Bayrisches Polizeiaufgabengesetz: Gefahr für uns alle

Veronika Schulz, Neue Internationale 228, Mai 2018

Im Vorfeld des bayerischen Landtagswahlkampfs profiliert sich die CSU einmal mehr als Vorreiterin in Sachen Repression und Überwachungsstaat. Eine für Mai geplante Reform des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) ebnet den Weg zu ihrer militärischen Aufrüstung und zum massiven Ausbau der Kontrolle über BürgerInnen und ihre Privatsphäre. Die neuen Befugnisse heben die ohnehin nur scheinbare Trennung von Polizei und Geheimdiensten weiter auf und reihen sich nahtlos in die bereits umgesetzten Einschnitte in Grund- und Bürgerrechte der letzten Jahre ein.

Repressionswelle

Pünktlich vor dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg durfte sich die Polizei in ganz Deutschland über eine Ausweitung ihrer Befugnisse freuen: von „Integrationsgesetzen“ über die Verschärfung von §114 StGB bis hin zum sogenannten „Gefährdergesetz“ wurden nach und nach die Hürden für Strafverfolgung gesenkt.

So ist nun schon bei einer nicht näher definierten „drohenden Gefahr“ die Eingriffsschwelle für die Polizei gegeben, um – ohne richterlichen Beschluss! – eine Fülle von Maßnahmen anzuwenden: Einsatz von Bodycams (auch in Wohnungen), Ausweitung von Online-Durchsuchungen und Betreten der Wohnung zur Installation von Überwachungssoftware, intelligente Videoüberwachung, erweiterte DNA-Analyse mit Bestimmung der „biogenetischen Herkunft“ (racial profiling), Einsatz von Explosivmitteln wie Blend- oder Handgranaten und Maschinengewehren. Alles, was technisch möglich ist, wird durch das geplante Gesetz legalisiert.

Der Freistaat verfügt zurzeit laut Landespolizeipräsident Schmidbauer über keine bewaffneten Drohnen, ihr Einsatz wird durch das neue Gesetz auch ermöglicht. Dies alles ergänzt die bereits eingeführte präventive „Unendlichkeitshaft“ bei bloßem Verdacht, wobei lediglich alle drei Monate ein neuer richterlicher Beschluss erfolgen muss, ohne dass tatsächlich ein Strafverfahren gegen den/die Beschuldigte/n eröffnet wird. Außerdem kann die Polizei Kontaktverbote, Aufenthaltsgebote und -verbote aussprechen, aber auch Kontenpfändungen vornehmen.

Bei Haftstrafen ab drei Monaten wird die Lage für die Beschuldigten schnell existenzgefährdend, da Verlust von Arbeitsplatz und Wohnung vorprogrammiert sind – wohlgemerkt, auf bloßen Verdacht hin. Wenn dann auch noch die Konten gepfändet werden, kann der/die Beschuldigte froh sein, wenn er/sie anwaltlichen Beistand bekommt, den er/sie zunächst nicht einmal bezahlen kann. Kurz: Menschen, denen in keinster Weise Straftaten oder deren Vorbereitung nachgewiesen werden können, sind um ein Vielfaches schlechter gestellt als Verdächtige in Strafverfahren, so betreffs Schadensersatz, sollte sich die Polizei „geirrt“ haben.

Auch das aktuelle PAG sieht keine Rechtsbeschwerdemöglichkeiten vor. Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung, die Maßnahmen greifen sofort.

Statt eines Strafprozesses wird im Verfahrensfall auf Basis des „Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG) verhandelt. Ein Anspruch auf Pflichtverteidigung ist dabei nicht gegeben. Dadurch werden die Möglichkeiten für eine anwaltliche Verteidigung der Beschuldigten enorm erschwert. Während bei einem Strafprozess ein strenges Beweisverfahren vorgeschrieben ist und Ausnahmen begründet werden müssen, sieht das FamFG Ermessensentscheidungen vor, d. h. es bleibt den RichterInnen überlassen, ob sie Beweisen überhaupt nachgehen, wobei dies selbst dann nur „in geeigneter Form“ passieren muss. Auch die Akteneinsicht kann eingeschränkt werden, was eine Verteidigung und die Entkräftung von Vorwürfen schwer bis unmöglich macht.

Modell für die gesamte Bundesrepublik

Die CSU will sich vor der Landtagswahl, bei der ihre absolute Mehrheit auf dem Spiel steht, um jeden Preis als Garantin für innere „Sicherheit“ profilieren und versucht auf diesem Weg, sich die AfD als rechte Konkurrenz vom Hals zu halten. Landespolizeipräsident Schmidbauer rechtfertigt das geplante Polizeiaufgabengesetz als notwendig, Innenminister Herrmann und Ministerpräsident Söder rühmen die CSU als Vorreiterin, der es gelingt, das „härteste Polizeigesetz Deutschlands“ umzusetzen.

Bayern macht dabei nur den Anfang auf dem Weg zum deutschlandweiten Polizeistaat. Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Sachsen planen ähnliche Gesetze. Horst Seehofer als neuer Bundesinnenminister hat seinerseits selbstbewusst angekündigt, sich bayerische Maßstäbe für ganz Deutschland zum Vorbild zu nehmen. Der Grad der inneren Aufrüstung hat sich schon im letzten Jahr zum G20-Gipfel gezeigt, als in Hamburg Einsatzkräfte aus ganz Deutschland erfolgreich und mit Duldung von Bundesregierung und Hamburger Senat den Ausnahmezustand geprobt haben.

Nicht nur das PAG ist ein Angriff auf uns alle. Anwaltsverbände kritisieren die bereits vollzogene Verschärfung des §114 StGB als Sonderrecht für eine Berufsgruppe, die im Dienst des Staates steht. Vorgeblich um PolizistInnen besser zu schützen, wurde im Mai 2017 – rechtzeitig vor Gipfelbeginn in Hamburg – der „tätliche Angriff“ gegen VollstreckungsbeamtInnen neu definiert. Die Mindeststrafe ist eine Haftstrafe, wobei weder eine Verletzung vorliegen noch der Versuch dazu nachgewiesen werden muss. Die Hamburger Staatsanwaltschaft legte dies wie folgt aus: „Schon das gemeinsame Zugehen im Pulk auf Polizeibeamte stelle eine erhebliche Kraftentfaltung dar, die auf einen unmittelbaren körperlichen Zwang gerichtet sei. Einer tatsächlichen Berührung bedürfe es nicht.“

Bei diesem Szenario liegt das Mindeststrafmaß sogar bei 6 Monaten Haft, da hier von einem „gemeinschaftlichen tätlichen Angriff“ ausgegangen wird. Diese Interpretation durch Staatsanwaltschaften und Gerichte zeigt, wie ein Gesetzestext mit Leben gefüllt wird und welch massive Repression gegen jede Demonstration, jede Versammlung, jede Protestaktion, jeden Streik bereits jetzt befürchtet werden muss. Daher ist es auch und gerade im Sinne aller Gewerkschaften, sich gegen weitere Gesetze dieser Machart zur Wehr zu setzen.

Widerstand ist notwendig

Mitte Mai sollen der bayerische Landtag und der Ausschuss für Innere Sicherheit das Gesetz beschließen – in beiden hält die CSU die Mehrheit. Grüne und auch die SPD bauen auf das Verfassungsgericht, das die grundgesetzwidrigen Vorhaben kassieren soll. Das mag zwar einzelne Änderungen einfordern, die Verschärfung des Gesetzes, geschweige denn die bestehenden Befugnisse der Polizei und anderer Repressionsorgane lassen sich so nicht verhindern.

Was wir brauchen, um die weitere Militarisierung der bayerischen Polizei zu stoppen, ist eine entschiedene Opposition auf der Straße, in Betrieben, Schulen und an den Universitäten. Die Gewerkschaften machen – natürlich mit Ausnahme der reaktionären Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) im Deutschen Beamtenbund (DBB), die das Gesetz unterstützt (!), so der Vorsitzende ihres bayerischen Landesverbandes Rainer Nachtigall – den Anfang, indem sie für den 10. Mai zu einer Demonstration in München aufrufen. Dennoch darf sich der Protest gegen das PAG nicht auf Bayern beschränken und auch die Gewerkschaften müssen bundesweit dagegen mobilisieren. Es gilt, diesem unverhohlenen Angriff auf demokratische Rechte mit der drohenden Entwicklung zum Polizeistaat entgegenzutreten.

Die „drohende Gefahr“ ist das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz selbst! Lassen wir uns also weder einschüchtern noch spalten, unsere Solidarität gilt allen, die bereits von Repression betroffen sind.

  • Nein zum Polizeiaufgabengesetz! Keine Sonderschutzrechte für PolizistInnen!
  • Gewerkschaft der Polizei (GdP) – raus aus dem DGB!
  • Gegen willkürliche Kriminalisierung und Überwachung!
  • Gegen Polizeistaat und Aufrüstung – innen wie außen!



Bundesregierung: Neue Koalition, neuer Kampf

Tobi Hansen, Neue Internationale 227, April 2018

Am 14. März wurde Kanzlerin Merkel das vierte Mal vereidigt. Damit hat sie nun Adenauer und Kohl eingeholt. Ihr Abstimmungsergebnis fiel hingegen, gemessen an einer Großen Koalition (GroKo) aus Unionsparteien und SPD, erstaunlich schwach aus. 35 eigene Abgeordnete verweigerten Merkel die Ja-Stimme, so dass diese nur mit einer Mehrheit von 9 Stimmen gewählt wurde. 5 Monate nach der letzten Bundestagswahl kommt also die Neuauflage der vorherigen, abgewählten Regierung zustande. So lange hat keine Regierungsbildung in der BRD-Geschichte gebraucht. Auch saßen noch nie so viele (7) Parteien/Unionen im Parlament.

Bei vielen bürgerlichen Medien, aber auch der Linken wird die GroKo mit einem „Weiter so!“ charakterisiert. „Weiter so!“ geht höchstens ihr Abnutzungseffekt durch den Aufstieg der AfD.

Krise der Union – neuer Posten für „Heimat“

Dass bei der Regierungserklärung eine Unionskanzlerin den Innen-/Heimatminister zurechtweist und später der CSU-Landesgruppenvorsitzende Dobrindt ihr dabei widerspricht, ist für den deutschen Parlamentarismus und die GroKos der letzten Jahre schon bemerkenswert. Es zeigt, dass die Zerrissenheit der Union, welche seit 2015 unregelmäßig offen zutage tritt, sich von Anfang an auch in der neuen Regierung fortsetzen wird.

Der Streit ging darum, ob die Union die islamische Religion von ca. 4,5 Millionen EinwohnerInnen als „zugehörig“ zur deutschen Gesellschaft, Kultur, Geschichte usw. definieren soll. Heimatminister Seehofer hatte dies zum Auftakt seiner Amtsgeschäfte via „Bild“ verneint und damit den staatlichen, institutionellen Rassismus populistisch erneuern wollen. Die Zusatzbezeichnung „Heimat“ für sein Innenministerium scheiterte fast am Zuschnitt der Ministerien. Die Abteilung „Planung und Förderung ländlicher Raum“ blieb bei Landwirtschaftsministerin Klöckner, so bleibt Seehofer allein die Deutschtümelei als wahrnehmbare „Leistung“ für den Heimatbegriff.

Die real existierenden Probleme des ländlichen Raums – fehlende bzw. privatisierte Infrastruktur, unzureichende soziale Perspektiven – werden natürlich von keinem der beiden Ressorts angegangen. Also bleibt nur Raum für Rassismus und deutschtümelnde Folklore, wobei der bayerische Minister sicherlich auch noch regionale Akzente setzen möchte.

Für MarxistInnen besteht die Antwort auf die Frage, ob eine Religion zu einem Staat gehört, in der demokratischen Forderung nach Trennung von Staat und Kirche, wie wir auch jedem/r Einzelnen Glaubensfreiheit zugestehen. In genügend bürgerlichen Nationalstaaten existieren „Staatsreligionen“, herrscht also keine individuelle Glaubensfreiheit und auch in Deutschland ist die Trennung von Kirche und Staat alles andere als konsequent erfolgt (Religionsunterricht an staatlichen Schulen, Kirchensteuer usw.). Da wir gegen alle Privilegien sind, treten wir auch gegen die der christlichen Kirchen, im Vergleich zu anderen Religionen als Quasistaatsreligion zu fungieren, ein.

Spahn gegen alle

Innerhalb der Union war Seehofer gewissermaßen nicht nur in seiner „Heimat“ durch Söder unter Zugzwang geraten, hat doch in der Bundesregierung der „jung“konservative Gesundheitsminister Spahn bislang vor allem als offen rechter, neoliberaler Teil des Kabinetts von sich reden gemacht.

Hatte nach der Bundestagswahl der CSU-Landesgruppenchef Dobrindt noch halb vollmundig die „konservative Revolution“ verkündet, zeigt Minister Spahn, wie das geht. Beim Abtreibungsparagraphen 219a (Verbot der „Werbung“ für Abtreibung) greift er offen die BefürworterInnen der Streichung an. Manche von ihnen würden sich mehr für Tierrechte als für das ungeborene Leben einsetzen. Diese Art von Vergleichen, wie sie auch von Storch (AfD) draufhat, gehört zu den internationalen Erkennungszeichen dieser reaktionären Rechten.

Als Gesundheitsminister zeigt der bekennende Pharmalobbyist auch „klassisch neoliberale“ erste Duftmarken. Wir, die wir zum Arzt gehen, wenn wir krank sind, sollten doch einfach mal vorher überlegen, ob wir das wirklich müssen. Gilt diese Sorge auch für PrivatpatientInnen?

Bei häuslicher Pflege durch Angehörige ist dem Minister schon klar, dass das Pflegegeld nicht ausreicht für Pflegekräfte, weshalb alle in der Familie (auch Männer wie er?) anpacken sollen, um sich das unbezahlbare Pflegeheim zu „ersparen“. Wenn wir uns nur kurz an den Wahlkampf erinnern, schaffte es damals nur ein Thema neben AfD und Rassismus wirklich an die öffentliche Oberfläche: nämlich der miserable Zustand unseres Pflegesystems, die schlechten Löhne dort und das miserable Schicksal der Pflegebedürftigen. Als „Quittung“ dafür personifiziert nun Spahn den „Wettbewerb“ unter Branchenanbietern und -beschäftigten. Die anhaltende Bevorteilung der privaten Krankenversicherung trägt die SPD-Phantastereien einer „Bürgerversicherung“ zumindest für diese Legislatur zu Grabe.

Was sonst als „Sozialpolitik“ von diesem Flügel der Union zu erwarten ist, hatte Spahn zum Thema Hartz IV bereits am Anfang „seiner“ Pressekampagne als Neuminister kundgetan. Dadurch müsse keine/r in Armut leben, was selbst Finanzminister Scholz vom rechten SPD-Flügel zum Widerspruch nötigte.

Perspektive für den BRD-Imperialismus

Spahn wie auch Seehofer artikulieren die Interessen des bürgerlichen Flügels, der sich durch die neue GroKo ins Abseits gestellt sieht. Immerhin hatten die FAZ, aber auch konservative KommentatorInnen im „Spiegel“ den Koalitionsvertrag als weiteren Beweis für die „Sozialdemokratisierung“ Merkels und der Union dargestellt. Das Vorpreschen Spahns und der CSU zeigt offen den Widerspruch im eigenen Regierungslager. Dieser Flügel will die Union als Speerspitze neoliberaler Angriffe auch für die kommenden Legislaturen fit machen wie auch die Öffnung Richtung AfD beschleunigen, um stabile bürgerliche Mehrheiten rechts von der GroKo anzubahnen.

Gewissermaßen kommt Merkel in die gleiche Bredouille wie Kohl am Ende seiner Amtszeit. Der „große Wurf“ für das Großkapital bleibt derzeit aus. Es fehlt eine ideologisch-politische Vision für den deutschen Imperialismus. Das gilt am meisten für die EU, aber auch für die Innenpolitik. Merkel will den inneren gesellschaftlichen „Zusammenhalt“, es fehlt ihr aber die politische Offensive, um den aktuellen Status des deutschen Imperialismus zu erhalten, geschweige denn auszubauen. In Fragen der EU und der globalen Ambitionen verkommt die Kanzlerschaft Merkels immer mehr zu einem „Aussitzen“ und Stillhalten. Der rechte Koalitionsflügel setzt innenpolitisch in der Einwanderungsfrage verstärkt auf die Umsetzung der AfD-Forderungen. Außenpolitisch wird die Option, der EU mehr den Stempel der BRD-Dominanz aufzudrücken, deutlicher (gegen ein EU-Finanzministerium, „Transferunion“ und konzertierte öffentliche EU-Investitionsprogramme). Die Staatengemeinschaft muss Deutschland stärker folgen oder sie wird auseinanderbrechen (Kerneuropa).

Die SPD als Duckmäuserin

Zur Abschaffung des Paragraphen 219a, womit zuletzt auch wieder vor allem FrauenärztInnen konfrontiert waren, gab es vor der Kanzlerinwahl von SPD, FDP, Linkspartei und Grünen den Vorstoß, dessen Abschaffung doch einfach mal parlamentarisch per Mehrheit zu bewerkstelligen. Dagegen bremste SPD-Fraktionschefin Nahles ihre Fraktion aus und zog den Antrag zurück zugunsten einer weiteren Regierungskommission zum Thema.

