin, dass DIE LINKE keine Antwort oder, genauer, eine falsche auf den Rechtsruck gibt.

Sie erkennt zwar an, dass diesem auch eine Krise der kapitalistischen Ordnung zugrunde liegt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminiert und die bürgerliche Demokratie samt der politischen Mitte erodieren lässt. Doch ihrer Vorstellung zufolge liegen dem nicht fallende Profitraten und eine strukturelle Überakkumulation von Kapital zugrunde, die ihrerseits die Konkurrenz, den Kampf um die Neuaufteilung der Welt und die ökologische Krise verschärfen und den Nährboden für Rassismus, Militarismus, Populismus, Autoritarismus und faschistische Tendenzen bilden. Der Reformismus hält auch diese Probleme im Rahmen einer „regulierten“ Marktwirtschaft für lösbar, sofern nur eine verfehlte, neoliberale Politik durch eine „richtige“ der Umverteilung, des sozialen Ausgleichs und der Demokratisierung ersetzt würde. Daraus ziehen diese Sozialist:innen den Schluss, dass heute keine revolutionäre Antwort möglich und sinnvoll sei, sondern dass man sich auf eine „realistische“ Reformpolitik konzentrieren müsse.

Darin liegt der bürgerliche, aber auch utopische Kern der Vorstellungen der Linkspartei. Auch wenn die sozialistische Revolution angesichts der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse in weiter Ferne zu liegen scheint, so erfordern alle großen Probleme unsere Zeit nichts weniger als eine revolutionäre Antwort – und das heißt zuerst auch den Bruch mit reformistischen Vorstellungen und den Kampf für den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei und -internationale.




Wagenknechts neue Partei: Alle für „unser Land“?

Martin Suchanek, Infomail 1234, 23. Oktober 2023

„Unser Land ist in keiner guten Verfassung.“ So beginnt das Gründungsmanifest des „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW), das allen „Wirtschaftliche Vernunft“, „Soziale Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Freiheit“ verspricht. Schließlich verdiene „unser Land“ „eine selbstbewusste Politik, die das Wohlergehen seiner Bürger in den Mittelpunkt stellt“.

Und diese versprechen Wagenknecht und 15 weitere Abgeordnete und Politiker:innen der Linkspartei, die mit dem offenen Brief „Warum wir Die Linke verlassen“ ihren Austritt aus der Partei erklären. Die 16 hätten immer wieder argumentiert, „dass falsche Schwerpunkte und die fehlende Konzentration auf soziale Gerechtigkeit und Frieden das Profil der Partei verwässern.“ Ihre Positionen hätten keinen Platz mehr in der Partei gefunden.

Vorweg: Begriffe wie Kapitalismus, Imperialismus, Sozialismus, Arbeiter:innenklasse, Klassengesellschaft oder links kommen im Gründungsmanifest des „Bündnis Sahra Wagenknecht“, das am 23. Oktober auf der Bundespresskonferenz vorgestellt wurde, erst gar nicht vor.

Wirtschaft

Dafür gibt der Text einen Vorgeschmack, wohin die Reise politisch und programmatisch gehen soll: „Mehr Innovation, Bildung und bessere Infrastruktur. Für eine starke und innovative Wirtschaft“ – so die Überschrift des ersten von vier Schwerpunktthemen.

Darin wird ein Zeichen des Niedergangs „unserer“ Wirtschaft präsentiert, wie es auch von jeder anderen Partei im Bundestagspartei kommen könnte, ob nun AfD, CDU/CSU oder der Ampel. Die Rahmenbedingungen für Industrie und Mittelstand hätten sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert, beklagt das BSW.

Woran liegt es? „Von Konzernen beeinflusste und gekaufte Politik und das Versagen der Kartellbehörden haben eine Marktwirtschaft geschaffen, in der viele Märkte nicht mehr funktionieren.“ Und die Lösung? Echter, also fairer Wettbewerb, wie es ihn angeblich mal unter Ludwig Erhard und Willi Brandt gegeben hätte.

„Wir streben eine innovative Wirtschaft mit fairem Wettbewerb, gut bezahlten sicheren Arbeitsplätzen, einem hohen Anteil industrieller Wertschöpfung, einem gerechten Steuersystem und einem starken Mittelstand an. Dafür wollen wir Marktmacht begrenzen und marktbeherrschende Konzerne entflechten. Wo Monopole unvermeidlich sind, müssen die Aufgaben gemeinnützigen Anbietern übertragen werden.“

Dass die Konkurrenz selbst zur Zentralisation und Konzentration des Kapitals führen muss, davon will die ehemalige Marxistin Wagenknecht längst nichts mehr wissen. Statt dessen folgt der Griff in die Mottenkiste des kleinbürgerlichen Antimonopolismus, der hofft, mit staatlichen Regulierungen die Entwicklungsdynamik des Kapitals lenken zu können. Es handele sich um eine Wirtschaftspolitik, in deren Zentrum der vorzugsweise deutsche Mittelstand stehe: „Wir brauchen Zukunftsfonds zur Förderung innovativer heimischer Unternehmen und Start-ups und nicht Milliardensubventionen für Konzerne aus Übersee.“ Gegen staatliche Förderungen des Privatkapitals ist also nichts weiter einzuwenden, solange es nicht aus Übersee kommt, sondern deutsch und innovativ ist.

Soziale Gerechtigkeit

Auf der Stärke der heimischen Industrie und des privaten Mittelstandes würden laut BSW „mehr Solidarität, Chancengleichheit und soziale Sicherheit“ fußen, die in einem „starken gesellschaftlichen Zusammenhalt“ münden sollen.

Eine hochproduktive Wirtschaft brauche schließlich gut bezahlte, hoch motivierte Arbeitskräfte mit sicheren Arbeitsbedingungen, guter Infrastruktur und Sozialstaat. Solcherart könne der „soziale Zusammenhalt“ garantiert werden, denn schließlich hätten alle – Unternehmen wie Beschäftigte – etwas davon. Denn: „Unser Ziel ist eine faire Leistungsgesellschaft mit echter Chancengleichheit und einem hohen Grad an sozialer Sicherheit.“ Schließlich dürfe der persönliche Wohlstand „keine Frage der sozialen Herkunft“, „sondern muss das Ergebnis von Fleiß und individueller Anstrengung sein.“ Das Märchen vom Tellerwäscher, der es zum Millionär bringen könnte, darf natürlich beim BSW nicht fehlen.

Freiheit

Wenn alle in der echten deutschen Marktwirtschaft ihr gutes Auskommen haben, würde es schließlich auch mit der Freiheit wieder richtig klappen, verspricht der Abschnitt „Verteidigung der persönlichen Freiheit. Für die Stärkung unserer Demokratie“.

