Seekorridor nach Gaza: Humanitäre Flankendeckung für den Krieg

Martin Suchanek, Infomail 1248, 16. März 2024

Die Hungersnot in Gaza ist mittlerweile auch bei den imperialistischen Staats- und Regierungschef:innen angekommen. Ob Joe Biden, Ursula von der Leyen oder Olaf Scholz: Alle beklagen die humanitäre Katastrophe, die in Palästina droht.

Seit Monaten spitzt sich die humanitäre Lage dramatisch zu. Über 30.000 Menschen wurden seit Oktober von der israelischen Armee getötet, der größte Teil der Bevölkerung wurde zu Flüchtlingen im eigenen Land.

Seit Monaten warnen internationale Hilfsorganisationen vor einer Hungersnot, die lt. UNO aktuell mehr als einer halben Million Menschen direkt droht. Am schlimmsten ist die Lage im Norden des Gazastreifens, der von der IDF abgeriegelt ist und in den praktisch keine Hilfslieferungen gelangen. Besonders akut gefährdet sind Kinder. So berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AP: „Im Emirati-Krankenhaus in Rafah starben in den vergangenen fünf Wochen 16 Frühgeborene an den Folgen von Unterernährung.“ Neben Hunger drohen aufgrund von Unterernährung, Wassermangel und katastrophalen hygienischen Zuständen Krankheiten oder gar die Ausbreitung von Seuchen.

Überraschend kommt diese barbarische Entwicklung nicht. Schon vor dem Krieg waren 1,2 der 2,3 Millionen Einwohner:innen Gazas auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Der größte Teil davon entfällt seit Monaten. Rund 500 LKW bräuchte es pro Tag, um die Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen, doch Israel lässt nur einen Bruchteil davon durch, im Februar durchschnittlich gerade 83 LKWs pro Tag. Dabei könnten jederzeit mehr Lastwagen die Grenze passieren, doch diese werden aufgehalten, während sich der Hunger ausbreitet.

Die Katastrophe wie auch der Tod Zehntausender wären vermeidbar gewesen; vermeidbar ist auch der drohende Hungertod weiterer Zehntausender. Notwendig wären dazu aber ein sofortiger Waffenstillstand und die Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen mit Nahrung, Wasser, Kleidung, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung.

Israel blockiert

Doch von einer Öffnung der Grenzen, von mehr Hilfslieferungen und erst recht von einer Feuerpause, geschweige denn einem Waffenstillstand will das Kriegskabinett Netanjahu nichts wissen. Selbst die Forderungen der US-Administration nach einem befristeten Waffenstillstand werden bislang mehr oder weniger undiplomatisch zurückgewiesen, zumal die israelische Regierung weiß, dass die USA, Britannien, Deutschland und die anderen EU-Mächte weiter Waffen liefern, weiter finanzielle und diplomatische Unterstützung gewähren.

Die Scharfmacher:innen in der israelischen Regierung setzen ganz offen auf Krieg und Vertreibung. Ihr extremer rechtsradikaler Flügel sieht sich seinem Kriegsziel näher, eine weitere ethnische Säuberung Palästinas, also die Vertreibung von Millionen aus Gaza, umzusetzen. Hunger wird dabei als Waffe eingesetzt.

Andere Falken wollen durch das Aushungern der Bevölkerung die Freigabe der israelischen Geiseln erzwingen. So erklärt der ehemalige Chef des Nationalen Sicherheitsrats Israels Giora Eiland in einem Interview unverhohlen: „Wenn die Palästinenser wirklich dringend humanitäre Hilfe benötigen, dann muss ihnen gesagt werden: Wenn sie essen wollen, müssen sie auf ihre Regierung Druck ausüben, damit diese einen Geiseldeal eingeht.“

Humanitäre Heuchelei

Das vom Westen ansonsten so gepriesene Völkerrecht, das die Verpflichtung von Besatzungsmächten zur Versorgung der Bevölkerung vorsieht, wird wieder einmal mit Füßen getreten. Diese barbarische Logik wollen selbst die Führungen der imperialistischen Mächte nicht einfach absegnen, wissen sie doch, dass die offene Weigerung, die Bevölkerung in Gaza auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen, die ohnedies löchrige demokratische Fassade des Krieges vollständig zum Einbruch bringen könnte.

Sie geben sich daher besorgt und von ihrer humanitären Seite. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist „zutiefst beunruhigt über die Bilder aus Gaza“. Selbst angesichts der Hungersnot wird der genozidale Angriffe jedoch noch schöngeredet, wenn sie kritisiert, dass Israel seiner Pflicht gegenüber der Bevölkerung nur „begrenzt“ nachkomme. Selbst der deutschen Außenministerin Baerbock entgeht nicht, dass Frauen und Kinder am meisten leiden würden, und so verlangt sie, wenn auch seit Wochen vergeblich, eine „humanitäre Kampfpause“. Verbal noch deutlicher gibt sich die US-Adminstration. So fordert US-Vizepräsidentin Kamala Harris von Netanjahus Regierung: „Keine Ausreden, sie müssen neue Grenzübergänge öffnen und unnötige Beschränkungen aufheben“.

Diese humanitären Anwandlungen der Größen westlicher Politik entpuppen sich regelmäßig als leere Phrasen. Niemand ist bereit, die israelische Regierung so sehr unter Druck zu setzen, dass sie sich zu einer Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen oder gar zu einem Waffenstillstand genötig sieht. Dabei hätten die Staats- und Regierungschef:innen von USA und EU jederzeit die Hebel in der Hand, das zionistische Regime zum Einlenken zu zwingen, indem sie ihm den Stopp von Waffenlieferungen, Hilfsgeldern und diplomatischem Schutz androhen. Dass das nicht passieren wird, solange sie nicht durch eine Massenbewegung in ihren eigenen Ländern dazu gezwungen werden, weiß natürlich auch Netanjahu.

Mehr noch, die westlichen Staaten sind nicht einmal bereit, die Anträge Südafrikas und anderer Staaten beim Internationalen Gerichtshof (IGH) zu unterstützen, die Israel zur Versorgung der Bevölkerung zwingen sollen. Selbst eine solche Maßnahme, die letztlich mehr symbolisch als real wäre, weil es dem IGH an den Mitteln zur Durchsetzung solcher Beschlüsse fehlt, lehnen sie entschieden ab.

Israel ist schließlich seit Jahrzehnten ein zentraler geostrategischer Verbündeter der USA und der EU-Länder im Nahen Osten, ein Vorposten ihrer eigenen imperialistischen Ordnung. Daher lassen sie einen regionalen Gendarm nicht fallen, zumal wenn sich die reaktionären arabischen Regime letztlich auch nur auf symbolischen Protest gegen das zionistische Regime beschränken.

Zynisches Manöver

Vor diesem Hintergrund werden Hilfslieferungen auch weiterhin nicht in ausreichendem Maße über die Grenzen gelangen. Den Vorwurf, beim Sterben von Zehntausenden oder Hunderttausenden nur zuzusehen, will sich der Westen jedoch auch nicht aussetzen.

Daher zaubern die Staats- und Regierungschef:innen der USA und Westeuropas eine angebliche Alternative zu Hilfslieferungen auf dem Landweg aus dem Hut. Zur Notversorgung Gazas soll unmittelbar eine Art „Luftbrücke“ eingerichtet werden, langfristig sollen Lieferungen auf dem Seeweg folgen. Ganz nebenbei werden dabei Israels „Sicherheitsinteressen“ in Rechnung gestellt, da jede Lieferung, jede Luftfracht ausschließlich von verbündeten Militärs abgeworfen wird.

Seit Anfang März begannen die USA, Frankreich und Jordanien, Nahrungsmittel über dem Kriegsgebiet abzuwerfen. Seither schlossen sich mehrere Länder, darunter auch Deutschland, dieser Luftbrücke an. Übernommen werden die Einsätze in der Regel vom Militär – im Falle Deutschlands von der Bundeswehr –, was deren Präsenz im Nahen Osten erhöht.

Zusätzlich wollen die westlichen Verbündeten Israels die humanitäre Lage in Gaza durch die Errichtung einer Seebrücke erleichtern. Erste Schiffe sind schon unterwegs, erste Ladungen, wurden schon gelöscht. Doch diese sind nicht mehr als eine Tropfen auf den heißen Stein, denn es fehlt ein Hafen. Ein solcher soll in den nächsten ein bis zwei Monaten als schwimmende Schiffsanlegestelle erbaut und vor Gaza errichtet werden. Bis dahin müssen die Hungernden warten, erhalten weiter viel zu wenige Hilfslieferungen – und selbst wenn  improvisierte Häfen gebaut sein sollten, ist es mehr als fraglich, ob die Hilfslieferungen über den Seeweg ausreichen.

Der Zynismus des Westens lässt sich kaum überbieten. Die „Hilfe“ entpuppt sich als humanitäres Placebo, während eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung auf dem Landweg jetzt unmittelbar notwendig und rein logistisch auch machbar wäre.

Doch darum geht es Washington, Brüssel, Paris oder Berlin nicht. Die Placebohilfe soll vielmehr Israel vor der internationalen Kritik abschirmen, indem die westlichen Staaten die härtesten Auswirkungen der humanitären Katastrophe lindern sollen. Sie übernehmen so einen Teil der Verpflichtungen Israels zum Schutz der Zivilbevölkerung, während die zionistische Kriegsmaschinerie weitermachen kann.

Die Pseudoalternative zur Lieferung von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und anderen Gütern auf dem Landweg stellt nicht „nur“ eine zynische Verschleppung wirklicher Hilfe dar, sondern soll dem Krieg Israels auch eine humanitäre Flankendeckung verschaffen und die westliche Öffentlichkeit zumindest ein Stück weit beruhigen. Ein weiteres Placebo also.

Hungerkatastrophe wirklich stoppen!

Wir brauchen keine solchen Pseudohilfen. Vielmehr muss die drohende Hungerkatastrophe, muss der genozidale Angriff Israels jetzt gestoppt werden. Dazu müssen jetzt die Grenzen geöffnet werden. Zusätzlich müssen jetzt sämtliche Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA freigeben werden.

Die Durchsetzung dieser unmittelbaren Forderungen, die selbst noch weit davon entfernt sind, einen dauerhaften gerechten Frieden zu bringen, wäre wenigstens ein Schritt zum Stoppen des Mordes an unschuldigen Zivilist:innen, ein Schritt, den Hungertod Tausender und die Vertreibung von Hunderdtausenden zu verhindern.

Doch dazu braucht es jetzt eine Massenmobilisierung in den westlichen wie arabischen Ländern – auf der Straße, in den Betrieben und Wohnvierteln. In den arabischen Staaten müssen die Massen, allen voran die Arbeiter:innenklasse, den Abbruch aller Beziehungen zu Israel einfordern. Die ägyptische Arbeiter:innenklasse verfügt über das Potential, strategische Handelswege wie den Suezkanal zu blockieren, um die westlichen Großmächte und die gesamte kapitalistische Weltwirtschaft zu treffen.

Im Westen müssen jene Gewerkschaften, die sich zu Streiks und Blockaden von Waffenlieferungen und Hilfslieferungen für Israel und dessen völkermörderischen Angriff verpflichtet haben, jetzt in Aktion treten, ihren Beschlüssen auch Taten folgen lassen. Die internationalen Beschlüsse von Gewerkschaften, die Aktionen gegen das Apartheidregime vorsehen, müssen mit Leben gefüllt werden. In den Gewerkschaften, die bis heute die westliche imperialistische Politik der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel unterstützen, müssen alle internationalistischen, klassenkämpferischen Kräfte gemeinsam und organisiert für einen Bruch mit der sozialchauvinistischen Politik kämpfen.

Am 16. Oktober 2023 hat die palästinensische Gewerkschaftsbewegung einen solchen Aufruf an die weltweite Arbeiter:innenbewegung gerichtet. Es ist ein beschämendes Armutszeugnis für die reformistischen Gewerkschaftsführungen, dass sie, von einigen wenigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, keinen Finger krummgemacht haben. Viele haben sich sogar schwergetan, den Krieg unmissverständlich zu verurteilen. Damit muss Schluss sein, um wenigstens den Tod Tausender und Abertausender zu verhindern:

  • Stoppt den genozidalen Angriff! Waffenstillstand jetzt!

  • Öffnung der Grenzen zu Gaza! Hilfslieferungen sofort! Freigabe aller Mittel an das UN-Flüchtlingshilfswerk UNWRA!

Die Arbeiter:innenklasse in den Ländern, die Israel mit Waffen und diplomatischem Schutz versorgen, hat eine besondere Pflicht zu handeln. Dies ist nicht nur der Krieg Israels. Es ist ein kolonialer Krieg, der auch unter Beteiligung mehrerer westlicher imperialistischer Mächte geführt wird. Ein Sieg Israels stärkt auch die Position des westlichen Imperialismus und damit dessen herrschende Klassen. Deshalb liegt der Kampf der Palästinenser:innen auch im Interesse der gesamten internationalen Arbeiter:innenklasse.

Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, um für internationalistische Aktionen der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen, um den Krieg zu beenden und den Sturz der gesamten vom Imperialismus unterstützten Ordnung im Nahen Osten zu beschleunigen, mit dem Ziel der Zerschlagung des zionistischen Staates, der Errichtung eines binationalen demokratischen, säkularen und sozialistischen Staates in ganz Palästina und einer sozialistischen Revolution im Nahen Osten.




Defender 2024: Nur wer übt, wird kriegstüchtig

Linda Loony, Infomail 1248, 15. März 2024

„Kriegstüchtig“ und zum „Rückgrat der Abschreckung“ müsse die Bundeswehr lt. Verteidigungsminister Pistorius wieder werden. Dafür legt sich die Truppe zur Zeit mächtig ins Zeug.

Das „Steadfast Defender“-Manöver der NATO (STDE24/SD24; deutsch: standhafte Verteidigung), aktuell im Gange, markiert die größte militärische Übung des Bündnisses seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren. Die Simulation eines Konfliktszenarios mit Russland als potenziellem Gegner an der Ostflanke ist keine bloße Übung, sondern eine ernsthafte Vorbereitung. Denn nach Einschätzungen der Bundeswehr könnte Russland in wenigen Jahren bereit sein, einen Krieg gegen die NATO zu führen – und darauf will sich das Bündnis vorbereiten, indem die eigene Angriffsfähigkeit demonstriert und geübt wird.

Doch der Aufschrei in Bevölkerung und Medien scheint im kollektiven Halse steckengeblieben zu sein. Auf der Straße gibt es keine Großdemonstrationen gegen Krieg und Aufrüstung, die Berichterstattung über das Manöver und seine Ziele ist begrenzt und im Betrieb oder Freund:innenkreis dürften die wenigsten bisher darüber in Diskussionen geraten sein. Laut einer Bevölkerungsumfrage mit rund 2.200 Personen sind 70 % überzeugt, dass Deutschland weiterhin der NATO angehören muss, 65 % befürworten die finanziellen Zusagen an sie. Die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke werden ebenfalls überwiegend unterstützt.

Die Einstellung zur Bündnisverteidigung hängt jedoch stark von der Wahrnehmung Russlands als Bedrohung der „Freiheit“ ab, also wie sehr die NATO-Ideologie verfängt, dass es sich nicht um einen immer schärferen innerimperialistischen Gegensatz handeln würde, sondern um einen Konflikt zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“. Zweifellos wirkt diese Darstellung besonders angesichts der imperialistischen Aggression und Besatzung Russlands gegenüber der Ukraine. Der Kenntnisstand über die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke selbst ist jedoch eher gering (1). Dabei rasseln die Säbel in Europa so laut wie lange nicht mehr.