Damit dürfte auch deutlich werden, wie sie als künftige Parteivorsitzende die „Erneuerung“ der SPD durchzuziehen gedenken wird. In der Fraktion werden alle auf die Linie eingenordet, welche den Koalitionspartnerinnen am wenigsten Schwierigkeiten bereitet. So wäre es durchaus auch für Nahles sinnvoll gewesen, den Antrag gegen 219a durchzusetzen. Damit hätte die SPD sich zumindest als Verteidigerin der FrauenärztInnen und Frauenrechte etwas in Szene setzen können und die Union hätte zusammen mit der AfD abgestimmt. Dass dann Finanzminister und Vizekanzler Scholz noch den ehemaligen Deutschlandchef von Goldman Sachs (und ehemaligen Jusovorsitzenden von Rheinland-Pfalz) zum „ersten“ Staatssekretär macht, rundet das desaströse Bild der SPD in der GroKo ab. Wenn „Erneuerung“ so beginnt, will niemand wissen, wie sie endet.

Innerhalb und außerhalb der SPD gründet sich derzeit die „Progressive Soziale Plattform“, welche z. B. vom Dortmunder MdB Bülow, der Berliner MdB Kiziltepe sowie Ex-Ministerin Däubler-Gmelin unterstützt wird. Ihnen geht es inhaltlich um eine stärkere und sichtbare Neuausrichtung der Sozial- und Arbeitspolitik der SPD. Wahrscheinlich versucht auch deswegen Bundesvize Stegner (früher oft als „Linker“ bezeichnet), derzeit sich mit der Forderung nach Abschaffung von Hartz IV wieder zu profilieren.

Aufgaben der GroKo und erste Kampffelder

Als Neuerungen zum Koalitionsvertrag kommen jetzt die Ideen von Hubertus Heil, dem neuen Arbeits- und Sozialminister. Wurde zuvor gemunkelt, die „Linken“ in der SPD könnten dieses Amt besetzen, so führt „Agendafan“ Heil dieselbe Politik fort. Hartz IV und dessen Schikanen konnten Langzeitarbeitslose nie wirklich in Arbeit bringen. Das heißt, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nach Jahren des sozialen Abstiegs, der erlittenen Armut kaum noch in der Lage sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, weil sie als nicht mehr „produktiv“ genug gelten. Hatte Ex-Kanzlerkandidat und -Vorsitzender Schulz noch mit einer möglichen „zusätzlichen“ Qualifizierung für diese Personengruppe geworben, sollen diese jetzt zu „gemeinnütziger“ Arbeit herangezogen werden. Neben den Ein-Euro-Jobs wird also noch eine weitere Zwangsmaßnahme eingeführt, ziemlich sicher auf Kosten regulärer, tariflich entlohnter Jobs.

Kanzlerin Merkel sprach in ihrer Regierungserklärung davon, die entstandenen Spaltungen der Gesellschaft aufheben zu wollen und einen neuen Zusammenhalt an Stelle derer zu setzen. Mit ihren Vorschlägen für Langzeitarbeitslose, der Beibehaltung der Leiharbeit wie auch der Zweiklassenmedizin (privat und gesetzlich Versicherte) setzt diese GroKo, entgegen allen warmen Worten, jedoch die soziale Spaltung fort. Sie sorgt dafür, dass Menschen überhaupt zu einer Tafel gehen müssen. Es ist das Hartz-IV-System, das Vollbeschäftigte gegen LeiharbeiterInnen und Ein-Euro-JobberInnen ausspielt und an der Tafel dann die Passkontrolle zur rassistischen Selektion von Armut einführen will – diese Spaltlinien verfestigen sich mit jeder Bundesregierung, keine hat daran was geändert.

Als Hauptauftrag dieser GroKo erscheint immer mehr, lediglich den „Status quo“ in der EU aufrechtzuerhalten. Der französische Imperialismus nutzte die letzten Monate der Regierungsbildung, um selbst mit Vorschlägen die eigene Führungsrolle zumindest zu untermauern bzw. einen erneuten Anlauf zu nehmen, dem deutschen Imperialismus Konzessionen abzuringen. Ein EU-Finanzminister, eine mögliche gemeinsame Verschuldungspolitik der Eurozone sind Vorschläge, um den deutschen Imperialismus letztlich etwas einzudämmen, ihm einige Vorteile seit der Krise 2007/08 zu nehmen. Auch aus dieser Perspektive heraus kann man nicht von einem „Weiter so!“ sprechen. Diese GroKo ist geschwächt und wird alle politische Kraft brauchen, um die bestehende fragile Ordnung der EU aufrechtzuerhalten, zum Vorteil des deutschen Imperialismus.

Gegen diese Politik brauchen wir Widerstand, brauchen wir Engagement für diejenigen und derjengen, die weiterhin der Spaltung, der Ausgrenzung und Ausbeutung ausgeliefert sind. Wir müssen uns für das Recht auf Abtreibung und den Schutz der behandelnden ÄrztInnen einsetzen, gegen jeden neuen Sektor der Zwangsbeschäftigung und für die Abschaffung des Hartz-IV-Systems kämpfen. Dazu müssen wir in der EU für die Perspektive eines europäischen Klassenkampfes eintreten, den Kampf gegen die kapitalistische Unterjochung unter den deutschen Imperialismus, gegen Rechtsruck und Rassismus führen. Diese Kämpfe können wir nicht verschieben oder auf bessere Bedingungen warten. Die GroKo ist ein bestimmender Teil des Kampfes von oben, dagegen brauchen wir im „Herzen der Bestie“ Widerstand! Der erste Schritt dahin sollte eine Aktionskonferenz aller Linken und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung sein, darunter auch von Kräften in der SPD wie den Jusos und der „Progressiven Sozialen Plattform“.




Der Koalitionsvertrag – ein Grund mehr für das NEIN!

Tobi Hansen, Infomail 986, 11. Februar 2018

Jetzt liegt nur noch eine Urabstimmung vor einer Neuauflage der Großen Koalition. Mit seinem Verzicht auf das Außenamt will Noch-Parteichef Schulz mithelfen, den SPD-Karren wieder flottzumachen, den er zuvor in die Misere manövriert hat. Ob dieses Opfer reichen wird, damit nur der Ex-Vorsitzende und nicht gleich die ganze Sozialdemokratie zum Kollateralschaden „erfolgreicher Koalitionsverhandlungen“ wird, kann bezweifelt werden.

Jedenfalls ist die Zustimmung der SPD-Mitglieder zu eine Neuauflage der GroKo keine sichere Sache. Mehr als 24.000 Neumitglieder sind seit dem letzten Parteitag der Juso-Kampagne „Tritt ein, stimm mit Nein“ #Nogroko gefolgt. Dies hat für viel Aufsehen gesorgt. Auch die bürgerliche Presse bangt: Schließlich ist davon auszugehen, dass diese Neumitglieder mit Nein stimmen werden. Sogar Verfassungsklagen sollten die Urabstimmung verhindern.

Die Bild-Zeitung betätigt sich als Vorreiterin der Stimmungsmache. Der „Redaktion“ des nationalen Boulevard-Blattes war aufgefallen, dass auch Menschen ohne deutschen Pass SPD-Mitglieder sind. Diese könnten nun über das Zustandekommen einer deutschen Regierung abstimmen, diese „Einmischung“ sei abzulehnen. Diese rassistische Kampagne gilt es, deutlich abzulehnen. Wenn es schon kein Wahlrecht für MigranntInnen in Deutschland gibt, so doch weiterhin das demokratische Recht, darüber abzustimmen, was die Partei macht, in der man Mitglied ist. Das nennt man bürgerliche „Demokratie“, auch Parteiendemokratie – selbst wenn das dem Demokratieverständnis des Springer-Verlags anscheinend widerspricht.

Der Koalitionsvertrag

Abstimmen dürfen nun ca. 460.000 Mitglieder der SPD über den am 7. Februar veröffentlichten Koalitionsvertrag. Beim Parteitag am 21. Januar war noch angekündigt worden, dass „verhandelt wird, bis es quietscht“. Zumindest gingen die Unterredungen in die Verlängerung, ziemlich sicher, um den Schein des Ringens aufrechtzuerhalten.

Als zentrale Ziele wurden dem Verhandlungsteam vom Parteitag die sachgrundlose Befristung (z. B. bei Leiharbeit), die Abschaffung der „Zwei-Klassen-Medizin“ (Unterschied zwischen privaten und gesetzlichen Krankenkassen) und die Obergrenze/der Familiennachzug bei Geflüchteten mitgegeben. Gemessen an den Vorgaben und der Hoffnung des Vorstandes, mit diesen Themen die Urabstimmung zu gewinnen, sind die Ergebnisse äußerst dürftig, wenn nicht einfach blamabel.

Zum Gesundheitssystem wird von der neuen Großen Koalition eine Kommission eingesetzt, welche bis Ende 2019 (!) ein Konzept entwickeln soll, um die Honorare, die ÄrztInnen von privaten Krankenkassen für dieselbe medizinische Leistung erhalten, denen der gesetzlichen anzugleichen. Praktisch heißt das: in der nächsten Legislatur gibt es eben keinen Einstieg in die „Bürgerversicherung“, das Lieblingsthema eines jeden SPD-Wahlkampfes. De facto wurde diese auf dem Friedhof der Kommissionen beigesetzt. Das vor den Mitglieder der Sozialdemokratie schönzureden, wird sicher schwerfallen.

Ähnlich erging es der geplanten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Das Ergebnis bezeichnet der Vorstand als „Einstieg“ – eine wohlfeile Formulierung für einen billigen Ausverkauf.

Anstelle von 24 Monaten darf jetzt ein Arbeitsvertrag nur noch für 18 Monate befristet werden. Dieser soll lt. Koalitionsvertrag nur einmal statt bislang dreimal verlängert werden können. Anstelle von 6 möglichen aufeinander folgenden Arbeitsjahren als befristete Arbeitskraft soll es jetzt nur noch 3 geben.

Ob und bis zu welchem Grad selbst diese Regelungen umgesetzt werden, wird auch von den Gewerkschaften und Betriebsräte abhängen. Schließlich hat die Ausweitung der Leiharbeit, der befristeten und unsicheren Jobs in einer konjunkturellen Aufschwungphase der letzten Jahre nochmals zugenommen, mit einhergehender schlechter Bezahlung.

So ist auch vorgesehen, dass nur 2,5 % aller Beschäftigten eines Unternehmens befristet eingestellt werden dürfen. Womöglich wäre sogar drin gewesen, das ganz zu kippen, aber so hält die SPD diese Niedriglohn-„Hintertür“ fürs Kapital weiterhin geöffnet. Die 2,5-Prozent-Regelung gilt außerdem nur für Unternehmen mit mehr als 75 Beschäftigten, für kleinere gibt es keine Reglementierung. So werden KleinbürgerInnentum, KleinunternehmerInnen, „innovative“ Start-ups auf Kosten der Lohnabhängigen ebenso gefördert wie mögliche ausgegliederte „selbstständige“ Abteilungen von Großunternehmen.

Von einer Abschaffung der Befristung ist also nichts zu berichten, allein das zeitliche Ausmaß soll halbiert werden. Inwieweit das Kapital dort nicht auch Ausnahmen findet, wird sich zeigen, Aber auch auf diesem Gebiet hat die SPD die Verhandlungen verloren, weniger Lohn für die gleiche Arbeit mit schlechteren Schutzbestimmungen bleibt erhalten.

Beim Parteitag der SPD wurden die Ablehnung der CSU-Forderung nach einer Obergrenze für Geflüchtete und die Sicherung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte noch vehement vertreten. Nun kann mit Bestimmtheit gesagt werden: Die CSU hat sich in allen Punkten durchgesetzt. Die Obergrenze sowie die Regelungen aus den „Jamaika“-Sondierungen wurden einfach übernommen, daran hat die Sozialdemokratie keinen Deut geändert. Stattdessen darf sich Neu-Innenminister Seehofer auch noch Heimatminister nennen. Was das für eine nationalistische Suppe wird, ist nur zu erahnen, aber auch dazu hat die SPD ihre Zustimmung erteilt. In diesem Punkt folgte das Verhandlungsteam der CSU und damit dem staatlichen Rassismus – auf Kosten der Geflüchteten. Auch daran hat sich nichts geändert.

So viel zu den SPD-Versprechen, an der Bundesregierung Rassismus und Nationalismus bekämpfen zu wollen. Die Nazi-AfD-Vergleiche entpuppen sich als billiges Wahlkampfgeschwätz von gestern. Nun wird der Schulterschluss der DemokratInnen mit dem CSU-Heimatminister geübt, der die AfD durch noch rechtere Politik im Bund und im bayrischen Landtagswahlkampf „entzaubern“ will. Ob diese Taktik der CSU aufgehen wird, ist zweifelhaft. Sicher ist in jedem Fall, dass die SPD selbst nicht nur ihre Versprechen (wieder einmal) verrät, sondern gleichzeitig der CSU und AfD in die Hände spielt.

Geld und Verteilung

Aufgrund hoher Steuereinnahmen wird auch die nächste Große Koalition über relativ gefüllte Kassen verfügen. Dementsprechend wird auch etwas „verteilt“, insgesamt rund 46 Mrd. Euro. Etwas mehr Kindergeld in den nächsten zwei Jahren (25 Euro plus) und für Kitas sind dabei die Vorhaben, die vielleicht real allen (mit Kindern) zugutekommen. Die Entlastung der Familien, welche sich die SozialpolitikerInnen der Union und SPD auf die Fahne geschrieben haben, geht dabei von folgendem Rechenbeispiel aus: Die vierköpfige Familie mit 60.000 Euro Jahreseinkommen würde um mehr als 2000 Euro entlastet. Dumm nur, dass mittlerweile schon viele lohnabhängige Familien, Partnerschaften, Alleinerziehende oder Alleinstehende mit weit weniger „auskommen“ müssen. Für die gibt es auch weniger, im schlimmsten Fall eben keine Entlastung.

So stellt auch der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband fest, dass die Familien, die wenig haben, kaum entlastet werden, von armen Familien/Menschen ganz zu schweigen – zum Hartz-IV-System findet sich schließlich kein Satz im ganzen Koalitionsvertrag!

Ansonsten wird hier und da gefördert: Digitalisierung, Baueigentum, Infrastruktur und etwas Wärmedämmung werden subventioniert und die Binnennachfrage und Binnenwirtschaft unterstützt. Speziell die CSU darf ihre Mütterrente weiter ausbauen und den Kauf von Haus und Wohnung ankurbeln. Das stärkt auch ihr Familienbild.

Bei der Mietpreisbremse und dem städtischen Wohnen gilt es als großer Wurf, dass der Bund jetzt für 2 Mrd. Euro auch mitbauen darf und die VermieterInnen die vorherige Miete ausweisen müssen. Wie dies Erhöhungen der Miete verhindern soll, weiß niemand genau. Während den HäuslebauerInnen also steuerlich recht „gut“ unter die Arme gegriffen wird, kann man für das städtische Wohneigentum 1200,- Euro pro Kind und Jahr anrechnen. Das wird dann eher eine langwierige Angelegenheit.

Selbst die Verteilung kleinerer und bescheidener allgemeiner Wohltaten stößt beim Kapital natürlich auf scharfe Kritik, auch wenn manche Subvention direkt in ihre Kassen fließen dürfte. Aber von Stillstand und Co. plärren diejenigen, deren FDP-Wunderkinder kurz vor Schluss die Möglichkeit hinwarfen, noch mehr für das Kapital rauszuholen. Dass die GroKo dort weitermacht, wo sie aufgehört hat, sollte nun wirklich nicht überraschen. Und so fehlt sicherlich vielen von der Kapitalseite ein sozialer oder arbeitsrechtlicher Angriff, welcher die gute Stellung der deutschen Konzerne in der globalen Konkurrenz noch ausbauen könnte. Das Absenken der Leiharbeit ist sicherlich so manchem ein Dorn im Auge. Andererseits kann das Kapital auch „beruhigt“ sein, findet es doch in der GroKo anscheinend die einzige Kombination, die seine Gesamtinteressen vertreten kann und auch in der Lage ist, eine Regierung hinzubekommen, sowie auch in einer künftigen Wirtschaftskrise sicherlich angemessen Politik für die herrschende Klasse beschließen kann.

Große Koalition und EU

Nicht zufällig darf die SPD mit Außenministerium und Finanzministerium zwei Ressorts mit „europäischer“ Verantwortung übernehmen. Im Gegensatz zu den Sondierungen mit der FDP scheint hier die gesamtkapitalistische Perspektive besser bei der SPD aufgehoben zu sein. Es werden weitere finanzielle Versprechen gemacht, welche die Strukturreformen „erleichtern“ sollen und insgesamt auf Investitionen ausgerichtet sein könnten. Ob das ein Ende der Austeritätspolitik bedeutet, ist aber sehr unwahrscheinlich. Schließlich galten auch die Kredite und Zwangsmaßnahmen für Griechenland als „Rettungspakete“ im Tausch für „überfällige“ Strukturreformen. Allerdings gibt es eine deutliche Ansage der GroKo in Richtung des französischen Imperialismus. Die Bundesregierung will, ja muss wieder die Richtung der EU aktiv bestimmen. Dafür wird auch mit einigen Milliarden gewedelt. Solange die Verteilung der Flüchtlinge endlich europäisch geregelt wird, könnte es auch mehr Geld für den EU-Haushalt geben.

Schließlich wird die Bereitschaft, mehr Geld für den EU-Haushalt zur Verfügung zu stellen, mit Investitionen für einen „europäischen Mehrwert“ gleichgesetzt. Nicht nur, dass dies ökonomisch völlig unsinnig ist, es ist auch klar, wessen „Mehrwert“ in der EU steigt und vor allem, wer ihn sich aneignet.

