Der Vizekanzler erklärt die Staatsräson

Martin Suchanek, Infomail 1236, 8. November 2023

Robert Habecks „Rede zu Israel und Antisemitismus“ vom 1. November wurde mittlerweile millionenfach gehört oder gelesen. Regierung und Opposition feiern sie als „Meisterleistung“, als politisches Feuerwerk. Der ehemalige Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt twittert von „moralischer Klarheit, rhetorischer Brillanz und vor allem tief berührender, aufrichtiger Empathie“, die FAZ spricht von der heißersehnten „Kanzlerrede des Vizekanzlers“.

So viel Zuspruch erhielt ein Vertreter der Ampel-Koalition lange nicht. Boulevard- und Qualitätsjournalismus, Regierung und Opposition sind endlich geeint, wenn es um die seit Jahrzehnten zur Staatsräson erklärte „Solidarität mit Israel“ geht. Dabei enthält die Rede Habecks nichts wirklich Neues, stellt aber den Versuch einer Gesamtdarstellung und Begründung der Feststellung „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ dar.

Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus

Am Beginn seiner Ausführungen verweist Habeck darauf, dass die Solidarität mit Israel aus der Verantwortung für die eigene deutsche Geschichte erwachse. Die Verantwortung des deutschen Faschismus und Imperialismus für die Shoa, für den industriellen Massenmord an 6 Millionen Juden und Jüdinnen, zieht er heran, um daraus ein Schutzversprechen für den Staat Israel abzuleiten.

Diese Gleichsetzung des Kampfes gegen Antisemitismus mit der Verteidigung Israels und seiner Politik bildet seit Jahrzehnten den ideologischen Begründungszusammenhang der zur Staatsräson erhobenen Nahostpolitik. Dem entspricht die Gleichsetzung von Antizionismus und Israelkritik mit Antisemitismus. Zwar gesteht Habeck zu, dass Kritik an der Siedlerbewegung in der Westbank und Empathie mit getöteten Palästinenser:innen gerechtfertigt und erlaubt seien – jedoch nur, solange sie nicht an die Ursachen des Leides gehen, nur solange sie die systematische Vertreibung der Palästinenser:innen und den rassistischen Charakter des Staates Israel ausklammern. Schon die Forderung nach einem gemeinsamen binationalen, säkularen Staat, in dem alle das Recht auf Rückkehr haben, in dem Jüd:innen und Palästinenser:innen gleichberechtigt zusammenleben, der also kein Privileg für eine Nation mehr kennt, gilt schon als „antisemitisch“, weil „israelfeindlich“.

Israel habe, so Habeck, ein Recht auf „Selbstverteidigung“ – ein Codewort für Jahrzehnte der Landnahme, Vertreibung, Siedlungspolitik und Militärschläge gegen die Palästinenser:innen in Gaza und der Westbank. Mit diesem „Recht“ steckt der Minister zugleich auch ab, welche Kritik an Israels Luftangriffen und der beginnenden Bodeninvasion erlaubt sei – und welche nicht. Das Einfordern des Kriegsrechts und internationaler Standards gesteht Habeck zu, eine grundsätzliche Kritik am Angriff Israels ginge aber nicht. Schließlich dürfe das Existenzrecht Israels nicht „relativiert“ werden. Folgerichtig wird die Unterstützung Israels im Krieg gegen Gaza zum Lackmustest, ob es jemand mit der Solidarität wirklich erst meint und über die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus zum Prüfstein, ob jemand antisemitisch ist oder nicht.

Verkehrung der Realität

Ganz im Sinne dieser Setzung durchzieht Habecks Rede eine eng damit verknüpfte Schwarz-Weiß-Malerei. So verweist er auf die Angst jüdischer Menschen in Deutschland vor antisemitischen Übergriffen und betont die Notwendigkeit, diesen entgegenzutreten. Zugleich verharmlost er den massiv ansteigenden Rassismus und behauptet: „Während es schnell große Solidaritätswellen gibt, etwa wenn es zu rassistischen Angriffen kommt, ist die Solidarität bei Israel rasch brüchig.“

Von den „Solidaritätswellen“ haben die meisten Opfer rassistischer Angriffe bisher wohl wenig mitbekommen. Im Gegenteil: AfD, Freie Wähler, CDU/CSU, aber natürlich auch FDP, SPD und Grüne werden seit Monaten nicht müde, Flüchtlinge und Migrant:innen rassistisch zu stigmatisieren, immer neue Angriffe auf die Rechte von Migrant:innen und Geflüchteten zu fordern und auf den Weg zu bringen. Das Asylrecht oder, genauer, dessen Restbestände stehen unter Dauerbeschuss. Migration muss „kontrolliert“, also eingeschränkt werden. Dafür werden Tausende Tote im Mittelmeer billigend in Kauf genommen, dafür sollen der EU vorgelagerte „Asylzentren“, also Abschiebelager aufgebaut werden.

In diesen Chor stimmen Habeck und seine vorgebliche Menschenrechtspartei, die Grünen, längst ein. Ganz auf dieser Linie geht es auch in seiner Rede zu. Während er verbal Kritik an Israel noch zulässt, ergeht an jede reale Empörung, die sich auf der Straße zeigt, eine Kampfansage. So heißt es wörtlich: „Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner. Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und in weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort.“

Offenkundig weiß der Minister besser, wer sich an den vielen kriminalisierten wie auch an den schließlich doch erzwungenen, legalen Demonstrationen beteiligt hat, als Zehntausende Menschen, die dort lautstark ihre Solidarität mit Palästina zum Ausdruck gebracht haben. Alle einigermaßen objektiven Beobachter:innen wissen, dass die große Masse diese Aktionen keine „islamistischen Demonstrationen“ waren und sie wissen auch, dass sich diese Manifestationen klar gegen Antisemitismus wandten. Sie wandten sich aber auch gegen den Zionismus, die israelischen Bombardements und solidarisierten sich mit dem Recht der Palästinenser:innen auf Widerstand, auf Selbstverteidigung.

Hier zeigt sich auch der reale Kern der Staatsräson im Nahen Osten. Deutschland steht auf Seite einer Kriegspartei, nämlich des Aggressors, des Unterdrücker:innenstaates Israel, dessen Existenz auf der Vertreibung der Palästinenser:innen und seiner Funktion als Vorposten zur Sicherung der Interessen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten, darunter Deutschland, fußt. Und diese ökonomischen und geostrategischen Interessen sind der eigentliche materielle Gehalt der Staatsräson, für deren Begründung die Shoa instrumentalisiert wird.

Damit rechtfertigt er nicht nur die Unterdrückung. Er setzt nicht nur die Verteidigung Israels mit der Verteidigung der jüdischen Bevölkerung fälschlich gleich, er spricht zugleich den Palästinenser:innen ihr Recht auf Selbstverteidigung ab, indem er sie faktisch mit der Hamas gleichsetzt und diese wiederum auf eine „Terrororganisation“ reduziert. Folglich sind für Habeck alle Palästinenser:innen, ja implizit alle Muslim:innen und alle arabischen Migrant:innen der Hamas-Unterstützung und des Antisemitismus verdächtig, sofern sie nicht die von der Regierung und den deutschen Medien geforderten Bekenntnisse zum Selbstverteidigungsrecht Israels ablegen.

Natürlich dürfen bei Habecks Rede kritische Bemerkungen an zur AfD, zum deutschstämmigen Antisemitismus und zu Putin-Versteher:innen nicht fehlen. Diese ideologische Abgrenzung stellt aber wenig mehr als eine rituelle Floskel des Menschenrechtsimperialismus dar, der vor etwas mehr als einem Jahr erst „humanitäre“ Öl- und Gaslieferungen mit Katar als Ersatz für „schmutziges“ russisches Öl und Gas vereinbarte. Und dies ist nur ein Beispiel für eine Außenpolitik, die sich im Kampf um die Neuaufteilung der Welt gegenüber China und Russland mit einem gigantischen Aufrüstungsprogramm ins Zeug legt und die von ihrer „zivilisatorischen Überlegenheit“ in Afghanistan und jüngst in Mali Zeugnis abgelegt hat.

Und davon wird es noch mehr geben müssen, wenn Deutschland und die EU im Sinne des Kapitals erfolgreich sein sollen. Das weiß auch Habeck.

Zivilisationsbruch

Und natürlich weiß auch er, dass schon jetzt rund 10.000 Palästinser:innen – die Mehrheit Zivilist:innen, darunter Tausende Kinder – in Gaza infolge der Angriffe der IDF getötet wurden. Und er weiß, dass diese Zahl noch massiv steigen wird, möglicherweise ein Großteil der Bevölkerung Gazas vertrieben werden soll, wenn es nach den Vorstellungen der Notstandsregierung Netanjahu geht. Und natürlich lehnt der „Humanist“ Habeck selbst einen Waffenstillstand ab, allenfalls kurzfristige „Pausen“ soll es bei Bombardements und Beschuss geben.

Zur Begründung dieser Aggression, die, wie selbst die UNO nicht müde wird zu betonen, mit permanenten Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen einhergeht, greift er auf eine weitere argumentative Figur zurück: „Kontextualisierung aber darf nicht zu Rechtfertigung führen.“

Er meint damit den Angriff der Hamas vom 7. Oktober und die Ermordung hunderter unschuldiger Zivilist:innen. In der Tat ist Letztere nicht zu rechtfertigen. Die Gruppe Arbeiter:innenmacht, aber auch praktisch alle Aufrufenden zu den verschiedenen Demonstrationen in Solidarität mit Palästina haben die willküriche Tötung von Zivilist:innen wiederholt kritisiert. Doch darum geht es Habeck nicht. Mit der Forderung meint er etwas ganz anderes. Die Geschichte Israels und Palästinas, die Vertreibung der Palästinenser:innen und deren nationale Unterdrückung durch den zionistischen Staat, die Politik der israelischen und imperialistischen Regierungen der letzten Jahre dürften überhaupt keine Rolle für das Begreifen und Bewerten der Aktionen der Hamas und andere palästinensischer Organisationen spielen.

Der gesamte politische, ökonomische und historische Kontext, vor dessen Hintergrund der 7. Oktober eigentlich erst begriffen und verstanden werden kann, müsse vielmehr zurücktreten, ja ausgeblendet werden. Das Ins-Verhältnis-Setzen, ohne das keine geschichtliche Tat als solche begriffen werden kann, wird unter den Generalverdacht einer „Relativierung“ gestellt.

Diese Enthistorisierung bildet zugleich ein entscheidendes Element in Habecks Rechtfertigung der deutschen Staatsräson und der Verteidigung Israels. Indem die Taten der Hamas als „Zivilisationsbruch“, als eine unbegreifliche Aktion, als Entäußerung eines absolut Bösen, eines „reinen“ Vernichtungswillens interpretiert werden, wird der geschichtliche Kontext sekundär, wenn nicht irrelevant. Wird die Tat der Hamas einmal so gesetzt, kann jeder Verweis auf den realen Kontext auch nur als Verharmlosung einer singulären, scheinbar außerhalb der Geschichte und gesellschaftlicher Verhältnisse stehenden Tat abgebügelt werden. Beim so verstandenen „Zivilisationsbruch“ gibt es letztlich nichts zu verstehen, zu begreifen oder herzuleiten. Es gilt zu glauben. Diese Figur ist dem religiösen, idealistischen Denken entlehnt, wo ansonsten das absolut Böse beheimatet ist.

Mit dem absolut Bösen – der Hamas in diesem Fall – tritt natürlich auch das Gute auf die Weltbühne oder zumindest in der Rede Habecks: Israel.

Natürlich ist Habeck nicht so blöde, dieses als makellos Gutes auszumalen. Aber er kontrastiert es wohlwollend gegenüber dem Widerstand der Palästinenser:innen und natürlich der Hamas. Israel wäre schließlich gerade dabei gewesen, mit arabischen Regimen eine „Normalisierung“ herbeizuführen. Dass diese auf Kosten der Palästinenser:innen gegangen wäre, verschweigt er bei seiner selektiven „Kontextualisierung“.

Die Hamas und ihrer Unterstützer:innen, allen voran der Iran, würden keine Zweistaatenlösung wollen, erklärt Habeck, verschweigt jedoch, dass diese seit Jahrzehnten von der israelischen Rechten und insbesondere der Regierung Netanjahu sabotiert und praktisch ad acta gelegt wurde. Die Mordtaten der Hamas zielten auf eine Verhinderung des Friedens, erklärt Habeck. Und die 10.000 Toten, die seit dem 7. Oktober auf das Konto der israelischen Armee gehen? Lt. Habeck ein Beitrag zur Selbstverteidigung und zum Frieden – mit Friedhofsruhe.

Der Krieg zwischen Israel und den Palästinenser:innen wird aus seinem historischen Kontext gerissen. Selbst schon die Thematisierung seiner Wurzeln in der Errichtung eines kolonialistischen Siedler:innenstaates wird tabuisiert. Den Kampf von Unterdrücker:innen und Unterdrückten auch nur zu benennen, wird als antisemitisch diffamiert. Habeck und die bürgerliche Öffentlichkeit preisen seine Rede und sein Ableitungen als „vernünftig“ und „demokratisch“.

In Wirklichkeit stellt die Tabuisierung des geschichtlichen, politischen und ökonomischen Kontextes eine Form der Vernunftfeindlichkeit und des Irrationalismus dar, den Rückgriff auf eine quasi religiöse Argumentationsfigur.

Ist der 7. Oktober einmal als Entäußerung des absolut Bösen bestimmt, so bedürfen die Mittel des Kampfes gegen dieses keiner weiteren Rechtfertigung. Dass sich Israel ans Völkerrecht halte, sei zwar wünschenswert, letztlich jedoch zweitrangig. Wem nach 10.000 Toten Bedenken kommen, dem kann jederzeit „Relativierung“ vorgehalten werden.

Diese irrationale Form der Rechtfertigung jeder Israelsolidarität entspricht nicht nur dem Zeitgeist, sie dient auch dazu, die Bevölkerung auf „Durchhalten“ einzustimmen, wenn noch viel mehr Menschen sterben, wenn der Krieg Formen des Genozids annimmt oder Hunderttausende, wenn nicht Millionen Palästinenser:innen vertrieben werden sollten.

Wenn die Taten der Hamas keine Kontextualisierung, keine „Relativierung“ kennen dürfen, so gibt es auch bei den Vergeltungsmaßnahmen letztlich kein „Maß“, ist letztlich alles erlaubt. Eine solches Rechtfertigungsmuster dient nicht nur der Entschuldigung der Angriffe Israels, es bildet zugleich auch eine Blaupause für zukünftige Einsätze des deutschen Imperialismus gegen seine zum „Bösen“, zu „Zivilisationsbrecher:innen“ stilisierten Feind:innen.

Und sie dient auch gegen die „inneren Feind:innen“, gegen palästinensische und arabische Migrant:innen, gegen die antiimperialistische und antikolonialistische Linke und auch gegen alle Lohnabhängigen, die sich belgische und britische Gewerkschaften zum Vorbild nehmen, die beschlossen haben, die Lieferung von Kriegsgerät an Israel zu blockieren. Auch sie würde die Staatsräson mit aller Härte treffen, daran lässt Habeck keinen Zweifel.

Der Minister verwendet zwar religiöse Argumentationsfiguren zur Begründung der Staatsräson und Israelsolidarität. Aber er wandelt nicht im Himmel, sondern auf Erden und verfolgt durchaus profane Ziele. So kommt seine Rede auch nicht ohne die Drohung aus, dass ein Verstoß gegen die Staatsräson strafbar ist: „Wer Deutscher ist, wird sich dafür vor Gericht verantworten müssen, wer kein Deutscher ist, riskiert außerdem seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert damit einen Grund, abgeschoben zu werden.“

Diese Drohung müssen wir ernst nehmen und uns gemeinsam gegen die weitere Einschränkung demokratischer Rechte zur Wehr setzen und eine breite, klassenkämpferische Palästinasolidaritätsbewegung aufbauen.




Nachhaltigkeitsprüfung: Die „Grünen“ vor der Kernschmelze?

Markus Lehner, Infomail 1175, 7. Januar 2022

Stromproduktion aus Atom- und Gaskraftwerken ist ökologisch nachhaltig? Was wie ein Witz klingt, soll tatsächlich Bestandteil einer EU-Verordnung werden. Natürlich, und wie aus der Brüsseler EU-Kommission nicht anders zu erwarten, wird der Sachverhalt, um den es bei der Verordnung geht, so unverständlich wie möglich präsentiert – so dass dann Meister der Beschwichtigung wie Olaf Scholz behaupten können, das Ganze werde „maßlos überschätzt“. Tatsächlich geht es aber um einen Knackpunkt des Umbaus der Energiewirtschaft.

Taxonomie-Verordnung

Die „Taxonomie-Verordnung“ soll einen „Rahmen zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen“ einrichten und ändert auch entsprechende Bilanzvorschriften. Diese Mitte 2020 in Kraft getretene Verordnung definiert nur einen allgemeinen Rahmen für die Vereinheitlichung von nationalen Kriterien zur Kennzeichnung „ökologisch nachhaltiger“ Investitionen. Sie wurde damals mit „qualifizierter Mehrheit“ von Europäischem Rat (Gremium der EU-Staats- und RegierungschefInnen, nicht zu verwechseln mit EU-Ministerrat und Europarat) und Parlament beschlossen – und hat seinerzeit auch kaum Kontroversen hervorgerufen. Allerdings wurde in dieser Verordnung in Artikel 23 der Kommission die „Befugnis für den Erlass delegierter Rechtsakte“ zur Konkretisierung der „technischen“ Bestimmung dessen gegeben, was denn nun konkret nachhaltig im Sinne der verschiedenen, in der Verordnung genannten ökologischen Kriterien ist. Und – Überraschung, Überraschung: Für die dann von der Kommission herausgebrachten Durchführungsbestimmungen gibt es enorme Hürden für eine Ablehnung durch EU-Mitgliedsstaaten oder -Parlament (z. B. mindestens 20 Staaten mit mindestens 65 % der EU-Bevölkerung; beim normalen Gesetzgebungsverfahren kann mit 4 Mitgliedsstaaten mit mindestens 35 % der Bevölkerung eine Sperrminorität erreicht werden).

Und eben in dieser „technischen Regelung“ zur Durchführung der Taxonomie-Verordnung hat die Kommission jetzt – unter vielem anderen – auch Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke als „nachhaltig“ eingeordnet. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Vorhabens kann auch für die diversen grünen MinisterInnen nicht überraschend kommen: Angesichts der „Green Deal“-Pläne über die von der EU aufgelegten Investitionsfonds wurde darauf gedrängt, speziell die Nachhaltigkeitskriterien für Klimaschutzziele vorab, noch bis Ende 2021, zu definieren – die restlichen Umweltbereiche sollen dann bis Ende 2022 bearbeitet sein. Schon hier liegt ein beträchtliches, systematisches Problem: An sich wurde die Taxonomie-Verordnung einst auf die Nachhaltigkeitsdefinitionen des Rio-Prozesses ausgelegt, die weit über eine Verengung der Umweltkrise nur auf die Klimakatastrophe hinausgingen.