Dieser Artikel soll zunächst einen Überblick über das aktuell laufende Steadfast Defender- Manöver der NATO geben. Im Anschluss wird eine globale politische Einordnung vorgenommen. Abschließend beschäftigt sich der Artikel mit der Frage der Programmatik, für die die Arbeiter:innenklasse in diesen Zeiten gewonnen werden muss.

Alle machen mit

Die Teilnahme an diesem gigantischen Manöver erstreckt sich über alle 32 NATO-Mitgliedsstaaten. Ziel ist es, die Alarmierung nach dem Bündnisfall zu üben, sich auf den Einsatz vorzubereiten, Truppen in die Einsatzräume zu verlegen und letztlich „den Aggressor im Gefecht abzuwehren“ (2). Mit einer Stärke von 90.000 Soldat:innen soll die NATO ihre Schlagkraft demonstrieren und Russland zugleich vor Augen führen, welche Konsequenzen ein Angriff auf das Bündnisgebiet haben würde. Abschreckung ist das erklärte Ziel an der NATO-Ostflanke.

Das Manöver erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Monaten und umfasst verschiedene Übungen: Grand North, Grand Center, Grand South und schließlich die Abschlussübung Grand Quadriga. Dabei operiert die Bundeswehr nicht nur in Deutschland, sondern auch in Norwegen, Polen, Ungarn, Rumänien und Litauen. Diese umfangreiche Präsenz verdeutlicht, dass es nicht nur um eine regionale Verteidigungsübung geht, sondern um eine Koordination auf internationaler Ebene.

Der Menschen- und Materialeinsatz ist beeindruckend: Rund 90.000 Soldat:innen, 50 Marineschiffe, 80 Flugzeuge und über 1.100 Kampffahrzeuge werden mobilisiert. Die Bundeswehr ist mit ihrem Manöver Quadriga 24 Teil der NATO-Operation. Generalinspekteur Breuer betont die Bedeutung Deutschlands als Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung Europas (3). Quadriga 24 beinhaltet die Verlegung von Militärkonvois in vier Teilmanövern zu unterschiedlichen Zeiten, und es handelt sich um die größte Übung deutscher Landstreitkräfte seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Mit 12.000 Soldat:innen, 3.000 Fahrzeugen und 30 Luftfahrzeugen ist dies ein beachtliches Aufgebot.

Der Gegner Russland

Seit zwei Jahren tobt nun ein heißer Krieg in der Ukraine. Dies hat die Konfrontation zwischen den westlichen Imperialismen und ihrem russischen Gegenspieler in einem Maß verschärft, das es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Obwohl keine kämpfenden Einheiten der NATO direkt involviert sind, wurden und werden die ukrainischen Streitkräfte vor und während des Krieges massiv ausgerüstet. Die Unterstützung umfasst Waffen, Logistik, Informationsdienste und Ausbildung an modernen Waffensystemen. Die gelieferte Ausrüstung stammt aus westlichen Armeen, begleitet von einer Modernisierung der eigenen Rüstungsindustrie.

Der westliche Imperialismus hat sich dabei hierzulande die moralische Deutungshoheit über die Kriegssituation gesichert: Russland als undemokratischer, reaktionärer Staat greift die Ukraine an und bedroht damit den Frieden, die Freiheit und Demokratie in ganz Europa, während der Westen nur als selbstloser Helfer agiere. Auch wenn die Selbstverteidigung der Ukraine gegen die Invasion berechtigt ist und es zynisch wäre, den ukrainischen Massen vorzumachen, dass es egal wäre, ob ihr Land besetzt wird oder nicht, so geht es der NATO und der Bundesrepublik darum, selbst die Kontrolle über möglichst große Teile der Ukraine zu erlangen, diese als ihr Ausbeutungs- und Investitionsgebiet zu sichern und die NATO selbst nach Osten auszudehnen.

Dies soll demnach auch sämtliche Aufrüstungsprogramme der NATO legitimieren und dient den Herrschenden als Propagandamittel. Die Moral des westlichen Imperialismus bei der Verurteilung despotischer Regierungen wird aufmerksamen Beobachter:innen jedoch als recht dehnbar auffallen, denn sie hängt lediglich von der Nützlichkeit des betreffenden Staates für die Umsetzung eigener nationaler Interessen ab. So hat die EU weniger Probleme damit, den autoritären Staat Türkei im Krieg gegen die Kurd:innen gewähren zu lassen, denn schließlich hält dieser Massen geflüchteter Menschen zurück, die anderenfalls potenziell Zuflucht hinter der Mauer der Festung Europa suchen würden. Sie haben offenkundig auch kein Problem damit, die Bombardierung Gazas politisch und militärisch zu unterstützen – denn schließlich verteidigt das zionistische Regime westliche imperialistische Interessen.

Diese propagierte moralische Notwendigkeit der Verteidigung schmeckt jedenfalls deutlich besser, als würde offen propagiert werden, dass seit jeher der westliche wie auch der russische Imperialismus jeweils ihre eigenen geopolitischen und damit ökonomischen Interessen verfolgen, die nun in der Einflusssphäre Ukraine kollidieren. Das bedeutet, der Konflikt geht nicht nur darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern er ist zugleich mit der Frage verwoben, ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute sowohl Schauplatz eines Kampfes gegen die russische Invasion wie zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Neuaufteilung der Welt.

Der Kampf um Einflusssphären

Die NATO verfolgt seit den 1990er Jahren das Projekt der Erweiterung ihrer Mitgliedsstaaten und Einflussgebiete nach Osten. Die Aufnahme Nordmazedoniens im Jahr 2020 bildet die vorläufig letzte Etappe der Integration ehemaliger „sozialistischer Länder“. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde dann deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland sagte im Juni 2023 zu, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zurzeit sind rund 40.000 NATO-Soldat:innen in Osteuropa stationiert.

Russland wiederum erlebt dadurch seit jeher eine Bedrohung seiner eigenen Einflusssphären und forderte darüber hinaus als Reaktionen auf bevorstehende oder mögliche Beitritte immer wieder die militärische Neutralität von Staaten in Ost- und Südosteuropa als „Pufferzonen“ zwischen sich und der NATO ein. Hier ist ersichtlich, dass Russland umgekehrt die NATO als Angreiferin auf seine Souveränität und Sicherheit propagiert und auf Nationalismus als ideologisches Bindeglied setzt. Russland reagiert außerdem auf diese Aktivitäten seinerseits mit provokanten Manövern.

Hieraus wird deutlich, dass die militärische Mobilmachung des westlichen Imperialismus keine unmittelbare Folge des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine darstellt, sondern vielmehr eine fortbestehende Notwendigkeit im Kampf um Einflusssphären ist. Es wird ebenso deutlich, dass selbst ein Ende des Krieges in der Ukraine nicht das der Aufrüstung bedeuten würde, denn ein kriegsfähiges Militär ist essenziell im Konkurrenzkampf imperialistischer Staaten um die Ausbeutungshoheit über ihre Halbkolonien (4).

Kriegsvorbereitung

Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt der westliche Imperialismus über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome, die die Arbeiter:innenklasse zu spüren bekommt, Russland in die Schuhe zu schieben und damit auch wirtschaftliche Angriffe auf soziale Errungenschaften der Lohnabhängigen als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen. So stimmte beispielsweise die Führung der IG Metall als gewerkschaftliche Vertretung in der deutschen Rüstungsindustrie in ihrem Positionspapier zur Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Januar 2024 in den Tenor ein und unterstrich ihrerseits, dass sie die Aufrüstungsziele der Bundesregierung unterstütze. Die Gewerkschaft stellt die so gewonnenen bzw. erhaltenen Arbeitsplätze als Errungenschaft heraus und erklärt, Waffenexporte zu unterstützen. Die Gewerkschaftsbürokratie bewegt sich hier also vollständig auf Kurs der deutschen Bourgeoisie.

Auch die reformistische SPD stellt sich nicht gegen das Mantra der Aufrüstung, während DIE LINKE nicht so recht weiß, ob sie für oder gegen eine solche „Sicherheitspolitik“ sein soll. Während sie auf Parteitagen immer noch ein Bekenntnis zum „Frieden“ abgibt, verstoßen Parlamentarier:innen und Funktionär:innen vom rechten, „regierungssozialistischen“ Flügel immer wieder gegen diese Beschlüsse. In der Praxis fällt DIE LINKE vor allem dadurch auf, dass sie der Kriegsfrage möglichst aus dem Wege geht.

Jedoch ergaben sich auch kürzlich Konflikte innerhalb der Herrschenden darüber, welche der Zugeständnisse an die Lohnabhängigen für die Aufrüstungspläne gestrichen werden sollen. So hatte die SPD den Vorschlag des FDP-Vorsitzenden und Finanzministers Lindner kritisiert, bei denen das Sondervermögen für die Aufrüstung durch Einsparungen in den Sozialleistungen gedeckt werden sollte. Doch dieses kleinen Aufbegehren der Reformist:innen darf nicht als wahrer Einsatz für die Arbeiter:innenklasse verkannt werden, denn sowohl die SPD als auch die Grünen befürworten und gestalten die aktuelle Aufrüstungspolitik.

Welche Bewegung?

Laut der bereits zitierten Bevölkerungsumfrage sprach sich letztes Jahr über die Hälfte der Befragten weiterhin für eine Erhöhung des Verteidigungsetats, eine Aufstockung der Soldat:innen und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus. Nur 8 % plädieren für eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben und des Personals.

Die ideologische Mobilmachung scheint zu fruchten: Bürgerliche Arbeiter:innenparteien wie die SPD und Gewerkschaftsführungen (und in Teilen auch die Linkspartei) tragen die Staatsraison mit und versuchen, die Lohnabhängigen durch kurzfristige ökonomische Argumente sowie durch den Kampf für das vermeintlich moralisch „richtige“ Ziel zu binden, also die Verteidigung westlicher Freiheit und Demokratie.

Für revolutionäre Kräfte gilt es, den Widerspruch zwischen den Zielen der Bourgeoisie und dem objektiven Interesse der Lohnabhängigen aufzuzeigen, und das nicht nur durch symbolische Aktionen auf der Straße. Es muss ein politischer und ideologischer Kampf in der Arbeiter:innenbewegung geführt werden. Es gilt, die ideologische Mobilmachung aufzubrechen.

Dies gilt für die Arbeiter:innenschaft in Russland wie auch in den westlichen imperialistischen Staaten. Dieser Kampf bedeutet auch, mit Antikriegsforderungen, die einer pazifistisch-kleinbürgerliche Grundlage entspringen, zu brechen. Es geht nicht darum, Phrasen wie „Nie wieder Krieg“ zu wiederholen oder gar die Hoffnung zu schüren, dass uns eine „europäische Verteidigungsarchitektur“ besser als die NATO beschütze oder die Bundesregierung unseren Forderungen nachkommen würde.

Eine Antikriegsbewegung, die über dies nicht hinauskommt oder sich auf die Seite einer imperialen Macht stellt, ignoriert den systemischen Charakter des Krieges und ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn der Krieg ist im Rahmen der Klassengesellschaft und der imperialistischen Weltordnung ein politisches Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie. Der (Irr-)Glaube, man müsse sich beim Kräftemessen der Großmächte und deren Kriegsvorbereitung nur auf die „moralisch“ richtige Seite des Friedens stellen oder die Regierung um Einhalt bitten, greift vielleicht die Auswirkung des Krieges kurzfristig an, doch verfehlt es, seiner Voraussetzung den Kampf zu liefern: dem kapitalistischen System.

Proletarischer Antimilitarismus

Das Programm für die Arbeiter:innenklasse muss daher ein konsequenter proletarischer Antimilitarismus sein, d. h. ein Bekenntnis zum Defaitismus im neuen Kalten Krieg.

Der Hauptfeind ist nicht in einem imperialistischen Konkurrenten zu sehen, sondern im eigenen Land, in der eigenen nationalen Bourgeoisie. Und ein unmittelbares Ziel besteht darin, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zu einem offenen globalen Krieg zwischen den imperialistischen Mächten eskaliert.

In Russland muss die Arbeiter:innenklasse gegen den Einmarsch in die Ukraine kämpfen und die sofortige Beendigung des Krieges sowie den Abzug aller russischen Truppen fordern. Angesichts des autokratischen Charakters des Putin-Regimes ist der Kampf für demokratische Rechte, Meinungsfreiheit und die Freilassung politischer Gefangener entscheidend. Dieser muss mit dem Ziel verbunden werden zu verhindern, dass die Arbeiter:innen die Kosten des durch Sanktionen verursachten Elends und der Kriegstreiberei tragen müssen. Die Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit Massenstreiks und der Enteignung der Oligarch:innen verbinden. In der Ukraine ist der Kampf gegen die Besatzung zwar ein gerechtfertigter, aber er muss mit einem politischen Kampf gegen die reaktionäre Regierung Selenskyj, die falschen Hoffnungen in den westlichen Imperialismus und für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung und revolutionären Partei verbunden werden.

In den NATO-Ländern muss dazu aufgerufen werden, sich als Arbeiter:innenschaft gegen Kriegstreiberei, Aufrüstung und Sanktionen zu stellen, die kein reaktionäres Regime stürzen, sondern in ihrer Konsequenz der russischen Arbeiter:innenklasse schaden, vor allem aber die imperialistische Konfrontation weiter zuspitzen. Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Kräfte müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen ablehnen und gegen reaktionäre Gesetze kämpfen. Eine echte Antikriegsbewegung muss die imperialistischen Interessen der westlichen Unterstützung für die Ukraine aufdecken. Dabei müssen Revolutionär:innen gegen Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus vorgehen und den wahren Charakter des Krieges den Massen verständlich machen.

Perspektivisch bedeutet das auch, dass revolutionäre Kräfte Arbeit in der Armee leisten müssen, gerade bei einer potenziellen Wiedereinführung der Wehrpflicht, die das Heer aus der breiten Masse der Arbeiter:innenklasse zusammensetzen würde, statt wie aktuell nur aus Freiwilligen. Antimilitaristische Arbeit unter den und Organisierung der einfachen Soldat:innen und Wehrpflichtigen sind Schritte auf dem Weg zum Kampf gegen die Militarisierung und Aufrüstung der eigenen Nation.

Die Enteignung der Rüstungskonzerne und damit verbundene Kontrolle über die Produktion muss eine weitere Kernforderung der proletarischen Antikriegsbewegung sein. Ein proletarisches Antikriegsprogramm muss aber gleichzeitig auch Lösungen für die Arbeiter:innenschaft dieser Konzerne vorschlagen, d. h. für die dort Beschäftigten müssen Umschulungsangebote geschaffen werden, die ihnen einen Branchenwechsel zu gleichem Einkommen ermöglichen.

Es braucht einen Kursumschwung in der Arbeiter:innenbewegung und die beschriebene programmatische Methode gilt es sinngemäß auf sämtliche kriegerische Auseinandersetzungen anzuwenden, die vom westlichen Imperialismus unterstützt werden wie bspw. der Krieg im Gazastreifen. Die Schaffung einer internationalistischen Antikriegsbewegung ist das unabdingbare Mittel, den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen Klassenkampf gegen die Kapitalist:innenklasse zu transformieren.