So wird die „völlige Harmonisierung“ mit dem Wirtschaftsraum Frankreich angestrebt als Beispiel für die weitergehende Vertiefung der europäischen Wirtschaftsbeziehungen im Euro-Raum – dies heißt auch Fortführung und Vertiefung der deutschen Dominanz in der EU. Dies wird dann auch mit gemeinsamen militaristischen und außenpolitischen Zielen sowie einer stetigen Aufrüstung und Militarisierung unterfüttert. Die Große Koalition, also das Kabinett Merkel IV, wird sicherlich Macrons „europäische Ambitionen“ aufgreifen – die Federführung beansprucht aber der deutsche Imperialismus für sich.

Die Union

Während die CSU ihre fremdenfeindlichen Ziele umgesetzt sieht, ihre Ministerien behält und Seehofer gar als „Superminister“ nach Berlin zieht, sieht die Lage in der CDU weniger rosig aus. Konservative Medien und JournalistInnenen betrachten die GroKo gar als „Sozialismus, Geld, Merkel“, quasi als Untergang der wirtschaftlichen Kompetenz der Chrisrdemokratie. Das Regierungsprogramm wäre ein „Durchmarsch“ für die SPD, die SozialpolitikerInnen hätten sich gegen die Interessen des Kapitals verschworen.

Ein CDU-Verhandler twitterte gar: „Puh, wir haben noch das Kanzleramt“ – als ob die SPD auf ganzer Linie gesiegt hätte. Dass es nur einen anfänglichen Einstieg in das Ende vom sog. „Soli- Zuschlag“ gibt, nicht mehr Entlastungen für die SpitzenverdienerInnen herauskommen, betrachten KommentatorInnen (z. B. der FAZ) als zumindest schleichenden Sozialismus. Die These von der sog. „Sozialdemokratisierung der CDU“ macht die Runde. Das Ende der Ära Merkel hat begonnen, befürchten die einen, während es die anderen herbeisehnen.

Beim Thema Digitalisierung wird richtigerweise festgestellt, dass die globalen KonkurrentInnen aus USA und China über Monopole verfügen (Google, Facebook, Alibaba, Baidu), während deren Herausbildung in Deutschland und in der EU nicht klappen will. Auch daran soll vor allem die Groko schuld sein. Das hätte das deutsche Großkapital aber vorher wissen können, schließlich schuf der US-Staat die globalen Rahmenbedingungen für seine Internetgiganten. In China ist das durch staatskapitalistische Intervention anders gelaufen, wahrscheinlich präferiert die FAZ diese letzte Variante.

Im bürgerlich-konservativen Milieu wird diese nächste und wohl letzte Amtszeit Merkels ein gewisses Spießrutenlaufen werden. An jeder Ecke wird der Sozialismus der SPD vermutet, die CSU plaudert munter von der reaktionären konservativen Revolution, die AfD freut sich auf Neumitglieder und WählerInnen und in der CDU bereitet der konservativ-neoliberale Flügel seinen Nachfolgekandidaten (z. B. Spahn) vor.

Geschacher in der SPD

Wichtiger als Inhalte war es der SPD-Spitze, die Posten zu verteilen und den inneren Machtkampf dadurch auch zu lösen. So wird der Frontmann des Seeheimer Kreises Finanzminister und wahrscheinlich auch Vizekanzler. Allein die Personalie Olaf Scholz wird es der Führung bei der Urabstimmung nicht einfacher machen. Das dieser mindestens ein „Genosse der Bosse“ ist, ist hinlänglich bekannt.

Martin Schulz sollte als ideeller Gesamteuropäer auch Außenminister werden, damit hätte man auch die lästige Personalie Gabriel gelöst. Schulz imaginierte sich wohl schon in einer Achse mit dem „Freund“ Macron, als europäischen Einiger und Visionär, der nebenbei auch noch den französischen Präsidenten an die deutsche Leine legen würde. An die Leine gelegt wurde mittlerweile Schulz. Der sozialdemokratische Traumtänzer hat ausgeträumt.

Schon vor dem Außenamt hatte Schulz seinen Posten als Parteivorsitzender aufgeben. Wenn der Plan der SPD-Führung aufgeht, soll Andrea Nahles gleichzeitig Bundestagsfraktion und die Bundespartei leiten. Eine solche Konzentration der „Parteimacht“ außerhalb des Kabinetts gab es zuletzt zu den unrühmlichen Müntefering’schen Zeiten.

Nahles soll nun die Hauptverantwortung für die Erneuerung der SPD übernehmen. Mit diesem Schlagwort hausiert die Partei seit den 20,5 % vom September. Beim Parteitag und den Jusos wurden unter „Erneuerung“ häufig die Glaubwürdigkeit, der Unterschied zur Union und die soziale Gerechtigkeit angeführt. Diese soll die künftige Partei- und Fraktionsvorsitzende gestalten und glaubwürdig vertreten, die zuvor hauptverantwortlich die GroKo-Politik gestaltet und abgenickt hat.

Zwei Tage nach Verkündung des Koalitionsvertrags hat Schulz die Brocken hingeworfen. Zunächst stilisierte sich Gabriel als „beleidigte Leberwurst“ des Landes. Anscheinend war er als letzter über den Verlust seines Ministerposten informiert worden, was auch ein trübes, schmutziges Licht auf die derzeitige Praxis der SPD-Führung wirft.

Schulz’ Rückritt vom noch nicht bekleideten Amt soll vom mitgliederstärksten Verband NRW herbeigeführt worden sein. Dort waren sich sowohl Landtagsabgeordnete wie auch Bezirksvorsitzende sicher, dass ein Antritt von Schulz in der Regierung Merkel den Mitgliedern nicht zu verkaufen wäre. Statt dessen befürchteten sie eine Ablehnung des Koalitionsvertrags. Dafür musste Schulz geopfert werden.

Das drückt zum einen die massive Krise der SPD, die Schwäche ihrer aktuellen Führung und eine massive Verunsicherung hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens der Basis bei der Urabstimmung aus. Diese Partei ist anscheinend so tief zerrissen, dass derzeit manch Personal nach dem Dominoprinzip fällt, sobald es aufgestellt wird.

Die Glaubwürdigkeit als Argumentationsgrundlage ist daher interessant. Noch vor rund einem Jahr war Schulz derjenige, der aufgrund ihrer nicht nur mit 100 % Zustimmung zum Vorsitzenden gewählt wurde, sondern auch Umfragewerte um die 30 % erreichen konnte. Genauso schnell bewies er aber auch das Gegenteil – mehr soziale Gerechtigkeit hieß eben keine Abkehr vom Hartz-IV-System. Nach der Bundestagswahl im September folgte der komplette „Lügenritt“ zur GroKo und in seine Ministerambitionen. So war die Glaubwürdigkeit in einem Jahr komplett ruiniert.

Dass sich der Seeheimer Kreis nicht entblödet vorzuschlagen, dass Gabriel doch weitermachen soll, die Bundestagsfraktion dem aber widerspricht, offenbart die Führungskrise dieser Partei. Während alle Strömungen der Parteispitze ständig fordern, dass Personalfragen in den Hintergrund zu treten hätten, dass es um Inhalte und nicht um Posten ginge, betreiben sie ein „Krisenmanagement“, das regelmäßig zum Gegenteil führt. Das liegt sicher auch am Mangel von Inhalten, an der durch und durch kapitalkonformen Koalitionspolitik. Es offenbart aber auch, dass die inneren Gegensätze der Sozialdemokratie zwischen ihrer Führung, ihrem Apparat, ihren Abgeordneten und den Interessen ihrer zumeist lohnabhängigen Mitglieder und WählerInnen offener hervortritt als über Jahre hinweg. Er wird daher auch schwerer „beherrschbar“. Die abgehobenen und dümmlichen Manöver von ehemaligen oder noch vorhandenen ParteiführerInnen, der Postenschacher usw. sind Erscheinungsformen dieser inneren Krise, die ihrerseits noch verschärfend auf sie einwirken.

Die Urabstimmung

Diese Fehler und Zerrissenheit der Parteiführung sind zugleich auch eine Chance für die GegnerInnen des Koalitionsvertrags und einer Wiederauflage der GroKo. Angesichts der Inhalte und des Personalgeschachers der BefürworterInnen eines Pakts mit der Union können die Jusos und die noch verbliebenen SPD-Linken eigentlich recht optimistisch in die Abstimmung gehen. Sicher ist: Die 78 % von 2013 werden es nicht werden. Damals war nicht nur die Führung einheitlicher. Mit dem Mindestlohn konnte auch ein Verhandlungserfolg verkauft werden, der vielen SozialdemokratInnen wenigstens als Einstieg in eine bessere Zukunft erschien.

Selbst eine mögliche Zustimmung, welche in der Nähe des Parteitagsergebnisses liegt (56 %), wäre eine Ohrfeige für die Führungsriege. Die aktuelle Lage schafft aber auch die Möglichkeit, dass die Basis den Vertrag ablehnt. Keines der Ziele, die bis zum Quietschen verhandelt werden sollten, wurde durchgesetzt. Dafür gibt es zwar für die SozInnen nette und fette Ministerposten. Davon haben aber nur 6 Leute etwas, die ihre soziale Frage für sich ohnedies schon gelöst hatten. An der Basis werden diese Posten als Pro-Argument wahrscheinlich wenig Anklang finden. Es gab auch schon früher einen SPD-Finanzminister (Steinbrück), damals wurde aber von unten nach oben umverteilt, die Banken und Konzerne gerettet. Es gab auch Außenminister wie Steinmeier und Gabriel, trotzdem gab es mehr Rüstungsexporte, Auslandsinterventionen, Austeritätspolitik in Europa – Posten ohne Inhalt können nicht viel versprechen.

Für die politische Linke außerhalb der SPD gilt es, endlich ihre Apathie gegenüber diesen Vorgängen abzulegen. Der Kampf gegen die GroKo beginnt schon beim Kampf gegen ihre Formierung. Das heißt zumindest, Stimmung gegen die GroKo zu machen und zur Abstimmung mit NEIN aufzufordern. Für jeden zukünftigen Kampf wird es von Vorteil sein, die Legitimität einer Großen Koalition zu schwächen. Je höher der Anteil des NEIN, desto größer die Möglichkeiten, den sozialen Rückhalt einer solchen Regierung zu schwächen. Im besten Fall kann das NEIN auch eine Mehrheit erhalten, womit sich die politische Krise der herrschenden Klasse vertiefen würde.

Auch daher wird es für die Jusos und alle KoalitionsgegnerInnen wichtig, sich nach einer Urabstimmung nicht einfach wieder als getreue Parteijugend oder -mitgliedschaft aufzuführen, sondern auf Schritt und Tritt den Widerstand gegen die GroKo-Politik mit zu organisieren, sich beim anti-rassistischen Kampf gegen Obergrenze und Heimatminister zu beteiligen. Daher muss sich das NEIN auch zu einer politischen Kraft formieren, die mit der Politik der SPD bricht, organisiert und als Fraktion gegen die KoalitionsbefürworterInnen kämpft – und auch bereit ist, mit der SPD selbst zu brechen. Ein konsequenter Bruch mit der „Agendapolitik“ ist nämlich weiterhin auch bei der Juso-Führung und der SPD-Linken nicht vorhanden. Darin liegen letztlich ihre große politische Schwäche und die „Begrenztheit“ ihres oppositionellen Handelns.

Die politische Krise

Fast vier Monate Sondierungen und Koalitionsverhandlungen – lange war es nicht mehr so schwierig, eine Bundesregierung zusammenzuzimmern. Die „Vielfalt“ bürgerlicher Interessen wurde zuerst der FDP in den Jamaika-Sondierungen zu viel. Dem Großkapital wird es noch nachhängen, diese Möglichkeit nicht genutzt zu haben.

Die nächste GroKo wird nicht nur über die geringste parlamentarische Basis aller „Großen“ Koalitionen verfügen. Sie kann nicht nur die wenigsten Stimmen auf sich vereinen. Es will sie auch real niemand. Dass ihr Scheitern auch nach den Verhandlungen durch ein NEIN bei der Urabstimmung noch möglich ist, offenbart eine tiefe innere politische Krise, die den deutschen Imperialismus auch außenpolitisch schwächt und weiter schwächen wird. Die Aufgaben, die EU anzuführen, Frankreich in die Schranken zu weisen und zugleich als „Partner“ zu hofieren, mögliche politische und wirtschaftliche Katastrophen nach dem Wahlausgang in Italien einzudämmen und dann noch globale Ambitionen zu vertreten, werden dieser GroKo schwerer fallen als den Vorgängerregierungen. Und auch diese konnten die strategische Zielsetzung, eine imperialistische Einigung Europas unter deutscher Führung, längst nicht erreichen. Vielmehr droht die EU, an ihren inneren Widersprüchen zu zerbrechen.

Die GroKo spiegelt gewissermaßen das strategische Dilemma des deutschen Imperialismus aktuell wider. Dieser führt die EU, indem er auf sein ökonomisches und institutionelles Übergewicht setzt und anderen Staaten – einschließlich einiger imperialistischer – seine Bedingung diktiert oder zu diktieren versucht. Das birgt aber schon den Keim ihrer Spaltung (als Alternative zur Unterwerfung) in sich. Vor allem aber ersetzt das keine Strategie, einen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Block unter deutscher (resp. deutsch-französischer) Führung zu bilden, der sich als einheitliche, gemeinsame Kraft in den Kampf um die Neuaufteilung der Welt einmischen könnte.

Die SPD tritt an, wie vor einigen Jahren ein gewisser Hollande in Frankreich, um die EU in einen „gemeinsamen“ Block zu verwandeln, z. B. mit gemeinsamen Kreditlinien. Dieses „Gespenst“ tauchte auch bei Macron neulich wieder auf. Dies macht strategisch durchaus Sinn, um mehr Staaten (also auch mehr nationale Kapitale) in Europa für eine tiefere Blockbildung zu gewinnen und auf lange Sicht die Stellung Deutschlands zu stärken. Aber es läuft zugleich kurzfristigen Profitinteressen entgegen. Die Groko wird auf den Widersprüchen und Problemen eher balancieren, denn sie überwinden. Diese werden daher spätestens bei der nächsten handfesten ökonomischen Krise oder einem Börsencrash wieder offen zu Tage treten. Auch daher wird die nächste Regierung, sollte sie zustandekommen, von Instabilität geprägt sein.

Für die ArbeiterInnenklasse wäre die Große Koalition in jedem Fall eine weitere Katastrophe. Sie würde für eine Beibehaltung des politischen Kurses in der EU und die Stärkung eines europäischen Imperialismus, für Rassismus, Abschottung der Außengrenzen und gleichzeitige Aufrüstung und Interventionspolitik stehen. Über die SPD und die Gewerkschaftsführungen würde die organisierte ArbeiterInnenklasse, vor allem Millionen GewerkschafterInnen, weiterhin direkt politisch an die Hauptpartei des deutschen Kapitals gebunden. Wie der Tarifabschluss der IG Metall zeigt, würde die Gewerkschaftsbürokratie versuchen, die GroKo durch Sozialpartnerschaft und Standortpolitik in den Betrieben zu „ergänzen“.

Ein NEIN bei der Urabstimmung wird diese Politik natürlich nicht zu Fall bringen. Aber es kann ihr einen Schlag versetzen. Derzeit ist es möglich, diese Groko zu verhindern: Daher sollte die NEIN-Kampagne der Jusos unterstützt werden. Es gibt keinen Grund dafür, die Regierung erst zu bekämpfen, nachdem sie vereidigt worden ist.




SPD-Parteitag votiert für Große Koalition – der „Zwergenaufstand“ ist nicht zu Ende

Tobi Hansen, Neue Internationale 226, Februar 2018

Am Ende musste das Präsidium auszählen lassen, so knapp war das Ergebnis auf dem Sonderparteitag der SPD am 21. Januar. Allein dies war schon ein Erfolg der GegnerInnen einer Neuauflage der Großen Koalition (GroKo). Mit 56,4 % (362 Ja-Stimmen) folgten die Delegierten dem Vorstand, aber 279 votierten dagegen.

Die Parteiführung nutzte alle Möglichkeiten, die Delegierten einzunorden. SPD-Vize „Malu“ (Maria Luise Anna) Dreyer, die Wahlgewinnerin in Rheinland-Pfalz 2017, eröffnete den Parteitag mit einer Begrüßung, sprach sich für die Verhandlungen aus und verstand natürlich auch alle Bedenken. Dann folgte NRW-Landeschef Groschek, dem die Niederlage bei den Landtagswahlen noch ins Gesicht geschrieben stand. Auch er schwadronierte geraume Zeit über Verantwortung und die tollen Möglichkeiten einer Regierung. Danach folgte noch eine Stunde Ex-Kanzlerkandidat und Noch-Parteichef Schulz. Nach ca. 2 Stunden durfte dann die offizielle Aussprache zum Sondierungsergebnis beginnen. Eigentlich konnten dabei alle, die sich gegen eine neue GroKo aussprachen, unter Applaus klar den Saal „rocken“, während die BefürworterInnen auch hier größtenteils aus dem Vorstand kamen und nur „Notwendigkeiten“ und Pragmatismus runterbeten konnten.