Dann wäre endlich Schluss mit „Cancel Culture, Konformitätsdruck und der zunehmenden Verengung des Meinungsspektrums“. Allerdings nicht für alle: Zuwanderung und Migration müssten schließlich begrenzt werden, denn die Freiheit, die das BSW verspricht, gibt es nur für jene, die dem deutschen Sozialstaat zumutbar sind. „Das gilt aber nur, solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert, und sofern Integration aktiv gefördert wird und gelingt.“ Und – daran lässt Sahra Wagenknecht schon lange keinen Zweifel mehr – dieser Punkt sei längst überschritten und daher stimmt die neue vorgebliche Oppositionspartei gleich in den Chor all jener ein, die praktisch täglich neue rassistische Gesetzesverschärfungen fordern.

Frieden

Bleibt noch der Ruf nach einem „neuen Verständnis der Außenpolitik“ in der Tradition von Willi Brandt und Michail Gorbatschow. Das BWS gibt sich betont pazifistisch: „Die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln lehnen wir grundsätzlich ab.“ Ob imperialistische Intervention, Verteidigung des nationalen Selbstbestimmungsrechts – für BWS ist alles gleichermaßen schlecht.

Auch wenn es zu Recht die Aufrüstung der NATO anprangert, so bleibt sein Programm vollkommen utopisch. Schließlich muss auch in der Welt des BSW der Weltfrieden irgendwie garantiert werden. Aber wie? Inmitten des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen imperialistischen Mächten strebt es eine „neue Ära der Entspannung und neue Verträge über Abrüstung und gemeinsame Sicherheit an“. Die imperialistische Ordnung soll – ganz wie der Kapitalismus – nicht bekämpft, sondern nur reguliert werden – und zwar vorzugsweise von jenen Mächten, die heute die Welt dominieren.

Deutschland soll dabei aktiv mitmischen, ja voranschreiten. So erfahren wir vom BSW: „Europa benötigt eine stabile Sicherheitsarchitektur.“ Natürlich mit Bundeswehr. Diese hätte schließlich den „Auftrag, unser Land zu verteidigen. Für diese Aufgabe muss sie angemessen ausgerüstet sein.“

Soziale Marktwirtschaft als Heilsversprechen

So endet das BSW bei den Heilsversprechen der „sozialen Marktwirtschaft“. Es bleibt im Grunde sogar weit hinter den Formulierungen der alten Sozialdemokratie oder von Teilen der Linkspartei wie der Bewegungslinken zurück, die über Verstaatlichungen oder „Vergesellschaftung“ eine langwierige Transformation zu einer neuen Gesellschaft versprachen oder versprechen. Selbst von diesen reformistischen Sonntagsreden will das BSW nichts wissen. Es setzt vielmehr auf echten, fairen Wettbewerb, damit der „Mittelstand“ endlich wieder Deutschland voranbringt.

Statt reformistisch eingehegter, im Grunde bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik, die immerhin noch den Klassengegensatz formal berücksichtigt, kennt die neue Partei keine Klassen. Das Großkapital wird nicht als Kapital kritisiert, sondern der Verzerrung des Wettbewerbs angeklagt, der eigentlichen Quelle allen Übels.

Daher stellt es den Monopolen und insbesondere den ausländischen Großkonzernen die Einheit des „Volkes“, vom mittleren und kleinen Unternehmen bis zum prekär Beschäftigten entgegen. Von einer „richtigen“ Wirtschaftspolitik könnten dann alle profitieren, vorausgesetzt, der Staat würde sich um die „wirklichen Menschen“ und nicht um „Randgruppen“ kümmern und auch die Zahl der Menschen auf ein „vernünftiges“ Maß durch effektive Einreiserestriktionen begrenzen.

Dieses Weltsicht, diese politische Heilserwartung entspricht der „Vernunft“, genauer der Klassenlage, deutscher Kleinbürger:innen und Mittelschichten. Links und oppositionell ist daran – nichts.




Linkspartei: Die Bewegungslinke als Retterin in der Not?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 276, September 2023

Es ist wie ein Unfall, bei dem man nicht wegsehen kann, oder Gossip Girl im Real Life: die Krise der Linkspartei. Seit Beginn des Jahres hat sich die Situation stetig zugespitzt.

Mitte März gab Wagenknecht ein Interview bei ZDFheute, in dem sie erklärte, über die Gründung einer neuen Partei nachzudenken. Nachvollziehbar fand das der aktuelle Parteivorstand weniger unterhaltsam – nach mehreren offenen inhaltlichen Abweichungen von Positionen der Parteitage und nach Veröffentlichung des Buches „Die Selbstgerechten“, was als Gegenprogramm zur eigenen Partei gelesen werden kann.

Es folgte am 25. Juni ein Treffen von Wissler, Schirdewan und Wagenknecht mit Amira Mohamed Ali und Bartsch als Vermittler:innen, bei dem Wagenknecht eine Frist gesetzt wurde.

Dies wurde ihrerseits mit einem weiteren Interview, diesmal für Die Welt, beantwortet. Der Parteivorstand verabschiedete daraufhin Mitte Juni einen Brief mit einem Appell, dass jene, die darüber nachdenken, eine neue Partei zu gründen, ihr Mandat niederlegen sollten. Das ist sicher nachvollziehbar, denn welche Partei will schon die Neugründung ihrer Konkurrenz aus eigenen Mitteln finanzieren? Somit ging die öffentliche Schlammschlacht in die nächste Runde.

Die Fraktionsvorsitzende Mohamed Ali trat Anfang August zurück und Klaus Ernst stellte nach 15 Jahren Mandat fest, dass es Leute in der Partei gibt „deren Kontakt zur Arbeit sich darauf beschränkt, dass sie mal als Schüler oder Student ein Regal bei Aldi eingeräumt haben“. Der Parteivorstand wäre „eine große Truppe politikunfähiger Clowns in der Partei“. Kurzum: Die Grabenkämpfe verschärfen sich und die Stimmen, die nach Einheit rufen wie Gysis oder Pellmanns, wirken nur noch unfreiwillig komisch. Denn es ist mittlerweile klar, dass es so nicht weitergehen kann und ein Parteitag zur „,Verständigung und Versöhnung’ der verschiedenen ‚Lager’“, wie es der Leipziger Verband vorschlägt, nichts richten kann.

Seit der Bundestagswahl haben rund 8.000 Mitglieder die Partei verlassen. Bei einem offenen Bruch der Wagenknecht-Anhänger:innen wird noch ein Teil mitgehen, der sich rund um #aufstehen oder die Populäre Linke formiert hat.

Von den Landtagswahlen in Bayern erhofft man in der Regel nicht viel, daher spielt das Resultat für die Zukunft der Partei keine große Rolle. Doch Hessen konnte in der Vergangenheit auch Wahlerfolge erzielen. Daher kommt den zu erwartenden Verlusten Bedeutung zu. Der öffentliche Zersetzungsprozess hilft natürlich recht wenig im Wahlkampf, zum anderen ist der hessische Landesverband seit dem #linkemetoo ohnedies nicht bestens aufgestellt.

