Kommunalwahlen  in der Türkei – Erdoğan wird abgestraft

Dilara Lorin, Infomail 1250, 5. April 2024

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Portugal: Rechtsruck bei Wahlen

Dara O’Cogaidhin, Infomail 1250, 4. April 2024

Die nicht eindeutigen Ergebnisse der portugiesischen Parlamentswahlen vom 10. März führten zu einem knappen Sieg der Mitte-Rechts-Koalition Demokratische Allianz (AD) über die Mitte-Links-Partei Sozialistische Partei (PS). Zum ersten Mal seit 40 Jahren erreichte der prozentuale Stimmenanteil des so genannten „centrão“ einen Tiefstand von 60 %. Da es keinen eindeutigen Sieger gab, war die rechtsextreme Chega („Genug“) die eigentliche Nutznießerin der Wahl, denn sie vervierfachte ihre Sitze von 12 Sitzen im 230 Sitze zählenden Parlament im Jahr 2022 auf heute 48. Sie ist nun die drittstärkste Partei im Parlament und hält faktisch das Gleichgewicht der Macht.

Der AD-Vorsitzende Luis Montenegro sagte, er werde an seinem Wahlversprechen festhalten, keine Regierungskoalition mit Chega zu bilden, obwohl deren Chef André Ventura erklärte, er sei bereit, einige seiner umstritteneren Maßnahmen wie die chemische Kastration von Sexualstraftätern und die Einführung lebenslanger Haftstrafen fallen zu lassen, wenn dies die Einbeziehung in ein mögliches Regierungsbündnis ermögliche. Die Aussicht auf eine große Koalition zwischen der AD und der PS wurde ausgeschlossen, obwohl die PS angedeutet hat, dass sie die Bildung einer Minderheitsregierung der AD ermöglichen würde, indem sie sich bei wichtigen Abstimmungen im Parlament der Stimme enthält, um Chega in Schach zu halten.

Bedeutende Gewinne für Chega

Das Ergebnis unterstreicht den politischen Rechtsruck in ganz Europa. Portugal, das erst nach der Nelkenrevolution vor 50 Jahren zur Demokratie zurückkehrte, galt als immun gegen den Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem gesamten Kontinent. Die Chega, die vor fünf Jahren gegründet wurde, trat mit einem Antiestablishmentprogramm an und versprach, mit der Korruption aufzuräumen. Ihre Kampagne enthielt auch einwanderungsfeindliche und Anti-LGBTQ+-Rhetorik, wobei Ventura eine Wehmut für die als Estado Novo bekannte Diktatur und deren Verteidigung traditioneller katholischer Werte zum Ausdruck brachte. Ventura ist ein ehemaliger Priesteranwärter, der sich als Fußballkommentator im Fernsehen einen Namen gemacht hat.

Die Korruption wird von vielen als typisch für die beiden großen Parteien in Westeuropas ärmstem Land angesehen. Die Chega, deren wichtigster Wahlkampfslogan „Portugal säubern“ lautete, konnte aus einer öffentlichkeitswirksamen Korruptionsuntersuchung im Zusammenhang mit staatlich beauftragten Energieprojekten Kapital schlagen, die im vergangenen Jahr zum Rücktritt des PS-Ministerpräsidenten Antonio führte.

Trotz eines Haushaltsüberschusses und jährlicher Wachstumsraten von über 2 % hat die PS-Regierung eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter:innen zugelassen. Aufgrund der hohen Mietpreise herrscht eine Wohnungskrise, und Lissabon ist eine der teuersten Städte Europas, was die Miete angeht. Der durchschnittliche Monatslohn vor Steuern liegt bei etwa 1.500 Euro, was kaum ausreicht, um eine Einzimmerwohnung in der Hauptstadt zu mieten. Die PS-Regierung sah sich im vergangenen Jahr auch mit einer Streikwelle für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen konfrontiert.

Rückschläge für die Linke

Neben der PS waren die größten Verlierer:innen der Wahlnacht der Linksblock (Bloco Ezquierda, BE) und die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP). Der BE konnte die 5 Parlamentssitze, die er 2022 gewonnen hatte, halten, vermochte jedoch nicht von der Desillusionierung der Arbeiter:innenklasse in die PS zu profitieren und erhielt den schlechtesten Stimmenanteil seit 20 Jahren. Im Jahr 2015 gewann der BE 18 Parlamentssitze und unterstützte zusammen mit der PCP, die 17 Sitze gewann, eine Minderheitsregierung der PS in einem Pakt, der als geringonça („improvisierte Lösung“) bekannt wurde.

Die Unterstützung der PS-Regierung war sowohl für den BE als auch für die PCP eine Katastrophe. Statt  sich von den Intrigen der Regierung, die ihre Aktivist:innenkapazitäten absorbierten, zu befreien, weigerten sich sowohl der BE als auch die PCP, eine Führungsrolle zu übernehmen und die Kämpfe zu verallgemeinern, als es im Herbst 2021 zu einer Streikwelle kam. Sie unterstützten auch weiterhin die Regierung, als diese das Militär mobilisierte, um einen landesweiten LKW-Fahrer:innenstreik im Jahr 2019 zu brechen.

Indem sie einer wirtschaftsfreundlichen PS-Regierung eine linke Deckung boten, schufen sie den Raum für Chega, sich als „antisystemische“ Protestpartei zu präsentieren. Anstatt die PS für die akute Lebenshaltungskostenkrise verantwortlich zu machen, kritisierte die BE-Vorsitzende Mariana Mortágua stattdessen deren absolute Mehrheit und forderte die Parteien der Linken (einschließlich der PS) auf, vor den Wahlen im März „eine Mehrheitsvereinbarung für ein linkes Regierungsprogramm auszuhandeln“. Anstatt eine sozialistische Alternative zu präsentieren, nährte der BE die Illusion, dass eine fortschrittliche Linksregierung durch die PS möglich sei.

Der BE hat auch eine neuen politische Konkurrentin namens LIVRE („Frei“), eine Pro-EU-Partei mit grün-linker Ausrichtung. Ihr Vorsitzender Rui Tavares spaltete sich 2014 vom BE ab. Sie hat ihre Vertretung im Parlament von einem Sitz im Jahr 2022 auf heute vier Sitze erhöht. Anders als der BE und die PCP war sie nicht damit belastet, eine PS-Regierung zu stützen, und profitierte am meisten vom Zusammenbruch deren absoluter Mehrheit. LIVRE gewann auch ihre Sitze in den traditionellen Bastionen des BE, darunter Lissabon und Setúbal.

Der langsame Niedergang der PCP bei den Wahlen setzt sich fort. Die Zahl ihrer Sitze ging von 6 auf 4 zurück, was zum Teil auf die Überalterung ihrer Wähler:innenschaft zurückzuführen ist, die tief in den Kämpfen gegen die Diktatur verwurzelt ist. Ihr 76-jähriger langjähriger Vorsitzender, Jerónimo de Sousa, wurde wiederholt kritisiert, weil er sich weigerte, die imperialistische Invasion Russlands in der Ukraine zu verurteilen. Die PCP behält immer noch die Kontrolle über den größten portugiesischen Gewerkschaftsbund CGTP, der im vergangenen Jahr Teilstreiks organisierte, um gegen Sparmaßnahmen und die steigende Inflation zu protestieren, es aber versäumte, einen Generalstreik als nächsten Schritt in einem nachhaltigen Aktionsplan gegen die PS-Regierung zu organisieren.

Instabile Regierung: Widerstand aufbauen!

Im vergangenen Jahr kam es zu einer Eskalation des Klassenkampfes gegen die PS-Regierung. Das Fehlen einer koordinierten industriellen Offensive bedeutete jedoch, dass die PS-Regierung mit ihrer absoluten Mehrheit die Schläge auffangen konnte. Niedrige Löhne und hohe Lebenshaltungskosten, die im letzten Jahr durch einen Anstieg der Inflation und der Zinssätze noch verschlimmert wurden, bedeuten, dass eine konservative Minderheitsregierung der AD von Anfang an verwundbar sein wird. Sie muss nicht nur mit anderen Parteien verhandeln, um Gesetze von Fall zu Fall zu verabschieden, sondern es ist auch mit Neuwahlen zu rechnen, wenn die AD ihren Haushalt für 2025 nicht verabschieden kann.

Die Demonstrationen zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution sollten die Gelegenheit bieten, in jedem Betrieb Arbeiter:innenversammlungen zu organisieren, um den Kampf zu planen, die verschiedenen Sektoren zu vereinen und die rechte AD-Regierung zu stürzen. Auf der Grundlage ihrer reichen revolutionären Traditionen müssen die Arbeiter:innen und Jugendlichen eine kämpferische Partei aufbauen, die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist, um dem neoliberalen Angriff der AD zu widerstehen, bevor sie in der Lage sind, die Aufgaben zu erfüllen, die von der Revolution von 1974 – 1975 übrig geblieben sind.




Solidarität mit den Protesten gegen Tesla!

Jan Hektik, Infomail 1250, 3. April 2024

Der Wald in Grünheide ist besetzt und wird es wohl vorerst auch bleiben. Durch die Besetzung wollen Aktivist:innen den Ausbau der dort ansässigen Teslafabrik verhindern, um die Umwelt und die dort lebende Bevölkerung vor dem zerstörerischen Einfluss der „Gigafactory“ zu schützen. Die Kritik und Proteste gegen das Projekt kommen aus drei Richtungen. Sie beziehen sich auf den Schutz der Umwelt, der ansässigen Bevölkerung sowie der Arbeiter:Innen in der Fabrik. Zuletzt sabotierten sie hierfür einen Strommast, was zu Produktionsausfällen bei Tesla und einem verschärften Ton gegenüber den Aktivist:innen führte.

An dieser Stelle möchten wir einen Überblick über die Ausgangslage, die Protestformen gegen die Erweiterung der Teslafabrik sowie die Auswirkungen des Protestes geben, um anschließend eigene Schlussfolgerungen für den weiteren Kampf zu ziehen.

Warum ist die Tesla Fabrik so problematisch?

Doch bevor wir auf das Spezifische bei Tesla eingehen, zunächst einmal zum Grundproblem: E-Autos werden als umweltfreundliche Alternative zum Verbrennerauto dargestellt und vermarktet. Ignoriert wird dabei der immense Umweltschaden durch die Lithiumgewinnung, die Ineffizienz von Individualverkehr sowie die Frage der Stromerzeugung (CO2 aus dem Schornstein statt dem Auspuff). Zugleich gerät die eigentlich dringend notwendige Verkehrswende bei der Fokussierung auf die E-Mobilität aus dem Blick (Mehr dazu hier).

Bei Tesla kommt hinzu, dass der Ausbau der Fabrik die Rodung eines Waldes im Landschaftsschutzgebiet notwendig werden lässt. Es handelt sich hierbei um einen Mischwald, dessen Zerstörung erhebliche Auswirkungen auf das Ökosystem und die Umwelt haben könnte. Darüber hinaus befindet sich die Fabrik teilweise in einem Trinkwasserschutzgebiet. Nicht nur führt der enorm hohe Verbrauch der Fabrik schon jetzt zu Trinkwasserknappheit und zu Einschränkungen der Entnahme für die Bevölkerung. Auch die Qualität des Wassers leidet unter der umweltschädigenden Produktion angeblich „grüner“ Teslakarossen, was gesundheitsschädigende Folgen für die ansässige Bevölkerung mit sich bringen kann. Elon Musk hat all diese Probleme mit seinem ihm eigenen Charme bisher einfach abgetan – schließlich will er auch weiterhin Milliardengewinne einfahren. Umwelt- und Sicherheitsstandards stehen diesem Vorhaben nur im Weg.

Darüber hinaus gab es bereits etliche große „Pannen“ und Unfälle im Teslawerk Grünheide und einen besonders dreisten Umgang damit seitens der Firmenleitung, was dazu führte, dass auch Teile der bürgerlichen Presse sowie einige Sozialdemokrat:innen das Projekt kritisch betrachten. Bei einem Unfall im Jahr 2022 wurde Lack verschüttet, welcher vermutlich in die Kanalisation gelaufen ist. Darüber hinaus kam es im Werk auch schon zu mehreren Unfällen aufgrund der unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen. Dabei wurden Arbeiter:innen wiederholt verletzt.