Bekanntlich ist die Klimakrise nur eine – und nicht einmal die schlimmste – von den 9 planetaren ökologischen Bedrohungen, wie sie etwa die Rockström-Kommission auflistet (Artensterben, Versauerung der Ozeane, Müllprobleme, … ). Diese werden in der EU-Verordnung durchaus auch aufgelistet – und es wird auch festgestellt, dass „nachhaltig“ nicht nur bedeutet, dass eine Technologie bei einem Bereich verträglich ist, sondern sie auch nicht in den anderen Bereichen umweltzerstörerisch sein darf. Artikel 17 der Verordnung stellt ironischerweise in Bezug auf das Kriterium der „erheblichen Beeinträchtigung der Umweltziele“ als negatives für Nachhaltigkeit fest, dass eine nachhaltige Technologie nicht durch „langfristige Abfallbeseitigung eine erhebliche und langfristige Beeinträchtigung der Umwelt verursachen darf“. Mit einem Wort: Atomenergie mit ihrem sehr, sehr langfristigen Müllendlageranforderungen kann auch nach dieser Verordnung eigentlich nie und nimmer nachhaltig sein. Durch den Trick, für die Durchführungsverordnung aber nur alle Artikel und Absätze der Grundverordnung für die Definition heranzuziehen, die etwas mit Klimaschutz zu tun haben, kann man diese Klippe gerade noch umschiffen – unter völliger Aushöhlung des Nachhaltigkeitsbegriffs, der ja gerade eine ganzheitliche Betrachtung von ökologischen Wechselwirkungen beinhaltet. In einem Jahr, wenn dann die anderen Umweltaspekte Berücksichtigung finden, werden die Milliarden aus den EU-Investitionsfonds schon in die „nachhaltige“ Atomindustrie geflossen sein. Statt die sehr viel billigere Stromerzeugung mit Wind- und Solar-Technologien auszubauen, werden die Mittel weiterhin in das Milliardengrab Atomenergie geschüttet.

Atomindustrie – Nachhaltigkeit der besonderen Art

Dabei ist die Atomindustrie in ihrem Gesamtproduktionszyklus von Uranbergbau über -anreicherung, Kraftwerksbetrieb, Stufen von Zwischenlagerung oder „Wiederaufbereitung“ bis zum wahrscheinlich unlösbaren Problem der Endlagerung das gerade Gegenteil von „nachhaltig“. Ökologisches Grundproblem ist natürlich die beim radioaktivem Zerfall entstehende ionisierende Strahlung unterschiedlichster Intensität, die für alle organischen Lebensformen je nach Dosis existenzbedrohlich ist. Die Nutzung schwerer radioaktiver Isotope zur Energiegewinnung (Massendefekt) erfordert eine Anreicherung derselben, wie sie in der Natur z. B. in Gesteinsformationen nie vorkommt. Der dabei in Gang gesetzte Prozess erzeugt nicht nur als End-/Müllprodukt lebensbedrohliches Spaltmaterial oberhalb der Grenzwerte, sondern auch bei allen Zwischenstufen. Gerade die „kurzlebigen“ Spaltprodukte beim Uranzerfall, wie Caesium-137 (Betastrahler, 30 Jahre Halbwertszeit), sind bei Kontamination der Umwelt ab einer Konzentration von 600 Becquerel (Kernzerfall pro Sekunde) nachhaltig gesundheitsgefährdend (laut Strahlenschutzverordnung). Nach dem Unfall in Fukushima 2011 hat die japanische Akademie der Wissenschaften eine Karte der Messwerte zu Cs-137 herausgebracht, nach der ein großer Teil der östlichen Provinzen Japans einen Bodenwert mit Belastungen über 2.500 Bq aufweist. Ähnliche Überschreitungen von Grenzwerten für bestimmte Lebensmittel wurden weitflächig, bis Hawai, festgestellt. Das jetzt übliche Herunterspielen der Fukushimakatastrophe (die vielen Toten seien ja vor allem auf den Tsunami zurückzuführen) verkennt völlig die nachhaltige und großflächige Schädigung der Umwelt – mitsamt daraus resultierender Gesundheitsfolgen für Mensch und Tier. Abgesehen davon sind inzwischen auch Klimafolgen als Konsequenzen radioaktiven Fallouts, z. B. durch die Wirkung auf Mikroorganismen, nachgewiesen.

Der Uranbergbau gehört zu den umweltbelastendsten Arten des Bergbaus überhaupt – auch was seine CO2-Bilanz betrifft. Der Aufschluss des Gesteins, das Uranerze immer nur in kleinen Mengen enthält, erfordert massiven Einsatz chemischer und mechanischer Hilfsmittel, hinterlässt Wüstenlandschaften und Halden voller radioaktiv und chemisch belasteter „Reststoffe“. Dies geht wohl nicht in die Nachhaltigkeitsbilanzen hierzulande ein, da diese Art von Bergbau vor allem in Afrika, Kasachstan oder indigenen Regionen Nordamerikas betrieben wird.

Widerstand gegen Uranabbau

Bei dem Bruch eines Uranabraumbeckens am Rio Puerco, New Mexico, kamen 1979 tausende von native Americans ums Leben – ein Atomunfall, von dem kaum die Rede ist. Es ist folgerichtig, dass derzeit der Abbau der wohl größten Uranvorkommen weltweit am Widerstand von indigenen Bewegungen scheitert. So wurde in Grönland die linkssozialistische „Inuit Ataqatigiit“ gerade deswegen an die Regierung gewählt, da sie das Uranbergwerk Kvanefjeld eines australisch-chinesischen Konsortiums verhindern will. Wie die grönländische Regierung nachwies, würde dieses Bergwerk nicht nur die CO2-Bilanz Grönlands um 45 % erhöhen (und das in einer Region, die gerade im Zentrum des Klimawandels steht), sondern auch eine große Menge radioaktiven Thoriums in die umgebenden Fjorde freisetzen. Dazu kommt, dass der betreffende Bergbaukonzern zu einem ganzen Netz von Konzernen gehört, die Grönland für Öl- und Gasplattformen erschließen wollen – auch dies ist nun alles erstmal gestoppt.

Ganz ähnlich ist auch die autonome Regierung des zu Kanada gehörenden Territoriums Nunavut (6 mal so groß wie Deutschland) vorgegangen. Hier wurde eines der größten Uranbergbauvorhaben des französischen Atomkonzerns Areva gestoppt. Wahrscheinlich werden die „NachhaltigkeitsexpertInnen“ der EU die Inuit noch überzeugen müssen, dass Uranbergbau enorm wichtig für den Klimaschutz ist! Oder die EU-Konzerne sind noch mehr denn je auf das autoritäre Regime in Kasachstan angewiesen, das gerade vom „Erzfreund“ Putin vor Massenprotesten gerettet wird. Denn der Staatskonzern Kazatomprom ist mit „Hilfe“ vieler internationaler InvestorInnen (alles jetzt ökologisch nachhaltig) derzeit für ein Drittel des weltweiten Abbaus von Uranerzen verantwortlich – die wahrhaft nachhaltige Stütze für ein autoritäres und korruptes System, das sich um die Umweltzerstörungen des schon seit den Atomwaffentests schwer mitgenommenen Landes wenig schert. So viel zur Unabhängigkeit der Energieversorgung von Putin & Co. beim Setzen auf Atomstrom!

Nicht viel besser steht es bei den Produktionsanlagen zur Anreicherung des spaltbaren Uran-235 und der anschließenden Herstellung von Brennelementen. Sowohl beim Zentrifugieren von Uranhexafluorid als auch bei der Verschmelzung von Uran(IV)-Oxid mit der Brennelementekeramik entstehen in hohem Maße Treibhausgase, die an die Atmosphäre abgegeben werden. Außerdem beweisen mehrere schwere Störfälle, wie der beim Brennelementewerk Tokaimura 1999 in Japan, dass auch dieser Produktionsschritt Kernspaltungsenergie zur Hochrisikotechnologie macht.

Betrieb und Entsorgung

Dies gilt natürlich umso mehr für den Betrieb der Kraftwerke selbst. Auch wenn die Strahlenbelastung ihrer Umgebung im „Normalbetrieb“ sicherlich in vertretbaren Grenzbereichen liegen mag, so gab und gibt es genug „Störfälle“, bei denen es zu schwerwiegenden Kontaminationen gekommen ist. Dies betrifft nicht nur die Beinahekatastrophen von Harrisburg oder Sellafield – auch bei kleineren Unfällen kam es während der Jahrzehnte des Betriebs zum Austritt von radioaktiven Materialien. Da inzwischen zumindest in Europa die Grenzwerte für zulässige Strahlungsdosen verschärft wurden, ist der Betrieb von Kernkraftwerken mit derart viel Sicherungstechnologie versehen, dass Atomstrom die bei weitem teuerste Art der Energiegewinnung darstellt. Außerdem weiß jede/r IngenieurIn, dass es kein technisches System gibt, das „absolut sicher“ ist, weshalb jeweils immer mit einer Fehlerwahrscheinlichkeit gearbeitet werden muss. Die Annahme eines „größten anzunehmenden Unfalls“ (GAU), der innerhalb beherrschbarer Grenzen angesetzt werden könnte, war daher immer schon eine gewagte Hypothese. Diese wurde durch die Super-GAUs von Tschernobyl und Fukushima eindeutig falsifiziert. Bei beiden sehr gut untersuchten Unfällen traten derart unvorhersehbare Probleme auf, dass man nur im Nachhinein schlauer ist, was Sicherheitsvorkehrungen betrifft. Natürlich ist man inzwischen sehr viel weiter, aber ein neues „Unvorhersehbar“ ist immer möglich – nur dass das bei einem Atomunfall immer mit gewaltigen Konsequenzen für Mensch und Umwelt verbunden ist.

Das größte Nachhaltigkeitsproblem der Atomenergie bildet aber sicherlich das Entsorgungsdilemma. Dies fängt schon mit der Lagerung von abgebrannten Brennelementen in den AKW selber an bzw. bei deren Transport zu den zentralen Zwischenlagern oder Wiederaufbereitungsanlagen. Gerade der „frische“ Atommüll enthält die gefährlichsten, hochradioaktiven Spaltprodukte und muss extrem geschützt werden. Die Umgebung der für den europäischen Brennelementezyklus so zentralen Anlagen von Sellafield und La Hague ist ein reges Zeugnis für dieses Problem. Dort werden Abwasserbelastungen mit Strahlendosen gemessen, die die in den Strahlenschutzverordnungen festgelegten Grenzwerte um das 26- bzw. 7-fache überschreiten. Dazu kommt eine in mehreren Untersuchungen festgestellte erhöhte Strahlenbelastung im Meer im weiten Umkreis um diese Anlagen – dies übrigens auch mit Auswirkungen auf für das Klima wichtige Mikroorganismen im Ozean. Aber auch die Zwischenlager für „abgeklungene“ Brennelemente, wie sie derzeit vor allem in aufgelassenen Bergwerksstollen existieren, bergen enorme Probleme. Bekannt ist etwa das Drama um Asse II, wo 126.000 Fässer radioaktiver und chemischer Abfälle für „Jahrzehnte“ zwischengelagert werden sollten. Aber schon nach wenigen Jahren kam es zu einem „unerklärlichen“ Einsickern von zehntausenden Litern Salzlauge. Der Atommüll muss daher „geborgen“ und in ein anderes Zwischenlager verfrachtet werden: Kostenpunkt 3,35 Milliarden Euro. Angesichts der Kriterien für ein „Endlager“, das mehrere Millionen Jahre stabil beiben müsste, haben bisherige geologische Untersuchungen wenig Erbauliches zu Tage gebracht. Es steht zu befürchten, dass wie bei der Asse Atommüll für Jahrhunderte von Zwischenlager zu Zwischenlager transportiert werden muss – oder eben, wie immer häufiger, einfach nach Afrika abgeschoben wird.

Rechnet man die Gesamtkosten von Atomstrom inklusive Mülllager, Transport-, Wartungskosten, Sicherungsmaßnahmen und der riesigen Anschubsubventionen, so kommen realistische Schätzungen inzwischen auf einen Preis von 37,8 Cent pro Kilowattstunde. Im Vergleich liegen die realen Kosten bei Onshore-Windanlagen bei 8,8 Cent (Forum Ökologisch-Soziale Markwirtschaft). An die VerbraucherInnen direkt werden natürlich andere Strompreise weitergegeben – die Kosten, die für die Stromkonzerne bei Kohle- und Atomstrom vom Staat übernommen werden, werden dann eben über Steuern von StromkundInnen eingetrieben. Damit reduzieren sich die Gestehungskosten für die kWh aus AKWs und Gaskraftwerken enorm und scheinen sogar geringer als die für Strom aus erneuerbaren Energien. Deren Subventionen wurden perverser Weise auch noch über die EEG-Umlage an die Masse der VerbraucherInnen weitergereicht. Der dann möglich gewordene kWh-Preis aus „Strommix“ (der Preis an der Strombörse ergibt sich aus dem teuersten noch verkäuflichen Stromangebot) bringt damit den Stromkonzernen satte Extragewinne.

EU-Subvention für Atom- und Gasstrom

Es ist damit klar, dass die „Nachhaltigkeitsdefinition“ der EU-Durchführungsverordnung genau dafür da ist, dass dieses Subventionsgeschäft für Atom- und Gasstrom weiterhin möglich bleibt. Dies entspricht den Interessen der Konzerne nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Ländern, die jetzt erst aus der Kohleverstromung auszusteigen beginnen. Was damit insbesondere verhindert wird, ist, dass die systematische Benachteiligung von erneuerbaren Energien bei der Preisbestimmung beendet wird. Das Subventionsgeschäft für ökologisch fragwürdige Kraftwerkstechnologien kann munter weitergehen und der Ausbau erneuerbarer Energien für die gesamte EU wird wie schon die letzten Jahrzehnte viel zu langsam vorangehen. Atomenergie mag nicht so schädlich für das Klima sein wie Kohle und Gas, aber zur wesentlichen Reduktion der Treibhausgasemissionen trägt eine solche Politik der Verzögerung des Umbaus der Energiewirtschaft nicht bei.

Grüner Offenbarungseid

Die Partei der Grünen hat alle diese Punkte – von der Nichtnachhaltigkeit der Atomindustrie, der finanziellen Benachteiligung der erneuerbaren Energien, der Notwendigkeit eines Atomausstiegs zur Beschleunigung des Umbaus der Energiewirtschaft etc. – immer als Kernelemente ihres ökologischen Programms vor sich hergetragen. Nunmehr als tragende Säule einer Bundesregierung, in der sie die MinisterInnen u. a. für Umwelt, Klimaschutz/Wirtschaft, Auswärtiges stellt, müsste man daher erwarten, dass sie diesen schmutzigen Deal der EU-Kommission zu gunsten der Stromkonzerne mit aller Macht verhindern wird. Tatsächlich hat Klima- und Wirtschaftsminister Habeck darauf hingewiesen, dass mit dieser Verordnung droht, dass die französische Energiewirtschaft die dieses Jahr anfallenden enormen AKW-Wartungskosten als „Klimaschutzinvestitionen“ verrechnen kann und damit eben die dafür vorgesehenen Milliarden aus dem „Green Deal“ nicht tatsächlich für den Ausbau von erneuerbaren Energien verwendet.

Damit hat er zumindest ausgeplaudert, um welchen Deal es hier tatsächlich geht: Frankreich und Osteuropa können weiter auf Kernenergie setzen, wenn sie schon immer mehr aus der Kohle aussteigen müssen, während Deutschland Erdgas als „Brückentechnologie“ hin zur Wasserstoffverstromung bekommt („Brückentechnologie“ ist eh nur ein Gütesiegel dritter Klasse für Nachhaltigkeit). Mehr als deutlich wird damit, dass Scholz und Macron hier wohl unter Umgehung der Grünen einen „akzeptablen“ Kompromiss gefunden haben, gegen den es unter den europäischen Regierungen wenig Opposition gibt (bisher nur: Österreich, Dänemark, Portugal und Luxemburg). Darauf deuten auch die Beschwichtigungen aus den rechten Teilen der SPD-Fraktion und der FDP hin, die darauf drängen, dass man die Verordnung hinnimmt oder sich enthält. Für die Grünen wäre das ein Offenbarungseid, wo sich dann die Frage stellt, was sie als Öko-Partei in so einer Regierung noch zu suchen hätten.

Es ist notwendig, die Proteste gegen die EU-Taxonomie-Verordnung zu verstärken und die Konsequenzen für das Weiter so in der ökologisch katastrophalen bestehenden Stromwirtschaft in Europa aufzuzeigen. Dabei müssen wir als SozialistInnen aber auch klarmachen, dass eine auf den Markt (der Stromkonzerne) ausgerichtete Politik des Umbaus der Stromwirtschaft gar keine anderen Resultate erwarten lässt. Notwendig wäre vielmehr eine europaweite entschädigungslose Enteignung der Stromkonzerne unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und VerbraucherInnen mit dem Ziel eines europaweiten Plans zum Umbau einer klimagerechten Stromwirtschaft!




Ampelkoalitionsverhandlungen: Drei Mal freie Fahrt fürs Kapital

Leo Drais, Neue Internationale 260, November 2021

Die Ampelregierung von SPD, Grünen und FDP kommt wohl. Entgegen der Regierungsbildung von 2017 scheint es dieses Jahr eine schnelle und reibungslose Einigung zu geben.

Die Grünen mit dem geplatzten Kanzlerintraum und die FDP preschten vor und verkündeten Selfie postend, dass sie gemeinsam auf die Kanzlersuche gehen. Sie entschieden sich für Scholz, Jamaika war angesichts der inneren Krise der Union schnell vom Tisch. Dabei war dieses Manöver kein zufälliges: Nach der Wahl war klar, dass Grüne und FDP die Königsmacherinnen spielen, die zwar in manchem wie der Klimafrage einiges trennt, aber beide bedienen wichtige Teile der Mittelschichten und sind im Gegensatz zur SPD rein bürgerliche Parteien ohne enge Verbindung zu den Gewerkschaften.

Die SPD wiederum steht im Gegensatz zur Union wie auferstanden und einig wie lange nicht da. Zettelte Kevin Kühnert als Juso-Vorsitzender 2017 noch einen Minibasisaufstand gegen die Große Koalition an, ist er als Vizeparteichef mittlerweile fein ins sozialdemokratische Dasein integriert und bringt wie zum Lohn für den Gehorsam auch gleich 49 seiner Juso-FreundInnen mit ins Parlament. Vergessen ist, dass man mal BMW enteignen wollte. Derweil räumt Norbert Walter-Borjans vom linken Flügel das Feld. Den Platz neben Saskia Esken werden wohl – wenn sie denn an der Parteispitze bleibt – Lars Klingbeil vom Seeheimer Kreis oder Hubertus Heil einnehmen. Es kann ja nicht sein, dass ein Kanzler Olaf Scholz einer rein „linken“ Parteiführung gegenübersteht.

Sondierungsergebnisse

In die Sondierung gingen die drei zur Zeit innerlich stabilsten Bundestagsparteien und präsentierten rund vier Wochen nach der Wahl ein zwölfseitiges Ergebnis. Neben dem üblichen Gelaber von Innovation, Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit bürgerlicher Berufspolitik boten die Gespräche doch einen gewissen Aufschluss darüber, was wohl kommt, was nicht, wo es präsentierbare Einigkeit oder unerwähnte Kontroversen gibt.

Ein paar kleine Reförmchen enthält natürlich auch das Sondierungspapier. So wird wohl die Cannabis-Legalisierung in der einen oder anderen Form beschlossen werden. Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 soll kommen, vielleicht auch eine verbesserte staatliche Anerkennung der Rechte nicht-binärer Menschen. Alles unzureichend, aber immerhin.

Von der SPD wird vor allem die Mindestlohnanhebung auf 12 Euro zum Jahrhundertereignis hochstilisiert. Dabei reichen diese schon heute nicht. Die Steuern reduzieren sie weiter und schließlich wird sie großteils, ohne zu kauen, von der Inflation gefressen werden. Darüber hinaus ist unklar, ob der Mindestlohn für alle sofort erhöht oder das, wie in der Vergangenheit, für ganze Branchen stufenweise über mehrere Jahre umgesetzt werden soll.