Das Problem ist Folgendes: Auch wenn Schirdewan und Wissler jetzt konsequent erscheinen wollen und harte Kante gegenüber Wagenknecht zeigen, so ist die Partei seit Jahren in einer Krise. Wagenknecht macht dies, Wagenknecht sagt das, Wagenknecht geht – die politischen Debatten um die inhaltlichen Fragen werden dabei medial um sie fokussiert. Das scheint die Debatte zu entpolitisieren. Eine inhaltliche Abgrenzung erfolgt zwar teilweise, aber auch nur indirekt, beispielsweise durch die Vorschläge für die Kandidat:innen zur Europawahl. Trotzdem bleibt es dabei: Darauf zu warten, dass Sahra geht, bedeutet für die, die bleiben, eine Schwächung ihrer eigenen Position. Doch wenn Wagenknecht geht, wird zwangsläufig die Frage aufgeworfen: Was machen die Hinterbliebenen? Und wer bleibt überhaupt?

Wer bleibt?

Denn es gibt sie. Die Leute, die weitermachen wollen. Die glauben, dass die Partei zu retten ist, und Hoffnung hegen. Bisher am deutlichsten dazu bekannt haben sich Anhänger:innen der Bewegungslinken, die seit den letzten beiden Parteitagen auch zahlreich im Vorstand der Partei vertreten sind. Sie planen ihrerseits eine „Zukunftskonferenz“, bei der ganze 350 Leute teilnehmen können. Nach diversen internen Regionalkonferenzen versuchen sie, die Grundlage für einen „Neustart“ in die Wege zu leiten.

Natürlich werden auch die Regierungssozialist:innen bleiben, denn schließlich sind sie – und nicht der Vorstand – neben der Parlamentsfraktion das eigentliche Machtzentrum der Partei. Beiträge zur Debatte liefern sie wenig bis keine. Weder Bodo Ramelow noch Klaus Lederer lassen vernehmen, was sie eigentlich von der Krise der Partei halten und wie beziehungsweise wo sie ihre eigene Zukunft sehen. Das haben sie aber auch nicht nötig, denn ihre Regierungspolitik wird von der Bewegungslinken nicht in Frage gestellt (und sie wurde es auch nicht von den Wagenknecht-Leuten).

So kommt es, dass seit rund 1,5 Monaten die Debattenseiten brodeln und vornehmlich Ideen aus dem linken Flügel diskutiert werden, ob bei luXemburg, Jacobin, dem nd oder den Kommentarspalten der sozialen Medien. Die Ideen sind dabei vielfältig. Da mit der Partei fast nichts möglich scheint, kann auch jede/r eigene Utopien mit zum Besten geben. So formuliert Thomas Goes den Wunsch nach einer neuen ökologischen Arbeiter:innen- und Volkspartei, Ulrike Eifler fordert, dass sich DIE LINKE mehr auf Gewerkschaften zu fokussieren hätte. Thies Gleiss spricht von der Notwendigkeit des Neustarts durch die Einbindung der Basis und Abschaffung von Posten.

Die Linke und der Neustart?

Die beiden bekanntesten Texte sind wohl der erste Aufschlag von Mario Candeias „Linke Krise und Neubeginn“ sowie die Antwort von Ines Schwerdtner und Michael Brie „Für eine konstruktive Erneuerung der Partei DIE LINKE“.

Candeias beginnt damit, dass sich DIE LINKE gesamtgesellschaftlich in der Defensive befindet. Dieser Zustand würde ein Jahrzehnt anhalten und verursacht durch eine „innergesellschaftliche Polarisierung zwischen den Trägern einer grün-liberalen Modernisierung und den autoritären Verteidigern einer fossilistischen Lebensweise“.

Hochgestochene Worte, die nichts anderes heißen als eine Zunahme der Zersplitterung und Fragmentierung innerhalb der Flügel des bürgerlichen Lagers anhand der Klimakrise. So weit so gut. Es ist letztlich eine Stärke des Texts, sich zuerst mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen auseinanderzusetzen, um daraus Schlüsse für die kommende Zeit abzuleiten.

Neben der Fragmentierung des bürgerlichen Lagers, der Defensive der Linken darf die zunehmende Krisenhaftigkeit nicht fehlen. Auch wenn dies alles richtige Punkte sind, so muss man diese eher aus den Thesen herausfiltern. Verloren geht dabei das Verhältnis der unterschiedlichen Problematiken zueinander, was dann letzten Endes dazu führt, dass die Krise der Partei recht unspektakulär in der 2. These heruntergebrochen wird:

„Ursächlich für die Krise der Partei war auch, dass politische Konfliktlinien und Widersprüche sich mit Fragen innerparteilicher Macht und des Kampfes um Ämter und Positionen verwickelten. Es geht um eine Neuordnung des Parteiensystems, sowohl zwischen den Parteien wie auch in ihrem Inneren. Besonders zugespitzt trifft es jene, bei denen der reale Wille zur Macht angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen nicht mehr als Kitt zwischen den Strömungen und Flügeln wirkt. Dann schlägt die mediale Dynamik zu, die eben solche Differenzen zu mächtigen Gegensätzen werden lässt, in denen einzelne sich gegen die Partei profilieren und die Zentrifugalkräfte die Partei auseinandertreiben.“

Diese Aussage bringt gleich mehrere Probleme mit sich. Zum einen stellt sie den Machtkampf zwischen den politischen Flügel um Ämter als Problem besagter Posten dar. Auch wenn die Art und Weise, wie die Ämter in der Linkspartei gestaltet sind, problematisch ist (und sinnvoll durch Thies Gleiss kritisiert wurde), so ist es doch nur logisch, dass jede politische Strömung versucht, den eigenen Einfluss zu stärken.

Das heißt: Das grundlegende Problem besteht viel eher darin, dass die inhaltlichen Differenzen zu groß sind und sich dementsprechend die Partei im internen Machtkampf jahrelang selber blockiert hat. Die Fliehkräfte, die dabei entstehen, werden durch die Medien (und mangelnde Parteidisziplin) verschärft, aber nicht, wie im Folgenden behauptet, erst durch die Medien verursacht.

Nicht sie sind es, die Differenzen zu mächtigen Gegensätzen ausarten lassen, sondern die inhaltlichen Punkte an sich. Denn zwischen Regieren und Nicht-Regieren, offenen Grenzen und Abschottung, Militarismus, Pazifismus und Internationalismus kann man letztlich keine Kompromisse herbeireden und versuchen, ihre friedliche Koexistenz herbeizuzaubern. Spätestens wenn diese Fragen praktisch gestellt werden, fliegt die „Einheit“, die nie eine war, auseinander. Das Problem der Linkspartei ist nicht, dass jetzt Wahlniederlagen und mangelnde Machtoptionen, also Regierungsämter, die Partei auseinandertreiben. Die reformistische Partei war vielmehr schon immer auf der Unvereinbarkeit des Unvereinbaren aufgebaut – Regierung und „Opposition“ gleichzeitig sein zu wollen. Richtig an Candeias’ Bemerkung ist letztlich nur, dass sich die inneren Gegensätze leichter kitten lassen, wenn die Partei elektoral erfolgreich ist, wenn also alle Seiten ihren Anteil am Erfolg und den Pfründen, die damit einhergehen, erhalten können.