Die Union wolle keine Minderheitsregierung bilden, also müsse die SPD koalieren; denen (der Union, speziell der CSU) dürfe die SPD nicht allein das Land überlassen. Die „Franzosen und Europäer“ – Macron rief anscheinend stellvertretend für Millionen Menschen bei Schulz an – warteten auf eine neue Europapolitik, also müsse die Sozialdemokratie mit der Union eine Regierung bilden. Letztlich und noch verlogener: der Rechtsruck sei auf dem Vormarsch, die CSU ja auch irgendwie fremdenfeindlich, also müsse man …: die GroKo quasi als „antifaschistischer Schutzwall“ der SPD.

Die Rechtfertigung des Vorstands – Erneuerung durch GroKo

Die öffentlichen und internen Debatten zeigten bereits vor dem Sonderparteitag: Dieser wird kein einfacher Weg für den SPD-Vorstand. Nach dem Umfaller nach dem Ende der „Jamaika“-Verhandlungen, den kurzen sechstägigen Sondierungen mit der Union, war erkennbar, dass deren

Ergebnisse an der Parteibasis und somit auch bei den 600 Delegierten umstritten waren.

Nicht allein die Jusos hatten seit Dezember Widerspruch angemeldet, sondern auch der Landesverband Sachsen-Anhalt und der Berliner SPD-Vorstand sprachen sich gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen aus. Speziell im mitgliederstarken NRW und Hessen, die gemeinsam über 200 Delegierte stellten, wurde Widerspruch deutlich.

Aus diesem Grund wurde dem Parteitag auch eine „Kompromisslösung“ vorgelegt, also ein ergänzter Leitantrag. Dieser sieht vor, bestimmte Inhalte für die Koalitionsverhandlungen zu fordern. Dies ist an sich nichts Ungewöhnliches, hätten nicht die CDU und speziell die CSU schon angekündigt, dass sie auf weitere Forderungen der SPD nicht eingehen wollen. Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, der Einstieg ins Ende der „Zwei-Klassen-Medizin“ und höhere Kennzahlen für den Familiennachzug der Geflüchteten mit subsidiärem Status sind Forderungen, die sicher von allen unterstützt werden. Mit diesem Manöver sollte jedenfalls eine Mehrheit gesichert werden, was schließlich auch gelang.

Das Land zuerst

Dreyer, Schulz, Weil und Scholz spielten das bekannte Lied – zuerst das Land, dann die Partei. De facto heißt dies: erst die Kompromisse mit der Union, gestützt auf die Interessen des Großkapitals und sozialpartnerschaftliche Einbindung der Industriegewerkschaften, dann der Pragmatismus der Regierungsmöglichkeiten, schließlich die schillernden Auszüge zur EU-Politik. Zum Schulz´schen „hervorragenden Ergebnis“ wurde schnell festgestellt, dass soviel Hervorragendes sich nicht darunter befand. Bleibt also das alte Müntefering´sche Dogma „Opposition ist Mist“, also müsse man zumindest in die Regierung eintreten, um überhaupt „etwas“ tun zu können.

Als Nebenthema der letzten Wochen wurde die „Erneuerung“ der Partei diskutiert, speziell auf Veränderungen wie Industrie 4.0 und „neue Lebensrealitäten“ solle sie sich neu ausrichten. Der Vorstand verspricht, diese programmatische Erneuerung während der nächsten Legislaturperiode schaffen zu können. Warum das nach den Erfahrungen mit der letzten Koalition klappen soll, hat keine/r erklärt oder auch nur zu erklären versucht. Stattdessen wurde die Leier der staatspolitischen Verantwortung gespielt. Als Beispiele für „WählerInnenerwartungen“ mussten sogar Fluggäste herhalten, die dort Fraktionschefin Nahles sorgenvoll nach der Grundrente angesprochen hätten und fürchten würden, dass sich die SPD ihrer „Verantwortung entziehe“. Das kennen wir ja aus dem Alltag: erst den Mindestlohn und Grundrente durchrechnen und dann den Inlandsflug antreten. Aber egal, wie verlogen sich der Vorstand Beispiele zusammenzimmert, seine Kernbotschaft bleibt: Wir können nur etwas erreichen, solange wir regieren: also staatstragender Pragmatismus bis zum eigenen Ende.

Dieses alte Leid verfolgt die SPD schon länger. Als staatstragende Partei wurde der Klassenstandpunkt geschichtlich früh – also spätestens 1914 – beerdigt. Heute dienen vor allem die EU und Standortpatriotismus als Rechtfertigung für die Regierungsbeteiligung. Speziell DGB-Chef Hoffmann, welcher nochmals die Verbindung von Gewerkschaft und Partei bestärkte, will SPD und Gewerkschaften dazu bewegen, den „neoliberalen Geist“ in der EU zu überwinden. Und dieser Aufgabe will er ausgerechnet mit der GroKo nachkommen!

Es mag den Vorstandsspitzen der DGB-Gewerkschaften ja nicht auffallen, aber dieser „neoliberale Geist“ hat ganz reale Ursachen in den Kapitalinteressen, welche von SPD, Union, den Grünen und der FDP in den letzten 15 Jahren in Deutschland in verschiedenen Bundesregierungen bedient wurden und somit auch die EU prägen. Letztlich war es auch der DGB, welcher die „Agendapolitik“ der letzten SPD-geführten Bundesregierung durchwinkte, somit Millionen ArbeiterInnen entrechtete und diese in Niedriglohn, Prekarität und Zwangsarbeit schickte.

Die Glaubwürdigkeitskrise

Natürlich entgeht auch der SPD-Führung nicht ganz, dass ihr ihre soziale Basis immer mehr schwindet. Selbst Teile des Vorstands stellen fest, die potentielle WählerInnenschaft nehme der SPD ihr „Engagement“ für die ArbeiterInnenklasse und kleinen Einkommen nicht mehr ab. Richtigerweise hatten die Jusos und andere Delegierte darauf hingewiesen, dass das Umfallen von Schulz und Co. unter Mitgliedern und WählerInnen nicht gut ankam. Auch die Sondierungen und potentiellen Koalitionsverhandlungen werden nicht als Erfolge gefeiert. De facto hat die CSU ihre „Flüchtlingspolitik“ durchgesetzt, die SPD dagegen bei Bürgerversicherung, sachgrundloser Befristung und Spitzensteuersatz nichts. Genügend Delegierte können sich ausmalen, was die nächste GroKo für die ArbeiterInnenklasse bedeuten wird.

Die SPD würde nur als Mehrheitsbeschafferin der Union wahrgenommen, als die Kraft, welche manche Schweinerei der Union allenfalls abschwächt, ansonsten aber nichts zu bieten hat. Gerade die Jusos stellen fest, das die SPD nicht mehr als Gegensatz, sondern als Ergänzung zur Union wahrgenommen wird und es somit auch schwer vorstellbar ist, dass die SPD bundesweite Wahlen gegen diese gewinnen kann.

Interessanterweise widersprach auch der Delegierte Grüber aus Hessen den Ansichten des DGB-Vorsitzenden, indem er die Debatten an der gewerkschaftlichen Basis der SPD anders bewertete als die offiziösen Stellungnahmen der DGB-Spitze, welche schon früh nach dem Ende der „Jamaika“-Sondierungen zur GroKo aufrief.

Zweifellos haben der Juso-Vorsitzende Kühnert und weitere RednerInnen der Parteijugend, aber auch Delegierte aus Hessen, NRW und Berlin die Stimmung der WählerInnen und aktiven Basismitglieder wiedergegeben. Auch wenn es auf dem Parteitag nicht für ein Nein reichte, so ist klar, dass die innere Krise und Zerrissenheit der SPD mit dieser Abstimmung sicher nicht vorbei sein wird. Vielmehr verdeutlicht es, dass eine große Minderheit der Delegierten trotz eines vereinten Vorstandes den Weg in die neuerliche Katastrophe einer Großen Koalition nicht mitgehen will.

Dabei kommt nicht nur „Herz“ zum Ausdruck, sondern auch weitaus mehr Hirn als bei den politischen Lemmingen des Vorstandes, die Merkel bis in den eigenen Abgrund folgen wollen. Vor allem aber offenbart die Debatte auch den widersprüchlichen Charakter der SPD als bürgerliche ArbeiterInnenpartei. Während sie seit über einem Jahrhundert fest auf dem Boden der bestehenden Ordnung steht, also durch und durch bürgerliche Politik macht, weil sie letztlich die kapitalistische Herrschaft verteidigt, so ist sie – anders als die Unionsparteien – eine „besondere“ bürgerliche Partei, weil sie sich organisch über historisch gewachsene Bindungen wie Wählerzusammensetzung, Mitglieder, vor allem aber über die Gewerkschaften auf die ArbeiterInnenklasse stützt. Zweifellos führt die Politik der SPD-Regierungen seit Schröder wie auch die Standortpolitik der Gewerkschaftsspitzen dazu, dass diese Bindung mehr und mehr aufweicht – und in den letzten Jahren leider vor allem nach rechts zur AfD hin.

Aber der Gegensatz, der sich zwischen den KoalitionsbefürworterInnen und GegnerInnen auf dem Parteitag zeigte und die SPD heute durchschüttelt, bricht nun zwischen ihrer bürgerlichen Politik und Führung einerseits und ihrer sozialen Basis andererseits offen aus.

Das Ziel von RevolutionärInnen muss es sein, diesen Widerspruch zuzuspitzen, zu vertiefen. Hier liegt auch die Chance für die nächsten Wochen. Ein mögliches Koalitionsergebnis muss in der Mitgliedschaft abgestimmt werden. Dies ist weiterhin eine große Möglichkeit für diejenigen, welche die GroKo verhindern wollen.

Die angekündigte Nein-Kampagne der Jusos kann trotz der politischen Grenzen ihres Reformismus ein Mittel werden, die Neuauflage der Koalition mit den Unionsparteien zu verhindern. Der Eintritt zahlreicher Jugendlicher, um an der Abstimmung teilzunehmen, verdeutlicht, dass diese innere Polarisierung voranschreitet und auch eine Chance auf Erfolg hat. Zweifellos werden Vorstände versuchen, diese Menschen als „OpportunistInnen“ zu diskreditieren und deren Abstimmungsberechtigung in Frage stellen. Die viel gepriesene „Öffnung“ und „Erneuerung“ der Sozialdemokratie soll schließlich nicht zu „falschen Ergebnissen“ führen.

So wichtig der Zulauf von neuen Mitgliedern einzuschätzen ist, entscheidend für die Abstimmung und vor allem für die weitere Zukunft der SPD werden ihre gewerkschaftlich organisierten Mitglieder sein. Während sich der Vorstand treu hinter die GroKo stellt, haben viele sog. „einfache“ Mitglieder schon mitbekommen, was sie eigentlich von einer SPD in der GroKo zu erwarten haben – nämlich nichts. Im öffentlichen Dienst wird weiter gespart und privatisiert, die Situation in der Pflege ist beschissen, obwohl die SPD mitregierte und nicht in der Opposition war, und die Europapolitik der Austerität, der Festung Europa und der schleichenden Aufrüstung passiert gerade mit und unter „großen“ Europäern wie Schulz und Macron.

Dieser Politik gehört ein Denkzettel verpasst, genau diese Möglichkeit ist weiterhin vorhanden. Diese Abstimmung an der Basis ist eben noch nicht klar entschieden, bietet Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die SPD-Basis wie schon lange nicht mehr z. B. für die Linkspartei, aber auch die „radikale, außerparlamentarische Linke“. Die linken Kräfte außerhalb der SPD müssen direkt den Dialog mit der Gewerkschaftsbasis, den Jusos, Naturfreunden und Falken suchen. Die Gewerkschaftsbonzen und die Naturfreunde waren für, Falken und Jusos deutlich gegen das Sondierungsabkommen. Sie gilt es aufzufordern, eine starke Opposition gegen den Ausverkaufskurs der Partei- und Gewerkschaftsführungen zu bilden. Mit ihnen zusammen müssen wir gegen den Koalitionsvertrag agitieren und zum Widerstand gegen die Politik der neuen Bundesregierung in Aktion treten.




Nein zur Großen Koalition!

Markus Lehner, Infomail 981, 14. Januar 18

Nach der verlorenen Bundestagswahl hatte die SPD noch verkündet, dass es ein „Weiter so“ nicht geben könne und die Partei sich auf sozialer Grundlage wieder „erneuern“ müsse. Eine kräftige Opposition („eins in die Fresse“) im Sinne der noch verbliebenen Klientel bei den abhängig Beschäftigten wurde versprochen. Wem sich diese Partei vor allem verpflichtet fühlt, weiß man ja eigentlich spätestens schon seit 1914, als man sich auch schon als „staatstragend“ erwies. Die ArbeiterInnenbasis wird allemal verarscht, wenn es darum geht, dem Staat des Kapitals zu dienen. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen war es daher keine Überraschung, dass sich die SPD-Führung wieder als günstig zu habende Mehrheitsbeschafferin für die Unionsparteien bereitfand.

Dies ist auch insofern nicht überraschend, da die wesentliche Verbindung der SPD, die sie noch zur ArbeiterInnenklasse aufweist, die Gewerkschafts- und Betriebsrätebürokratie darstellt. Die Spitzen der letzteren waren selbst nach dieser Wahlschlappe weiterhin überzeugte GroßkoalitionärInnen. Ihnen ist der direkte Draht zum Arbeits- und Sozialministerium die Essenz der „Sozialpartnerschaft“ – also des geordneten Ausverkaufs der Interessen der ArbeiterInnenklasse, solange nur Gewerkschaften und Betriebsräte dabei „mitbestimmen“ dürfen.

Ergebnis der Sondierungsverhandlungen

Dies ist letztich auch der Geist der „sozialdemokratischen Handschrift“ in dem am 12.1. veröffentlichten Einigungs-Dokument „Ergebnisse der Sondierungsverhandlungen von CDU/CSU und SPD“. In nächtelangem „Ringen um Kompromisse“ (ähnlich wie bei Tarifverhandlungen) wurden wieder mal sämtliche grundlegenden SPD-Forderungen abgeräumt, um dann ein paar soziale Brosamen als „hervorragendes Ergebnis“ (Originalton Martin Schulz) zu feiern. Selbst die moderate Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 45 % (bei um die 100.000 Euro Jahreseinkommen) wurde vollständig und ohne Ersatz aufgegeben. Dies wäre noch die einzige tatsächliche Umverteilungsaktion im SPD-Programm gewesen. Angesichts der enorm gestiegenen Schere zwischen großen Einkommen und denen des überwältigenden Rests wäre das das Mindeste gewesen. Ganz zu schweigen von Besteuerung der gewaltig gestiegenen Vermögen – Vermögensbesteuerung traut sich die SPD angesichts der zu erwartenden bürgerlich-medialen Empörung schon überhaupt nicht mehr, mal zu erwähnen. Das ganze Kapitel zu Steuern enthält genau nichts außer der schrittweisen Absenkung des Solidaritätsbeitrags – also einer allgemeinen, vor allem für höhere Einkommen relevanten Steuersenkung. Das ganze Finanzierungskonzept der KoalitionärInnen in spe beruht also auf der derzeitig günstigen Finanzlage, die sich aus historisch niedrigen Zinsen und einer gerade günstigen Konjunkturlage ergibt. Dass hier keine langfristige Finanzplanung vorgelegt wird, bedeutet, dass sowohl das absehbare Ende der Nullzinspolitik der EZB (Europäische Zentralbank) als auch der wahrscheinliche Konjunktureinbruch im Laufe der Legislaturperiode sofort zu Haushaltslücken und zum Gezeter über nötige Sparpakete führen wird – natürlich auf Kosten eben besagter sozialer Brosamen. So wird hier mit diesem scheinbar „leichten Zugeständnis“ in der Steuerpolitik der nächste zukünftige Angriff auf die ArbeiterInnenklasse zielsicher vorbereitet.

Statt also auf Grundlage von Besteuerung der Profite die nötigsten Maßnahmen gegen Verarmung und Prekarisierung weiter Bevölkerungsteile anzugehen, wird der Angriff auf Beschäftigtenrechte weitergeführt, mit sozialdemokratischer „Abmilderung“. Zu dem entscheidenden Feld der Leiharbeit steht der einzige Satz im Ergebnispapier, dass es 2019 eine „Evaluierung“ des Arbeiternehmerüberlassungsgesetzes geben wird. Von einem notwendigen Verbot der Leiharbeit also keine Spur! SPD und Gewerkschaftsführung werden bei besagter Evaluierung sicher weiterhin Leiharbeit als „Standortvorteil“ für die Großkonzerne in welcher Pseudo-Regulierung auch immer verteidigen. Einzige konkrete Maßnahme ist die schon in der letzten GroKo angekündigte Umsetzung des Rechts auf befristete Teilzeit mit Rückkehrrecht. Dazu wurde zur angeblichen Beschleunigung der Umsetzung in das sonst so blumige Papier eine Unmenge an konkreten Ausnahmebestimmungen (nicht für Betriebe unter 200 Beschäftigte, Grenzen für größere Firmen, keine Verlängerungs- oder Verkürzungsrechte….) hineingeschrieben. Angesichts der gerade laufenden Auseinandersetzung um das 28-Stunden-Teilzeitrecht in der Metallindustrie ist zu befürchten, dass die Arbeit„geber“Innen auch bei der Beratung zu diesem Gesetz noch weitere Verwässerungen durchsetzen werden – und die „Wirtschaftssachverständigen“ angesichts des „Fachkräftemangels“ sicher zur Kompensation die Flexibilisierungen der Arbeitzeithöchstgrenzen fordern werden.