Endnoten

(1) Quelle: ZMSBw-Bevölkerungsbefragung: https://zms.bundeswehr.de/de/bevoelkerunsgbefragung-zeitenwende-in-den-koepfen-5730686

(2) Quelle: Quadriga 2024: NATO-Landstreitkräfte üben den Bündnisfall [bundeswehr.de]

(3) Ebenda

(4) Mehr zu dem Thema auch hier: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/09/der-krieg-in-der-ukraine-und-der-kampf-um-die-neuaufteilung-der-welt/ bzw. hier https://arbeiterinnenmacht.de/2024/02/12/100-milliarden-sondervermoegen-fuer-die-bundeswehr-hochruestung-fuer-deutsche-kapitalinteressen/




Bahn: 35 Stunden für die 35-Stunden-Woche!

Martin Suchanek, Infomail 1246, 5. März 2024

Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der Bahn AG nimmt die GDL die Streiks zur Durchsetzung ihrer Tarifforderungen wieder auf. Die Arbeitsniederlegung beginnt am 6. März, 18.00, im Güterverkehr, am 7. März, 2.00 morgens, folgt der Personenverkehr.

Befristet ist der Streik auf 35 Stunden, um damit noch einmal der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung für die Beschäftigten im Schichtdienst Nachdruck zu verleihen.

Warum scheiterten die Verhandlungen?

Nach gut einem Monat Geheimverhandlungen samt Friedenspflicht verließ die Gewerkschaft die bis zum 3. März terminierten Unterredungen am 29. Februar vorzeitig. Offizieller Grund: Der DB-Vorstand hätte Interna an die Bild-Zeitung weitergegeben und damit die vereinbarte „Vertraulichkeit“ gebrochen. Was immer man davon halten mag, so lässt diese Begründung tief in die Bürokrat:innenseele der GDL-Spitze um Weselsky blicken. Wie die GDL bei Tarifabschlüssen mit der privaten Konkurrenz selbst immer wieder hervorhebt, stellen für sie Geheimverhandlungen und Sozialpartner:innenschaft nicht das Problem dar, sondern der mangelnde „Respekt“ des Bahnvorstandes für ihre Gewerkschaft. Schon deswegen – aber noch vielmehr wegen ihrer unkritischen Haltung zur AfD, der Gründung einer eigenen GDL-Verleihfirma und ihrer Unterstützung der Bahnprivatisierung – ist ein unkritisches Abfeiern von Weselsky und Co. unangebracht.

Doch immerhin. Die Verhandlungen sind gescheitert, ein fauler Kompromiss konnte bei den Geheimgesprächen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und „natürlich“ auch der GDL-Mitglieder nicht erzielt werden. Und das ist eine gute Nachricht für alle Gewerkschafter:innen und Linken.

Der Bahnvorstand, die bürgerliche Presse und die Bundesregierung schieben die Schuld dafür natürlich einseitig der GDL zu. Diese habe nur stur ihre Maximalforderungen wiederholt, statt diese am Verhandlungstisch aufzuweichen. Selbst das ist Unsinn. Die GDL hatte schon vor Beginn der Verhandlungen einen Kompromiss gegenüber einer sofortigen Umsetzung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ins Spiel gebracht – nämlich die Tarifvereinbarungen bei den Privatbahnen, die eine schrittweise Umsetzung der Forderung vorsehen.

So beinhalten die Abschlüsse bei Netinera Deutschland (u. a. ODEG und vlexx; Töchter der italienischen Staatsbahn Trenitalia), metronom und Go-Ahead, dass dort ab 2028 die 35-Stunden-Woche kommt. Bis dahin sollen eine schrittweise Anpassung der Arbeitszeit, eine Inflationsausgleichsprämie über 3.000 Euro in zwei Schritten, eine Entgelterhöhung 2024 in zwei Schritten um brutto 420 Euro und Zuschläge von +5 % erfolgen. Die Entgeltlaufzeit beträgt 24 Monate, die Laufzeit der Arbeitszeit geht bis Ende 2027. Erkauft wird das Ganze wohl damit, dass das Wahlmodell mit zusätzlichem Urlaub wegfällt – die kürzere Arbeitszeit bringt unterm Strich zwar mehr Freizeit, aber eben bestimmt durch Dienstpläne und nicht nach den selbst ausgewählten Urlaubszeiträumen, wobei über diese letztlich auch die Disponent:innen und Personaleinsatzplaner:innen entscheiden.

Die GDL wäre sicher bereit gewesen, einen solchen Abschluss mit den dazu gehörigen Kröten auch bei der DB AG hinzunehmen und abzufeiern. Er hätte die Umsetzung der 35-Stunden-Woche deutlich gestreckt, die geforderte Laufzeit hätte sich von einem Jahr auf 2 Jahre verdoppelt und die Entgelterhöhung wäre klar unter den 550 Euro für alle geblieben.

Ebenso wie die Mär von der ultrasturen GDL können wir die psychologisierenden Einschätzungen beiseitelassen, die die Länge bzw. Kürze der Verhandlungen nur der Profilierungssucht des GDL-Vorsitzenden Weselsky zuschreiben.

Wirkliche Ursachen

Ein Licht auf die wirklichen Ursachen des Scheiterns wirft ironischer Weise die Erklärung des Bahnvorstandes. Die GDL, so heißt es, hätte sich seit Beginn der Verhandlungen Anfang Februar über Wochen nicht bewegt und „bis zuletzt dogmatisch auf der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich“ beharrt. Lassen wir einmal beiseite, dass die GDL so dogmatisch gar nicht war, so läuft der ganze Vorwurf darauf hinaus, dass die Gewerkschaft bei den Verhandlungen ihre eigenen Forderungen nicht gänzlich zurückgenommen hat oder jedenfalls nicht in einem für die DB akzeptablen Maß.

Nach Jahrzehnten sozialpartnerschaftlicher Tarifrundenrituale gilt es mittlerweile als normal, dass eine Gewerkschaft ohnedies nicht ernsthaft für ihre aufgestellten Forderungen eintritt. Das steht jetzt ein Stück weit infrage. Und das geht natürlich nicht. Daher rufen Unternehmerverbände und Unionsparteien einmal mehr nach Zwangsschlichtungen bei „kritischer Infrastruktur“. Dort sollten Streiks erst möglichst werden nach einer etwaigen gescheiteren Schlichtung und auch dann nur innerhalb enger Grenzen.

Dass sich die GDL bei der Bahn zu einer härteren Gangart gezwungen sieht, hat nichts mit einer grundsätzlich fehlenden Kompromissbereitschaft oder einem grundlegend anderen Charakter der Gewerkschaft zu tun, sondern damit, dass sie vor dem Hintergrund des reaktionären Tarifeinheitsgesetzes einen Existenzkampf nicht nur gegen das Management, sondern um ihre Anerkennung als Gewerkschaft führt. Daher muss sie sich gegen die größere und bei Lohnverhandlungen moderatere EVG zu profilieren versuchen.

Und das bringt Forderungen nach weiteren Einschränkungen des Streikrechts zutage, eine öffentliche Hetze gegen den Streik, der auf dem Rücken der Fahrgäste ausgetragen würde. Anders als bei früheren Arbeitskämpfen stimmt mittlerweile auch der Fahrgastverband Pro Bahn in diesen Chor ein. Bahn AG und GDL würden die Verkehrwende, die die Regierung ohnedies nur im Schneckentempo voranbringt und die Verkehrsminister Wissing sabotiert, wo er nur kann, kaputtmachen. Die Regierung müsse jetzt intervenieren, fordert Pro Bahn – ein Aufruf, das Streikrecht der GDL zu beschneiden!

Solidarität mit dem Streik!

In Wirklichkeit stellt der Vorwurf, die GDL (oder im Frühjahr 2023 auch die EVG) würde mit Streiks die Verkehrwende kaputtmachen und die Menschen von der Schiene vertreiben, reinen Zynismus dar. Schließlich sind die Gewerkschaften und die Beschäftigten ganz sicher nicht schuld, dass die Bahn seit Jahrzehnten kaputtgespart wird, ein unsinniger und chaotisierender Privatisierungsvorschlag dem nächsten folgt, die Preise stetig erhöht werden, statt den kostenlosen ÖPNV einzuführen oder wenigstens das Deutschlandticket für die nächsten Jahre bei 49 Euro zu fixieren. Selbst dazu sind jene nicht willens oder fähig, die jetzt über ein angeblich drohendes Streikchaos wettern.

Dabei macht die GDL nur, was jede ernstzunehmende Gewerkschaft tun sollte. Sie versucht, ihren Forderungen mit eskalierenden Streiks Nachdruck zu verleihen. Daher kündigt sie für die nächsten Wochen an, die Arbeitsniederlegungen nicht mehr längerfristig vorher bekanntzugeben, so dass die Bahn AG keine Notfahrpläne erstellen kann. Diese sog. Wellenstreiks sind eine durchaus kluge und naheliegende Taktik, um den Druck auf die Gegenseite zu erhöhen. Zugleich signalisiert sie auch, dass die GDL selbst vor einem unbefristeten Vollstreik zurückschreckt, ja, deren Vorsitzender Weselsky hat diesen wiederholt ausgeschlossen.

Die Bahn AG, die Regierung und sämtlich bürgerlichen Kräfte werden versuchen, die GDL durch öffentlichen Druck in die Knie zu zwingen – vor allem, indem sie sich als Vertreter:innen der Fahrgäste aufspielen. Die GDL hat zweifellos recht damit, wenn sie den Bahnvorstand für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich macht, weil dieser zu keinen substantiellen Zugeständnissen bei der 35-Stunden-Woche bereit ist.

Aber es reicht gegen eine offensive öffentliche Medienkampagne sicher nicht, das nur bei einer Pressekonferenz zu erklären. Damit die GDL den weiteren Arbeitskampf erfolgreich bestehen kann, muss sie auch anfangen, diesen anders als bisher zu führen. Es reicht nicht, dass die Mehrzahl der Streikenden einfach zuhause bleibt. Vielmehr wird es für einen längeren Arbeitskampf nötig sein, dass diese aktiv mit Infoständen, Demonstrationen, Flugblättern, auf sozialen Medien für ihren Streik werben und erklären, warum ein Sieg der GDL im Interesse aller Lohnabhängigen liegt. Der Kampf muss auch auf öffentlicher und politischer Ebene geführt werden, nicht nur auf einer rein gewerkschaftlichen.

Das erfordert auch, dass der Streik und erst recht die Verhandlungen nicht mehr als reine Top-Down-Veranstaltungen von Claus Weselsky geführt werden können oder sollen. Das liegt zum einen daran, dass die GDL-Spitze wie schon bei Aufnahme der Geheimverhandlungen Ende Januar durchaus auch faule Kompromisse einzugehen imstande ist und daher von den Beschäftigten kontrolliert werden muss. Es ist auch deutlich, dass ein längerer Streik nur durch die Aktivierung der Mitgliedschaft in Vollversammlungen und gewählten, abwählbaren und rechenschaftspflichtigen Streikkomitees durchhaltbar sein wird, also durch eine massive Verbreiterung der Basis der aktiven Gewerkschafter:innen.

Schließlich erfordert ein solcher Arbeitskampf die aktive Unterstützung durch die gesamte Gewerkschaftsbewegung und die Bildung von Solidaritätskomitees, um Gegenöffentlichkeit zu erzeugen und Solidaritätsaktionen und -streiks durchzuführen.

Und die EVG?

Die Solidarisierung mit der GDL wäre dabei zuerst die Aufgabe ihrer „Konkurrenz“ bei der Bahn AG. Doch was tut die EVG? Sie schweigt sich aus – bestenfalls!

Wer beim Angriff auf andere Gewerkschafter:innen, die für Arbeitszeitverkürzung und höhere Löhne streiken, nichts tut, der unterstützt letztlich die Kapitalseite! Im Tarifkampf „unparteiisch“ zu bleiben, hilft nur der Konzernleitung und sonst niemand.

Es schwächt letztlich sogar die EVG selbst, die bei ihren nächsten Tarifrunden und Arbeitskämpfen dem GDL-Vorstand schon jetzt die Argumente liefert, dann seinerseits die Füße stillzuhalten. Diese wechselseitige Entsolidarisierung stellt letztlich ein Kernproblem der Bahnbeschäftigten dar – und muss durchbrochen werden.

Die durchaus berechtigten und richtigen Kritikpunkte der EVG an der GDL, wie z. B., keine klare Kante gegen die AfD und gegen Rassismus zu zeigen und der von Unionsparteien, FDP und Grünen forcierten Zerschlagung der Bahn keinen Widerstand entgegenzubringen, werden letztlich hohl und verlieren ihre Wirkung, wenn sie nur als Vorwand dienen, der GDL jede Solidarität, jede Unterstützung zu versagen, wenn sie richtig, also im Interesse der Gewerkschaftsmitglieder handelt.

Die EVG-Spitze belässt es dabei keineswegs nur bei reiner Passivität. Sie geht vielmehr offen gegen eigene Gliederungen wie die EVG-Betriebsgruppe DB Systel Frankfurt vor, die sich offen mit dem GDL-Streik solidarisierte. Statt diese Solidarität zu verallgemeinern, drohen den Vorstandsmitgliedern der Betriebsgruppen jetzt Rügen und Funktionsverbote. In Wirklichkeit müssten solche gegen die Spitze der EVG wegen ihres unsolidarischen und gewerkschaftsschädigenden Verhaltens verhängt werden.

Bei der Bahn ist Solidarität eine unerlässliche Grundvoraussetzung für den laufenden Streik und zukünftige Kämpfe. Ein GDL-Erzwingungsstreik braucht die Solidarität aller Beschäftigen, aller Gewerkschafter:innen. In der EVG und unter den Bahnbeschäftigten braucht es Versammlungen von Abteilungen und Betriebsgruppen, um nicht nur die Solidarität mit der GDL zu erklären, sondern auch die Forderung zu erheben, selbst den Kampf um eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich für den gesamten Konzern aufzunehmen, so also den Kampf und die Streikfront direkt auszuweiten – und letztlich auch gemeinsame, gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees zu bilden.




Skandal nach der Berlinale: Frieden und freie Meinungsäußerung unerwünscht

Jonathan Frühling, Infomail 1246, 4. März 2024

Jährlich findet in Berlin die Berlinale statt – ein internationales Filmfestival, welches zu den weltweit wichtigsten zählt. Deutschland und seine Kulturstadt Berlin lassen sich nicht lumpen. Zum Programm gehört auch die Verleihung von Preisen in verschiedenen Kategorien. Der Dokumentarfilmpreis ging diesmal an den Palästinenser Basel Adra und seinen israelischen Kollegen und Freund Yuval Abraham. Die beiden hatten sich zusammengetan, um die Doku „No other Land“ zu drehen. Darin geht es um das Leben (und Sterben) unter der kolonialistischen Siedlungspolitik des israelischen Apartheidregimes im Süden des besetzen Westjordanlandes. Sie zeigt drastisch die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Armee und rechtsradikalen Siedler:innen sowie den heroischer Kampf der Palästinenser:innen dagegen.

Bei der Auszeichnung wurde von den Preisträgern ein Ende der Waffenexporte nach Israel gefordert, um den momentan stattfindenden Genozid zu stoppen. Es wurde die Forderung nach einem Ende des Krieges und Frieden zwischen den Völkern im Nahen Osten laut. Das Publikum applaudierte und skandierte: „Free Palestine“. So weit, so erfreulich.

Hetze

Als die Geschehnisse an die Öffentlichkeit drangen, wurde von bürgerlichen Politiker:innen sofort ein Skandal daraus konstruiert. Der Vorwurf des Antisemitismus wurde dafür mal wieder missbraucht. Bürgerliche Politiker:innen wie der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner bezeichneten den Vorfall als unerträglich und forderten zu verhindern, dass sich so etwas wiederholen kann. Der eigentliche Skandal ist also der Grundtenor der zionistischen Hetzer:innen: Wie kann es sein, dass sich ein Künstler unzensiert äußern und öffentlich für Frieden eintreten darf?