Weiterhin attestiert der Wasserverband Strausberg-Erkner (WSE) seinem Vertragspartner Tesla wiederholte und andauernde Grenzwertüberschreitungen bezüglich der  Schadstoffe im Abwasser der Fabrik. Teilweise würden die Grenzwerte um das Fünffache überschritten. Trotz mehrfacher Abmahnungen sei keine Besserung in Sicht. Kein Wunder also, dass sich bei derartigen Problemen Widerstand gegen den weiteren Ausbau der Fabrik regt.

Widerstand

Protest gegen diese Verhältnisse kommt vor allem von drei Seiten: einer Bürger:innenitiative in Grünheide, der IG Metall sowie von ungefähr 90 Umweltaktivist:Innen, die den Wald besetzt haben, der gerodet werden soll.

Der Schutz des Trinkwassers steht dabei im Fokus der Besetzung und der Bürger:innenitiative der Gemeinde Grünheide, die sich in einer Abstimmung bei 76 % Wahlbeteiligung mit 57 % gegen eine Erweiterung ausgesprochen hat. Der darauffolgende Vorschlag der Gemeinde, angesichts des Ergebnisses gegebenenfalls nur den halben Wald zu roden, ist ein Hohn und ein Schlag ins Gesicht der Bürger:inneninitiative sowie der ansässigen Bevölkerung.

Auch die Situation der Arbeiter:innen bei Tesla ist kritikwürdig. Betriebsunfälle häufen sich und führen zu schweren Verletzungen bei der überwiegend aus dem Ausland (hauptsächlich Polen) stammenden Belegschaft. Gleichzeitig liegt die Bezahlung 15 – 20 Prozent unter dem Branchendurchschnitt und die Verträge beinhalten rechtlich umstrittene Knebelklauseln.

Die Situation bei Tesla entspricht somit einer Bilderbuchkritik des Marxismus am Kapitalismus: Auf Kosten von Natur, Anwohner:Innen und Arbeiter:Innen werden die Profite der Unternehmen mit staatlichen Mitteln geschützt und durchgesetzt.

Das Protestcamp

Um den Ausbau der Fabrik zu verhindern, haben Aktivist:innen ein Protestcamp im Wald nahe der Fabrik errichtet. Nachdem die Besetzer:Innen des Waldes zunächst Auflagen der Polizei erhalten hatten, welche die Erweiterung des Camps untersagte, den Abriss der Baumhäuser vorschrieb und das Camp bis zum 15.03.2024 begrenzte, wandten sich die Besetzer:innen mit einer Klage an das Verwaltungsgericht Potsdam. Offensichtlich haben sie aus den Erfahrungen der Waldbesetzungen im Hambi und Dani gelernt, da unter anderem ein Baugutachten von den Aktivist:innen beauftragt wurde. Das Gericht hat nun die Auflagen für unwirksam erklärt, sodass das Camp zunächst unbefristet bleiben darf. Wie weitere Instanzen ggf. entscheiden werden, bleibt abzuwarten. Wir erinnern uns, dass auch bei der Besetzung des Hambacher Forsts das Verwaltungsgericht Köln zunächst positiv für das Camp entschied und die Entscheidung dann später von höherer Instanz gekippt und die Räumung für rechtmäßig erklärt wurden. Gleichzeitig ist die öffentliche Unterstützung für das Camp, besonders in der Umgebung von Grünheide, sehr hoch. Der Ruf von Tesla ist hingegen sehr schlecht. Gute Bedingungen also, um die Besetzung möglichst lange aufrechtzuerhalten.

Auch von den Forderungen und politischen Aussagen her, die auf den Transparenten im Camp zu lesen sind, scheinen die Besetzer:innen die progressivste Kraft darzustellen. Wir lesen hier Solidaritätsbekundungen mit Palästina, Verbindungen internationaler Kämpfe wie bspw. in Chile gegen die Ausbeutung und Umweltzerstörung im Zusammenhang mit der dortigen Lithiumgewinnung sowie Kritik am Konzept des Individualverkehrs, wie wir sie oben ebenfalls dargelegt haben.

Zudem scheinen die Besetzer:Innen diejenigen zu sein, die sich am stärksten darum bemühen, die Proteste gegen die Gigafactory zu verbinden. Sie beziehen sich positiv auf die Bürger:innenitiative und haben ihre Besetzung kurz nach der Abstimmung gegen die geplante Erweiterung begonnen. Auch versuchen sie, Kontakte und Verbindungen zu den Arbeiter:innen bei Tesla herzustellen, was sich jedoch aufgrund der Knebelverträge und Drohungen von Kündigungen schwierig gestaltet.

Zudem haben sie es bei Tesla mit einem Betriebsrat zu tun, der fest an der Seite der Bosse steht und öffentlich für deren Interessen Stellung bezieht. So erklärte er sich nach den Anschlägen auf die Stromversorgung nicht nur solidarisch mit der Firmenleitung. Die Betriebsratsvorsitzende entblödete sich darüber hinaus auch nicht, die Teslageschäftsführung für ihre Ankündigung zu loben, die Löhne der Beschäftigten während des erzwungenen zweiwöchigen Stillstands weiter zu zahlen – also etwas umzusetzen, wozu Tesla ohnehin gesetzlich verpflichtet ist.

Der Brandanschlag und seine Folgen

Der Brandanschlag auf den Strommast, der zum Produktionsstillstand führte, wurde begangen, um die Teslaproduktion lahmzulegen. Allerdings kam es auch zu Stromausfällen in der umliegenden Wohngegend. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für die bürgerlichen Medien und Politiker:innen, um die Sabotage und Besetzung zu verurteilen und dadurch vom eigentlichen Skandal abzulenken – der umweltzerstörerischen und menschenfeindlichen Produktion ressourcenverschlingender Luxuskarossen gegen den Willen der dort lebenden Bevölkerung.

Anstatt daher die Verurteilung der Aktivist:innen zu fordern, sollten wir uns fragen, wo die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Körperverletzung aufgrund der Vergiftung des Trinkwassers bleiben? Oder die Schadensersatzansprüche gegen Tesla wegen der Trinkwasserknappheit? Oder die Ermittlungen wegen massenweisen Betrugs gegenüber den mit rechtswidrigen Knebelverträgen gebeutelten Arbeiter:innen?

Stattdessen haben sich Medien und Politiker:innen aber auf die Aktivist:innen eingeschossen. Wir aber stellen uns gegen jede Verfolgung und Verurteilung dieser Menschen. Zwar lehnen auch wir die Anschläge ab, da sie nur zur Isolation gegenüber den Massen und zur stärkeren Repression durch den Staat führen. Dennoch erklären wir uns solidarisch mit denjenigen, die in ihrer Verzweiflung angesichts der Lage zu solchen Mitteln der direkten Aktion greifen. Wir erklären uns auch solidarisch mit den Besetzer:innen, die ihrerseits betonen, dass der Anschlag auf den Strommast nicht aus ihren eigenen Reihen erfolgte.

Perspektive

Wir sind solidarisch mit allen Formen des Protestes gegen die Erweiterung des Werkes, ohne dabei vor taktischer Kritik zurückzuschrecken. Weniger klar ist die Sache bei der IG Metall, die bei den Betriebsratswahlen Ende März 2024 stärkste Kraft wurde. Ihre Kritik an Tesla beschränkt sich weitgehend auf die schlechten Arbeitsbedingungen. Trotz des Geredes von der Transformation der Wirtschaft wird von ihr die Sinnhaftigkeit der Produktion von E-Autos nicht grundsätzlich infrage gestellt.  Im Gegenteil: Auf der IG-Metall-Website wird der IG-Metall-Bezirksleiter  mit den Worten zitiert: „Die IG Metall ist die Gewerkschaft aller Beschäftigten in der Autoindustrie in Deutschland. Für uns ist völlig selbstverständlich, dass wir den Aufbau und auch den Ausbau des Werkes in Grünheide befürworten. Wir sind für ein Tesla in Grünheide, das den Beschäftigten die in der Branche üblichen guten Arbeitsbedingungen bietet.“

Es geht aber bei Tesla nicht nur um die Frage von längeren Taktzeiten und angemessenen Bandpausen, sondern darüber hinaus um Fragen von Trinkwassergefährdung, Umweltzerstörung und der Unvereinbarkeit von kapitalistischer Produktionsweise und nachhaltiger Entwicklung. Die Probleme, die Tesla durch die Produktion von Elektroautos verursacht, reichen weit über den Betrieb in Grünheide hinaus – im Gegensatz zu der beschränkten Perspektive der Gewerkschaftsfunktionär:innen, die nicht fähig sind, über den Tellerrand des einzelnen Betriebes hinauszublicken.

Gewerkschaften müssen handeln – im Interesse der gesamten Klasse!

Bei diesen grundlegenden Fragen dürfen sich die Gewerkschaften aber nicht einfach wegducken, in der Hoffnung, dass „die Politik“ schon die richtigen Entscheidungen auf überbetrieblicher Ebene treffen und für eine „grüne Transformation“ sorgen wird. Gerade sie wären in der Lage, hier für Verbesserungen zu kämpfen – und zwar auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, nicht nur im einzelnen Betrieb. Die Bürger:inneninitiative und die Besetzer:innen des Waldes jedenfalls scheinen für einen Schulterschluss mit den Gewerkschaften bereit zu sein. Das Bündnis „Wir fahren zusammen“ von FFF und ver.di ist trotz vieler Probleme ein positives Beispiel für diese Art von Allianz zwischen Gewerkschaften und Umweltbewegung.

Da die Führungen der Gewerkschaften aber nach wie vor eine sozialpartnerschaftliche Politik der Klassenkollaboration verfolgen und einen bornierten, einzelbetrieblichen Blick auf die Probleme an den Tag legen, ist es an uns Mitgliedern, innerhalb der Gewerkschaften dafür zu kämpfen, dass diesen Kräften aus der Umweltbewegung die Hand gereicht, ein Ausbau des Werks verhindert und ein gemeinsamer Kampf für eine Verkehrswende im Interesse der arbeitenden und konsumierenden Massen geführt wird.

Weiterhin muss die IG Metall nicht nur Kritik an den Verträgen und Arbeitsbedingungen üben, sondern auch effektiven Widerstand dagegen organisieren. Wo sind die Kundgebungen gegen die Arbeitsbedingungen, die Streiks gegen die vergleichsweise niedrigen Löhne? Wo bleibt die Klage vor dem Arbeitsgericht zur rechtlichen Überprüfung der Schweigeklauseln? Diese Fragen gilt es zu verbinden mit einer darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Perspektive.

Als GAM sind wir Teil der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), die versucht, über Gewerkschaftsgrenzen hinweg kämpferische Kolleg:innen zu vernetzen und einen gemeinsamen Kampf für demokratische und klassenkämpferische Gewerkschaften zu führen.

Wir fordern:

  • Solidarisierung der Gewerkschaften mit der Besetzung des Waldes und Unterstützung der Bürger:inneninitiative!
  • Schluss mit Knebelverträgen, Zeitarbeit und untertariflicher Bezahlung!
  • Stopp der Teslaerweiterung und erneute Überprüfung der umweltschädigenden Aspekte der bestehenden Produktion unter Einbeziehung von Expert:innen und unter Kontrolle der Gewerkschaften!
  • Produktionsstopp der Teslafabrik bis zur Klärung der obigen Frage bei vollständiger Lohnfortzahlung für die Beschäftigten!
  • Verstaatlichung der Automobilindustrie, Beschäftigungsgarantie, Weiterführung und Umstellung der Produktion in Richtung echter Wende des Massenverkehrs unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Für die Erarbeitung und Durchsetzung eines Umweltnotplanes durch die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!



Stoppt die Werksschließung von MAHLE Behr Korea!

Gastbeitrag von Peter Vlatten, ursprünglich veröffentlicht auf Forum Gewerkschaftliche Linke Berlin, Infomail 1250, 2. April 2024

  • Stoppt die Werksschließung von MAHLE Behr Korea!

  • Sichert die Existenzrechte der koreanischen Arbeitsnehmer:innen!

  • Wir lassen uns nicht spalten. Nur wenn wir gemeinsam jeden Standort verteidigen, sind wir stark!

In den letzten Jahrzehnten ist Korea zu einem Anziehungspunkt für ausländische Investoren geworden. Es können und konnten ordentlich Profite gemacht werden. Ändern sich die Voraussetzungen dafür, können die Kapitaleigner nach Belieben schalten und walten. Ihr Kapital einseitig und unverantwortlich abziehen. Fakriken verkaufen, stilllegen oder verlagern. Zulasten der Belegschaften und betroffenen Regionen. Regulierungen, die ernsthaft in das Eigentumsrecht eingreifen und Unternehmer in die Pflicht nehmen, gibt es so gut wie nicht in Ländern wie Südkorea oder Deutschland. Die Kolleg:innen bei MAHLE Behr Korea müssen das gerade bitter erfahren.