Das eigentlich „Neue“ ist letztlich bloß die Einschätzung, dass auf das „linkskonservative Spektrum um Sahra Wagenknecht keine Rücksicht mehr genommen werden (muss) – von ihr selbst erklärt, haben wir bereits eine Situation Post-Wagenknecht.“

Zu wirklichen Ideen der Erneuerung treibt das aber nicht. So heißt es unter anderem in These 2: „Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. Im besten Falle gesellen sich dazu Enklaven eines rebellischen Regierens in Städten und Räumen, in denen es der Linken gelingt, relative Mehrheiten zu organisieren und gesellschaftliche Bewegungen, Organisierung und institutionelle Politik in ein produktives Verhältnis zu bringen.“

Dies ist nichts anderes als Gramscis Konzept des Stellungskrieges, reformistisch neu aufgewärmt, verbunden mit einer klaren Ansage, dass Regieren auf jeden Fall möglich sein sollte. Kritiker:innen fragen sich an dieser Stelle zu Recht: Wo ist dann der Unterschied zur bisherigen Politik und Strategie? Denn die Phrase des rebellischen Regierens wurde auch fleißig in Berlin verwendet, wo dann durch die Berliner Linkspartei der Volksentscheid zu Deutsche Wohnen & Co enteignen erfolgreich verschleppt wurde – aus Angst, die Koalition zu sprengen, die Posten zu verlieren und in Opposition für die Verbesserungen der Klasse zu kämpfen. Besonders viel hat das nicht gebracht. Aber gut, man konnte die Umfragewerte auch immer auf den Zustand der Bundespartei schieben.

Candeias redet auch nicht unmittelbar von der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus, sondern formuliert nur den alten Gedanken des reformistischen Gradualismus neu, indem er den Sozialismus zur weit entfernten Zukunftsvision erklärt:  „Dazu gehört, eine Perspektive offenzuhalten, die an einem Ende des Kapitalismus arbeitet, an einer solidarischen Gesellschaft“. Dazu gehört die langsame Transformation durch „selbstverständliche Dinge“ wie kostenlose Gesundheitsvorsorge, bezahlbaren Wohnraum oder „demokratische Mitsprache, die etwas bewegt“. Die Bewegung ist – wie schon bei Bernstein – alles, das Ziel ein schöner Trost, also nichts.

Die Partei soll dadurch gerettet werden, dass man inhaltlich weitermacht wie bisher. Aber – und das ist jetzt die „Neuerung“ – es brauche eine disruptive Neugründung. Wem der Begriff jetzt nichts sagt, der/die braucht sich nicht dumm zu fühlen. Vielleicht könnte man auch einfach meinen, dass der Begriff an sich nicht sinnvoll gewählt ist. In der Praxis heißt das laut Candeias ein „umgekehrter Weg von #aufstehen, vergleichbar eher mit Momentum in Großbritannien: Es wird eine Struktur für Aktive, Gewerkschafter*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen geschaffen, die nicht Teil der Partei sein wollen (oder können) und sich dennoch in eine verbindliche Unterstützungsstruktur einbringen wollen.“ Denn sobald die „mediale Diskursdynamik“ einsetzt, hat man eh nur zwei Wege: diese Form der Neugründung nach Corbyn oder die Gründung einer neuen Organisation wie Podemos in Spanien. Es geht also nur um einen Imagewechsel, damit man nicht als Verlierer:innen dasteht, wenn Wagenknecht geht. Das ist zwar ein reales Problem, was sich aus der mangelnden Politisierung des Bruchs heraus ergibt, löst aber die Kernprobleme nicht, sondern sorgt allenfalls dafür, dass Aktivist:innen getäuscht und letztlich enttäuscht werden.

Drei Gespenster gehen um

Eine Antwort auf den Beitrag ließ nicht lange auf sich warten. Die wohl bekannteste stammt von Ines Schwerdtner und Michael Brie. Während ihre Kritik an Candeais nur mäßig ist, werfen sie im zweiten Abschnitt ihres Textes zentrale Fragen auf.

Ihr Gegenmodell zur disruptiven Neugründung ist die „konstruktive Erneuerung“. Damit diese erfolgreich ist, müssen ihrer Meinung nach mehrere Fragen diskutiert werden:

„Eine solche konstruktive Erneuerung der Partei DIE LINKE verlangt, dass Richtungsentscheidungen getroffen werden. […] Es geht erstens um Inhalte, zweitens den Politikstil und drittens die Führungsfähigkeit in einer aktiven Mitgliederpartei, es geht um das Was, es geht um das Wie und es geht um das Wer. […] Die erste Entscheidung, die die Partei DIE LINKE treffen muss, ist die nach ihrer Funktion. Was will sie sein: Will sie der soziale Flügel des herrschenden Parteienblocks von Grünen und SPD bis FDP und CDU/CSU sein, oder will sie einen eigenen parteipolitischen Pol einer Politik repräsentieren?“

Diese Feststellungen mögen banal scheinen, doch wer längere Zeit in der Partei oder ihrem Umfeld verbracht hat, weiß, dass das die Fragen sind, die DIE LINKE seit Jahren umtreiben. Ohne klare Aussage zur Regierungsbeteiligung, wer das Subjekt der Veränderung ist, oder zum Verständnis des bürgerlichen Staates kommt es unweigerlich immer wieder zu den Flügelkämpfen, wie oben bereits ausgeführt.

Ebenso der 2. Punkt: „Die zweite Entscheidung betrifft den Typus von Politik. Es geht um das Wie: Soll Politik – und sei es die richtige – verordnet werden oder aus demokratischen Prozessen und der Selbstermächtigung der Betroffenen hervorgehen?“ Kritischer zu sehen ist jedoch die im Anschluss aufgestellte These: „Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die Fragen ausgehend von den Lohnabhängigen zu stellen, ihre Lage, ihre Sichtweisen, ihren Stolz auf die eigene Leistung, ihre Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Die Gewerkschaften sind dabei der wichtigste gesellschaftliche Partner. Zugleich ist linke Politik nur dann möglich, wenn sie dazu beiträgt, dass Klimabewegung, Friedensbewegung, feministische, antirassistische und antifaschistische Bewegungen sich aktiv in die sozialen Kämpfe einbringen und sie gemeinsam prägen. Eine wirklich linke Partei ist vor allem der politischen Vertretung der Lohnabhängigen im weitesten Sinne verpflichtet und hat die Aufgabe, dies mit Projekten des solidarischen Umbaus der Gesellschaft mit sozialistischem Ziel zu verbinden. Das ist radikale, transformatorisch orientierte Realpolitik im Sinne von Rosa Luxemburg.“