Es wurde also offen nach noch mehr Zensur gerufen. Die Parole: „From the river to the sea, Palestine will be free“ fällt ja bereits unter diese. Die grüne Kulturministerin Claudia Roth setzte sich am Ende noch auf die Spitze des Eisberges, als sie beteuerte, dass sie bei der Preisverleihung nur für den Israeli Abraham, nicht aber für den Palästinenser Adra applaudiert hätte. Sie versucht, sich also zu verteidigen, indem sie ihren unverhohlenen Rassismus betont!

Beim Konzert der Hetzer:innen und Demagog:innen wollte der ansonsten blass-blaue FDP-Justizminister Buschmann nicht lumpen lassen. Er forderte strafrechtliche Konsequenzen für angebliche antisemitische Äußerungen bei der Berlinale. Wie ungeniert die Regierungen mittlerweile Lügen in die Welt setzen, zeigt eine Bundespressekonferenz Ende Februar. Auf mehrmalige Nachfragen von Journalist:innen hin, konnte die Sprecherin des Ministerium, Marie-Christine Fuchs, keine einzige konkrete Äußerung benennen. Der Minister, so seine Pressesprecherin, habe sich nur „generell zu Antisemitismus“ geäußert.

Währenddessen tragen Hetze und Falschaussagen Früchte. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar drang ein rechter Mob in das Haus Abrahams in Israel ein und bedrohte seine Familie. Diese musste daraufhin aus der Stadt fliehen. Abraham erhielt zudem zahlreiche Todesdrohungen und musste seine Rückkehr nach Israel deshalb verzögern. Er selbst verteidigte sich gegen den absurden Vorwurf des Antisemitismus. Er verwies darauf, dass der inflationäre Gebrauch dessen ihn seiner Wirkung beraube. Tatsächlicher Antisemitismus würde damit relativiert. Damit hat er Recht, denn was ist denn noch der Unterschied zwischen bewaffneten Faschist:innen, die Brandanschläge auf Synagogen durchführen, und einem israelischen Regisseur, wenn doch beide gleichermaßen Antisemit:innen sind?

Mundtod machen

Die hysterischen und reaktionären Lügen machen aber auch deutlich, wie verzweifelt die herrschende Politik jede Solidaritätsbekundung mit Palästina mundtot machen will. Nichts fürchtet sie mehr als einen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Dieser schreitet jedoch mit jedem Kriegstag voran. Die Verbrechen Israels werden immer bestialischer und lassen sich nicht mehr schönreden. Gaza liegt zu 80 % in Schutt und Asche, 1,8 Millionen wurden Menschen vertrieben, 30.000 sind tot. Kürzlich wurde bekannt, dass Israel systematisch Wohnhäuser in den besetzten Gebieten niederbrennt. Vor wenigen Tagen wurden knapp 1.000 bei der Ausgabe von Hilfsgütern beschossen, wobei 115 ermordet wurden. Der Hunger wird so extrem, dass die ersten Kinder bereits daran gestorben sind. Währenddessen haben die Ermordungen und Vertreibungen auch im Westjordanland explosionsartig zugenommen.

Das alles wird auch möglich, weil Deutschland an Israel Waffen liefert, diplomatische Unterstützung leistet und seine Hilfszahlungen an das UN-Geflüchtetenwerk für Palästina eingestellt hat. Seit Neustem ist es auch noch direkter in den Krieg involviert, indem die Bundesmarine die Drohnenangriffe auf mit Israel assoziierte Schiffe auf See bekämpft.

Doch der Einfluss Deutschlands bedeutet auch, dass wir hier mit unserem Widerstand einen großen Einfluss auf den Krieg nehmen können. Die pro-palästinensische Bewegung bietet der Regierung bereits seit Anfang Oktober ununterbrochen die Stirn und bringt den Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Straßen. Vom 12. – 14. April 2024 findet in Berlin ein Kongress statt, der zum Ziel hat, die Bewegung zu bündeln und weiterzuentwickeln. Zusammen können wir den Krieg und den Genozid beenden!

Hier der Link zur Anmeldung beim Kongress: https://palaestinakongress.de/




Forderung nach Zwangsexmatrikulationen an Berliner Unis: Warum gerade jetzt?

Oda Lux, Infomail 1246, 4. März 2024

2021 wurde Zwangsexmatrikulation als Maßnahme aus dem Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) gestrichen. Zuvor wurde sie kaum noch angewandt. Doch als Reaktion auf den Angriff auf einen jüdischen Studenten der FU Berlin in einer Bar in Berlin Mitte gibt es Bestrebungen des Berliner Senats, diese Klausel wiedereinzuführen – und das im Eilverfahren. Als kritische Begleiter:innen der Politik und Geschehnisse der letzten Jahre müssen wir uns fragen: Warum gerade jetzt?

Die letzten zehn Jahre können wir eine Zunahme antisemitischer Angriff, in erster Linie von rechts, aber auch Islamist:innen beobachten. Warum? Weil diese Ideologien auf dem Vormarsch sind und an Fahrwasser gewonnen haben. Natürlich macht dieses Klima nicht vor Universitäten halt.

Der Attentäter von Wien, der im Jahr 2020 4 Menschen erschoss und wahrscheinlich ein Sympathisant des sog. Islamischen Staates war, war Student.

Burschenschaften mit Verbindungen zur Jungen Alternativen für Deutschland und der Identitären Bewegung, die als rechtsextrem eingestuft wurden, wandeln mehr oder weniger weniger sichtbar auf Campus im gesamten Land umher. Und dass, obwohl alle eine konservativ, rechtsnational bis rechtsextremistische Ideologie verfolgen, in Teilen Ausländer nicht aufnehmen und Frauen keinen Platz bei ihnen haben. Sucht man bei ihnen nach Verbindungen zu Gewalttaten, wird man ebenfalls schnell fündig.

Das sind nur zwei Beispiele. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, daraus den Schluss zu ziehen, dass man die Repression an Universitäten, und dann auch noch nur für Studierende, insgesamt erhöhen müsste. Diskriminierende Fälle, nicht nur antisemitische, sondern auch rassistische, haben in den letzten Monaten stark zugenommen. Werden diese künftig auch mehr beachtet?

Die bürgerliche Justiz vs. die „Gerechtigkeit des Mobs“

Der Ruf nach Zwangsexmatrikulationen wirft viele Fragen auf: Für welche Taten sollen diese Mittel gelten: nur für Antisemitismus oder auch andere Hassverbrechen wie Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Hass auf Frauen? Geht es nur um aktuelle oder auch vergangene Taten in Berlin, Deutschland und darüber hinaus? Ist das ein Aufruf zur gegenseitigen Bespitzelung? Muss der oder die Angreifer:in handgreiflich geworden sein und wer richtet über diese Fälle: etwa die Universitäten selbst?

Die, vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt aus naheliegendste Antwort wäre: Gerichte müssen entscheiden. Doch das wollen jene, die laut nach raschen, drakonischen Verurteilungen rufen, offenkundig nicht. Die Debatten um den antisemitischen Angriff und die Novellierung des BerlHG haben gezeigt, dass nicht einmal jetzt, wo Zwangsexmatrikulationen illegal sind, gewartet wurde, bis bspw. überhaupt die Umstände geklärt waren, geschweige denn ein Gericht über Schuld und Unschuld gerichtet hätte. Bereits hier muss man hellhörig werden. In Zeiten von Fake News und einer, auch ohne den Krieg gegen Gaza, angespannten politischen Lage sind falsche Vorwürfe an der Tagesordnung. Der populistische Mob hatte unlängst gerichtet. Doch am Ende nützt ein solches Vorgehen nicht den Betroffenen, sondern in erster Linie rechten und populistischen Kräften. Und es stärkt die autoritären Tendenzen zur Aushebelung bürgerlich demokratischer Rechte.

Zurück zu den Zwangsexmatrikulationen: Folgt man dennoch dieser Vorgehensweise, würde man in erster Linie Zwangsexmatrikulationen bei Vorfällen auf den Weg bringen können, die zur Anzeige oder gar Verurteilung kamen. Doch Betroffene, die tagtäglich mit Hass konfrontiert werden, bringen Taten viel seltener zur Anzeige, als man denkt. Denn Übergriffe und Beleidigungen geschehen zu oft und sich zusätzlich noch Befragungen oder Gerichtsverhandlungen auszusetzen, frisst noch zusätzlich emotionale Kapazitäten. In vielen Fällen wird ihnen nicht geglaubt oder es kommt noch zusätzlich zu Polizeigewalt. Noch schwieriger ist es bei Hass und sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen und Queers. Für viele ist es schwierig, auch noch nach Monaten und Jahren überhaupt darüber zu sprechen. Wie realistisch ist es daher, dass gerade im Universitätskontext, wenn auch vor Gericht die Beweislast bei den Betroffenen liegt und die meisten Taten nur schwer zu beweisen sind, Menschen sich dieser Tortur aussetzen? Und vor allem für welches Ergebnis? Weder einen Rechtsbeistand noch einen Therapieplatz bekommt man im Gegenzug.

Zusätzlich bleiben Gerichte ein Mittel des bürgerlichen Staates und seiner Verteidigung. Spätestens wenn man versucht, Polizist:innen für rassistische Polizeigewalt zu verurteilen, sollte das auch noch dem/r letzten reformistischen Linken klar werden. Betroffene „gewinnen“ dabei also erstmal nichts und werden im schlimmsten Fall noch durch Unglauben gestraft.

Betroffene schützen, aber wie?

Die FU Berlin hat dem vermeintlichen Täter ein Hausverbot erteilt. Sicherlich gibt es Kontexte, in denen das ein sinnvolles Mittel ist, um Menschen von Veranstaltungen auszuschließen. Bedenkt man allerdings die Größe der meisten Universitäten, ist es einfach nur unrealistisch, dass Menschen tatsächlich so am Betreten von Gebäude gehindert werden können. Dieses Problem in der Umsetzung darf nicht zu einem Einfallstor für Sicherheitsdienste an Unis genutzt werden. An manchen Fakultäten gibt es sie bereits. Auch die FU hat einen beauftragt. Studierende haben hier berichtet, dass dieser u. a. rassistisch und obdachlosenfeindlich aufgetreten ist. Wenn solche Strukturen zum „Kampf gegen Diskriminierung“ eingesetzt werden, dann ist es daher viel wahrscheinlicher, dass der gegenteilige Effekt einsetzt und noch mehr „bedauerliche“ Einzelfälle produziert werden.

Die Handlungsmacht muss zurück in unsere Hände, die der Studierenden und Beschäftigten!

Unsere Devise heißt: Organisiert euch! Wir brauchen Strukturen, die einschreiten. Nicht nur für die politische Arbeit an der Uni als Lern- und Arbeitsort ist das wichtig. In diesem Rahmen können auch Schutzkonzepte erarbeitet werden – eine Form der Bildungsarbeit, die derzeit nicht geleistet wird. Allein der Ausschluss von Menschen entzieht Hass und Menschenfeindlichkeit nicht die Grundlage. Es braucht daher ein Umdenken. Des Weiteren suggeriert es Betroffenen, dass, wenn sie bestimmte Orte nicht bzw. diese von anderen nicht betreten werden dürfen, sie sicher vor Diskriminierung wären. Das ist weit von der Realität entfernt.

Warum darf man den Kampf gegen Antisemitismus nicht getrennt sehen?

Bei der Wiedereinführung von Zwangsexmatrikulationen geht es um viel mehr als einen antisemitischen Vorfall. Und auch bei denen, die immer wieder darauf rekurrieren, kann man sich die Frage stellen, inwiefern es je primär um Antisemitismus ging. Dieser ist tief in der Gesellschaft verankert. Das kann man nicht leugnen, ist allerdings nicht erst seit einer steigenden Anzahl Muslim:innen in Europa zu verzeichnen. Er war nie weg. Doch wo waren alle diese neuen Kämpfer:innen gegen Antisemitismus nach dem Anschlag in Halle? Was haben sie gegen den Anstieg der Vorfälle getan? Haben sie ihre Stimme erhoben? Haben sie sich organisiert? Demonstriert?

Erst mit dem Angriff der Hamas wurde dieser Kampf, den es ohne Frage zu gewinnen gilt, sodass Menschen ohne Angst in die Synagoge gehen oder sagen können, dass sie jüdisch sind, wieder populär. Und das ist nichts anderes als Heuchelei. Unter dem Label der Antisemitismusbekämpfung ist es derzeit einfach, Menschen zu diskreditieren, migrantischen Protest zu kriminalisieren oder Kritiker:innen, nicht nur im Kontext des Krieges in Gaza, zum Schweigen zu bringen. Es sind dieselben, die Bildungsarbeit zu Rechtsextremismus, Rassismus oder Antisemitismus diskreditieren (hierzu empfehlen wir, die Anfragen im Abgeordnetenhaus von Berlin von FDP, CDU oder AfD zu studieren) oder gar Gelder dafür einstampfen wollen. Allein das zeigt, dass es sich um ein vorgeschobenes Argument handelt.

Viel wichtiger ist es allerdings, dass wir uns nicht nur der Heuchelei, sondern der materiellen Grundlage bewusst sind. Das bedeutet auch, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht losgelöst gesehen werden kann von dem gegen Rassismus oder Imperialismus. Klar hat es Diskriminierungsformen auch ohne Kapitalismus bereits gegeben. Dennoch ist der moderne Antisemitismus nicht deckungsgleich mit einem mittelalterlichen Antijudaismus. Rechte Hetze und faschistische Bewegungen spielen mit Abstiegs- und Existenzängsten. Die reaktionäre faschistische Bewegung nutzt Antisemitismus bewusst, um Klassengrenzen vermeintlich wegzuwischen. Ein vermeintliches deutsches, französischse usw. Volk wird einem Feind gegenübergestellt, den es zu bekämpfen gilt. In Europa und besonders in Deutschland, nicht zuletzt durch die NS-Zeit, führte das zur massenhaften Vernichtung von Juden und Jüdinnen. Doch als diese Verfolgungsmaschinerie erst einmal eingesetzt hatte, wurde die Gruppe der Verfolgten kontinuierlich größer.

Neuere Umvolkungsideen basieren auf ähnlichen Grundlagen, auch wenn sie sich vor allem auf Muslim:innen fokussieren. Allein diese Parallelen zeigen auf, dass wir nicht auf eine rassistische Front gegen Antisemitismus hereinfallen dürfen. Beide Ideologien haben dieselbe Grundlage. Ebenso wird auch in beiden Fällen vor allem das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum angesprochen. Schaut man sich die derzeitigen Proteste an, bestätigt sich diese These: Vorher nie was gegen Diskriminierung jeglicher Art gemacht, aber auf die Feindeserzählungen hereingefallen. Ja, nie wieder ist jetzt! Für uns bedeutet das, den Kern dieser Ideologien zu bekämpfen und eine politische Alternative dazustellen. Dabei stützen wir uns nicht auf die all zu schnell verführbaren Kleinbürger:innen.

Der Kampf gegen Repression ist jetzt!