Historie und Standorte

MAHLE Behr, ein deutsches Unternehmen mit Hauptsitz in Stuttgart, wurde im Jahr 1920 gegründet. Weltweit beschäftigt das Unternehmen über 71.947 Mitarbeiter und betreibt 152 Produktionsstandorte. Zu diesen Standorten zählt auch die Produktionsstätte in Busan, Südkorea, die im Jahr 2007 errichtet wurde. Die Busaner Produktionsstätte ist spezialisiert auf die Herstellung von Autoteilen und beschäftigt 160 Mitarbeiter. Zu den Hauptlieferanten gehören Hyundai-Kia Motors, Honda, Nissan, Mitsubishi-Hyundai und Kia-Nissan.

Ankündigung der Schließung

Am 7. Dezember 2023 wurde die Gewerkschaft “Korean Metal Workers Union” über die Entscheidung des Vorstands von MAHLE Behr informiert, dass das koreanische Werk des Unternehmens bis September 2025 geschlossen werden soll, da der Umsatz zurückginge und weitere Investitionen in das koreanische Werk aufgrund des geringen Investitionswerts nicht sinnvoll seien. Diese einseitig von MAHLE Behr Deutschland getroffene Entscheidung, das koreanische Werk zu schließen, raubt 160 koreanischen Arbeitnehmer:innen und ihren Familien ihre Existenzgrundlage. Im Vorfeld gab es keine Kommunikation und Konsultation mit den koreanischen Beschäftigten, auch nicht mit der koreanischen Unternehmensleitung. Es handelt sich um eine einseitige und gewaltsame Entscheidung von MAHLE Behr Deutschland gegen die Interessen der Arbeiter:innen.

Langfristiges Monopoly auf dem Rücken der Beschäftigten

Es gibt Indizien, dass die Stilllegung von langer Hand geplant war. Das Unternehmen hat den koreanischen Markt nicht aufgegeben, sondern verlagert lediglich seine Produktionsstätten und “schöpft Volumen ab”. MAHLE Behr Deutschland als wirtschaftlicher Eigentümer und Mehrheitsaktionär hat es versäumt, einen nachhaltigen mittel- und langfristigen Entwicklungsplan für das koreanische Werk vorzuschlagen und aktiv in das Werk zu investieren. Gleichzeitig gab es verschiedene Maßnahmen zu Einsparungen und frühzeitigem Belegschaftsabbau. Welche unternehmensstrategischen Pläne dahinterstecken, hält Mahle Behr bewusst intransparent. Vermeintlich gegenläufig hatte der Vizepräsident der Asien-Pazifik-Region Bentele eine Beschäftigungsgarantie ausgesprochen und eine Verpflichtungserklärung zur Unterstützung und Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung des Koreawerkes abgegeben. Das kommt den Kolleg:innen nun wie ein großes Täuschungsmanöver vor. Die Entscheidungen der Unternehmenszentrale setzen sich über alle Vereinbarungen und Versprechungen selbstherrlich hinweg. 2023 fand plötzlich der Verkauf des Thermostatgeschäfts statt. Dann erfolgte letzten Dezember die Ankündigung der Schließung mit den Massenentlassungen.

Die Belegschaft in Busan und ihre Gewerkschaft sind nicht bereit, dieses Vorgehen hinzunehmen. Sie haben protestiert, demonstriert und Verhandlungen mit der Firmenleitung durchgesetzt.

Wir wenden uns an die Kolleginnen und Kollegen in Deutschland: Nur wenn wir gemeinsam jeden Standort verteidigen, bleiben wir stark! Wenn wir uns gegenseitig ausspielen lassen, hat die Unternehmenszentrale leichtes Spiel. Das Unternehmen agiert international, das müssen wir auch.

Wir fordern:

  • Nein zur Schließung des Werkes Busan!

  • Verbot der Verlagerung von Produkten und Produktionsmitteln ohne Zustimmung der Gewerkschaft.

  • Nur wenn wir gemeinsam jeden Standort verteidigen, sind wir stark!

Protestkundgebung am Freitag, 5.4.2024 um 11:30 Uhr, Vor der MAHLE Hauptverwaltung Pragstraße 26-46, 70376 Stuttgart




Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




Entstehung und Charakter des Staates Israel

Teil 4 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 7, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1249, 23. März 2024

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: „Wie ist der israelische Staat entstanden und wie lässt er sich charakterisieren?“

Schon in unserer vergangenen Folge haben wir uns mit dem Zionismus und somit auch mit Israel befasst. Bevor wir uns in der kommenden Folge unserem Aktionsprogramm für den palästinensischen Befreiungskampf zuwenden, möchten wir heute noch mal genauer auf die Entstehungsgeschichte und den Charakter des Staates Israel eingehen.

Die Entstehung Israels lässt sich einordnen in die Periode der sogenannten „Dekolonialisierung“ nach dem Zweiten Weltkrieg – also der Ablösung der direkten Kolonialherrschaft durch indirekte postkoloniale Systeme, in welchen imperialistische Mächte noch immer durch politische und wirtschaftliche Mittel die halbkoloniale Welt in ihrer Knechtschaft halten. In unserer Folge zur Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus haben wir dabei eine historische Skizze zu den Auseinandersetzungen zwischen dem Assimilationsansatz, der marxistischen und der zionistischen Perspektive zum Kampf gegen die Unterdrückung von Jüdinnen und Juden präsentiert, die vor allem das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert prägten.

Existenzrecht des jüdischen Volkes

Ohne selbst eine imperialistische Macht darzustellen, fungiert Israel seit seiner Gründung im Mai 1948 als kapitalistisch organisierter Staat in dieser Entwicklung als willkommener „engster Verbündeter“ für westliche Imperialismen, um durch ihn Kontrolle über den Nahen Osten auszuüben und sich den Zugang zu wertvollen Rohstoffen zu sichern.  In diesem Sinne lässt sich Israel in seiner Entstehung als „letzte Siedler:innenkolonie des Westens“ bezeichnen, welche ohne die massive militärische und wirtschaftliche Unterstützung, insbesondere der USA, nicht überlebensfähig wäre. Der enorme Kapitalimport erlaubte in den 1950er und 1960er Jahren satte Gewinne, ohne zugleich wesentliche Teile der israelischen Arbeiter:innenklasse in die Überausbeutung zu drängen oder in besonderem Maße besteuern zu müssen, wie es in Halbkolonien meist der Fall ist. Viel eher stieg der Lebensstandard der jüdischen Bevölkerung parallel zur Akkumulation. Nichtsdestoweniger ist Israel kein imperialistischer Staat. Dafür ist er nicht einerseits ökonomisch zu schwach und andererseits kein unabhängiger Akteur, der der Welt seinen Stempel aufdrücken kann. Außerhalb des arabischen Raums spielt er im Weltgeschehen allenfalls eine Nebenrolle. Er ist vielmehr selbst eine besondere Halbkolonie insbesondere der USA und in gewissem Maß der EU geworden, der aus sich heraus einen fortgesetzten Neokolonialismus betreibt, ein besonderer imperialistischer Statthalter oder auch Brückenkopf. Über die vergangenen Jahrzehnte gibt es kein Land auf dieser Welt, das so umfassende Militärhilfe von den USA erhalten hat. Auch Deutschland hat beispielsweise seit dem 7. Oktober seine Waffenlieferungen an Israel verzehnfacht.

Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina sowie immer wiederkehrende Unruhen in der Region, die selbst ein Ergebnis der neokolonialen Abhängigkeit, Unterdrückung und imperialistischer Kriege sind, liefern der ständigen Präsenz der USA in der Region dabei den Vorwand.

Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung des israelischen Staates war, wie wir bereits in unserer vergangenen Folge thematisiert haben, der Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung welcher in die Schoa mündete. Ohne diesen tragischen Massenmord hätte der zionistische Ansatz, als scheinbare Alternativlosigkeit, niemals einen so großen Zuspruch unter Juden und Jüdinnen erreichen können. Jedoch, und das stellten wir in unserer ersten Folge heraus, eine Perspektive, die den Antisemitismus als überhistorisch gegeben akzeptiert und damit die Unterdrückung anderer rechtfertigt. Seit mehr als 70 Jahren hat sich auf dem Gebiet Palästinas eine israelische Nation herausgebildet, die ein uneingeschränktes Existenzrecht auf eben dieses beansprucht. Dieses Existenzrecht muss der dort lebenden jüdischen Bevölkerung uneingeschränkt zugestanden werden. Alles andere wäre äußerst reaktionär und entspräche auch nicht der Vorstellung, die wir von einer sozialistischen und säkularen Ein-Staaten-Lösung haben. Die Anerkennung der Existenz einer jüdischen Nation auf dem Territorium des historischen Palästina darf aber nicht verwechselt werden mit der Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel, welchen wir als rassistisches Projekt ablehnen. Dafür führen wir die kurze Definition des Verhältnisses von Nation und Staat aus der ersten Folge unserer Podcastreihe zum Antisemitismus an:

Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Nakba und Besatzungsregime

Nach wie vor sind es aber wesentliche Elemente, die Israel als zionistisches Projekt und unterdrückerisches Kolonialregime ausmachen und starke Tendenzen bis hin zum Völkermord an den Palästinenser:innen in sich tragen. Eines dieser Elemente ist das israelische Besatzungsregime, welches auf Grundlage der ethnischen Säuberung und der Vertreibung von 750.000 Palästinenser:innen errichtet wurde. Dies geschah entgegen der ursprünglich im UNO-Teilungsplan vorgesehenen gemeinsamen Verwaltung. Die arabische Bevölkerung hatte lediglich die Wahl, sich zu unterwerfen oder zu fliehen. Von ihr wird diese historische Tragödie als Nakba bezeichnet, was das arabische Wort für Katastrophe ist – ein Krieg von 1947 bis 1949. In der Nakba wurden 1948 78 % Palästinas erobert. Durch zionistische Milizen und die Armee wurden mindestens 750.000 Palästinenser:innen vertrieben, viele weitere flohen. Die Anzahl der arabischen Bevölkerung im von Israel beanspruchten Gebiet verringerte sich von etwa 1.324.000 1947 auf etwa 156.000 ein Jahr später. Der größte Teil der Menschen mit palästinensischer Herkunft lebt heute außerhalb der Gebiete Palästinas. So wird beispielsweise vermutet, dass etwa 60 bis 70 % der Jordanier:innen (insgesamt 4,5 Millionen) aus Palästina kommen oder palästinensische Vorfahren haben. Das UNRWA geht heute von etwa 5 Millionen palästinensischen Geflüchteten aus. Rund 1,5 Millionen von ihnen leben in den 58 Camps im Westjordanland, Gaza, aber auch Jordanien, Syrien und dem Libanon.

Bis heute ist es den palästinensischen Bürger:innen Israels verboten, der Nakba zu gedenken. Der Schrecken endete damals jedoch noch lange nicht: Im 6-Tage-Krieg 1967 schloss Israel die Besetzung aller verbliebenen palästinensischen Gebiete ab, indem die IDF das gesamte Westjordanland und Gaza einnahm und weitere 300.000 Menschen vertrieben wurden. Seitdem sind die Palästinensischen Autonomiegebiete unter eine de facto Kolonialverwaltung gesetzt worden. Dies widerspricht eindeutig der UNO-Resolution 242, welche seit 1967 das Ende der israelischen Kontrolle über die besetzten Gebiete verlangt.

Wie wir in unserer Folge zur historisch-materialistischen Perspektive über die Entstehung und den Charakter von Antisemitismus und Antijudaismus deutlich machten, beginnt die Geschichte nicht mit der Nakba, sondern bereits mit einem ungleichen Verständnis des Nationalstaatsbegriffs und seines Charakters zwischen der religiösen Aufladung und der bürgerlichen Epoche.

Ein weiteres Element, was Israel als Kolonialregime ausmacht, ist, dass es den Vertriebenen vehement das Recht auf Rückkehr verweigert. Alle in der Westbank, einschließlich Ostjerusalem, verbliebenen Araber:innen wurden unter besonderes Militärrecht gestellt, während für die dort lebenden Siedler:innen das israelische Zivilrecht gilt. Es ist auch der Siedler:innenkolonialismus, der zu einer anhaltenden Annexion in den besetzten Gebieten führt. Unterdessen ist die Zahl der jüdischen Siedler:innen, welche in der Westbank und in Ostjerusalem in festungsartigen Siedlungen leben, seit 2007 um 700.000 Menschen angestiegen. Als Siedler:innenkolonialismus wird die Kontrolle über ein Territorium bezeichnet, die nach Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch eine andere trachtet. Historische Beispiele sind neben Palästina beispielsweise auch Australien und die USA.