An die Stelle von Hartz IV soll ein Bürgergeld treten, das Betroffenen gewiss nicht aus der Armut helfen wird. Ein bundesweiter Mietendeckel kommt nicht, stattdessen soll mehr und schneller gebaut werden, was zwar die Wohnungskrise nicht löst und hohe Mieten auch nicht senkt, dem Kapital aber nach wie vor satt Profite bringt.

Zumutungen

Die Coronapandemie scheint für die SondiererInnen um Scholz, Baerbock und Lindner auf dem Papier zumindest schon nicht mehr zu existieren. Booster-Impfung und Herdenimmunität werden’s für den Standort BRD und Europa wohl schon richten. Dafür werden die Überlastung des Gesundheitssystems und der Tod Tausender letztlich billigend in Kauf genommen.

Ausgebaut und aufgerüstet sollen dafür Polizei und Überwachung werden. Gegen alles, was als politisch extrem betrachtet wird, soll ein „Demokratieförderungsgesetz“ kommen, was auch immer das mit sich bringen wird.

Was das grüne Steckenpferd des Pseudoklimaschutzes angeht, wurde das Autobahntempolimit entsorgt, das passioniert-religiöse Rasen bleibt den Deutschen dank der FDP bewahrt. Der Kohleausstieg wird vielleicht doch schon 2030 kommen, vielleicht aber auch nicht. Ansonsten ist die sogenannte Klimapolitik der Ampel eigentlich ein Investitionsprogramm: Unternehmen sollen bei der „sozialökologischen Transformation“ gefördert werden, ansonsten heißt es: mehr Ökostrom, mehr Ökolandbau, mehr E-Mobility – auf der Straße natürlich. Das 1,5 °C-Ziel steht auch auf dem Papier, wenigstens dort, denn Realität wird es mit der Ampel sicher nicht.

Auch abgesehen davon will man viel investieren: Digitalisierung und Bildung sollen dem deutschen Kapital konkurrenzfähige Infrastruktur und Fachkräfte schaffen.

Wie, als würde das alles nichts kosten, bekennen sich die SondiererInnen zur Schuldenbremse. Steuererhöhungen soll’s keine geben, schon gar nicht auf große Vermögen und hohe Einkommen – vor der Wahl noch gegen die FDP kämpferisch angekündigt, hat die SPD es nun, wenn auch etwas kontrovers, vergessen.

Hier zeichnet sich schon jetzt ab: Die Finanzierung der Erneuerung des deutschen Kapitals wird bezuschusst, öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen fehlt es an Mitteln. Abhilfe schaffen soll dabei wohl ein erneuter Privatisierungsschub – sei es durch Verkauf oder durch „Partnerschaften“ von öffentlichen Einrichtungen und privaten AnlegerInnen.

Konkurrenz als Rahmen

Außenpolitisch scheint die Ampel den bisherigen Kurs fortsetzen zu wollen: klares Bekenntnis zur EU, NATO und transatlantischen PartnerInnenschaft. Abseits aller Beschwörungsformeln zeichnet sich aber ab, dass die rassistische Abschottung der EU fortgesetzt wird und die Bundeswehr massiv aufgerüstet werden soll, inklusive der Anschaffung neuer Waffensysteme (Drohnen für Angriffe) für den Cyberwar und weitere Auslandseinsätze. Offengehalten wird die Suche nach alternativen Verbündeten mit dem Willen zum Multilateralismus.

Zugleich drückt sich in den, öffentlich wenig umstrittenen Bestimmungen der Außenpolitik auch schon das Dilemma der nächsten Regierung wie überhaupt des deutschen Imperialismus aus. Einerseits drängt die starke Exportwirtschaft dazu, vehement beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt mitzuspielen, andererseits ist man politisch und militärisch alleine zu schwach dafür. Das nächste Außenministerium wird weiter zwischen Kooperieren und Konfrontieren lavieren, im Gravitationsfeld zwischen den beiden Hauptpolen China und USA versuchen müssen, irgendwie den marodierenden EU-Hinterhof beisammen zu halten, um zumindest halbwegs eigenständig auftreten zu können.

Für die Einschätzung der künftigen Scholz-Regierung ist es zentral, diese Erfordernisse der globalen Konkurrenz im Blick zu behalten. Sie bilden letztlich auch den Rahmen für die Innenpolitik und den Verteilungsspielraum insbesondere gegenüber der ArbeiterInnenklasse. Ohne eine politische oder militärische Strategie, die sie auch nur ansatzweise allein und eigenständig international durchsetzen könnten, auch wenn hier sicher mehr Aggression unter dem Mantel der Verantwortungsübernahme zu erwarten ist, müssen Regierung und Kapital vor allem auf das stärkste Moment des BRD-Imperialismus setzen: die Industriekonzerne und dabei nicht zuletzt auf die AutoherstellerInnen.

Schon am Tag nach der Wahl hat VW 10 Punkte für die Koalitionsbildung gefordert, die klar darauf abzielten, dass der Staat bitteschön die E-Mobilität auf der Straße ordentlich bezuschussen soll, Stichworte: Ladesäulen und Kaufprämien. Auch sonst zieht sich der Tenor des subventionierten Klimaschutzes, der keiner ist, sowie der Digitalisierung durch die Forderungen diverser Unternehmensverbände. Unter grünem Label soll mit massiver Investition das Kapital erneuert werden, um ihm auf dem Weltmarkt neue Wettbewerbsvorteile zu ermöglichen. Gleichzeitig bedingt die globale Konkurrenz aber eben auch, das Kapital steuerlich nicht groß zu belasten sowie die Staatsverschuldung einzudämmen – womit wir wieder bei der Schuldenbremse sind.

Bleibt also die Frage: Wer zahlt das Ganze? Einerseits soll es natürlich die Konkurrenz tun, andererseits die überausgebeutete halbkoloniale Welt im EU-Hinterhof oder dort, wo das Lithium für die E-Autos herkommt. Letztlich stellen sich Regierung und Konzerne gerade dafür auf, dass auch die hiesige ArbeiterInnenklasse dafür aufkommt.

Angriff auf die Lohnabhängigen

Auch wenn unmittelbar keine politisch geführten Großangriffe anstehen wie die Agenda 2010, von der die deutschen Konzerne gerade jetzt massiv profitieren, so werden der von der Ampel angestrebte Umbau der Industrie und die Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse ohne ausbleibende Gegenwehr weiter abgewälzt werden.

Vor dem Hintergrund einer volatilen globalen Wirtschaftslage, einer gebremsten Konjunktur, einer weltweit weiter grassierenden Pandemie und Krise werden sich die Konjunkturprogramme der USA und der EU wahrscheinlich als unzureichend erweisen, längerfristig die Weltwirtschaft zu beleben. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass sie nach einer gewissen konjunkturellen Sonderwirkung rasch verpuffen, weil die grundlegenden Krisenmomente – fallende Profitraten, Überakkumulation von Kapital und damit verschärfte globale Konkurrenz – durch diese nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben werden.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus denkbar, dass die Ampelkoalition im Laufe der Legislaturperiode auf ein größeres, grundlegendes Angriffsprogramm umschaltet. Die sog. Rentenreform zeigt, wohin die Reise dabei gehen könnte. Die Deutsche Rentenversicherung soll auf dem Kapitalmarkt die Rente bei 48 % des Einkommens sichern. Eine solche weitere Privatisierung und Finanzialisierung bedeutet natürlich auch, dass die Altersversorgung selbst an die krisenhaften Zyklen des Finanzkapitals gekoppelt wird.

Ebenso wenig wird der Inflation entgegengesetzt, die Mieten bleiben exorbitant, viele durch Corona zerstörte Jobs wohl verloren, Niedriglohnsektor und Prekarisierung wachsen, verdächtig oft spricht das Sondierungspapier von Flexibilisierung am Arbeitsplatz. Proletarische Frauen und rassistisch Unterdrückte werden davon üblicherweise Hauptbetroffene sein, von allem Diversitätsbekenntnis und Gerechtigkeitsgerede der Ampel haben sie so gut wie nichts.

Sämtliche Versprechungen von mehr soziale Gerechtigkeit werden an der kapitalistischen Realität verbogen oder brechen an ihr, die Abkehr der SPD von einer Vermögenssteuer ist Teil davon.

Großangriff auf Jobs

Der angestrebte Umbau der Industrie bedeutet aus Kapitalsichtweise, Arbeitskräfte einsparen zu können. Genau darauf zielt die Digitalisierung zu einem Gutteil ab. Hier läuft der Großangriff bereits. In der Autoindustrie ist der Stellenabbau längst eine Realität und wird weitergehen: Mit über 170 000 Stellenstreichungen wird für die nächsten Jahre gerechnet.

Die Rolle der SPD als führende Regierungs- und bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist hierbei nicht zu unterschätzen. Sie macht Politik für das Kapital, hat aber noch immer soziale Wurzeln in den schweren Bataillonen der deutschen IndustriearbeiterInnenschaft – um deren Arbeitswelt und -platz es in den nächsten Jahren gehen wird. Einerseits muss die SPD dem Kapital irgendetwas abringen und der ArbeiterInnenklasse anbieten, das Sterbebett der Sozialdemokratie ist immerhin noch warm. Gerade im gemeinsamen Regieren mit der FDP liegt hier Sprengstoff, selbst wenn die Vermögenssteuer vom Tisch ist. Andererseits bietet die SPD in ihrer engen Verbindung mit der DGB-Bürokratie und der dadurch ausgeübten Kontrolle über zentrale Sektoren der Klasse dem deutschen Kapital auch einen Vorteil in der Durchsetzung der geplanten „Transformation“.

Und der DGB?

Dazu passt, dass der DGB im Grunde kaum was zu den Verhandlungen der letzten Wochen gesagt hat. Er setzt damit auf seine Weise den Kurs des Burgfriedens mit dem Kapital fort. Die IG Metall und ihre Betriebsräte begleiten den Jobkahlschlag, der durch Investitionen der Ampelregierung mitfinanziert wird – Gelder, die letztlich über Steuern ebenfalls zu großen Teilen von der ArbeiterInnenklasse kommen. Anstatt den Abwehrkampf anzugehen, wird mitgestaltet und die Beschäftigten werden ruhig gehalten, Lohnkämpfe, die die Inflation ausgleichen, gibt es nicht – über die unmittelbar tariflichen Fragen hinausgehende politische Streiks, die z. B. die Wohnungsfrage oder den Klimaschutz zum Thema machen, schon mal gar nicht. Es liegt hier schon der Verweis darauf verborgen, wie wichtig der Aufbau einer klassenkämpferischen Opposition zu den Gewerkschaftsapparaten gerade wird.

Natürlich werden die Koalitionsverhandlungen nicht ohne Kontroversen ablaufen. Die Frage der Investitionsfinanzierung und die Begleichung der Coronaschulden ist noch nicht abschließend geklärt. Die Möglichkeiten zur Investition sind begrenzt. Worauf wird sich also konzentriert? Auf das E-Auto oder doch auf die Bahn? Gibt’s 5G nur für die Stadt oder auch auf dem Land? Wie hoch wird das Bürgergeld? Und: Wer besetzt welches Ministerium?

Wie auch immer diese Fragen von Scholz und Co beantwortet werden: Für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten gibt’s in der kommenden Periode nicht viel mehr als ein paar Krümel. Sie sind gut beraten, sich auf Abwehrkämpfe vorzubereiten.

In vielerlei Hinsicht könnten die kommenden Jahre entscheidende für eine längere Periode werden. In der Klimakrise wird in vier Jahren schon sehr absehbar sein, wie es um die 1,5 °C steht. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt drängt früher oder später zu Entscheidungsschlachten. Der Umbau und die Erneuerung der Industrie finden jetzt statt – nicht für den Klimaschutz, wohl aber für die Stellung des deutschen Kapitals in der Welt entscheidend. Entlassungen, Kürzungen, Armut werden zunehmen.

Warum wir eine Aktionskonferenz brauchen

Der Rechtsruck hat tiefe Spuren hinterlassen, die Zerbröckelung des bürgerlichen Lagers zeigt sich nicht zuletzt in der ersten 3-Parteien-Regierung seit Adenauer. Je nachdem, wie sie sich den Massen verkauft, kann sie das Hinsterben der „bürgerlichen Mitte“ und den Rechtsruck verzögern oder verstärken. Angesichts neuer Geflüchtetenbewegungen, Pandemie und vielfachen sozialen Abstiegs liegen rechtspopulistische bis faschistische Kräfte von AfD bis Dritter Weg schon auf der Lauer.

Die Stärkung bürgerlicher und rechter Kräfte ist aber nur eine mögliche Entwicklung. Eine fortschrittliche Alternative dazu wird jedoch nur zu einer realen Möglichkeit werden, wenn die Reorganisation der ArbeiterInnenklasse angegangen, sie zur zentralen, eigenständigen Kampfkraft gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe wird. Der Sieg des Berliner Volksentscheides Deutsche Wohnen & Co. enteignen, die riesigen Demonstrationen von Fridays for Future, die zahlreichen Waldbesetzungen und eine Reihe anderer großer Mobilisierungen in den letzten Jahren zeigen nicht nur, dass neue Bewegungen entstanden bzw. im Entstehen begriffen sind, sie verweisen auch auf ein Potential des Widerstandes.

Diese Mobilisierungen gilt es, zu stärken und zugleich das politische Bewusstsein der AktivistInnen zu erhöhen. Wie können wir Enteignungen wirklich durchsetzen? Wie können wir Massentlassungen und Privatisierungen stoppen? Wie können wir verhindern, dass Inflation und Preissteigerungen mühsam erkämpfte Lohnerhöhungen gleich wieder wegfressen? Wie können wir der imperialistischen Außenpolitik und der rassistischen Abschottung Deutschlands und der EU entgegentreten? Wie können wir den Kampf für reale, sofortige Verbesserungen mit dem um eine andere Gesellschaft verbinden?

Es braucht daher dringend die Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes und darum, wie wir diese Auseinandersetzungen wirklich verbinden können. Das aber fällt nicht vom Himmel. Es braucht einen konkreten Startpunkt dafür, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren – eine Aktionskonferenz. Sie sollte nicht aus einem linken Für-sich-Selbst bestehen, sondern im Gegenteil größtmöglich die Organisationen der ArbeiterInnenklasse einbeziehen, allen voran die Gewerkschaften oder jedenfalls deren oppositionelle Kräfte, Linkspartei und SPD-Linke oder mindestens alle, die nicht stramm hinter Scholz oder der Koalitionspolitik der Realos in der Linkspartei stehen.

Eine solche Aktionskonferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den wichtigsten Angriffen gemeinsam auf der Straße und im Stadtteil, in den Betrieben und Büros, an Schulen und Unis entgegenzutreten. Wir schlagen vor, sie Anfang 2022 Spektren übergreifend zu organisieren und dort einen bundesweiten Mobilisierungsplan zu beschließen und überall Bündnisse aufzubauen, die diesen Kampf koordinieren.




Wahlprogramm der Grünen: alles Green New Deal?

Martin Suchanek, Neue Internationale 255, Mai 2021

Die Grünen präsentieren nicht nur eine Kanzlerkandidatin. Ihr Programmentwurf zu den Bundestagswahlen mit dem bezeichnenden Titel „Deutschland. Alles ist drin.“ verspricht allen Klassen und Schichten das Blaue vom Himmel.

Für alle gute Grüne?

Das erste Kapitel „Lebensgrundlagen schützen“ stellt uns einen klimagerechten Wohlstand, Versorgungssicherheit mit Erneuerbaren, nachhaltige Mobilität, ein gutes Leben für alle sowie eine Stärkung von Bauern/Bäuerinnen und deren Tieren in Aussicht. Diese Versprechungen werden in weiteren Abschnitten auf allen möglichen Ebenen ergänzt. So wollen die Grünen für faire Löhne und Gehälter sorgen, Kinder, Jugendliche und Familien fördern, Gerechtigkeit zwischen  Geschlechtern schaffen und soziale Netzwerke sichern.

Gleichzeitig wollen sie Unternehmensgeist, Wettbewerb und Ideen fördern, dem Markt einen sozial-ökologischen Rahmen geben, die Digitalisierung voranbringen, die Finanzmärkte stabiler und nachhaltiger gestalten sowie die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden.

Eine rosige grüne Zukunft für alle Klassen versprechen die Grünen seit Jahrzehnten … Gaben sie sich in ihrer Gründungsphase noch als radikale kleinbürgerliche Kraft, die, wenn schon nicht die Marktwirtschaft, so doch deren Auswüchse und vor allem die großen Unternehmen in Frage stellte, so warf die Partei spätestens Ende der 1980er/Anfang der 1990 Jahre diesen kleinbürgerlichen Utopismus über Bord. Als neues „realistisches“ Projekt, das schließlich in der Regierung Schröder/Fischer gipfelte, wurde Rot-Grün aus der Taufe gehoben. Die grüne Partei verstand sich dabei immer noch als „radikales“ Korrektiv, als eine mit den neuen sozialen Bewegungen verbundene Pressure Group in einer rot-grünen Regierung.

Bekanntlich vollbrachte diese nicht das Wunder einer sozial-ökologischen Transformation, sondern führte Bundeswehrkriegseinsätze im Kosovo und in Afghanistan und endete mit den Hartz-Gesetzen als Verbesserung der Ausbeutungsrate und Konkurrenzbedingungen des deutschen Großkapitals. Damit wurde zugleich die wirkliche Umwandlung der Grünen von einer ursprünglich kleinbürgerlichen „Bewegungs-“ zu einer linksbürgerlichen Partei abgeschlossen.

Die vergangenen Jahre zeigten andauernde Krisen von SPD und CDU/CSU, Stagnation der Linkspartei sowie enge Klientelpolitik der FDP, außerdem mit Fridays for Future eine kleinbürgerliche Umweltmassenbewegung. All dies ermöglichte es den Grünen, sich zu einer bürgerlichen Kraft zu mausern, die ernsthaft die Union herausfordern kann. Ihre konstant hohen Umfragewerte, die vom Standpunkt des Kapitals durchaus zuverlässige Regierungspolitik in Baden-Württemberg und vielen anderen Landeskoalitionen haben längst alle Zweifel an den Grünen beseitigt. Im Gegenteil: Das Führungspersonal der Partei mit dem Ökolabel erscheint selbst traditionellen bürgerlichen WählerInnen und Teilen der KapitalistInnenklasse als vorzeigbarer als ein Laschet, dem selbst die eigene Partei eine Kanzlerschaft nur bedingt zutraut.

Strategisches Konzept

Entscheidend ist jedoch, dass die Grünen für ein Konzept zur Überwindung der gegenwärtigen Krise stehen, woran es Union wie SPD mangelt: den Green New Deal. Diese „sozial-ökologische Transformation“ soll nicht weniger leisten als die Lösung der wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und demokratischen Herausforderungen unserer Zeit. Dazu müssten nur alle anpacken und von den Grünen lernen: „Als Gesellschaft haben wir den Schlüssel für so vieles schon in der Hand. Wir wissen, wie man eine Industriegesellschaft sicher ins Zeitalter der Klimaneutralität führt. Wie man dafür den Kohleausstieg beschleunigt und Versorgungssicherheit gewährleistet, wie viel mehr Strom aus Wind und Sonne gewonnen werden kann. Wir wissen, wie man eine sozial-ökologische Marktwirtschaft entwickelt, die zukunftsfähige Jobs, sozialen Schutz und fairen Wettbewerb in Deutschland und Europa zusammenbringt, wie man der Globalisierung klare Regeln setzt und Tech-Konzerne angemessen besteuert. (…) Wir sind in der Lage und fest entschlossen, Europa als Wertegemeinschaft demokratisch zu stärken und im globalen Systemwettbewerb gerechter und handlungsfähiger zu machen.“ (Programm, Grüne, S. 6)

Vage Versprechen

Die Frage, ob eine sozial-ökologische Umgestaltung im Kapitalismus an Systemgrenzen stößt, stellt sich für die Grünen im Unterschied zu linkeren Versionen des Green New Deal erst gar nicht. Kein Wunder also, dass die Umverteilungsvorschläge, also die soziale Komponente des Deals, auf den 137 Seiten des Programm dünn und vage ausfallen.