Auch hier treten zwei Probleme auf: Während es richtig ist, dass es Aufgabe einer revolutionären Organisation ist, zentrale Fragen seitens der Lohnabhängigen aufzuwerfen, muss auch dazu gesagt werden, dass es ihre Aufgabe ist, eine Perspektive zu zeigen, wie die jeweiligen Fragen positiv beantwortet werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass man nicht immer das gegebene Bewusstsein als Ausgangspunkt nehmen kann und auch manchmal Bewegung initiieren muss, wenn es keine gibt. So wäre es beispielsweise notwendig gewesen, während der Coronapandemie nicht nur auf dem Balkon zu stehen und zu klatschen, sondern praktische Initiativen zu setzen wie eine Solidaritätskampagne für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, die im Kern aufzeigt, warum Reproduktionsarbeit im Kapitalismus immer schlechter bezahlt wird. Darüber hinaus kann man vieles über Rosa Luxemburg sagen, sie aber als Ausgangspunkt für „radikale, transformatorisch orientierte Realpolitik“ zu nehmen, stellt eine komplette Verkehrung ihrer Theorie und Praxis dar. Dies wird spätestens da ersichtlich, wo man sich ihr Staatsverständnis anschaut, das nicht darauf hindeutet, dass man sich an realpolitischen Fragen dauerhaft abarbeiten sollte. In ihrer Polemik gegen Bernstein bringt Luxemburg bekanntlich das Verhältnis von Reform und Revolution auf den Punkt:

„Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbuffet nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z. B. Südpol und  Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.“ (Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Luxemburg, Gesammelte Werke 1/1, S. 427f.)

Brie und Schwerdtner hingegen fassen die „Revolution“ letztlich rein reformistisch, als in die Länge gezogene kontinuierliche gesetzliche und soziale Reform auf. Der Klassenkampf zielt nicht auf die revolutionäre Machteroberung der Arbeiter:innenklasse, sondern bildet nur das Druckmittel zur stetigen Reform, die auf wundersame Weise zur Transformation der Gesellschaft führen soll.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch der dritte Punkt Bauchschmerzen hervorruft. „Die dritte Entscheidung, die getroffen werden muss, ist die der Herstellung eines strategischen Zentrums, das zugleich die wichtigsten vorhandenen kooperationswilligen Orientierungen in der Partei zusammenführt und in der Lage ist, die oben genannten zwei Aufgaben des Was und Wie überzeugend anzugehen. Es ist diese Aufgabe, die zuerst gelöst werden muss, um endlich überzeugend das Was und Wie linker Politik anzugehen. Es gibt Anzeichen, dass Kräfte in der Linken zunehmend bereit sind, sich dieser Aufgabe gemeinsam zu stellen, doch sie bedingt eine politische Führung, die konstruktiv integrierend agiert.“

Man könnte auch sagen – zuerst brauchen wir eine Führung, dann ergeben sich Strategie und Taktik. Dass diese Auffassung ernsthaft vertreten wird, verweist aber auch darauf, dass die beiden verbliebenen Flügel der Linkspartei – Bewegungslinke und Regierungssozialist:innen – beide fest auf dem Boden des Reformismus stehen, dass beide mit der Formel des „rebellischen Regierens“ einverstanden sind, wobei die Bewegungslinke das Rebellieren, die Ramelows und Lederer das Regieren übernehmen. Die Aufgabe des „strategischen Zentrums“ besteht dann vor allem darin, die Politik der beiden Flügel, Parlamentarismus und Protestbewegung, zu vermitteln.

Reformismus reloaded?

Aus den Debattenbeiträgen zeichnet sich ab: Es gibt ein Bewusstsein, dass die Krise der Linkspartei weit tiefer geht als Sahra Wagenknecht. Zugleich wird jedoch auch deutlich: Weder bei der „disruptiven Neugründung“ noch bei der „konstruktiven Erneuerung“ geht es im eine grundsätzliche Veränderung der Politik der Linkspartei.

Wenn große Worte wie „Arbeiter:innenpartei“ oder „sozialistische Klassenpolitik“ mehr als Phrasen sein wollen, braucht es eine Bilanz der inhaltlichen Orientierung, der programmatischen Grundlagen und Praxis der letzten Jahre. Während Anhänger:innen der vereinenden Flügel mit den Augen rollen werden, so bleiben die Probleme der Linkspartei weiterhin gleich.

Natürlich ist es nicht ausgeschlossen (wenn auch keineswegs gesichert), dass ein reformistischer Neustart eine Zeit lang gelingt und man sich unter einem Label Linke+ vorübergehend retten kann. Doch selbst wenn er DIE LINKE als Partei retten sollte, so werden die Problem, die zu ihrer aktuellen Krise führten, nur in neuer Form wieder auftauchen.

Man sollt sich daher auch nicht der Illusion hingeben, dass Machtkämpfe verschwinden oder Demoralisierung Geschichte wird. Denn was Candeias wie auch Brie und Schwerdtner vorschlagen, ist nur der gleiche Inhalt neu eingekleidet. Ein bisschen radikaler, ein bisschen direkter. Aber wer keine klare Linie aufzeigt, wird sich früher oder später an einem ähnlichen Punkt wiederfinden wie heute, spätestens wenn es darum geht. mitzuregieren oder die Interessen einer Bewegung praktisch zu erkämpfen.

Was ist also die Aufgabe von Revolutionär:innen und Linken innerhalb und außerhalb der Linkspartei?

Erstens muss die aktuelle Debatte mit Inhalten gefüllt werden. Und das heißt, es muss nach der tiefen Existenzkrise der reformistischen Partei grundsätzlich die Frage gestellt werden, welche Partei wir brauchen? Eine reformistische, also auf dem Boden mehr oder weniger „radikaler“ Reformpolitik verbleibende, bürgerliche Partei – oder eine revolutionäre Kampfpartei, deren Ziele die Errichtung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse und die sozialistische Weltrevolution bilden?

Diese Grundsatzfrage müssen sich gerade die Sozialist:innen und Kommunist:innen in um die Partei stellen. Denn auch sie haben in den letzten Jahren keine Politik betrieben, in der Partei den Bruch mit dem Reformismus herbeizuführen, sondern das Elend mehr oder weniger mitverwaltet oder, im Falle von marx21, auch mitgestaltet.

Damit diese Frage nicht bloß auf der Ebene eines Bekenntnisses verbleibt, einer bloßen Überzeugung und Gesinnung, braucht es auch eine Diskussion um ein Aktionsprogramm, das zentrale Fragen des gewerkschaftlichen und betrieblichen Kampfes, der Klima- und Frauenbewegung beantworten kann, aber auch gleichzeitig aufzeigt, wie man dem bürgerlichen Staat und dem Reformismus innerhalb der Arbeiter:innenklasse die Stirn bietet. Vor allem aber muss es eine Brücke von den gegenwärtigen Tageskämpfen zum Kampf für den Sozialismus schlagen.