Ein Ausschluss entzieht der ausgeschlossenen Person nicht nur ihr Recht auf Bildung und auf Verteidigung gegen den Vorwurf. Noch viel schlimmer ist, dass es überhaupt keinen Ansatz gibt, um nachhaltig Diskriminierung entgegenzuwirken. Nicht mal die Symptombekämpfung durch Bildungsarbeit spielt eine Rolle. Doch Rassismus und auch Antisemitismus sind nicht „eingeimpft“, sie sind Merkmale des kapitalistischen Systems. Gerade in Zeiten der Krise basiert der Kapitalismus darauf, sich nach und nach gewisser Gruppen zu entledigen. Wer vorher in den prekärsten Jobs schuften musste, wird durch die nächste Gruppe ersetzt, um letztlich doch wieder Profite zu erzielen. So ist es nicht verwunderlich, dass in Zeiten des Rechtsrucks nicht nur Antisemitismus oder Rassismus ansteigen, sondern auch der Hass auf Frauen.

Bei der Frage, ob Zwangsxmatrikulationen wieder eingeführt werden sollten, geht es eben nicht nur um einen vermeintlich antisemitischen Übergriff. Hier werden Weichen gestellt. Diese Debatte ist einerseits der Höhepunkt einer Repressionswelle und gleichzeitig der Anfang für ein neues Stadium der Kriminalisierung. Besonders Muslim:innen werden derzeit zu Sündenböcken gemacht, obwohl der Großteil antisemitischer Taten weiterhin von rechts kommt. Doch das will niemand aus dem „demokratischen“ Mainstream hören. Denn auch die Rhetorik in den Parlamenten besteht von Misstrauen bis zu offenen Deportationsplänen über Parteigrenzen hinweg gegen Ausländer:innen, Migrant:innen und Geflüchtete. Als Revolutionär:innen ist uns klar, dass die erste Phase der Repression vor allem Migrant:innen zum Ziel haben, es aber darüber hinaus auch insbesondere linke Gruppen treffen wird. Dieser Repressionsapparat darf gar nicht erst in Gang gesetzt werden. Wir müssen uns jetzt dagegen organisieren!

Unsere Staatsräson heißt: Sozialismus!

Wir sind Internationalist:innen. Natürlich sind uns Religion oder Herkunft einer Person egal, denn unsere Klasse kennt weder Ausländer:innen noch rassistische Trennung.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich halten wir von Sozialismus und Befreiung nur in einem Land nichts.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich interessiert uns die politische Situation und die Ausbeutung der Massen in einem Land nicht erst, wenn es in der deutschen Tagesschau Thema wird.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich ist unser Ziel eine weltweite Revolution der Arbeiter:innenklasse.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich sind wir uns der Diskriminierung auch innerhalb unserer eigenen Bewegung bewusst. Deswegen stehen wir nicht nur bei äußerer Bedrohung Seite an Seite, sondern geben unseren Mitgliedern Caucusse als Supportstrukturen.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich beginnt unser Kampf gegen Imperialismus im eigenen Land.

Wir sind Internationalist:innen.

Natürlich müssen wir jeden Antisemitismus schonungslos bekämpfen. Unser Kampf dagegen steht jedoch nicht im Widerspruch zu unsere Palästinasolidarität. Für uns ist weder das eine noch das andere ein plötzliches Event. Unser Kampf gegen Diskriminierung, Ausbeutung und Imperialismus steht auf einer Klassenbasis, einer Analyse der materiellen Grundlage. Genau deswegen gehören der Kampf gegen antisemitische Parolen in- und außerhalb der eigenen Strukturen und der für ein freies Palästina zusammen.

Der Kampf in der Bewegung für ein revolutionäres und internationalistisches Programm und seine Anleitung durch es sind wichtiger denn je. Die derzeitige Dynamik zeigt uns, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt, wenn die AfD in Deutschland Erfolge erzielt, Antisemitismus und Rassismus seit Jahren zunehmen, Netanjahu in Israel den Krieg nicht nur gegen die Palästinenser:innen nutzt, sondern auch gegen die Opposition und jemand wie Erdogan als Bollwerk gegen Genozid eintritt, während er selbst Kurdistan bombardiert. Unsere Antwort auf die Krise heißt daher: Sozialismus jetzt!

Mehr zu unserer Position zu Palästina




Nordirland: Die Rückkehr von Stormont

Bernie McAdam, Infomail 1246, 29. Februar 2024

Vor zwei Jahren kündigte die Democratic Unionist Party (DUP) das Karfreitagsabkommen (GFA) auf und verließ Stormont, das nordirische Parlament. Die dezentralen Institutionen der nordirischen Exekutive und Versammlung brachen damit zusammen. Die DUP bestand darauf, dass dies so lange andauern würde, wie das nordirische Protokoll zum Brexit-Austrittsabkommen und die Grenze zur Irischen See existierten, da dies eine Bedrohung für die Union mit Großbritannien darstelle. Das neue Abkommen „Safeguarding the Union (Schutz der Union)“, dem alle Parteien zugestimmt haben, hat die Rückkehr ins Stormont sichergestellt.

Hat die DUP also erreicht, was sie will? Natürlich sagt sie, dass sie es hat und es nun keine Seegrenze mehr zwischen Großbritannien und Nordirland gibt. Die wichtigste Errungenschaft des DUP-Vorsitzenden Jeffrey Donaldson ist eine Vereinbarung über die Abschaffung der Routinekontrollen für Waren, die von Großbritannien in den Norden gelangen und nicht für den Verkauf in der irischen Republik und damit in der EU bestimmt sind. Die bestehenden „grünen“ und „roten“ Fahrspuren für Waren hatten jedoch bereits ein ähnliches Verfahren eingeführt, und es bleibt die Tatsache bestehen, dass zur Verhinderung von potenziellem Schmuggel in die EU weiterhin Kontrollen durchgeführt werden können, bevor die Waren in Nordirland angelandet werden. Mit anderen Worten: Es gibt immer noch eine Zollgrenze an der Irischen See, wenn auch weniger sichtbar; das Protokoll ist nach wie vor intakt.

Donaldsons größter Erfolg ist vielleicht, dass er seine Partei, die größte Stimme innerhalb der Unionist:innen, für diese sehr geringfügige Verfahrensänderung gewinnen konnte. Sogar der loyalistische Dachverband, der Loyalist Community Council, dem auch loyalistische Paramilitärs angehören, hat die Vereinbarung unterstützt. Das bedeutet, dass mit Michelle O’Neil von Sinn Fein zum ersten Mal eine nationalistische Premierministerin akzeptiert wird. Für die DUP ist das natürlich schmerzlich, aber sie hat mit der nicht gewählten Emma Little-Pengelly eine willige stellvertretende Ministerpräsidentin gefunden. Aber auch hier gibt es wenig Substanzielles, da alle Entscheidungen von beiden Ministerinnen, die gleichberechtigt sind, mitgetragen werden müssen.

Sinn Feins Freude

Eine jubelnde Sinn Fein behauptet, dass ein vereinigtes Irland nun „in greifbarer Nähe“ sei, und Michele O’Neil spricht davon, dass „die Volksabstimmungen noch in diesem Jahrzehnt“ stattfinden werden, um die Zukunft der Union zu bestimmen. Das Karfreitagsabkommen enthält zwar eine solche Bestimmung, aber es liegt ganz im Ermessen der britischen Regierung, eine solche Grenzabstimmung zuzulassen. Der britische Minister für Nordirland, Chris Heaton-Harris, rechnet nicht damit, dass er eine solche Abstimmung noch zu seinen Lebzeiten erleben wird. Wer gedacht hat, dass die Labour-Partei mehr Sympathie zeigen würde, sollte sich anhören, wie ihr Vorsitzender Starmer ein mögliches Referendum herunterspielt, indem er es als „absolut hypothetisch“ und „nicht einmal am Horizont sichtbar“ bezeichnet.

Das Abkommen tut genau das, was es sagt, nämlich „die Union zu schützen“, genau wie das GFA, indem es einem zutiefst undemokratischen Staat ein „demokratisches“ Mäntelchen umhängt. Für den US-amerikanischen, europäischen und britischen Imperialismus ist die Struktur der Machtteilung des GFA das einzig Wahre, und Sinn Fein macht da gerne mit. Für die Unionist:innen ist die Teilung der Macht der Preis, den sie für die Fortsetzung der Union mit Großbritannien zahlen müssen.

Der Staat ist jedoch immer noch ein Affront gegen die demokratischen Bestrebungen des irischen Volkes als Ganzes, und es ist die Bevölkerung, die die Zukunft der sechs Grafschaften bestimmen sollte, frei von jedem britischen Veto. Stormont ist nach wie vor eine sektiererische Struktur und wird auch weiterhin die Ämter auf sektiererischer Basis in einem Staat verteilen, der existiert, um den Kapitalismus zu kontrollieren und die Teilung zu bewahren; ein Staat, der über die am meisten benachteiligte Region im Vereinigten Königreich herrscht.

Herausforderung für die Arbeiter:innenklasse

Was die Situation wirklich veränderte, war der Generalstreik im öffentlichen Dienst im Januar, als 150.000 Arbeiter:innen auf die Straße gingen. Das konzentrierte die Gedanken der DUP auf wunderbare Weise, als sie sich mit dieser Herausforderung der Arbeiter:innenklasse auseinandersetzte. Die Region wurde zum Stillstand gebracht, als sich katholische und protestantische Lohnabhängige zusammenschlossen, um ihre ausstehenden Lohnansprüche einzufordern. Abgesehen von der Wut über die Verschlechterung der Löhne und Dienstleistungen wurde die Wirkung durch den Trick der britischen Regierung noch verstärkt: „Wir werden euch bezahlen, wenn ihr die Exekutive wieder zum Laufen bringt“.

Betrachtet man den realen Wert der Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor, d. h. die Differenz zwischen den Lohnabschlüssen und der Inflation, so ist dieser zwischen April 2021 und April 2022 um mehr als 4 % gesunken. Im folgenden Jahr betrug der Rückgang 7 %. Hinzu kommt die erschreckende Tatsache, dass die Arbeiter:innen in Nordirland  weniger Lohn erhalten als die entsprechenden Kolleg:innen im übrigen Vereinigten Königreich. Die Lohngleichheit ist natürlich eine wichtige Forderung, aber sie reicht allein nicht aus, um mit der Inflation Schritt zu halten.

Der öffentliche Sektor wurde von den regierenden Tories jahrelang mit brutalen Kürzungen überzogen. In fast allen Bereichen schneidet das nordirische Gesundheits- und Pflegesystem (British Medical Association) schlechter ab als irgendwo sonst im Vereinigten Königreich. Die Wartelisten sind verhältnismäßig viel höher und verlängern sich. Der Haushalt für das Bildungswesen 2023 – 2024 wurde um 2,5 % gekürzt, und die Bildungsbehörde gab bekannt, dass eine beträchtliche Anzahl von Schulen mit einer „unhaltbaren finanziellen Situation“ konfrontiert ist. Die Gehälter der Lehrer:innen wurden seit drei Jahren nicht mehr erhöht, so dass sich eine große Lücke zum Rest des Vereinigten Königreichs auftut.

Wie geht es weiter?

Jetzt, da „die Union gesichert“ ist und die britische Regierung 3,3 Milliarden Pfund freigegeben hat, obliegt es der von Sinn Fein und DUP geführten Exekutive, mit den Gewerkschaften über die Lohnzahlungen zu verhandeln. Genau darum ging es beim GFA, um die Übertragung der britischen Herrschaft mit all ihren wirtschaftlichen Angriffen. Natürlich ist die begrenzte Finanzierung durch Großbritannien der Kern des Problems, aber die Zuständigkeitsverlagerung entbindet die britische Regierung von einer direkten Beteiligung.

Die Wut auf den Straßen im Januar ist noch nicht verflogen. Bei Redaktionsschluss haben die Gewerkschaften Unite, GMB und SIPTU ein Lohnangebot von 5 % für das Verkehrspersonal abgelehnt und für den 27. bis 29. Februar zu einem dreitägigen Streik aufgerufen. Die Assistenzärzt:innen werden im März einen Tag lang streiken, nachdem 97 % für einen Streik gestimmt haben. In einem Streit, der bis ins Jahr 2018 zurückreicht, hat die GMB (General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union) vor Streiks gewarnt, da laut Sprecher für Bildung Paul Girvan keine neuen Mittel für die Bezahlung und Einstufung des Schulpersonals zur Verfügung stehen.

Der Streik im Januar zeigt zwar die enorme Kraft der Arbeiter:innenschaft, die gemeinsam streikt, aber es ist klar, dass weitere Maßnahmen erforderlich sind. Carmel Gates, NIPSA (Nordirische Öffentliche Dienstallianz)-Generalsekretärin, sagte: „Dies ist der Anfang, wir werden eskalieren“. Aber diese Worte müssen in eine konkrete Strategie für den Sieg umgesetzt werden. Wir können uns dabei nicht auf unsere Führer:innen verlassen. Die Basis muss die Kontrolle über die Auseinandersetzungen übernehmen, indem sie Streikkomitees und Massenversammlungen bildet, um ihre Führungen zur Verantwortung zu ziehen. Gemeinsame gewerkschaftliche Aktionsräte müssen ein eskalierendes Aktionsprogramm bis hin zu einem unbefristeten Streik koordinieren.

Zurück nach Stormont

Die neue Exekutive wird also wieder die britische Herrschaft umsetzen, und zwar mit allen finanziellen Zwängen, die sich aus der Politik der Regierung ergeben. Der einzige „Vorteil“ der Rückkehr nach Stormont wird darin bestehen, dass die Rolle von Sinn Fein und der DUP bei der Kollaboration mit den Angriffen der britischen Regierung auf die Arbeiter:innen aufgedeckt wird. Ja, sie werden mehr Geld fordern und die Verantwortung leugnen, aber sie werden nicht kämpfen oder sich der Regierung widersetzen, um die Lohnforderungen der Beschäftigten zu erfüllen. Es wird interessant sein zu sehen, ob die Exekutive sich sogar weigert, die vom Finanzministerium geforderten zusätzlichen Einnahmen in Höhe von 113 Millionen Pfund aufzubringen!

Die Gewerkschaftsbürokrat:innen werden ihr Bestes tun, um die Aktionen zu begrenzen und schlechte Verträge unterhalb der Inflationsrate auszuhandeln. Auch sie sind für die Teilung und werden die Strukturen der Machtteilung nicht erschüttern wollen. Klar ist, dass ein entschlossener Kampf der Arbeiter:innen zur Verteidigung und Verbesserung ihres Lebensstandards das institutionalisierte Sektierertum, das die Gesellschaft in den sechs Grafschaften durchdringt, auf die Probe stellen und ins Wanken bringen wird.

Wenn der Brexit vielen gezeigt hat, wie störend eine Grenze in Irland ist, dann kann eine militante Herausforderung der Kürzungspolitik durch katholische und protestantische Arbeiter:innen die Augen für eine Zukunft öffnen, in der alle Arbeiter:innen in Irland ihre gemeinsamen Interessen gegen die britischen imperialistischen oder irischen kapitalistischen Bosse erkennen. Die kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden werden keine Skrupel haben, den Widerstand der Arbeiter:innenklasse zurückzuschlagen, deshalb brauchen wir Einigkeit über die konfessionelle Kluft hinweg, um einen stärkeren Kampf gegen die Bosse zu organisieren. Dieser Kampf wird erst dann beendet sein, wenn die Gesellschaft in einer Arbeiter:innenrepublik in Irland der Arbeiter:innenklasse gehört und von ihr kontrolliert wird.




AfD bekämpfen – aber wie?