So versprechen die Abschnitte zu Arbeit, Löhnen und sozialen Netzen wenig mehr, als dass alles „sozialer werden“ solle. Hartz IV soll zwar durch eine „Garantiesicherung“ ersetzt werden, über deren Höhe schweigen sich die Grünen aber aus. Das Rentenniveau soll auf gerade 48 % gehalten werden, das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren festgeschrieben bleiben, also bei dem erreichten Stand an Verschlechterungen der Großen Koalition. Der Mindestlohn soll auf gerade mal 12,- Euro angehoben werden. Armutsfest ist das Programm der Grünen trotz gegenteiliger Beteuerung also längst nicht.

Statt einer generellen Arbeitszeitverkürzung soll Vollbeschäftigung durch einen flexiblen Arbeitszeitkorridor von 30–40 Stunden pro Woche erreicht werden, ohne Lohnausgleich natürlich. Damit das alles auch weiter friedlich und reguliert über die Bühne geht, soll die SozialpartnerInnenschaft gestärkt werden. Schließlich versprechen die Grünen zur Milderung der Wohnungsnot neben einer Zügelung der Wohnungsspekulation und „fairen Mieten“, ganz wie alle tradierten bürgerlichen Parteien, die Erleichterung des Erwerbs von Wohneigentum.

Betrachten wir die sozialen Versprechungen, entpuppen sich jene der Grünen als bescheidener als jene des sogenannten ArbeitnehmerInnenflügels von CDU/CSU. Die Armen sollen etwas weniger arm werden – darin erschöpft sich die grüne Transformation. Andere Forderungen nach sozialer Absicherung oder nach Ausbau des Bildungswesens, Verbesserung der Digitalisierung usw. sind vor allem Versprechungen gegenüber bessergestellten Teilen der Lohnabhängigen und den bildungsbürgerlichen Mittelschichten, also dem Kernklientel der Grünen, und natürlich auch dem Kapital, das besser qualifizierte Arbeitskräfte braucht.

Umverteilung?

Noch unbestimmter und zahmer erweisen sich die Umverteilungsforderungen gegenüber Kapital und VermögensbesitzerInnen. Neben allgemeinen Beschränkungen von Exzessen der Spekulation und Profitmacherei geht es vor allem darum, dass die Reichen einen gerechten, wenn auch nicht übertrieben hohen Anteil an der sozial-ökologischen Umgestaltung leisten.

So soll klimaschädliches Verhalten von ProduzentInnen und KonsumentInnen nicht weiter subventioniert werden, was in einem ersten Schritt die Staatsausgaben um jährlich 10 Milliarden Euro reduzieren soll. Des Weiteren soll mit Steuergeldern umsichtig umgegangen und die Vergabe von öffentlich-privaten Partnerschaften transparenter gestaltet werden.

Die Schuldenbremse soll reformiert werden, um den Spielraum für Staatsausgaben zur Steigerung von Konsum und Zukunftsinvestitionen in Ökologie, Bildung und Digitalisierung zu erleichtern. Der Spitzensteuersatz soll außerdem auf bis zu 48 % angehoben werden, würde also noch immer deutlich geringer als unter Helmut Kohl liegen. Außerdem soll für alle Vermögen von über 2 Millionen Euro eine Vermögensteuer von jährlich 1 % erhoben werden. Zittern muss das Kapital also nicht, zumal auch Begünstigungen für Betriebsvermögen im verfassungsrechtlich erlaubten und wirtschaftlich gebotenen Umfang eingeführt werden sollen. Fazit des Ganzen: Die Reichen sollen etwas weniger reich werden.

Die Klassenspaltung der Gesellschaft kommt im Programm wie generell bei den Grünen überhaupt nicht vor, sie erscheint erst gar nicht als Problem. Auch die Kluft zwischen Arm und Reich wird als solche nicht Frage gestellt. Die Grünen stört nur, dass sie mittlerweile zu groß wird – so groß, dass sie den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ gefährde. Dadurch würden nämlich die Demokratie, der soziale Frieden und die Möglichkeit eines „vernünftigen“, von allen akzeptierten Ausgleichs der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen untergraben. Doch genau ein solches Mindestmaß an Harmonie scheint der Partei notwendig, um auch den ökologischen Umbau „vernünftig“ zu gestalten und „alle mitzunehmen“.

Ökokapitalismus als Sprung nach vorn

An mehreren Stellen des Wahlprogramms wird der Green New Deal als neue Wirtschaftsweise verkauft. Jedoch, Kritik am Kapitalismus oder an der Warenproduktion ist damit nicht gemeint.

Die neue Wirtschaftsweise soll allerdings klimaneutral sein. Erreicht werden soll das im Wesentlichen durch eine endlich konsequente Umsetzung der internationalen Vereinbarungen zum Klimaschutz und des Green New Deals, den die EU-Kommission zu implementieren versucht. Während linkere Spielarten des Green New Deal – z. B. das Wahlprogramm der britischen Labour Party unter Corbyn – auch die Verstaatlichung strategischer Wirtschaftsbereiche inkludieren und anerkennen, dass ein ernsthafter ökologischer Umbau nur gegen mächtige Kapitalinteressen durchsetzbar wäre, wollen die Grünen den Konzernen und Banken vermitteln, dass eine ökologische Umgestaltung der Wirtschaft auch in ihrem längerfristigen ökonomischen Interesse läge. Sie präsentieren sich dabei als bessere, weitsichtigere SachwalterInnen der Gesamtinteressen des deutschen und europäischen Kapitals.

Diesem soll die Investition in die sozial-ökologische Transformation schmackhaft gemacht werden. Da das Kapital aber noch nicht nach Wunsch in diese Branchen strömt, müsse dem freien Spiel der Marktkräfte auf die Sprünge geholfen werden. Auf technologischer Ebene scheint den Grünen dabei das Problem im Grunde schon als gelöst. Die Unternehmen müssten bloß dazu ermutigt werden, in enger Kooperation mit einer Regierung zu handeln, die sich dem Green New Deal verschrieben hat.

Anleihen bei Keynes

In dieser Politik finden sich Elemente des Keynesianismus wieder: Einerseits sollen Produktion und Konsum von ökologisch schädlichen Gütern durch den Abbau von Subventionen und durch Preissteigerungen (Ökosteuern; CO2-Preis) verteuert werden, so dass nicht nur die Unternehmen solcher Branchen Gewinneinbußen hinnehmen, sondern auch die KäuferInnen ihrer Produkte (also bei Konsumgütern vor allem die Lohnabhängigen) höhere Preise zahlen müssten.

Andererseits sollen steuerfinanzierte Programme zur ökologischen Erneuerung der Wirtschaft das Kapital in die gewünschten Sphären lenken. Dabei setzen die Grünen auf eine Stärkung der europäischen Kooperation und ein großes Investitionsprogramm, um „etwa gemeinsame europäische Energienetze oder ein Schnellbahnnetz“ zu finanzieren. Außerdem soll der Euro als internationale Leitwährung gestärkt werden, auch um zusätzliche InvestorInnen anzuziehen. Wie sehr dabei die Politik der Grünen von den Interessen des deutschen Großkapitals durchdrungen ist, verdeutlichen zwei Passagen:

„Jetzt braucht es Entschlossenheit und Zusammenarbeit, damit unsere Autobauer in Zukunft wieder die Nase vorn haben. Klar ist: Der fossile Verbrennungsmotor hat keine Zukunft. Wir wollen ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zulassen. Wir unterstützen bei Forschung und Innovation und sichern einen schnellen Aufbau der Ladesäuleninfrastruktur und eine weitere Förderung des Markthochlaufs von emissionsfreien Fahrzeugen zu. Aktuell haben Deutschland und Europa den Anschluss bei der Batteriezellenproduktion und damit viel Wertschöpfung verloren. Das darf sich bei den Batterien der nächsten Generation, die günstiger und ressourcensparender sind, nicht wiederholen. Wir wollen Europa zum Weltmarktführer einer ökologischen Batteriezellenproduktion machen.“ (S. 34)

Und weiter: „Um kritische Abhängigkeiten zu verringern, soll die EU-Kapazität im Bereich der Halbleitertechnologie wie von der EU-Kommission vorgeschlagen auf 20 Prozent der weltweiten Produktion ausgebaut werden. Das gilt vor allem für die Bereiche, in denen wir bei der Halbleitertechnologie für industrielle Anwendungen bereits eine starke europäische Stellung haben oder in denen eine besonders dynamische zukünftige Entwicklung zu erwarten ist.“ (S. 34)

Kleinbürgerliches Gedöns und Imperialismus

Bei allem kleinbürgerlichen Gedöns über Menschlichkeit, Zusammenhalt, Gerechtigkeit und sonstigen Phrasen präsentieren die Grünen hier ein Programm für den deutschen Imperialismus und eine in seinem Interesse vollendete EU. Diese soll zu einem Bollwerk im Kampf bei der Neuaufteilung der Welt werden, die in der grünen Ideologie zur sozial-ökologischen Vorreiterrolle Europas verbrämt wird.

Anders als rein neoliberale DoktrinärInnen erkennen die Grünen dabei an, dass es staatlicher Intervention bedarf, wenn ein solches Programm Wirklichkeit werden soll, dass der deutsche Staat und die EU im längerfristigen Interesse des Gesamtkapital als GeburtshelferInnen der Transformation der technischen Basis des Kapitals wirken müssen. Der soziale Anstrich dieser Politik erscheint darüber hinaus rational, weil eine zu große Vertiefung der sozialen Kluft der Gesellschaft das Projekt noch zusätzlich erschweren würde. Daher sollen die ärgsten Auswüchse des Neoliberalismus auch abgemildert werden. Schließlich lässt sich das Programm der kapitalistischen Ökotransformation auch besser verkaufen und gegen andere bürgerliche Kräfte und gesellschaftliche Opposition durchsetzen, wann man es mit viel sozialer und demokratischer Tünche lackiert.

So wie die Interessen der deutschen Autoindustrie und anderer Konzerne offen benannt werden, so erinnert der Abschnitt „Klimaaußenpolitik“ sehr an klassischen, verlogenen Imperialismus:

„Sie bedeutet zum einen, dass wir Europäer*innen unseren Bedarf an grüner Energie durch Klimapartnerschaften decken helfen: grüner Wasserstoff statt Öl- und Gasimporte. Andererseits werden wir so endlich unserer historischen Verantwortung gerecht, indem wir Elektrifizierung und Technologietransfers insbesondere in afrikanischen Ländern vorantreiben und den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in diesen Ländern unterstützen. Nur so können wir es schaffen, global auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.“ (S. 117)

Am deutschen (und europäischen) Kapitalexport soll also die Welt genesen. Der Imperialismus wird so endlich wieder seiner Verantwortung gerecht. Die imperialistische Ausbeutung wird bei der sozial-ökologischen Transformation mit neuen Phrasen beschönigt. Die Realität diese Politik zeigt der EU-Afrika-Pakt, der seit Jahren im Interesse der europäischen Konzerne vorangetrieben wird, um sich Zugang zu strategisch wichtigen Rohstoffen, Investitionen und Märkten zu sichern. Zugleich bildet er einen Teil der europäischen Strategie, um im neuen Wettlauf um Afrika den USA und China Paroli bieten zu können. In der grünen Ideologie hingegen erscheint diese klassisch imperialistische Politik des europäischen Finanzkapitals als „Win-win“-Situation, ganz so wie die bürgerliche Wirtschaftstheorie immer gerne die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Metropolen und Peripherie als Vorteil für alle verklärt hat.

Fazit

AktivistInnen der Umweltbewegung oder Menschen, die auf eine Ablösung von CDU/CSU an der Regierung hoffen, sollten das Programm der Grünen zur Kenntnis nehmen.

Ihre sozial-ökologische Transformation erweist sich weder als sozial noch als ökologisch. Sie entpuppt sich vielmehr als Programm zur Umstrukturierung des deutschen Kapitals. Wie ökologisch das Ganze ist, zeigt der Schulterschluss mit der deutschen Autoindustrie. Die Grünen setzen auf E-Mobilität im privaten, vorgeblich klimaneutralen PKW. Wenn notwendig, werden dafür auch Wälder gerodet und unsinnige, aber höchst profitable Autobahnbauten durchgesetzt wie zur Zeit im Dannenröder Wald. Was die Grünen für Deutschland und Europa versprechen, führt schon jetzt Kretschmann in Baden-Württemberg vor.

An der kapitalkonformen Ausrichtung lässt das Programm der Grünen keinen Zweifel übrig. Es wird aber nicht nur den ökologischen, geschweige denn den sozialen Fragen unserer Zeit nicht gerecht. Die Grünen skizzieren auch ein alternatives, imperialistisches Programm. Damit werden sie zu einer Option für die deutsche Bourgeoisie. Ob nun in einer schwarz-grünen Regierung oder unter einer grünen Kanzlerin oder in einer Ampel-Koalition – die nächste Bundesregierung wird ohne die Grünen kaum zu bilden sein. Umso wichtiger ist, dass sich die Umweltbewegung und andere demokratische und soziale Bewegungen von ihren Illusionen in sie so rasch wie möglich befreien.




Aufstieg der Grünen: Eine bürgerliche Partei für alle Klassen?

Karl Kloß, Neue Internationale 239, Juli/August 2019

Derzeit erleben die Grünen einen Höhenflug. Nach den
neuesten Erhebungen vom 15. Juni 2019 kommen sie bei den Umfrageinstituten
Emnid und Forsa auf jeweils 27 % und landen damit vor der Union. Es ist
zwar nicht das erste Mal, dass die Grünen einen solchen Höhenflug hinlegen. Vor
acht Jahren erzielten sie kurz nach dem GAU von Fukushima ähnliche Werte. Damals
waren sie jedoch nur für eine kurze Zeit zweitstärkste Kraft hinter der Union.

Kurzer Abriss

Dass die Grünen nun so gehyped werden, hat vier
Hauptursachen: a) die vermeintliche Erfolgsformel, b) die Realpolitik, c) die
Krise im bürgerlichen Lager sowie d) die der SPD.

Nach der Gründung 1980 wurden die damals kleinbürgerlichen
Grünen als schwarze Schafe des Parlamentarismus und sogar „systemgefährdend“
wahrgenommen. Über Jahre wurde ihren Abgeordneten – anders als der Linkspartei
– die Teilnahme an „sicherheitsrelevanten“ Ausschüssen (z. B.
Verteidigung) verweigert.

Der Radikalismus dieser Zeit speist sich aus
Massenmobilisierungen gegen Aufrüstung, Krieg, Umweltzerstörung bis hin zur
Teilnahme an und Unterstützung einer aktivistischen, wenn auch politisch
kleinbürgerlichen Bewegung. Zugleich ging die Entstehung und Gründung der Partei
mit einer Absage an proletarische Klassenpolitik einher. In ihr waren von
Beginn an linke öko-sozialistische, reformerische und Kräfte einer „Neuen
Mitte“ vertreten wie auch rechte ÖkologistInnen. Die Grünen priesen sich als
neue Kraft an, die weder „links“ noch „rechts“, sondern einfach nur vorn wäre.

Auf die Einzüge in Parlamente folgte bereits Mitte der
1980er Jahre der Eintritt in die Landesregierung in Hessen, immer vorneweg der
Realo Joschka Fischer.

Nach der Fusion mit der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung
„Bündnis 90“ und einigen Richtungskämpfen bildeten sie im Jahr 1998 mit
SPD-„Automann“ Schröder erstmals eine Regierung auf Bundesebene. Die einstige
„Friedenspartei“ stimmte dem ersten deutschen Kriegseinsatz nach Ende des Zweiten
Weltkrieges und den Bombardements auf Belgrad 1999 im Rahmen einer
NATO-Kriegsintervention zu.

Sie trug den größten Angriff auf die ArbeiterInnenklasse
nach dem Ende der DDR mit, nämlich die Agenda-2010-Reformen und die Einführung der
Hartz-Gesetze. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde für die deutsche Bourgeoisie
ersichtlich, dass die Grünen durchaus dazu geeignet sind, die eigenen
Interessen im Inneren wie nach außen durchzusetzen. Sie hatten ihre
Bewährungsprobe als verlässliche bürgerliche Partei, als ökologisch aufgepeppte
Liberale und verlässliche JuniorpartnerInnen der SPD, bestanden, wenn auch
vorerst unter Verlust von WählerInnen und AnhängerInnen. Nach knapp zwei
Legislaturperioden Schröder/Fischer waren auch sie dem Verwelken und nicht dem
Aufblühen nahe.

Erfolgsformel „Green New Deal“

Dass sie sich trotz dieser Enttäuschung und ursprünglich von
ihren AnhängerInnen und Mitgliedern als „Tabubruch“ wahrgenommenen
Regierungskoalitionen mit der CDU auf Länderebene (Baden-Württemberg, Hessen)
halten konnten, ist erklärungsbedürftig. Der Erfolg und aktuelle Aufstieg der
Grünen speist sich auch daraus, dass sie sich selbst in ihren „schwachen
Jahren“ auf wachsende Teile der lohnabhängigen Mittelschichten stützen konnten,
deren soziale Lage jener des KleinbürgerInnentums vergleichbar ist. Die
Schichten reichen von Teilen des BildungsbürgerInnentums bis hin zu solchen der
ArbeiterInnenaristokratie. Ähnlich wie die AnhängerInnen der AfD betrachten sie
den zunehmenden Verlust „gesellschaftlichen Zusammenhalts“, das Ergebnis von
verschärfter Konkurrenz und Neo-Liberalismus, mit Sorge. Anders als die
RechtspopulistInnen wollen sie die Gesellschaft jedoch mittels eines neuen
„Gesellschaftsvertrags“, eines „Green New Deal“ kitten. Die Reichen müssen nur
etwas weniger gierig werden, ihre Profitinteressen längerfristig und staatlich
„gezügelt“ verfolgen – und schon könnten die Armen besser „eingebunden“ werden.
Die Mittelschichten könnten in einer solch gerechteren bürgerlichen Welt ohne
die „übertriebenen“ kapitalistischen Exzesse des Großkapitals ruhiger leben.
Gleichzeitig, so das Heilsversprechen der Grünen, ließe sich so auch der
ökologische Umbau sozialverträglich, nachhaltig und profitabel gestalten. Diese
vermeintliche Erfolgsformel der Grünen besteht darin, vordergründig Opposition
und das „ökologische Gewissen“ zu spielen, das darauf verweist, dass wir diesen
einen Planeten haben, auf dem wir leben können, und an die Vernunft aller zu
appellieren, doch bitte damit aufzuhören, die Umwelt zu zerstören und sich
gegenseitig zu bekriegen.