Zu den sozialen Brosamen zählen die Garantie eines nicht unter 48 % sinkenden Rentenniveaus, die Grundrente von 10 % über der Grundsicherung, die Erhöhung des Kindergeldes sowie eine Absichtserklärung zum Bau von 1,5 Millionen „erschwinglicher“ Wohnungen. Eine Änderung der Rentenformel wird angesichts der neoliberalen Fiananzierungslogik bei entsprechend schlechterer Einnahmensituation nicht ein weiteres Absenken verhindern. Eine Rentenreform, die die bestehenden Ungerechtigkeiten (z. B. Unterschied zu den Pensionen, Finanzierungsmöglichkeiten der Vermögenden) und Finanzierungsprobleme (z. B. durch ein steuerbasiertes System) behebt, sieht anders aus. Auch die Grundrente, die derzeit für eine Einzelperson damit etwa bei 900 Euro liegen würde, ist alles andere als ein Gegensteuern gegen die wachsende Altersarmut, ebenso wie 25 Euro mehr an Kindergeld ein Tropfen auf den heißen Stein wachsender Probleme junger Familien oder Alleinerziehender darstellt.

Die 2 Milliarden Euro, die für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden sollen, erscheinen als wenigstens mal eine Art Wiedereinstieg in denselben. Allerdings ist die geplante Umsetzung angesichts der Bund-/Länder-/Kommunal-Kompentenzen sehr ungewiss. Konkret wird nur deutlich, dass vor allem frei finanzierter Wohnbau und Wohneigentum gefördert werden sollen, also der Sektor, der gerade nicht sozial Schwachen zugutekommt. Dazu passt, dass weiterhin nichts Konkretes zur tatsächlichen Beschränkung der explodierenden Mieten im Dokument steht – außer natürlich, dass die Mietpreisbremse demnächst „evaluiert“ werden soll.

Als großen Erfolg der SPD-VerhandlerInnen feiern diese die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung in der Krankenversicherung – dabei wurde von einer SPD-geführten Regierung selbst dieses Prinzip durchbrochen. Dabei bleibt das Papier in Bezug auf die Umsetzung aber vage – was mit Zusatzbeiträgen und Zuzahlungen geschehen soll, bleibt unklar, da nur von paritätischen Beiträgen zur Krankenversicherung die Rede ist. Ganz abgeräumt wurde die von der SPD großspurig angepriesene „Bürgerversicherung“. Nicht mal ein Einstieg in die Überwindung der Ungleichbehandlung von Privatversicherten und KassenpatientInnen ist auch nur erwähnt – ein Punkt, der für die SPD-Führung besonders schändlich ist.

Auch die gefeierten Versprechen für Bildungsinvestitionen haben einen Haken: sie erfordern eine Grundgesetzänderung, um dem Bund überhaupt den Eingriff in die Bildungshoheit der Länder an diesen Stellen zu erlauben (Stichwort „Kooperationsverbot“). Dabei ist die GroKo dann auf Oppositionsparteien angewiesen. Von der Union wird da natürlich vor allem an die FDP gedacht. Diese wird sich ihre Zustimmung sicherlich mit Zugeständnissen in Bezug auf die zu fördernden Schultypen abkaufen lassen.

Zusätzlich relativiert werden die Finanzsummen für „Neuinvestitionen“, wenn man liest, dass auch der Etat der Bundeswehr um 2 Milliarden Euro erhöht werden soll, um das selbst gesetzte Ziel von 0,7 % des BIP für die Militärausgaben zu erzielen. Dies soll natürlich im Rahmen eines Ausbaus der „europäischen Verteidigungsfähigkeit“ erfolgen – dabei wird explizit das neue militaristische Projekt der EU, die Beteiligung an PESCO, genannt.

EU-Imperialismus und Rassismus

Insgesamt wird besonders im Teil zur Europäischen Union die staatspolitische Bedeutung des Dokuments klar. Das Verhältnis zur EU und besonders zu Frankreich stellt den Kern der Differenzen innerhalb der deutschen Bourgeoisie dar, der auch zur derzeitigen Krise bei der Regierungsbeteiligung geführt hat. Insbesondere das Verhalten zu den Vorschlägen des französischen Staatspräsidenten Macron stellte eine Herausforderung für die bisherige EU-Politik dar. So war es die völlig ablehnende Haltung der FDP zu einer stärkeren Integration vor allem in Finanzfragen, die letztlich die Jamaika-Verhandlungen zum Scheitern gebracht hat. Tatsächlich sind auch weite Teile der Union, insbesondere die CSU, hier weiterhin auf einer kompromisslosen neoliberalen Linie. Dies spiegelt sich in einer gewissen Schwammigkeit des Sondierungs-Dokuments gerade in dieser Frage wider – was weitere Auseinandersetzungen und Krisen in den nächsten Jahren hierzu vorhersehen lässt. An der entscheidenden Stelle besagt das Dokument:

„ Dabei befürworten wir auch spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz und für die Unterstützung von Strukturreformen in der Eurozone, die Ausgangspunkt für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone sein können…. Wir wollen in diesem Sinne und insbesondere auch in enger Partnerschaft mit Frankreich die Eurozone nachhaltig stärken und reformieren, so dass der Euro globalen Krisen besser standhalten kann“.

Hier werden in äußerst vager Form die Vorschläge Macrons eines stetig steigenden Investivhaushalts und der Schaffung eines Euro-Finanzministeriums „aufgegriffen“. An anderer Stelle wird eine Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen bis hin zu einem neuen Élysée-Vertrag angesprochen. Ebenso vage bleiben Ankündigungen in Bezug auf europaweite Festlegungen von Mindestsätzen bei der Unternehmensgewinnbesteuerung und einen europäischen Sozialpakt zur Herstellung gleicher Bedingungen für Löhne und Arbeitsverhältnisse, die für alle an einem Ort Arbeitenden gleich sein sollen. Was hier an tatsächlicher Politik herauskommen wird, kann man daran ablesen, dass dies schon „Vorhaben“ der letzten GroKo waren.

Der wahre Geist des Dokuments kommt natürlich beim Thema Migration und Klimaschutz zum Ausdruck. Die rassistischen Vorgaben der CSU zur „Begrenzung“ der Migration (220.000 Obergrenze jährlich und Beschränkung des Familiennachzugs bei Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus auf 1000 pro Monat) wurden voll übernommen. Dazu wurden noch die zentralen Aufnahmeeinrichtungen – eine Art Flüchtlingskonzentrationslager, die so natürlich nicht bezeichnet werden –, wie es sich die Unions-RassistInnen gewünscht haben, in das Dokument aufgenommen. Die SPD hat sich hier nochmals als selbsternannte „Verteidigerin des Grundrechts auf Asyl“ bis auf die Knochen blamiert.

Dass das von der letzten GroKo selbst gesetzte Klimaziel gleich als erstes von den SondiererInnen aufgegeben wurde, zeigt, wie „langfristig“ und „grundlegend“ die GroßkoalitionärInnen mit solch entscheidenen Fragen wie der bedrohten Zukunft des Planeten insgesamt umgehen – wenn es um Kosten für den „Industriestandort Deutschland“ geht.

Dieses Dokument der Schande muss zu Fall gebracht werden – egal, ob durch Proteste vor der endgültigen Entscheidung der SPD oder im Fall der Regierungsbildung zur Verhinderung der Maßnahmen. Im Rahmen der laufenden Tarifauseinandersetzungen, des sozialen Widerstands, der anti-rassistischen Mobilisierungen, der Klima-Proteste etc. muss die Gegenwehr gegen diese Politik auf die Straße gebracht und gebündelt werden. Die Jusos und SPD-Linken, die jetzt gegen dieses Dokument protestieren, müssen in ihrem Widerstand sich glaubhaft mit diesem Protest der Straße verbinden. Der Juso-Vorsitzende Kühnert hat einige der Kritikpunkte richtig benannt und auch Teilerfolge erzielt (z. B. bei der Ablehnung des Dokuments beim SPD-Landesparteitag in Sachsen-Anhalt). Jusos und SPD-Linke müssen jetzt ihren Worten Taten folgen lassen und einen Fraktionskampf in der SPD beginnen, der die bestehende Führung, die für diesen neuerlichen Verrat verantwortlich ist, stürzen soll. Ebenso muss die Linkspartei jenseits inhaltsleerer Forderungen nach einer neuen „linken Sammlungsbewegung“ (Lafontaine) zu Protesten und Demonstrationen aufrufen. Nur aus solchen heraus kann der Wunsch nach einer wirklich anderen und sozialistischen Politik zu einer Machtoption werden – nicht durch weitere parlamentarische Klüngelspielchen. Bringen wir die Möchtegern-GroßkoalitionärInnen zu Fall und kämpfen gemeinsam für das Ende ihrer Politik!




Verlängerung der EU-Zulassung für Glyphosat – Der Alleingang des Bundeslandwirtschaftsministers

Jürgen Roth, Infomail 980, 8. Januar 2018

Die aktuelle EU-Zulassung wurde 2002 erteilt und sollte ursprünglich zum 31. Dezember 2015 auslaufen. Am 20. Oktober wurde sie durch die EU-Kommission bis 30. Juni 2016 verlängert, da sich die Neubewertung aus Gründen verzögerte, auf die die Hersteller keinen Einfluss hätten. Diese Frist wurde um weitere 18 Monate bis Ende 2017 ausgedehnt, da keine qualifizierte Mehrheit unter den EU-Mitgliedsländern für oder gegen eine Neuzulassung zustande kam. Am 27. November 2017 hat eine qualifizierte Mehrheit aus 18 Ländern, darunter auch Deutschland, einer Verlängerung um weitere 5 Jahre zugestimmt.

Gemäß der Geschäftsordnung der Bundesregierung hätte sich die BRD enthalten müssen, denn Umwelt- und Landwirtschaftsministerium der geschäftsführenden Bundesregierung waren sich uneins. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) hatte eine Zulassung abgelehnt, doch CSU-Landwirtschaftsminister Christian Schmidt setzte sich ohne Rücksprache mit der Bundeskanzlerin über die Geschäftsordnung hinweg.

Die EU-Kommission muss bis zum 8. Januar 2018 auf die Unterschriftensammlung (1,1 Millionen gültige Unterzeichnungen) einer von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Greenpeace und Campact unterstützten Europäischen Bürgerinitiative (EBI) antworten, die den Mitgliedsstaaten den Vorschlag einer Überarbeitung der Genehmigungsverfahren für Pflanzenschutzmittel sowie eines Glyphosatverbots unterbreitete.

Der Alleingang Minister Schmidts bildet nur die Spitze des Eisbergs. Der Skandal innerhalb der geschäftsführenden Koalition wird durch den im alltäglichen Umgang mit Unkrautvernichtungsmitteln (Herbiziden) wie Glyphosat bei Weitem in den Schatten gestellt, die verharmlosend als Pflanzenschutzmittel bezeichnet werden.

Eigenschaften von Glyphosat

Glyphosat [N-(Phosphonomethyl)glycin] ist eine chemische Verbindung aus der Gruppe der Phosphonate und aufgrund der Bindung des Phosphoratoms an Kohlenstoff erheblich stabiler als die Ester der dreiwertigen phosphorigen Säure. Es ist die biologisch wirksame Hauptkomponente einiger Breitband- bzw. Totalherbizide und wurde seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre von Monsanto unter dem Handelsnamen Roundup auf den Markt gebracht. Weltweit ist Glyphosat seit Jahren der mengenmäßig bedeutendste Inhaltsstoff von Herbiziden und wird mittlerweile von mehr als 40 Herstellern vertrieben. Im Vergleich zu anderen Herbiziden weist Glyphosat meist eine geringere Mobilität, kürzere Lebensdauer (bessere Abbaubarkeit im Boden) und eine niedrigere Toxizität gegenüber Tieren auf. Da der reine Wirkstoff aufgrund seiner Polarität an der Außenhaut (Cuticula) der aufnehmenden Pflanze abperlt, wird er als wasserlösliches Salz in Verbindung mit Netzmitteln (Tensiden, Surfactants) zu sog. Formulierungen verarbeitet, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Bei der Prüfung auf Toxizität ist das zu berücksichtigen, da sie durch die Begleitstoffe zunehmen kann. Das Kaliumsalz kann eine Hypokaliämie auslösen, die hohe Giftigkeit des Netzmittels Talgfettaminoxethylat (POEA) für Amphibien (Lurche) ist bekannt und verdarb schon so manchem potenziellen Froschkönig das Quaken.

Die Internationale Agentur für Krebsforschung bewertet den Wirkstoff und seine Formulierungen als „wahrscheinlich krebserregend“ für den Menschen. Dieser Bewertung widersprechen andere Behörden wie die EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit/European Food Safety Authority), die sich dabei auf das Urteil des BfR (Bundesamt für Risikobewertung) stützt.

Das erstmals 1950 vom Schweizer Chemiker Henri Martin von der Firma Cilag synthetisierte Glyphosat sollte ursprünglich als eine von etwa 100 Varianten der Aminomethylphosphonsäure zu Wasserenthärtungszwecken getestet werden. Nach Entdeckung seiner herbiziden „Neben“wirkung in geeigneter Formulierung meldete es Monsanto 1974 zum Patent an.

Sein Wirkmechanismus beruht auf der Blockade des Enzyms 5-Enolpyruvylshikimat-3-phosphat-Synthase (EPSPS), das von Pflanzen und den meisten Mikroorganismen zur Synthese der aromatischen Aminosäuren benötigt wird. Glyphosat verdängt das eigentliche Enzymsubstrat Phosphoenolpyruvat (PEP), verhindert somit die Synthese und bewirkt das Absterben des Organismus.

Einsatz in der Landwirtschaft

Die geringe Verdampfung des Unkrautvertilgers und seine nahezu ausbleibende Auswaschung ins Grundwasser liegen an der hohen Adsorption an Bodenmineralien aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem Phosphation. Im Boden wird es verhältnismäßig rasch abgebaut. Dies erklärt seine Beliebtheit bei LandwirtInnen im Vergleich zu anderen Unkrautvernichtungsmitteln.

Glyphosat wird über alle grünen Pflanzenteile aufgenommen, auch von den Nutzsorten. Um diese zu schonen, wird es im konventionellen Pflanzenbau vor der Aussaat der Feldfrüchte auf den Acker gebracht, wo schon viele Unkräuter zu sprießen begonnen haben. Üblich ist auch ein Auftragen unmittelbar nach der Saat, wodurch schnell und oberflächlich keimendes Unkraut getroffen werden soll, während die tiefer eingesäten Kulturpflanzen verschont bleiben. In Deutschland wird Glyphosat zu 3 verschiedenen Zeitpunkten verwendet: um die Aussaat (s. o.) herum, zwischen Ernte der Winter- und Ausbringung der Sommerfrucht und – stark eingeschränkt – vor der Ernte (Sikkation). Letzteres ist z. B. in der Schweiz verboten.

Außerhalb der konventionellen Landwirtschaft, also beim (zusätzlichen) Einsatz glyphosatresistenter gentechnisch veränderter Nutzpflanzen (Baumwolle, Mais, Raps, Soja), wird der Einsatz des Totalherbizids zu weiteren Zeitpunkten möglich. Der Aufwand zur mechanischen Bodenbearbeitung verringert sich dabei, der Einsatz von Roundup & Co. erhöht sich umgekehrt drastisch.

Vorzeigeherbizid als Zauberlehrling

Die Entwicklung herbizidresistenten Unkrauts lässt sich bereits dokumentieren (z. B. Amaranthus palmeri), der Befall mit dem parasitären Spaltpilz Fusarium erhöht sich v. a. bei Getreide und Mais, die Bildung der Knöllchenbakterien wird behindert. Pflanzen, die auf symbiontische Mykorrhizapilze zum Gedeihen angewiesen sind wie Rosengewächse nehmen weniger Nährstoffe auf.

Diese zunehmenden Probleme durch resistente Unkräuter werden durch vermehrten Einsatz von Glyphosat und anderer Herbizide „bekämpft“. Die Glyphosatlobby schätzt dagegen trotzdem das Umweltprofil des Anbaus resistenter genetisch modifizierten Saatgutes positiver als den nicht resistenter Kulturpflanzen ein. Es soll nicht bestritten werden, dass Glyphosat im Durchschnitt umweltfreundlicher sein mag als das von ihm verdrängte andere Unkraut-Ex. Es bindet schneller an den Boden, was das Auswaschungsrisiko ins Grundwasser mindert, und wird dort durch Bodenbakterien biologisch abgebaut. Seine Giftigkeit für Säugetiere, Vögel und Fische ist geringer. Es ist im Unterschied zur „Konkurrenz“ nur kurze Zeit im Boden nachweisbar.

Die Verhältnisse im Ackerbau ähneln denen in der Medizin. Nicht Herbizide und Antibiotika sind an sich das Problem, sondern ihre unsachgemäße Anwendung ist es, die zu Resistenzen führt und damit vorhandene Waffen entschärft, Gefahren erzeugt, die immer schwerer zu bekämpfen sind. Ein wissenschaftlicher Umgang mit diesen Mitteln würde gerade nicht zuerst Breitbandwirkstoffe einsetzen, sondern solche, die gegen Unkräuter und Bakterien gezielt vorgehen. Das setzt ihre genaue Identifizierung voraus. Vor dem Antibiotikaeinsatz in der Medizin und vor diesen Diagnosen muss aber die Vorbeugung stehen (Hygiene, Desinfektion), damit erst gar keine Infektionskrankheiten ausbrechen. Selbst das deutsche Umweltbundesamt weist auf die Verbindung der Ausbringung von Glyphosat mit einer Einschränkung der biologischen Vielfalt hin. Eine effektive pfluglose Unkrautbekämpfung ließe sich auch durch vielfältige Fruchtfolgen, Zwischenfruchtanbau und Eggen realisieren. Der Einsatz des „Zauberherbizids“ ließe sich drastisch reduzieren und auf wenige „schwere Fälle“ beschränken.