Stefan Katzer, Infomail 1246, 23. Februar 2024

Seit Wochen gehen Menschen in ganz Deutschland auf die Straße, um gegen die AfD zu demonstrieren. Hunderttausende beteiligten sich an Kundgebungen in den großen Städten und auch in mittelgroßen und kleineren kam es zu Protesten. Die Teilnehmer:innen zeigen sich vielfach empört über die Deportationspläne, die auf einem Treffen zwischen Mitgliedern der AfD, der Werteunion und Vertreter:innen rechtsextremer Gruppierungen diskutiert und durch eine Recherche Anfang Januar bekanntwurden. Diese Pläne machen deutlich, was die AfD vorhat, sollte sie an die Regierung kommen. Sie stellt ohne jeden Zweifel eine reale Bedrohung dar, insbesondere für rassistisch unterdrückte Menschen. Sollte man sie deshalb verbieten? Diese Frage wird seitdem vermehrt diskutiert.

Bürgerlich-demokratische Heuchelei

Zunächst ist es jedoch wichtig festzuhalten, dass sich die Lage rassistisch unterdrückter Menschen bereits unter der regierenden Ampel-Koalition dramatisch verschlechtert hat. Während die AfD aufgrund ihrer Rolle als Oppositionspartei bisher nur davon träumen kann, Menschen massenweise abzuschieben, hat die Bundesregierung bereits vor einigen Wochen eine Abschiebeoffensive angekündigt. In diesem Zusammenhang hat sie das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz verabschiedet und die Repression gegenüber Geflüchteten massiv verschärft. Der Entscheidung vorausgegangen war eine monatelange Debatte, in der sowohl die regierenden Ampel-Parteien als auch die oppositionelle CDU/CSU das „Problem“ der „illegalen“ Migration immer weiter aufbauschten und der AfD damit in die Karten spielten. Sowohl die Ampel-Parteien wie auch die oppositionelle Union haben dadurch dem Rechtsruck und weiteren Aufstieg der AfD den Boden bereitet.

Nun aber, da die AfD in einigen ostdeutschen Bundesländern laut Umfragen stärkste Kraft zu werden droht, reihen sich diese Heuchler:innen in die Anti-AfD-Proteste ein und versuchen zugleich, sie für ihre eigenen Zwecke zu vereinnahmen. Dementsprechend handelt es sich bei der Bewegung, die in den letzten Wochen auf der Straße war, um ein breites, klassenübergreifendes Bündnis, das von sehr unterschiedlichen politischen Kräften und gesellschaftlichen Schichten getragen wird. Die Frage, die dabei im Raum steht, ist die, wie die AfD wirksam bekämpft werden kann.

Verbieten oder bekämpfen?

Ein Vorschlag, der in letzter Zeit vermehrt diskutiert wird, ist der nach einem Verbot der Partei. Eine Online-Petition, die ein solches Verbot fordert, konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt bereits hunderttausende Unterschriften sammeln. Die Befürworter:innen des Verbots beziehen sich dabei auf Artikel 21 des Grundgesetzes, wonach Parteien, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen, verfassungswidrig sind und daher verboten werden können.

Auch in linken Kreisen wird dieser Vorschlag vermehrt diskutiert. In der Zeitschrift „Analyse und Kritik“ argumentieren die Autor:innen des Artikels „Verboten faschistisch“, dass die Linke den Verbotsvorschlag aufgreifen und mit ihren eigenen Argumenten unterfüttern solle. Sie plädieren dafür, die Verbotsforderung gegenüber der AfD mit deren konkreter Politik zu begründen und nicht mit dem Hinweis darauf, dass diese „extremistisch“ sei. Dies ermögliche es der Linken, die Verbotsforderung gegenüber der AfD mit einer Kritik an anderen bürgerlichen Parteien und deren migrationsfeindlicher Politik zu verbinden und sich selbst aus der Schussbahn zu nehmen.

Es ist dabei keineswegs so, dass die Autor:innen das Verbot als Allheilmittel gegen Rechtsruck und Faschismus betrachten. Vielmehr begreifen sie es als eine Art Notwehrmaßnahme, um bestehende Handlungsspielräume für die eigene, linke Politik zu sichern. Laut den Autor:innen sei das Verbot der AfD derzeit „der einzige Vorschlag mit Hand und Fuß“ und daher unterstützenswert. Dem Einwand, dass sich eine solche Verbotsforderung auch gegen linke Organisationen richten könnte, messen sie gegenüber den Vorteilen eines Verbots weniger Gewicht bei.

Zwar sind auch die Autor:innen überzeugt, dass durch ein Verbot der AfD die rassistischen Einstellungen ihrer Anhänger:innen und Wähler:innen nicht einfach verschwinden würden, doch würde es „die politische Schlagkraft dieser Einstellungen durch parteipolitische Formierung, Sammlung und Finanzierung, einschränken.“

Von Böcken und Gärtnern: der bürgerliche Staat als antifaschistisches Bollwerk?

Allein: Bis zu einer Entscheidung über ein Verbot könnten Jahre vergehen. Es ist also keineswegs so, dass es, sollte es tatsächlich dazu kommen, kurzfristig den Aufstieg der Rechten stoppen könnte. Ein solches Verbot kann zudem nur vom Bundestag, dem Bundesrat oder der Bundesregierung beantragt werden. Die Entscheidungsbefugnis liegt dann beim Bundesverfassungsgericht. Der bürgerliche Staat wäre in dieser Strategie also der entscheidende Akteur, während die Bewegung gegen die AfD sich selbst in eine passive Rolle fügen würde. Der Kampf gegen Rechtsruck und Faschismus würde dadurch an eine bürgerliche Institution delegiert, welche die gesellschaftlichen Bedingungen, die dem Aufstieg der Rechten zugrunde liegen, im Zweifelsfall mit Gewalt verteidigt.

Was eine solche Strategie zudem in Bezug auf die Dynamik der Bewegung bedeuten könnte, kann man am Beispiel des Volksentscheids in Berlin zur Frage der Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. beobachten. Dort wurde die Bewegung für die Enteignung großer Immobilienkonzerne, die zwischenzeitlich massive Proteste organisierte, letztlich durch den Senat ausgebremst, der eine Entscheidung immer weiter hinauszögerte und der Bewegung damit den Wind aus den Segeln nahm. Zur Enteignung kam es dann trotz erfolgreichen Volksentscheids letztlich nicht – und die Bewegung erlahmte, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.

In Bezug auf das AfD-Verbot ergäben sich ähnliche Probleme. So ist es keinesfalls sicher, dass die AfD tatsächlich verboten würde, sollte es zu einem Verfahren gegen sie kommen. Zwar gibt es mit dem „Flügel“ um Björn Höcke eine einflussreiche Strömung innerhalb der Partei, die Verbindungen zu faschistischen Gruppierungen unterhält und auch vom sog. „Verfassungsschutz“ als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird. Doch ist die Partei als Ganze keineswegs faschistisch, wodurch ihr Verbot eher unwahrscheinlich erscheint.

Neben den geringen Erfolgsaussichten eines solchen Verbotsverfahrens und der Tatsache, dass sich Verbotsforderungen immer auch gegen linke Organisationen richten könnten, spricht vor allem dagegen, dass mit einem Verbot der Partei keineswegs die gesellschaftlichen Ursachen beseitigt würden, die den Aufstieg der AfD begünstigten. Ein erneuter Aufstieg der Rechten nach einem Verbot der Partei wäre wahrscheinlich, zumal die Krisen, die der Kapitalismus produziert, sich immer weiter zuspitzen. Dessen scheinen sich auch die Autor:innen des Artikels bewusst zu sein, wenn sie schreiben, dass ein Verbot der AfD der Linken lediglich eine Atempause verschaffen würde.

Über Ursachen und Strategien

Doch die entscheidende Frage, die sich daraus ergibt, stellen die Autor:innen erst gar nicht. Es ist die nach der strategischen Perspektive im Kampf gegen die AfD. Sie gilt es, zu diskutieren und praktisch zu beantworten. Hierfür muss man zuallererst die Ursachen ergründen, die den Aufstieg der AfD begünstigten.

Der Aufstieg der AfD und anderer rechter Kräfte steht in engem Zusammenhang mit der Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ja ist selbst Ausdruck dieser krisenhaften Entwicklung. Fallende Profitraten und die Überakkumulationskrise des Kapitals führen zu einer Verschärfung der Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalen wie zwischen den nationalen Gesamtkapitalen, die ihre Rivalität auf internationaler Bühne vermehrt mit kriegerischen Mitteln austragen. Die Verschärfung der Konkurrenz und der neu entbrannte Kampf um die Neuaufteilung der Welt aber bilden den Nährboden für Rassismus, Militarismus, Populismus, Autoritarismus und faschistische Tendenzen.

Die Rechten verleihen dabei dem Unbehagen kleinbürgerlicher Schichten, die durch die verstärkte Konkurrenz zunehmend an die Wand gedrückt werden, einen politischen Ausdruck, stehen aber auch insgesamt für eine andere Strategie von Teilen der Bourgeoisie, die weniger exportorientiert sind und stärker auf Protektionismus setzen. Angesichts des Fehlens einer revolutionären Alternative wirkt die Demagogie der Rechten zugleich anziehend auf Teile der Arbeiter:innenklasse, die aufgrund von Krise und Inflation ebenfalls immer stärker unter Druck gerät.

Begreift man den Aufstieg der Rechten aber als ein Krisenphänomen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wird klar, dass der Kampf dagegen in eine Gesamtstrategie zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus eingebettet werden muss. Die Linke darf somit den Kampf gegen Rechtsruck und Faschismus nicht isoliert betrachten und danach ausrichten, was unmittelbar als machbar erscheint, sondern muss ihn als integralen Bestandteil des internationalen Klassenkampfes begreifen und ihn mit den Kämpfen gegen Aufrüstung, Krieg und Sozialabbau verbinden.

Es greift hingegen zu kurz, im Kampf gegen die AfD zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie aufzurufen und die „Einheit aller Demokrat:innen“ zu beschwören. Zwar ist es richtig, demokratische Rechte zu verteidigen, doch darf eine Bewegung gegen den Rechtsruck vor einer Kritik an der bürgerlichen Demokratie nicht zurückschrecken. Das führt nur dazu, dass sich die AfD auch weiterhin als einzige Opposition zu den „Systemparteien“ positionieren kann.

Staat, Rechte, Klassenkampf

Verbot und Einheit der Demokrat:innen erlauben es der AfD und anderen, offen faschistischen Gruppierungen nicht nur, sich als Pseudoopposition darzustellen. Sie bilden zugleich auch eine politische Reserve für die herrschende Klasse, sollten neben der staatlichen Repression auch andere Mittel notwendig werden, um gegen Streiks und andere Widerstandsformen der Arbeiter:innenklasse vorzugehen. Daher wird jedes Verbot logischerweise immer inkonsequent bleiben müssen – und die „Vernetzung“ von extremer Rechter, AfD und (ehemaligen) Teilen der Union, wie sie bei den Enthüllungen von Korrektiv auch deutlich wurde, zeigt, dass Querverbindungen von Staat (inklusive Repressionsorganen), faschistischen und rechtsradikalen Kräften sowie „Wertkonservativen“ längst schon bestehen. Die krisenhafte Entwicklung der Gesellschaft wird dies weiter befördern.

Zweitens würde ein Verbot der AfD und anderer Rechter unwillkürlich nicht nur Illusionen in die Rolle des bürgerlichen Staates stärken, es würde vor allem auch dessen Machtmittel vergrößern. Dies ließe sich nur vermeiden, wenn das Verbot nicht durch wachsende Befugnisse von Polizei, Geheimdiensten und anderen Behörden sowie durch den Ausbau des Personals unterfüttert würde. In diesem Fall würde es nur auf dem Papier bestehen, wäre faktisch eine Fiktion. Würde es wirklich umgesetzt, so würde es zu einer Stärkung des repressiven Staatsapparates führen müssen, dessen Mittel „natürlich“ auch gegen alle anderen „Gefährder:innen“ „der Demokratie“ verwendet werden würden. Es würde also unwillkürlich die Tendenz zum Autoritarismus, zur Einschränkung demokratischer Rechte, deren Ursache selbst in der Krise und imperialistischen Konkurrenz liegt, zusätzlich stärken und legitimieren.

Drittens versetzt es die Arbeiter:innenklasse und die rassistisch Unterdrückten in eine passive, rein abwartende Rolle, die durch die scheinbare und fiktive Einheit von Arbeiter:innenklasse und „demokratischer“ Bourgeoisie auch ideologisch untermauert wird. Die Verbotslosung (wie ein umgesetztes Verbot) stärkt letztlich das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates, also der herrschenden Klasse, auch wenn es sich auf den ersten Blick ausnahmsweise auch gegen rechts zu richten scheint.

In Wirklichkeit entwaffnet es die Arbeiter:innenklasse politisch-ideologisch und materiell bzw. verfestigt die bestehende ideelle Entwaffnung, indem die Gewerkschaften, linke Parteien und auch Teil der „radikalen“ Linken politisch hinter bürgerlichen Kräften hertraben (auch wenn diese bei den Demonstrant:innen nur eine Minderheit sind). In Wirklichkeit müssen Revolutionär:innen und alle klassenkämpferischen und internationalistischen Kräfte daran arbeiten, die klassenübergreifenden „Einheit der Demokrat:innen“ aufzubrechen. In der Verbotslosung bündelt sich gewissermaßen diese Einheit zu einem zentralen Ziel. Wenn die AfD und rechte Organisationen auch legal verboten werden können, wozu braucht es dann noch Selbstverteidigungsorgane der Unterdrückten und der Arbeiter:innenklasse? Wozu müssen faschistische Aufmärsche und Organisationen militant bekämpft werden, wenn der Staat sie ohnedies verbietet?

Arbeiter:inneneinheitsfront statt „Einheit der Demokrat:innen“

Statt die Einheit mit den selbsternannten „Demokrat:innen“ zu suchen, muss die radikale Linke für die Einheit der Arbeiter:innenklasse kämpfen. Hierzu muss sie Druck auf die reformistischen Organisationen ausüben und sich darum bemühen, die Gewerkschaft in den Kampf hineinzuziehen. Innerhalb dieser Bewegung muss die radikale Linke für Forderungen kämpfen, die auf die Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse zielen, AfD, Nazis und staatlichen Rassismus bekämpfen! Zugleich muss sie in der Bewegung dafür argumentieren, dass dieser Kampf mit dem zur Überwindung des Kapitalismus und für die Errichtung der revolutionären Rätemacht des Proletariats verbunden werden muss.

So sollte die Linke innerhalb dieser Bewegung für den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees eintreten, die von Migrant:innen, Flüchtlingen, Linken und Gewerkschaften getragen werden, anstatt sich an den bürgerlichen Staat zu wenden. Diese Selbstverteidigungsorgane sind mögliche Keimformen von zukünftigen Milizen der Arbeiter:innenklasse, Kampforgane nicht nur gegen die Rechten, sondern auch gegen jede Form der Repression. Ihre Propagierung und Errichtung stellt  eine Brücke zum Kampf um die Rätemacht dar, wenn wir den Faschismus nicht nur bekämpfen, sondern im globalen Maßstab tatsächlich besiegen wollen. Dies kann die Linke nur, wenn sie mit dem imperialistischen Weltsystem zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen für die autoritär-reaktionären Formierungen bekämpft, die derzeit in vielen Teilen der Welt auf dem Vormarsch sind. Kein bürgerlicher Staat der Welt kann uns diese Aufgabe abnehmen.

  • Nein zu allen rassistischen Gesetzen! Stopp aller Abschiebungen! Offene Grenzen und volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die hier leben!

  • Nein zu allen Überwachungsmaßnahmen und zur Kriminalisierung von Migrant:innen und politischen Flüchtlingen!