Die Spaltung der palästinensischen Bevölkerung, welche ein typisches Merkmal kolonialistischer Beherrschungspolitik ist, erinnert unweigerlich an das Apartheidssystem Südafrikas: Mehr als 50 Gesetze diskriminieren palästinensisch-israelische Bürger:innen in Bezug auf Landbesitz, Wohnen, Familienleben, Bildung und viele weitere Lebensbereiche. Den Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten werden jedoch schon die elementarsten Rechte verwehrt, auch wenn versucht wird, über diesen Umstand durch die Farce einer angeblichen Eigenstaatlichkeit hinwegzutäuschen. Anders als im südafrikanischen Apartheidssystem ist das zionistische Regime jedoch nicht in dem Maße auf arabische Arbeitskraft angewiesen – ein qualitativer Unterschied zwischen klassischem Kolonialismus und Siedler:innenkolonialismus. Insbesondere, als seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die sich bis dato größte Einwanderungsbewegung vollzog, ist Israel mit ausreichend, überwiegend russischer und ukrainischer, Arbeitskraft versorgt worden, welche hervorragend zur Ausbeutung dient.

Als 1996 die Osloer Friedensprozesse scheiterten, auch, da die zionistische Rechte den Siedler:innenkolonialismus als identitätsstiftendes Moment nicht aufgeben wollte, kam es zum Niedergang des säkularen zionistischen Lagers und es vollzog sich der Ausbau eines rein jüdischen Israel. Das sogenannte Palästinenser:innenproblem ließ sich aber nicht, wie von den Zionist:innen erhofft, einfach beseitigen. Spätestens seit dem 7. Oktober ist die Vision einer ethnischen Säuberung im Zionismus eine für viele akzeptable geworden. Bezeichnend dafür ist, dass der rechtsextreme Finanzminister der Regierung Netanjahu, Bezalel Smotrich, ganz offen formulierte, dass die verbleibende palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten sich entweder zu assimilieren oder das Land zu verlassen habe. Was er nicht sagt, ist, dass diese, wenn sie weder das eine noch das andere mit sich machen lässt, weiterhin mit fortgesetztem Krieg gegen sie zu rechnen hat.

Zionismus und Spaltungen

Landesweite Proteste und massiver Widerstand gegen die Justizreform der israelischen Regierung im vergangenen Juni zeigten, dass sich auch in der jüdischen Bevölkerung Ansätze zum Aufbegehren gegen den herrschenden Rechtszionismus regen. Leider war der Widerstand in Israel nicht bereit, seinen Kampf mit dem ihrer unterdrückten arabischen Klassengeschwister zu verbinden. Hier werden die Fehler deutlich, die auch der Linkszionismus begeht, indem er sich bisher nicht willens zeigte, eine wirkliche Konfrontation mit dem zionistischen Chauvinismus einzugehen. Seitens der israelischen Gewerkschaften hat es zwar darüber Auseinandersetzungen gegeben, in welchem Maß nicht-jüdische Arbeiter:innen ausgrenzt werden, aber die Histadrut als Dachorganisation der israelischen Gewerkschaften hat für das zionistische Projekt immer als gelbe Gewerkschaft durch ihren staatstragenden Charakter gewirkt. Die Histadrut wurde bereits 1920 von Linkszionist:innen gegründet, auch Labourzionist:innen genannt. Der Dachverband nahm damals eine entscheidende militärische, wirtschaftliche und politische Rolle im Kolonialisierungsprozess und in der Vertreibung der Palästinenser:innen ein. Statt die Klasseneinheit und Solidarität mit den palästinensischen Arbeiter:innen zu fördern, setzte er sich stattdessen für den Ausschluss und die Entrechtung derselben ein. Er kann demnach weniger als einfache Gewerkschaft eingeordnet, sondern muss vielmehr als ein Grundpfeiler des Kapitalismus in Israel verstanden werden. Die Klassendifferenzierung und Polarisierung in Israel zu unterdrücken und hinauszuzögern, ist ihr Vermächtnis. Somit ist aus einer proletarischen Klassenkampfperspektive klar, dass die Histadrut von der israelischen Arbeiter:innenklasse durch eine Gewerkschaft ersetzt werden muss, die allen Arbeiter:innen, unabhängig von ihrer Ethnie, Zugang zu ihren Strukturen gewährt. Letztlich ist es die Arbeiter:innenklasse, als einzige multi-ethnische Kraft in der Lage, die nationalistischen Spaltungslinien zu überwinden, oder wäre zumindest potentiell dazu imstande. Aber sie kann nur dann eigenständig als Kraft auftreten, wenn sich jüdische, palästinensische und migrantische Arbeiter:innen in gemeinsamen Kampforganisationen für ihre Interessen verbinden. Hierfür braucht es sowohl den Bruch mit dem Zionismus wie mit dem korrupten palästinensischen Nationalismus und reaktionären Islamismus. 

Im Laufe der vergangenen 75 Jahre haben die Jüdinnen/Juden Israels ihre ursprüngliche ethnische Verschiedenheit teilweise durch eine gemeinsame nationale Kultur ersetzen können. Ein wesentliches Element ihres Nationalbewusstseins ist jedoch durch ihre chauvinistische Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung geprägt. Dies bildet die Grundlage dafür, der zionistischen Erzählung, das Volk Israel sei das für Palästina bestimmte, Taten folgen zu lassen – also die Vertreibung der Palästinenser:innen aus der Region und ihre rein jüdische Besiedelung. Um überhaupt ein Nationalbewusstsein zu entwickeln, wurde einer anderen Ethnie ein solches Recht auf nationale Selbstbestimmung abgesprochen. Hinsichtlich der israelischen Nationalidentität gibt es jedoch auch ethnische und klassenspezifische Aspekte, die diese umfassende Identität spalten. Diese Spaltung vollzieht sich nicht nur zwischen israelischen Araber:innen und Juden/Jüdinnen, sondern auch innerhalb der israelisch-jüdischen Gemeinschaft:

So sind es die Aschkenasim, die das Land 1948 kolonialisiert haben, und daher auch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die privilegierten Positionen beziehen. Sie stellen die ansehnliche Arbeiter:innenaristokratie aber auch -bürokratie dar, die mittleren und leitenden Positionen der Staatsbürokratie und ihre Kultur wird als die vorherrschende betrachtet. Zudem werden über sie wichtige Verbindungen zu der in den USA und Europa lebenden, ökonomisch bedeutsamen jüdischen Gemeinschaft gehalten.

Seit der Staatsgründung war jedoch klar, dass es orientalische Jüdinnen und Juden braucht, welche als Arbeitskräfte für halbqualifizierte Berufe und niedere Arbeiten eingesetzt werden konnten. So holte man ebendiese gezielt ins Land, welche sich nicht wegen antisemitischer Verfolgung, sondern in der Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard in die unteren Reihen der israelisch-jüdischen Arbeitsgemeinschaft eingliederten. Durch die Besetzung des Westjordanlands 1967 wurden jedoch massenhaft arabische Arbeiter:innen in die israelische Wirtschaft integriert. Dies ermöglichte einer Vielzahl von Juden/Jüdinnen von der Position der Arbeiter:innnen in die der Kleinunternehmer:innen aufzusteigen und als solche arabische Beschäftigte unter sich zu vereinen. Alle Parteien sowie die jüdische Bourgeoisie sehen die Notwendigkeit, sich konjunkturell auch fortwährend mit arabischen Arbeiter:innen versorgen zu müssen, auch wenn dies tendenziell abnimmt. Letztlich ist nicht nur die israelisch-jüdische Gemeinschaft in sich gespalten, sondern auch die Gruppe der orientalischen Jüdinnen/Juden unterteilt sich ihrerseits in vier weitere Untergruppen, zwischen welchen tief verwurzelte Feindschaften herrschen. Auch hier gibt es eine ökonomische Schichtung.  
All diese Spaltungen, die von den weißen Aschkenasim maßgeblich gefördert werden, zeigen deutlich, dass die israelische Arbeiter:innenklasse, auch wenn sie von der Unterdrückung und Überausbeutung der arabischen Israelis profitiert, letztlich eine Verliererin in ihrem kapitalistisch organisierten Staat ist.

Daher legen wir euch auch unsere nächste Folge ans Herz, welche sich damit beschäftigen wird, was es braucht, um eine freie, säkulare und sozialistische Ein-Staaten-Lösung zu erkämpfen. Aber das ist eine andere Frage zur Lage der Klasse.




München: Statement palästinasolidarischer und palästinensischer Gruppen zu den unwahren Vorwürfen mehrerer Stadtratsfraktionen zur Demonstration am 8. März 2024

Revolutionäre Internationalistische Organisation – Klasse Gegen Klasse; Palästina Spricht München; Queer Resistance; Gruppe Arbeiter:innenmacht München, Infomail 1248, 20. März 2024

Mit Empörung haben wir von dem fraktionsübergreifenden Offenen Brief der Münchner Stadtratsfraktionen von Die Grünen – Rosa Liste, SPD/Volt, FDP, Bayernpartei, ÖDP/München Liste und CSU mit Freie Wähler Kenntnis genommen. Wir halten dieses Statement mit dem Titel „Antisemitismus entschieden entgegentreten“ für den Versuch, feministische Rhetorik zu instrumentalisieren, um die Opposition gegen den Genozid in Gaza zum Schweigen zu bringen und jegliche Solidarität zu unterdrücken. Die in dem Statement erhobenen Vorwürfe entsprechen nicht den tatsächlichen Vorfällen.

Kein Mensch gleich welchen Geschlechts wurde auf der Kundgebung wegen Glaube oder Herkunft ausgeschlossen oder gar angegriffen, wie das Statement unterstellt. Das Statement der Stadtratsfraktionen versucht im Anschluss an einen hetzerischen Artikel in der „Bild“, einem der antifeministischsten Blätter der Bundesrepublik, einen Skandal zu konstruieren, wo es keinen gibt. Der eigentliche Skandal besteht in dem Versuch prozionistischer Kräfte, die das andauernde Massaker in Gaza mindestens billigen, wenn sie es nicht sogar gutheißen, eine feministische Veranstaltung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Als palästinasolidarische und palästinensische Organisationen haben wir an der Demonstration zum Internationalen feministischen Kampftag teilgenommen, um auszudrücken, dass ein Ende der sexistischen Unterdrückung weltweit auch das Ende kolonialer Unterdrückung bedeuten muss. Während Israel in Gaza mehr als zehntausend Frauen ermordet und hunderttausende mehr systematisch aushungert, den Zugang zu Gesundheitsversorgung verhindert und dadurch hohe Zahlen von Fehlgeburten verursacht hat und Palästinserinnen entführt, vergewaltigt und foltert, betrachten wir es als selbstverständliche Pflicht aller feministisch eingestellten Menschen, die Stimme zu erheben: Genozid ist auch Femizid. Wir sind überzeugt, dass die aktuelle Situation in Gaza ein zutiefst feministisches Thema ist und auch direkt mit der Situation von Frauen weltweit zu tun hat.

Das Statement der Stadtratsfraktionen geht hierauf mit keiner Silbe ein. Stattdessen wird hier bewusst der 7. Oktober als Ausgangspunkt der Gewalt genommen, während die jahrzehntelange Besatzung sowie sexualisierte Gewalt gegen palästinensische Frauen und Mädchen durch den israelischen Staat unerwähnt bleiben.

Dass sich die Teilnehmenden des sogenannten „Spaziergangs“ nicht der Demonstration zum Internationalen Feministischen Kampftag angeschlossen haben, finden wir richtig. Zu Bedrohungen und physischen Angriffen von Seiten unserer Organisationen kam es dabei nicht. Vielmehr versuchten insbesondere männliche Teilnehmer des „Spaziergangs“ unablässig Teilnehmer:innen der Kundgebung, allen voran palästinensische Frauen und ihre Unterstützerinnen, zu provozieren.Sie wurden laut Teilnehmenden verbal rassistisch und sexistisch angegriffen und ihnen wurde mehrfach Vergewaltigung und/oder andere Formen von Gewalt gewünscht. Das Statement der Stadtratsfraktionen behauptet, es seien Demonstrierende angegriffen worden. Das lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass sie bereits in der schieren Anwesenheit von Palästinenser:innen einen Angriff sehen.