Unzureichende Antworten

Der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz e. V. (BUND) Hubert Weiger fordert eine umfassende Neuordnung des Zulassungsverfahrens für Pestizide, die im Laufe diesen Jahres im Rahmen der Überarbeitung der EU-Pflanzenschutzverordnung ansteht. Er bemängelt, dass EFSA und BfR in ihren Expertisen Monsanto-Studien teilweise wortgleich übernommen haben, während kritische Gutachten als unzuverlässig eingestuft wurden. Die Zulassungsprüfung solle von „unabhängigen“ Instituten durchgeführt werden, die ihre „Konzernferne“ nachprüfbar dokumentieren müssten. Zudem müssten alle zur Bewertung herangezogenen Studien öffentlich gemacht werden. So sei die verheerende Wirkung von Glyphosat auf Artenvielfalt und Ökosysteme erwiesen, seine krebsauslösende Nebenwirkung zumindest nicht widerlegt. Sein Einsatz müsse eingeschränkt werden: privater und Gebrauch auf kommunalen Grundstücken könnten ebenso unterbleiben wie die Sikkation, erweiterte Pufferzonen für geschützte Flächen gelte es festzulegen, unter Berufung auf nationale Schutzklauseln sei ein Ausstieg nach 3 Jahren gemäß dem Beispiel Frankreichs möglich, schließlich solle ein Lebensmitteletikett für glyphosatfrei angebaute Erzeugnisse erwogen werden.

DIE LINKE forderte im Bundestag einen Gesetzentwurf zum bundesweiten Verbot, Grüne und SPD favorisierten einen Ausstiegsplan im Schulterschluss mit Frankreich. Einig waren sich die 3 Fraktionen in der Forderung nach dem Verbot von Insektenvertilgern aus der Wirkstoffgruppe der Neonikotinoide, die als maßgeblicher Faktor für das dramatische Bienensterben in Europa verdächtigt wird.

Gegen ökologische Reformflickschusterei!

Gegen diese Vorschläge ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen die Ausblendung des monopolkapitalistisch geprägten gesellschaftlichen Hintergrundes! Diese (klein)bürgerlichen Reformvorstellungen stellen zwar die Abhängigkeit des Staats von den Konzernen fest, meinen aber, per Bundestagsdekret PuppenspielerInnen und Marionetten austauschen zu können – ohne Eingriff in die Eigentumsverhältnisse.

„Unabhängige“ Studien? Die Monopole verfügen über die Wissenschaft, nicht der Staat und schon gar nicht unabhängige Privatinstitute. Folglich führen auch nur sie die erdrückende Zahl an Gutachten durch, weil in ihnen das gesamte Know-how konzentriert ist. Der Rest zehrt bestenfalls von den Erkenntnisbrosamen, die vom Tisch der Multis herunterfallen.

Selbst ein Verbot von Glyphosat würde doch die Entwicklung von Alternativen gänzlich in Konzernhand belassen, die unter dem Primat des Profits vorangetrieben werden und nicht der Nützlichkeit und Unbedenklichkeit. Monsanto zeigt gerade schlagend, dass das durchaus vorhandene Potenzial der Gentechnik sich in einen Fluch verwandelt. Statt Krankheiten zu bekämpfen, gegen Wachstumsbeeinträchtigungen immunes Saatgut zu züchten, steigert sie nur den Einsatz vom eigenen Hausherbizid, vermindert nicht die Abhängigkeit von chemischen Keulen, sondern steigert sie.

Die erste Forderung wäre also die entschädigungslose Verstaatlichung der Agrarmultis und Gentechnikkonzerne, die Offenlegung ihrer Patente und Studienergebnisse.

Darüber hinaus braucht es zweitens eine Agrarrevolution hin zu sowohl ökologisch nachhaltiger wie wissenschaftlich gestützter Boden-, Wald- und Gewässerbearbeitung. Diese ist drittens ohne staatlichen bzw. genossenschaftlichen Besitz an Grund und Boden unmöglich. Erst auf dieser Grundlage können Bodengüte- und –eignung als Kataster erfasst, eine planmäßige, kollektive Bearbeitung der Felder in Angriff genommen werden, weil nur so der Aspekt vielfältiger Fruchtfolge mit dem gesamtwirtschaftlicher Rentabilität in Einklang gebracht werden kann. Die sozialistische Menschheit wird’s danken – der Froschkönig auch.




Scheitern der Sondierung offenbart politische Krise

Thesen der Gruppe ArbeiterInnenmacht, 8. Dezember 2017, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18

1. Das Scheitern der Sondierungen um eine Jamaika-Koalition lässt eine tiefe politische Krise offen zutage treten. Diese kommt nicht überraschend, wenn auch deren unmittelbare Ursache – der Abbruch der Verhandlungen durch die FDP – verwundert hat.

2. Seither ist auch deutlich geworden, dass der Schritt der Liberalen keineswegs „spontan“ erfolgte, sondern vorbereitet war. Neben parteitaktischen Überlegungen lagen dem Scheitern durchaus reale Differenzen zugrunde, obwohl die Sondierungen knapp vor der Einigung standen. Die Grünen hatten einen weiteren Schritt nach rechts und zum „Patriotismus“ hin gemacht. Bei der Frage der Migration setzte sich die CSU weitgehend durch.

3. Die Verhandlung scheiterte an der FDP, weil sie eine andere, weit stärker neo-liberale Ausrichtung bürgerlicher Politik verfolgt und vor allem in der Europafrage zu weit gehende Zugeständnisse an „Umverteilung“, „Etatismus“ und „grüne Umweltpolitik“ erblickt. Hinzu kommt, dass die FDP stärker auf einen national-liberalen Kurs schwenkt, für den der österreichische ÖVP-Kanzler Kurz teilweise als Vorbild dient. Zweifellos waren alle 4 verhandelnden Parteien „pro-europäisch“ in dem Sinn, dass sie eine globale Stärkung der EU unter deutscher Vorherrschaft anstreben. Aber die Liberalen vertraten eine Linie, den halb-kolonialen Ländern des Südens keine Zugeständnisse in der Frage Schulden und Austerität zu machen und auch Frankreich keinen Spielraum für Investitions- und Konjunkturprogramme zu gewähren. Die Mehrheit der Union und die Grünen verfolgten und verfolgen ähnlich der SPD einen anderen Kurs. Sie gehen davon aus bzw. sehen sich gezwungen anzuerkennen, dass eine Überwindung der EU-Krise und der Aufbau eines schlagkräftigen Blocks im längerfristigen Interesse des Gesamtkapitals auch gewisse Konzessionen an den strategischen imperialistischen Verbündeten Frankreich und selbst an die schwächeren Staaten erfordern. Ansonsten droht die EU und auch die Euro-Zone zu zerbrechen.

4. Auch wenn diese Frage in den öffentlichen Stellungnahmen von denen der „ökologischen Wende“, der Migration, des Soli, … überlagert wurde, so bildet sie den Kern der Probleme und auch der politischen Krise. Die deutsche Bourgeoisie vermochte zwar ihre ökonomische Dominanz über die anderen Länder in Europa zu stärken, aber sie konnte die EU nicht erfolgreich zu einem Block formieren, der federführend um die Neuaufteilung der Welt kämpft. Im Gegenteil, diese ist krisengeschüttelt (Brexit, Lage in Spanien, Italien, …) und die deutsche Vorherrschaft geschwächt. So konnte die Regierung Merkel zwar eine Austeritätspolitik gegenüber Griechenland durchsetzen, aber sie wurde in der sog. „Flüchtlingskrise“ erfolgreich von rechts herausgefordert. Ebenso wenig konnte sie den Brexit Britanniens verhindern. In den meisten europäischen Ländern – und mit dem Wahlerfolg der AfD auch hierzulande – sind rechts-populistische, nationalistische, rassistische, rechts-extreme oder gar (halb)faschistische Gruppierungen auf dem Vormarsch, deren gemeinsamen Nährboden das drohende Scheitern der EU bildet. All das führt dazu, dass die EU trotz eines gewissen konjunkturellen Aufschwungs in einer tiefen, historischen Krise steckt, die auch die anderen Fragen prägt. Der „geschäftsführende Ausschuss“ der herrschenden Klasse und die deutschen Think-Tanks haben keine einheitliche Antwort auf die Frage, ja sie wird in der Regel nicht einmal offen diskutiert. Das „System Merkel“, das die deutsche Vormachtstellung „moderierend“ einführen wollte, sich vor allem auf das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und auf die Dominanz von EU-Institutionen verließ, ist praktisch gescheitert. Das ist die eigentliche Ursache seines „Autoritätsverlustes“. Das hat zugleich reaktionäre Antworten gestärkt – insbesondere in Form der AfD, aber darüber hinaus auch im gesamten übrigen bürgerlichen Lager. Das Scheitern der Sondierungsgespräche schafft für die EU ein weiteres Problem, da ihre Führungsmacht geschwächt wurde und wenig bis gar nicht in Erscheinung treten kann. Daher droht ein weiteres Zurückfallen hinter die USA und China, aber auch Russland.

5. Die Verhandlungen fanden zugleich vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Polarisierung im Inneren statt. Seit dem Beginn des Jahrhunderts und vor allem seit Einführung der Agenda-Gesetze wächst die soziale Ungleichheit zwischen den Klassen, aber auch innerhalb ihrer. Auch das schwächte die Bindungskraft von CDU/CSU und SPD in ihren „traditionellen“ Milieus nachhaltig. Da die SPD ohnedies die Politik der herrschenden Klasse administrierte und die Linkspartei zu keiner kämpferischen, sichtbaren Oppositionspolitik fähig war, verschob sich das politische Spektrum nach rechts. Nicht nur die SPD verlor Millionen Lohnabhängige. Immer größere Teile von ihnen fallen permanent durch den Rost „sozialpartnerschaftlicher“ Politik – und jene, die noch davon mäßige Verbesserungen erfahren, fürchten selbst früher oder später zum wachsenden Teil „prekärer“ Sektoren entsorgt zu werden. Die Krise der CDU/CSU führte dazu, dass sie ihre Funktion als vereinheitlichende bürgerliche „Volkspartei“ nicht mehr erfüllen kann. So fürchten AnhängerInnen aus kleinbürgerlichen und Mittelschichten, dass ihnen die CDU/CSU keine Zukunft und Stabilität sichern könne und suchen nach Alternativen. Das offen bürgerliche Spektrum ist heute de facto in fünf Parteien (AfD, CDU, CSU, Grüne, FDP) im Parlament zersplittert. Diese Uneinheitlichkeit des bürgerlichen Lagers spiegelt nicht nur die tiefe Spaltung der Bourgeoisie selbst wider, sondern auch die zunehmende Schwierigkeit, andere Klassen an sie zu binden. Es wird zunehmend schwieriger, eine Regierung des ideellen Gesamtkapitalisten zu bilden, weil schließlich immer mehr divergierende, ja entgegengesetzte bürgerliche Ideologien und Interessensgruppen unter einen Hut gebracht werden müssen.

6. Die herrschende Klasse ist in dieser Situation gezwungen, eine politische Krise offen anzuerkennen. Sie kann von Glück sagen, dass die konjunkturelle Lage zur Zeit noch relativ günstig ist. Das moderate Wachstum wird sich wahrscheinlich 2018 in Deutschland wie in der EU fortsetzen. Das ermöglicht kurzfristig eine Entschärfung der Verschuldungsproblematik auf dem Kontinent und hierzulande auch gewisse Verteilungsspielräume. Andererseits wird der Niedriglohnsektor, der Bereich unsicherer oder prekärer Verhältnisse fortbestehen, wenn nicht sogar anwachsen. Für mehr und mehr RentnerInnen droht Altersarmut. Das Wachstum der Wirtschaft könnte zu entschiedener geführten Tarifrunden führen, weil der Verteilungsspielraum noch günstig ist. Zugleich stellen aber auch drohende Massenentlassungen wie bei Siemens und Thyssen-Krupp Vorbotinnen für kommende Entwicklungen dar.

7. In der aktuellen politischen Krise drängen die herrschende Klasse, bürgerliche Medien, „ExpertInnen“ und alle „respektablen“ bürgerlichen Parteien, also die vier, die an der Sondierung beteiligt waren, auf die „staatspolitische Verantwortung“ der SPD. Neuwahlen sollen vermieden werden. Sie würden wahrscheinlich nicht nur die AfD stärken, sondern gleichzeitig auch keine anderen Koalitionsmöglichkeiten eröffnen. Während die Grünen, Teile der CDU und die SPD die FDP für den hinterlassenen „Scherbenhaufen“ verantwortlich machen, zeigen eine Reihe bürgerlicher Leitartikel oder Kommentare, z. B. in der FAZ, Verständnis für die Liberalen. Diese dürften für das Scheitern nicht allein verantwortlich gemacht werden. Dahinter steht, dass von etlichen bürgerlichen Kreisen der FDP die Rolle einer „respektablen“ Opposition zugedacht wird, die einerseits mehr Neo-Liberalismus einfordern, andererseits der AfD die Rolle der rechten Kritikerin an der Regierung streitig machen soll.

8. Eindeutlich favorisiert wird in der aktuellen Lage von bürgerlicher Seite die Bildung einer erneuten „Großen Koalition“. Diese wird sowohl Neuwahlen wie auch einer Minderheitsregierung von CDU/CSU oder aus Union/Grünen vorgezogen. Auch ein Einbeziehen der Grünen in eine Kenia-Koalition mit CDU/CSU und SPD ist unwahrscheinlich. Daher wurde seit dem Scheitern der Sondierung der Druck auf die SPD massiv erhöht. Noch am Montag, dem 20.11., hatten Parteivorstand und der Vorsitzende eine Große Koalition (GroKo) ausgeschlossen. Dann sollte zumindest darüber gesprochen werden. Der Druck kam dabei nicht nur aus dem offen bürgerlichen Lager. Ein Flügel der SPD forderte offen ein „Überdenken“ der Position. Bundespräsident Steinmeier übernahm eine besonders wichtige und bedeutende Funktion. Er hatte erste Gespräche mit auf den Weg gebracht und wird auch in Zukunft die beträchtliche formelle Macht seines Amtes sowie seine über den Parteien zu stehen scheinende Autorität für die Lösung der politischen Krise in die Waagschale werfen. Die Führungen der Industriegewerkschaften sind eindeutig Treiberinnen für eine neue GroKo, betrachten sie doch die letzte als eine Regierung, in der vieles für die „ArbeitnehmerInnen“ getan worden sei: Nahles-Rente, Mindestlohn, Leiharbeit und – was sie nicht offen sagen – die Einschränkung des Streikrechts für missliebige KonkurrentInnen. Mit seiner Entscheidung, „ergebnisoffen“ in Gespräche mit CDU/CSU einzutreten, ist der SPD-Vorstand dem Druck weitgehend entgegengekommen. Die Parteiführung bemüht sich zwar immer wieder zu betonen, dass „alles offen sei“, dass ein „Maximum“ an sozialdemokratischer Politik in einer etwaigen Koalition sichtbar sein müsse. Dies sind aber vor allem Mittel, die SPD-Mitgliedschaft schrittweise auf eine neue politische Katastrophe einzustimmen. Der Mehrheitsbeschluss des SPD-Parteitages vom 7. Dezember ist ein weiterer Schritt in diese Richtung.

9. Die Bildung einer Großen Koalition (oder einer GroKo plus unter Einschluss der Grünen) wäre ein politischer Rückschlag für die ArbeiterInnenklasse. Sie würde eine weitere Periode der Klassenkollaboration zwischen der Hauptpartei der Bourgeoisie und der bürgerlichen ArbeiterInnenpartei SPD in Regierungsform bedeuten. Die SPD würde, vermittelt über die Gewerkschaftsbürokratie und deren Apparat, die zumindest in den industriellen Kernbereichen einer Großen Koalition zuneigen, die Lohnabhängigen auf politischer Ebene an die Regierung, an das Kapital binden. Die Gewerkschaftsführungen würden wie schon in den letzten vier Jahren etwaige gewerkschaftliche und betriebliche Auseinandersetzungen immer in Hinblick auf die Stabilität der Regierung führen, sprich beschränken oder hintertreiben. Die drohende Stärkung der AfD würde nicht nur von SPD-Seite als Argument für die Große Koalition verwendet werden, sondern auch für die Gewerkschaften zur Rechtfertigung einer „moderaten“ Politik, die auf Partnerschaft mit Kapital und Kabinett abzielt. In Wirklichkeit wird die Beteiligung der SPD an einer Großen Koalition und die Fortsetzung der Gewerkschaftspolitik der letzten Jahre weitere unzufriedene WählerInnen aus der ArbeiterInnenklasse in Richtung AfD treiben. Der Sozial-Chauvinismus und die Standortpolitik werden sich auch unter einer neuen Großen Koalition nicht als Mittel gegen die Rechten, sondern als deren Wegbereiter erweisen.