  • AfD und Nazis organisiert entgegentreten! Gegen rechte Übergriffe und Angriffe: Selbstschutz von Migrant:innen und Gewerkschaften aufbauen!

  • Gemeinsamer Kampf gegen die gesellschaftlichen Wurzeln von Faschismus und Rassismus! Gemeinsamer Kampf gegen Inflation, Niedriglohn, Armut und Wohnungsnot!



Gegen Ausverkauf des Hamburger Hafens

Bruno Tesch, Infomail 1245, 21. Februar 2024

Die Gewerkschaft Vereinigte Dienstleistungen (ver.di) hat für den 21.2.2024 zu einer Demonstration vor dem Hauptsitz des Hamburger Hafen- und Logistikbetreibers HHLA in der Speicherstadt gegen den Verkauf von großen Anteilen an die weltgrößte Containerreederei MSC (Mediterranean Shipping Company), einen schweizerisch-italienischen Konzern, aufgerufen. MSC will die bisher an der Börse gehandelten HHLA-Aktien aufkaufen und erhält zusätzlich 19,9 % vom Hamburger Senat, was ihre Anteile auf 49,9 % hochhieven würde.

Was steht auf dem Spiel?

Die weitere Privatisierung birgt in erster Linie hohe Risiken für die Beschäftigten. Denn MSC ist bekannt für seine rigorosen Praktiken bei der „Umstrukturierung“ von Personal und Arbeitsverdichtung, die das Unternehmen bei einer solch grenzwertigen Beteiligung, einer fast überbordenden Minorität, geltend machen könnte.

Darüber hinaus wendet sich ver.di auch gegen die Gefährdung von Interessen für die „Stadtgesellschaft“, denn nicht nur die HHLA, auch der Gesamthafen mit anhängenden Betrieben wäre betroffen. Der Hamburger Hafen, lange Zeit Vorzeigeobjekt und Identifikationsmuster für die Weltgeltung der Hansestadt, hat es mit Auslastungsschwankungen zu tun. Fehlende Instandhaltung des technisches Arsenals bedingt, dass immer wieder Teile des Fahrzeug- und Containergeschirrs an den Kränen stillstehen. Die Geschäftsführung drängt auf stärkere Zentralisierung und Automatisierung der Betriebsabläufe und damit Kostendämpfung, um im Containergeschäft wieder attraktiver zu werden. Die Reedereien wiederum können durch Absprachen ihre Marktmacht spüren lassen.

Der Deal wurde bereits im Vorjahr vom Hamburger Senat eingefädelt. Der sieht darin eine strategische Partner:innenschaft, um in einem Umbau des Hafenbetriebs mit mehr Rentabiltät und Effizienz gegen den weltweit steigenden Konkurrenzdruck die Fahrrinne zu verbreitern.  Der gesamte Containerbereich soll umorganisiert werden, um Einsparungen von bis zu 150 Millionen Euro zu erreichen.

Konkret würde das v. a. bedeuten, dass mindestens 400 Arbeitsplätze, laut ver.di-Rechnung sogar 718 Vollzeitstellen, künftig entfallen. Teams in den Terminals werden aufgelöst.

Seit diese Pläne bekanntgeworden sind, haben etliche Kolleg:innen  darauf reagiert und bereits „abgemustert“, weil sie angesichts der  Ungewissheit, ob sie nicht von Umschichtungen mit Lohneinbußen und gesteigerter  Arbeitsintensität oder gar Jobverlust betroffen sein werden, keine Zukunft mehr für sich und ihre Familien sehen.  So menschlich verständlich diese Abwanderungen auch sein mögen, sind sie doch das völlig falsche Signal.

Gegenwehr

Als die Mine vom geplanten Verkauf hochging, löste dies am 6.11.2023 eine spontane eintägige Arbeitsniederlegung der HHLA-Belegschaft aus. Diese wurde daraufhin kurzerhand von der bürgerlichen Justiz für illegal erklärt und zog Abmahnungen gegen Streikbeteiligte nach sich. Die Unterstützung der Gewerkschaften beschränkte sich auf nachfolgende Protestveranstaltungen. Die Mehrheit der derzeit noch rund 3.600 lohnabhängig Beschäftigten bei der HHLA lehnt den schmutzigen Deal nach wie vor vehement ab. Durch ihren Druck und den hohen Aufmerksamkeitswert für die Hafenthematik sieht sich die Gewerkschaft ver.di nun bemüßigt, unter dem Motto „Wir lassen uns nicht verraMSChen“ eine Demonstration anzusetzen.

Mit großer Teilnahme ist zu rechnen, denn auch die Betriebsräte von Burchardkai und Altenwerder haben nicht nur zur Beteiligung am Protest aufgerufen, sondern schon im Vorwege durch einen täglich erscheinenden Rundbrief unter dem Titel „Kaikante“ die Mitarbeiter:innen auf das Ereignis eingestimmt.

Natürlich ist zu erwarten, dass die Bürokrat:innen aus Gewerkschaft und Betriebsrat der Schlagseite einer nationalistischen bzw. provinziellen Sichtweise zuneigen werden und es bei punktuellen Protesten belassen.  Allerdings sind sie in diesem Zusammenhang aus den „Ewig grüßt das Murmeltier“-Tarifrundenmühlen ausgeschert und haben sich in ein politisches Fahrwasser begeben.

Diese Klippe hoffen sie, durch Appelle an die Regierenden (zumeist ja ihre sozialdemokratischen Parteifreund:innen) und das Hervorkehren ihrer Qualitäten als Verhandlungsprofis zu umschiffen. Wie bereit der Senat zum Einlenken ist, hat er ja bereits im November bewiesen, als seine Vertreterin Gespräche mit den Streikenden abgelehnt hat. Seither ist er keinen Deut von seiner Deallinie mit dem Privatinvestor abgewichen.

In den Mittelpunkt der Forderungen muss nicht nur die Bewahrung von öffentlichem Eigentum, sondern vor allem die Frage, wer kontrolliert es, gerückt werden. Dazu braucht es gewählte und jederzeit abrufbare Organe aus der Arbeiter:innenbewegung und eine Ausweitung von Kampfmaßnahmen, die sich nicht vom bürgerlichen Apparat und seinen Gerichten abschrecken lässt.

Diese Ausweitung muss sowohl räumlich wie auch thematisch angegangen werden. Die Streiks der Hafenarbeiter:innen im Sommer 2022 – auch an anderen Standorten – sind noch nicht vergessen. Hier liegt Potenzial, auf das die Aktivist:innen unter den HHLA-Beschäftigten zur Unterstützung und Verbreiterung der Kampffront zurückgreifen könnten. Ebenso notwendig ist das Andocken an verwandte Bereiche wie das Transport- und Verkehrswesen, das im Augenblick im angrenzenden Niedersachsen sich in Streikbewegung befindet.

Ferner bedarf es eines rationalen Seeverkehrskonzepts, das anstelle der selbst im nationalen Rahmen zunehmenden unsinnigen Konkurrenz mit weitreichenden Folgen für Beschäftigte und Natur (Elbvertiefung) die Güterströme international und rational regelt. Dies kann nur unter Arbeiter:innenkontrolle aller europäischen und Überseehäfen und Hinzuziehen von Expert:innen, die das Vertrauen der Beschäftigten genießen, erfolgen. Dieser Plan richtet sich sowohl gegen privates Kapital in Gestalt der Logistikkonzerne und Reedereien wie staatliches, z. B. des Ausverkäufers Senat.




Pakistan: Nach Wahlbetrug drohen IWF-Knechtschaft und Instabilität

Minerwa Tahir und Shehzad Arshad, Infomail 1245, 19. Januar 2024

Die Wahlen in Pakistan am 8. Februar ergaben ein geteiltes Mandat. Trotz schwerer Repressionen vor der Wahl und Manipulationen am Wahltag gewannen „unabhängige“ Kandidat:innen, die von Imran Khans Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) unterstützt wurden, 92 der 266 direkt gewählten Sitze. Nawaz Sharifs Pakistan Muslim League – Nawaz (PML-N) erhielt trotz der Unterstützung durch das militärische Establishment nur 75 Sitze. Die Pakistanische Volkspartei (PPP) der Bhutto-Dynastie kam mit 54 Sitzen auf den dritten Platz.

Daneben werden den Parteien weitere Mandate aus den 70 für Frauen und religiöse Minderheiten reservierten Sitzen zugewiesen. Da diese Plätze unabhängigen Kandidat:innen nicht zur Verfügung stehen, haben sich Khans „Unabhängige“ mit der Majlis Wahdat-i-Muslimeen (MWM) zusammengeschlossen, einer religiösen Partei der schiitischen Sekte, die einen Sitz in der Nationalversammlung von Khyber Pakhtunkhwa gewonnen hat. Die von der PTI unterstützten Unabhängigen haben eine ähnliche Koalition mit der Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft) in der Provinzversammlung von Khyber Pakhtunkhwa vorgeschlagen, doch wurde dieses Angebot bisher nicht angenommen.

In anderen Provinzparlamenten wie im Punjab behielt die PML-N ihre Mehrheit, während die PPP in Sindh die Mehrheit bewahren konnte. Die PPP wird wahrscheinlich auch in Belutschistan ein Bündnis mit den nationalistischen Parteien eingehen. In Khyber Pakhtunkhwa dominierten die „Unabhängigen“.

Stimmen und Mandate

In der Zwischenzeit haben die PML-N und die PPP ihr eigenes Bündnis mit vier anderen Parteien geschlossen, nämlich der Muttahida Qaumi Movement – Pakistan (MQM-P; Vereinigte Volksbewegung), der Pakistan Muslim League – Quaid (PML-Q), der Istehkam Pakistan Party (IPP; Pakistanische Partei für Stabilität) und der Belutschistan Awami Party (BAP; Belutschische Volkspartei). Damit kommen sie auf 152 Sitze, was sie zusammen mit den reservierten Mandaten über die für eine Regierungsbildung erforderlichen 169 Stimmen bringt. In dieser Koalition fehlt Maulana Fazal-ur-Rehman von der Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl), JUI (F) (Versammlung Islamischer Kleriker [Fazl]). Er war Vorsitzender der Pakistanischen Demokratischen Bewegung (PDM), die 2020 als Bewegung gegen die angebliche Manipulation der Wahlen von 2018 gegründet wurde, die Imran Khan an die Macht brachten, und eine wichtige Kraft hinter Khans Sturz 2022. Die anderen Mitglieder der PDM haben sich der Regierungskoalition angeschlossen. Die JUI (F) fällt unter das parlamentarische Dach der Jamiat Ulema-e-Islam Pakistan, die nur vier Sitze in der Nationalversammlung erreichte. Die Partei hat die „manipulierten“ Ergebnisse zurückgewiesen.

Der PPP-Vorsitzende Asif Ali Zardari erklärte, dass seine Partei und die PML-N zwar getrennt zu den Wahlen angetreten seien, sich nun aber im „Interesse der Nation“ zusammengeschlossen hätten. Nawaz Sharifs Tochter Maryam Nawaz ist für das Amt der Ministerpräsidentin in der Pandschab-Provinz vorgesehen, während ihr Bruder Shehbaz Sharif als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten auserkoren wurde. Es gibt Andeutungen, dass Zardari Staatspräsident werden soll.

Die Wahlergebnisse zeigten auch eine massive Ablehnung der religiösen Parteien. Die JUI (F) verlor Sitze. Die klerikalfaschistische Tehreek Labbaik Pakistan (Bewegung „Hier bin ich!“ Pakistan) erhielt in keinem einzigen Wahlkreis mehr als fünf Prozent der Stimmen. Die Jamaat-e-Islami versuchte, in Städten wie Karatschi von der Antimanipulationskampagne der PTI zu profitieren, jedoch ohne Erfolg. Ihr Chef in Karatschi gewann zwar ein Mandat in der Provinzversammlung, gab es aber mit der Begründung wieder auf, dass in Wirklichkeit der von der PTI unterstützte Kandidat gewonnen habe. In Khyber Pakhtunkhwa hatte diese islamistische Partei drei Sitze errungen, doch kurz nachdem Nachrichten über eine Regierungskoalition mit der PTI in der Provinz aufgetaucht waren, führte eine Neuauszählung dazu, dass die Kandidat:innen der Partei ihre Sitze an Unabhängige verloren.

„Gestohlenes Mandat“

Das harte Vorgehen gegen die PTI vor den Wahlen war so heftig, dass man davon ausging, dass die PML-N bei den Wahlen einen klaren Sieg davontragen würde. Khan und andere führende Politiker:innen wurden disqualifiziert, nach Verurteilungen ins Gefängnis gesteckt und/oder von der Kandidatur ausgeschlossen. Einige Parteiführer:innen liefen über. Die PTI wurde ihres Wahlsymbols beraubt und ihre Bewerber:innen mussten als Unabhängige antreten und durften keinen Wahlkampf führen. Das Internet wurde am Tag der Wahl abgeschaltet.

Doch trotz dieser weit verbreiteten Repression konnten die von der PTI unterstützten Kandidat:innen am Wahltag Siege verbuchen. Die Ergebnisse der Wahllokale werden förmlich auf dem „Formular 45“ festgehalten, das die Grundlage für die spätere Zusammenstellung der Ergebnisse in den Wahlkreisen bildet. Es wird nicht nur vom Vorsitzenden des Wahllokals unterzeichnet, sondern auch von Vertretungen der anwesenden Kandidat:innen, die als Zeug:innen des Vorgangs fungieren. Die Wahllokale sind gesetzlich verpflichtet, Kopien des Formulars öffentlich auszuhängen, um die Rechenschaftspflicht und Transparenz der Wahlen zu gewährleisten. Die Formulare werden dann dem/r Leiter:in des Wahlkreises vorgelegt, der/die die Ergebnisse aller Wahllokale zusammenzählt, die Endergebnisse zusammenstellt und diese auf dem „Formular 47“ vermerkt. Die beiden Formulare standen im Mittelpunkt der Kontroverse um die Wahlergebnisse in Pakistan.

Laut den Formularen 45 erklärte die PTI 170 Sitze als gewonnen. Auf den Formblättern 47 wurden jedoch nur 93 Sitze für die von der PTI unterstützten Unabhängigen ausgewiesen. Die Partei hat die Ergebnisse gerichtlich angefochten und behauptet, dass die auf den Formblättern 47 ausgewiesenen Ergebnisse erheblich von den Angaben auf den Formblättern 45 abweichen. In anderen Fällen berichteten die Kandidat:innen, dass ihren Wahlhelfer:innen das Formular 45 von den Wahlleiter:innen verweigert wurde, obwohl mehrere Stunden nach Wahlschluss vergangen waren. Die PTI behauptet, dies sei geschehen, um die Wahlergebnisse zu manipulieren.

Inoffizielle Wahlergebnisse, die von den Medien auf Grundlage der Formulare 45 und 47 gemeldet wurden, zeigten eine Reihe von Siegen für die PTI. Die Medien wurden jedoch an der Ausstrahlung der Wahlergebnisse gehindert, die sich um Stunden verzögerte. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse bekanntgegeben, die einen Sieg der PML-N, der PPP und der MQM in vielen Sitzen zeigten, die die PTI nach den Formblättern 45 und 47 gewonnen hatte.

Bei Bekanntgabe der vorläufigen Wahlresultate lag Nawaz Sharif, der ursprünglich als Kandidat für das Amt des Premierministers vorgesehen war, mit einem Abstand von 13.000 Stimmen hinter der von der PTI unterstützten Yasmin Rashid. Nach 12 Stunden wurden die Ergebnisse zugunsten von Nawaz Sharif bekannt gegeben.