Grüne Realpolitik

Die grüne Realpolitik in insgesamt acht Landesregierungen erweist
sich als wenig ruhmreich. Im ehemaligen CDU-Stammland Baden-Württemberg stellen
die Grünen seit mittlerweile acht Jahren (!) den Ministerpräsidenten, Winfried
Kretschmann. Dieser schaffte es durch mehr als fragwürdige Wendungen, über die
Landesgrenzen hinaus, bundesweit Bekanntheit zu erlangen, sei es in Bezug auf
die unendliche Dauerbaustelle Stuttgart 21 oder dadurch, dass er die
reaktionäre Flüchtlingspolitik der Bundesregierung gegen seine eigenen
ParteifreundInnen im Bundesrat durchboxte oder die deutsche bzw. schwäbische
Autoindustrie hofiert und deren Betrügereien verharmloste. Wahrscheinlich kann
man den baden-württembergischen Landesverband der Grünen als den rechtesten
bezeichnen. Schließlich hat man neben Kretschmann auch den Rechtsaußenpolitiker
und Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, in den eigenen Reihen. Durch
seine Social-Media-Präsenz und sein Law-and-Order-Gehabe schafft er es locker,
Kretschmann rechts zu überholen. Ein Schelm, wer dabei an Horst Seehofer denkt.
Auch in anderen Bundesländern waren sich die Grünen für so manche Sauerei nicht
zu schade. So stimmten sie 2016 in Nordrhein-Westfalen der Rodung der
restlichen 200 Hektar des Hambacher Forstes zu und ebneten damit RWE den Weg,
weiter mit Braunkohle Gewinne einzufahren.

Krise im bürgerlichen Lager

Wer nun also denkt, die Grünen seien eine ernstzunehmende
„linke“ Alternative zu Union oder SPD, der/die sollte spätestens nach der
Darstellung der grünen Realpolitik eines Besseren belehrt sein. Dass die Grünen
momentan nicht nur als Regierungsoption, sondern auch mögliche
KanzlerInnenpartei erscheinen, ist auch der gegenwärtigen Situation im
bürgerlichen Lager geschuldet. War mit Entstehung der CDU/CSU die
Rollenverteilung unter den offen bürgerlichen Parteien klar geregelt, so ist
das heute nicht mehr unbedingt der Fall. Zwar vertritt die Union nach wie vor
die Interessen des deutschen Großkapitals, aber sie mag immer weniger gegensätzliche
Interessen in der herrschenden Klasse zu einem Gesamtinteresse zu verknüpfen
und dabei auch noch das KleinbürgerInnentum und die Mittelschichten einzubinden.
Diese Gemengelage führte dazu, dass sich einige nicht unerhebliche Teile des
KleinbürgerInnentums, aber auch der Bourgeoisie nach Alternativen umsehen. Diese
beanspruchen für sich, kosmopolitisch, weltoffen, umweltbewusst und alternativ
zu sein und wenden sich den Grünen zu. Diese präsentieren sich dabei nicht nur
als LobbyistInnen der Mittelschichten, sondern offerieren mit dem „Green New
Deal“ ein langfristiges Modell, das den „ökologischen“ Umbau des deutschen
Imperialismus und seine langfristige Konkurrenzfähigkeit sichern soll. Dieser
stellt zugleich auch eine „Vision“ von deutscher Führung in der EU dar, die in
vielem der Linie Merkels ähnelt. Eine deutlich gestärkte grüne Partei könnte
nach den nächsten, womöglich vorgezogenen, Bundestageswahlen als
Koalitionspartnerin von CDU/CSU die „grüne Schrittmacherin“ für einen
neuerlichen Anlauf zur Überwindung der Krise der EU spielen.

Krise der SPD als weitere Ursache

Einer der wichtigsten Gründe, dass die Grünen im Moment so
erfolgreich sind, hängt auch damit zusammen, dass sie vorgeben, eine
klassenübergreifende „Volkspartei“ zu sein, und sich als „moderne“ Alternative
zur SPD und auch zur Linkspartei anpreisen. Konnten wir schon herausarbeiten,
dass die Grünen es teilweise geschafft haben, Mittelschichten für sich zu
gewinnen und auch für das Kapital attraktiver zu werden, so haben sie auch
Einbrüche bei der SPD erzielt. Das betrifft vor allem jüngere Lohnabhängige und
Frauen.

Zwar schnitten die Grünen bei den Europawahlen 2019 lt. DGB unter Gewerkschaftsmitgliedern unterdurchschnittlich ab, doch verdeckt dies, dass sie bei bestimmten Gruppen der Lohnabhängigen weit überdurchschnittlich punkteten. So erzielten sie 23,1 % der Stimmen aller gewerkschaftlich organisierten Frauen (und liegen damit vor allen anderen Parteien) und satte 23,9 % der jungen GewerkschafterInnen (also aller 18–29-Jährigen).

Dass aber ausgerechnet die Grünen vom Niedergang der SPD
profitieren, liegt auch an der Unfähigkeit der Linkspartei, eine glaubwürdige
Alternative anzubieten, an der Erosion von Klassenpolitik und dem Rechtsruck
der Gewerkschaften. Die Grünen vermögen sich besser als Sozialdemokratie und
Linkspartei als fortschrittliche Alternative zur AfD zu präsentieren. Zwar
bieten sie für die dringendsten Probleme der Jugend ebenso wenig eine Lösung
wie bei Klima- und Umweltschutz, weil dieser immer an die Grenzen der
Profitinteressen stoßen wird. Im Gegensatz zu SPD und Linkspartei verfügen sie
aber mit dem „Green New Deal“ über ein strategisches politisches Konzept, das
die Interessen aller Klassen auszugleichen verspricht, zum Wohl von Demokratie,
Umwelt und Wettbewerbsfähigkeit.

Perspektive

Zweifellos wird die Unterordnung der Grünen unter die
Kapitalinteressen die Illusionen der Jugend, Mittelschichten und von breiteren
Teilen der ArbeiterInnenklasse erschüttern, sobald die Partei in einer
Bundesregierung Ernst machen muss. Schon jetzt zeigen z. B. die Ergebnisse
der Kohlekommission, dass sie ihre Anliegen im Interesse der
KraftwerkbetreiberInnen und Energiemonopole verschachert. Dort entpuppt sich
der „Green New Deal“ als lohnendes Geschäftsmodell – aus Sicht der
Energiekonzerne!

Für KommunistInnen ist es unerlässlich, die falschen
Versprechen und die dahinter liegende bürgerliche Politik der Grünen
offenzulegen. Um Jugendliche von Fridays for Future, um Millionen, die
Illusionen in grüne Politik hegen, zu gewinnen, reicht es aber nicht, nur auf
deren Selbstentlarvung und Kritik zu setzen.

Wir müssen auch organisiert und auf Grundlage klarer
Forderungen versuchen, die Dominanz der Grünen über Massenbewegungen wie
Fridays for Future zu brechen. Dem faulen „Green New Deal“ müssen wir eine
antikapitalistische Politik entgegensetzen. Uns geht es darum, dass die ArbeiterInnenklasse
gemeinsam mit den NutzerInnen die Kontrolle über die Energiekonzerne
demokratisch übernimmt, deren Geschäftsbücher offengelegt und die letztendlich
entschädigungslos enteignet werden müssen. Außerdem müssen sich die
ArbeiterInnen sowie die NutzerInnen mit ForscherInnen zusammen an einen Tisch
setzen, um nach CO2-freien,
nichtfossilen Energieträgern zu forschen. Darüber hinaus fordern wir auch den
massiven Ausbau und die energische Förderung erneuerbarer Energien, welche aus
den Profiten und den bisher geleisteten Entschädigungssummen für die
Energiekonzerne finanziert werden sollen. Vor allem aber braucht es den Kampf
um ein anderes Wirtschaftssystem, eine demokratische Planwirtschaft, die es
ermöglicht, die Ökonomie im Interesse der Arbeitenden und ökologischer
Nachhaltigkeit umzugestalten.

Nachsatz: DIE PARTEI macht bei den Grünen mit

Bei der letzten Europawahl konnte diese Satiretruppe von
Martin Sonneborn 2,4 % aller Stimmen für sich gewinnen und damit die Zahl
ihrer Abgeordneten im EU-Parlament verdoppeln. Als Doppelspitze zogen somit
Martin Sonneborn und Nico Semsrott, den manche aus der ZDF-Satiresendung
„Heute-Show“ kennen, ins EU-Parlament ein.

Schon nach kürzester Zeit schloss sich Semsrott der Fraktion
der Grünen (Greens/EFA) an, um eine Fraktion der RechtspopulistInnen zu
verhindern (Fraktionsgröße im EU-Parlament hat man erst ab 75 Sitzen).
Satirisch wie eh und je verkaufte DIE PARTEI diesen taktischen Schachzug damit,
dass Semsrott sich die Fraktion der Grünen „einverleibt“ hätte.

Sonneborn twitterte daraufhin, er würde weiterhin beim
„Abschaum des Parlaments“, den fraktionslosen Abgeordneten, bleiben – sich allerdings
am Ende der Fraktionsbildungsfrist der meistbietenden anschließen. Nun mag man
das Ganze witzig finden. Dass sie sich trotz manch witziger Enthüllung über den
Politbetrieb in Brüssel den Grünen anschließt, zeigt, dass einem/r trotz
reichlich Satire das Lachen im Hals steckenbleibt.




Grüne: Einzeltäter Palmer?

Frederik Haber, Frederik Haber, Infomail 1053, 3. Mai 2019

Alexander
Gauland steht hinter Boris Palmer. Der AfD-Führer will nicht-weiße Menschen in
Deutschland nicht sehen, der Tübinger Oberbürgermeister nicht auf der Werbung
der Deutschen Bahn. Gauland ist bekennender Rassist. Palmer ist kein Rassist –
sagt Boris Palmer.

Palmer behauptet, dass ihn nur störe, dass überproportional viel „dunkelhäutige Menschen“ die Bahn-Reklame schmücken. Und er habe nichts gegen MigrantInnen. Dumm nur, dass einer dieser Menschen Stuttgarter ist und auf den selten migrantischen Namen Müller hört. Palmer hat den Rassismus so verinnerlicht, dass er mit seiner Verteidigung gegen den Rassismus-Vorwurf genau diesen belegt: Nicht-Weiße gleich MigrantInnen – das zeigt, wie sehr er den Rassismus verinnerlicht hat.

Tatsächlich sind
in der Werbung Nicht-Weiße und erst recht MigrantInnen stark
unterrepräsentiert. Andreas Baetzgen, Professor für Werbung und Marktkommunikation,
stellt fest, dass „es die erkennbare Tendenz eines Konsumenten gibt, der jung,
attraktiv, wohlhabend und weiß ist.“ (Stuttgarter Zeitung, 25.4.19) Wenn es
Palmer tatsächlich um die wirklichkeitsnahe Repräsentation der Bevölkerung in
der Werbung ginge, hätte er etwas gegen die Flut an weißen, meist blonden
Parship-Models in der Werbung sagen können.

Aber Palmer hat sich keinen „Ausrutscher“ geleistet, er ist Wiederholungstäter. Er hat sich auch schon über Asylbewerber beschwert, die „blonde Professorentöchter“ belästigen würden. Kopftücher wollte er verbieten lassen. Schon Anfang August 2015 forderte er, Abschiebungen von abgelehnten AsylbewerberInnen mitzutragen und sichere Herkunftsländer neu zu definieren. Er spielte „wirtschaftliche Gründe“ gegen Flucht vor Krieg aus. Außerdem habe Deutschland „nicht Platz für alle“. Es sei ein Fehler, in Erstaufnahmeeinrichtungen Geld- statt Sachleistungen zu zahlen, das habe zu steigenden Flüchtlingszahlen aus dem Balkan geführt. Der Gipfel war seine Forderung, die EU-Außengrenzen notfalls bewaffnet zu schließen – noch bevor Beatrix von Storch an der Grenze schießen lassen wollte.

Anfang dieses
Jahres begann er gegen „StörerInnen“ und „Tunichtgute“ im öffentlichen Raum zu
hetzen und vorzugehen, was selbst vom CDU-geführten Landesinnenministerium als
unrechtmäßig angesehen wurde und auf breiten Widerstand von sozialen und
humanitären Organisationen traf.

Palmer und die
Grünen

In der Grünen
Partei stößt solche Politik auf breite Ablehnung. Jetzt wurde auch die
Forderung nach Ausschluss aus der Partei laut. Viele Mitglieder fragen, was er
eigentlich bei den Grünen will.

Boris Palmer hatte in der Tat keine Geschichte als politischer Aktivist. Er war von Anfang an auf Karriere aus. Dazu half ihm der Ruhm seines Vaters Helmut, der als „Remstal-Rebell“ ständig Aktionen gegen politische Fehlentscheidungen und bürokratischen Unsinn durchführte, dabei Festnahmen und Verurteilungen in Kauf nahm. Palmers Vater war ein später Vertreter des südwestdeutschen aufsässigen Kleinbauern- bzw. KleinbürgerInnentums, das in den Bauernkriegen und in der Revolution von 1848 Geschichte gemacht hatte. Der Sohn war ein Jahr nach dem Parteieintritt bereits im Kreisvorstand und 5 Jahre später im Landtag. Der wusste immer, wo es warm herauskommt.

Interessanter
als die Frage, was Palmer bei den Grünen wollte oder will, ist aber die, was
die Grünen von ihm wollen.

Palmer war der
Protegé des Alt-Realos Rezzo Schlauch, der zeitgleich, etwa 1996, mit der Gewinnung
von Palmer für die Grünen auch die Parole ausgab, man solle nicht immer nur auf
die SPD als mögliche Koalitionspartnerin schauen, sondern eher auf die CDU. Zu
einer Zeit also, wo die erste Beteiligung der Grünen an einer Bundesregierung
noch Zukunftsmusik war, plante Rechtsausleger Schlauch schon Schwarz-Grün.

Sollen Palmers
Provokationen wieder das Eis für heute noch Undenkbares brechen? Koalitionen
mit der CSU in Bayern oder mit der CDU im Osten? Der AfD mit Rassismus das
Wasser abgraben wollen? Und wer steht heute hinter ihm? Ministerpräsident
Kretschmann vielleicht?

Im Moment ist
schwer zu entscheiden, ob Palmer im Sinne von im Hintergrund waltenden
Strukturen agiert. Sicher ist, dass es zu viele sind, die mit Biedermeiermiene
brandstiften, die ihren Rassismus mit „Sachthemen“ verkleistern. Sie müssen
bekämpft werden! In Tübingen und überall.




Abbruch der Jamaika-Verhandlungen – Politische Krise in Berlin

Susanne Kühn, Infomail 973, 20. November 2017

Gescheitert! Schwarz-Gelb-Grün wird vorerst keine Regierung bilden. Kurz vor Mitternacht verließ die FDP die Sondierungsgespräche – laut Union und Grünen just zu einem Zeitpunkt, als eine Einigung nahe schien.

Das mag durchaus der Fall sein. Die Begründung der FPD, dass ihr erst Sonntagnacht auffiel, dass das „Gesamtpapier“, das schon am Freitag vorlag, ihren Überzeugungen und „Prinzipien“ widerspreche, mag glauben, wer will. Die „Rekonstruktion“ und Rechtfertigung des Scheiterns der Verhandlungen überlassen wir an dieser Stelle getrost anderen. Es ist auch nicht notwendig, die Differenzen auf einzelnen Politikfeldern zu wiederholen, die über die Wochen immer wieder v. a. zum Migration, Klima, aber auch zu Finanzen und Zukunft der EU hervortraten.

Bemerkenswert ist vielmehr, dass Union und Grüne anscheinend vor einer Einigung standen, als die FDP für alle überraschend die Verhandlungen platzen ließ. Die Grünen warfen ihr vor, eine gemeinsame Regierung ohnedies nicht gewollt zu haben. CDU-Vertreterin Klöckner sprach von einer schlechten „spontanen Inszenierung“. In selten trauter Einigkeit lobten Seehofer und die Grünen Angela Merkel. Ob nun die FDP die Hauptverantwortung für das Platzen der Jamaika-Koalition trägt oder ihr „nur“ ebendies in die Schuhe geschoben werden soll, ist letztlich zweitrangig. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sie scheiterte, obwohl die Grünen der CSU anscheinend noch weitere Zugeständnisse gemacht haben. Ob die FDP nun aus rein taktischem Eigeninteresse motiviert die Koalition platzen ließ und plötzlich ihre Werte, freien Markt kombiniert mit Nationalismus, „entdeckte“ – hinter diesen Formeln offenbart sich auch eine tiefe politische Krise im gesamten bürgerlichen Lager.

Unwahrscheinlich war das Scheitern der Gespräche nicht, dessen konkrete Form aber schon. Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, dass Jamaika an „zu wenig Vertrauen“, am Mangel an „staatspolitischer Verantwortung“, an „mangelnder Kompromissfähigkeit“, an der „angeschlagenen Autorität“ Merkels, am Machtkampf in der CSU, am „Unwillen“ der FDP gescheitert sei. Diese Faktoren spielten natürlich eine Rolle. Es scheinen nebensächliche, triviale Faktoren zu sein, die maßgeblich das Scheitern herbeiführten. So sehr die handelnden Personen auch Banalität, Egomanie, unterschiedliche „Kultur“ verkörpern, so erklärt das aber letztlich nichts.

Widersprüche

Vielmehr gilt es, die tieferen Ursachen, die inneren Widersprüche des deutschen Kapitalismus zu verstehen, die in einem immer einigermaßen wahrscheinlich gebliebenen, in der Form jedoch überraschenden, ja zufälligen Ende der Sondierung hervorgetreten sind. Dies ist umso wichtiger, als die AkteurInnen selbst jede Menge Nebelkerzen über ihr eigenes Handeln, ihre Motive, den Stand der Verhandlungen in die Welt setzen – und selbst wesentlich an oberflächlichen Fragen hängenbleiben.

Hinter dem Zusammenbruch der Sondierungsgespräche steht eine tiefe strategische Krise der herrschenden Klasse. Unter den Regierungen Merkels vermochte der deutsche Imperialismus zwar Ländern wie Griechenland seine Austeritätspolitik aufzuzwingen, seine Krise auf Kosten der anderen Länder der EU abzufangen, die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt zu halten, wenn nicht zu stärken. Aber er konnte die EU nicht als Block unter seiner Führung oder einer deutsch-französischen Achse weiter einen. Im Gegenteil, in der internationalen Konkurrenz und im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt sind die EU und Deutschland als geo-strategische Akteure gegenüber den USA und China, ja auch Russland zurückgefallen. Der Hauptgegensatz zwischen den imperialistischen Großmächten ist mittlerweile der zwischen den USA und China, während die EU in ihrem aktuellen Zustand weiter zurückbleibt.

Brexit, die sog. „Flüchtlingsfrage“, die zunehmenden nationalistischen Gegensätze, die ungelösten Konflikte über die Finanzpolitik, die militärische wie politische Schwäche gegenüber den globalen Konkurrenten, die inneren Widersprüche der EU-Institutionen – all das bedeutet, dass der deutsche Imperialismus in einer widersprüchlichen Situation steckt. In den letzten Jahren wurde zwar offenbar, dass es einer neuen, klaren europapolitischen Strategie zu einer Vereinheitlichung der EU unter deutscher Führung (z. B. in Form eines Kerneuropa) bedarf, um zu verhindern, dass die EU weiter hinterhertrabt oder Euro und Staatenbund überhaupt auseinanderfliegen.

Aber der „geschäftsführende Ausschuss“ der herrschenden Klasse und die deutschen Think-Tanks haben keine einheitliche Antwort auf die Frage, ja sie wird in der Regel nicht einmal offen diskutiert. Das „System Merkel“, das die deutsche Vormachtstellung „moderierend“ in Europa einführen wollte, das sich vor allem auf das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und auf die Dominanz von EU-Institutionen verließ, ist praktisch gescheitert. Das ist die eigentliche Ursache seines „Autoritätsverlustes“. Das hat zugleich reaktionäre Antworten gestärkt – insbesondere in Form der AfD, aber auch im gesamten bürgerlichen Lager.