10. Die Bildung einer Großen Koalition ist jedoch keine ausgemachte Sache. Schulz und die Mitglieder des SPD-Vorstandes wissen, dass ihre Aufkündigung eine der wenigen populären Entscheidungen seiner Zeit als Parteivorsitzender war. Nun sollen die Mitglieder für eine weitere Große Koalition durch angeblich „offene“ Gespräche, die jedoch auf eine Neuauflage der Katastrophe zielen, weichgekocht werden. Die CDU wird sich dabei vergleichsweise handzahm zeigen, während die SPD-Spitzen so tun werden, als hätten sie „eine neue Situation“ geschaffen. Ähnlich wie bei den Jamaika-Verhandlungen wird es heftigere Konflikte mit der CSU und dem rechten Flügel der Union bei der Frage des Familiennachzugs für geduldete Geflüchtete wie generell in der Migrationspolitik geben (Abschiebungen nach Syrien, Obergrenze). Auf keinen Fall sollte sich irgendjemand auf angeblich „rote Linien“ der SPD-Führung in den Verhandlungen verlassen. Natürlich ist sich die Führung der Partei bewusst, dass eine weitere Große Koalition die deutsche Sozialdemokratie ähnlich ruinieren könnte wie die Politik Hollandes die französische. Daher will sie die Verantwortung für eine solche Katastrophe wie für die Koalitionsbildung insgesamt auf die Mitglieder in Form einer Urabstimmung abwälzen. Zugleich behält sie jedoch die volle Kontrolle über die Verhandlungsführung und auch über die Präsentation des möglichen Ergebnisses von Gesprächen und Koalitionsverhandlungen. Diese pseudo-demokratische Taktiererei muss scharf angegriffen werden.

11. Inner- wie außerhalb der SPD müssen alle, die gegen die Neuauflage einer Großen Koalition sind, eine offensive Kampagne dagegen starten. Sie müssen jedes Zugeständnis, jeden Winkelzug der SPD-Führung entlarven. Alle SPD-Gliederungen sollen dem Beispiel der Jusos folgen, die sich offen gegen eine neue Große Koalition gewandt haben, gegen Sondierungsgespräche und etwaige Verhandlungen. Aber auch die Position der Jusos ist inkonsequent, wenn sie die Unterstützung einer offen bürgerlichen Minderheitsregierung nicht ausschließen. Daher muss die Ablehnung von Koalitionsverhandlungen um die Forderung ergänzt werden, dass die SPD auch keine bürgerliche Minderheitsregierung der Union oder von Union/Grünen tolerieren oder stützen darf. Darüber hinaus sollte der sofortige Rücktritt der SPD und ihrer MinisterInnen aus der „geschäftsführenden Regierung“ gefordert werden. In den Gewerkschaften sollten ebenfalls möglichst viele Gliederungen offen gegen eine Neuauflage der Großen Koalition eintreten. Aktive, klassenkämpferische Mitglieder sollten die Diskussion der Regierungsfrage und eine klare Positionierung der Gewerkschaften auf Versammlungen einfordern. Die Linkspartei sollte ebenfalls eine Kampagne gegen eine neue Große Koalition starten.

12. DER LINKEN käme eine Schlüsselrolle in der aktuellen Lage zu. Sie könnte eigentlich die SPD vor sich hertreiben, von links unter Druck setzen. Doch sie bleibt wesentlich passiv, erklärt, dass sie „vor Neuwahlen keine Angst hätte“ und mit der SPD in der Opposition zusammenarbeiten will. Was das heißen soll, für welche Forderungen und Ziele sie kollaborieren will, lässt sie im Dunkeln. Das Wort Mobilisierung kommt ihr nicht über die Lippen. Stattdessen beharkt sich die Führung der Partei selbst. Oskar Lafontaine greift die Linke von rechts an, wenn er eine „neue Sammlungsbewegung“ propagiert, die – natürlich unter seiner unhinterfragten Führung – Linkspartei- und SPD-übergreifend eine neue „einigende“ Kraft etablieren soll, die ähnlich wie Mélenchons „La France insoumise (Das widerspenstige Frankreich)“ Sozial-Chauvinismus, Patriotismus und Rückkehr zum Sozialstaat verbinden möge. Diese links-populistische Linie vertritt auch Wagenknecht in der Linkspartei. Die Krise der Linken wird dieses Projekt, sofern es über eine Kopfgeburt hinauskommen sollte, nicht lösen, sondern nur vergrößern.

13. Doch auch die Linken in der Linkspartei und links von ihr verharren in eigentümlicher Passivität angesichts der Lage. Ein Teil (z. B. Der Funke) fordert Neuwahlen, von denen angeblich auch die Linkspartei profitieren würde – sei es mit einer anderen Politik, die anscheinend vom Himmel fallen sollte, oder einfach aufgrund des Rechtsrucks der Grünen und der Unfähigkeit der SPD, die der Linken Stimmen quasi-automatisch zutreiben würden. Neuwahlen als solche werden nichts lösen (für Linke). Die Forderung liefert vielmehr einen falschen, elektoralen Fokus auf die politische Krise. Ein großer Teil der „radikalen Linken“ hat sich bis heute zum Ende der Sondierung nicht oder nur sehr knapp geäußert. Die „post-autonomen“ Strömungen widmen sich der politischen Krise erst gar nicht, die MLPD hat noch nichts veröffentlicht, die DKP stellt in einem Absatz gerade mal fest, dass die „Krise der Regierung“ nicht unsere sei. Die AKL veröffentlicht die recht ausführliche SAV-Stellungnahme, die ihren Fokus auf die Vorbereitung der Linken zu Neuwahlen legt. RIO kommentiert auch nur das Zeitgeschehen und fürchtet, dass von allen Entwicklungsmöglichkeiten die Rechten profitieren. Kaum eine Gruppierung fordert von der SPD, keine Große Koalition zu bilden oder eine Minderheitsregierung nicht zu unterstützen. An ehesten findet sich eine Andeutung davon noch bei ISO und der Führung der Linkspartei. Diese unmittelbar zentrale Frage wird beim Gros aber einfach ausgeblendet, womit die „radikale“ Linke (jedenfalls bisher) politisch hinter die Führung der Linkspartei oder die Jusos zurückfällt!

14. Eine Kampagne gegen eine Neuauflage einer Großen Koalition inner- und außerhalb der SPD und vor allem in den Gewerkschaften sollte damit verbunden werden, von SPD, Linkspartei, Gewerkschaften, der radikalen Linken, sozialen Bewegungen zu fordern, die politische Krise zu ihren Gunsten zu nutzen. Dazu braucht es auf der Straße, in den Betrieben, an Schulen und Unis eine Mobilisierung für unmittelbare soziale und politische Forderungen – kurz eine ArbeiterInneneinheitsfront zum Kampf gegen rechts und die zu erwartenden Angriffe auf Errungenschaften unserer Klasse. Für eine solche Einheitsfront schlagen wir folgende Forderungen vor:

  • Kampf gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse – Abschaffung der Hartz-Gesetze und aller Zwangsgesetze gegen Arbeitslose! Verbot von Leiharbeit und sachgrundlosen Befristungen! Gesetzliche Mindestpersonalbemessung in der Pflege! Mindestlohn von 12 Euro/Stunde netto! Mindestunterstützung von 1600,- für Arbeitslose und RentnerInnen! Gleicher Lohn für Frauen und MigrantInnen! 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Öffentliche Wohnungsbauprogramme für alle – finanziert aus der Besteuerung der Reichen, Immobilienspekulation und Kapitalgewinne! Enteignung leerstehenden Wohnraums zur unmittelbaren Linderung der Wohnungsnot! MieterInnenkomitees zur Kontrolle der Preise und des Baus!
  • Kampf dem Rassismus! Mobilisierung gegen AfD, rechte, rassistische und faschistische Gruppierungen! Keine Abschiebungen! Nein zur Hetze gegen MuslimInnen! Offene Grenzen für alle, gleiche StaatsbürgerInnenrechte, Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes für alle Flüchtlinge und MigrantInnen!
  • Programme gesellschaftlich nützlicher Arbeiten zum Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen, Unis, von Gesundheit und Kultur unter ArbeiterInnenkontrolle! Programm zum ökologischen Umbau von Energiewirtschaft und Verkehr, Enteignung der Großkonzerne in diesem Sektor unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Abschaffung der Schuldenbremse! Finanzierung obiger Maßnahmen durch progressive Besteuerung von Vermögen, Unternehmen und Gewinnen!
  • Nein zur Einschränkung der demokratischen Rechte! Abschaffung aller Geheimdienste! Aufhebung aller sog. „Sicherheitsgesetze“ zur staatlichen Überwachung!
  • Nein zu Militarismus und Auslandseinsätzen! Rückzug aller deutschen Truppen aus dem Ausland! Keine Aufrüstung der Bundeswehr! Keinen Cent für die Armee!
  • Statt Nationalismus und europäischem Imperialismus: europaweiter gemeinsamer Klassenkampf gegen Austerität und zur Verteidigung der Interessen der ArbeiterInnenklasse!

15. Eine solche Einheitsfront oder selbst der entschiedene Kampf für einzelne Forderungen könnte eine Wende im Klassenkampf bewirken. Auch wenn wir keineswegs die Illusion hegen, dass die SPD-Führung, die Spitzen der Gewerkschaften oder auch die Linkspartei daran teilnehmen würden oder wollen, so schlagen wir allen Organisationen der Linken und ArbeiterInnenbewegung vor, möglichst rasch eine Aktionskonferenz einzuberufen, die nicht nur die aktuelle Lage diskutiert, sondern vor allem auch gemeinsame Aktionen beschließt und zu deren Umsetzung regionale und lokale Mobilisierungsstrukturen aufbaut. Dieser Vorschlag richtet sich insbesondere auch an die anti-kapitalistische Linke. Wenn sie in dieser Situation ihre Kräfte bündelt, zu Absprachen in der Aktion kommt, so kann sie auch auf größere Organisationen, auf Parteien wie die Linke, Gewerkschaftsgliederungen oder auf SPD-Teile, die gegen eine Neuauflage der Großen Koalition sind, realen Druck ausüben. Sie kann so dem näherkommen, was wir angesichts des Rechtsrucks brauchen: einer glaubwürdigen, klassenkämpferischen und mobilisierungsfähigen linken gesellschaftlichen Kraft, die auf alle, die die Schauze voll von Rassismus, Chauvinismus, Billiglohn und der ganzen Scheiße haben, aber keine Perspektive sehen, eine Anziehungskraft ausübt. Versucht die radikale Linke keinen Anstoß in dieser Lage zu geben, so droht eine weitere Schicht von Lohnabhängigen politisch enttäuscht zu werden, in Frust, in Passivität zu verfallen oder gar nach rechts zu gehen.

 




Abbruch der Jamaika-Verhandlungen – Politische Krise in Berlin

Susanne Kühn, Infomail 973, 20. November 2017

Gescheitert! Schwarz-Gelb-Grün wird vorerst keine Regierung bilden. Kurz vor Mitternacht verließ die FDP die Sondierungsgespräche – laut Union und Grünen just zu einem Zeitpunkt, als eine Einigung nahe schien.

Das mag durchaus der Fall sein. Die Begründung der FPD, dass ihr erst Sonntagnacht auffiel, dass das „Gesamtpapier“, das schon am Freitag vorlag, ihren Überzeugungen und „Prinzipien“ widerspreche, mag glauben, wer will. Die „Rekonstruktion“ und Rechtfertigung des Scheiterns der Verhandlungen überlassen wir an dieser Stelle getrost anderen. Es ist auch nicht notwendig, die Differenzen auf einzelnen Politikfeldern zu wiederholen, die über die Wochen immer wieder v. a. zum Migration, Klima, aber auch zu Finanzen und Zukunft der EU hervortraten.

Bemerkenswert ist vielmehr, dass Union und Grüne anscheinend vor einer Einigung standen, als die FDP für alle überraschend die Verhandlungen platzen ließ. Die Grünen warfen ihr vor, eine gemeinsame Regierung ohnedies nicht gewollt zu haben. CDU-Vertreterin Klöckner sprach von einer schlechten „spontanen Inszenierung“. In selten trauter Einigkeit lobten Seehofer und die Grünen Angela Merkel. Ob nun die FDP die Hauptverantwortung für das Platzen der Jamaika-Koalition trägt oder ihr „nur“ ebendies in die Schuhe geschoben werden soll, ist letztlich zweitrangig. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sie scheiterte, obwohl die Grünen der CSU anscheinend noch weitere Zugeständnisse gemacht haben. Ob die FDP nun aus rein taktischem Eigeninteresse motiviert die Koalition platzen ließ und plötzlich ihre Werte, freien Markt kombiniert mit Nationalismus, „entdeckte“ – hinter diesen Formeln offenbart sich auch eine tiefe politische Krise im gesamten bürgerlichen Lager.

Unwahrscheinlich war das Scheitern der Gespräche nicht, dessen konkrete Form aber schon. Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, dass Jamaika an „zu wenig Vertrauen“, am Mangel an „staatspolitischer Verantwortung“, an „mangelnder Kompromissfähigkeit“, an der „angeschlagenen Autorität“ Merkels, am Machtkampf in der CSU, am „Unwillen“ der FDP gescheitert sei. Diese Faktoren spielten natürlich eine Rolle. Es scheinen nebensächliche, triviale Faktoren zu sein, die maßgeblich das Scheitern herbeiführten. So sehr die handelnden Personen auch Banalität, Egomanie, unterschiedliche „Kultur“ verkörpern, so erklärt das aber letztlich nichts.

Widersprüche

Vielmehr gilt es, die tieferen Ursachen, die inneren Widersprüche des deutschen Kapitalismus zu verstehen, die in einem immer einigermaßen wahrscheinlich gebliebenen, in der Form jedoch überraschenden, ja zufälligen Ende der Sondierung hervorgetreten sind. Dies ist umso wichtiger, als die AkteurInnen selbst jede Menge Nebelkerzen über ihr eigenes Handeln, ihre Motive, den Stand der Verhandlungen in die Welt setzen – und selbst wesentlich an oberflächlichen Fragen hängenbleiben.

Hinter dem Zusammenbruch der Sondierungsgespräche steht eine tiefe strategische Krise der herrschenden Klasse. Unter den Regierungen Merkels vermochte der deutsche Imperialismus zwar Ländern wie Griechenland seine Austeritätspolitik aufzuzwingen, seine Krise auf Kosten der anderen Länder der EU abzufangen, die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals auf dem Weltmarkt zu halten, wenn nicht zu stärken. Aber er konnte die EU nicht als Block unter seiner Führung oder einer deutsch-französischen Achse weiter einen. Im Gegenteil, in der internationalen Konkurrenz und im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt sind die EU und Deutschland als geo-strategische Akteure gegenüber den USA und China, ja auch Russland zurückgefallen. Der Hauptgegensatz zwischen den imperialistischen Großmächten ist mittlerweile der zwischen den USA und China, während die EU in ihrem aktuellen Zustand weiter zurückbleibt.

Brexit, die sog. „Flüchtlingsfrage“, die zunehmenden nationalistischen Gegensätze, die ungelösten Konflikte über die Finanzpolitik, die militärische wie politische Schwäche gegenüber den globalen Konkurrenten, die inneren Widersprüche der EU-Institutionen – all das bedeutet, dass der deutsche Imperialismus in einer widersprüchlichen Situation steckt. In den letzten Jahren wurde zwar offenbar, dass es einer neuen, klaren europapolitischen Strategie zu einer Vereinheitlichung der EU unter deutscher Führung (z. B. in Form eines Kerneuropa) bedarf, um zu verhindern, dass die EU weiter hinterhertrabt oder Euro und Staatenbund überhaupt auseinanderfliegen.

Aber der „geschäftsführende Ausschuss“ der herrschenden Klasse und die deutschen Think-Tanks haben keine einheitliche Antwort auf die Frage, ja sie wird in der Regel nicht einmal offen diskutiert. Das „System Merkel“, das die deutsche Vormachtstellung „moderierend“ in Europa einführen wollte, das sich vor allem auf das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und auf die Dominanz von EU-Institutionen verließ, ist praktisch gescheitert. Das ist die eigentliche Ursache seines „Autoritätsverlustes“. Das hat zugleich reaktionäre Antworten gestärkt – insbesondere in Form der AfD, aber auch im gesamten bürgerlichen Lager.

 

Dieses fundamentale Problem, das alle anderen „großen Themen“ und „Zukunftsfragen“ wie Klimaschutz, Flüchtlingspolitik, Digitalisierung überschattet, erscheint in der deutschen „offiziellen“ Politik als mehr oder minder über den Parteien stehend. Nur Linkspartei und AfD beziehen hier offen und zumindest partiell Gegenpositionen aus reformistischer oder rechter Sicht. Ansonsten erschien das EU-Thema in den Koalitionsverhandlungen allenfalls als „Zahlungsfrage“ – die strategische Zielsetzung wurde öffentlich nicht angesprochen.

Die Regierungen unter Merkel haben – gerade weil sie auch Erfolge des deutschen Kapitals verwalteten und die Exportindustrie befeuerten – die strategischen Probleme zunehmend vor sich hergeschoben oder sind an den inneren Gegensätzen der EU, ihren Widersprüchen an Grenzen gestoßen.

Fragmentierung des Parteiensystems

Auch wenn die EU-Frage nach außen hin relativ wenig Erwähnung fand, so machte sie sich nichtsdestotrotz bei den Verhandlungen geltend. Alle „PartnerInnen“ fürchteten, dass ein „Weitermachen“ unter Merkel IV mit denselben politischen Zielen und Methoden nicht nur kein Problem lösen, sondern sie selbst auch politisch schwächen würde. Zudem sitzt der CSU die AfD im Nacken und die FDP fürchtet, in einer neuen Regierung wieder über den Tisch gezogen zu werden. Die Grünen erwiesen sich als die „Beweglichsten“ – nicht nur wegen ihres Opportunismus und Rechtsrucks, sondern auch weil sie politisch-inhaltlich Merkel und dem Teil der CDU, der hinter ihr steht, tatsächlich näher als CSU und FDP stehen.