Organisiert wurde der „Spaziergang“ von Guy Katz, einem langjährigen Spitzenfunktionär des „Jüdischen Nationalfonds“ (JNF-KKL). Diese Organisation ist seit über einhundert Jahren aktiv an der Vertreibung und Kolonisierung von Palästinenser:innen beteiligt. Unter anderem beteiligte sie sich maßgeblich an der Räumung von palästinensischen Familien in Sheikh Jarrah, einem Stadtteil in Jerusalem, und sammelt Geld für Siedlungsprojekte, unter anderem im zu den palästinensischen Gebieten gehörenden Westjordanland. Diese Siedlungen werden von der UN, der EU und vielen internationalen Organisationen als völkerrechtswidrig eingestuft. Damit ist der JNF-KKL direkt für die ethnische Säuberung der Palästinenser:innen mitverantwortlich.

Zudem war Katz Offizier der Israeli Defense Force (IDF), ebenjener Streitmacht, die derzeit den Genozid in Gaza verübt. Auf diese Zeit bezieht sich Katz bis heute positiv. Solche Akteur:innen haben auf einer Veranstaltung, die sich als fortschrittlich versteht, nichts verloren. In ihrem Statement behaupten die Stadtratsfraktionen, die Anhänger:innen dieser Organisation seien angegriffen worden und dies sei geschehen, weil sie jüdisch sind. Damit begehen sie selbst den antisemitischen Fehlschluss, Jüd:innen mit dem Zionismus gleichzusetzen. Gleichwohl ist festzuhalten, dass es zu keinen Angriffen auf diese Gruppe durch unsere Demonstrierenden gekommen ist. Etwaige Beweise haben weder die teilnehmenden Stadtratspolitiker:innen noch die Medien vorbringen können.

Das Statement der Stadtratsfraktionen fragt, warum Palästinaflaggen geschwenkt wurden, während die Demonstrant:innen des prozionistischen Blocks keine Flaggen zeigten. Die Antwort ist einfach. Die Fahne eines unterdrückerischen Kolonialstaats, der innerhalb weniger Monate Zehntausende ermordet hat und Hunderttausende mehr mit dem Tod bedroht, hat auf einer fortschrittlichen Veranstaltung nichts zu suchen. Die Solidarität mit den Unterdrückten hingegen ist eine grundlegende Selbstverständlichkeit eines Feminismus, der jede Form der Unterdrückung bekämpft.

Wir begrüßen, dass die Stadtratsfraktion DIE LINKE / Die PARTEI das Statement der anderen Fraktionen nicht unterzeichnet hat. Mit Bedauern stellen wir aber fest, dass auch sie sich dem Framing anschließen, „Anfeindungen gegen Teilnehmer*innen des ‚Run for Their Lives‘-Spazierganges“ zu verurteilen, offenkundig ohne sich ein umfassendes Bild des Geschehens gemacht zu haben. Die Kritik, die ihre Stellungnahme an dem Statement ihrer Kolleg:innen der anderen Fraktionen macht, ist deutlich, beschränkt sich aber auf die Form. Inhaltlich stimmt das Statement den anderen Fraktionen leider zu. Von einer Fraktion, die sich als fortschrittlich begreift, müssen wir erwarten können, dass sie offen an der Seite der Unterdrückten steht. Wir rufen DIE LINKE / DIE PARTEI auf, ihr ursprüngliches Statement fallen zu lassen und sich diesem Statement anzuschließen.

Zuletzt müssen wir fragen, wie es zu erklären ist, dass mit dem Statement der Stadtratsfraktionen Kräfte zusammengefunden haben, die weder mit einem tatsächlichen Kampf gegen Antisemitismus noch mit Feminismus etwas zu tun haben. Was haben CSU und Freie Wähler zu einer feministischen Demonstration am 8. März zu sagen, während sie unentwegt und Seite an Seite mit der AfD einen rechten, antifeministischen Kulturkampf führen? Gab es nicht in den Reihen der Freien Wähler erst vor wenigen Monaten einen echten Skandal um ein antisemitisches Flugblatt, der von CSU und FW möglichst rasch unter den Teppich gekehrt wurde? Treiben nicht auf der anderen Seite die Ampelparteien den Abbau der Gesundheitsversorgung in München und bundesweit voran, der besonders Frauen trifft? Wir müssen schlussendlich feststellen, dass die Einheit der Parteien vor allem darin besteht, Deutschland „kriegstüchtig“ machen zu wollen.

Laut Bayerischem Rundfunk überlegen die Organisator:innen des Bündnisses für den 8. März angeblich, künftig professionelle Securities für die Kundgebung anzuheuern. So etwas wurde im Bündnis nie besprochen und sollte das wahr sein, wäre es ein eklatanter Bruch des Demokonsens. Wir lehnen jede Art der Militarisierung der Demo zum 8. März ab. Die 8M-Demo kann sich sehr gut selbst schützen.

Zuletzt stellen wir uns gegen die Erzählweise, ein Konflikt zwischen proisraelischen und propalästinensischen Kräften lenke von Frauen ab. Bei der Solidarität mit Gaza geht es um Frauen. Sexualisierte Gewalt bekämpfen wir immer. Doch die Instrumentalisierung von sexualisierter Gewalt, um den Völkermord und Femizid in Gaza zu legitimieren, müssen alle Feminist:innen zurückweisen. Der Ausschuss rechter und militaristischer Kräfte von der 8M-Demo geschah in Einklang mit einer weltweiten jüdischen Bewegung für den Waffenstillstand und gegen den Genozid. Der Versuch von Springerpresse und Stadtratsparteien, Judentum und Zionismus gleichzusetzen, wird nicht gelingen.

Wir rufen auch alle gewerkschaftlichen Kräfte auf, sich gegen die Kriegsverbrecher und den Völkermord in Gaza mit den Palästinenser:innen zu solidarisieren, insbesondere die Frauenstrukturen in den Gewerkschaften, die sich für den 8. März engagieren. Damit würden sie den Beschlüssen der internationalen Gewerkschaftsverbände der Bildungsinternationale, der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF), des Industriegewerkschaftsverbands IndustriALL, der Bau- und Holzarbeiter-Internationale (BHI), der Internationalen der Öffentlichen Dienste (IÖD) und des Verbands UNI Global Union entsprechen, die nach dem vorläufigen Urteil des Internationalen Gerichtshofs über den Genozid in Gaza zum gemeinsamen Einsatz für einen Waffenstillstand aufrufen. Davon sollte nach dem erfolgreichen 8. März mit tausenden Teilnehmer:innen die Rede sein.

Freiheit für Palästina!

Unterzeichnende:

Revolutionäre Internationalistische Organisation – Klasse Gegen Klasse

Palästina Spricht München

Queer Resistance

GAM/Gruppe Arbeiter:innenmacht München




Nahost: Israel und der Westen missachten Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs

Rose Tedeschi und Alex Rutherford, Infomail 1248, 19. März 2024

Am 26. Januar erließ der Internationale Gerichtshof (IGH) ein Zwischenurteil in einem von Südafrika gegen Israel angestrengten Verfahren. Der IGH wurde ersucht zu entscheiden, ob Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. In diesem Urteil wird festgestellt, dass sich Israel einer „plausiblen“ Anklage wegen Völkermordes zu stellen habe, und der IGH hat eine einstweilige Verfügung erlassen, in der dem Land Auflagen gemacht werden.

Die Anordnung verpflichtet Israel, alle Handlungen zu unterlassen, die unter die Völkermordkonvention fallen könnten, und sicherzustellen, dass seine Truppen im Gazastreifen keine völkermörderischen Handlungen begehen. Außerdem wird es aufgefordert, öffentliche Aufforderungen zu Völkermord zu verhindern und zu bestrafen und Beweise für den Vorwurf des Völkermords zu sichern. Darüber hinaus wurde Israel angewiesen, Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage der palästinensischen Einwohner:innen in der Enklave zu ergreifen, Beweise dafür aufzubewahren und dem Gericht innerhalb eines Monats einen Bericht vorzulegen.

Israel Bericht ist fällig. Es wird jedoch erwartet, dass er kurz und voller Beschimpfungen sein wird, die die Welt von der Regierung um den Premierminister Benjamin Netanjahu zu erwarten gewohnt ist. Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara machte dies Ende Februar deutlich, als sie die Anschuldigungen Südafrikas als „skandalös“ und die Behauptungen als „absurd“ bezeichnete. Sie fuhr fort:

„Das entschlossene Handeln der israelischen Verteidigungskräfte beruht auf der Reinheit der Waffen und der allgemeinen Einhaltung des nationalen und internationalen Rechts, die Ausdruck der Stärke unseres Landes sind.“

Israel weiß, dass es sich hier auf zweifelhaftem Boden befindet und wird sich wahrscheinlich auf die Lieferung humanitärer Hilfe konzentrieren und behaupten, dass nicht es den Fluss der Hilfsgüter behindert, sondern die Palästinenser:innen, die den freien Durchgang blockieren. Die israelische Belagerung zwingt die hungernden Bewohner:innen des Gazastreifens, die wenigen Konvois, die durchkommen, zu plündern.

Natürlich gibt es einen Berg von Beweisen dafür, dass Israel die Hilfe durch zahlreiche Kontrollpunkte und Verzögerungen blockiert, wie die Aufnahmen von an der Grenze gestauten Lastwagen zeigen, ganz zu schweigen von der Belagerung von Rafah, dem Hauptzugangsort für die Hilfe. Der Norden soll frei von Hamas-Kämpfer:innen sein, doch wurden dort keine Grenzen geöffnet.

In Bezug auf die beiden anderen Forderungen muss Israel einige ernste Fragen beantworten. Genau zwei Tage nach dem IGH-Urteil nahmen neun Mitglieder des israelischen Parlaments (Knesset), darunter zwei Minister, an einer rechtsextremen Siedler:innenkundgebung teil, bei der die Vertreibung der Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen und der Zuzug von Siedler:innen gefordert wurde. Die Minister selbst riefen dazu auf, das nördliche Westjordanland zu besiedeln. Die Regierung hat es versäumt, irgendwelche Abgeordneten dafür zu „bestrafen“, geschweige denn, dies zu „verhindern“.

Seine Militäraktionen im Februar bestätigen ebenfalls Israels Bereitschaft, mit einer Invasion in Rafah zu drohen und gleichzeitig Schulen und Krankenhäuser zu bombardieren. Tausende von Menschenleben stehen auf dem Spiel; wenn Panzer und Kanonen es nicht erreichen, könnten Krankheiten diese Aufgabe für die Israelis übernehmen. Die Bedrohung durch einen Völkermord ist näher gerückt, nicht weiter weg.

Israel und das Gesetz

Entscheidend ist jedoch, dass das Gericht keinen sofortigen Waffenstillstand anordnete. Die Hauptbegründung hierfür ist das von Israel vorgebrachte rechtliche Argument, dass es an einer „völkermörderischen Absicht“ fehle. Da die Hamas beschuldigt wird, die Gewalt durch ihren Angriff am 7. Oktober angezettelt zu haben, ist das Gericht der Ansicht, dass Israel argumentieren kann, dass seine Handlungen in Selbstverteidigung erfolgten, was eine Rechtfertigung für den Krieg und somit keine Anordnung einer sofortigen Waffenruhe darstellt.

Dies ignoriert die 75 Jahre der Unterdrückung, Enteignung und Apartheid, die Israel den Palästinenser:innen angetan hat. Für revolutionäre Kommunist:innen kann jedoch die Gewalt eines unterdrückten Volkes niemals mit der Gewalt des Unterdrückers gleichgesetzt werden. Das palästinensische Volk ist seit der Gründung des zionistischen Staates im Jahr 1948 Opfer einer schrecklichen nationalen Unterdrückung. Der Gazastreifen ist praktisch ein Freiluftgefangenenlager für eine der am meisten benachteiligten und überfüllten Bevölkerungen der Welt.

Diese Entscheidung ist nur vorläufig; bis zur endgültigen Entscheidung in diesem Fall werden Monate oder sogar Jahre vergehen. Die Entscheidungen des IGH sind endgültig und unanfechtbar, aber das Gericht hat keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Der Nachweis eines Vorsatzes ist jedoch bekanntermaßen schwer zu erbringen, da die rechtliche Messlatte für Beweise sehr hoch angesetzt ist.