 

Dieses fundamentale Problem, das alle anderen „großen Themen“ und „Zukunftsfragen“ wie Klimaschutz, Flüchtlingspolitik, Digitalisierung überschattet, erscheint in der deutschen „offiziellen“ Politik als mehr oder minder über den Parteien stehend. Nur Linkspartei und AfD beziehen hier offen und zumindest partiell Gegenpositionen aus reformistischer oder rechter Sicht. Ansonsten erschien das EU-Thema in den Koalitionsverhandlungen allenfalls als „Zahlungsfrage“ – die strategische Zielsetzung wurde öffentlich nicht angesprochen.

Die Regierungen unter Merkel haben – gerade weil sie auch Erfolge des deutschen Kapitals verwalteten und die Exportindustrie befeuerten – die strategischen Probleme zunehmend vor sich hergeschoben oder sind an den inneren Gegensätzen der EU, ihren Widersprüchen an Grenzen gestoßen.

Fragmentierung des Parteiensystems

Auch wenn die EU-Frage nach außen hin relativ wenig Erwähnung fand, so machte sie sich nichtsdestotrotz bei den Verhandlungen geltend. Alle „PartnerInnen“ fürchteten, dass ein „Weitermachen“ unter Merkel IV mit denselben politischen Zielen und Methoden nicht nur kein Problem lösen, sondern sie selbst auch politisch schwächen würde. Zudem sitzt der CSU die AfD im Nacken und die FDP fürchtet, in einer neuen Regierung wieder über den Tisch gezogen zu werden. Die Grünen erwiesen sich als die „Beweglichsten“ – nicht nur wegen ihres Opportunismus und Rechtsrucks, sondern auch weil sie politisch-inhaltlich Merkel und dem Teil der CDU, der hinter ihr steht, tatsächlich näher als CSU und FDP stehen.

Die Verhandlungen fanden zudem vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Polarisierung im Inneren statt, die die Bindekraft von CDU/CSU und SPD bei ihren „traditionellen“ Milieus schwächte. Da die SPD ohnedies die Politik der herrschenden Klasse administrierte und die Linkspartei zu keiner kämpferischen, sichtbaren Oppositionspolitik fähig war, verschob sich das politische Spektrum nach rechts. Nicht nur die SPD verlor Millionen Lohnabhängige. Die Krise der CDU/CSU führte dazu, dass sie ihre Funktion als vereinheitlichende bürgerliche „Volkspartei“ nicht mehr erfüllen kann. Das offen bürgerliche Spektrum ist heute de facto auf fünf Parteien (AfD, CDU, CSU, Grüne, FDP) im Parlament zersplittert, was objektiv die Bildung von Regierungen erschwert.

Das Scheitern der Sondierungsgespräche bedeutet eine tiefe politische Krise nicht nur in Deutschland. Auch als EU-Führungsmacht wird die Bundesrepublik wenig bis gar nicht in Erscheinung treten können. Natürlich werden „Reformen“ und Gesetze auf den Weg gebracht. Natürlich dominiert Deutschland weiter. Aber die grundlegenden Fragen liegen auf Eis – und damit wird sie weiter gegenüber USA und China an Boden verlieren.

Das Scheitern der Sondierung bringt alle diese Probleme in Form einer Regierungskrise auf den Tisch. Katerstimmung und Ratlosigkeit herrschen vor. Alle möglichen Kombinationen werden aufgezählt – von einer Minderheitsregierung über das Weichkochen der SPD bis hin zu Neuwahlen.

In dieser Situation wird, gewissermaßen als Nebenprodukt, unwillkürlich die Rolle des Bundespräsidenten gestärkt, der lange Zeit als eine bloß „moralische“ Instanz, als eine Art Grüßdirektor des deutschen Imperialismus erschien. Auch wenn von Steinmeier keine politischen Abenteuer zu erwarten sind, so wird seine Präsidentschaft wohl damit einhergehen, dass sich die Rolle des Amtes, ihre Bedeutung für die Regierungsbildung verändert. Ein „aktiver“ Präsident wird gestärkt, mag er sich vorerst auch nur auf moralische Appelle beschränken, die Parteien an ihre „Verantwortung für das Land“ zu erinnern. Damit werden autoritäre Tendenzen und Institutionen hoffähig gemacht, die zum Einsatz kommen können, falls auf parlamentarischem Wege oder durch das Handeln der Parteien die Probleme der Regierungsbildung nicht gelöst werden können.

In den nächsten Monaten müssen wir uns auf eine Fortsetzung der Regierungskrise einstellen. Wahrscheinlich wird die Große Koalition noch bis weit ins Jahr 2018 „übergangsweise“ im Amt bleiben. Das könnte selbst bei Neuwahlen zutreffen, da diese wahrscheinlich zu einem ähnlichen Ergebnis – und damit zu erneuten Schwierigkeiten bei der Koalitionsbildung – führen würden. Auch wenn sich die Kräfte deutlich verschieben, so erleichtert das keinesfalls notwendig die Regierungsbildung.

Hinzu kommt, dass es in mehreren politischen Parteien zu größeren personellen Änderungen und Machtkämpfen kommen kann. So erscheint eine Verschärfung der inneren Krise der CSU unvermeidlich. Auch die Grünen werden ihr Führungsduo in Frage stellen. Ebenfalls kann bei Neuwahlen eine Ablösung Angela Merkels zum Thema werden. Schon heute hält sich sich vor allem, weil ein sofortiger Rücktritt Deutschland weiter schwächen würde und die CDU über keine/n unumstrittene/n NachfolgekandidatIn verfügt. Es ist aber klar, dass Merkel von der ewigen Kanzlerin zum Auslaufmodell mutiert ist.

Eine Neuauflage der Großen Koalition – unwahrscheinlich, wenn auch nicht ganz auszuschließen – käme nicht nur einem politischen Selbstmord der SPD gleich. Es ist auch fraglich, ob sie ohne tiefe Krise der Sozialdemokratie überhaupt zu haben wäre – und somit ebenfalls eine instabile Regierung bedeuten würde.

Schließlich bleibt eine Minderheitsregierung, die jedoch nur Bestand haben könnte, wenn sie nicht nur von CDU/CSU (eventuell einschließlich der Grünen) getragen würde, sondern vermittelt über den Präsidenten, Bundestag und Bundesrat auch eine indirekte Stütze in der SPD z. B. bei Europafragen hätte.

Wie man es auch dreht und wendet, für die herrschende Klasse wird die Krise nur schwer lösbar sein. Für die ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften, die Unterdrückten eröffnet das auch eine Chance. Damit diese genutzt werden kann und nicht zu einer Stärkung der AfD führt, bedarf es aber einer politischen Neuausrichtung der ArbeiterInnenbewegung selbst, eines Bruchs mit der Politik von Klassenzusammenarbeit und Sozialpartnerschaft sowie der Bildung einer Aktionseinheit gegen die Angriffe des Kapitals, die Maßnahmen der „geschäftsführenden“ Regierung und gegen den Rechtsruck.




Große Koalition abgewählt – übernimmt Schwarz/Gelb/Grün?

Martin Suchanek, Neue Internationale 223, Oktober 2017

Ein politisches Erdbeben wurde es dann doch. Auch wenn die Gebäude oder Institutionen der Bundesrepublik nicht eingestürzt sind, erschüttert wurden sie, auch wenn Merkel mit einer neuen Regierungskoalition weitermachen wird.

Die bürgerlichen Parteien

Abgewählt wurde die Große Koalition, deren Parteien verloren 13,8 Prozent der Stimmen, sackten also von insgesamt 67,2 Prozent auf 53,5 Prozent ab (1).

Allen Verlusten zum Trotz verkündet die CDU, dass sie ihre drei „strategischen Wahlziele“ errungen habe, also weiter die stärkste Partei und Fraktion stellt, gegen die keine Regierung gebildet werden könne und dass sie außerdem Rot-Rot-Grün verhindert hätte. Solcherart kann sich die Union trotz des Verlustes von 8,6 Prozent zur Wahlsiegerin erklären, immerhin bleibt ihr die Führung der nächsten Regierung. In Wirklichkeit dient eine solche „Bilanz“ offenkundig vor allem dem Schönreden der eigenen Niederlage.

AfD und FPD hingegen waren vor unverhohlenem Triumphalismus kaum zu bremsen. Im nationalen Überschwang verkündete AfD-Vorsitzender Gauland nicht nur, dass seine Partei die Regierung jagen werde, sondern auch noch, dass sie sich das „Land und das Volk“ zurückholen würde. Sprachlich war das zwar einigermaßen verunglückt. Klar ist aber, worum es der AfD geht – nicht das „eigene“ Volk soll zurückgeholt werden, vielmehr sollen jene, die nach Meinung der AfD nicht zu diesem gehören, aus dem Land vertrieben oder eingedeutscht werden.

Was die AfD an rassistischer Zuspitzung verspricht, will die FDP an der Regierung in Sachen „Liberalismus“, also an Privatisierungen, Flexibilisierung und neo-liberaler Politik, „einbringen“. Frei ist das Land, nämlich vor allem dann, wenn die großen Unternehmen und Konzerne frei für die Profitmacherei sind – notfalls auch auf Kosten der Umwelt und der Bevölkerung, wie die Verteidigung des Braunkohlebergbaus und der wahnwitzige Lobbyismus für den innerstädtischen Berliner Flughafen Tegel zeigen.

Dabei geht der Sieg der FDP, immerhin eine Verdoppelung ihrer Prozente und Stimmen, auch auf einen „taktischen“ Wechsel von früheren Union-WählerInnen zurück.

Die Grünen zeigten, dass man sich auch über den letzten Platz im Rennen um Parlamentssitze freuen kann – mag es auch nicht immer so überzeugend gelingen. In der nächsten Regierung stehen sie für „Umwelt“, „Offenheit“ und „Europa“. Mit Europa ist die „demokratische“ Vertiefung der EU in Allianz mit Frankreich zum Wohle „der europäischen Wirtschaft“ gemeint. Unter Umwelt geht es um den „ökologischen Umbau“ im Rahmen eines Green New Deal mit der Großindustrie. Und unter „Offenheit“ verstehen sie die „faire“ Selektion der MigrantInnen und die humanitäre Ausgestaltung der Abschiebung.

All das ist eine Basis für zähe, aber letztlich wohl erfolgreiche Koalitionsverhandlungen zwischen Union, Grünen und FDP. Eine neue Regierung wird wahrscheinlich erst nach längeren Verhandlungen zustande kommen, zu einem „Gelingen“ des Unternehmens haben aber diese drei Parteien schon jetzt keine Alternative mehr.

Der Grund dafür ist einfach: Diese drei Parteien stehen in wesentlichen Fragen für eine Fortsetzung, allenfalls für eine Modifikation der Politik der Großen Koalition. Vor allem aber stehen sie dafür, dass die Lösung der Krise der EU eine, ja die Kernaufgabe der nächsten Bundesregierung sein wird. Wobei es darum geht, den „Kern“ Europas, also die Achse um Frankreich und Deutschland zu stärken und verlorenes Terrain in der Weltpolitik gegenüber den USA und China aufzuholen – wozu notwendigerweise auch Aufrüstung, Interventionen, verstärktes globales Agieren und die Sicherung der Investitionsbedürfnisse des Großkapitals gehören.

Verliererin SPD

Nur eine Partei vermochte am Wahlabend an ihrer Niederlage nichts zu deuten – die SPD. Sie verlor 5,2 Prozent der Stimmen und fuhr mit 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg ein. In absoluten Zahlen verlor sie fast zwei Millionen WählerInnen.

Die Niederlage kam zwar angesichts der Umfragen weniger überraschend als die Einbußen der Union. Aber die Union hatte 2013 immerhin ein extrem starkes Ergebnis (plus 7,7 Prozent), während die SPD sich von der Agenda-Politik bis heute nicht zu erholen vermochte.

Offenkundig hatte die Parteispitze dieses Debakel schon einkalkuliert. So verkündete sie kurz nach den ersten Hochrechungen, dass sie für eine Fortsetzung der Großen Koalition nicht zur Verfügung stünde. So war Schulz wenigstens ein Wahl-Coup gelungen.

Der Gang in die Opposition blieb ihr als einzige Möglichkeit, den finalen politischen Selbstmord zu verhindern – ob sie sich in dieser zu regenerieren vermag, ist allerdings fraglich. Die „Taktik“, so zu tun, als wäre nur die CDU für die Regierungspolitik und den Mangel an politischer Debatte im Land verantwortlich gewesen, wird wohl erst recht nicht als „Strategie“ reichen.

Die Verluste der SPD sind zweifellos wohlverdient und vor allem auf dem eigenen Mist gewachsen. In den Altersgruppen unter 45 schnitt sie nach Umfragen noch einmal stark unterdurchschnittlich ab (19 Prozent bei den 18-24-Jährigen, 18 bei den 25-35-Jährigen und 16 Prozent bei den 25-44-Jährigen).

Bei den ArbeiterInnen (24 Prozent), RentnerInnen (24 Prozent) und Arbeitslosen (23 Prozent) ist sie zwar überdurchschnittlich stark vertreten – aber auf einem historisch geringen Niveau. Es sind aber jene Teile der Bevölkerung, die der SPD noch eher die Stange hielten als Angestellte oder gar Selbstständige. Es liegt eine gewisse – unfreiwillige – Ironie darin, dass jene Schichten, die sie in den letzten Jahren immer wieder verraten hat, noch eher zu ihr hielten als die viel umworbene „Mitte“.

Erhebungen unter Gewerkschaftsmitgliedern (2) zeigen, dass die SPD mit 29 Prozent noch immer den höchsten Anteil erzielen konnte. Die Union erreichte im Landesdurchschnitt 20, die Linkspartei 12 Prozentpunkte. Damit lag sie aber nur auf dem vierten Platz – hinter der AfD, die 15 Prozent erzielen konnte. Im Osten kommt sie ebenso wie die Linkspartei unter Gewerkschaftsmitgliedern auf 22 Prozent – gegenüber 24 Prozent der Union und 18 der SPD. Allein das ist ein politisches Alarmsignal.

Das drückt sich z. T. auch in den Wählerwanderungen aus. Die SPD verlor fast nichts an die Union, aber 380.000 Menschen an die Grünen und 470.000 an die FDP. Das dürften eher Angestellte und Selbstständige gewesen sein. Sie verlor zugleich 470.000 an die AfD, was sicher auch den erschreckend hohen Anteil von ArbeiterInnen und Arbeitslosen an den AfD-Stimmen miterklärt. An die Linkspartei wanderten 430.000 ehemalige SPD-WählerInnen, vor allem im Westen, wo die Linkspartei weit überdurchschnittlich abschnitt.

Zweifellos sind gerade an diese Parteien auch Stimmen des Protests und der Unzufriedenheit verloren gegangen, nachdem klar geworden war, dass die SPD ohnedies keine Regierungsoption zu bieten hatte. Sie haben gewissermaßen taktisch gegen die Sozialdemokratie gestimmt, aber aus durchaus entgegensetzten Motiven. Die Stimmen der AfD brachten zwar sicher auch Unzufriedenheit mit allen anderen Parteien zum Ausdruck, sie waren aber auch eine Stimme für mehr, offeneren und unverhüllten Rassismus und Nationalismus, wie die Umfragen zu den Motiven der AfD-WählerInnen zeigen.

Die Linkspartei wurde aus anderen Gründen – im Grunde als Zeichen für eine „echte“ sozialdemokratische Politik, für Reformen im Interesse der ArbeiterInnen und Jugend gewählt.

Die Linkspartei

Betrachten wir nur die Stimmenanteile der Linkspartei, so scheint sich mit einem Plus von 0,6 Prozent (8,6 auf 9,2) wenig verändert zu haben. Dahinter verbergen sich jedoch enorme Veränderungen innerhalb ihrer WählerInnenschaft.

Erstens hat DIE LINKE in den neuen Bundesländern, also ihren traditionellen Bastionen, durchgängig verloren und ist auf den dritten Rang hinter CDU und AfD abgerutscht. Damit wird eine Entwicklung fortgesetzt, die sich schon in den Landtagswahlen (insbesondere in Berlin) gezeigt hatte. Hinsichtlich der Wählerwanderungen drückt sich das deutlich in Verlusten an die AfD aus – und zwar rund 400.000!

Zugleich hat die Linkspartei in allen westlichen Bundesländern sowie in Berlin zugelegt – und zwar durchaus beachtlich. In Berlin konnten die Verluste in den Ostbezirken durch Gewinne in den westlichen Bezirken kompensiert werden, so dass die Partei gegenüber den Bundestagswahlen 2013 leicht zulegen konnte. DIE LINKE schaffte es außerdem in allen westlichen Bundesländern, deutlich über die 5-Prozenthürde zu kommen, sogar in Ländern wie Bayern (6,2 Prozent), Baden-Württemberg (6,4), Rheinland-Pfalz (6,8) oder Nordrhein-Westfalen (7,5), wo sie bei den Landtagswahlen deutlich gescheitert war.

Sicherlich ist ein Teil dieser Stimmen auch auf taktisches Verhalten sozialdemokratischer WählerInnen zurückzuführen, die für die Linkspartei stimmten, da die SPD ohnedies keine Chance auf die Kanzlerschaft hatte und ihre Stimme somit auch nicht „verschwendet“ werden würde.

Das Wahlergebnis zeigt aber auch den Wandel an der sozialen Basis der Partei auf, Auch wenn die Linkspartei nur leicht überdurchschnittlich ArbeiterInnen (10 Prozent), Arbeitslose (11 Prozent) ansprechen konnte, so repräsentiert sie die bewussteren, (links)reformistischen Teile der ArbeiterInnenklasse. Hinzu kommt, dass sie unter jüngeren WählerInnen (18-34 Jahre) mit 11 Prozent besser als unter allen anderen Altersgruppen abschneidet.

Zweifellos haben die relative Stabilität des deutschen Imperialismus, das geringere Niveau gewerkschaftlicher Kämpfe und Niederlagen der Refugee-Bewegungen die Chancen der Linkspartei geschmälert. Ein Rechtsruck der Gesellschaft erschwert durchaus auch das Anwachsen links-reformistischer Parteien, zumal wenn große Teile der ArbeiterInnenklasse sozialpartnerschaftlich integriert sind und das Niveau der Klassenkämpfe relativ gering ist.

Trotz leichter Zuwächse vermocht die Linkspartei der vorhandenen Unzufriedenheit keinen umfassenden Ausdruck zu geben und konnte die Krise der SPD weniger als möglich nutzen. Die Gründe dafür sind hausgemacht, sie sind Resultat von Anpassung und Anbiederung. Erstens an die rassistische und chauvinistische Hetze gegen Geflüchtete, wie sie auch von „Linken“ wie Wagenknecht verbreitet wurde, zweitens an die Gewerkschaftsführungen, die allenfalls zaghaft kritisiert werden, und an den „demokratischen“ Mainstream, wie im Zuge von Distanzierungen nach dem G20-Gipfel zu sehen war. Und drittens in der Regierungspolitik in Thüringen, Berlin, Brandenburg. Dass die Partei vielen nicht gerade als „oppositionell“ erscheint, ist kein „Vermittlungsproblem“, sondern, wenn auch im kleineren Maßstab, ähnlich wie bei der SPD die notwendige Folge bürgerlicher Regierungspolitik, der Verwaltung sog. Sachzwänge.

Aufstieg der AfD

Zweifellos hat die AfD davon – noch viel mehr natürlich von der Politik der SPD – profitiert. Die beiden, sich historisch und organisch auf die ArbeiterInnenklasse stützenden Parteien verloren insgesamt 870.000 WählerInnen an die Rechts-PopulistInnen, also fast so viele wie die Union (980.000). Darüber hinaus hat sie mit 1,2 Millionen Stimmen als einzige Partei ehemalige NichtwählerInnen wirklich mobilisieren können.