Die Massen haben gesprochen

Die Wahlbeteiligung hat überdeutlich gezeigt, dass die Massen das harte Vorgehen gegen die PTI ablehnen. So sehr der Staat mit Verurteilungen, Inhaftierungen und Verleumdungen auch zeigen wollte, dass die Ära der PTI vorbei ist, die Wähler:innen machten sie dennoch zur größten Partei, was die Zahl der Sitze angeht.

Die PTI hat behauptet, sie habe vor der Manipulation der Ergebnisse 170 Sitze errungen. Selbst wenn man Übertreibungen zulässt, ist es ziemlich offensichtlich, dass die Ergebnisse in mindestens 10 Bezirken in Karatschi und rund 30 Sitzen in der Provinz Punjab und anderen Gebieten zugunsten der PML-N und PPP verändert wurden.

Die hohe Wahlbeteiligung war nicht nur Ausdruck der Wut über Wahlmanipulationen, sondern auch über die steigenden Lebenshaltungskosten und das unerträgliche Elend, das der Internationale Währungsfonds (IWF) auferlegt hat. Die PTI ist keine Anti-IWF-Partei, vielmehr hat Khan das jüngste Hilfspaket eingebracht. Dadurch verlor er zwar an Unterstützung, doch nachdem er sich mit dem militärischen Establishment überworfen hatte, lehnte er einige der IWF-Bedingungen ab, die dann von der nachfolgenden geschäftsführenden Regierung umgesetzt wurden, so dass die PTI als Gegnerin des IWF auftreten konnte. Das harte Vorgehen des militärischen Establishments gegen die PTI stärkte dann ihren Status als wichtigste Oppositionspartei.

Eine neoliberale Regierung

Die PTI hat die Wahlergebnisse rechtlich angefochten. Das Ergebnis bleibt abzuwarten, aber es ist offensichtlich, dass den pakistanischen Massen im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik der kommenden Regierung dunkle Zeiten bevorstehen.

Abgesehen von den Lippenbekenntnissen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Entwicklung ist die PML-N eine Partei des Großkapitals und eine Sklavin ihrer Herr:innen in den USA, China und den Golfstaaten. Die Auflagen des IWF-Programms werden nur noch strenger werden. Sobald eine neue Regierung an der Macht ist, wird sie das Diktat des IWF umsetzen müssen. Angesichts der Opposition der PTI ist es unwahrscheinlich, dass die nächste Regierung stark sein wird. Gleichzeitig wird die Regierung auch die wirtschaftliche Agenda des militärischen Establishments durchsetzen müssen. Obwohl die PPP in einer Koalition sitzt, wird sie die Unzufriedenheit, mit der die neue Regierung wahrscheinlich schon bald konfrontiert sein wird, mit Sicherheit ausnutzen, weshalb sie sich als volksnahe Alternative präsentiert. Die vermeintliche Ablehnung der IWF-Bedingungen durch die PTI wird ihre Unterstützung in der Bevölkerung wahrscheinlich noch verstärken, auch wenn dies ein Irrtum sein mag.

Unterdessen ist der erwartete massive Sieg von Nawaz Sharif nicht eingetreten. Meinungsumfragen hatten darauf hingedeutet, dass die PML-N in ihrer Hochburg Punjab immer noch vor der PTI liegen würde. Er war so zuversichtlich, dass er nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale eine Siegesrede hielt. Diese Träume zerschlugen sich, als die Ergebnisse bekanntgegeben wurden. Seine Partei konnte kaum die Hälfte der Sitze im Punjab gewinnen, und fast alle übrigen gingen an die von der PTI unterstützten „Unabhängigen“ verloren. Die Niederlage kann mit Sicherheit auf die jahrzehntelange Korruption der Partei zurückgeführt werden. An der Regierung konzentrierte sich Shehbaz Sharif darauf, die Anklagen gegen seinen Bruder fallen zu lassen und gleichzeitig die Politik des IWF durchzusetzen. Die massive Inflation und die weit verbreitete Arbeitslosigkeit haben die Basis der Partei erschüttert.

Heute ist sich Sharif wahrscheinlich bewusst, dass, selbst wenn seine Partei vorerst die Regierung bilden mag, das geteilte Mandat immer Raum für ein Manöver gegen ihn lässt, sobald er in der Gunst des Militärs zurückfällt. Die Kombination aus der Tatsache, dass die PTI eine wichtige Partei des Großkapitals ist, und Khans narzisstischer Persönlichkeit wird dazu führen, dass die PTI-Führung immer bereit sein wird, ihre Wähler:innenschaft zu verraten, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Kurzum, es ist sicher, dass eine schwache und instabile Regierung einer frustrierten Opposition gegenüberstehen wird.

Kandidat:innen der Arbeiter:innenklasse

Die meisten Stimmen bei der Wahl waren entweder für oder gegen Khan. Diese Polarisierung ließ wenig Raum für Vertreter:innen der Arbeiterklasse. Abgesehen von einem Kandidaten der kommunistischen Mazdoor Kissan Party (Kommunistische Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei), der in Charsadda, Khyber Pakhtunkhwa, 10.000 Stimmen erhielt, konnte keiner der anderen Bewerber:innen linker Parteien und Organisationen die 1.500-Stimmen-Marke deutlich überschreiten.

Linke Kandidat:innen wie Ammar Ali Jan von der Haqooq-e-Khalq-Partei (HKP) erklärten, dass ihre Wahlniederlage unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass die Menschen über nationale Themen und damit für Parteien mit nationaler Präsenz abgestimmt hätten. Er schrieb, dass wir den Klassenkampf verschärfen und die Themen, mit denen die Massen konfrontiert sind, im nächsten Fünfjahreszeitraum in den nationalen Mainstream einbringen müssen.

Der Weg nach vorn

Auch wenn Ammar Ali Jan damit recht hat, möchten wir hinzufügen, dass dies einen zweigleisigen Ansatz erfordert. Erstens, der Aufbau einer Einheitsfront der Arbeiter:innen und Unterdrückten, um die Angriffe des IWF und seiner unterwürfigen Regierung zu bekämpfen. Zweitens, der Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms.

Erstgenanntes wird der Linken in Pakistan helfen, eine ernstzunehmende Kraft zu werden. Keine der kleinen, isolierten Gruppen mit Hunderten von Mitgliedern kann allein eine wirksame Verteidigung auf die Beine stellen. Wir müssen uns für ein gemeinsames Vorgehen gegen den IWF zusammenschließen. Wir rufen alle Gewerkschaften und Arbeiter:innen- sowie feministische und fortschrittliche Organisationen auf, sich an einer solchen antikapitalistischen, gegen den IWF gerichteten Einheitsfront zu beteiligen.

Das Zweite, die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenpartei, ist entscheidend für die Gewährleistung selbst aller grundlegenden demokratischen Forderungen. Wie die Erfahrung dieses und aller vergangenen sozialen Kämpfe gezeigt hat, werden die Grenzen der bürgerlichen Demokratie in dem Moment deutlich, in dem der Kampf beginnt, eine echte Dynamik zu entwickeln. Wir brauchen eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die nicht nur für grundlegende demokratische und wirtschaftliche Rechte kämpfen kann, sondern auch in der Lage ist, einen Kampf zum Aufbau von Arbeiter:innenorganisationen zu führen, die diese Rechte tatsächlich garantieren können. Das ist die Lehre, die wir aus den arabischen Revolutionen oder dem jüngsten Aufstand im Iran ziehen müssen. Ohne Organisationen wie demokratische Gewerkschaften, Arbeiter:innenräte und die Mittel, sie zu verteidigen, ist die Gefahr groß, dass durch den Kampf errungene Rechte verlorengehen. Jedes Eintreten für Demokratie oder soziale Fragen muss mit dem Bestreben für den Aufbau von Organisationen und Strukturen verbunden sein, die die Macht übernehmen und halten können. Dafür brauchen wir eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die eine solche Revolution anführen und eine auf diesen Strukturen basierende Arbeiter:innenregierung bilden kann, um den bestehenden kapitalistischen Staat zu ersetzen, das Kapital zu enteignen, eine Sofortprogramm im Interesse der Arbeiter:innen und Bäuer:innen umzusetzen und die Wirtschaft auf der Grundlage demokratischer Planung zu reorganisieren.




Arbeiter:innen müssen handeln, um Massaker in Rafah zu verhindern

Dave Stockton, Infomail 1245, 16. Februar 2024

Israel steht kurz davor, Rafah anzugreifen, eine Stadt an der ägyptischen Grenze, die zur letzten Zuflucht für mehr als eine Million Palästinenser:innen geworden ist, die aus dem nördlichen und zentralen Gazastreifen vertrieben wurden.

Obwohl Rafah zur „sicheren Zone“ erklärt wurde, werden Schulen, Krankenhäuser und Flüchtlingslager der Stadt seit Beginn des Krieges aus der Luft bombardiert. UN-Generalsekretär António Guterres beschrieb die Bedingungen, unter denen die Menschen in überfüllten Behelfsunterkünften, unter unhygienischen Bedingungen, ohne fließendes Wasser, Strom und angemessene Lebensmittelversorgung leben.

Westlicher Imperialismus

Krankheiten töten Kinder und Erwachsene, die durch die monatelange Hungersnot geschwächt sind, da Israel die Einfuhr von Lebensmitteln und Medikamenten in das Gebiet fast vollständig blockiert. Unter diesen Bedingungen haben die Vereinigten Staaten und neun weitere Länder, darunter das Vereinigte Königreich, einseitig die Finanzierung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA eingestellt.

Nach dem wahllosen Abschlachten von rund 30.000 Zivilist:innen hat Präsident Joe Biden mit reichlicher Verspätung eingeräumt, dass „eine Menge unschuldiger Menschen verhungern … und das muss aufhören“. Natürlich könnten die USA Israels Krieg jederzeit stoppen, wenn sie wollten. Dennoch liefern sie weiterhin Israels an Kriegsmaschinerie und nutzen ihr Vetorecht, um es in der UNO zu schützen.

In „normalen“ Jahren stellt Washington Israel rund 3,8 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe zur Verfügung, die direkt in die Bewaffnung der IDF-Besatzungstruppen fließen. Das israelische Fernsehen hat Aufnahmen ausgestrahlt, in denen die verheerenden Auswirkungen der von den USA gelieferten Bunkerbomben auf zivile Hochhäuser gezeigt wurden.

Da die USA nicht die Absicht haben, ihren Kampfhund an die Kandare zu nehmen, überrascht es nicht, dass Biden in Rafah zur „Zurückhaltung“ aufruft, ohne dass dies geschieht. Am 7. Februar erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, es gebe „keine andere Lösung als einen vollständigen und endgültigen Sieg“, und fügte hinzu, er habe den Truppen befohlen, sich in Rafah „auf den Einsatz vorzubereiten“.

Noch bedrohlicher ist, dass er Pläne für die „Evakuierung“ der Zivilbevölkerung bekanntgab. Netanjahu zufolge ist der „totale Sieg“ über die Hamas nur noch wenige Monate entfernt. US-Militärquellen, die in der New York Times zitiert werden, gehen jedoch davon aus, dass Israel nur ein Drittel der Hamas-Kämpfer:innen getötet hat und die Kämpfe im gesamten Streifen weitergehen.

Die Zionist:innen wissen, dass sie die Hamas oder die anderen militärischen Widerstandsorganisationen nicht „liquidieren“ können, ohne die Zivilbevölkerung zu liquidieren, deren Unterdrückung für einen unerschöpflichen Nachschub an neuen Rekrut:innen sorgt.

Ethnische Säuberung

Es ist diese einfache Wahrheit, die die gesamte Dynamik des israelischen Krieges in Gaza in eine Kampagne der ethnischen Säuberung, eine zweite Nakba, führt. Tatsächlich wurde dieses Ergebnis von israelischen Minister:innen, die zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch israelische Siedler:innen aufgerufen haben, offen propagiert. Netanjahu selbst, dessen Regierung auf der Unterstützung dieser Extremist:innen beruht, hat erklärt, dass die Sicherheit im Gazastreifen in den Händen der IDF verbleiben müsse – also eine Rückkehr zur militärischen Besatzung.

Weltweit haben Massendemonstrationen, wie sie seit denen gegen die Invasion im Irak 2003 nicht mehr stattgefunden haben, Israels Verbündete, allen voran die USA, Großbritannien und Deutschland, zweifellos dazu gezwungen, ihre bedingungslose Unterstützung für den Krieg des Landes verbal zu drosseln.

Doch während Israels Verbündete aus Angst, ein Massaker in Rafah könnte das Pulverfass Nahost zum Explodieren bringen, zur „Zurückhaltung“ mahnen, weigern sie sich, einfache Maßnahmen zu ergreifen, die den Krieg über Nacht beenden könnten: Aussetzung aller militärischen und finanziellen Hilfen, Verhängung von Sanktionen und Durchsetzung wiederholter UN-Resolutionen.

Anstatt Israels rachsüchtige Kampagne der ethnischen Säuberung zu verurteilen, greifen sie die wachsende Solidaritätsbewegung an. Gesetzliche Verbote der BDS-Kampagne werden im Eiltempo durch die Parlamente gebracht, und unbegründete Anschuldigungen des Antisemitismus werden von den Medien der Bosse in einer Hexenjagd eingesetzt, um Kritiker:innen Israels zum Schweigen zu bringen.

Doch das Schicksal der Palästinenser:innen muss und darf nicht in die Hände ihrer Unterdrücker:innen gelegt werden. Mit einem Schlag könnte die ägyptische Arbeiter:innenklasse den Suezkanal schließen und die gesamte imperialistische Wirtschaft über Nacht hart treffen. Ebenso könnten die organisierten Arbeiter:innenbewegungen in den USA, im Vereinigten Königreich und in Europa ihre eigenen Sanktionen gegen Israel verhängen: sich weigern, alle Waffen und Waren zu transportieren, die aus Israel stammen oder für es bestimmt sind. Investitionen, Forschung und kulturelle Zusammenarbeit mit dem zionistischen Staat sollten von vornherein abgelehnt werden, nach dem Grundsatz: Keine Zusammenarbeit mit der Besatzung!

Am 16. Oktober 2023 hat die palästinensische Gewerkschaftsbewegung einen solchen Aufruf an die weltweite Arbeiter:innenbewegung gerichtet. Es ist ein beschämendes Armutszeugnis für die reformistischen Gewerkschaftsführungen, dass sie, von einigen wenigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, keinen Finger krummgemacht haben. Viele haben sich sogar schwergetan, den Krieg unmissverständlich zu verurteilen.

Die Arbeiter:innenklasse in den Ländern, die Israel mit Waffen und diplomatischem Schutz versorgen, hat eine besondere Pflicht zu handeln. Dies ist nicht nur der Krieg Israels. Es ist ein kolonialer Krieg, der auch unter Beteiligung mehrerer westlicher imperialistischer Mächte geführt wird.

Der Sieg Israels in diesem Krieg stärkt die Position des westlichen Imperialismus und damit die Stärke, das Selbstvertrauen und die Kampfeslust unserer herrschenden Klassen. Deshalb ist der Kampf der Palästinenser:innen auch unser Kampf; deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, um für internationalistische Aktionen der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen, um den Krieg zu beenden und den Sturz der gesamten vom Imperialismus unterstützten Ordnung im Nahen Osten zu beschleunigen, beginnend mit der Zerschlagung des israelischen Staates, der Errichtung eines bi-nationalen demokratischen und sozialistischen Staates in ganz Palästina und durch eine sozialistische Revolution im Nahen Osten.