Netanjahu bekräftigt Israels „unerschütterliches Engagement“ für das Völkerrecht und bezeichnet den Vorwurf des Völkermords als „empörend“. Der israelische Verteidigungsminister Yo’aw Galant zeigte sich „bestürzt“ darüber, dass die Klage nicht rundheraus abgelehnt wurde, und der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir twitterte spöttisch „Haag-Schmach“. Es wurde berichtet, dass andere hochrangige israelische Minister das Urteil als „antisemitisch“ bezeichnet haben.

Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa sagte, er erwarte, dass Israel sich an das Urteil hält und Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords ergreift. Bislang sieht es nicht danach aus. Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor war näher an der Wahrheit und warf Israel vor, das Urteil zu ignorieren. In der Woche nach dem Urteil des IGH wurden fast 1.000 weitere Palästinenser:innen getötet. Die Zahl der Todesopfer beläuft sich nun auf mehr als 30.000.

Israel hat seine Militäroperationen auf Rafah ausgeweitet, obwohl es die Stadt zu einer „sicheren Zone“ erklärt hat. Die UNO hat Rafah als „Druckkochtopf der Verzweiflung“ bezeichnet. Krankenhäuser sind weiterhin Ziel israelischer Angriffe; Berichten zufolge wurden Panzer in der Nähe des Nasser-Krankenhauses – dem größten funktionierenden Krankenhaus in Gaza – gesehen.

Kluft zwischen imperialisiertem Süden und imperialistischem Westen

War es das wert, den Fall vor den Weltgerichtshof zu bringen? Ja! Dieser Fall steht eindeutig für ein Massengefühl der Rebellion in der halbkolonialen Welt gegen den westlichen Imperialismus. Ramaphosa, der berüchtigte Mörder der südafrikanischen Bergarbeiter:innen von Marikana, ist sicher kein antiimperialistischer Kämpfer – und seine Gründe mögen in einem Wahljahr zynisch sein.

Aber es war der Druck der internationalen Bewegung für die Befreiung der Palästinenser:innen, auf den die Machthaber:innen reagierten. Südafrikaner:innen sind seit langem Verbündete des palästinensischen Volkes, und die internationale Rechtsexpertin Heidi Matthews sagte, dass ihr historischer Kampf für die Beendigung der Apartheid dem Fall gegen Israel „Glaubwürdigkeit und moralisches Gewicht“ verleiht.

Das Gefühl des Hasses gegenüber dem Westen, den ehemaligen Kolonialherr:innen Afrikas und Asiens, wird durch die Reaktion auf das Urteil des IGH noch geschürt. Innerhalb weniger Stunden nach der Entscheidung stellten die USA ihre Finanzierung des UN-Hilfswerks UNRWA ein, und Kanada folgte diesem Beispiel rasch. Es überrascht nicht, dass auch das Vereinigte Königreich und sechs weitere europäische Länder, darunter auch Deutschland,  sowie Japan ihre Mittel für das UNRWA aussetzten.

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen ist die einzige Organisation, die derzeit in der Lage ist, die humanitären Mittel bereitzustellen, zu deren Gewährung sich US-Präsident Joe Biden und der britische Außenminister David Cameron „verpflichtet“ haben. Die EU schätzt, dass sich die insgesamt ausgesetzten Mittel auf mehr als 440 Millionen US-Dollar belaufen – die Hälfte des Haushalts der Organisation für 2024. In einer Zeit, in der die Menschen im Gazastreifen gezwungen sind, Gras zu essen und verschmutztes Wasser zu trinken, um zu überleben, ist dies absolut verachtenswert.

Glücklicherweise haben nicht alle Länder ihre Finanzierung zurückgezogen; Spanien hat ein dringendes Hilfspaket in Höhe von 3,8 Millionen Dollar angekündigt, und Australien und Belgien werden ihre Finanzierung des UNRWA fortsetzen. Aber der Sonderpreis für Heuchelei geht sicherlich an Deutschland, das einerseits die Legitimität des IGH anerkannt, andererseits aber sämtliche Vorwürfe gegen Israel vor jeder Untersuchung zurückweise – und gleichzeitig Israel mit den Waffen versorgt, die es benutzt, um das „Völkerrecht“ mit Füßen zu treten.

Schlussfolgerung

Trotz der vielen Unzulänglichkeiten dieses vorläufigen Urteils und des IGH selbst stellt die Entscheidung einen Schlag sowohl für Israel als auch für die westlichen Mächte dar. Sie hat zu dem Schauspiel geführt, dass diese Mächte genau die Institutionen untergraben, die sie zuvor geschaffen hatten, um ihre imperialistische Herrschaft über die Welt zu verschleiern. Ihre Ansprüche auf Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf Selbstbestimmung, die sie im Falle der Ukraine und Taiwans, d. h. bei der Verurteilung ihrer Rivalen Russland und China, so hochgehalten haben, haben in den Augen des globalen Südens erheblichen Schaden genommen.

Die Bewegung für die Befreiung Palästinas muss diese Orientierungslosigkeit der Regierenden ausnutzen und sich keinen Illusionen in Typen wie Ramaphosa hingeben und ihre Anstrengungen international koordinieren, wenn sie ihr Ziel, ein freies Palästina, erreichen will. Das Urteil des IGH kann eine Plattform bieten, um auf diesen Kampf hinzuweisen, aber es kann keine Gerechtigkeit schaffen. Das können nur die Palästinenser:innen selber und ihre Unterstützer:innen tun, indem sie für die revolutionäre Zerstörung des zionistischen Staates und seine Ersetzung durch ein einheitliches, säkulares und sozialistisches Palästina kämpfen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr.




Seekorridor nach Gaza: Humanitäre Flankendeckung für den Krieg

Martin Suchanek, Infomail 1248, 16. März 2024

Die Hungersnot in Gaza ist mittlerweile auch bei den imperialistischen Staats- und Regierungschef:innen angekommen. Ob Joe Biden, Ursula von der Leyen oder Olaf Scholz: Alle beklagen die humanitäre Katastrophe, die in Palästina droht.

Seit Monaten spitzt sich die humanitäre Lage dramatisch zu. Über 30.000 Menschen wurden seit Oktober von der israelischen Armee getötet, der größte Teil der Bevölkerung wurde zu Flüchtlingen im eigenen Land.

Seit Monaten warnen internationale Hilfsorganisationen vor einer Hungersnot, die lt. UNO aktuell mehr als einer halben Million Menschen direkt droht. Am schlimmsten ist die Lage im Norden des Gazastreifens, der von der IDF abgeriegelt ist und in den praktisch keine Hilfslieferungen gelangen. Besonders akut gefährdet sind Kinder. So berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AP: „Im Emirati-Krankenhaus in Rafah starben in den vergangenen fünf Wochen 16 Frühgeborene an den Folgen von Unterernährung.“ Neben Hunger drohen aufgrund von Unterernährung, Wassermangel und katastrophalen hygienischen Zuständen Krankheiten oder gar die Ausbreitung von Seuchen.

Überraschend kommt diese barbarische Entwicklung nicht. Schon vor dem Krieg waren 1,2 der 2,3 Millionen Einwohner:innen Gazas auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Der größte Teil davon entfällt seit Monaten. Rund 500 LKW bräuchte es pro Tag, um die Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen, doch Israel lässt nur einen Bruchteil davon durch, im Februar durchschnittlich gerade 83 LKWs pro Tag. Dabei könnten jederzeit mehr Lastwagen die Grenze passieren, doch diese werden aufgehalten, während sich der Hunger ausbreitet.

Die Katastrophe wie auch der Tod Zehntausender wären vermeidbar gewesen; vermeidbar ist auch der drohende Hungertod weiterer Zehntausender. Notwendig wären dazu aber ein sofortiger Waffenstillstand und die Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen mit Nahrung, Wasser, Kleidung, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung.

Israel blockiert

Doch von einer Öffnung der Grenzen, von mehr Hilfslieferungen und erst recht von einer Feuerpause, geschweige denn einem Waffenstillstand will das Kriegskabinett Netanjahu nichts wissen. Selbst die Forderungen der US-Administration nach einem befristeten Waffenstillstand werden bislang mehr oder weniger undiplomatisch zurückgewiesen, zumal die israelische Regierung weiß, dass die USA, Britannien, Deutschland und die anderen EU-Mächte weiter Waffen liefern, weiter finanzielle und diplomatische Unterstützung gewähren.

Die Scharfmacher:innen in der israelischen Regierung setzen ganz offen auf Krieg und Vertreibung. Ihr extremer rechtsradikaler Flügel sieht sich seinem Kriegsziel näher, eine weitere ethnische Säuberung Palästinas, also die Vertreibung von Millionen aus Gaza, umzusetzen. Hunger wird dabei als Waffe eingesetzt.

Andere Falken wollen durch das Aushungern der Bevölkerung die Freigabe der israelischen Geiseln erzwingen. So erklärt der ehemalige Chef des Nationalen Sicherheitsrats Israels Giora Eiland in einem Interview unverhohlen: „Wenn die Palästinenser wirklich dringend humanitäre Hilfe benötigen, dann muss ihnen gesagt werden: Wenn sie essen wollen, müssen sie auf ihre Regierung Druck ausüben, damit diese einen Geiseldeal eingeht.“

Humanitäre Heuchelei

Das vom Westen ansonsten so gepriesene Völkerrecht, das die Verpflichtung von Besatzungsmächten zur Versorgung der Bevölkerung vorsieht, wird wieder einmal mit Füßen getreten. Diese barbarische Logik wollen selbst die Führungen der imperialistischen Mächte nicht einfach absegnen, wissen sie doch, dass die offene Weigerung, die Bevölkerung in Gaza auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen, die ohnedies löchrige demokratische Fassade des Krieges vollständig zum Einbruch bringen könnte.

Sie geben sich daher besorgt und von ihrer humanitären Seite. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist „zutiefst beunruhigt über die Bilder aus Gaza“. Selbst angesichts der Hungersnot wird der genozidale Angriffe jedoch noch schöngeredet, wenn sie kritisiert, dass Israel seiner Pflicht gegenüber der Bevölkerung nur „begrenzt“ nachkomme. Selbst der deutschen Außenministerin Baerbock entgeht nicht, dass Frauen und Kinder am meisten leiden würden, und so verlangt sie, wenn auch seit Wochen vergeblich, eine „humanitäre Kampfpause“. Verbal noch deutlicher gibt sich die US-Adminstration. So fordert US-Vizepräsidentin Kamala Harris von Netanjahus Regierung: „Keine Ausreden, sie müssen neue Grenzübergänge öffnen und unnötige Beschränkungen aufheben“.

Diese humanitären Anwandlungen der Größen westlicher Politik entpuppen sich regelmäßig als leere Phrasen. Niemand ist bereit, die israelische Regierung so sehr unter Druck zu setzen, dass sie sich zu einer Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen oder gar zu einem Waffenstillstand genötig sieht. Dabei hätten die Staats- und Regierungschef:innen von USA und EU jederzeit die Hebel in der Hand, das zionistische Regime zum Einlenken zu zwingen, indem sie ihm den Stopp von Waffenlieferungen, Hilfsgeldern und diplomatischem Schutz androhen. Dass das nicht passieren wird, solange sie nicht durch eine Massenbewegung in ihren eigenen Ländern dazu gezwungen werden, weiß natürlich auch Netanjahu.

Mehr noch, die westlichen Staaten sind nicht einmal bereit, die Anträge Südafrikas und anderer Staaten beim Internationalen Gerichtshof (IGH) zu unterstützen, die Israel zur Versorgung der Bevölkerung zwingen sollen. Selbst eine solche Maßnahme, die letztlich mehr symbolisch als real wäre, weil es dem IGH an den Mitteln zur Durchsetzung solcher Beschlüsse fehlt, lehnen sie entschieden ab.

Israel ist schließlich seit Jahrzehnten ein zentraler geostrategischer Verbündeter der USA und der EU-Länder im Nahen Osten, ein Vorposten ihrer eigenen imperialistischen Ordnung. Daher lassen sie einen regionalen Gendarm nicht fallen, zumal wenn sich die reaktionären arabischen Regime letztlich auch nur auf symbolischen Protest gegen das zionistische Regime beschränken.

Zynisches Manöver

Vor diesem Hintergrund werden Hilfslieferungen auch weiterhin nicht in ausreichendem Maße über die Grenzen gelangen. Den Vorwurf, beim Sterben von Zehntausenden oder Hunderttausenden nur zuzusehen, will sich der Westen jedoch auch nicht aussetzen.