Um dieses lohnt es sich, in der aktuellen Situation klassenkämpferische Aktivist:innen zu sammeln, die Interesse haben, eine solche Kraft aufzubauen – in dem Wissen, dass man nicht alle anderen mitnehmen kann. Klar, es ist schöner, wenn man größer ist. Es ist bequemer und man kann sich selbst der eigenen Wichtigkeit vergewissern. Doch jene, die auf die Notwendigkeit einer breiten, politisch aber in Grundfragen gespaltenen Linken verweisen, weil man sonst so zersplittert und geschwächt ist, sollten auch beantworten, ob ein sich streitender Haufen, der keine Kämpfe für die Verbesserung der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten praktisch anführt, wirklich so relevant ist, dass man daran festhalten muss. Denn eine andere Welt ist möglich, wenn wir einen Plan haben, wie wir den Kapitalismus zerschlagen können.




Wagenknecht: Sackgasse Links-Konservativismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 276, September 2023

Gründen oder Nicht-Gründen – das ist in der Welt der Sahra Wagenknecht die nun alles entscheidende Frage. Der Bruch mit der Linkspartei steht längst fest, fraglich ist nur, ob im Herbst eine neue Partei gründet wird oder eben nicht.

Für Wagenknecht hängt das im Wesentlichen davon ab, ob sie sich auf Funktionär:innen, Apparat und ein Fußvolk stützen kann, das ihren Ansprüchen von „Politikfähigkeit“ und „Zuverlässigkeit“ genügt. Schließlich will sie sich nicht mit „dubiosen Figuren“ und „Querulant:innen“ abplagen, die eine neue links-konservative Partei nur zu leicht kaputt machen könnten. Programm, mediale Präsenz und innere „Demokratie“ – daran lässt sie keinen Zweifel – müssen auf sie zugeschnitten sein und auf sonst niemanden.

Ob sie ausreichend „prominente“ Unterstützer:innen, kleinere mediale Lichter, die neben Wagenknecht nicht glänzen wollen, und speichelleckende Klatscher:innen findet, die Sahra nicht nur bejubeln, sondern auch noch für sie die organisatorische Drecksarbeit erledigen, wird sich zeigen.

Ganz schlecht stehen die Chancen nicht. Aus dem Bundestag könnte sie sich auf bis zu 10 Abgeordnete stützen, aus der Linkspartei würden wohl einige Tausend Mitglieder samt gewählten Abgeordneten in den Kommunen und Landtagen das sinkende Schiff verlassen und unter neuer Flagge ihr Glück versuchen. Die aufstehen-Reste folgen Wagenknecht mit Sicherheit. Auch DKP und DIDF könnten an Bord sein, müssten sich der großen Führerin aber nach bestandenem Querulat:innen-Check ohne Wenn und Aber politisch unterordnen. Zuzutrauen ist ihnen das jedenfalls.

Wofür steht der Links-Konservativ?

Das Beste an Wagenknechts Partei-Projekt ist, dass niemand auf die formale Gründung oder das Programm warten muss, um zu wissen, wofür die neue Partei steht. Links-konservativ mag ja ein schräger Begriff sein, links ist daran jedoch – nichts!

Allenfalls verbrämen Wagenknecht und ihre Anhänger:innen das Projekt als „links“, weil sie in der Kriegsfrage und im Verhältnis zur NATO nicht so weit rechts stehen wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Das war es aber auch schon, politisch-programmatisch steht sie eindeutig rechts von der Partei DIE LINKE.

Chauvinismus und Rassismus

Seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 werden Wagenknecht und ihre Anhänger:innen nicht müde,  gegen offene Grenzen zu wettern. „Regulierte“ Zuwanderung lautet ihr Motto und sie befinden sich damit ganz auf Linie der Bundesregierung und Unionsparteien. Während die Linkspartei die jüngsten Angriffe auf das Asylrecht als rassistisch und menschenfeindlich bezeichnet hatte und damit einmal wenigstens verbal ein richtiges Zeichen setzte, ergriff Wagenknecht im Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, der Bildzeitung für Spiegel-Leser:innen, die Seite der EU-Staaten. Mit der Kritik an den geplanten Gefängnislagern zur Abfertigung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen dürfe man es sich, so Wagenknecht, nicht „so einfach“ machen, sondern man müsse erst abwarten und sehen, ob diese funktionieren!

Damit setzte sie ein weiteres rechtes Ausrufezeichen. Auch beim Schleifen des Asylrechts macht Wagenknecht gerne mit. Um diesen Scheiß zu rechtfertigen, greift sie einmal mehr in die Mottenkiste rechter Lügenmärchen. Die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen, behauptet Wagenknecht gegenüber „Die Welt“, wären schließlich nicht „die Ärmsten der Armen“, sondern stammten vor allem aus den Mittelschichten. Woher sie das weiß? Ganz einfach. Die „Ärmsten der Armen“ würden es nämlich gar nicht schaffen, Krieg, Hunger, Umweltkatastrophen zu entfliehen. Folglich könnten diese Menschen nur vergleichsweise „Privilegierte“ sein – und die könnten daher auch ebenso gut in Heimatländern wie Syrien und Afghanistan bleiben.

Sicherlich unterstützen nicht alle Anhänger:innen einer zukünftigen Wagenknecht-Partei diese lupenrein rassistischen und anti-demokratischen Positionen. Aber sie nehmen sie billigend in Kauf, wenn sie mitmachen.

Lifestyle-Linke vs. bodenständige Menschen

Mit Forderungen nach offenen Grenzen und einer „überzogenen“ Kritik an Einreisebeschränkungen bildet für diese auf dem rechten Auge Blinden vielmehr einen weiteren Beleg dafür, dass sich die Linke von den „normalen“, hart arbeitenden Menschen entfremdet hätte. Und damit nicht genug. „Übertriebener“ Genderismus,  Veganismus, Ökologismus und Kosmopolitismus seien allesamt Ausdruck desselben Grundproblems. DIE LINKE hätte sich lt. Wagenknecht und ihren Anhänger:innen von ihrer eigentlichen Klientel, den Lohnabhängigen, den Erwerbslosen, aber auch von den Handwerker:innen und vom „Mittelstand“ abgewandt. Sie würde sich auf urbane „Aufsteiger:innenmilieus“, auf Linksliberale konzentrieren.

Wagenknecht greift dabei reale Schwächen und Probleme der Identitätspolitik an – vermischt sie jedoch zu einem populistischen Brei, der auch gleich die Kritik an realer sozialer Unterdrückung, die in ihr zum Ausdruck kommt, entsorgt.

Wagenknecht punktet darüber hinaus, wenn sie den Rechtsruck von Grünen und SPD anprangert. Aber sie verkennt dabei vollkommen deren Ursache. Sie vermag diese Anpassung nicht als Ausdruck veränderter Akkumulationsbedingungen des Kapitals – und damit veränderter Rahmenbedingungen reformistischer, auf einen Klassenkompromiss zielender Politik zu begreifen. Die verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt verengt nämlich den Verteilungsspielraum für sozialpartnerschaftliche Politik, was bei der SPD, aber auch beider Linkspartei zu immer mehr Kompromissen an die uneingeschränkt kapitalistischen „Partner:innen“ führt.

Wagenknecht (und vor ihr Lafontaine) werfen im Grunde der SPD vor, an ihrer traditionellen Politik nicht einfach festzuhalten, weil sie in der Tat glauben, dass der Staat den Kapitalismus zum Wohle aller regulieren könne.