Die Verhandlungen fanden zudem vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Polarisierung im Inneren statt, die die Bindekraft von CDU/CSU und SPD bei ihren „traditionellen“ Milieus schwächte. Da die SPD ohnedies die Politik der herrschenden Klasse administrierte und die Linkspartei zu keiner kämpferischen, sichtbaren Oppositionspolitik fähig war, verschob sich das politische Spektrum nach rechts. Nicht nur die SPD verlor Millionen Lohnabhängige. Die Krise der CDU/CSU führte dazu, dass sie ihre Funktion als vereinheitlichende bürgerliche „Volkspartei“ nicht mehr erfüllen kann. Das offen bürgerliche Spektrum ist heute de facto auf fünf Parteien (AfD, CDU, CSU, Grüne, FDP) im Parlament zersplittert, was objektiv die Bildung von Regierungen erschwert.

Das Scheitern der Sondierungsgespräche bedeutet eine tiefe politische Krise nicht nur in Deutschland. Auch als EU-Führungsmacht wird die Bundesrepublik wenig bis gar nicht in Erscheinung treten können. Natürlich werden „Reformen“ und Gesetze auf den Weg gebracht. Natürlich dominiert Deutschland weiter. Aber die grundlegenden Fragen liegen auf Eis – und damit wird sie weiter gegenüber USA und China an Boden verlieren.

Das Scheitern der Sondierung bringt alle diese Probleme in Form einer Regierungskrise auf den Tisch. Katerstimmung und Ratlosigkeit herrschen vor. Alle möglichen Kombinationen werden aufgezählt – von einer Minderheitsregierung über das Weichkochen der SPD bis hin zu Neuwahlen.

In dieser Situation wird, gewissermaßen als Nebenprodukt, unwillkürlich die Rolle des Bundespräsidenten gestärkt, der lange Zeit als eine bloß „moralische“ Instanz, als eine Art Grüßdirektor des deutschen Imperialismus erschien. Auch wenn von Steinmeier keine politischen Abenteuer zu erwarten sind, so wird seine Präsidentschaft wohl damit einhergehen, dass sich die Rolle des Amtes, ihre Bedeutung für die Regierungsbildung verändert. Ein „aktiver“ Präsident wird gestärkt, mag er sich vorerst auch nur auf moralische Appelle beschränken, die Parteien an ihre „Verantwortung für das Land“ zu erinnern. Damit werden autoritäre Tendenzen und Institutionen hoffähig gemacht, die zum Einsatz kommen können, falls auf parlamentarischem Wege oder durch das Handeln der Parteien die Probleme der Regierungsbildung nicht gelöst werden können.

In den nächsten Monaten müssen wir uns auf eine Fortsetzung der Regierungskrise einstellen. Wahrscheinlich wird die Große Koalition noch bis weit ins Jahr 2018 „übergangsweise“ im Amt bleiben. Das könnte selbst bei Neuwahlen zutreffen, da diese wahrscheinlich zu einem ähnlichen Ergebnis – und damit zu erneuten Schwierigkeiten bei der Koalitionsbildung – führen würden. Auch wenn sich die Kräfte deutlich verschieben, so erleichtert das keinesfalls notwendig die Regierungsbildung.

Hinzu kommt, dass es in mehreren politischen Parteien zu größeren personellen Änderungen und Machtkämpfen kommen kann. So erscheint eine Verschärfung der inneren Krise der CSU unvermeidlich. Auch die Grünen werden ihr Führungsduo in Frage stellen. Ebenfalls kann bei Neuwahlen eine Ablösung Angela Merkels zum Thema werden. Schon heute hält sich sich vor allem, weil ein sofortiger Rücktritt Deutschland weiter schwächen würde und die CDU über keine/n unumstrittene/n NachfolgekandidatIn verfügt. Es ist aber klar, dass Merkel von der ewigen Kanzlerin zum Auslaufmodell mutiert ist.

Eine Neuauflage der Großen Koalition – unwahrscheinlich, wenn auch nicht ganz auszuschließen – käme nicht nur einem politischen Selbstmord der SPD gleich. Es ist auch fraglich, ob sie ohne tiefe Krise der Sozialdemokratie überhaupt zu haben wäre – und somit ebenfalls eine instabile Regierung bedeuten würde.

Schließlich bleibt eine Minderheitsregierung, die jedoch nur Bestand haben könnte, wenn sie nicht nur von CDU/CSU (eventuell einschließlich der Grünen) getragen würde, sondern vermittelt über den Präsidenten, Bundestag und Bundesrat auch eine indirekte Stütze in der SPD z. B. bei Europafragen hätte.

Wie man es auch dreht und wendet, für die herrschende Klasse wird die Krise nur schwer lösbar sein. Für die ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften, die Unterdrückten eröffnet das auch eine Chance. Damit diese genutzt werden kann und nicht zu einer Stärkung der AfD führt, bedarf es aber einer politischen Neuausrichtung der ArbeiterInnenbewegung selbst, eines Bruchs mit der Politik von Klassenzusammenarbeit und Sozialpartnerschaft sowie der Bildung einer Aktionseinheit gegen die Angriffe des Kapitals, die Maßnahmen der „geschäftsführenden“ Regierung und gegen den Rechtsruck.




Wahlen in Niedersachen: SPD gewinnt – Linke wieder gescheitert

Bruno Tesch, Infomail 967, 16. Oktober 2017

Die Wahlen im nach Bayern zweitgrößten Flächenland der Bundesrepublik haben gezeigt, dass die politische Stimmungslage alles andere als stabil ist. Die WahlforscherInnen hatten zwar ein rasches Aufholen der regierenden SPD konstatiert, waren jedoch von einem Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden großen Parteien ausgegangen. Es kam anders.

Die niedersächsischen Landtagswahlen mussten vorgezogen werden, weil vor 2 Monaten eine Abgeordnete von den Grünen „Bäumchen, wechsle dich“ spielte und unter die Fittiche der CDU-Fraktion schlüpfte. Dadurch war die Koalition aus Sozialdemokratie und Grünen mit einem Mal nicht mehr mehrheitsfähig.

Die CDU hatte sich im Vorgefühl des Sieges auf einen Koalitionspartner, die FDP, festgelegt. Das stieß im Gegenzug bei den niedersächsischen Grünen insofern auf Verständnis, da sie ihrerseits eine „Jamaika“-Kombination ausschlossen und mit der SPD weiterkoalieren wollten. Die FDP wiederum wollte auf keinen Fall in eine Ampelkoalition mit SPD und Grünen einsteigen.

So hatte sich schon vor dem Wahltag eine Lagerkonstellation „rot-grün“ „schwarz-gelb“ gebildet.

SPD in Niedersachsen

Die SPD hatte schon bei den Bundestagswahlen mit 33 % in Niedersachsen ihr vergleichsweise bestes Ergebnis einfahren können und zog mit 37 % klar an ihrer Konkurrentin CDU vorbei, die sogar Verluste hinnehmen musste.

Der niedersächsischen SPD und ihrem Ministerpräsidenten Stefan Weil wehte der Wind jedoch nicht so stark ins Gesicht wie der Bundespartei. Sie war nicht Juniorpartnerin, sondern saß im Chefsessel. Ihr wurden daher die Regierungsleistungen anscheinend gutgeschrieben. Um welche „Errungenschaften“ es sich dabei handelte, ist schnell aufgezählt: Einstellungen beim Polizeipersonal auf einem Allzeithoch, Rückgang von Wohnungseinbrüchen bei der Kriminalitätsstatistik. Mit dem Verbot eines deutschsprachigen Islamkreises sowie der Abschiebung zweier islamistischer „Gefährder“ präsentiert sich Niedersachsen als Vorbild für andere Bundesländer. Im Bildungsbereich tat sich das Land immerhin als erstes mit der Abschaffung des Turboabiturs hervor, doch Kultusminstererin Heiligenstadt wurde mit ihrem Vorstoß, GymnasiallehrerInnen zur Behebung des Unterrichtsausfalls zu Mehrstundenableistung zu verpflichten, vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg zurückgepfiffen. Auch der in jüngster Zeit durch Indiskretion hochgekommene Vorwurf, Ministerpräsident und VW-Aufsichtsratsmitglied Weil habe sich vom Konzern einen Redeentwurf redigieren lassen, hat sich nicht nachteilig für Partei und Spitzenkandidat ausgewirkt.

Die SPD schnitt regional am besten in ihren traditionell starken Hochburgen im Süden ab, und unter den WählerInnen „mit schlechter wirtschaftlicher Situation“ nahm sie eine dominante Position ein (35 %). Mehr Frauen als Männer wählten sozialdemokratisch (38 % : 36 %)

CDU

Mit Kandidat Althusmann kam ein Karrierist, der sich nicht lange mit Lokalpolitik aufgehalten hatte und schnell landesherrliche Ambitionen hegte, an die Spitze der CDU. Unter Wulff Kultusminster, vertrat er als Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung drei Jahre deutsche imperiale Interessen in Namibia im südlichen Afrika, hatte sich aber schon vor dem Rückflug in Position für den vakanten niedersächsischen Parteivorsitz gebracht. Erst vor einem halben Jahr war er dann heimgekehrt. Ein Bonus bei der Parteibasis oder eine Nähe zum Wahlvolk kann ihm kaum nachgesagt werden.

Auch sein Konzept, davon zu profitieren, dass der regierenden Koalition aus SPD und Grünen auf kaltem Wege die Mehrheit entzogen wurde, ob von der CDU eingefädelt oder nicht, und dem scheinbaren Niedergang der SPD zuzuschauen, ging nicht auf. Als das Pendel umzuschwingen begann und auf Bundesebene die Union die derbsten Verluste einfuhr, warf er hastig das Ruder herum und ging auf Distanz zur Parteichefin Merkel.

Dies und die Art und Weise, wie die Auflösung des Landtags zustande kam, wurde von der WählerInnenschaft anscheinend allgemein nicht akzeptiert, und schon gar nicht mit Stimmenzuwächsen für die Konservativen honoriert. Zudem hatte ein Bericht der CDU über Versäumnisse der Landesregierung bei der Terrorabwehr einen Bumerang-Effekt, denn der Landespolizeipräsident Binias (CDU) sprach von falschen Darstellungen im Untersuchungsbericht und trat aus der Partei aus.

Der aus dem SPD/Grünen-Mehrheitsfass übergelaufene Tropfen Twesten ist bereits verdunstet, die CDU löste der Ex-Grünen-Politikerin kein Ticket für eine Listenkandidatur zum niedersächsischen Landtag.

Die Grünen erzielten 2013 bei den letzten Niedersachsenwahlen ihr Traumergebnis im Gefolge der Fukushima-Krise. Diesmal retteten sie sich zwar noch auf Platz 3, verloren aber fast 5 % gegenüber 2013.

Die AfD konnte mit 6,1 % ihr niedersächsisches Ergebnis der Bundestagswahlen vor 3 Wochen (8 %) nicht erreichen. Doch wer nun glaubt, der Rechtspopulismus sei geschwächt, irrt. Wieder zieht diese Partei in ein weiteres Parlament ein. Der Wahlkampf war auch in Niedersachsen stark geprägt durch die von der AfD nach vorn gebrachten Themen. Das Geschäft des staatlichen Rassismus wird, wie das Beispiel des Innenministers Pistorius mit Verfolgung und Abschiebepraxis zeigt, sehr konsequent von anderen Parteien, in diesem Fall der SPD, besorgt.

Die Linke hat es in Niedersachsen erneut nicht geschafft. Zwar hat die Partei ihr verheerendes Resultat von 2013 (3,1 %) verbessern können, aber gereicht für den Einzug in den Landtag hat es wieder nicht. Eine Partei, die die Gepflogenheiten der bürgerlichen Parteien und der SPD nachäfft, und die ihre Aktivitäten an den Rhythmus des bürgerlichen Parlamentarismus anpasst, kann ihr Selbstwertgefühl folglich auch nicht steigern, wenn stimmarithmetische Erfolge ausbleiben.

Dabei liegen die Themen, die nach klassenkämpferischen Antworten auch außerhalb von Wahlzeiten verlangen, buchstäblich auf der Straße oder auf Station – wie z. B. das öffentliche Verkehrsnetz, das darniederliegende flächendeckende Gesundheitswesen oder die notdürftige Bildungsversorgung. Die Partei stellt wie alle anderen ihr Programm nur zu Wahlen vor und mottet es dann wieder ein, statt damit aktiv einzugreifen und Kräfte in der ArbeiterInnen-, sozialen und MigrantInnen-Bewegung zu organisieren. Der Widerstand gegen Rassismus, rechte Ideologie und Politik, selbst in den eigenen Reihen, wird nur halbherzig betrieben.

Diese Wahl in Niedersachsen zeigt mit einem 5-Parteien-Parlament eine zunehmende Aufsplitterung der politischen Landschaft und stellt die Bourgeoisie im Bund und auf Landesebene vor Stabiltätsprobleme. Für die ArbeiterInnenklasse ist der Wahlausgang aber auch aus einem anderen Grund keine beruhigende Nachricht. Für die Regierung strebt Weil Jamaika oder eine Große Koalition an. Die sozialdemokratische Koalitionspolitik, die bei den Bundestagswahlen so kläglich wie verdient gegen die Wand gefahren ist, soll in Niedersachsen wiederbelebt werden. Auf Kosten der Lohnabhängigen, versteht sich.




CDU/CSU – Die Obergrenze heißt jetzt Richtwert

Martin Suchanek, Infomail 965, 9. Oktober 2017

Am Rechtsruck soll die Union nicht zerbrechen. Auf diesen „Kompromiss“, der ohnedies nie in Frage stand, einigten sich CDU und CSU für die anstehenden schwarz-gelb-grünen Koalitionsverhandlungen.

Die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge soll in Zukunft 200.000 pro Jahr nicht übersteigen. Nur in „Sonderfällen“ soll sie „aufgeweicht“ werden. Zu solchen gehören der Krieg in Syrien, die Flucht von Millionen in und aus Afrika, die Unterdrückung der KurdInnen in der Türkei, imperialistische Besatzung und islamistische Angriffe in Afghanistan sowie unzählige andere Akte barbarischer Unterdrückung offenbar nicht. Der „Normalzustand“ der herrschenden globalen Ordnung reicht eben längst nicht aus, die humanitären Ansprüche auch nur des bürgerlichen Rechts zu aufrechtzuerhalten –

sonst wäre Deutschland „überfordert“. Ausgerechnet den Armen oder von Armut Bedrohten, denen, die in der Konkurrenz überrollt zu werden drohen, wären noch mehr Arme nicht zuzumuten. Schließlich sollen ja auch nicht Armut und Ausbeutung hierzulande oder sonst wo auf der Welt gemildert, sondern jene nur gegeneinander in Stellung gebracht werden.

Dazu sollen die Selektions- und Abschottungsinstrumente gegen die Geflüchteten noch einmal ausgebaut werden. Flüchtlinge und AsylbewerberInnen sollen in „Aufenthaltszentren“ weggesperrt werden. Freizügigkeit gilt schließlich nicht für jede/n. Das Recht auf Asyl soll wohl so unangetastet bleiben wie schon bei den Einschränkungen der letzten Jahrzehnte. Die Mauer um Europa soll endlich dicht gemacht werden – am besten schon außerhalb des EU-Gebiets im Norden Afrikas oder im Nahen Osten. Bis dahin sollen auch die deutschen Außengrenzen kontrolliert werden.

Natürlich sind die Unionsparteien – ganz im Gleichschritt mit der deutschen Wirtschaft – nicht gegen jede Migration. Diese muss jedoch „unseren“ Interessen, also der Nachfrage deutscher Unternehmen entsprechen, also „gezielt gesteuert“ werden.

Dass sich die Unionsparteien auf einen solchen „Kompromiss“ geeinigt haben, dass auch Merkel nichts Grundsätzliches gegen eine zum Richtwert geworden Obergrenze einzuwenden hat, haben ohnedies nur AfD-SpinnerInnen und völkische Hohlköpfe geleugnet. Es sollte daher auch nicht verwundern. Ohne Rassismus sind Imperialismus und Großmachtambitionen eben nicht zu haben.

Und die möglichen KoalitionspartnerInnen?

Natürlich sind mit der Vereinbarung längst nicht alle Probleme in der Union und erst recht nicht für Sondierungen und Verhandlungen zur Koalitionsbildung gelöst. An den Richtwerten werden sie wahrscheinlich jedoch nicht scheitern.

Die FDP signalisiert ohnedies, dass sie mit dem Ganzen leben kann. Abschiebungen, Festung-Europa, Lagersystem – alles halb so wild, solange es nur „mit dem Grundgesetz vereinbar“ ist.

Die Grünen-Parteivorsitzende Peter lehnt den „Richtwert“ von 200.000 als notdürftig kaschierte „Obergrenze“ ab und erklärt forsch, dass darüber noch verhandelt werden müsse. Welche Ansage! Die Koalitionsverhandlungen wegen eines Richtwerts zum Scheitern bringen wollen aber offensichtlich auch die Grünen nicht.

Immerhin, die Botschaft ist klar. Rassismus ist nicht nur von der AfD zu erwarten. Die nächste Regierung steht für eine Verschärfung der Angriffe auf Geflüchtete und MigrantInnen, die schon unter der Großen Koalition zur unerträglichen „Normalität“ wurden.