Daher zaubern die Staats- und Regierungschef:innen der USA und Westeuropas eine angebliche Alternative zu Hilfslieferungen auf dem Landweg aus dem Hut. Zur Notversorgung Gazas soll unmittelbar eine Art „Luftbrücke“ eingerichtet werden, langfristig sollen Lieferungen auf dem Seeweg folgen. Ganz nebenbei werden dabei Israels „Sicherheitsinteressen“ in Rechnung gestellt, da jede Lieferung, jede Luftfracht ausschließlich von verbündeten Militärs abgeworfen wird.

Seit Anfang März begannen die USA, Frankreich und Jordanien, Nahrungsmittel über dem Kriegsgebiet abzuwerfen. Seither schlossen sich mehrere Länder, darunter auch Deutschland, dieser Luftbrücke an. Übernommen werden die Einsätze in der Regel vom Militär – im Falle Deutschlands von der Bundeswehr –, was deren Präsenz im Nahen Osten erhöht.

Zusätzlich wollen die westlichen Verbündeten Israels die humanitäre Lage in Gaza durch die Errichtung einer Seebrücke erleichtern. Erste Schiffe sind schon unterwegs, erste Ladungen, wurden schon gelöscht. Doch diese sind nicht mehr als eine Tropfen auf den heißen Stein, denn es fehlt ein Hafen. Ein solcher soll in den nächsten ein bis zwei Monaten als schwimmende Schiffsanlegestelle erbaut und vor Gaza errichtet werden. Bis dahin müssen die Hungernden warten, erhalten weiter viel zu wenige Hilfslieferungen – und selbst wenn  improvisierte Häfen gebaut sein sollten, ist es mehr als fraglich, ob die Hilfslieferungen über den Seeweg ausreichen.

Der Zynismus des Westens lässt sich kaum überbieten. Die „Hilfe“ entpuppt sich als humanitäres Placebo, während eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung auf dem Landweg jetzt unmittelbar notwendig und rein logistisch auch machbar wäre.

Doch darum geht es Washington, Brüssel, Paris oder Berlin nicht. Die Placebohilfe soll vielmehr Israel vor der internationalen Kritik abschirmen, indem die westlichen Staaten die härtesten Auswirkungen der humanitären Katastrophe lindern sollen. Sie übernehmen so einen Teil der Verpflichtungen Israels zum Schutz der Zivilbevölkerung, während die zionistische Kriegsmaschinerie weitermachen kann.

Die Pseudoalternative zur Lieferung von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und anderen Gütern auf dem Landweg stellt nicht „nur“ eine zynische Verschleppung wirklicher Hilfe dar, sondern soll dem Krieg Israels auch eine humanitäre Flankendeckung verschaffen und die westliche Öffentlichkeit zumindest ein Stück weit beruhigen. Ein weiteres Placebo also.

Hungerkatastrophe wirklich stoppen!

Wir brauchen keine solchen Pseudohilfen. Vielmehr muss die drohende Hungerkatastrophe, muss der genozidale Angriff Israels jetzt gestoppt werden. Dazu müssen jetzt die Grenzen geöffnet werden. Zusätzlich müssen jetzt sämtliche Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA freigeben werden.

Die Durchsetzung dieser unmittelbaren Forderungen, die selbst noch weit davon entfernt sind, einen dauerhaften gerechten Frieden zu bringen, wäre wenigstens ein Schritt zum Stoppen des Mordes an unschuldigen Zivilist:innen, ein Schritt, den Hungertod Tausender und die Vertreibung von Hunderdtausenden zu verhindern.

Doch dazu braucht es jetzt eine Massenmobilisierung in den westlichen wie arabischen Ländern – auf der Straße, in den Betrieben und Wohnvierteln. In den arabischen Staaten müssen die Massen, allen voran die Arbeiter:innenklasse, den Abbruch aller Beziehungen zu Israel einfordern. Die ägyptische Arbeiter:innenklasse verfügt über das Potential, strategische Handelswege wie den Suezkanal zu blockieren, um die westlichen Großmächte und die gesamte kapitalistische Weltwirtschaft zu treffen.

Im Westen müssen jene Gewerkschaften, die sich zu Streiks und Blockaden von Waffenlieferungen und Hilfslieferungen für Israel und dessen völkermörderischen Angriff verpflichtet haben, jetzt in Aktion treten, ihren Beschlüssen auch Taten folgen lassen. Die internationalen Beschlüsse von Gewerkschaften, die Aktionen gegen das Apartheidregime vorsehen, müssen mit Leben gefüllt werden. In den Gewerkschaften, die bis heute die westliche imperialistische Politik der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel unterstützen, müssen alle internationalistischen, klassenkämpferischen Kräfte gemeinsam und organisiert für einen Bruch mit der sozialchauvinistischen Politik kämpfen.

Am 16. Oktober 2023 hat die palästinensische Gewerkschaftsbewegung einen solchen Aufruf an die weltweite Arbeiter:innenbewegung gerichtet. Es ist ein beschämendes Armutszeugnis für die reformistischen Gewerkschaftsführungen, dass sie, von einigen wenigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, keinen Finger krummgemacht haben. Viele haben sich sogar schwergetan, den Krieg unmissverständlich zu verurteilen. Damit muss Schluss sein, um wenigstens den Tod Tausender und Abertausender zu verhindern:

  • Stoppt den genozidalen Angriff! Waffenstillstand jetzt!

  • Öffnung der Grenzen zu Gaza! Hilfslieferungen sofort! Freigabe aller Mittel an das UN-Flüchtlingshilfswerk UNWRA!

Die Arbeiter:innenklasse in den Ländern, die Israel mit Waffen und diplomatischem Schutz versorgen, hat eine besondere Pflicht zu handeln. Dies ist nicht nur der Krieg Israels. Es ist ein kolonialer Krieg, der auch unter Beteiligung mehrerer westlicher imperialistischer Mächte geführt wird. Ein Sieg Israels stärkt auch die Position des westlichen Imperialismus und damit dessen herrschende Klassen. Deshalb liegt der Kampf der Palästinenser:innen auch im Interesse der gesamten internationalen Arbeiter:innenklasse.

Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, um für internationalistische Aktionen der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen, um den Krieg zu beenden und den Sturz der gesamten vom Imperialismus unterstützten Ordnung im Nahen Osten zu beschleunigen, mit dem Ziel der Zerschlagung des zionistischen Staates, der Errichtung eines binationalen demokratischen, säkularen und sozialistischen Staates in ganz Palästina und einer sozialistischen Revolution im Nahen Osten.




Defender 2024: Nur wer übt, wird kriegstüchtig

Linda Loony, Infomail 1248, 15. März 2024

„Kriegstüchtig“ und zum „Rückgrat der Abschreckung“ müsse die Bundeswehr lt. Verteidigungsminister Pistorius wieder werden. Dafür legt sich die Truppe zur Zeit mächtig ins Zeug.

Das „Steadfast Defender“-Manöver der NATO (STDE24/SD24; deutsch: standhafte Verteidigung), aktuell im Gange, markiert die größte militärische Übung des Bündnisses seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren. Die Simulation eines Konfliktszenarios mit Russland als potenziellem Gegner an der Ostflanke ist keine bloße Übung, sondern eine ernsthafte Vorbereitung. Denn nach Einschätzungen der Bundeswehr könnte Russland in wenigen Jahren bereit sein, einen Krieg gegen die NATO zu führen – und darauf will sich das Bündnis vorbereiten, indem die eigene Angriffsfähigkeit demonstriert und geübt wird.

Doch der Aufschrei in Bevölkerung und Medien scheint im kollektiven Halse steckengeblieben zu sein. Auf der Straße gibt es keine Großdemonstrationen gegen Krieg und Aufrüstung, die Berichterstattung über das Manöver und seine Ziele ist begrenzt und im Betrieb oder Freund:innenkreis dürften die wenigsten bisher darüber in Diskussionen geraten sein. Laut einer Bevölkerungsumfrage mit rund 2.200 Personen sind 70 % überzeugt, dass Deutschland weiterhin der NATO angehören muss, 65 % befürworten die finanziellen Zusagen an sie. Die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke werden ebenfalls überwiegend unterstützt.

Die Einstellung zur Bündnisverteidigung hängt jedoch stark von der Wahrnehmung Russlands als Bedrohung der „Freiheit“ ab, also wie sehr die NATO-Ideologie verfängt, dass es sich nicht um einen immer schärferen innerimperialistischen Gegensatz handeln würde, sondern um einen Konflikt zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“. Zweifellos wirkt diese Darstellung besonders angesichts der imperialistischen Aggression und Besatzung Russlands gegenüber der Ukraine. Der Kenntnisstand über die Bundeswehrmissionen an der NATO-Ostflanke selbst ist jedoch eher gering (1). Dabei rasseln die Säbel in Europa so laut wie lange nicht mehr.

Dieser Artikel soll zunächst einen Überblick über das aktuell laufende Steadfast Defender- Manöver der NATO geben. Im Anschluss wird eine globale politische Einordnung vorgenommen. Abschließend beschäftigt sich der Artikel mit der Frage der Programmatik, für die die Arbeiter:innenklasse in diesen Zeiten gewonnen werden muss.

Alle machen mit

Die Teilnahme an diesem gigantischen Manöver erstreckt sich über alle 32 NATO-Mitgliedsstaaten. Ziel ist es, die Alarmierung nach dem Bündnisfall zu üben, sich auf den Einsatz vorzubereiten, Truppen in die Einsatzräume zu verlegen und letztlich „den Aggressor im Gefecht abzuwehren“ (2). Mit einer Stärke von 90.000 Soldat:innen soll die NATO ihre Schlagkraft demonstrieren und Russland zugleich vor Augen führen, welche Konsequenzen ein Angriff auf das Bündnisgebiet haben würde. Abschreckung ist das erklärte Ziel an der NATO-Ostflanke.

Das Manöver erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Monaten und umfasst verschiedene Übungen: Grand North, Grand Center, Grand South und schließlich die Abschlussübung Grand Quadriga. Dabei operiert die Bundeswehr nicht nur in Deutschland, sondern auch in Norwegen, Polen, Ungarn, Rumänien und Litauen. Diese umfangreiche Präsenz verdeutlicht, dass es nicht nur um eine regionale Verteidigungsübung geht, sondern um eine Koordination auf internationaler Ebene.

Der Menschen- und Materialeinsatz ist beeindruckend: Rund 90.000 Soldat:innen, 50 Marineschiffe, 80 Flugzeuge und über 1.100 Kampffahrzeuge werden mobilisiert. Die Bundeswehr ist mit ihrem Manöver Quadriga 24 Teil der NATO-Operation. Generalinspekteur Breuer betont die Bedeutung Deutschlands als Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung Europas (3). Quadriga 24 beinhaltet die Verlegung von Militärkonvois in vier Teilmanövern zu unterschiedlichen Zeiten, und es handelt sich um die größte Übung deutscher Landstreitkräfte seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Mit 12.000 Soldat:innen, 3.000 Fahrzeugen und 30 Luftfahrzeugen ist dies ein beachtliches Aufgebot.

Der Gegner Russland

Seit zwei Jahren tobt nun ein heißer Krieg in der Ukraine. Dies hat die Konfrontation zwischen den westlichen Imperialismen und ihrem russischen Gegenspieler in einem Maß verschärft, das es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Obwohl keine kämpfenden Einheiten der NATO direkt involviert sind, wurden und werden die ukrainischen Streitkräfte vor und während des Krieges massiv ausgerüstet. Die Unterstützung umfasst Waffen, Logistik, Informationsdienste und Ausbildung an modernen Waffensystemen. Die gelieferte Ausrüstung stammt aus westlichen Armeen, begleitet von einer Modernisierung der eigenen Rüstungsindustrie.

Der westliche Imperialismus hat sich dabei hierzulande die moralische Deutungshoheit über die Kriegssituation gesichert: Russland als undemokratischer, reaktionärer Staat greift die Ukraine an und bedroht damit den Frieden, die Freiheit und Demokratie in ganz Europa, während der Westen nur als selbstloser Helfer agiere. Auch wenn die Selbstverteidigung der Ukraine gegen die Invasion berechtigt ist und es zynisch wäre, den ukrainischen Massen vorzumachen, dass es egal wäre, ob ihr Land besetzt wird oder nicht, so geht es der NATO und der Bundesrepublik darum, selbst die Kontrolle über möglichst große Teile der Ukraine zu erlangen, diese als ihr Ausbeutungs- und Investitionsgebiet zu sichern und die NATO selbst nach Osten auszudehnen.