Die AfD konnte sich als einzige „anti-systemische“ Partei präsentieren und damit auch Unzufriedenheit aller Art auf sich kanalisieren. Aber die Umfragen, die zeigen, dass eine Mehrheit der AfD-WählerInnen die Rechten nicht wegen ihrer Politik, sondern vor allem wegen der Ablehnung anderer Parteien wählte, sind kein Grund zur Entwarnung.

Der „Protest“ ist eindeutig mit einem politischen Inhalt verbunden. Die WählerInnen der AfD nehmen deren offenen Rassismus und aggressiven Deutschnationalismus nicht nur billigend in Kauf, viele wählen sie auch gerade deshalb.

Das zeigten z. B. Umfragen über die Ansichten der AfD-WählerInnen am Wahlabend. So erklärten 99 Prozent, dass sie gut finden, dass die AfD „den Einfluss des Islam in Deutschland verringern will“. 96 Prozent „finden es gut, dass sie den Zuzug von Flüchtlingen stärker begrenzen will.“ Zu diesen Einstellungen kommt hinzu, dass die AfD als beste Law-and-Order-Partei erscheint, die Kriminalität – vorzugsweise von AusländerInnen – wirklich bekämpfen wolle.

Außerdem treibt ihre WählerInnen um, dass wir angeblich „einen Verlust der deutschen Kultur erleben“ (95 Prozent) und der „Einfluss des Islam in Deutschland zu stark wird“ (94 Prozent).

Rassismus und – zunehmend auch völkisch begründeter – Nationalismus bilden den Kitt der AfD. Vermeintliche und wirkliche Ängste werden so zu einer aggressiven chauvinistischen, rechten Ideologie verbunden, die heute zwar noch vor allem parlamentarisch ausgerichtet ist, die sich jedoch auch weiter radikalisieren kann, wie die Verbindungen der AfD zu offen faschistischen Kräften zeigen.

Auch wenn diese Partei noch um einiges von der Stärke einer FPÖ oder FN entfernt ist, so hat sich zweifellos eine rechts-populistische, rassistische Partei in Deutschland etabliert. Diese wird sich – gerade angesichts der globalen politischen Verwerfungen und verschärften Konkurrenz – auch trotz innerer Konflikte und (noch) fehlender unumstrittener Führungsfigur – kaum „selbst zerlegen“. Erst recht wird sie nicht durch den Parlamentarismus „entzaubert“ werden. Im Gegenteil. Die Politik der nächsten Regierung wird ihr Stoff geben, sich als Opposition aufzuspielen, zumal wenn SPD und Linkspartei den Fehler machen sollten, den Kampf gegen die Regierung zugunsten der imaginären Einheit der „DemokratInnen“ hintanzustellen.

Die AfD ist kein Fremdkörper in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die Entstehung einer rechts-populistischen Partei verdeutlich die krisenhaften Prozesse, die – schon vor einer ökonomischen Zuspitzung – aus dem Untersten der Gesellschaft empordrängen.

Nationalismus, Chauvinismus, Bevorzugung der Deutschen, Abschottung gegen MigrantInnen, anti-muslimischer Rassismus – all das sind keine Alleinstellungsmerkmale der AfD, sondern in allen bürgerlichen Parteien vertreten und in der Form des Sozial-Chauvinismus auch bei SPD und Linkspartei. Die AfD erntet diese Früchte, die andere gesät haben.

Die Mobilisierung gegen die AfD und ihren Rassismus darf daher nicht als eine vom Klassenkampf getrennte Aufgabe verstanden werden. So wie es gilt, der rechten, rassistischen Hetze entgegenzutreten, so muss das mit dem Kampf gegen den staatlichen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte, aber auch mit der „sozialen Frage“, also für Mindestlohn, Rente, gleichen Zugang zu Bildung, gegen Mietenspekulation usw. verbunden werden.

Es braucht aber auch einen bewussten Kampf gegen das Gift von Rassismus und Nationalismus in den Reihen der ArbeiterInnenklasse, in den Betrieben, an Unis und Schulen.

Regierungsbildung – das Problem des Unvermeidlichen

Ein von der nächsten Regierung unabhängiger Kurs der Linken und der Gewerkschaften ist eine unabdingbare Voraussetzung nicht nur für einen erfolgreichen Kampf gegen die AfD und die Stimmungen, auf die sie sich stützt.

Die Niederlage der Union, aber auch die Schwierigkeiten, eine Jamaika-Koalition rasch auf die Beine zu bringen, zeigen auch, dass es für die herrschende Klasse einen zweiten, wichtigeren Grund als den Aufstieg der AfD für Beunruhigung gibt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich das Parteienspektrum in Westdeutschland lange praktisch auf drei Parteien verengt. Schon die Entstehung der Linkspartei und der Grünen unterminierte das. Mit der AfD kam noch eine Kraft hinzu.

So sehr sich aber auch CDU, CSU, Grüne, FDP sowie die SPD in wichtigen Zielsetzungen – gerade wenn es um die Ordnung Europas geht – ähneln, so sind ihre Gegensätze auch real und nicht wahltaktisch vorgeschoben. Das trifft nicht nur auf FPD und Grüne zu, die beide gerne mit der Union (wenn auch nicht miteinander) koalieren möchten, sondern auch auf CDU/CSU. Gerade in der Europapolitik orientieren die CDU-Führung und auch die Grünen auf einen Pakt mit Macron, die FDP ist zwar nicht grundsätzlich dagegen, lehnt dafür aber seine finanzpolitischen Vorschläge kategorisch ab. Ähnliches gilt für andere Politikfelder.

Hinzu kommt, dass gerade FDP und Grüne, aber angesichts ihres katastrophalen Wahlergebnisses und baldiger Landtagswahlen auch die CSU, um ihre „Alleinstellungsmerkmale“ fürchten.

Die Verhandlungen werden noch zusätzlich erschwert, weil es für den deutschen Imperialismus angesichts der verschärften globalen Konkurrenz und der Krise der EU auch darum geht, dass die nächste Regierung eine klarere Strategie verfolgt, um die EU unter deutscher Führung zu „einen“ und neu zu formieren. Formelkompromisse mögen daher zwar im Koalitionsschacher funktionieren, für die strategischen Zielsetzungen Deutschlands wären sie aber selbst ein Problem.

Die Weigerung der SPD, in Verhandlungen mit der Union einzutreten, zwingt die drei anderen Parteien praktisch zu einer Koalitionsbildung. Kein Wunder, dass alle auf die SPD schlecht zu sprechen sind, engt deren Entscheidung ihre Optionen doch massiv ein.

Während Merkel und die Union die SozialdemokratInnen höflich ums Überdenken ihrer Haltung auffordern, macht es die FDP schriller. So wirft ihr Parteivorsitzender Lindner der SPD Landesverrat vor, da sie erstmals seit 1919 die Interessen der Partei über jene des Landes stelle.

Dass die SozialdemokratInnen so weit gehen, doch noch Koalitionswilligkeit zu signalisieren, um den Spielraum der FDP beim Jamaika-Poker zu erhöhen, darf bezweifelt werden, auch wenn die Partei für ihre selbstmörderische Entscheidungen immer wieder zu haben war.

Hinter der Aufregung ob der „harten“ Haltung der SPD zeigt sich aber mehr. Die Bourgeoisie möchte die Option auf eine „große“ Koalition, auf eine zweite Wahl für den Fall innerer Zerwürfnisse von CDU/CSU, Grünen und FDP offenhalten.

In den nächsten Jahren will die herrschende Klasse kein Szenario, das zu mehr Polarisierung zwischen den Klassen, zu einer „härteren“ Sozialdemokratie oder auch zu einer weniger regierungsnahen Politik der Gewerkschaften führt.

In der Ablehnung der Großen Koalition liegt nämlich – durchaus entgegen den Intentionen aller SPD-FührerInnen – ein Moment, das auf mehr Konfrontation entlang sozialer und ökonomischer Fragen verweist. Wenn sie irgendwie „Glaubwürdigkeit“ zurückgewinnen wollen, „soziale Gerechtigkeit“ in den Vordergrund rücken, dann müssen sie sich als Opposition nicht nur zur Regierung präsentieren, sie müssen sich auch der Konkurrenz der Linkspartei stellen – wie diese umgekehrt aufpassen muss, dass ihr die SPD ihr sozialdemokratisches Programm nicht einfach klaut.

Einige Schlussfolgerungen

Die kurzen Betrachtungen führen zu einigen ersten Schlussfolgerungen.

  1. Die Wahlen sind eine Warnung an die Linke und an die ArbeiterInnenbewegung. Sie bringen einen Rechtsruck der Gesellschaft zum Ausdruck. Der Sieg der AfD und ihre Hetze ist nur der extremste Ausdruck. Der triumphale Widereinzug der FDP ist das ebenso wie die Rechtsentwicklung der Grünen.
  2. Die Verhältnisse sind zugleich auch instabiler geworden. Wir müssen damit rechnen, dass die Krise Europas, die instabile Weltlage, aber auch die Drohung eines weiteren Zulaufs zur AfD als Disziplinierungsmittel nicht nur in der Regierung, sondern auch gegenüber der parlamentarischen Opposition und den Gewerkschaften genutzt wird, indem die „Einheit der Demokraten“ beschworen wird.
  3. Daher gilt es nicht nur, den offenen RassistInnen auf der Straße, in den Betrieben, in Stadt und Land konfrontativ entgegenzutreten – es muss dies durch Klassenpolitik, durch ein Bündnis der ArbeiterInnenorganisationen, der MigrantInnen und Flüchtlinge, der Gewerkschaften und Linken, nicht durch gemeinsame Erklärungen mit der Regierung geschehen.
  4. Der Kampf gegen die Angriffe der nächsten Regierung, auf sozialer, gewerkschaftlicher, vor allem aber auch internationaler Ebene muss im Zentrum linker Politik stehen. Die aktuelle Lage erfordert und ermöglicht, den Widerstand nicht nur auf nationaler Ebene, sondern vor allem auch auf europäischer und internationaler zu koordinieren. Gerade von der Linkspartei und den Gewerkschaften – respektiven deren linkeren Kräften – ist hier eine entschlossene Initiative gefordert, die es erlaubt, den Kampf in Frankreich, den Widerstand in Katalonien, den Kampf gegen Militarisierung, Interventionen und die Abschottung der EU koordiniert zu führen.
  5. Daher schlagen wir eine Aktionskonferenz vor, auf der die Politik der nächsten Regierung analysiert und ein Forderungs- und Mobilisierungsplan verabschiedet wird. Dazu sollten vorbereitende Treffen in allen Großstädten, an Schulen, Unis und in den Betrieben und Gewerkschaftsgruppen stattfinden.

 

Endnoten

(1) Die Zahlen beziehen sich auf das vorläufige amtliche Ergebnis vom 25. September. Diese und andere Zahlen sind der Homepage der Tagesschau entnommen. Einzige Ausnahme bilden die Zahlen zur WählerInnenpräferenz von Gewerkschaftsmitgliedern.

(2) Bundestagswahl 2017: So haben Gewerkschaftsmitglieder gewählt

 




Die offen bürgerlichen Parteien – Größeres Angebot

 

Jürgen Roth, Neue Internatinale 222, September 2017

Die Krise der EU hat – trotz relativer Stabilität in Deutschland – in der letzten Legislaturperiode auch zu einem mehr oder minder offen ausgetragenen Richtungsstreit in der herrschenden Klasse geführt. Auch wenn heute Angela Merkel wieder als die einzig mögliche Kanzlerin erscheint, so war sie erstmals seit ihrem Amtsantritt politisch angeschlagen.

Die Konflikte in der Union, der „Wiederaufstieg“ der FDP, die AfD und auch die Grünen spiegeln dabei eben auch unterschiedliche Kapitalfraktionen und Konflikte um die zukünftige Strategie des deutschen Imperialismus wieder, die unvermeidlich auch in der kommenden Periode offen in Erscheinung treten müssen.

Die Union

Nach dem klaren Wahlerfolg 2013 hat die CDU/CSU zunächst Wahlniederlagen eingefahren. Ein Grund für diese wie auch für den Aufstieg der AfD war die kurzfristige, scheinbare Abkehr der CDU von ihrer traditionellen Asylpolitik während des Spätsommers 2015. Als Merkel drei Wochen lang „großzügig“ die Grenzen v. a. für syrische Geflüchtete öffnen ließ, entstanden Risse zwischen den „Schwesterparteien“, aber auch Unmut an der mittleren und unteren CDU-Basis. Während die Geflüchteten kamen, profilierte sich die CSU quasi als Rechtsopposition in der Großen Koalition.

Die CDU sonnte sich in dieser Zeit auf der breiten Unterstützung durch SPD, Grüne und „Zivilgesellschaft“ für ihre Politik der „offenen Grenzen“. Doch im Wahljahr 2017 präsentiert die Union sich wieder geeint. Das reichte, um der SPD zwei Landesregierungen abzunehmen.

Die Gründung der CDU war die Lehre, die das Großbürgertum aus der zersplitterten Parteienlandschaft der Weimarer Republik zog und der sie die Hauptschuld für den Aufstieg der NSDAP zuschob. Diese offen bürgerliche Partei neuen Typs vereinte zunächst das gesamte konservative und nationale Lager mit der christlichen ArbeiterInnenschaft der Zentrumspartei, später stieß der rechte nationalliberale Flügel aus der FDP dazu. Die sich sozialer, aber auch rechter gebärdende CSU konnte der Bayernpartei den Rang ablaufen, damit den eingefleischten regionalen Partikularismus überwinden. Die nachholende Industrialisierung dieses Bundeslands federte sie sozial geschickt ab. Das ist das Geheimnis hinter ihrer unangefochtenen Vorherrschaft seit Ende der 1950er Jahre.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern steht die Union als politisches Flaggschiff des Monopolkapitals stabil da. In Frankreich und Italien sind die großen offen bürgerlichen Parteien untergegangen. Doch auch in Deutschland ist es schwierig geworden, eine Regierung aus zwei Parteien sogar mit dieser Union zu bilden. Ende der 1960er Jahre deutete dagegen alles auf ein Zweiparteienparlament hin, heute sind schon 5, demnächst 6 vertreten. Im Gefolge der nächsten Krise, der zunehmenden Konzentrationsprozesse, die den Untergang schwächerer Kapitale nach sich ziehen werden, wird aber auch die Union unter Druck geraten und ihre Existenz auf den Prüfstand gestellt werden. Ihr Zerfall würde eine Krise ersten Ranges für die Monopolbourgeoisie bedeuten.

Auch das erklärt, warum die verschiedenen Flügel der CDU/CSU ihre Konflikte begrenzen. Der deutsche Imperialismus setzt zur Zeit auf eine klar dominierende bürgerliche Partei, um die herum jedoch zunehmen mehr „Optionen“ gruppiert werden können, die sowohl die SPD als bürgerliche ArbeiterInnenpartei wie kleinere offen bürgerliche Parteien einschließen. Kurzfristig jedenfalls ist daher die Aufsplitterung der Parteienlandschaft für die herrschende Klasse kein allzu großes Problem, ja eröffnet auch Optionen. Entscheidend wird dabei freilich, ob und wie sehr die nächste, wahrscheinlich von der CDU-geführte Regierung in der Lage sein wird, die Gesamtinteressen des deutschen Kapitals international substantiell voranzubringen.

Die AfD

2015 rückte die AfD deutlich nach rechts, der islamophobe, rassistische und nationalistische Flügel trat geeint gegen den „nur“ neoliberalen Lucke-Flügel an und übernahm danach die Partei. In der Phase der Krise von CDU/CSU konnte die AfD enorme Wahlerfolge erreichen und sich trotz schwerer innerer Führungskämpfe im Parteienspektrum etablieren. Ähnlich der FPÖ mobilisiert sie die kleinen und mittleren Selbstständigen und FreiberuflerInnen, aber auch diejenigen Teile der ArbeiterInnenklasse, welche sozialen Abstieg erlebt haben oder sich vor diesem fürchten. Das betrifft diejenigen im Hartz-IV- und Niedriglohnbereich, aber auch die gutverdienenden Schichten.

Während Petry und Pretzell eher für gesichtslosen, rassistisch geprägten Rechtspopulismus stehen, wollen Poggenburg und Höcke die AfD als nationalistische Kraft etablieren, völkische Ideologie weiter verbreiten und nach rechts öffnen. Dahinter stehen letztlich unterschiedliche Auffassungen über die Funktion der AfD. Soll sie als zukünftige Koalitionspartnerin der CDU diese auf einen „echten“ konservativen Kurs bringen, muss sie eine gewisse bürgerliche „Respektabilität“ vorweisen. Die andere Option besteht darin, die AfD als rechts-radikale, nationalistische Massenpartei zu etablieren – eine Option, die bei einer Verschärfung sozialer Gegensätze und Klassenkämpfe auch für das Kapital interessant werden könnte.

Im Gegensatz zu ihrer Propaganda, die „den deutschen Arbeiter“ beschwört, ist rassistische und neoliberale Sozialpolitik das Programm, worauf sich die gesamte Partei einigen kann.

Die FDP

Die zeitweilige Schwäche der Union, aber auch der rechtsnationale Trend in der AfD haben der FDP geholfen, sich wieder als „Alternative“ für Kleinbürgertum, Mittelstand und Großkapital anzubieten – sei es durch Zweitstimmen von der Union oder, dass die AfD eben die neoliberalen, kleinbürgerlichen Schichten/Eliten nun weniger vertritt.

Die FDP ist aktuell wieder in 9 Landesparlamenten vertreten. Zunächst hatte sie ihr „linksliberales“ Profil bei Bürgerrechten und Datenschutz schärfen wollen. Damit gebärdet sich die FDP zusätzlich auch offen für Ampelkoalitionen bzw. solche mit der SPD und Schwarz-Grün („Jamaika“variante).

In Zeiten einer schleichenden Weimarisierung der Parteienlandschaft braucht das Großkapital die kleinen Parteien (FDP, Grüne) ohne einen ständisch organisierten Massenanhang wie die Union umso dringender. Sie können z. B. ein flexibles Scharnier zwischen offen bürgerlichem Lager und den reformistischen ArbeiterInnenparteien bilden wie unter den sozialliberalen bzw. rot/grünen Koalitionen, wo sie leichter und schneller Reformen im Bildungssektor und Arbeitsrecht durchsetzen konnten, als es die Unionsparteien vermochten. Die Kanzlerschaft Kohls wurde im Gegenzug durch das rasche Umschwenken der FDP ermöglicht.

Der wahrscheinliche Wiedereinzug der FDP in den Bundestag ist daher keineswegs nur als eine konjunkturelle Entwicklung zu verstehen. Diese Partei muss wenig bis keine Rücksicht auf schlechter verdienende Bevölkerungsgruppen nehmen – sie ist somit „freier“ als jede andere Partei, offen und ungeschminkt Kapitalinteressen und neo-liberale Politik zu vertreten: ein nützliches „Korrektiv“ für die herrschende Klasse gegenüber den „Volksparteien“.

Die Grünen

Nach den gescheiterten Sondierungen 2013 mit der Union haben die Grünen auf Landesebene ihre Verwendbarkeit für Koalitionen mit der Union erneut nachgewiesen, auch mit „rechten“ CDU-Landesverbänden (Baden-Württemberg, Hessen). Sicherlich ist eine von den Grünen geführte Koalition wie in Baden-Württemberg eine Ausnahmeerscheinung, aber auch Beweis ihrer extremen Flexibilität. Kretschmann war im Bundesrat eine verlässliche Stütze der Regierungspolitik Merkels, zeitweise mehr als die CSU. Somit haben sich die Grünen in Stellung für eine unionsgeführte Bundesregierung gebracht.