Daher bleibt ihre Kritik letztlich rein moralistisch. DIE LINKEN hätten sich von Sozialstaat und nationalstaatlicher Umverteilungspolitik abgewandt. Hätten sie das nicht getan, so der Umkehrschluss, könnten wir heute noch immer in einem schön funktionierenden Sozialstaat leben, in dem die Armen versorgt, die Arbeiter:innen angemessen entlohnt und die Unternehmer:innen ehrliche Gewinne machen würden.

Die sogenannte Lifestyle-Linke hätte sich jedoch nicht nur dem Neoliberalismus angeschossen, sondern sie würde auch unzumutbare Anforderungen an die Massen stellen, wenn sie ständig ihre Einstellungen und Verhaltensweisen in Frage stelle. Der „normale“ Mensch ist für Wagenknecht kein gesellschaftliches Wesen, die vorherrschenden Gedanken, Einstellungen und familiären Verhältnisse sind kein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern quasi-natürliche, letztlich unveränderliche Eigenschaften „der“ Menschen. „Normale“ Lohnabhängige seien ebenso wie „normale“ Kleinbürger:innen oder Kleinunternehmer:innen eben heimatverbunden, bodenständig, stolz darauf, Deutsche zu sein. Sie lebten mehrheitlich gern in Familien, sind gerne heterosexuelle Männer und Frauen und wollen nicht „ständig gemaßregelt“ werden, wenn sie einen Schwulenwitz machen.

Wagenknecht präsentiert sich dabei gern als Verteidigerin der einfachen Leute. In Wirklichkeit verhält sie sich jedoch paternalistisch und bevormundend, in dem sie darüber bestimmt sagt, was diese einfachen Leute ausmache und was nicht. Ihr Zufolge könnten die Lohnabhängigen „überzogenen“ Erwartungen an Fortschrittlichkeit prinzipiell nicht genügen. Man müsse die Menschen eben so nehmen, wie sie (angeblich) sind – darauf läuft das Kredo von Wagenknecht wie jedes (linken) Populismus hinaus. Ansonsten liefen die Leute zur AfD über. Und um das zu verhindern, müsse man eben auch den Ball flach halten, wenn es um rückständiges Bewusstsein unter der Masse der Bevölkerung geht.

Populismus und Elektoralismus

Das erscheint Wagenknecht und Co. umso zwingender und unproblematischer, weil es in ihrer politischen Konzeption erst gar nicht vorgesehen ist, das Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse zu verändern. Die Überwindung von inneren Spaltungen stellt für sie kein Problem dar, weil die Lohnabhängigen ohnedies nicht als Subjekt zur Veränderung der Gesellschaft begriffen werden. Sie bilden nur eine besonders zahlreiche Wähler:innenschicht unter anderen „Leistungsträger:innen“, die Wagenknecht ständig im Blick hat: Mittelschichten, städtisches und ländliches Kleinbürger:innentum und, als Krönung der deutschen Wirtschaft, nicht-monopolistische Unternehmen. Das Subjekt einer möglichen Veränderung ist nicht die Arbeiter:innenklasse, sondern es geht nur darum, bei den Wahlen möglichst viele Stimmen der einfachen Leute zu erhalten. Das Subjekt der Veränderung ist sie – Sarah Wagenknecht. Damit sie längerfristig Kreuzchen erhält, muss man den Menschen natürlich etwas bieten. Nämlich Ausgleich zwischen den Klassen, Gerechtigkeit, Sicherheit und Ruhe und Ordnung auf dem Boden der „sozialen Marktwirtschaft“.

Zur sozialen Marktwirtschaft zurück

Ludwig Erhard und Willi Brandt sind die Leitbilder der Wirtschafts- und Sozialpolitik einer Sahra Wagenknecht. Dabei sorgt der Staat für den Ausgleich zwischen den Klassen, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Das ginge, so können wir beispielsweise in „Reichtum ohne Gier“ nachlesen, weil gute Unternehmen eigentlich gar nicht auf Profit aus wären. Dieser entstünde auch nicht, wie uns Marx weismachen wollte, in der Ausbeutung im Produktionsprozess, sondern durch die Monopolprofite der Großkonzernen. Echte Unternehmen hingegen bräuchten gar keinen Kapitalismus, wohl aber eine funktionierende freie Marktwirtschaft.

Diesen kleinbürgerlichen Schwachsinn verkauft Wagenknecht – und der gesamte mediale Rummel um sie – allen Ernstes als „Theorie“, als „tiefgehende“ Gesellschaftsanalyse. Links oder gar marxistisch ist darin gar nichts.

Dafür tischt und Wagenknecht wie dereinst auch Oskar Lafontaine das Märchen auf, dass der Staat die Wirtschaft zum Wohle aller regulieren könne. Er müsse nur entschlossen eingreifen. Ansonsten drohten dem armen Deutschland Niedergang und Deindustrialisierung.

Damit der Staat im Inneren „freien“ und gerechten Wettbewerb organisieren könne, müsse er sich der Globalisierung widersetzen. Ansonsten werde er ohnmächtig und schwach. Nur auf Basis eines nationalen Programms könnten Wohlstand für alle und sogar ein gewisser Grad ökologischer Nachhaltigkeit erreicht werden. „Alle“ sind dabei natürlich nur deutsche Staatsbürger:innen und jene Ausländer:innen, die ihr Gastrecht nicht verwirkt hätten. Die anderen Länder der Welt müssten eben selbst eine solche Politik umsetzen – dann wird alles gut, sozial und gerecht auch in der Marktwirtschaft.

Dieses Programm wird von Wagenknecht zwar als klassenübergreifende Wohltat angepriesen. Den Interessen der Arbeiter:innenklasse entspricht es jedoch nicht. Im Gegenteil, es bindet die Lohnabhängigen an eine kleinbürgerliche Utopie, an ein Programm, das vor allem im Interesse des Kleinbürger:innentums und der auf den nationalen Markt orientierten Unternehmen liegt. Sollte sie wirklich mal in eine Regierungsverantwortung kommen, dann darf sie sich bereits an Tag eins nach Dienstantritt tief vor den verfluchten Monopolen verbeugen und sich als erste Vorkämpferin des deutschen Imperialismus beweisen – auch gegen die einfachen Leute. Es ist nicht die einzige Parallele zum Rechtspopulismus. Auch, dass rassistisch Unterdrückte und LGBTIA+ dann besonders mit Angriffen von der großen Führerin rechnen müssen, mit denen sie von ihrer völlig kapitalkonformen Politik ablenken wird (wenn auch gemäßigter und weniger aufgeblasen aggressiv als die AfD), passt dazu.

Starker Staat und sozialer Imperialismus

Die Schwachen, so hatte schon Oskar Lafontaine verkündet, bräuchten einen starken Staat. Dabei bleiben die Schwachen zwar auch weiter schwach – aber sie werden besser, „anständig“ und „ausreichend“ versorgt. Die Starken bleiben natürlich weiter stark, aber sie müssen höhere Steuern zahlen.