Dies soll demnach auch sämtliche Aufrüstungsprogramme der NATO legitimieren und dient den Herrschenden als Propagandamittel. Die Moral des westlichen Imperialismus bei der Verurteilung despotischer Regierungen wird aufmerksamen Beobachter:innen jedoch als recht dehnbar auffallen, denn sie hängt lediglich von der Nützlichkeit des betreffenden Staates für die Umsetzung eigener nationaler Interessen ab. So hat die EU weniger Probleme damit, den autoritären Staat Türkei im Krieg gegen die Kurd:innen gewähren zu lassen, denn schließlich hält dieser Massen geflüchteter Menschen zurück, die anderenfalls potenziell Zuflucht hinter der Mauer der Festung Europa suchen würden. Sie haben offenkundig auch kein Problem damit, die Bombardierung Gazas politisch und militärisch zu unterstützen – denn schließlich verteidigt das zionistische Regime westliche imperialistische Interessen.

Diese propagierte moralische Notwendigkeit der Verteidigung schmeckt jedenfalls deutlich besser, als würde offen propagiert werden, dass seit jeher der westliche wie auch der russische Imperialismus jeweils ihre eigenen geopolitischen und damit ökonomischen Interessen verfolgen, die nun in der Einflusssphäre Ukraine kollidieren. Das bedeutet, der Konflikt geht nicht nur darum, ob die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, sondern er ist zugleich mit der Frage verwoben, ob sie eine Halbkolonie Russlands oder der NATO-Imperialist:innen sein soll. Kurzum, die Ukraine ist heute sowohl Schauplatz eines Kampfes gegen die russische Invasion wie zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten um die Neuaufteilung der Welt.

Der Kampf um Einflusssphären

Die NATO verfolgt seit den 1990er Jahren das Projekt der Erweiterung ihrer Mitgliedsstaaten und Einflussgebiete nach Osten. Die Aufnahme Nordmazedoniens im Jahr 2020 bildet die vorläufig letzte Etappe der Integration ehemaliger „sozialistischer Länder“. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde dann deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland sagte im Juni 2023 zu, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zurzeit sind rund 40.000 NATO-Soldat:innen in Osteuropa stationiert.

Russland wiederum erlebt dadurch seit jeher eine Bedrohung seiner eigenen Einflusssphären und forderte darüber hinaus als Reaktionen auf bevorstehende oder mögliche Beitritte immer wieder die militärische Neutralität von Staaten in Ost- und Südosteuropa als „Pufferzonen“ zwischen sich und der NATO ein. Hier ist ersichtlich, dass Russland umgekehrt die NATO als Angreiferin auf seine Souveränität und Sicherheit propagiert und auf Nationalismus als ideologisches Bindeglied setzt. Russland reagiert außerdem auf diese Aktivitäten seinerseits mit provokanten Manövern.

Hieraus wird deutlich, dass die militärische Mobilmachung des westlichen Imperialismus keine unmittelbare Folge des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine darstellt, sondern vielmehr eine fortbestehende Notwendigkeit im Kampf um Einflusssphären ist. Es wird ebenso deutlich, dass selbst ein Ende des Krieges in der Ukraine nicht das der Aufrüstung bedeuten würde, denn ein kriegsfähiges Militär ist essenziell im Konkurrenzkampf imperialistischer Staaten um die Ausbeutungshoheit über ihre Halbkolonien (4).

Kriegsvorbereitung

Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt der westliche Imperialismus über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome, die die Arbeiter:innenklasse zu spüren bekommt, Russland in die Schuhe zu schieben und damit auch wirtschaftliche Angriffe auf soziale Errungenschaften der Lohnabhängigen als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen. So stimmte beispielsweise die Führung der IG Metall als gewerkschaftliche Vertretung in der deutschen Rüstungsindustrie in ihrem Positionspapier zur Sicherheits- und Verteidigungsindustrie im Januar 2024 in den Tenor ein und unterstrich ihrerseits, dass sie die Aufrüstungsziele der Bundesregierung unterstütze. Die Gewerkschaft stellt die so gewonnenen bzw. erhaltenen Arbeitsplätze als Errungenschaft heraus und erklärt, Waffenexporte zu unterstützen. Die Gewerkschaftsbürokratie bewegt sich hier also vollständig auf Kurs der deutschen Bourgeoisie.

Auch die reformistische SPD stellt sich nicht gegen das Mantra der Aufrüstung, während DIE LINKE nicht so recht weiß, ob sie für oder gegen eine solche „Sicherheitspolitik“ sein soll. Während sie auf Parteitagen immer noch ein Bekenntnis zum „Frieden“ abgibt, verstoßen Parlamentarier:innen und Funktionär:innen vom rechten, „regierungssozialistischen“ Flügel immer wieder gegen diese Beschlüsse. In der Praxis fällt DIE LINKE vor allem dadurch auf, dass sie der Kriegsfrage möglichst aus dem Wege geht.

Jedoch ergaben sich auch kürzlich Konflikte innerhalb der Herrschenden darüber, welche der Zugeständnisse an die Lohnabhängigen für die Aufrüstungspläne gestrichen werden sollen. So hatte die SPD den Vorschlag des FDP-Vorsitzenden und Finanzministers Lindner kritisiert, bei denen das Sondervermögen für die Aufrüstung durch Einsparungen in den Sozialleistungen gedeckt werden sollte. Doch dieses kleinen Aufbegehren der Reformist:innen darf nicht als wahrer Einsatz für die Arbeiter:innenklasse verkannt werden, denn sowohl die SPD als auch die Grünen befürworten und gestalten die aktuelle Aufrüstungspolitik.

Welche Bewegung?

Laut der bereits zitierten Bevölkerungsumfrage sprach sich letztes Jahr über die Hälfte der Befragten weiterhin für eine Erhöhung des Verteidigungsetats, eine Aufstockung der Soldat:innen und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus. Nur 8 % plädieren für eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben und des Personals.

Die ideologische Mobilmachung scheint zu fruchten: Bürgerliche Arbeiter:innenparteien wie die SPD und Gewerkschaftsführungen (und in Teilen auch die Linkspartei) tragen die Staatsraison mit und versuchen, die Lohnabhängigen durch kurzfristige ökonomische Argumente sowie durch den Kampf für das vermeintlich moralisch „richtige“ Ziel zu binden, also die Verteidigung westlicher Freiheit und Demokratie.

Für revolutionäre Kräfte gilt es, den Widerspruch zwischen den Zielen der Bourgeoisie und dem objektiven Interesse der Lohnabhängigen aufzuzeigen, und das nicht nur durch symbolische Aktionen auf der Straße. Es muss ein politischer und ideologischer Kampf in der Arbeiter:innenbewegung geführt werden. Es gilt, die ideologische Mobilmachung aufzubrechen.

Dies gilt für die Arbeiter:innenschaft in Russland wie auch in den westlichen imperialistischen Staaten. Dieser Kampf bedeutet auch, mit Antikriegsforderungen, die einer pazifistisch-kleinbürgerliche Grundlage entspringen, zu brechen. Es geht nicht darum, Phrasen wie „Nie wieder Krieg“ zu wiederholen oder gar die Hoffnung zu schüren, dass uns eine „europäische Verteidigungsarchitektur“ besser als die NATO beschütze oder die Bundesregierung unseren Forderungen nachkommen würde.

Eine Antikriegsbewegung, die über dies nicht hinauskommt oder sich auf die Seite einer imperialen Macht stellt, ignoriert den systemischen Charakter des Krieges und ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Denn der Krieg ist im Rahmen der Klassengesellschaft und der imperialistischen Weltordnung ein politisches Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie. Der (Irr-)Glaube, man müsse sich beim Kräftemessen der Großmächte und deren Kriegsvorbereitung nur auf die „moralisch“ richtige Seite des Friedens stellen oder die Regierung um Einhalt bitten, greift vielleicht die Auswirkung des Krieges kurzfristig an, doch verfehlt es, seiner Voraussetzung den Kampf zu liefern: dem kapitalistischen System.

Proletarischer Antimilitarismus

Das Programm für die Arbeiter:innenklasse muss daher ein konsequenter proletarischer Antimilitarismus sein, d. h. ein Bekenntnis zum Defaitismus im neuen Kalten Krieg.

Der Hauptfeind ist nicht in einem imperialistischen Konkurrenten zu sehen, sondern im eigenen Land, in der eigenen nationalen Bourgeoisie. Und ein unmittelbares Ziel besteht darin, zu verhindern, dass der Kampf um die Ukraine zu einem offenen globalen Krieg zwischen den imperialistischen Mächten eskaliert.

In Russland muss die Arbeiter:innenklasse gegen den Einmarsch in die Ukraine kämpfen und die sofortige Beendigung des Krieges sowie den Abzug aller russischen Truppen fordern. Angesichts des autokratischen Charakters des Putin-Regimes ist der Kampf für demokratische Rechte, Meinungsfreiheit und die Freilassung politischer Gefangener entscheidend. Dieser muss mit dem Ziel verbunden werden zu verhindern, dass die Arbeiter:innen die Kosten des durch Sanktionen verursachten Elends und der Kriegstreiberei tragen müssen. Die Auseinandersetzung muss in den Betrieben verwurzelt sein und den Kampf gegen den Krieg mit Massenstreiks und der Enteignung der Oligarch:innen verbinden. In der Ukraine ist der Kampf gegen die Besatzung zwar ein gerechtfertigter, aber er muss mit einem politischen Kampf gegen die reaktionäre Regierung Selenskyj, die falschen Hoffnungen in den westlichen Imperialismus und für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung und revolutionären Partei verbunden werden.

In den NATO-Ländern muss dazu aufgerufen werden, sich als Arbeiter:innenschaft gegen Kriegstreiberei, Aufrüstung und Sanktionen zu stellen, die kein reaktionäres Regime stürzen, sondern in ihrer Konsequenz der russischen Arbeiter:innenklasse schaden, vor allem aber die imperialistische Konfrontation weiter zuspitzen. Die Parteien der Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaften und linke Kräfte müssen jede „nationale“ Einheit mit den westlichen Regierungen ablehnen und gegen reaktionäre Gesetze kämpfen. Eine echte Antikriegsbewegung muss die imperialistischen Interessen der westlichen Unterstützung für die Ukraine aufdecken. Dabei müssen Revolutionär:innen gegen Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus vorgehen und den wahren Charakter des Krieges den Massen verständlich machen.

Perspektivisch bedeutet das auch, dass revolutionäre Kräfte Arbeit in der Armee leisten müssen, gerade bei einer potenziellen Wiedereinführung der Wehrpflicht, die das Heer aus der breiten Masse der Arbeiter:innenklasse zusammensetzen würde, statt wie aktuell nur aus Freiwilligen. Antimilitaristische Arbeit unter den und Organisierung der einfachen Soldat:innen und Wehrpflichtigen sind Schritte auf dem Weg zum Kampf gegen die Militarisierung und Aufrüstung der eigenen Nation.

Die Enteignung der Rüstungskonzerne und damit verbundene Kontrolle über die Produktion muss eine weitere Kernforderung der proletarischen Antikriegsbewegung sein. Ein proletarisches Antikriegsprogramm muss aber gleichzeitig auch Lösungen für die Arbeiter:innenschaft dieser Konzerne vorschlagen, d. h. für die dort Beschäftigten müssen Umschulungsangebote geschaffen werden, die ihnen einen Branchenwechsel zu gleichem Einkommen ermöglichen.

Es braucht einen Kursumschwung in der Arbeiter:innenbewegung und die beschriebene programmatische Methode gilt es sinngemäß auf sämtliche kriegerische Auseinandersetzungen anzuwenden, die vom westlichen Imperialismus unterstützt werden wie bspw. der Krieg im Gazastreifen. Die Schaffung einer internationalistischen Antikriegsbewegung ist das unabdingbare Mittel, den Kampf gegen die Kriegsgefahr in einen Klassenkampf gegen die Kapitalist:innenklasse zu transformieren.

Endnoten

(1) Quelle: ZMSBw-Bevölkerungsbefragung: https://zms.bundeswehr.de/de/bevoelkerunsgbefragung-zeitenwende-in-den-koepfen-5730686

(2) Quelle: Quadriga 2024: NATO-Landstreitkräfte üben den Bündnisfall [bundeswehr.de]

(3) Ebenda

(4) Mehr zu dem Thema auch hier: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/09/der-krieg-in-der-ukraine-und-der-kampf-um-die-neuaufteilung-der-welt/ bzw. hier https://arbeiterinnenmacht.de/2024/02/12/100-milliarden-sondervermoegen-fuer-die-bundeswehr-hochruestung-fuer-deutsche-kapitalinteressen/