Nicht viel übrig geblieben ist vom Image der Partei, die die meisten „radikalen“ Linken jahrzehntelang „links“ von der SPD verorteten. An der Bundesregierung (1998-2005) wurden der Jugoslawienkrieg in der Partei durchgesetzt und die Agenda 2010 mitgetragen. Seitdem gehen die Grünen immer klarer in die bürgerliche Mitte, sind in Fragen der Steuer- und Wirtschaftspolitik ein Pendant zur FDP geworden, wenn auch mit Fokus auf andere (klein-)bürgerliche Schichten („alternative Energien“ z. B.). In Fragen der Austeritätspolitik haben die Grünen sich auf die Seite der EU gestellt, Abschiebungen afghanischer Geflüchteter sind zumindest in Baden-Württemberg an der Tagesordnung.

In gewisser Weise konkurrieren die Grünen mit der FDP um die Position als Mehrheitsbeschafferin. Rechtsausleger wie der Tübinger Bürgermeister Palmer vertreten offen AfD-Positionen zur Flüchtlingsfrage. Auch das Zerplatzen der Koalition in Niedersachsen zeigt, wie sehr diese Partei sich dem bürgerlichen konservativen Milieus angenähert hat.

Zu den entscheidenden Themen aktuell wie Rechtsruck, Zukunft der EU, sozialer Frage hat diese Partei keine Alternative zum Programm der CDU/CSU oder SPD anzubieten. Die letzten 35 Jahre zeigten, wie schnell eine „radikale“ Partei der kritischen Intelligenz in den offen bürgerlichen Mainstream integriert werden konnte.




Wahlen in Nordrhein-Westfalen: Drei zu Null für die CDU

Martin Suchanek, Neue Internationale 220, Juni 2017

Drei Landtagswahlen, drei Kraftproben, drei Niederlagen – so die verheerende Bilanz der SPD. Die Bundestagswahlen scheinen für die Sozialdemokratie verloren, noch bevor der Wahlkampf begonnen hat.

Anfang 2017 hatte die SPD um ihren neuen Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Schulz noch erklärt, dass die Siege in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen nur Schritte zur Eroberung des Kanzleramts wären. Der „Schulzeffekt“ sollte die Partei zu einem neuen Hoch spülen. In der Sozialdemokratie war so etwas wie Aufbruchstimmung zu spüren.

Schon die Niederlage im Saarland war ein erster Fingerzeig, wurde jedoch heruntergespielt. Schließlich hatte die SPD auf der vermeintlichen Erfolgswelle nur ein Prozent verloren. An Ausreden fehlte es nicht bei der Erklärung für die Niederlage. Der Bonus der Ministerpräsidentin wäre eben dieser zugutegekommen, die Union hätte einen „schmutzigen“ Wahlkampf betrieben und die saarländische SPD zu offen mit einer Koalition mit der Linkspartei geliebäugelt.

Dann kam Kiel – und die Niederlage fiel schon herber aus. Die SPD verlor 3,2 Prozent und sackte auf 27,2 Prozent ab. Die CDU hingegen konnte zulegen auf 32 Prozent (plus 1,2). Wahlsieger war auch in Schleswig-Holstein schon die FDP, die mit 11,5 Prozent in den Landtag einzog. Halten konnten sich die Grünen mit 12,9 Prozent, die AfD erhielt 5,9 und die Linkspartei verfehlte trotz Stimmengewinnen (plus 1,5 Prozent) mit 3,8 Prozent den Einzug in den Landtag. Die Piratenpartei, politisch ohnedies längst von der Bildfläche verschwunden, ging unter (von 7,0 auf 1,2 Prozent).

In Nordrhein-Westfalen verstärkte sich der Trend. Die CDU errang mit ihrem Spitzenmann Laschet ein Plus von 6,7 Prozent und wurde mit 33 Prozent stärkste Partei. Die Sozialdemokratie hingegen verlor 7,9 Prozent und fuhr mit 31,2 in ihrem „Stammland“, in dem sie fast über die gesamte Nachkriegsperiode die Landesregierung anführte, das schlechteste Ergebnis seit 1945 ein. Hinzu kam, dass auch der ehemalige Koalitionspartner der SPD, die Grünen, praktisch halbiert wurden und von 11,3 auf 6,4 Prozent absackten. Sie wurden von der AfD, die aus dem Stand auf 7,4 Prozent kam, und vor allem von der FDP überflügelt, die mit 12,6 Prozent klar drittstärkste Partei wurde. Die Linkspartei konnte ihr Ergebnis zwar verdoppeln (2012: 2,5 Prozent), scheiterte mit 4,9 Prozent aber knapp an der 5-Prozent-Hürde.

Das ermöglicht nach Schleswig-Holstein auch in Nordrhein-Westfalen die Bildung einer CDU-FDP-Regierung.

Gründe für das SPD-Debakel

Die Gründe für die katastrophalen Wahlergebnisse der SPD sind nicht schwer zu finden. Mag zwar das Ausmaß des Einbruchs in Nordrhein-Westfalen überraschen, so erscheinen die Niederlagen insgesamt eigentlich nur angesichts des sog. „Schulz-Effekts“ verwunderlich. Die SPD ist in den Umfragen nun wieder dort, wo sie unter seinem Vorgänger Gabriel war.

Im Grunde sind sie das verdiente Resultat für die übliche sozialdemokratische Arbeit in der Großen Koalition auf Bundesebene, in der die SPD brav im Windschatten der CDU segelt, ohne eigenes Profil, ohne eigene Initiative.

Hinzu kam die zum Teil stümperhafte Politik der SPD-Grünen-Regierungen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. So vermochten es CDU und FPD, die Landesregierung für ihre Schulpolitik in die Defensive zu treiben und ihr die Verantwortung für das Scheitern des „Turboabis“ – ursprünglich eigentlich ein Projekt von CDU und FDP – in die Schuhe zu schieben

Auch fortschrittliche Reformen wie die Einführung von Integrationsschulen wurden wegen Unterfinanzierung und fehlender Lehrkräfte in der Praxis in den Sand gesetzt und boten CDU, FDP und AfD einen Vorwand zur Popularisierung ihrer „leistungsbezogenen“ und selektiven Schulmodelle.

Auf dem Gebiet der „inneren Sicherheit“ wurden SPD und Grüne von den Konservativen und Rechten – auch mithilfe der Medien – vorgeführt. Die CDU setzte in Nordrhein-Westfalen bewusst auf erzkonservative „Sicherheitspolitiker“ wie Bosbach, der als Zuarbeiter der zukünftigen Landesregierung für mehr Überwachung zuständig sein soll. Im Klartext: Es geht um mehr rassistisches Profiling von angeblich kriminellen MigrantInnen und Geflüchteten, um mehr flächendeckende Überwachung, um verstärkte Ausgrenzung, mehr und raschere Abschiebungen. Damit soll einerseits weiter der AfD das Wasser abgegraben werden. Andererseits sollen der „weltoffene“ Ministerpräsident Laschet, ein Unterstützer Merkels in der CDU-Führung, und die FDP für die „liberale“ Begleitmusik sorgen.

Die SPD (und die Grünen) konnte(n) bei diesen Fragen von CDU, FDP und AfD so leicht vor sich hergetrieben werden, weil sie selbst keine substanzielle Alternative verkörpern. Die Schulpolitik soll irgendwie allen helfen – die „Wirtschaft belasten“ soll sie aber auch nicht. Schließlich soll die Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb nicht gefährdet werden.

All das konnte der „Schulz-Effekt“ nicht deckeln. Dass er so schnell verpufft ist, liegt jedoch nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie an verfehlter Landespolitik. Es liegt vor allem daran, dass Schulz außer Luftnummern und Gelaber von „sozialer Gerechtigkeit“ nicht viel zu bieten hat. Einen Bruch mit der SPD-Politik der letzten Jahre, ja Jahrzehnte will er keinesfalls. Agenda 2010 und Hartz-Gesetze sollen schließlich nur „nachgebessert“, sozialer, nicht abgeschafft werden.

Es ist daher kein Wunder, dass die SPD bei den ArbeiterInnen im Ruhrgebiet drastisch verloren hat. In proletarischen Wahlkreisen verlor die SPD teilweise bis zu 15 Prozent und sackte unter die 50-Prozent-Marke ab. Das ist noch immer viel, aber viel weniger als noch vor fünf Jahren. Diese WählerInnen wechselten oft nach rechts, zur rassistischen AfD. Wählerstromanalysen (http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2017-05-14-LT-DE-NW/index.shtml; alle folgenden Zahlen aus dieser Quelle) zufolge gewann sie rund 50.000 Stimmen von der SPD. Auch wenn die SPD in Nordrhein-Westfalen noch immer überdurchschnittlich unter Arbeitslosen (38 Prozent) und ArbeiterInnen (34 Prozent) abschnitt, so konnte unter den ArbeiterInnen auch die AfD massiv punkten (17 Prozent). Die SPD verlor aber nicht in erste Linie an die AfD, sondern an die CDU – rund 300.000 WählerInnen. Unter den Angestellten hat die CDU (30 Prozent) die SPD (31 Prozent) fast eingeholt.

All das verdeutlicht, dass die traditionelle ArbeiterInnenbasis der SPD weiter bröckelt. Diese kann zwar kurzzeitig reaktiviert werden, wie der Schulz-Hype auch gezeigt hat, weil dahinter auch ein Bedürfnis nach einer „echten“ sozialdemokratischen Reformpolitik steckt. Aber die tradierten, engen Bindungen werden weiter deutlich schwächer und können auch nicht nur durch ein Zusammenrücken von SPD, Gewerkschaftsführung und Apparat erneuert werden.

Eigentlich wären das gute Bedingungen für die Linkspartei. Diese hat auch zulegen und trotz des Scheiterns an der 5-Prozenthürde einen bescheidenen Wahlerfolg erringen können. Bescheiden nicht so sehr, weil sie jetzt nicht im Parlament vertreten ist. Bescheiden vielmehr, weil die Linkspartei schon einmal stärker war. Von 2010 – 2012 hatte sie die SPD-Grünen-Regierung geduldet, war bei den Landtagswahlen 2012 auf 2,5 Prozent abgestürzt und hatte mehr als die Hälfe der Stimmen verloren. Das konnte sie nunmehr fast wieder aufholen. Mehr aber auch nicht. Bei den Ergebnissen der Linkspartei zeigt sich jedoch, dass sie unter Arbeitslosen (10 Prozent) und ArbeiterInnen (8 Prozent) überdurchschnittlich abschnitt. In einigen ArbeiterInnenbezirken in den Großstädten kam sie auf bis zu 15 Prozent, während sie in den ländlichen und kleinstädtischen Regionen sehr wenig Fuß fassen konnte. Die Linkspartei schnitt mit 8 Prozent überdurchschnittlich gut bei jüngeren Menschen (unter 25) ab, während sie bei den RentnerInnen schwächer war – ein deutlich anderes Profil als in den ostdeutschen Stammländern der Linkspartei.

Wie bei der SPD so drückt sich jedoch auch bei der Linkspartei der Spagat zwischen Reformversprechen für die Lohnabhängigen einerseits und der Orientierung auf Beteiligung an einer bürgerlichen Koalitionsregierung samt dementsprechender „Abstriche“ vom Reformprogramm andererseits aus. Das ist ein Grund, warum sie von der Krise der SPD viel weniger profitiert als rechte oder konservative Parteien, ja selbst als die neo-liberale Pressure-Group FDP.

Auch wenn die AfD bei den letzten drei Wahlen unter der 10-Prozent-Marke blieb, so wäre Entwarnung verfehlt. In Nordrhein-Westfalen und den anderen Bundesländern konnte sie trotz der inneren Konflikte locker ins Parlament einziehen. Sie steht weiter als rassistische und rechts-konservative Alternativoption zur Verfügung – im Moment ist sie aber eindeutig keine bevorzugte Koalitionspartnerin fürs Bürgertum.

Wahlsieg von CDU und FDP

Nordrhein-Westfalen (und auch Schleswig-Holstein) kennen, was vor wenigen Monaten noch überrascht hätte, zwei Wahlsiegerinnen: CDU und FDP.

Die CDU gewann aufgrund der höheren Wahlbeteiligung absolut und relativ deutlich an Stimmen. Nur an FDP und AfD hat sie jeweils 50.000 Stimmen abgeben müssen. Von der SPD gewann sie aber 310.000, von den Grünen 90.000 und von den NichtwählerInnen gar 440.000.

Auch die FDP konnte sich nicht nur von SPD (plus 160.000) und CDU (plus 50.000) Stimmen holen, sie schnitt unter „Selbstständigen“, aber auch unter ErstwählerInnen und AkademikerInnen besonders gut ab – und trug ihrem Ruf als Partei der vermeintlichen LeistungsträgerInnen Rechnung.

Bei allen Unterschieden von CDU und FDP sowie der zur Schau gestellten Eigenständigkeit der FDP ist diese (wie auch die Grünen) letztlich eine Scharnierpartei, eine Mehrheitsbeschafferin für eine größere Kraft.

Die Ergebnisse von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein eröffnen für die Bundestagswahl eine schon überlebt geglaubte Koalitionsoption – eine CDU/CSU-FDP-Regierung. Die Grünen können hier noch als Zusatzpartner für das ökologische Gewissen einsteigen. In jedem Fall ergibt sich daraus eine alternative Option zu einer Großen Koalition, während eine SPD-geführte Regierung in weite Ferne gerückt ist.

Fällt es leicht zu erklären, warum die SPD nach dem Schulz-Hype einbrach, so scheint es schwerer, die Erfolge der CDU und der FDP zu verstehen. Dazu gibt es wohl mehrere Faktoren:

Die CDU/CSU konnte die zentrifugalen Tendenzen nach dem Höhepunkt der sog. „Flüchtlingskrise“ in den Griff kriegen. Natürlich gibt es weiter Flügel in der Partei, aber bezüglich der Abschottung der EU nach außen, restriktiver und selektiver Migrationspolitik herrscht wieder Einigkeit. Dasselbe trifft bezüglich der Forcierung staatlicher Überwachung, des Ausbau der inneren Sicherheit, der Aufrüstung nach außen und der Erhöhung des Rüstungsetats zu.

Die Krise in der EU hat in vielen Ländern konservative, rechtspopulistische und rassistische Parteien – seien es die Tories in Britannien, die FN in Frankreich, FPÖ in Österreich usw. – gestärkt, die eine dezidiert nationalistische und anti-europäische Linie verfolgen. In Deutschland schwamm und schwimmt die AfD auf dieser Welle. Während Teile der Mittelschichten und des KleinbürgerInnentums, aber auch politisch rückständige ArbeiterInnen die Mehrheit der AnhängerInnen  solcher Parteien bilden, hat diese Gefahr andere Teile der „Mittelklassen“, des BildungsbürgerInnentums und auch der ArbeiterInnen dazu getrieben, nach einer „vernünftigen“ Alternative Ausschau zu halten.

Die traditionelle Sozialdemokratie, aber auch die Linksparteien in Europa vermögen das nicht oder nur kurzfristig, bevor sie an die inneren Widersprüche ihrer Politik stoßen. Die „radikale“ Linke ist zu schwach und verfügt auch über keine klare Alternative. So präsentieren sich „Liberale“ wie Macron und Lindner oder eine Konservative wie Merkel als RetterInnen in der Not, als GarantInnen von Stabilität, sozialem „Ausgleich“, Demokratie und Humanismus.  CDU und FPD – entschiedene Parteien des deutschen Großkapitals, seiner Weltmarktambitionen und Großmachtbestrebungen – präsentieren sich als Anker der „Stabilität“, von Ruhe, Ordnung und Export.

Dem deutschen Imperialismus kommt dabei zugute, dass das Land in den letzten Jahren gegenüber seinen europäischen KonkurrentInnen ökonomisch stärker geworden ist. Kosten der kapitalistischen Krise konnten anderen aufgehalst werden Damit bestand und besteht auch eine Grundlage für die Integration von Teilen der ArbeiterInnenklasse – vor allem den Beschäftigten in der Exportindustrie – in ein System der Sozial- und Wettbewerbspartnerschaft.

Die CDU hat jedoch gegenüber der SPD den Vorteil, dass sie sich als glaubwürdigere Sachwalterin einer solchen Politik verkaufen kann. Wer braucht Martin Schulz, wenn es Angela Merkel schon gibt.

Tsipras und Corbyn erhielten Zulauf, weil sie wirklich einen Bruch mit ihren Vorgängerregierungen versprachen. Die griechische Regierung kapitulierte vor der Troika, aber sie musste von dieser auch wirklich in die Knie gezwungen werden. Corbyn rückt zur Zeit immer mehr nach rechts unter dem Druck der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Parteirechten. Er ist dabei zu kapitulieren – aber er und vor allem seine AnhängerInnen werden bis jetzt als Bedrohung wahrgenommen und wirklich bekämpft.

Schulz muss nicht kapitulieren. Er hat ohnedies nie mehr versprochen, als die Politik der Großen Koalition unter seiner Führung und etwas „sozialer“ und „gerechter“ fortzuführen. Das Strohfeuer, das er entfacht hat, scheint schon jetzt verloschen, die Wahlkampfmunition verschossen, bevor es überhaupt losgeht. Schulz erscheint nicht als Alternative zu Merkel, sondern allenfalls als Konkurrent um das Amt des Vizekanzlers.

Dabei darf nicht übersehen werden, dass in CDU und CSU der rechte Law-and-Order-Flügel gestärkt wurde. Merkel hat sich diesem angenähert. Zum anderen ist die FPD gestärkt, weil sie als zuverlässiges und bewährtes neo-liberales Druckmittel auf die CDU/CSU für das Kapital notwendig ist.

Auch das entspricht einer Rechtsverschiebung im politischen Spektrum, die für die herrschende Klasse auch die Option einer aggressiveren, neo-liberaleren Regierungskonstellation eröffnet, sollte diese erforderlich werden.

Für das Kapital ist der Sieg der CDU/FDP in Nordrhein-Westfalen zweifellos ein Grund zu Freude. Die Entwicklungen in den Niederlanden und Frankreich eröffnen gemeinsam mit einer „stabilen“ Merkel-geführten Bundesregierung die Option, Europa – und sei dies zuerst vor allem Kerneuropa – doch noch im Sinne des deutschen Großkapitals neu zu ordnen.

Die damit unvermeidlich einhergehenden Verwerfungen werden wieder jene Rechten und NationalistInnen auf den Plan rufen, zu denen sich CDU, FPD, SPD, Grüne als Alternative darbieten. Die Gefahr der AfD ist mitnichten gebannt, zumal die ArbeiterInnenklasse angesichts der falschen Alternative von sozialdemokratischer Nachtrabpolitik und nationalstaatlich fixierter Reformpolitik zerrieben zu werden droht. Ob „pro-europäischer“ oder „deutscher“ Nationalismus – Patriotismus und Nationalismus sind immer Gift für die ArbeiterInnenbewegung, gerade in einem der mächtigsten imperialistischen Länder.

Auch wenn der Stimmenzuwachs der Linkspartei die Suche von klassenbewussteren ArbeiterInnen, kämpferischen Jugendlichen und MigrantInnen nach einer Alternative zum Ausdruck bringt und damit auch ein Potential des Widerstandes, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie keine grundlegende Alternative zur sozialdemokratischen Politik der SPD zu bieten vermag. Genau eine solche, revolutionäre Alternative gilt es jedoch zu schaffen.