Die braucht der Staat schließlich, um weiter zu funktionieren. Damit ist bei Wagenknecht und Co. keineswegs nur (was immerhin richtig wäre) ein Ausbau von Bildung, Gesundheitswesen oder Infrastruktur gemeint.

Auch wenn sich Wagenknecht gern als Pazifistin hinstellt, so ist sie eine realistische „Pazifistin“. Deutschland brauche natürlich eine leistungsfähige, verteidigungsbereite Bundeswehr, erklärt sie in zahlreichen Interviews. Das Problem an der Kriegstreiberei der aktuellen Bundesregierung besteht für sie nicht darin, die eigene Armee aufzurüsten, sondern sich in Kriege zu verwickeln, die Deutschland schaden würden.

Doch mit der Anerkennung der Bundeswehr nicht genug. Wagenknecht fordert Investitionen für alle anderen Repressionsorgane- und Institutionen – für „unsere“ Polizei, „unsere“ Gefängnisse, „unsere“ Frontex-Kräfte und Abschiebebehörden. Racial Profiling von Migrant:innen oder Schikanieren von Jugendlichen durch Cops? All das gibt es in der Welt des Links-Konsverativismus allenfalls als Marginalie. Die Einzelfälle lassen grüßen.

So wie Wagenknecht den von Rassismus, Sexismus oder Transphobie Betroffenen und anderen gesellschaftlich Unterdrückten den Rücken kehrt, so wie sie von der Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse durch das gesamte Kapital – inklusive des sog. Mittelstandes – nichts wissen will, so verschwindet für sie auch der Klassencharakter des bürgerlichen Staates.

Für die einstige Marxistin ist dieser längst kein Herrschaftsinstrument des Kapitals mehr, sondern eigentlich der Gipfel menschlicher Zivilisation. Wo der Staat keinen Klassencharakter mehr hat, verschwindet folgerichtig auch der deutsche Imperialismus.

Imperialistisch sind allenfalls die anderen – sicherlich die USA, wohl auch China, vielleicht sogar Russland. Deutschland droht in Wagenknechts Weltsicht unter die Räder zu kommen, ja abhängig zu werden, weil es die eigenen Unternehmen nicht ausreichend fördert und schützt. Während die Großkonzerne Teile der Produktion ins Ausland verlagern und so den Standort schwächen, drohen die „kleinen“, also die Mittelständer:innen, die auch mehrere Tausend Arbeiter:innen ausbeuten, einzugehen.

Wenn Wagenknecht ein düstereres Bild des deutschen Kapitalismus zeichnet, geht es ihr natürlich nicht um dessen Kritik, sondern um dessen Rettung. Die Bundesregierung, so ihr, der AfD nicht ganz ähnlicher Vorwurf, fahre unsere Wirtschaft „an die Wand“. Sie habe versagt, es brauche einen anderen Arzt am Krankenbett der Marktwirtschaft, einen, der Staat, Unternehmen und nebenbei auch noch die Lohnarbeit rettet. Dazu wären Regierung, Unionsparteien, aber auch die AfD nicht imstande. Dazu brauche es Wagenknechts rettende links-konservative Partei.

Deutschland-Retterin im Wartestand

Mehr noch als die reformistische Linkspartei bietet Wagenknecht eine neue links-konservative Partei als Rettung aller Klassen an. Und sie bedient dabei durchaus eine reale Stimmung. Der rechtspopulistischen AfD will sie eine (links)populistische Alternative entgegensetzen. Ob dies gelingt, ist zweifelhaft.

Es ist aber bezeichnend für den Charakter eine möglichen Wagenknecht-Partei, woher ihre potentiellen Wähler:innen kommen würden. In verschiedenen Umfragen wird einer solchen Partei ein Potential bis zu 25 % zugerechnet, was jenen Menschen entspricht, die sich vorstellen könnte, eine solche Gruppierung zu wählen. Ob sie das gegebenenfalls wirklich tun würden, ist eine andere Frage, aber die Herkunft dieses Potentials ist dennoch von Interesse.

Im Artikel „Wo liegt das Potenzial einer Wagenknecht-Partei?“ verweist Carsten Braband auf eine Studie des Instituts Kantar vom Februar 2023. Dieser zufolge kämen 15 % der potentiellen Wähler:innen von Linkspartei, 3 % von den Grünen, 12 % von der SPD, also insgesamt nur 28 %. Die überwältigende Mehrheit des Wähler:innenpotentials rekrutiere sich aus  bürgerlichen und rechten Parteien: FDP: 8 %, CDU/CSU: 22%, AfD 41%!

Diese Zahlen sind zwar auch für DIE LINKE bedrohlich, weil sie angesichts ihres maroden Zustandes das endgültige parlamentarische Aus der Partei herbeiführen könnten. Aber entscheidend ist, dass Wagenknecht in der AfD ihr größtes Wähler:innenreservoir vorfindet, folgt von den Unionsparteien!

Die Anhänger:innen von Wagenknecht betrachten dass als eine Bestätigung ihrer Rolle als Bürgerin und Rechten-Schreck. Doch warum spricht sie gerade diese Wähler:innen an? Ganz einfach. Sie verspricht einerseits eine gewisse soziale Sicherheit, die CDU/CSU und auch die AfD nicht ganz so überzeugend zu vermitteln zu vermögen. Vor allem aber signalisieren ihre Anhänger:innen: Reaktionäre Einstellungen, Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Transphobie – all das ist für Wagenknecht und Co. kein Problem, ja es erscheint ihnen geradezu als Erfolgsgarant. Indem man konservative und traditionelle „Werte“ zu Familie, Ehe, Migration akzeptiert und sich selbst zu eigen macht, würde man die Anhänger:innen der AfD mittels Sozialstaatsversprechen wieder für eine vorgeblich „linke“ Politik zurückgewinnen.

Das ist nicht nur spalterisch gegenüber den Lohnabhängigen und reaktionär, es ist auch dumm und kurzsichtig. Die letzten Jahre haben in zahlreichen europäischen Ländern gezeigt, dass gerade die rassistischen Zugeständnisse gegenüber den Rechten ihnen nicht das Wasser abgegraben haben, sondern diese bestärkt haben. Und so wird es auch hier laufen. Die Ideologie des Links-Konservativismus ist letztlich Wasser auf den Mühlen der AfD – nicht umgekehrt.

Wagenknecht macht hier im Grunde einen ähnlichen fatalen Fehler wie die Regierungssozialist:innen in der Linkspartei. Während sich diese mehr und mehr dem grünen und sozialdemokratischen Parteien anpassen und dabei immer offener die demokratische verbrämte imperialistische Politik Deutschlands verteidigen, passt sich Wagenknecht an die rechten, konservativen und reaktionären kleinbürgerlichen Gegner:innen dieser Politik an. Ihr Programm und ihre Partei sind nicht Teil der Lösung des Krise der Arbeiter:innenbewegung, sondern ein mögliches neues, populistisches Hindernis.